Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alle herzlich.
Vor Eintritt in die Tagesordnung gratuliere ich dem
Kollegen Hans-Werner Kammer, der am 16. Juni seinen 60. Geburtstag begangen hat, nachträglich im Namen des ganzen Hauses. Herzliche Glückwünsche und
alles Gute für die Zukunft!
({0})
Bevor ich den ersten Punkt unserer heutigen Tagesordnung aufrufe, müssen wir neue Mitglieder für das
Kuratorium der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung, Zukunft“ wählen. Die Fraktionen haben dazu folgende Vorschläge unterbreitet: für die Fraktion der
CDU/CSU den Kollegen Ingo Wellenreuther als ordentliches Mitglied und den Kollegen Stephan Mayer als
Stellvertreter, für die SPD-Fraktion Herrn Dietmar
Nietan als ordentliches Mitglied und den Kollegen
Dr. Dieter Wiefelspütz als Stellvertreter, für die Fraktion
der FDP den Kollegen Dr. Max Stadler als ordentliches
Mitglied und den Kollegen Hellmut Königshaus als
Stellvertreter, für die Fraktion Die Linke die Kollegin
Ulla Jelpke als ordentliches Mitglied und die Kollegin
Petra Pau als deren Stellvertreterin und für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen den Kollegen Volker Beck als
ordentliches Mitglied und den Kollegen Jerzy Montag
als Stellvertreter. Sind Sie damit einverstanden? - Das
ist offenkundig der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Die genannten Kolleginnen und Kollegen sind damit in
das Kuratorium der Stiftung gewählt.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Beratung des Antrags der Abgeordneten Sibylle
Laurischk, Dr. Max Stadler, Gisela Piltz, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Integrationskurse qualitativ verbessern und
entbürokratisieren
- Drucksache 16/9593 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Josef
Philip Winkler, Volker Beck ({2}), Monika
Lazar, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Das Parlament bei der Ausgestaltung des Einbürgerungstests beteiligen
- Drucksache 16/9602 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({3})
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
ZP 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren ({4})
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Horst Meierhofer, Michael Kauch, Angelika
Brunkhorst, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Barrieren für die Einführung der CCSTechnologie überwinden - Voraussetzungen für einen praktikablen und zukunftsweisenden Rechtsrahmen schaffen
- Drucksache 16/9454 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit ({5})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Horst Friedrich ({6}), Patrick Döring,
Hans-Michael Goldmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Masterplan Güterverkehr und Logistik
grundlegend überarbeiten
- Drucksache 16/9460 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({7})
Redetext
Präsident Dr. Norbert Lammert
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Brigitte Pothmer, Markus Kurth, Katrin
Göring-Eckardt, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Rechte von Arbeitssuchenden stärken Kompetentes Fallmanagement sicherstellen
- Drucksache 16/9599 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({8})
Haushaltsausschuss
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Ulrike Höfken, Cornelia Behm, Nicole
Maisch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Rahmenbedingungen für Milchmarkt verbessern - Faire Erzeugerpreise für Milch
unterstützen
- Drucksache 16/9601 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({9})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
ZP 4 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache ({10})
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
Zweiten Gesetzes zur Änderung des Güterkraftverkehrsgesetzes und anderer Gesetze
- Drucksache 16/9236 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({11})
- Drucksache 16/9600 Berichterstattung:
Abgeordneter Horst Friedrich ({12})
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Kultur und Medien ({13}) zu der Unterrichtung
durch die Bundesregierung
Mitteilung der Kommission an den Rat,
das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss
und den Ausschuss der Regionen über kreative Online-Inhalte im Binnenmarkt
Ratsdok.-Nr. 8793/08
- Drucksachen 16/9538 A.10, 16/9632 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Günter Krings
Christoph Waitz
Dr. Lukrezia Jochimsen
Undine Kurth ({14})
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Irmingard Schewe-Gerigk, Volker Beck ({15}),
Britta Haßelmann, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Durchsetzung der Entgeltgleichheit von
Frauen und Männern - Gleicher Lohn für
gleichwertige Arbeit
- Drucksache 16/8784 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({16})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Maria Flachsbarth, Marie-Luise Dött,
Michael Brand, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU und der Abgeordneten
Dr. Hermann Scheer, Ulrich Kelber, Dirk Becker,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Hans-Josef Fell, Bärbel
Höhn, Winfried Hermann, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Gründung einer Internationalen Agentur für
Erneuerbare Energien ({17})
- Drucksache 16/9597 ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Andreas
Jung ({18}), Marie-Luise Dött, Michael
Brand, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU und der Abgeordneten Frank
Schwabe, Marco Bülow, Dirk Becker, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD und der
Abgeordneten Michael Kauch, Angelika
Brunkhorst, Horst Meierhofer, Dr. Guido
Westerwelle und der Fraktion der FDP sowie der
Abgeordneten Bärbel Höhn, Hans-Josef Fell,
Cornelia Behm, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Internationalen Klimaschutz sichern - Integrität und Wirksamkeit der CDM-Projekte weiter verbessern
- Drucksache 16/9598 ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Eva
Bulling-Schröter, Dr. Gesine Lötzsch, Monika
Knoche, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Unterlaufen von Klimaschutzzielen durch
CDM-Projekte beenden
- Drucksache 16/7752 ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Gudrun
Kopp, Jens Ackermann, Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Präsident Dr. Norbert Lammert
Energiekosten senken - Mehr Netto für die
Verbraucher
- Drucksache 16/9595 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({19})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Beck ({20}), Marieluise Beck ({21}),
Alexander Bonde, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Menschenrechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgendern und Intersexuellen
weltweit sicherstellen - Yogyakarta-Prinzipien
unterstützen
- Drucksache 16/9603 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({22})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll dabei, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Außerdem ist vorgesehen, die Tagesordnungspunkte 32 - Flächenerwerbsänderungsgesetz - und 36 b Gesetz zur Änderung des Europaabgeordnetengesetzes
und des Abgeordnetengesetzes - abzusetzen.
In der Reihenfolge ergeben sich daraus ebenfalls Änderungen: Tagesordnungspunkt 12 wird nach Tagesordnungspunkt 17 aufgerufen, Tagesordnungspunkt 18 nach
Tagesordnungspunkt 23, Tagesordnungspunkt 24 nach
der Beratung der Zusatzpunkte 7 und 8, und morgen sollen die Tagesordnungspunkte 33 und 34 getauscht werden. - Auch das ist offenkundig nicht streitig. Dann können wir so verfahren.
Wir kommen damit zu Tagesordnungspunkt 3:
Abgabe einer Regierungserklärung durch die
Bundeskanzlerin
zum Europäischen Rat in Brüssel am 19./20. Juni
Hierzu liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktion
der FDP, der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung 90 Minuten vorgesehen. - Auch das können wir offensichtlich so vereinbaren.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
nun die Bundeskanzlerin, Frau Dr. Angela Merkel.
({23})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Heute tritt der Europäische
Rat zu seiner regelmäßigen Junisitzung zusammen. Es
stehen wichtige Themen auf der Tagesordnung. Am
Freitag werden wir über die Auswirkungen des Anstiegs
der Preise für Lebensmittel, Öl und Gas sprechen. Wir
alle wissen, dass es hier keine einfachen Antworten gibt
und dass dieses Problem nicht mit Einzelaktionen zu lösen ist; so kann man ihm nicht beikommen. Wir werden
versuchen, in Europa gemeinsam und abgestimmt vorzugehen, zum Beispiel dann, wenn es um schnelle und
effektive Hilfe geht. So hat die Europäische Union als
Reaktion auf die Nahrungsmittelsituation bereits den
Umfang der Soforthilfe deutlich erhöht, und sie unterstützt alle Maßnahmen der internationalen Organisationen.
Die Bundesregierung hat gestern im Kabinett einen
Maßnahmenkatalog verabschiedet, der auch dem Parlament vorgestellt wurde. Wir werden unsere Vorschläge
im Juli auch in den Kreis der G-8-Beratungen einbringen. Die wichtigste und aus meiner Sicht zielführendste
Antwort Europas auf den Anstieg der Ölpreise heißt
mehr Energieeffizienz und Ausbau erneuerbarer Energien.
({0})
Dass Deutschland hier im Vergleich zu anderen Ländern
auf einem guten Weg ist, kann man heute in den Zeitungen nachlesen; ich finde, das darf man einmal sagen. Wir
sind zwar noch am Anfang dieses Weges, aber wir kommen voran.
Die Europäische Union hat sich unter deutscher Präsidentschaft im letzten Jahr sehr ehrgeizige Ziele gesetzt.
Diese Ziele müssen jetzt Schritt für Schritt umgesetzt
werden. Das wird insbesondere während der französischen Präsidentschaft ein Thema sein. Ich glaube, das
Wichtigste neben der Frage des Klimaschutzes ist, dass
wir mit unseren Maßnahmen bei den Ursachen hoher Ölpreise ansetzen: Eine Ursache sind Verknappungen. Verknappungen können nur dadurch bekämpft werden, dass
wir versuchen, uns von dem Verbrauch solcher Ressourcen zu entkoppeln.
Eingriffe, insbesondere solche finanzpolitischer Natur, wie sie immer wieder diskutiert werden, behindern
letztlich die notwendigen Anpassungen an veränderte
Marktbedingungen und sollten aus unserer Sicht vermieden werden. Ich will noch einmal daran erinnern, dass
die Europäische Union im Jahre 2005 eine Abmachung
getroffen hat, die sogenannte Manchester-Erklärung, bei
der darum geworben wurde, dass nicht einzelne Mitgliedstaaten durch steuerliche Maßnahmen Verzerrungen
innerhalb des europäischen Binnenmarktes hervorrufen,
die nur zu Ausweichverhalten führen, aber in der Preisbildung nicht zielführend sind. Wir halten diese Abmachung nach wie vor für richtig.
Wir fordern natürlich auch ein gemeinsames Vorgehen von Produzenten- und Verbraucherländern. Wir begrüßen deshalb ausdrücklich die Initiative des Königreichs Saudi-Arabien für einen vertieften Dialog
zwischen Produzenten und Verbrauchern, der mit der
Einladung zum Ministertreffen nach Dschidda angestoßen wurde. Es geht hierbei natürlich auch darum, ob die
Raffineriekapazitäten ausreichen und wie wir Investitionen in neue Fördermöglichkeiten unterstützen können.
Wir brauchen auch eine möglichst verlässliche Planung der Nachfrage der Schwellenländer, insbesondere
so großer Länder wie China und Indien. Deshalb wird
das auch bei dem Treffen mit den Schwellenländern auf
dem G-8-Gipfel ein Thema sein. Es ist gut, dass wir im
vergangenen Jahr beim G-8-Gipfel in Heiligendamm einen kontinuierlichen Dialog zwischen den G-8-Staaten
und den Schwellenländern angestoßen haben.
({1})
Diese und andere Themen sind für die Beratungen des
heute beginnenden EU-Rates in ihrer Bedeutung nicht zu
unterschätzen, sie bewegen die Menschen. Aber machen
wir uns nichts vor: Diese Themen werden heute wahrscheinlich nicht im Mittelpunkt stehen. Die Aufmerksamkeit wird sich auf die Situation richten, die wir nach
der Ablehnung des Vertrags von Lissabon in Irland haben; darüber werden wir heute beim Abendessen beraten. Auf das Ergebnis des Referendums in Irland muss
der Rat reagieren, und zwar ebenso umsichtig wie entschlossen, ebenso unmissverständlich wie geschlossen.
Es hilft nicht, zurückzuschauen und das Abstimmungsergebnis zu bedauern. Wenn wir darin verharren, ist das
Zeitverschwendung. Dann verschwenden wir Zeit, die
wir nicht haben.
Ich füge hinzu: Wenn die Diskussion Sinn und Verstand haben soll, dürfen wir sie nicht frei von sachlichen
Gegebenheiten führen. Dazu gehört für mich Folgendes:
Wir müssen sehen, dass Verträge in der Europäischen
Union einstimmig fortentwickelt werden müssen. Daran
führt kein Weg vorbei, wie anstrengend das auch immer
sein mag. Die Einstimmigkeit ist die Voraussetzung,
weil die Mitgliedstaaten Herr der Verträge sind und deshalb jeder einzelne Mitgliedstaat sein Einverständnis für
eine Fortentwicklung des Vertrages geben muss. Deshalb helfen uns in dieser Situation Diskussionen über ein
Europa der zwei Geschwindigkeiten bzw. über ein Kerneuropa nicht weiter. Damit wir uns nicht missverstehen:
Ich halte diese Diskussionen ohnehin für nicht zielführend und zum Teil auch für fahrlässig; denn man kann
nicht eine erweiterte Europäische Union haben und zugleich bei der ersten Schwierigkeit immer sofort sagen:
Nun gestalten wir ein Kerneuropa.
Das heißt, die Geschlossenheit Europas, so mühsam
zu erreichen sie auch immer sein mag, ist kein Selbstzweck, sondern ein hohes Gut. Das hat mich geleitet,
und das wird mich immer leiten - nicht nur an Jahrestagen, an denen wir dieses großartigen Europas als Friedenswerk und Antwort auf jahrhundertelange Kriege
und Feindschaften gedenken, sondern eben auch als Herausforderung für unsere Generation und für unsere Zeit,
in der wir uns bei der Gestaltung der Globalisierung wieder zu bewähren haben und in der Europa die richtige
Antwort auf die Herausforderungen in einer globalen
Welt ist.
({2})
Auch wenn wir das nur formal und rechtlich betrachten würden, führten uns Überlegungen für ein Kerneuropa oder ein Europa der zwei Geschwindigkeiten an
dieser Stelle keinen Schritt weiter. Natürlich können sich
die Mitgliedstaaten bei einzelnen Politiken entscheiden,
mitzumachen oder nicht. Das gibt es vielfach, zum Beispiel beim Schengener Abkommen, beim Euro und bei
der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik.
Dänemark beteiligt sich bis heute nicht an der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Wenn es
aber um institutionelle Weiterentwicklungen geht, also
um die Rechte des Parlaments, die Rechte des Rates und
die Ausgestaltung der Arbeit des Rates, dann brauchen
wir die Einstimmigkeit. Darüber kann nur die gemeinsame Europäische Union entscheiden. Deshalb ist es an
dieser Stelle unsere Aufgabe, gemeinsam einen Weg zu
finden. Ich rate uns deswegen, nicht Debatten zu führen,
die uns ablenken - das kann man in theoretischen Seminaren tun -, sondern uns darauf zu konzentrieren, was
sachlich und rechtlich möglich und geboten ist.
Ich bin zutiefst davon überzeugt und fest entschlossen: Angesichts dieser Situation gilt es, gemeinsam mit
den Iren einen Lösungsweg zu suchen. Für diese gemeinsame Lösung werden wir all unsere Kraft einsetzen.
Ich bin von einem Weiteren überzeugt, nämlich davon,
dass wir diese Lösung finden können und finden werden.
Wir stehen heute erst am Anfang der Debatte, und ich
kann Ihnen hier jetzt natürlich nicht berichten, was heute
Nachmittag debattiert wird, so gerne ich das vielleicht
auch tun würde.
({3})
Ich kann und werde Ihnen jetzt aber exakt sagen - das
möchte ich auch -, woran ich mich orientiere und was
mich bei den Gesprächen leiten wird.
Erstens. Europa kann sich keine erneute Reflexionsphase leisten.
({4})
Der Europäische Rat muss so schnell wie möglich eine
grundsätzliche Entscheidung treffen. Im Übrigen brauchen wir sie auch, um zu wissen, in welcher Form und
wie wir die Wahlen zum Europäischen Parlament im
Juni 2009 durchführen werden.
Zweitens. Europa kann sich auch keinen Kuhhandel
leisten; das muss jeder wissen. Natürlich müssen und
werden wir uns die Argumente der Iren anhören. Ministerpräsident Cowen wird uns in der heutigen Sitzung des
Europäischen Rates eine erste Analyse der Ursachen
vortragen, die er dafür sieht, dass es zu einer Ablehnung
in Irland kam. Ich werde heute auch die Möglichkeit zu
einem bilateralen Gespräch haben. Wir sollten und werden Irland jetzt die Chance geben, selber wieder in das
Spiel zurückkehren zu können. Ich glaube, das ist der
beste Weg.
Drittens. Wir brauchen den Vertrag von Lissabon.
({5})
Es bleibt bei meiner Überzeugung, die ich hier zuletzt
auch am 24. April 2008 deutlich gemacht habe: Der Vertrag von Nizza reicht nicht aus.
Die Gründe dafür liegen auf der Hand:
Wer nicht will, dass die Europäische Union auf Gebieten tätig wird, die nicht in ihre Zuständigkeit gehören,
der muss sich jetzt für den Vertrag von Lissabon einsetzen; denn nur dann, wenn der Vertrag von Lissabon
Wirklichkeit wird, erhalten die nationalen Parlamente
neue Rechte, die sie bisher nicht hatten.
({6})
Sie erhalten diese Rechte, um die Tätigkeit der Union zu
kontrollieren und notfalls sogar dagegen zu klagen. Erst
dann können wir auch das Subsidiaritätsprinzip, das uns
im Rahmen der Arbeit der Europäischen Union so wichtig ist, wirklich mit Leben erfüllen.
Wer will, dass das vielfach beklagte Demokratiedefizit in der Europäischen Union abgebaut wird, der muss
für den Vertrag von Lissabon sein. Denn erst mit dem
Vertrag wird das Europäische Parlament zum wirklich
gleichberechtigten Entscheidungspartner.
Wer nicht will, dass auf wichtigen Politikfeldern der
Langsamste immer das Verhandlungstempo aller bestimmt, der muss jetzt für den Vertrag von Lissabon sein.
Denn der Vertrag bringt die Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen und nimmt damit die Möglichkeit, dass
der Langsamste alles blockieren kann.
Wer nicht will, dass die Vereinigten Staaten von Amerika oder Russland oder andere Länder auf der Welt
immer 27 europäische Meinungen zu Gehör bekommen,
bevor sie wissen, was Europa will, der muss jetzt für den
Vertrag von Lissabon kämpfen. Denn nur durch den Hohen Beauftragten für die Außenpolitik, durch die Zusammenführung der Kommissions- und Ratsaufgaben in diesem Zusammenhang und durch den Aufbau eines
Europäischen Auswärtigen Dienstes werden wir effizient unsere europäische Position in der Welt darstellen
können, in all den wichtigen Fragen, die wir alleine nicht
mehr lösen können.
({7})
Deshalb würde ein „Weiter so“ bedeuten, dass wir genau
auf diesen wichtigen Punkt verzichten und damit Europa
in der Welt nicht die Rolle spielen kann, die ihm aus unserer gemeinsamen Sicht zukommt. Das können wir
nicht wollen, das dürfen wir nicht zulassen. Deshalb
müssen wir hier eine Veränderung schaffen.
Und schließlich: Wer nicht will, dass die europäische
Zukunft des westlichen Balkans infrage gestellt wird,
der muss für den Vertrag von Lissabon eintreten; denn
nur er macht die Europäische Union erweiterungsfähig.
Mit Nizza geht das nicht.
({8})
Viertens. Der Ratifizierungsprozess in Europa muss
fortgesetzt werden. Alle Mitgliedstaaten unserer Europäischen Union müssen ihre Haltung festlegen, natürlich
entsprechend den nationalen Ratifizierungsbedingungen.
In Deutschland ist dies im Bundestag und inzwischen
auch im Bundesrat geschehen. Ich möchte mich heute
noch einmal für die breite Unterstützung bedanken. Ich
bin überzeugt: Ein besseres Reformpaket für mehr Demokratie und Handlungsfähigkeit als den Lissaboner
Vertrag werden wir kaum schnüren können.
Der Vertrag von Lissabon geht bereits auf die in den
letzten Jahren laut gewordenen Sorgen - berechtigten
Sorgen, sage ich ausdrücklich - der Bürgerinnen und
Bürger ein. Alle, die jetzt sofort wieder davon reden, die
Iren hätten einer geheimen Politik im Hinterzimmer eine
Absage erteilt, die müssten es eigentlich - auch das sage
ich ausdrücklich - besser wissen.
Dieser Vertrag von Lissabon ist das Ergebnis eines
siebenjährigen Verfahrens, in das nationale Parlamente
und die Bürgergesellschaft einbezogen waren.
({9})
Er ist ein Vertrag, dessen Substanz aus den öffentlichen
Beratungen im europäischen Konsens hervorgegangen
ist. In Deutschland waren Bundestag und Bundesrat an
allen Schritten beteiligt.
({10})
- Wenn Sie sich als Abgeordneter nicht vom Volk gewählt fühlen, dann sind Sie selber schuld.
({11})
Wir alle wissen, dass die Europäische Union die Fortschritte benötigt, die der Vertrag von Lissabon vorsieht.
Deshalb hat dieses Haus dem Vertragswerk mit so großer
Mehrheit zugestimmt.
(Beifall des Abg. Jörg Tauss ({12})
Weitere 17 Mitgliedstaaten haben es bereits ratifiziert.
Ich werde heute und morgen beim Rat dafür werben,
dass dieser Ratifizierungsprozess fortgesetzt wird.
({13})
Es haben sich viele Mitgliedstaaten in ähnlicher Weise
geäußert. Die gute Nachricht, die wir alle vernommen
haben, ist, dass auch in Großbritannien der parlamentarische Beratungsprozess erfolgreich abgeschlossen worden ist, gestern im Oberhaus, vorher schon im Unterhaus. Das ist für Europa eine ganz wichtige Nachricht,
über die wir uns sehr freuen.
({14})
Wenn dann die Ratifizierungsprozesse im Herbst in
die Endrunde gehen, dann wird auch der Punkt gekommen sein, an dem Irland vortragen wird, wie es weiter
vorgehen möchte. Ohne Zweifel wird für diese Aufgabe
eine besonders große Verantwortung beim kommenden
französischen Ratsvorsitz liegen.
Ich glaube, es steht völlig außer Zweifel - das möchte
ich noch einmal verdeutlichen -, dass Deutschland, die
Bundesregierung, aber auch wir alle gemeinsam die
französische Ratspräsidentschaft bei diesen Bemühungen unterstützen werden. Das sagt der Bundesaußenminister. Das sage ich. Das sagt die gesamte Bundesregierung.
Unser Ziel ist und bleibt, die notwendigen Reformen
so rasch wie möglich in Kraft zu setzen. Nur so sind wir
mit effektiveren Institutionen gerüstet, uns um die Lösung der Probleme der Bürgerinnen und Bürger wirklich
kümmern zu können. Sie erwarten - ich habe über die
Probleme am Anfang gesprochen -, dass wir Europäer
gemeinsam die Globalisierung durch soziale Marktwirtschaft, durch eine wertegebundene Außenpolitik sowie
durch eine moderne Klima- und Energiepolitik gestalten.
Dafür brauchen wir die neuen Grundlagen des Vertrags
von Lissabon.
({15})
Das sind die Gründe, warum wir alle - ich gebrauche
das Wort mit Bedacht - ein leidenschaftliches Interesse
daran haben müssen, dass der Vertrag von Lissabon
rasch in Kraft tritt. Wir alle in diesem Haus - mit Ausnahme weniger - wissen, dass wir ein handlungsfähiges
Europa brauchen, um in der Welt in Frieden, Freiheit
und Sicherheit leben zu können. Ich bitte Sie um Ihre
Unterstützung, damit wir mit Irland einen gemeinsamen
Weg finden, und zwar so, wie ich es zu Beginn gesagt
habe: einen Weg, der ebenso umsichtig wie entschlossen
ist, der ebenso unmissverständlich wie geschlossen ist im Interesse Irlands, im Interesse der Europäischen
Union und im Interesse Deutschlands. Das ist aus meiner
Sicht jede Mühe wert. Dafür werden wir arbeiten.
Herzlichen Dank.
({16})
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Dr. Guido Westerwelle, FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Bundeskanzlerin, Sie haben Ihre Regierungserklärung mit dem Hinweis auf die steigenden Preise
und die Belastungen der Bürgerinnen und Bürger in Europa und - das betrifft dieses Haus - insbesondere in
Deutschland angefangen. Sie haben gesagt, dass Sie
durch Europa reisen und mit Saudi-Arabien sprechen
möchten, um die Preisentwicklungen in den Griff zu bekommen. Sie haben aber über das, was Sie selbst tun
wollen und können, um die steigenden Preise anzugehen, nicht gesprochen.
({0})
Bevor Sie über Brüssel reden, müssen Sie Ihre eigenen Hausaufgaben machen. Das gilt insbesondere für
den Energiebereich. Sie sprechen davon, dass die steigenden, galoppierenden Energiepreise das Ergebnis von
Verknappung seien. Das ist bestenfalls die halbe Wahrheit. In Wahrheit sind sie das Ergebnis einer Preistreiberei durch Steuern und Abgaben des Staates.
({1})
Die Preistreiber bei der Energie sitzen auf der Regierungsbank.
({2})
Anstatt das Problem wolkig zu beschreiben, sollten
Sie selbst handeln. Da die Bundesregierung selbst in diesem Monat deutlich gemacht hat, wie hoch der Steueranteil an den Preisen für Benzin bzw. Diesel ist, möchte ich
noch einmal darauf aufmerksam machen: Bis zu zwei
Drittel der Energiepreise werden vom Staat, werden von
der Regierung gemacht. Das ist die ganze Wahrheit für
die Bürgerinnen und Bürger. Es reicht nicht aus, wenn
Sie versprechen, dass Energieeffizienz und erneuerbare
Energien zu einer Senkung der Preise führen werden.
Notwendig ist, jetzt zu handeln. Der französische Staatspräsident hat entsprechende Vorschläge gemacht. Sie
lehnen sie ab. Das muss festgehalten werden. Sie dürfen
sich nicht hinter Europa verstecken, wenn Sie eine falsche Energiepolitik machen.
({3})
Wir haben kein Wort dazu gehört, was aus unserer
Sicht in der Energiepolitik notwendig wäre, beispielsweise ein rationaler Energiemix. Es ist bedauerlich,
dass sich auch die Unionskolleginnen und -kollegen
nicht mehr an das erinnern, was sie eigentlich regelmäßig wollen und früher einmal - vor langer Zeit, bis vor
zweieinhalb Jahren - vertreten haben, nämlich dass wir
einen rationalen Energiemix brauchen.
Frau Bundeskanzlerin, wenn Sie bei steigenden Preisen über erneuerbare Energien und über Energieeffizienz
reden, dann ist das richtig. Dass Sie aber verschweigen,
wie notwendig es wäre, den Beschluss zum Ausstieg aus
der Kernenergie rückgängig zu machen, ist falsch.
({4})
Da wir über Europa reden: Wir wissen, dass in ganz
Europa ein anderer Weg beschritten wird. Wir wissen,
dass beispielsweise Großbritannien und Frankreich
soeben angekündigt haben, in der Energiepolitik ganz
andere Wege zu gehen. In Europa setzt man auf die CO2freie Kernenergie, ausdrücklich im Mix mit den erneuerbaren Energien. Wir in Deutschland steigen aus der
Atomenergie aus. Das treibt die Preise nach oben, wickelt die Forschung ab, ist schlecht für die Umwelt,
schlecht für die Wirtschaft und unsozial gerade für die,
die hohe Preise zu tragen haben.
({5})
Es reicht also nicht aus, dass man sagt, man wolle in
Brüssel dieses oder jenes Thema ansprechen. Notwendig
ist, dass Sie dies hier zu Hause tun. Die Tatsache, dass
Sie das in Ihrer Regierungserklärung nicht sagen - anders als auf den diversen Messen, die Sie eröffnen -,
hängt damit zusammen, dass Sie in dieser Koalition
keine Einigkeit in Bezug auf die Entwicklung der Energiepreise haben. Das ist der entscheidende politische
Punkt. Bei Regierungserklärungen kommt es nämlich
nicht nur darauf an, was gesagt wird, sondern es kommt
ganz entscheidend darauf an, was nicht gesagt wird. All
das, was Sie nicht gesagt haben, lässt eine ausführliche
Zustandsbeschreibung über die Uneinigkeit dieser Koalition, dieser Regierungsparteien zu.
({6})
Sie haben sich in Ihrem zweiten Teil mit den politischen Folgen nach dem gescheiterten Referendum in
Irland auseinandergesetzt. Auch dazu ist es notwendig,
festzuhalten, dass Sie uns in diesem Hause vom Lissabon-Vertrag nicht zu überzeugen brauchen. Überzeugen
müssen Sie und wir alle die Bürgerinnen und Bürger. Ich
glaube, man macht es sich zu leicht, wenn man einfach
sagt, es sei das kleine Irland gewesen und im Rest von
Europa wäre eine Abstimmung garantiert anders ausgegangen. Man macht es sich auch zu leicht, wenn man
sagt, für die Abstimmung seien die Abgeordneten da, die
das Volk repräsentierten. Natürlich ist es richtig, dass wir
in diesem Hohen Hause mit großer Mehrheit den Lissabon-Vertrag ratifiziert haben. Aber natürlich ist es deswegen nicht weniger notwendig, auch die Mehrheiten
unserer Völker hinter diese europäische Integration zu
bekommen. Das ist der entscheidende Auftrag, den wir
in der Europapolitik haben.
({7})
Wenn man meint, das sei ein insulares Problem, dann
hat man die Lage in Europa nicht verstanden. Das ist
nicht nur Irland,
({8})
und das sind nicht nur einige wenige, zu denen auch ich
in Gegnerschaft stehe. Es ist in Wahrheit eine Aufgabe
für uns alle. Wir haben den Lissabon-Vertrag in diesem
Hohen Hause mit einer Mehrheit von 90 Prozent ratifiziert, weil er gut für unsere Völker und gut für Europa
ist. Trotzdem müssen wir unseren Bürgerinnen und Bürgern jeden Tag, immer wieder aufs Neue, den Nutzen der
europäischen Integration für unsere Völker erklären. Der
Dialog ist zu wenig, er ist zu kümmerlich, er findet zu
sehr in den Eliten statt und zu wenig in der Breite. Eine
selbstkritische Analyse muss uns gebieten, das festzustellen.
({9})
Das heißt doch nicht, dass diejenigen, die das ansprechen, weniger von der europäischen Idee begeistert wären. Es geht ganz einfach darum, dass man sich die Frage
stellen muss: Maßt sich Europa die Einmischung in
Dinge an, aus denen es sich besser heraushalten sollte?
Wir wollen doch einmal etwas festhalten, was die Subsidiarität angeht. Jeden Tag gibt es Bemerkungen, bei denen man sich fragt, ob man so etwas auf nationaler
Ebene diskutieren würde. Ich bin nicht davon überzeugt,
dass die deutsche Bundeskanzlerin mit dem Programm
vor den Bundestag treten würde, die Glühbirnen abzuschaffen. Und weil das hier nicht gemacht wird, wird
über Bande gespielt - so ist es doch in Wahrheit: Vieles
von dem, was sich hier in Deutschland bzw. in den nationalen Parlamenten manch einer nicht traut, landet über
die Ecke in Brüssel, damit dann anschließend hier über
Brüssel geschimpft werden kann. Auch das ist eine komische Arbeitsteilung, über die gesprochen werden
muss.
({10})
Frau Bundeskanzlerin, Sie haben sehr vehement ein
Europa der zwei Geschwindigkeiten abgelehnt. Sie
haben aber nicht gesagt, was Sie wollen. Sie haben nur
gesagt, dass Sie jetzt die Vorschläge aus Irland erwarten.
Genauso können wir sagen: Wir erwarten Ihre Vorschläge. - Wir unterstützen es ausdrücklich, dass Sie sagen: Wir halten am Lissabon-Vertrag fest. - Denn er verbessert das, was ist. Europa wird durch diesen Vertrag
demokratischer, transparenter, effizienter und handlungsfähiger. Das wissen wir. Aber einfach nur zu sagen
„Wir halten am Lissabon-Vertrag fest“, obwohl man
doch zur Kenntnis nehmen muss, dass dieses Volksvotum in Irland gegen den Integrationsprozess nicht das
erste war, ist aus unserer Sicht zu wenig.
({11})
Um die Völker wieder für die europäische Idee zu begeistern, hätten Sie hier sagen müssen: Das ist unser
Maßnahmenpaket. - Nicht alleine das, was in Konferenzen der Regierungen stattfindet, entscheidet das Schicksal Europas. Entschieden wird das Schicksal Europas an
der Frage, ob sich die Völker hinter diese Idee stellen.
Das zu erreichen, ist die Hauptaufgabe der Regierenden
in ganz Europa, meine sehr geehrten Damen und Herren.
({12})
- Herr Kollege Tauss, „Westerwelle nach Irland“ war einer Ihrer intelligentesten Zurufe. Das ist ein herausragender Zuruf.
({13})
Wo Sie mittlerweile stehen, ist leicht erklärbar - so ignorant, wie Sie mittlerweile über diese Fragen reden, Herr
Kollege. Ich wundere mich wirklich nicht.
({14})
Es ist eine ganz einfache Sache: Es ist und bleibt ein
Rückschlag. Wenn wir ehrlich sein wollen, dann sollten
wir auch ein gewisses Maß unserer Ratlosigkeit zugeben. Vor allen Dingen sollten wir aber am europäischen
Integrationsprozess festhalten.
Frau Bundeskanzlerin, Sie sagen: Es gibt kein Europa
der zwei Geschwindigkeiten. - Ich hoffe, dass Sie recht
haben. Aber ich glaube, wenn sich andere Teile Europas
nicht mehr am europäischen Integrationsprozess beteiligen wollen, dann müssen wir irgendwann auch darüber
reden, ob dies das übrige Europa wirklich daran hindern
darf, den Integrationsprozess, der für unser Schicksal so
notwendig ist, fortzusetzen.
Sie sprechen davon, dass nicht der Langsamste das
Tempo bestimmen darf. Das ist richtig. Aber das muss
dann auch gelten, wenn es darum geht, Europa demokratischer werden zu lassen. Ich glaube, wir müssen in der
Europapolitik neu denken. Wir müssen fest bei unseren
Zielen bleiben, aber wir müssen auch erkennen: Die
Lage ist nach diesen Referenden eine andere.
({15})
Unsere Aufgabe ist es, an der europäischen Integrationsidee festzuhalten und nicht nur Parlamente, sondern
vor allen Dingen auch die Bürgerinnen und Bürger für
diese großartige Idee zu gewinnen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({16})
Die nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. SchwallDüren von der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen!
Vor wenigen Wochen standen wir voller Hoffnung hier
im Bundestag und haben gemeinsam mit großer Mehrheit die Ratifizierung des Lissabonner Vertrages beschlossen. Mit diesem Lissabonner Vertrag haben wir
eine kritische Phase abgeschlossen, in der die deutsche
EU-Ratspräsidentschaft Hervorragendes geleistet hat,
um den Weg einer gleichzeitigen Vertiefung und Erweiterung der Europäischen Union weiterzugehen.
Beides gehört zusammen; denn die Erweiterung ist
eine der großen Herausforderungen, vor denen die Europäische Union steht. Diese Erweiterung war und ist nach
Jahrzehnten der Kriege, der Auseinandersetzungen, einschließlich des Kalten Krieges, die historische Chance
unseres Kontinentes, zu einer Wiedervereinigung zu
kommen, aber eben auch die Voraussetzungen dafür zu
schaffen, ein handlungsfähiges, ein demokratisches, ein
bürgernahes Europa zu haben, um den Herausforderungen der Globalisierung gerecht zu werden. Frau Bundeskanzlerin hat auf einige Themen hingewiesen, die heute
auch im Rat eine Rolle spielen werden.
Herr Westerwelle, Sie haben die Bundesregierung
hier wegen ihrer Energiepolitik gegeißelt, ich kann Sie
daher nur fragen: Haben Sie vergessen, welche großen
Erfolge die deutsche Ratspräsidentschaft - gerade auf
der europäischen Bühne - erreicht hat, um beim Thema
Klimaschutz voranzukommen, welche wegweisenden
Ziele wir dort miteinander verabredet haben?
({0})
Haben Sie übersehen, dass wir gestern das zweite Klimaschutzpaket auf der nationalen Ebene verabschiedet
haben und dass wir damit keine kurzfristigen, keine populistischen Maßnahmen in Gang setzen, die Augenwischerei wären? Vielmehr tragen wir dazu bei, dass die
Energie den Bürgern auf Dauer in einem vernünftigen
Mix und zu angemessenen Preisen zur Verfügung steht.
({1})
Leider - da muss ich Herrn Westerwelle ein Stück
weit recht geben ({2})
ist das Referendum in Irland aber ein Beleg dafür, dass
es uns nicht durchgängig gelungen ist, die Europäische
Union als eine Möglichkeit für die soziale Gestaltung
der Globalisierung deutlich zu machen. Sosehr wir die
Entscheidung in Irland zu respektieren haben, so muss
ich dennoch sagen, dass die Bestürzung, die Enttäuschung darüber, dass wir jetzt eine so komplizierte Lage
haben, auf die wir eben keine schnelle Antwort finden,
selbstverständlich groß ist.
Wenn die Vertragsgegner sagen, die Europäische Union
habe eine schallende Ohrfeige erhalten, dann ist das
schlicht und einfach falsch - genauso war die Kritik am
Vertrag im Vorhinein eine Irreführung der Menschen -;
denn das Nein zum Lissabonner Vertrag ist ein Ja zu den
bestehenden Zuständen, die man angeblich kritisiert.
Nur das Ja zum Vertrag gibt uns die Möglichkeit, Europa
weiterzuentwickeln.
({3})
Deswegen ist es in der Tat so, dass wir die Ratifikation jetzt unbedingt fortsetzen müssen, damit alle Länder, deren Entscheidung noch aussteht, deutlich machen,
dass sie ein starkes Europa wollen. Irland muss Vorschläge entwickeln, und zwar selbstverständlich solche
Vorschläge, bei deren Umsetzung die anderen Mitgliedstaaten mithelfen können. Hier hat die französische
Ratspräsidentschaft eine große Verantwortung. Wir
brauchen aber auch eine Analyse Irlands. Dazu möchte
ich ganz leise sagen: Eigentlich hätte ich schon erwartet,
dass man aus den vorherigen Erfahrungen Schlussfolgerungen gezogen hätte. Vielleicht hätte man mehr tun
können, dieses negative Ergebnis zu vermeiden.
Jetzt bleibt allerdings nicht viel Zeit. Wir können uns
eine lähmende Pause vom Denken in der Europäischen
Union nicht mehr erlauben.
({4})
Wir müssen zwar mit kühlem Kopf überlegen, aber dennoch bedenken: Die Wahlen zum Europäischen
Parlament 2009 stehen an. Lassen sie mich auf die verschiedenen Alternativen eingehen, die im Raum stehen.
Alle Alternativen, die bisher diskutiert werden und bekannt sind, bringen Probleme mit sich und bergen Risiken.
({5})
Da gibt es das Votum, man solle doch auf der Geschäftsgrundlage des Nizza-Vertrages einfach so weitermachen. Von einigen hören wir, der Lissabon-Vertrag sei
ohnehin tot. Aber dann würde die Handlungsfähigkeit
der Europäischen Union immer schwächer werden, und
- die Frau Bundeskanzlerin hat darauf ebenfalls hingewiesen - Erweiterungen in größerem Umfang wären
dann nur schwer vorstellbar - Erweiterungen, die wir
aus Stabilitätsgründen und aus friedenspolitischen Gründen unbedingt brauchen.
Auch die zweite Alternative, in Irland ein neues Referendum durchzuführen, möglicherweise mit einer Erklärung oder Opt-outs versehen, birgt Risiken, weil dieses
Beispiel schlechte Schule machen könnte oder sich die
Wähler in Irland düpiert fühlen und erneut Nein sagen
könnten.
Die Alternative, einen neuen Vertrag auszuhandeln,
halte ich für illusionär. Dieses Ziel wäre schwer zu erreichen, und das würde unter den gegebenen Umständen
dazu führen, dass die Substanz unglaublich ausgedünnt
würde.
Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Auch ich persönlich hege große Skepsis in der Frage, ob wir mit den
vertiefungswilligen Staaten zu einer sogenannten Neugründung der Europäischen Union kommen sollen,
um das Problem mit einem Europa der unterschiedlichen
Geschwindigkeiten oder einem Kerneuropa zu lösen.
Neue Probleme stünden am Horizont, ebenso zunehmende Komplexität und Intransparenz. Außerdem stellt
sich die Frage, wie wir dann noch die demokratische Legitimation von solch unterschiedlichen Gemeinschaften
über ein europäisches Parlament sicherstellen könnten.
Der leisen Hoffnung, ein solcher Weg würde so attraktiv sein, dass sich die Mehrzahl der Staaten ihm anschließt, steht die Sorge gegenüber, dass die Zentrifugalkräfte stärker werden.
Deswegen müssen wir, glaube ich, grundsätzlicher an
die Frage herangehen. Wir müssen uns fragen, welches
Europa wir wirklich wollen. Haben wir ein gemeinsames
Verständnis zwischen Iren und Deutschen, zwischen
Kroaten und Franzosen, zwischen Mazedoniern und
Schweden? Diese Debatte über die Finalität muss selbstverständlich von den Staats- und Regierungschefs geführt werden. Sie muss aber auch zwischen den Abgeordneten der nationalen Parlamente geführt werden. Es
ist zudem nicht nur eine Frage der Eliten, sondern es ist
eine Frage, die die Menschen bewegt und die wir mit
den Menschen, mit den Bürgern und Bürgerinnen, diskutieren müssen.
Gibt es nicht doch eine Verbindung zwischen dem
Nein, das die Franzosen und die Niederländer in ihren
Referenden gegenüber dem Verfassungsvertrag ausgesprochen haben, und der Eurodistanz und dem Euroskeptizismus, die wir in vielen anderen Ländern ebenfalls erleben? Dies ist aber keine grundsätzliche
Ablehnung der Europäischen Union. Die Menschen haben hohe Erwartungen an das, was wir gemeinsam gestalten wollen. Fragen des Klimaschutzes, Fragen des
zunehmenden Wohlstandsgefälles zwischen unseren
Staaten, Fragen der Sicherheit vor Gewalt, Fragen nach
sozialer Sicherheit beschäftigen die Menschen, die
hierzu Erwartungen an die Europäische Union haben. Es
ist klar: Soziale Unsicherheit hat eine unmittelbare Verbindung zur Gewalt. Nur diejenigen, die reich sind, können sich privat Schutz vor Gewalt sichern. Die Europäische Union und die Mitgliedstaaten in ihr müssen
gemeinsam gegen die Probleme kämpfen, die unsere
Bürger und Bürgerinnen ängstigen.
Dabei dürfen wir selbstverständlich nicht in Populismus oder billigen Protektionismus und Renationalisierung verfallen. Aber es ist klar - das sage ich durchaus
auch in Richtung der Wirtschaftsliberalen -: Ein integrierter Markt braucht auch eine gemeinsame Politik;
nur so kann das gewünschte Ergebnis - ein sozialer Zusammenhalt in unserem Europa - erreicht werden.
({6})
Wenn dagegen eine größere Kluft entsteht, dann sagen
die Menschen Nein zu Europa; denn dann sehen sie
nicht, was sie von diesem Europa haben.
Ich glaube zutiefst, dass wir unsere Informationsund Kommunikationspolitik verbessern müssen, dass
wir aufwachen müssen, dass wir Verantwortung übernehmen müssen und dass wir - ich erinnere mich an einen
Vorfall gestern im EU-Ausschuss - von uns aus nicht
schlecht über Europa und seine Institutionen reden dürfen.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir alle müssen
Leidenschaft in dieser Debatte entwickeln,
({8})
und wir müssen gemäß dem Ausspruch von Habermas
Europa auf unseren Marktplätzen zum Thema machen.
Nur mit den Bürgerinnen und Bürgern schaffen wir ein
nachhaltiges Europa, ein handlungsfähiges Europa, ein
soziales Europa. Nur im Dialog mit den Bürgerinnen
und Bürgern schaffen wir eine europäische Identität auf
der Grundlage der europäischen Wertegemeinschaft.
Gestern Abend war ich bei der Präsentation der Stipendiaten unseres IPS-Programms.
({9})
Es war wunderbar, dort diese Vielfalt und diese Zusammenarbeit von jungen Leuten aus unterschiedlichen europäischen Ländern - egal, ob sie zur EU gehören oder
nicht - zu erleben. Aus dieser Zusammenarbeit erwächst
Stärke. Das ist meine Hoffnung. Diese jungen Leute dürfen wir nicht alleinlassen. Wir dürfen uns nicht zurücklehnen und ausruhen.
Lassen Sie uns über die Zukunft der Europäischen
Union gemeinsam mit den Bürgern streiten, aber lassen
Sie uns Europa auch gemeinsam voranbringen.
Herzlichen Dank.
({10})
Dr. Gregor Gysi ist der nächste Redner für die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Westerwelle, Sie haben zu Beginn Ihrer Rede über die
Energiepreise gesprochen und gesagt, die Kanzlerin
hätte, als sie auf die Verknappung der Ressourcen hingewiesen hat, höchstens die halbe Wahrheit gesagt; zur
ganzen Wahrheit gehöre auch ein Verweis auf die Abgaben- und Steuerquote. Ich muss sagen: Auch damit ist
noch nicht die ganze Wahrheit erfasst. Einen Umstand
haben Sie nämlich vergessen: Die ganze Energieversorgung haben sich vier Konzerne in Deutschland feudal
aufgeteilt, und sie nutzen diese Stellung zur Abzocke.
Das ist die ganze Wahrheit.
({0})
Deswegen haben wir immer wieder vorgeschlagen, die
Energieversorgung zu rekommunalisieren, damit die Politik wieder zuständig wird.
({1})
Eigentlich geht es ja um Europa. Eigentlich geht es
um Irland. Ich fand es gut, dass die Bundeskanzlerin hier
nicht arrogant aufgetreten ist. Allerdings hat sie auch
nicht einmal die Andeutung einer Lösung gemacht und,
wenn man es sich genau überlegt, sogar das Gegenteil
davon. Sie hat nämlich klipp und klar gesagt: Wir müssen eine Lösung mit Irland finden, aber der Vertrag von
Lissabon muss bleiben. Aber nun hat die Mehrheit des
Volkes in Irland Nein zu dem Vertrag gesagt.
({2})
Ergo müssten doch andere Vorschläge kommen.
Es gibt Reaktionen der Arroganz auch aus anderen
Ländern Europas. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn
man sagt, man könne sich nicht nach dieser komischen
Insel richten etc. Ich finde diese Haltungen völlig unpassend und erinnere daran, dass damals, als der Verfassungsvertrag keine Mehrheiten in den Niederlanden und
in Frankreich fand, zumindest nicht so arrogant reagiert
wurde wie jetzt gegenüber Irland.
({3})
Aus Art. 6 Abs. 2 des Vertrages von Lissabon geht
klipp und klar hervor, dass alle 27 Mitgliedsländer den
Vertrag ratifizieren müssen. Irland hat nun Nein gesagt.
Wir brauchen jetzt also einen Neuanfang und nicht technische Überlegungen, wie man tricksen kann, um das
Ganze doch irgendwie durchzusetzen.
({4})
Nun ist wahr: Irland hat der Beitritt zur Europäischen
Union sehr gutgetan: Aus einer armen Region wurde eines der reichsten Länder in Europa. Heute liegt dort das
Pro-Kopf-Einkommen höher als in Deutschland. Das
liegt allerdings weniger an Irland und vielmehr an unseren Bundesregierungen, die eine falsche Politik gemacht
haben; aber es ist trotzdem ein bemerkenswertes Faktum.
({5})
Auch für Deutschland ist die EU wichtig. Ich sage immer, die Europäische Union garantiert, dass zwischen
den Mitgliedsländern keine Kriege mehr stattfinden.
Ökonomisch kann man sich so viel besser auf die globalisierte Weltwirtschaft einstellen. Das alles ist wahr.
Aber warum gibt es denn dann ein Nein zum Verfassungsvertrag aus der Mehrheit der Bevölkerungen in
Frankreich, in den Niederlanden und jetzt in Irland? Sind
die irrational? Wollen sie einfach Europa nicht? Sind sie
gar europafeindlich? Ich glaube, das ist eine Arroganz,
die uns nicht zusteht. Dieses Europa wird falsch organisiert. Es schürt Ängste, und deshalb brauchen wir eine
andere Herangehensweise.
({6})
Was hat man denn nach dem Scheitern des Verfassungsentwurfs gemacht? Man hat den Vertrag ein bisschen geändert, um Volksentscheide zu verhindern. Das
war das einzige Ziel,
({7})
damit die Bevölkerungen in Frankreich und den Niederlanden nicht mehr darüber entscheiden dürfen, andere
Bevölkerungen ohnehin nicht. In Deutschland hat man
dafür ja nie den Weg geöffnet, obwohl es höchste Zeit
wäre.
({8})
- Selbst in der DDR gab es mal einen Volksentscheid;
aber das macht sie auch nicht viel besser.
({9})
- Sie müssen bis zum Ende zuhören! Ich sagte gerade,
das macht sie auch nicht viel besser. Die Mehrheit hat Ja
gesagt zur Verfassung, trotz aller Fälschung; das ist viel
schlimmer. Aber das können wir dahingestellt sein lassen.
({10})
- Wenn Sie es besser können, machen Sie doch eigene
Volksentscheide! Warum trauen Sie denn Ihrer Bevölkerung nicht? Das ist doch die entscheidende Frage.
({11})
Der Vertrag von Lissabon erweitert tatsächlich die
Parlamentsrechte; das stimmt. Aber er erweitert nicht
nur die Parlamentsrechte, sondern er geht auch andere
Wege. Er schafft zum Beispiel eine Agentur zur Aufrüstung.
({12})
Er schafft europäische Streitkräfte, die interventionsfähig sein sollen, und zwar ohne wenigstens nationale
Streitkräfte abzubauen, sondern einfach obendrauf. Außerdem regelt er keine neuen sozialen Grundrechte und
geht sogar noch weiter, indem er die Kapitalfreiheiten
über die sozialen Grundrechte stellt, zum Beispiel die
Niederlassungsfreiheit, die Dienstleistungsfreiheit und
die Kapitalverkehrsfreiheit. Die europäischen Sozialstaaten sollen zerstört werden. Das ist auch die Erfahrung der Menschen.
({13})
Ich nenne Ihnen jetzt drei Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs, um die Sie nicht herumkommen. Der Europäische Gerichtshof hat sich dabei auf
europäisches Recht gestützt. Er hat das Streikrecht eingeschränkt. Er hat erstens ganz klar gesagt: Die schwedischen Gewerkschaften dürfen nicht zum Streik aufrufen,
wenn ausländische Arbeitnehmer niedrigere Löhne als
die in Schweden geltenden bekommen. Zweitens hat der
Europäische Gerichtshof gesagt, die Finnen dürfen nicht
streiken, wenn ein Schiff ausgeflaggt wird, damit niedrigere Löhne bezahlt werden können. Drittens hat der Europäische Gerichtshof, gestützt auf europäisches Recht,
erklärt, das Vergabegesetz in Niedersachsen werde aufgehoben - ein CDU-Vergabegesetz, damit wir uns hier
richtig verstehen. Und warum? Weil dort geregelt war,
dass öffentliche Aufträge nur Unternehmen erteilt werden dürfen, die die ortsüblichen Tariflöhne bezahlen.
Der Gerichtshof hat entschieden, dass auch Angebote zu
Billigstlöhnen unterbreitet werden können, um einen öffentlichen Auftrag zu bekommen. Damit wurde klar zum
Ausdruck gebracht: Profite sind wichtiger als ein würdiger Lohn. Das kann man sich nicht bieten lassen.
({14})
Die Konsequenz, Frau Bundeskanzlerin, hätte doch
darin bestehen müssen, dass Sie Ihre Auffassung ändern
und sagen: Wenn der Europäische Gerichtshof so entscheidet, führen wir den flächendeckenden gesetzlichen
Mindestlohn ein, damit klar ist, dass in Deutschland die
Arbeit, die man leistet, gewürdigt wird.
({15})
Aber diesen Weg sind Sie nicht gegangen. Deshalb
mache ich mir Sorgen, denn ich kenne die Ängste. Ich
war in Sachsen und in anderen Ländern. Ich plädiere immer für die europäische Integration,
({16})
weil ich weiß, wie wichtig sie ist. Die NPD quatscht immer dagegen, verstehen Sie? Wenn Sie Ihre Politik nicht
ändern, dann organisieren Sie deren Erfolge, und die will
ich nicht! Das ist das Problem.
({17})
Sie haben ein Europa der Regierungen und nicht
der Bevölkerungen und der Völker organisiert. Das ist
der Fehler. Ich sage noch einmal: Einen Weg zu gehen,
bei dem Volksentscheide verhindert werden, ist falsch.
Wir müssen die Mehrheit der Völker in Europa für diesen europäischen Integrationsprozess gewinnen. Dazu
brauchen wir einen anderen Vertrag als den von Lissabon.
({18})
Einiges kann man übernehmen, aber anderes müssen wir
anders regeln.
Wenn Sie mir das Ganze nicht glauben, dann erlauben
Sie mir, dass ich Jürgen Habermas zitiere, der am
17. Juni dieses Jahres in der Süddeutschen Zeitung geschrieben hat:
Die aufgescheuchten Regierungen wollen nicht ratlos erscheinen, sie suchen nach einer technischen
Lösung. Diese läuft auf eine Wiederholung des irischen Referendums hinaus.
- Auch Sie, Frau Bundeskanzlerin, waren nicht anders
zu verstehen. Das ist der pure Zynismus der Macher gegenüber
dem verbal bezeugten Respekt vor dem Wähler und Wasser auf die Mühlen derer, die munter darüber diskutieren, ob nicht die halbautoritären Formen der andernorts praktizierten Fassadendemokratien besser funktionieren.
An anderer Stelle schreibt er:
Der Ministerrat sollte über seinen Schatten springen
und mit der nächsten Europawahl ein Referendum
verbinden.
({19})
Das wäre richtig. Was wir brauchen, ist ein Neuanfang und nicht Tricks, um das Alte fortzusetzen. Was wir
brauchen, ist ein Europa der Völker. Sie aber wollen nur
ein Europa der Regierungen, und das reicht nicht aus.
({20})
Das Wort erhält nun der Kollege Michael Stübgen,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Fakten,
über die wir heute diskutieren, sind schnell aufgezählt:
In der vergangenen Woche haben 46 Prozent der irischen
Bevölkerung beim Referendum zum Lissabon-Vertrag
mit Ja und 53,4 Prozent mit Nein gestimmt. Die Wahlbeteiligung lag bei 53 Prozent, was für ein Referendum relativ hoch ist. Die Konsequenzen dieses Ergebnisses
sind genauso einfach erklärt: Bleibt es beim irischen
Nein, kann der Vertrag von Lissabon nicht in Kraft treten.
Die Bundeskanzlerin hat zu Recht darauf hingewiesen, dass es zu einem der unverrückbaren Grundsätze
der Europäischen Union gehört, dass gemeinsame Verträge von jedem einzelnen Mitgliedsland nach den dort
geltenden verfassungsrechtlichen Bestimmungen ratifiziert werden müssen. Aber kaum jemand kann und will
mit diesem Ergebnis leben, nicht einmal Irland selbst.
Das muss man deutlich sagen.
Von der Linken haben wir gerade gehört, es sei Arroganz gegenüber Irland, wenn wir darüber nachdenken,
wie man eine Lösung finden kann und wie aus dem irischen Nein vielleicht ein Ja werden kann. Das ist nicht
Arroganz; denn die irische Regierung selber hat nicht
ausgeschlossen, dass es einen solchen Weg geben könnte.
({0})
Ist es Arroganz, wenn man auf diejenigen hört, bei denen
der Schlüssel zu einer möglichen Lösung liegt?
Interessant ist auch die Reaktion der einzigen Partei in
Irland, die massiv für ein Nein beim Referendum geworben hat, die Partei Sinn Féin. Sie erging sich in den letzten Tagen nicht in reinem Jubel und blanker Häme, sondern sie machte eher den Eindruck, als sei es ihr etwas
mulmig zumute; denn ein solches Ergebnis wollte diese
Partei auch nicht. Sie macht jetzt Vorschläge - das ist
doch überraschend -, wie der Vertrag aussehen müsste,
damit ein neues Referendum in Irland zu einem Ja führt.
Was diese Partei fordert und wie in Irland vor dem
Referendum von den Gegnern des Lissabon-Vertrages
diskutiert wurde, zeigt das Problem. Sinn Féin sagt, dass
es mindestens einen irischen Kommissar mit Ewigkeitsgarantie geben muss. Es soll für Irland weitestreichende
Vetomöglichkeiten bei allen möglichen politischen Prozessen geben. Hinzu kommt noch eine ganze Reihe von
anderen nationalen Interessen, die man aus irischer Sicht
durchaus verstehen kann. Das Problem ist aber das Folgende: Eine EU mit 27 und mehr Mitgliedern kann nicht
funktionieren, wenn ein Land von den anderen verlangt,
das und das zu tun, aber nicht darüber reden will, was
die anderen wollen. Das ist das Problem, was sich gerade
an der Reaktion von Sinn Féin abzeichnet.
({1})
Ich will ein paar Sätze zu den möglichen Konsequenzen sagen, die aus dem irischen Nein entstehen können.
Die erste Konsequenz liegt klar auf der Hand: Wenn wir
den Lissabonner Vertrag nicht umsetzen können, dann
werden wir weiter mit dem Vertrag von Nizza arbeiten
müssen. Ich sage: Das wird nicht dazu führen, dass die
Europäische Union untergeht und auseinanderfällt oder
was sonst noch für Katastrophenszenarien in die Diskussion gebracht werden. Aber wir alle wissen, dass die vertragliche Grundlage von Nizza der Europäischen Union
keine ausreichende institutionelle Grundlage für 27 und
mehr Mitgliedsländer gibt. Wir alle wissen, dass die vertragliche Grundlage von Nizza der Europäischen Union
nicht die ausreichende demokratische Legitimation und
Kontrolle der EU-Gesetzgebung gewährleistet. Wir alle
wissen auch, dass der Vertrag von Nizza den Mitgliedstaaten der Europäischen Union nicht genügend Flexibilität bietet. Ich könnte noch eine ganze Reihe von Defiziten dieses Vertrages, auf dessen Grundlage wir jetzt
arbeiten, aufzählen.
Das Wichtigste und Entscheidende ist: Wenn wir weiter auf der Basis des Vertrages von Nizza arbeiten müssen, wird sich das verstärken, was wir in der Europäischen Union zu Recht beklagen - dies ist bisher von
allen Rednern angesprochen worden -, nämlich die Distanz zwischen dem, was in europäisches Recht gesetzt
wird, und dem Verständnis der Bürger davon, wie solches Recht eigentlich entsteht, und den Bedenken, ob
das auch ausreichend kontrolliert wird, die in weiten Teilen der Bevölkerung zu Recht vorhanden sind. Das wird
sich eher verstärken, wenn wir beim Vertrag von Nizza
bleiben, dessen Defizite wir mit dem Vertrag von Lissabon beheben wollten. Das heißt, wir haben ein Dilemma.
Viele derjenigen, die in Irland, aber auch in anderen Ländern - auch in Deutschland - Nein zum Vertrag von Lissabon sagen, sagen Nein zu einer Situation, die wir gerade mit dem Vertrag von Lissabon verbessern wollen.
({2})
Deshalb gibt es zum Lissabon-Vertrag keine Alternative.
Ich möchte eines kurz ansprechen - darüber wird
glücklicherweise öffentlich fast nicht debattiert -: Es gibt
keine Möglichkeit, dass wir den Lissabon-Vertrag in der
Europäischen Union in irgendeiner Weise ohne Irland
einführen. Dies wäre nicht nur politisch falsch. Ein hinreichender Grund ist auch: Es geht nicht. Wir sitzen alle
in einem Boot. Wir können nur alle gemeinsam eine Lösung finden.
Die bisherigen Reaktionen der Regierungen, vieler
Parlamentarier, des Europäischen Parlaments und vieler
Menschen auf das Referendum in Irland geben mir aber
die Hoffnung, dass wir eine Lösung finden werden. Alle
haben verstanden, dass wir uns bei der Suche nach einer
Lösung auf einem sehr schmalen Grat befinden. Einerseits wäre es völlig falsch, jetzt Frust und Ärger an Irland auszulassen und den Eindruck zu vermitteln: Wenn
so ein kleines Land so etwas macht, dann werden wir
ohne es weitergehen. Das wäre völlig falsch; das macht
auch keiner. Genauso falsch wäre es allerdings, so zu
tun, als wäre gar nichts passiert, als hätte dies keine
Konsequenzen und als würde nicht in erster Linie die
Notwendigkeit bestehen, dass sich Irland Gedanken
macht, welches Europa es haben möchte. Denn Irland
bzw. die irische Bevölkerung will nicht weiterhin auf der
Grundlage des Nizza-Vertrages in der Europäischen
Union arbeiten.
Zum Weiteren ist sehr wichtig - auch daran halten
sich alle, die sich öffentlich äußern -: Es ist völlig fehl
am Platz, jetzt wohlfeile und gutgemeinte Ratschläge an
die irische Regierung zu geben, was alles sie jetzt
schnell tun müsste, um endlich wieder mit uns vernünftig arbeiten zu können. Das weiß die irische Regierung
selber. Sie wird es uns auch mitteilen. Wir müssen die
Langmut haben, darauf zu warten.
Ich glaube, der einzig richtige Weg ist jetzt - in nahezu allen Mitgliedstaaten ist diese Tendenz zu erkennen -,
dass wir die Ratifizierungen in denjenigen Mitgliedsländern, in denen sie noch nicht abgeschlossen worden
sind, zu Ende führen. Ich bin ausgesprochen erfreut, dass
das gestern Abend in Großbritannien geschehen ist. Sie
alle wissen, wie kompliziert die innenpolitische Situation in Großbritannien ist.
Ich will ausdrücklich darauf hinweisen, dass ich es
sehr begrüße - ich denke, wir alle begrüßen dies -, dass
das Bundesverfassungsgericht gestern erklärt hat, dass
es das Beschwerdeverfahren zum Vertrag von Lissabon
zu Ende führen wird, sodass auch wir in Deutschland
- das konnten wir beim Verfassungsvertrag nicht - den
Ratifizierungsprozess zu Ende führen können. Bisher hat
niemand die Tür zugeschlagen. Das war anders nach den
Referenden in Frankreich und in den Niederlanden zum
Verfassungsvertrag. Wenn wir nachhaltig, aber auch klar
vorangehen, werden wir zu einer Lösung kommen.
Noch ein letzter Aspekt. Ich habe in der Europapolitik
immer wieder folgende Erfahrung gemacht: Die Europäische Union - vorher: Europäische Gemeinschaft - war
in den letzten 50 Jahren sehr oft in extrem kritischen Situationen. Sie hat es aber immer wieder geschafft, sie hat
immer das Potenzial gehabt, diese kritischen Probleme
zu lösen. Dieses Potenzial zeichnet die Europäische
Union auch heute aus. Deshalb stehen wir, glaube ich,
nicht am Ende einer wichtigen Reform und Entwicklung
in der Europäischen Union, sondern am Anfang.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Nächster Redner ist der Kollege Jürgen Trittin für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Frau Bundeskanzlerin, die Grünen haben Ihnen schon
vor zwei Wochen in einem Brief mitgeteilt, dass es sinnvoll wäre, vor dem Europäischen Rat eine Regierungserklärung abzugeben. Ihr Kanzleramtschef, Herr de
Maizière, rief bei uns an und fragte: Warum eigentlich?
Auf dem Europäischen Rat steht doch gar nichts Entscheidendes an. - Meine Damen und Herren, so kann
man sich täuschen. Sie haben nach dem alten kölschen
Motto „Et hätt noch immer jot jejange“ agiert.
({0})
Und jetzt stehen Sie - das hat Ihre Regierungserklärung
offenbart - ohne Plan B da.
({1})
- Vielleicht auch ohne Plan C.
Die Situation ist schwierig. Wir hätten heute gerne
eine Antwort auf die Frage bekommen, wie man aus dieser schwierigen Situation wieder herauskommen kann.
Schließlich ist im nächsten Juni Europawahl. Wie viele
Abgeordnete werden dann gewählt? 736 oder 751? Drei
Deutsche mehr oder drei Deutsche weniger? Das sind
noch die einfachsten Fragen in diesem Zusammenhang.
Ein bisschen mehr als die Aussage, dass man mit dem
irischen Ministerpräsidenten über diese Fragen sprechen
werde, hätten wir von Ihnen in einer Regierungserklärung vor dem Europäischen Rat schon erwartet, Frau
Merkel.
({2})
Dieses eigentümliche Schweigen und diese Hinterzimmerdiplomatie sind Gründe, warum Europa vielfach so
wenig populär ist.
Lieber Gregor Gysi, ich stimme Ihnen ja zu: Nicht
jede Neinstimme in Irland war eine Stimme gegen Europa. Machen wir uns aber nichts vor: Ohne katholische
Abtreibungsgegner, ohne eine subventionsgierige Agrarindustrie, ohne die markradikale Murdoch-Presse und
ohne die IRA wäre es nicht zu dieser Mehrheit gekommen. Sie sollten mit Ihrem Beifall etwas vorsichtiger
sein, gerade wenn Sie es ernst meinen.
({3})
Natürlich muss man das Votum der Iren respektieren
und ernst nehmen. Genau das haben doch alle in Europa
erklärt. Wir müssen mit den Iren eine Lösung finden.
Das, was Sie vorschlagen, ist aber keine Lösung. Sie sagen: 3 Millionen Iren haben mehrheitlich mit Nein gestimmt. Organisieren wir doch einfach einen europaweiten Volksentscheid über diese Frage; denn dann fallen
die 3 Millionen Iren nicht mehr so sehr ins Gewicht. Das
ist arrogant, lieber Kollege Gysi, und nicht der Vorschlag, auf die Iren zuzugehen.
({4})
Ihr Vorschlag zeugt zudem von massiver Unkenntnis;
denn solch ein europaweiter Volksentscheid wäre nur
nach einer Vertragsänderung möglich, die der Zustimmung aller Mitgliedstaaten bedürfte. Dieser Vertragsänderung müsste die irische Bevölkerung in einem nationalen Plebiszit zustimmen. Mit Ihrem Vorschlag haben Sie
sich selbst ins Knie geschossen.
({5})
Deswegen sage ich: Es gibt keine Alternative zu dem
Versuch, diesen Prozess, der vor acht Jahren begonnen
hat, erfolgreich zu Ende zu bringen, und zwar mit den
Iren. Was waren das für acht Jahre? In diesen acht Jahren
haben wir eine US-Administration erlebt, die die Welt
nicht sicherer, sondern unsicherer gemacht hat. Wir erleben zurzeit den zweiten globalen Finanzcrash in diesen
acht Jahren: Nach der New-Economy-Blase platzt jetzt
auch die Immobilienblase. In diesen acht Jahren haben
wir einen atemberaubenden Aufstieg von Indien und
China erlebt - ökonomisch wie politisch - und die Rückkehr Russlands auf die Bühne der Weltpolitik. Das ist
die Welt, in der wir alle in Europa leben. Das ist die
Welt, in der wir ein handlungsfähiges und demokratisch
stärkeres Europa brauchen, kein Zurück zum Nationalstaat.
({6})
Deswegen dürfen wir nicht noch einmal acht Jahre
verlieren. Wir müssen mit offenem Visier für ein demokratisches und handlungsfähigeres Europa streiten. Was
hieße es, wenn der Vertrag von Lissabon scheitern
sollte? Das hieße keine verbindliche Grundrechtecharta
mit individuell einklagbaren Rechten. Das hieße keine
Aufwertung der Daseinsvorsorge gegenüber dem Wettbewerbsrecht. - Ihre Beispiele stimmen. Aber Sie kritisieren damit den jetzigen Vertragszustand, dessen Basis
der Vertrag von Nizza ist. Dieser muss überwunden werden.
({7})
Ein Scheitern hieße auch, keine Einführung der europäischen Bürgerinitiative, kein Hoher Vertreter für Außen- und Sicherheitspolitik und keine Ausweitung der
parlamentarischen und gerichtlichen Kontrolle über die
polizeiliche Zusammenarbeit. Das alles hieße es, wenn
der Vertrag von Lissabon scheitern sollte.
Ich habe hier bewusst zitiert. Diese Sätze stammen
nicht von einem Grünen, sondern von Dr. Sylvia-Yvonne
Kaufmann. Sie muss es wissen. Sie war nämlich die Vertreterin der Linken in dem Konvent, der diesen Vertrag
öffentlich vorbereitet hat.
({8})
Wir müssen mit den fahrlässigen Reden über Europa
aufhören. Fahrlässig ist es übrigens, diese Debatte damit
zu beginnen, Atomkraft als einen Superbeitrag zum
Klimaschutz vorzuschlagen.
({9})
Lieber Herr Westerwelle, diese Position sollten Sie einmal in Irland zur Abstimmung stellen vor dem Hintergrund der Erfahrungen, die dieses Land mit der Wiederaufbereitungsanlage von Sellafield und den britischen
Atomkraftwerken gemacht hat. Ich garantiere Ihnen,
dass in einem solchen Fall die Zahl der Neinstimmen
noch höher ausfallen wird, als es dieses Mal der Fall
war. Das ist ein ganz falscher Ratschlag.
({10})
Es muss Schluss sein mit der Doppelzüngigkeit in
den Reden über Europa. Man kann nicht auf der einen
Seite sagen, Frau Merkel, man sei für Klimaschutz, aber
auf der anderen Seite in Europa die Richtlinie über den
Emissionshandel im Luftverkehr blockieren. Sie haben
mit Herrn Sarkozy Regelungen über den Verbrauch von
Autos vereinbart, die sogar hinter die Selbstverpflichtungen der Automobilindustrie zurückfallen. Das ist doppelzüngig. Das beschädigt das Ansehen und die Glaubwürdigkeit von Europa.
({11})
Meine Kritik soll aber nicht einseitig ausfallen. Man
kann nicht wie Herr Beck ein soziales Europa fordern und
dann von 2005 an zusammen mit Großbritannien die Verabschiedung der Arbeitszeitrichtlinie in Europa blockieren. Was ist am Ende herausgekommen? Herausgekommen ist eine Erhöhung der Mindestarbeitszeit. Es ist jetzt
möglich - das feiert die SPD als Erfolg -, 65 Stunden in
der Woche zu arbeiten, Ärzte sogar 90 Stunden. Ich sage
Ihnen: Wem das Interesse von Krankenhausträgern wichtiger als die Schutzrechte von Krankenschwestern ist, der
versündigt sich an Europa. Das ist unser Problem.
({12})
Meine letzte Bemerkung. Man kann mit mir gerne
über Bürokratieabbau reden. Aber was macht Deutschland? Wenn die EU-Kommission vorschlägt, die 36 Vorschriften über Obst und Gemüse, darunter die legendäre
Vorschrift über die Krümmung der Salatgurke, zu streichen, dann ist Deutschland dagegen. Man kann zwar
Herrn Stoiber nach Brüssel schicken, aber in dieser
Frage verteidigt man die Bürokratie gegen Bemühungen
zur Entbürokratisierung Europas.
({13})
Anschließend erklären Sie hier, Europa sei bürokratisch.
Das ist doppelzüngig. Das ist der Grund, warum wir solche Probleme mit mehr Demokratie und mehr Europa
haben.
({14})
Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege Axel
Schäfer.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Vieles von dem, was Jürgen Trittin gesagt hat, war richtig; das, was er in Richtung Bundesregierung gesagt hat,
war falsch. Das zeigt sich vor allen Dingen daran, dass
diese Bundesregierung in der Kontinuität dessen, was
unter Rot-Grün begonnen worden ist, innerhalb der EuAxel Schäfer ({0})
ropäischen Union ein hohes Ansehen genießt, vieles vorangebracht hat und mit ihrer Ratspräsidentschaft Wegweisendes für die Zukunft dieses gemeinsamen Europas
geschaffen hat. Deshalb sind wir mit dieser Bundesregierung auf einem gemeinsamen europapolitischen Kurs.
({1})
Auf der grünen Insel haben viele ein blaues Wunder
erlebt; dennoch sollten wir weder schwarzsehen noch die
Ampel auf Rot stellen. Lassen Sie uns die Debatte heute
selbstbewusst und selbstkritisch zugleich führen. Wir
können das aber nicht machen, lieber Kollege Gysi, indem wir hier alle populistischen Vorurteile bedienen,
draufsatteln, übertreiben, manches falsch darstellen, und
uns hinterher darüber beklagen, dass es Europaskeptizismus gibt. So geht es eben nicht.
({2})
Wenn wir diese Debatte führen, dann lassen Sie uns in
diesem Hause - hier gab es einige Zurufe zum Thema
Volksabstimmung - ehrlich über Plebiszite reden. Jawohl, in Irland hat man mit Nein votiert. Beim Referendum davor in Luxemburg hat man mit Ja votiert, beim
Referendum in Frankreich mit Nein und beim Referendum in Spanien mit Ja. Wir haben seit 1972 in 19 Ländern in Europa Erfahrungen mit Volksabstimmungen.
Ich kann sie Ihnen alle in Ruhe erläutern. Das muss hier
jetzt nicht sein; aber Sie können gerne auf das Angebot
zurückkommen.
Wir haben die Erfahrung gemacht, dass alle 15 grundlegenden Entscheidungen hinsichtlich eines Ja oder Nein
zu diesem Europa positiv verlaufen sind. Hier bildet nur
Norwegen die Ausnahme, was wir heute noch bedauern.
Aber es gibt Unterschiede: In Irland oder Frankreich
stimmt man alle fünf bis zehn Jahre ab, in den Niederlanden nur alle 200 Jahre. Das führt dazu, dass an diesem
einen Tag, an dem man so einfach öffentliche Wut erzeugen kann, nun Probleme hochschäumen, die Sachaufklärung in den Hintergrund tritt. Diese Abstimmung geschieht außerhalb der normalen politischen Arbeit in
einer repräsentativen oder auch einer direkten Demokratie. Deshalb ist es an der Stelle schiefgelaufen.
Wir wissen - ich sage das als ausdrücklicher Befürworter für meine Fraktion - hinsichtlich der direkten Demokratie: Dort, wo die Volksabstimmung eine Ergänzung zur repräsentativen Demokratie ist, zum Beispiel in
der Schweiz, wo sie alle drei bis fünf Monate stattfindet,
werden auch Sachentscheidungen getroffen und nicht
Wut gegen Regierungen, Ausländer oder andere zum
Ausdruck gebracht. Da funktioniert es. Wir bemühen
uns weiter, unsere geschätzten Koalitionspartnerinnen
und -partner, vor allen Dingen die CDU, davon zu überzeugen, das Grundgesetz dahin gehend zu ergänzen. Die
FDP war in dieser Hinsicht halbe-halbe. Die Grünen
wissen wir an unserer Seite. Mal schauen, wie weit wir
mit diesem Vorhaben kommen. Es ist nicht vergessen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht auch um unsere Verantwortung. Lassen Sie mich das ganz offen sagen. Es gibt zuerst eine Verantwortung der Bundesregierung, die sie heute wahrnehmen wird. Das, was die
Bundeskanzlerin ausgeführt hat und was der Außenminister repräsentiert, ist die Linie unserer Fraktion und
unserer Koalition. Es ist die richtige Linie, und es ist gut,
dass wir das heute vor dem Europäischen Rat noch einmal deutlich machen.
({3})
Es gibt auch die Verantwortung des Bundespräsidenten. Ich sage für meine Fraktion: Wir würden uns
sehr freuen, wenn Horst Köhler nach der Ratifizierung
unterschreibt, sehr wohl respektierend, dass die Urkunden nicht vor der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nach Rom übersandt werden. Wir freuen uns
auch, dass das Bundesverfassungsgericht das Verfahren
annimmt und nicht wie beim Verfassungsvertrag zuwartet. Es kann nicht sein, dass wir so lange warten, bis
überall ratifiziert wird, während an anderer Stelle nicht
ratifiziert wird, weil wir es in Deutschland noch nicht
getan haben.
Sowohl in Richtung der Bundeskanzlerin als auch in
Richtung von Herrn Huber, in Richtung von Herrn
Westerwelle genauso wie in Richtung von Herrn Kuhn
und Frau Künast und natürlich auch in Richtung von
Kurt Beck und Frank-Walter Steinmeier - da weiß ich es
in guten Händen - sage ich hier ganz bewusst, weil wir
uns in unseren Fraktionen im Rahmen des europäischen
Verfassungsbogens in Parteifamilien bewegen: Bitte sorgen Sie überall dort, wo Sie es können, in Ihren Parteifamilien in anderen Ländern, in denen jetzt noch die Ratifizierung aussteht - wir sind in der glücklichen
Situation, dass Liberale, Christlich-Konservative, Grüne
und Sozialdemokraten in Regierungen vertreten sind, die
noch ratifizieren müssen; ich denke an Schweden,
Zypern, Tschechien und Spanien -, dafür, dass wir als
deutsche Europäer im Dialog mit unseren Schwestern
und Brüdern in diesen Parteifamilien unseren Beitrag
leisten, sodass den Regierungen in diesen Ländern die
Ratifizierung gelingt. Dann kann die Ratifizierung in
26 Ländern abgeschlossen werden. Lassen Sie uns das
machen. Das ist unsere Verantwortung. Dort, wo wir einbezogen werden, können wir das leisten. Hier sollten wir
uns bewusst mit einklinken.
Weil man schon am Anfang das Ende bedenken
sollte - es geht schließlich darum, erfolgreich abzuschließen -, will ich ganz offen Folgendes ansprechen:
Es gibt bereits Erfahrungen mit Referenden. Man kann
sie so oder so anlegen. Manche französischen Präsidenten haben zum Beispiel versucht, damit die Opposition
zu spalten. Ich erinnere in diesem Zusammenhang nur an
die Abstimmung in Frankreich über den Beitritt von
Dänemark, Irland und Großbritannien.
Ich glaube, der Einzige, der einmal ein hochkontroverses Referendum so angelegt hat, dass es „europagemäß“ war, war Harold Wilson, und er tat dies in einem
sehr zerrissenen Land. Es ist klar, dass wir unseren
irischen Kolleginnen und Kollegen keine Ratschläge geben - denn Ratschläge sind immer auch Schläge -, aber
darauf möchte ich hinweisen. Letztlich müssen Regie17836
Axel Schäfer ({4})
rung und Parlament in Dublin selbst entscheiden, was sie
tun.
Harold Wilson hat damals angesichts der großen Probleme in Großbritannien nach einer Nachverhandlung
in Brüssel entschieden, mit einem Referendum vor das
Volk zu treten. Er sagte: Bei der Abstimmung geht es darum, dass nach dem Ergebnis der Verhandlung mit Ja gestimmt wird. Wenn eine Mehrheit ablehnt, dann wird
Großbritannien austreten. - Um diese Alternative ging
es im Jahre 1975. Im Ergebnis stimmte eine große Mehrheit für die geplanten Veränderungen und für den Verbleib Großbritanniens in der EG.
Gerade wir, die wir Irland in der Europäischen Union
halten wollen, müssen auch ein bisschen in diese Richtung denken. Für das Europa des 21. Jahrhunderts muss
klar sein: Es gibt kein Europa des 20. Jahrhunderts mehr.
Die Welt wartet nicht auf uns. Wir haben eine Verantwortung, die wir wahrnehmen müssen.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zum Abschluss
möchte ich darauf hinweisen: Es kommt nicht nur darauf
an, was wir zu Europa sagen, sondern auch darauf, wie
wir es sagen. Wir müssen aus Überzeugung handeln und
auch das Positive darstellen. Wir dürfen aber nicht so
tun, als kämen alle Probleme aus der EU.
Leider haben wir es nach der deutschen Einigung
nicht geschafft, den Text der Kinderhymne von Bert
Brecht zu unserer Nationalhymne zu machen.
({6})
In Abwandlung von Brecht könnte man mit Blick auf die
EU sagen:
Weil Europa wir verbessern,
Lieben und beschirmen wir’s.
Und das liebste mag’s uns scheinen
So wie andern Völkern ihr’s.
Vielen Dank.
({7})
Nun hat für die FDP-Fraktion der Kollege Markus
Löning das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren!
Nachdem die Briten im Hinblick auf die EM ihre Optout-Möglichkeit wahrgenommen haben, finde ich es sehr
begrüßenswert, dass das Oberhaus gestern den Vertrag
von Lissabon ratifiziert hat. Das sollten wir alle gemeinsam begrüßen.
({0})
Herr Gysi, an Ihrer Rede war bemerkenswert, dass
Sie meinen, sich von der NPD abgrenzen zu müssen. Ich
muss Ihnen aber sagen: Was diese Frage betrifft, sitzen
Sie mit der NPD in einem Boot.
({1})
Ihre Partei fährt nämlich einen europafeindlichen und integrationsfeindlichen Kurs.
({2})
Meine Damen und Herren, wenn wir das Ergebnis der
Abstimmung in Irland ernst nehmen, müssen wir uns die
Frage stellen: Wie wollen wir in Zukunft weitere Reformschritte innerhalb der EU gehen? Natürlich wollen
wir gemeinsam vorgehen, soweit es irgendwie möglich
ist. Allerdings müssen wir auch zur Kenntnis nehmen,
dass es mit 27 oder womöglich 28 Ländern, wobei ein
Partner alle anderen blockieren kann, so gut wie unmöglich sein wird, weiterhin im gleichen Tempo vorzugehen.
Es ist legitim, darüber nachzudenken, wie wir weitere
Integrationsschritte machen können, wie wir also die
Mechanismen und die Zusammenarbeit in der Europäischen Union gegebenenfalls anders gestalten können.
Natürlich ist es wünschenswert, auf der Grundlage
von Lissabon zu handeln. Denn das heißt, dass wir innerhalb des Rechtsrahmens der Europäischen Union vorgehen, mit parlamentarischer Kontrolle durch uns und mit
parlamentarischer Kontrolle durch das Europäische Parlament. Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass wir
auch wenn der Vertrag von Nizza gilt, bei der Integration
voranschreiten müssen. Es wird dann allerdings wesentlich schwieriger werden, es werden ganz andere Aufgaben auf uns als Bundestag zukommen. Wir werden uns
wesentlich mehr in die Debatten einklinken müssen, als
wir das in den letzten Jahren getan haben.
Lassen Sie mich zum Schluss meiner leider sehr kurzen Redezeit darauf eingehen, wie wir - das ist mehrfach
angesprochen worden - bei unseren Bürgerinnen und
Bürgern mehr Akzeptanz für die Europäische Union
bekommen. Wir müssen uns trauen, offensiv über die Erfolge der Europäischen Union zu reden. Wir tun das bisher nicht; dabei will ich mich persönlich nicht unbedingt
ausnehmen. Ich will ein Beispiel nennen, wo die Bundesregierung etwas Gutes tun könnte: Sorgen Sie dafür,
dass die volle Freizügigkeit von Arbeitnehmern aus EUStaaten endlich auch in Deutschland gilt!
({3})
Ducken Sie sich an dieser Stelle nicht weg, sondern setzen Sie ein klares politisches Signal für die europäische
Integration und für ein „Herzlich willkommen!“ an unsere Nachbarn! Es ist nämlich auch im Sinne unserer
Bürger, wenn die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit endlich auch in Deutschland gilt.
Danke.
({4})
Nächster Redner ist der Kollege Gunther Krichbaum
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Natürlich fragen sich viele Bürgerinnen
und Bürger ebenso wie die Kollegen in diesem Haus,
wie es nach dem irischen Referendum weitergeht. Herr
Trittin, es gibt keinen Plan B; der Vertrag, über den die
Iren abgestimmt haben, war gerade dieser Plan B. Es
darf auch kaum verwundern, dass bei einem derart komplexen Vertragswerk nicht noch Pläne C, D, E, F, G - bis
wir das Alphabet durchhaben - in der Schublade liegen.
Es stellt sich die Frage, wie wir mit dieser Situation
umgehen und welche Botschaft insbesondere von unserer heutigen Debatte ausgehen kann. Die zentrale Botschaft muss sein - das hat Bundeskanzlerin Angela
Merkel betont -, dass die Ratifizierungsverfahren in
den Ländern, die den Vertrag noch nicht ratifiziert haben, weitergehen müssen. Das ist eine wichtige Botschaft. Ich kann nur unterstreichen, was Kollege Löning
hervorgehoben hat: Es ist gerade in der jetzigen Zeit
wichtig, dass gestern Großbritannien den Vertrag von
Lissabon ratifiziert hat. Das ist ein positives Signal für
den weiteren Prozess.
({0})
Denn was wären die Alternativen? Wir könnten sagen: Wir tun gar nichts. Damit respektieren wir logischerweise das Referendum, das in Irland zustande kam.
Aber zu Ende gedacht wissen wir, dass dies keine Alternative sein kann. Das ist das Problem bei den Volksabstimmungen, die immer wieder debattiert werden: Bei
einer Volksabstimmung ist es wichtig, dass eine seriöse
Alternative vorhanden ist. Wie soll die in diesem Fall
aussehen?
Man muss den Menschen klipp und klar sagen: Wer
den Vertrag von Lissabon nicht will, ist automatisch für
den Vertrag von Nizza. Doch dieser Vertrag ist gerade
der Grund für die jahrelangen Bemühungen, für die zähen Verhandlungen, für das Verfassungsprojekt gewesen: weil wir diesen Schritt nach vorne gehen wollen,
weil wir auch den Staaten des westlichen Balkans eine
europäische Perspektive geben möchten, die zu mehr
Stabilität in der Region führt. All das geht nicht mit dem
Vertrag von Nizza. Die Obergrenze ist in diesem Fall mit
27 Mitgliedstaaten gezogen. Das wissen all diejenigen,
die sich hiermit im Detail auseinandersetzen. Deswegen
ist es wichtig für das Projekt Europa, dass wir an dieser
Stelle vorankommen und das, wofür wir so lange gekämpft haben, zum Erfolg führen.
Logischerweise kann ein neuer Vertrag keine Alternative bilden; denn auch für einen neuen Vertrag - das haben Kanzlerin Merkel und Außenminister Steinmeier
gesagt - wäre die Einstimmigkeit Voraussetzung. Ebendiese Einstimmigkeit kam aber nicht zustande.
Wie kann eine Lösung aussehen? Es ist in der Tat ein
schmaler Grat zwischen dem zu respektierenden Referendum und dem Wunsch, weiterzukommen. Hier ist zu
allererst das Mitgliedsland Irland gefordert. Irland muss
Vorschläge für einen Weg aus dieser Krise vorlegen. Im
Falle Dänemark - er wurde jetzt oftmals zitiert - geschah dies nach dem Scheitern des Vertrages von
Maastricht durch die Edinburgher Vereinbarung. Ob hier
flankierende Erklärungen abgegeben werden können,
damit es möglich wird, zu einem späteren Zeitpunkt zuzustimmen, müssen wir sehen. Ich glaube aber, eines
muss klar sein - das muss auch die klare Botschaft an
Irland sein -: Ein Wiederaufschnüren des Paketes, also
ein Wiederaufschnüren des Vertrages von Lissabon,
kann es nicht geben; denn sonst müssten wir überall wieder von vorne anfangen. Das heißt: Der Ratifizierungsprozess müsste in allen Mitgliedstaaten von vorne losgehen. Ich glaube, dafür hätten die Bürger am
allerwenigsten Verständnis - schon gar nicht in den Ländern, in denen bereits erfolgreich ratifiziert wurde. Ich
gebe nur zu bedenken: Gerade in Spanien gab es ein positives Referendum zur europäischen Verfassung.
({1})
Deswegen stellen sich - banal - die Fragen: Wo ist
der Schaden? Wo ist der Nutzen? Einen Schaden durch
einen nochmaligen Anlauf, also ein neuerliches Referendum, das in Irland zwingend vorgeschrieben ist, sehe ich
langfristig nicht. Ich sehe aber einen Nutzen. Deshalb
sollte man diesen Weg beschreiten. Wie bereits gesagt:
Ansonsten würde der Vertrag von Nizza weiter gelten.
Der Vertrag von Nizza ist aber für ein Europa der
15 Mitgliedstaaten gemacht worden. Man kann es sich
bildlich so vorstellen, dass das die Kinderschuhe des integrierten Europas waren, die aber längst an allen Ecken
und Enden drücken, weil wir ein Europa der 27 Mitgliedstaaten geworden sind. Deswegen brauchen wir ein
größeres Schuhwerk, um die nächsten Schritte gehen zu
können.
Gerade in den letzten Tagen wurde ich häufig auf
Kroatien angesprochen. Ich möchte klarstellend sagen:
Natürlich kann auf der Grundlage des Vertrages von
Nizza vorläufig kein weiterer Erweiterungsschritt folgen. Zunächst sind die Kandidatenländer aber auch ihrerseits gefordert, die Voraussetzungen für eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union zu erfüllen. Hier
bleibt auch für Kroatien noch eine Menge zu tun. Wir
wissen das aufgrund der Fortschrittsberichte. Deswegen
kann an dieser Stelle durchaus eine kleine Entwarnung
hinsichtlich der Sorgen gegeben werden, die gerade
diese Länder haben. Ich sehe dies langfristig nicht als
gefährdet an, weil wir, so denke ich, mit dem Vertrag
von Lissabon bis dato weitergekommen sein werden.
Im Ergebnis gilt deswegen: Wir brauchen den Vertrag
von Lissabon, wenn wir zu einem Mehr an Transparenz
kommen möchten, sodass die Bürgerinnen und Bürger in
Zukunft sehr gut nachvollziehen können, wofür Europa
zuständig ist und wofür die einzelnen Mitgliedstaaten
zuständig sind. Genau die Tatsache, dass sie diese klaren
Zuständigkeiten und Abgrenzungen nicht kennen, führt
bei den Bürgern oft zu einer gewissen Verdrossenheit.
Also ist der Vertrag von Lissabon an dieser Stelle die Lösung für die Probleme vieler Bürger und nicht das Problem.
Europa wird handlungsfähiger, weil nicht nur die Anzahl der Mitentscheidungsverfahren des Parlamentes,
sondern vor allem auch die Anzahl der Mehrheitsentscheidungen zunimmt. Das heißt, wir entblockieren uns
selbst an vielen Punkten. Damit ist auch das Ende von
vielen zähen Nachtsitzungen in Sicht. Auch dieses Signal können wir hier den Bürgern geben. Daneben wird
es auch demokratischer, weil es mehr Mitsprachemöglichkeiten des Europäischen Parlamentes und der nationalen Parlamente - insbesondere des Bundestages - geben wird.
Deswegen: In dieser zugegebenermaßen jetzt schwierigen Situation brauchen wir einen Erfolg; denn die Bürger erwarten in der Tat, dass wir Antworten liefern und
die politische Nabelschau beenden, in der wir in den
letzten Jahren gefangen waren. Das heißt im Klartext:
Wir müssen Lösungen für die drängenden Probleme hinsichtlich der Energiesicherheit, der Energieversorgungssicherheit und des internationalen Terrorismus sowie im
Bereich des Klima- und Umweltschutzes liefern. Europa
ist die beste Antwort auf die Herausforderungen der Globalisierung; denn den Herausforderungen, die uns hier
bevorstehen - aus den USA und aus Fernost -, kann kein
Mitgliedstaat alleine begegnen, sei er für sich genommen auch noch so groß. Genau hier brauchen wir Europa. Das erkennen auch die Bürger.
Erlauben Sie mir eine letzte Bemerkung. Ich glaube,
die jetzige Diskussion zeigt auch, dass ein Angebot an
jene Staaten notwendig ist - damit kann ich an das anknüpfen, was mein Kollege Löning bereits festgestellt
hat -, die den Wunsch haben, stärker voranzugehen, als
dies in der Vergangenheit der Fall war.
Es ist klar, dass die politische Union der Europäischen Union nur dann handlungsfähig und glaubwürdig
ist, wenn wir zusammenstehen. Nur dann können wir gemeinsam die Ziele durchsetzen. Es gibt aber Vorhaben,
die wir besser voranbringen können, wenn sich Staaten
zusammentun. Ich sehe ein Kerneuropa nicht als negativ an. Wenn es nicht wie ein Kirschkern oder Pfirsichkern bleibt, sondern ein Kern im Sinne eines Magneten
wird, der andere mitzieht und dann auch eine vertiefte
Integration zulässt, dann haben wir, glaube ich, die Bürger auch wieder stärker auf unserer Seite.
Vielen Dank.
({2})
Dr. Dieter Dehm ist der nächste Redner für die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Vertrag von Lissabon war der Versuch, die gescheiterten Inhalte in einer anderen Form durchzuzwingen. Er ist gescheitert. Laut Umfragen dieser Woche sind in England
zwei Drittel der Bevölkerung gegen den Lissabon-Vertrag; die Regierung ist dafür. In Frankreich ist in sämtlichen Umfragen eine stabile Mehrheit dagegen; Sarkozy
ist dafür.
In Deutschland gibt es, seitdem die Bild-Zeitung von
einer 75-prozentigen Mehrheit gegen den EU-Verfassungsvertrag berichtet hat, merkwürdigerweise keine
breite Umfrage mehr.
({0})
Kollege Löning, ersparen Sie uns bitte solche Gleichsetzungen, wer mit wem in einem Boot sitzt! Bedenken
Sie immer, dass nicht Sie, sondern der Kollege Gysi von
Neonazis tätlich angegriffen wird. Ich erspare Ihnen wiederum den Vergleich mit den italienischen Neofaschisten, die für den Lissabon-Vertrag sind.
({1})
Kollege Trittin, Sie haben spekuliert, wer alles an der
Mehrheit beim Referendum in Irland schuld sei. Sie werden wohl kaum vermeiden können, zuzugeben, dass in
diesem Bundestag eine Mehrheit für den Lissabon-Vertrag nur mit Zustimmung der Kalten Krieger und der
Aufrüstungslobby möglich gewesen ist.
({2})
Denn im Lissabon-Vertrag ist von einer „schrittweisen
Verbesserung der militärischen Fähigkeiten“ die Rede,
und das heißt nichts anderes als Aufrüstung.
({3})
Ich will noch etwas klarstellen: Der Kollege Gysi und
die Linke haben für Volksabstimmungen Staat für Staat
plädiert, während die FDP im Europaparlament für ein
Plebiszit in Gesamteuropa eingetreten ist, mit dem das
Ergebnis des Referendums in Irland einkassiert werden
könnte. Ihre Befürchtung richtet sich also gegen das, wofür die FDP plädiert hat, nicht gegen uns.
Die Bundesregierung reagierte auf die Entscheidung
Irlands durch ihren Außenminister. Der Kanzlerkandidat
der SPD-Rechten äußerte sich konfus und wenig demokratisch. Erst riet er Irland, das Land solle sich - ich zitiere - „vorübergehend vom Integrationsprozess abkoppeln“ und „für eine Zeitlang den Weg freimachen für
einen weiteren Integrationsprozess der 26 übrigen Staaten“. Dann verwies er ähnlich wie die Kanzlerin auf das
dänische Modell: Das irische Volk soll so oft abstimmen,
bis es der Regierung gefällt. Roland Koch lässt grüßen.
Schließlich gestand Herr Steinmeier generös zu - ich
zitiere -: „Irland bekommt Zeit für eigene Vorschläge im
Laufe des Jahres.“ Was kommt dann, Herr Außenminister und Kanzlerkandidat? Womit wollen Sie dann drohen?
Wer jetzt die neoliberalen, militaristischen und wenig
demokratischen Inhalte des Verfassungsvertrages um jeden Preis durchsetzen will, der tut dies um den Preis der
Einheit der Europäischen Union. Der grüne Europaabgeordnete Cohn-Bendit hat dies dankenswerterweise ganz
offen im Spiegel ausgeplaudert: Er will die Spaltung in
- ich zitiere - „auf der einen Seite eine europäische Föderation jener Staaten“, „die weitergehen wollen in ihrer
Gemeinsamkeit, die ihre … militärische, ökologische
und ökonomische Zusammenarbeit vertiefen wollen …
Mit Frankreich und Deutschland als Kern …“ Den anderen bleibe „eine Art privilegierte Partnerschaft“.
Gegen dieses Abenteurertum und die Steinmeier’sche
Gutsherrenart unterstreicht die Linke: Demokratisch gefällte Entscheidungen nach der Verfassungsordnung der
27 Länder müssen respektiert werden.
({4})
Mit dem Grundgesetz, seiner Sozialstaatlichkeit,
Rechtsstaatlichkeit und seinem Angriffskriegsverbot
müssten Sie keine Angst vor einer Volksabstimmung in
Deutschland haben.
Wir brauchen einen neuen Anlauf zur Änderung der
bestehenden Verträge - auch des Vertrages von Nizza -,
aber nur dann, wenn von den Referenden in Frankreich,
den Niederlanden und Irland ausgegangen wird und der
Inhalt der Verträge von der Bevölkerung der Mitgliedstaaten akzeptiert werden kann. Der Sprecher der französischen Sozialisten, Julien Dray, formulierte vorgestern
die vor uns liegenden europapolitischen Aufgaben so:
„Europa braucht eine demokratische und soziale Neugründung, die vom Volk ausgehen muss.“ Auch in
Deutschland muss ein breiter Diskurs über einen neuen
EU-Verfassungsvertrag beginnen, für eine wahre Integration, die nur sozial sein kann, will sie nicht eine bloße
seelenlose Addition einer Freihandelszone bleiben, und
mit Volksabstimmungen.
({5})
Ohne Anspruch darauf, den richtigen Weg schon jetzt
in allen Einzelheiten zu kennen, ist die Linke bereit, sich
in ein solches Projekt mit eigenen Vorstellungen und
Vorschlägen selbstbewusst einzubringen. Nur Sozialstaatlichkeit schafft Vertrauen bei den Bürgerinnen und
Bürgern. Lasst uns mehr Demokratie mit den Völkern
und nicht hinter ihrem Rücken wagen! Lasst uns neuen
Mut für ein soziales und friedliches Europa machen! Irland gibt uns allen die Chance für einen neuen Anfang.
({6})
Das Wort erhält nun der Kollege Rainder Steenblock,
Bündnis 90/Die Grünen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was richtig ist und
was eine gemeinsame Klammer in diesem Haus sein
könnte, ist unser Unbehagen - nicht erst nach dem Referendum in Irland, sondern schon nach den vorangegangenen Referenden - darüber, dass es uns allen nicht gelungen ist, die Menschen in Europa ausreichend zu
überzeugen, warum das anstehende Projekt, für das es
hier eine große Mehrheit gibt, die einzige mögliche Antwort auf die Herausforderungen der Globalisierung ist;
das müssen wir akzeptieren. Das ist der Vorwurf, der in
diesem Haus häufig von der Linken gemacht wird. Die
Argumente sind zwar falsch, aber der Vorwurf hat einen
rationalen Kern. Wir haben die Verpflichtung, uns dem
zu stellen. Richtig ist - das ist die populistische Konsequenz dieser Herausforderung -, dass die Menschen kein
Vertrauen haben, dass die Europäische Union ihre
Schutzmacht bei der Vertretung ihrer sozialen Interessen, der Erzielung notwendiger ökologischer Fortschritte
und der Schaffung supranationaler Strukturen ist, die wir
brauchen, um auf internationaler Ebene Gewicht zu haben und verhandlungsfähig zu sein. Aber das kann man
nicht dadurch gewinnen, dass man jeden Tag den Bürgerinnen und Bürgern Europas die Unfähigkeit der EU vorzugaukeln versucht. Das steht im Gegensatz zur Wirklichkeit.
({0})
Das ist die Kernproblematik, die wir in der Öffentlichkeitsarbeit haben. Meine Damen und Herren von der
Linken, hier wende ich mich ganz besonders an Sie. Ich
unterstelle niemandem in der Linksfraktion - noch nicht
einmal ansatzweise -, dass er gemeinsame Sache mit
den Nazis machen will. Ganz im Gegenteil: Hier wissen
wir Sie auf unserer Seite. Aber mit Ihrer Argumentation
stellen Sie den Verfassungsvertrag als Herrschaftsinstrument - von wem auch immer - dar, mit dessen Hilfe versucht wird, die arbeitenden Menschen in Europa zu
knechten und auszubeuten. Sie instrumentalisieren den
Vertrag und erreichen damit genau das, was Sie nicht
wollen. Objektiv erreichen Sie dadurch eine antieuropäische Stimmung
({1})
und eine politische Koordination mit Nationalisten, die
Sie selber gar nicht wollen. Aber das wird das Ergebnis
Ihrer Arbeit sein. Die Verantwortung müssen Sie dann
übernehmen; denn Sie wissen, wie Politik funktioniert.
Deshalb kritisieren wir massiv, was Sie hier treiben.
({2})
Wir Grüne haben das Rüffert-Urteil heftig kritisiert.
Die Tendenz in der europäischen Gesetzgebung bzw.
ihre Interpretation sind sicherlich kritikwürdig. Wir müssen aber Anstrengungen im Mindestlohnbereich unternehmen und auf nationaler Ebene klarmachen, dass eine
solche Interpretation nicht möglich ist. Das ist unsere
Verantwortung.
({3})
Dass es in Europa zurzeit eine konservative Mehrheit
gibt, die eine Politik macht, die ich in vielen Teilen nicht
unterstütze, ist eine Tatsache; trotzdem halte ich dieses
Integrationsprojekt für richtig und notwendig. Die Europäische Union ist die einzige Struktur zur Kooperation,
die wir erreichen können; dieser Vertrag ist der einzige
Vertrag, der zurzeit politisch möglich ist. Ich kann also
nicht sagen, dass nur deshalb, weil es eine konservative
Mehrheit gibt, dieses Projekt falsch ist. Ich muss bei der
Europawahl darum kämpfen, dieses Europa fortschrittlicher zu machen, dieses Europa sozialer zu machen und
dieses Europa ökologischer zu machen. Dafür müssen
die politischen Parteien im Europawahlkampf streiten.
Ich kann aber nicht sagen: Die EU ist nur dann klasse,
wenn ich selber die Mehrheit habe. - Diese Form von
Demokratie haben wir in Europa abgeschafft.
({4})
Wir sind die vom Volk gewählten Abgeordneten, wir
sind die Vertretung des deutschen Volkes. Wir sollten
mit Rückgrat, mit Engagement und mit Herzblut für diesen Vertrag streiten. Es gibt keine Alternative, die verantwortungsvoll wäre.
Vielen Dank.
({5})
Thomas Silberhorn ist der nächste Redner für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Auch ich hätte mir einen anderen Ausgang des
Votums in Irland gewünscht. Ich habe mit vielen hier im
Haus die letzten Jahre damit verbracht, die Rolle des
Bundestages in europäischen Angelegenheiten zu stärken. Wir wollten den Vertrag von Lissabon als Katalysator dafür. Auch deswegen bin ich über dieses Nein in
Irland enttäuscht. Ich bin aber genauso über die Kreativität enttäuscht, die manche entwickeln, um dieses Votum
in Irland zu umgehen. Wenn erzählt wird, 800 000 Iren
könnten doch 500 Millionen Europäer nicht aufhalten,
wenn erzählt wird, die Iren sollten sich überlegen, ob sie
sich nicht selbst zurückziehen, dann müssen wir sehr
aufpassen, dass wir nicht den Eindruck erwecken, die
Iren sollten jetzt wegen unbotmäßigen Verhaltens isoliert
werden. Wer das tut, setzt ein fatales Signal, gibt Wasser
auf die Mühlen derjenigen, die Europa schon immer
skeptisch gegenüberstanden, und bestätigt alle diejenigen, die in Irland mit Nein gestimmt haben.
({0})
Wir sind mit dem Lissabon-Vertrag angetreten, um mehr
Demokratie, mehr Bürgernähe in der Europäischen
Union zu verwirklichen. Wenn jetzt in Irland als dem
einzigen Land mit Volksabstimmung ein Nein erfolgt ist,
dann können wir nicht so tun, als müssten wir Irland
künftig mit zwei „r“ schreiben; wir müssen dieses demokratische Votum vielmehr uneingeschränkt respektieren,
auch wenn es schwerfällt.
({1})
Ich halte deswegen nichts davon, eine Strategie des
„Weiter so“ zu verfolgen und einfach zur Tagesordnung
überzugehen. Im Gegenteil: Wir haben allen Anlass zu
einer kritischen Selbstreflexion.
({2})
Dieses Nein in Irland ist nach dem Nein in Frankreich
und den Niederlanden zum Verfassungsvertrag bereits
das dritte Votum mit einem Nein. Deswegen ist das kein
einfacher Ausrutscher,
({3})
sondern offenbar Ausdruck eines tiefsitzenden Misstrauens gegenüber der Europäischen Union. Wir werden im
Rahmen der Analyse dieses Votums mit den Iren sprechen müssen. Es fällt auf, dass es erneut diffuse Ängste
waren, die in dieser Kampagne in Irland eine große
Rolle gespielt haben: die Angst vor der Harmonisierung
der Unternehmensteuern, vor einer Liberalisierung von
Abtreibungen und anderes mehr. Alles das hat keinerlei
Bezug zu dem Vertragstext, aber es ist doch bezeichnend, dass man mit dem Argument, dass das mit dem
Vertrag nichts zu tun hat, gar nicht durchgedrungen ist.
Ich glaube, wir müssen selbstkritisch darüber nachdenken, wie wir in der Europäischen Union tagtäglich Politik machen. Wenn nämlich die Institutionen der Europäischen Union, von der Kommission über das Parlament
bis zu den Ministerräten, Woche für Woche neue Vorschläge erarbeiten, die mit dem Vertragstext nichts zu
tun haben, die die Kompetenzordnung nicht achten und
die auch das Subsidiaritätsprinzip nicht ernst nehmen,
dann brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn wir solchen Ängsten keine Argumente entgegensetzen können.
({4})
Ich kann hundert Beispiele aus der Alltagspolitik der Europäischen Union nennen, wo das der Fall ist: Die Ausweitung der Antidiskriminierungsgesetzgebung, die aktuell in der Kommission und im Europäischen Parlament
diskutiert wird, geht weit über die Vertragsgrundlagen
hinaus. Die Kommission hat Vorschläge zum Katastrophenschutz unterbreitet,
({5})
obwohl erst mit dem Vertrag von Lissabon die Rechtsgrundlage dafür geschaffen wird.
Und hat nicht die Kommission erst vor wenigen Wochen ein Konsultationsverfahren über die Reform der
EU-Finanzen beendet, in dem alle Fragen über Steuererhebungen der Europäischen Union aufgeworfen worden
sind, für die es keine Rechtsgrundlage gibt und die auch
Gegenstand der Debatte in Irland gewesen sind?
Meine Damen und Herren, wenn wir so vorgehen, bereiten wir den Nährboden, auf dem Ängste gedeihen
können, mit. Dann dürfen wir uns auch nicht wundern,
wenn die Befürworter des Lissabon-Vertrags dem nichts
mehr entgegenhalten können.
({6})
Die Europäische Union muss die ihr gesetzten Grenzen respektieren. Sie muss sich auf ihre großen Aufgaben konzentrieren, sich wieder in Selbstbeschränkung
üben und darf nicht alles und jedes selbst regeln wollen.
Das ist die grundlegende Voraussetzung dafür, dass
neues Vertrauen in die Europäische Union aufgebaut
werden kann.
({7})
Ich verkenne nicht, meine Damen und Herren, dass
gerade der Lissabon-Vertrag eine klarere Kompetenzabgrenzung bringen und die Rolle der nationalen Parlamente bei der Kontrolle des Subsidiaritätsprinzips stärken würde. Das gehört ja gerade zur Tragik dieses
aktuellen Diskussionsprozesses.
Eine erneute Abstimmung in Irland halte ich für ein
riskantes Unterfangen. Wenn die politische Botschaft
lautet: „Augen zu und durch!“, dann kann das doch ein
Gegner des Vertrages nur als eine Missachtung seines
Votums auffassen. Ich sehe wohl, dass ein solches Vorgehen bereits mehrfach gelungen ist. Und wir sollten zur
Kenntnis nehmen, dass selbst der irische Premierminister eine zweite Abstimmung ausdrücklich nicht ausschließt. Von daher haben wir keinen Grund, uns dieser
Möglichkeit zu begeben. Aber es muss klar sein, dass es
für eine zweite Abstimmung nur ein sehr schmales
Fenster gibt. Das funktioniert nur, wenn man am Vertragstext selbst überhaupt nichts ändert. Jede Änderung
würde bedeuten, dass es sich um einen anderen Vertrag
handeln würde, der erneut in allen Mitgliedstaaten ratifiziert werden müsste. Ob die irische Regierung das
durchsetzen kann, darf man durchaus mit einem Fragezeichen versehen. Denn bei der jetzigen Abstimmung ist
es ihr ja gerade nicht gelungen. Deswegen glaube ich,
dass wir ums Nachdenken nicht herumkommen werden.
Ich halte eine zweite Abstimmung für einen der gangbaren Wege, aber nicht für eine hinreichende Option - zumal ein zweites Nein ein vollendetes Desaster wäre. Dieser Hilflosigkeit sollten wir uns nicht ergeben.
Auf der Suche nach Alternativen sind in den letzten
Tagen viele theoretische Vorschläge erörtert worden. Mit
einer zweiten Abstimmung auch eine Abstimmung über
die Mitgliedschaft Irlands in der EU zu verbinden, die
Europäische Union ohne Irland umzugründen oder die
Aufforderung an Irland, sich zeitweilig zurückzuziehen
- ich halte das alles für abwegig. Die Iren haben nicht
gegen die Europäische Union gestimmt, sondern sie haben einen bestimmten Vertrag abgelehnt. Deswegen ist
eine Isolationshaft oder ein Quasi-Rauswurf Irlands
keine Antwort. So lässt sich kein Vertrauen in die Europäische Union aufbauen.
({8})
Wir müssen im Gegenteil als vorrangiges Ziel die
Einheit der Europäischen Union bewahren. Denn der
pragmatische Weg ist seit Konrad Adenauer und Charles
de Gaulle immer der Erfolgsweg der europäischen Integration gewesen. Sie haben auch nicht das große Konzept der Vereinigten Staaten von Europa angestrebt, sondern ganz konkret mit Kohle und Stahl begonnen. Aus
dem gemeinsamen Erfolg ist am Ende mehr geworden.
Wir haben mit dem Verfassungsvertrag und dem Lissabon-Vertrag ein anderes Konzept erarbeitet. Denn wir
haben auf eine Maximallösung gesetzt - auf die allumfassende, fein austarierte Lösung, die alles auf einmal regelt. Wenn das Menü zu groß ist, dann müssen wir umdenken und uns darauf zurückbesinnen, dass wir in der
europäischen Integration mit kleineren, verdaulichen
Schritten bisher immer vorwärtsgekommen sind.
Der Reformbedarf in der Europäischen Union bleibt
unbestritten. Die EU der 27 muss anders funktionieren
als eine EU der 15 - insoweit bleiben die Inhalte des Lissabon-Vertrages aktuell. Aber wir sollten innehalten,
wenn wir darauf zurückgeworfen werden, vorerst mit
dem Nizza-Vertrag weitermachen zu müssen. Insoweit
halte ich auch nichts davon, dass die Kommission ausgerechnet in dieser Woche die Beitrittsverhandlungen mit
der Türkei nochmals beschleunigt hat. Dafür gibt es
keine Grundlage. Die EU ist bis auf Weiteres nicht erweiterungsfähig.
({9})
Es ist aber bezeichnend, dass die Kommission angekündigt hat, dass Kroatien möglicherweise 2009 oder 2010
beitrittsreif sein könnte. Das ist vielleicht ein Ausweg,
wenn man gar nicht anders kann und uns die Fortsetzung
der Ratifizierung des Lissabon-Vertrages verwehrt sein
sollte. Mit dem Beitritt Kroatiens können wenigstens die
institutionellen Reformen erneut angegangen werden;
denn institutionelle Fragen müssen zwingend mit einem
Beitritt in Angriff genommen werden. Wir werden uns
weiter Gedanken über differenzierte Formen der Integra17842
tion machen müssen. Offenkundig ist die Integrationsbereitschaft der Mitgliedstaaten unterschiedlich, und wir
müssen dem Rechnung tragen, mit dem Ziel, dass die
Vielfalt innerhalb der Europäischen Union am Ende der
Einheit dient. Das alles steht jetzt freilich nicht im Vordergrund.
Es ist auch deutlich zu machen, dass das irische Nein
die Europäische Union nicht handlungsunfähig macht,
auch wenn es manches erschwert. Doch der schönste
Vertrag nützt wenig, wenn er von den Bürgern nicht aus
freien Stücken und aus innerer Überzeugung mitgetragen wird. Um genau diese innere Überzeugung müssen
wir uns bei jedem Integrationsschritt noch viel stärker
bemühen als bisher.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort erhält nun der Kollege Michael Roth, SPDFraktion.
({0})
Lieber Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Europapolitiker brauchen in diesen Zeiten besonders viel Optimismus. Das fällt nicht
immer leicht. Die gegenwärtige Situation erinnert mich
manchmal an den Film „Und täglich grüßt das Murmeltier“. Man hat ein Projekt abgeschlossen, geht beruhigt
ins Bett, steigt am nächsten Morgen aus dem Bett und
stellt fest: Alles fängt noch einmal von vorne an, die
gleiche Mühsal, die gleiche Überzeugungsarbeit.
Aber wir sind gestählt; wir haben das nun schon über
eine ganze Reihe von Jahren gemacht. Vor sechs Jahren
hat der Verfassungskonvent seine Arbeit aufgenommen.
Leider müssen wir feststellen: Wir sind noch kein richtiges Stück vorangekommen. Daran sind nicht allein die
862 415 Iren schuld, die mit Nein gestimmt haben. Bereits seit Maastricht stockt der Ratifizierungsprozess. Es
hat immer wieder Neins gegeben - darauf ist eben schon
hingewiesen worden -, und wir haben immer wieder
pragmatische Lösungen gefunden. Wir haben Opt-outs
erklärt, wir haben Protokollerklärungen auf den Weg gebracht, wir haben Reflexionsphasen ausgerufen.
Ich befürchte nur: Mit einem „Weiter so“ und der Suche nach kleinen Lösungen werden wir nicht mehr vorankommen. Es hat sich schließlich Grundlegendes geändert. Der Integrationsprozess war immer reich an
Konflikten. Von Beginn an hat es einen Grundkonflikt
zwischen den Integrationisten und den Intergouvernementalisten gegeben, also zwischen denjenigen, die eher
eine bundesstaatliche, und denjenigen, die eher eine
staatenbündische Ordnung wollten.
Daraus ist aber immer etwas Konstruktives entstanden, auch maßgeblich auf Initiative von Deutschland
und Frankreich. Sie haben Vorschläge gemacht, die für
die anderen Partner akzeptabel waren. Ob das aber jetzt
- bei einer Europäischen Union mit fast 500 Millionen
Bürgerinnen und Bürgern, bei einer Europäischen Union
mit 27 Mitgliedstaaten - noch trägt, daran habe ich, offen gestanden, meine Zweifel. Diese Zweifel möchte ich
zumindest heute einmal zum Ausdruck bringen.
Ich weiß: Viele wünschen sich die EU als eine Volkshochschule. Ich will nichts gegen Volkshochschulen sagen. Sie leisten einen wichtigen Beitrag. Aber sind wir
wirklich der Auffassung, dass die Iren möglicherweise
für den Vertrag von Lissabon gestimmt hätten, wenn
man ihnen den Vertrag nur besser erklärt hätte? Jeder
von uns weiß doch, wie schwierig, komplex und kompliziert föderale Strukturen sind. Wer von uns kann denn
auf Anhieb das personalisierte Verhältniswahlrecht erklären? Wer von uns kann auf Anhieb die konkurrierende Gesetzgebung erklären? Wer von uns kann auf
Anhieb erklären, wann der Bundesrat zuzustimmen hat
und wann er eben nicht zuzustimmen hat?
({0})
Trotzdem gibt es in Deutschland, in unserem föderalen Staat, noch ein diffuses Grundvertrauen in die
Politik und in diesen Staat. Dieses diffuse Grundvertrauen gibt es in weiten Teilen der Bevölkerung innerhalb der Europäischen Union so offensichtlich nicht
mehr. Das ist auch unsere eigene Schuld. Da tragen wir
Mitverantwortung.
In einem Punkt ist die Europäische Union gelungen;
sie ist ein grandioses historisches Erfolgsprojekt - das
weiß die ältere Generation in unserem Land sehr genau -:
Europa als Friedensmacht. Europa hat Frieden und Sicherheit auf den Weg bringen, garantieren können. Das
ist alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Misslungen ist aber, dass sich die Europäische Union als sozialer Gestalter von Globalisierung etablieren konnte.
({1})
Wir haben innerhalb der Europäischen Union - sei es
bei Entscheidungen des Rates, sei es bei Urteilen des Europäischen Gerichtshofes, sei es bei Initiativen der Europäischen Kommission - leider ein zu marktradikales
Denken: Das verunsichert, das ängstigt die Menschen.
Sie haben den Eindruck: Die Europäische Union ist nicht
mehr Teil der Lösung, sondern Teil des Problems. - Hier
müssen wir ansetzen.
Der Vertrag von Lissabon sieht, auch wenn Sie von
den Linken etwas anderes behaupten, viele sozialpolitische Bekenntnisse vor. Der Vertrag von Lissabon beinhaltet mehr soziale Grundrechte als das Grundgesetz.
({2})
Das ist gut, aber konkrete Projekte im täglichen Handeln, die den Menschen zeigen: „Es geht voran“, sind
besser.
Ich mahne uns alle zu ein bisschen mehr Demut in
Richtung Irland und auch zu mehr Selbstkritik. Wir alle
sehen den Splitter im irischen Auge, aber den Balken im
eigenen Auge - das ist auch bei meinem Vorredner ein
bisschen deutlich geworden - sehen wir leider nicht.
({3})
Michael Roth ({4})
Das Brüssel-Bashing bringt uns überhaupt nicht weiter.
Von Montag bis Freitag zu erklären, dass wir es mit einem Bürokratenmoloch zu tun haben und wir alle hier,
seien wir Regierungsvertreter oder Abgeordnete, machtlos seien, dann jedoch am Sonntag die Sonntagsreden für
das ach so schöne, solidarische Europa zu halten, ist
nicht überzeugend; vor allem: Es stimmt auch nicht. Es
findet im Rahmen der europäischen Rechtsetzung kein
einziges Gesetzgebungsprojekt statt, ohne dass ein Minister, ein Staats- oder Regierungschef nicht beteiligt ist.
Schon jetzt verfügen die nationalen Parlamente über erhebliche Mitwirkungsmöglichkeiten. Wir werden sicherlich nicht alles, was in Brüssel erdacht und ersponnen
wird, verhindern können. Aber wir werden alles mitgestalten können, wenn wir es denn wollen. Daran, dass
dieser Wille überall vorhanden ist, habe ich manchmal
so meine Zweifel.
({5})
Ich weiß, dass der Appell ausgesendet wurde: Wir
versuchen jetzt, den Wagen, der feststeckt, wieder flottzumachen. Seid aber mit neuen Ideen zurückhaltend! Dennoch möchte ich dazu einladen, auch einmal etwas
Neues zu denken oder die eine oder andere Idee, die
schon seit geraumer Zeit in der Schublade liegt, wieder
hervorzuholen.
Ich sage jetzt meine persönliche Auffassung und vertrete damit nicht die Auffassung meiner Fraktion. Ich
weiß natürlich, dass wir das Ratifizierungsverfahren
nur einstimmig werden ändern können. Aber vielleicht
besteht die Chance, uns zukünftig darauf zu verständigen, dass eine Ratifizierung möglich ist, wenn mindestens vier Fünftel der Mitgliedstaaten zustimmen und
gleichzeitig in einem EU-weiten Referendum die Bürgerinnen und Bürger mehrheitlich zustimmen.
({6})
Die Mitgliedstaaten, die mit Nein gestimmt haben, haben dann die Option, aus der Europäischen Union auszutreten.
({7})
Wir brauchen weiterhin kurzfristig pragmatische Lösungen. Ich kann zum Beispiel nicht nachvollziehen,
warum man jetzt nicht erklärt: Bestimmte Teile des Vertrages, die uns wichtig sind, können schon jetzt in Kraft
treten. Warum sollte sich der Europäische Rat nicht darauf verpflichten, dass das Wahlverfahren für den Kommissionspräsidenten nach den Regeln von Lissabon
stattfindet? Warum sollten sich die nationalen Parlamente gemeinsam mit der EU-Kommission nicht darauf
verständigen, dass schon jetzt die Mitwirkungs- und
Kontrollmöglichkeiten für die nationalen Parlamente
gelten? Warum sollten wir uns im Rahmen einer interinstitutionellen Vereinbarung nicht darauf verständigen,
dass die Grundpfeiler eines europäischen auswärtigen
Dienstes schon jetzt auf den Weg gebracht werden?
Diese Fragen sollten zumindest gestellt werden dürfen.
Vielleicht finden wir Bündnispartner in der Europäischen Union, und vielleicht können wir eine neue Dynamik entwickeln.
Eine weitere Differenzierung, ob sie uns gefällt oder
nicht, ist zwangsläufig. Ein Flickenteppich ist nicht
schön, aber mit Schengen, Prüm und Euro haben wir ihn
schon jetzt. Ich baue immer noch darauf, dass eine große
Mehrheit der Mitgliedstaaten nicht nur einen Binnenmarkt will, sondern wirklich eine politische Union, die
im sozialen Bereich, bei der ökologischen Nachhaltigkeit, bei der internationalen Solidarität und in der Außen- und Sicherheitspolitik voranschreitet. Dafür werden
wir möglicherweise diese bittere Pille einer weiteren
Differenzierung schlucken müssen. Für uns stellt sich
nur die Frage: Wie können wir demokratische Legitimation und Kontrolle gewährleisten? Wie können wir möglicherweise weitere Komplexität und Intransparenz verhindern? Darauf müssen Antworten gefunden werden.
Das ist unser gemeinsamer Auftrag.
Ich bin hoffentlich nicht naiv, aber ich bin und bleibe
optimistisch. Die Vision eines vereinten, demokratisch
und sozial verfassten Europas sollte noch nicht tot sein.
Die EU wird sich deshalb neu gründen müssen. Dafür
braucht es wahre Europäer. Ich bin mir sicher: Hier bei
uns im Bundestag lassen sich einige finden.
Vielen Dank.
({8})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Eckart von Klaeden, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es gibt
die alte Weisheit, dass in jeder Krise auch eine Chance
liegt. Man wird sicherlich nicht sagen können, dass die
gegenwärtige Krise der Europäischen Union so klein sei,
dass man in ihr nicht auch Chancen finden könne.
Es wurde heute darüber gesprochen, dass wir das Modell eines Europas der unterschiedlichen Geschwindigkeiten im Sinne eines Kerneuropas ablehnen. Wir sollten
aber doch feststellen, dass es ein Europa der unterschiedlichen Befindlichkeiten gibt:
Wir haben zum einen die Gründungsstaaten des gemeinsamen Europas, die aus den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges und des Kalten Krieges Souveränitätsverzicht als eine Voraussetzung für eine dauerhafte
Friedensordnung begriffen und im Zuge dessen die Erfahrung gemacht haben, dass wirtschaftliche Kooperation Voraussetzung für Wohlstand ist. Wenn wir in
Deutschland über 60 Jahre soziale Marktwirtschaft sprechen, dann sollten wir auch darauf hinweisen, dass die
damit verbundenen Erfolge auf drei Säulen ruhten, nämlich zum Ersten auf der Säule der nationalen Entscheidung für die soziale Marktwirtschaft als Wirtschaftsordnung, zum Zweiten auf der Säule des Marshallplans und
zum Dritten auf der Säule der europäischen Integration,
die mit den Begriffen Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, Europäische Gemeinschaft und schließlich Euro17844
päische Union eng verbunden ist. Ohne die EWG wäre
das Wirtschaftswunder in Deutschland nicht möglich gewesen.
({0})
Wir haben zum anderen unter dem Gesichtspunkt der
unterschiedlichen Befindlichkeiten die Gruppe der
neuen Mitgliedstaaten, die sich noch sehr genau an die
Erfahrungen erinnern können, die mit dem erzwungenen
Souveränitätsverzicht im Warschauer Pakt verbunden
waren, und deswegen der Idee des freiwilligen Souveränitätsverzichts skeptischer gegenüberstehen als wir.
Wir haben schließlich die Gruppe der neueren Mitgliedstaaten, zu der auch Irland gehört, die bisher außerordentlich von der europäischen Integration profitiert haben, aber nicht wissen, was sie erwartet. Nirgends wird
das mehr deutlich als in dem Wahlkampfslogan, der in
Irland für eine Abstimmung mit Nein warb: „If you
don’t know, vote no!“
Wir müssen nun diese unterschiedlichen Befindlichkeiten mehr zur Kenntnis nehmen und bei dem Werben
für Europa und unseren Begründungen dafür stärker auf
diese Bezug nehmen. Ein gemeinsames Ziel teilen jedoch alle drei Befindlichkeiten: Der Integrationsprozess muss weitergehen. Wenn wir auf dem Stand des
Vertrages von Nizza verbleiben würden, dann müssten
wir mit einem Prozess der schleichenden Desintegration
Europas rechnen. Das wäre für alle drei Gruppen
schlecht, also für die alten Mitgliedstaaten wie zum Beispiel Deutschland - wir sind ja Exportweltmeister wegen
der Europäischen Union -, für die neuen Mitgliedstaaten, die in den Euro-Raum streben und vom gemeinsamen Markt ebenfalls enorm profitieren - das ist zum
Beispiel die Tschechische Republik, deren Bruttoinlandsprodukt nämlich zu fast 20 Prozent direkt oder indirekt von Volkswagen abhängt -, und schließlich auch
für die exportabhängigen dynamischen Volkswirtschaften wie die in Irland, die nicht nur von den niedrigen
Steuersätzen profitieren, sondern gerade auch von den
Exportmöglichkeiten in die Europäische Union.
Wir müssen also klarmachen, dass die Europäische
Union gerade in ihrer Kombination die richtige Antwort
auf die Globalisierung ist. Sie ist nämlich der Raum, in
dem einerseits das europäische Sozialstaatsmodell weiterentwickelt werden kann und in dem andererseits dafür
gesorgt werden kann, dass Europa die Wettbewerbsfähigkeit erhält bzw. gewinnt, die erforderlich ist, um sich
im globalen Wettbewerb behaupten zu können. Deswegen sind die Gegner des europäischen Sozialstaatsmodells auch gegen die Europäische Union. Hier ist Großbritannien eine wesentliche Triebfeder. Aber es sind
auch diejenigen gegen die Europäische Union, die gegen
mehr Wettbewerb sind. Hier ist, wie ich finde, die Gegnerschaft der Linkspartei besonders zu greifen.
({1})
Sie von der Linken sollten sich einmal die Frage stellen,
warum neben den verfassungsrechtlichen Ausführungen,
die Sie heute gemacht haben, sich die sozialpolitischen
Ausführungen, die Sie zur Europäischen Union machen,
von den europapolitischen Ausführungen der NPD
manchmal nur durch die Quellenangabe unterscheiden
lassen.
({2})
Wir brauchen beides: Wir brauchen einerseits die
Weiterentwicklung des Sozialstaates. Aber wir brauchen
andererseits eben auch die Weiterentwicklung der Wettbewerbsfähigkeit, damit dieser Sozialstaat überhaupt erhalten werden kann. Wir dürfen uns nicht auf den Kategorienfehler einlassen, der häufig gemacht wird, eine
Entwicklung innerhalb der Europäischen Union, die man
nicht teilt, als Begründung für die grundsätzliche Europagegnerschaft anzuführen. Angesichts der demografischen und der wirtschaftlichen Entwicklung in anderen
Weltregionen - in China, Indien, der ASEAN-Gruppe,
Russland - haben wir nur dann eine Chance, so weiterleben zu können, wie wir leben, wenn wir die Europäische
Union weiterentwickeln. Dafür braucht die Europäische
Union, meine ich, gerade nicht eine neue Phase der
Selbstreflexion, sondern neue, frische Gedanken,
({3})
die über das hinausgehen, was zurzeit diskutiert wird,
zum Beispiel die Frage, wie wir als Europäer stärker mit
einer Stimme in der internationalen Finanzwirtschaft
sprechen können.
Wir müssen auch darauf achten, dass in Zukunft nicht
mehr so über Europa gesprochen wird, wie es viele unserer Kolleginnen und Kollegen im Alltag tun. Denn es ist
Ausdruck von Denkfaulheit, wenn man für Entscheidungen auf kommunaler, Landes- oder nationaler Ebene, die
man nicht zu begründen bereit oder in der Lage ist, immer wieder die wohlfeile Ausrede Europa findet. Wer so
argumentiert, darf sich nicht wundern, dass, wenn es
darauf ankommt, die Europaskepsis in der Bevölkerung
besonders groß ist.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Entschlie-
ßungsanträge. Wer stimmt für den Entschließungsantrag
der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/9633? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungs-
antrag ist mit den Stimmen der Fraktionen Die Linke,
SPD und CDU/CSU bei Gegenstimmen von Bündnis 90/
Die Grünen und FDP abgelehnt.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Frak-
tion Die Linke auf Drucksache 16/9634? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag
ist bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke mit den
übrigen Stimmen des Hauses abgelehnt.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/9635? -
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschlie-
ßungsantrag ist mit den Stimmen der Fraktionen Die
Linke, SPD und CDU/CSU bei Gegenstimmen der Frak-
tionen Bündnis 90/Die Grünen und FDP abgelehnt.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b sowie
die Zusatzpunkte 1 und 2 auf:
4 a) Beratung der Unterrichtung durch die Beauftragte
der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge
und Integration
Siebter Bericht über die Lage der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland
- Drucksache 16/7600 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({1}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Sevim Dağdelen,
Ulla Jelpke, Jan Korte und der Fraktion DIE
LINKE
Für die zügige Vorlage eines qualifizierten Berichts über die Lage der Ausländerinnen und
Ausländer in Deutschland
- Drucksachen 16/5788, 16/7246 Berichterstattung:
Abgeordnete Ralf Göbel
Hartfrid Wolff ({2})
Josef Philip Winkler
ZP 1 Beratung des Antrags der Abgeordneten Sibylle
Laurischk, Dr. Max Stadler, Gisela Piltz, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Integrationskurse qualitativ verbessern und
entbürokratisieren
- Drucksache 16/9593 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({3})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Josef
Philip Winkler, Volker Beck ({4}), Monika
Lazar, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Das Parlament bei der Ausgestaltung des Einbürgerungstests beteiligen
- Drucksache 16/9602 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({5})
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Staatsministerin Dr. Maria Böhmer.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Soeben haben wir über die Integration Europas debattiert. Jetzt wenden wir den Blick unserem Land
zu. Es geht um die Integration der 15 Millionen Menschen, die nach Deutschland zugewandert sind und hier
leben. Wir diskutieren jetzt auf der Basis des Lageberichts über die Situation der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland, den ich im Dezember vorgelegt
habe.
Die Bundesregierung hat mit Beginn dieser Legislaturperiode drei entscheidende integrationspolitische
Weichenstellungen vorgenommen:
Erstens. Die Integration wird aus dem Kanzleramt
heraus gestaltet. Das ist Ausdruck der politischen Bedeutung, die wir diesem Thema beimessen.
({0})
Zweitens. Mit dem Nationalen Integrationsplan haben
wir erstmals ein integrationspolitisches Gesamtkonzept
vorgelegt. Alle staatlichen Ebenen und die Zivilgesellschaft, aber vor allen Dingen die Migrantinnen und Migranten sind hier einbezogen. Wir gehen den Weg gemeinsam; das ist unsere Maxime.
({1})
Drittens. Der Innenminister hat die Deutsche IslamKonferenz ins Leben gerufen und damit den Dialog mit
dem Islam in Deutschland auf eine neue Grundlage gestellt.
Mit diesen drei Ansätzen wird deutlich: Wir haben in
der Integrationspolitik umgesteuert. Das war dringend
notwendig.
({2})
Wir setzen auf echte Partnerschaft und nicht auf falsche Freundschaft, wie es in der Vergangenheit oft der
Fall war. Die Zuwanderer haben mehr verdient als wohlmeinende Betreuung und Fürsorge. Wir wollen, dass alle
in unserem Land den Weg gleichberechtigt gehen. Unser
Ziel heißt deshalb: gleichberechtigte Teilhabe.
({3})
Wir setzen an bei der Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen: bei Bildung, Arbeit, Wohlstand, sozialer Anerkennung und politischer Teilhabe. Auf diese
fünf Felder kommt es an.
({4})
Wir sagen mit allem Nachdruck: Integration ist nachhaltig zu fördern, aber Integration ist auch zu fordern auf
der Grundlage klarer Regeln und gemeinsamer Werte.
Wir gestalten in unserem Land eine werteorientierte
Integrationspolitik.
({5})
Wir können mit Fug und Recht sagen: So viel Bewegung war noch nie, um die zugewanderten Menschen in
unserem Land zu integrieren. Was mich ganz besonders
freut, ist, dass mir die Migrantinnen und Migranten selber das immer wieder bestätigen. Sie ergreifen die
Chance und gestalten mit. Wir gehen diesen Weg gemeinsam.
Jedes Jahr stellt der Bund für die Schlüsselaufgabe Integration rund drei Viertel Milliarden Euro bereit, allein
für die Integrationskurse 155 Millionen Euro. Ich sage
Ihnen: Das ist eine gute Investition in die Zukunft unseres Landes und in die Zukunft der hier lebenden Menschen.
({6})
Wir haben es geschafft, dass ein Umdenken stattfindet. Ich möchte allen im Parlament danken, die daran
mitwirken. Es ist kein Raum mehr für irgendwelche ideologischen Sichtweisen und für Schönfärbereien in den
Bereichen, wo Probleme existieren. Aber es dürfen auch
keine Probleme konstruiert werden, die nicht existieren.
Wir müssen ehrlich und sachlich sein, auf die Menschen
zugehen und ihre Herzen erreichen. Wir müssen die
emotionale Seite berücksichtigen. Das heißt, wir müssen auch warmherzig sein. Es geht um das gute Zusammenleben in unserem Land. Wir benennen nicht nur die
Defizite, sondern rücken die Chancen in den Blick und
machen Mut, um die positiven Entwicklungen in unserem Land zu verstärken.
Ich nenne ein Beispiel. Es gibt 600 000 Unternehmerinnen und Unternehmer ausländischer Herkunft in
Deutschland. Sie sind wichtige Vorbilder für die vielen
Menschen, die zu uns gekommen sind und hier leben.
Diese Unternehmerinnen und Unternehmer haben beispielsweise den Gemüseladen der Eltern zu einer Supermarktkette ausgebaut; sie haben Werbeagenturen gegründet; sie führen inzwischen Unternehmen mit Umsätzen in
Millionenhöhe; sie haben 2 Millionen Arbeitsplätze in
Deutschland geschaffen. Das bedeutet, dass alle davon
profitieren. Deshalb sage ich: Erfolgreiche Integration ist
ein wirtschaftlicher und sozialer Gewinn für unser ganzes
Land.
({7})
Unterlassene Integration kommt uns alle teuer zu stehen. Sie kostet jährlich 16 Milliarden Euro,
({8})
wie eine Studie der Bertelsmann-Stiftung belegt. Das
sind 16 Milliarden Euro zu viel.
Die Zahlen der Bertelsmann-Studie spiegeln sich
auch sehr deutlich im Lagebericht wider. Er ist im Kern
ein Bericht zur Lage der Integration. Wir haben bewusst
den Schwerpunkt auf Bildung, Ausbildung und Teilhabe
am Arbeitsmarkt gesetzt; denn in diesen Bereichen entscheidet sich, ob Integration wirklich gelingt.
Die Zahlen im Lagebericht basieren auf dem Mikrozensus des Jahres 2005; das waren die aktuellsten Zahlen, die verfügbar waren. Sie sind - das sage ich in aller
Deutlichkeit - alarmierend. 18 Prozent der Schülerinnen
und Schüler ausländischer Herkunft brechen die Schulausbildung ab. Wir wissen, dass sie kaum Chancen haben, in unserem Land eine gute Zukunft zu gewinnen.
Nur 8 Prozent schaffen das Abitur; das ist viel zu wenig.
Das Begabungspotenzial dieser Kinder und Jugendlichen ist deutlich höher. Diese Zahlen provozieren geradezu die Frage: Warum sind die Bildungsressourcen in
unserem Land derart verkümmert, warum heben wir sie
nicht? Das darf uns nicht ruhen lassen.
Als der Bildungsbericht in der vergangenen Woche
vorgestellt worden ist, mussten wir erneut feststellen,
dass der Bildungserfolg in Deutschland an der ethnischen und sozialen Herkunft hängt.
({9})
Der Bundespräsident hat diese Situation in seiner Rede
als beschämend bezeichnet. Das muss uns alle aufrütteln. Wir müssen hier etwas ändern, vor allem im Bildungssystem. Entscheidend ist aber auch, ob zu Hause
deutsch gesprochen wird und ob die Eltern ihre Kinder
wirklich unterstützen können. Denn diese schlechten
Bildungsergebnisse, die wir haben, schlagen auf die
Ausbildung und auf die Jobsituation durch. 40 Prozent
aller Jugendlichen ohne deutschen Pass bleiben ohne
jegliche berufliche Qualifizierung. Ihr Risiko, arbeitslos
zu werden, ist doppelt so hoch wie das der Deutschen.
Die Schlussfolgerung liegt auf der Hand: Wir müssen
alle Kraft in die Bildung stecken. Das muss die Maxime
sein. So handeln wir, seit wir den Nationalen Integrationsplan vorgelegt haben.
({10})
Ich will Ihnen drei Punkte nennen, an denen wir mit
Hochdruck arbeiten müssen:
Der erste Punkt ist: Wir müssen die Elternarbeit stärken; denn wenn wir auf ein gewisses Fundament im Elternhaus aufbauen können - Erziehung und Bildung beginnen im Elternhaus -, dann lässt sich vieles im
Kindergarten und in der Schule leichter vollbringen.
Deshalb habe ich in dieser Woche ein Gespräch mit der
Präsidentin der Kultusministerkonferenz und den Migrantenverbänden darüber geführt, welche weiteren
Schritte wir gehen wollen, um zu einer wirklich aktivierenden Elternarbeit zu kommen.
Der zweite Punkt ist: alle Kraft in Bildung investieren. Wir brauchen eine stärkere individuelle Förderung
der Kinder und Jugendlichen. Deshalb habe ich die Aktion „zusammen wachsen“ auf den Weg gebracht. Das
bedeutet, bürgerschaftliches Engagement für bessere
Bildung und Integration zu stärken. Alle Kraft in Bildung heißt auch: Der Kindergarten muss zur Bildungseinrichtung werden; denn wenn die Kinder nicht schon
im Kindergarten Deutsch lernen, können sie in der
Schule nicht vorankommen. Deshalb gehören heute systematische Sprachförderung, Sprachstandstests und das
Verständnis anderer Kulturen dazu. Dafür müssen wir
die Erzieherinnen qualifizieren. Das unterstützen wir mit
der Qualifizierungsinitiative der Bundesregierung.
({11})
Der dritte Punkt ist: Wir müssen die Lehrerinnen
und Lehrer besser auf die neue Schulwirklichkeit vorbereiten. Wenn wir in Schulen gehen, dann erleben wir
doch heute die Situation, dass nicht nur 30, 40 Prozent
der Kinder aus Zuwandererfamilien stammen. Hier in
Berlin sind es 80 bzw. über 90 Prozent. Viele, die Kinder
unterrichten, sind überhaupt nicht auf diese Situation
vorbereitet. Ich erinnere mich noch gut daran, welcher
Aufschrei durch Deutschland ging und welche Diskussionen geführt wurden, als die Hoover-Realschule beschlossen hat, dass auf dem Schulhof deutsch gesprochen wird. Ich bin sehr froh, dass wir dieses Thema
hinter uns gelassen haben und dass heute alle wissen:
Deutsch als gemeinsame Sprache ist unverzichtbar.
({12})
Ich appelliere mit allem Nachdruck an die Länder,
dass sie die Selbstverpflichtungen, die sie im Nationalen Integrationsplan eingegangen sind, mit Hochdruck
umsetzen; denn wir müssen die Lehrerinnen und Lehrer
stärker in die Lage versetzen, Deutsch als Zweitsprache
zu unterrichten. Wir brauchen mehr Lehrkräfte aus Zuwandererfamilien; denn sie sind die Brückenbauer. Wir
müssen die Zahl der Schulabbrecher dringend halbieren
und mehr dafür gewinnen, Abitur zu machen und auf
diesem Weg voranzugehen. Wir brauchen mehr Vorbilder. Dafür müssen wir gemeinsam noch besser werden
und alle Kräfte anstrengen.
({13})
Zum Schluss will ich einen aktuellen Punkt in das
Blickfeld rücken. Bei all dem, was sich entwickelt hat
und wo in Deutschland ein Umdenken stattgefunden hat,
stoßen wir immer wieder auf eine Situation, die bei mir
den Eindruck erweckt, es gehe wieder zurück zum Anfang. Wir treten gemeinsam dafür ein, dass wir Menschen, die zu uns gekommen sind, die volle Teilhabe am
politischen Bereich in unserem Land ermöglichen. Das
bedeutet auch, sie zu ermutigen, die deutsche Staatsbürgerschaft anzunehmen; denn als deutsche Staatsbürger haben sie die vollen Rechte und Pflichten. Ich werde
immer wieder dafür werben: Werde Deutsche, werde
Deutscher und nimm deine Rechte wahr! Aber damit die
Betroffenen das können, müssen sie Kenntnisse dessen
haben, was demokratische Regelungen in unserem Land
bedeuten. Sie müssen Kenntnisse von unserer Geschichte und unserer gesellschaftlichen Ordnung haben.
Wenn ich jetzt erlebe, wie die Hilfestellung, die wir
geben wollen, nämlich Einbürgerungskurse - natürlich
gehört ein Einbürgerungstest dazu -, auf Kritik stößt,
({14})
so kann ich, wenn es heißt, selbst Deutsche könnten
diese Fragen nicht beantworten, nur sagen: Das ist kein
Argument gegen den Einbürgerungstest, sondern ein Argument dafür, dass wir die politische Bildung aller in unserem Land stärken sollten.
({15})
Diejenigen, die davon profitieren werden, sind diejenigen Menschen, die zu uns kommen und die deutsche
Staatsbürgerschaft erwerben.
Ideologen, Schönredner und Schwarzmaler, die es in
der Vergangenheit zur Genüge gab,
({16})
haben nicht verstanden, dass Deutschland ein Integrationsland ist. Wir werden den Weg der nachhaltigen Integration gemeinsam weitergehen; denn es geht um das
Wohl der Menschen in unserem Land.
Herzlichen Dank.
({17})
Für die FDP-Fraktion gebe ich das Wort dem Kollegen Hartfrid Wolff.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der etwas verspätet vorgelegte Ausländerbericht erfüllt die Erwartungen, die an ihn geknüpft wurden, teilweise gut,
teilweise aber nur bedingt. Einige Passagen sind geradezu innovativ, andere hingegen zurückhaltend formuliert. Das Selbstlob der Regierung zum Nationalen Integrationsplan steht zumindest in mancherlei Hinsicht im
Widerspruch zur integrationspolitischen Debatte. Man
betrachte nur die dürren Ausführungen im Bericht zu
den illegalen Ausländern oder die politische Debatte, die
Anfang dieses Jahres in Hessen stattgefunden hat; auch
das ist Realität.
({0})
Die neue Differenzierung und Definition „Menschen
mit Migrationshintergrund“ ist grundsätzlich zu begrüßen. Allerdings wird dadurch deutlich, dass nur ein bestimmter Teil der Migranten zu Integrationsmaßnahmen
herangezogen wird.
Die FDP begrüßt, dass der Bericht den Wandel der Prioritäten in der migrationspolitischen Debatte konstatiert:
hin zu Integration durch Bildung, deutsche Sprachkom17848
Hartfrid Wolff ({1})
petenz und berufliche Qualifikation. Erst der Neuansatz
in der Zuwanderungspolitik aufgrund des Zuwanderungsgesetzes hat es Deutschland ermöglicht, sich als Zuwanderungsland zu verstehen und entsprechende Anforderungen an Migranten zu formulieren. Das ist kaum ein
Jahrzehnt her. Das Beherrschen der deutschen Sprache,
die uneingeschränkte Akzeptanz unserer Rechtsordnung
und der hier zugrunde liegenden Wertvorstellungen sowie
die Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte
und Kultur sind Voraussetzung dafür, hierzulande als Inländer anerkannt zu werden. Die Bundesregierung hat
aber noch einiges zu tun, gerade bei der Sprachförderung.
Hier müssen wir dringend nachjustieren, zum Beispiel
bei den Integrationskursen. Ein entsprechender Antrag
liegt vor.
({2})
Ein Verzicht auf Negativsanktionen, wie die Linken
es immer wieder fordern, würde die Integration nicht
verbessern.
({3})
Die Einhaltung und der Vollzug des Ausländerrechts
sind wesentliche Bestandteile unserer demokratischen
Rechtsordnung. Integrationsbemühungen sind in großem
Maße von der Akzeptanz der Bevölkerung abhängig.
({4})
Wer Aufenthaltsrecht oder Staatsangehörigkeit zu billig
macht, entwertet sie. Darin würde sich ein Mangel an
Selbstachtung in unserer Gesellschaft ausdrücken, der
die Gesellschaft unattraktiv machen würde. Eine unattraktive Gesellschaft aber wird es schwer haben, Zuwanderer zur Integration zu motivieren. Deshalb muss der,
der Zuwanderer erfolgreich integrieren will, von der Attraktivität Deutschlands überzeugt sein. Wer unseren
Staat, unser Land immer nur kritisch beäugt, kann nicht
erwarten, dass Zuwanderer sich mit diesem Land identifizieren.
Zuwanderung ist ein Kompliment für Deutschland.
Wir sollten dieses Kompliment nicht entwerten, indem
wir unsere Erwartungen an Zuwanderer auf ein Maß reduzieren, das den Eindruck erweckt, dass wir diesen
Menschen nichts zutrauen. Wir sollten sie nicht als problembeladene Menschen ansehen, denen wir mit Mitleid
begegnen müssen.
({5})
Ich meine, wir sollten sie als freie und kluge Köpfe achten, die große Anstrengungen unternehmen, um sich in
unsere Gesellschaft einzubringen.
({6})
Zuwanderer haben unsere Gesellschaft in vielerlei
Hinsicht bereichert und tun es nach wie vor - wirtschaftlich, kulturell und menschlich. Wir brauchen sie.
({7})
Wir sind auf Zuwanderung angewiesen, gerade auf die
Zuwanderung von Hochqualifizierten und Fachkräften. Der Ausländerbericht der Bundesregierung bestätigt
in erfreulich deutlichen Worten, Herr Bürsch, dass in der
Steuerung der Arbeitsmigration in Deutschland eine beachtliche Lücke besteht. Es ist bemerkenswert, dass der
vorliegende Bericht ganz deutlich hervorhebt, dass die
Hürden für Fachkräfte viel zu hoch sind. Ich empfehle
insbesondere den Kollegen von der CDU/CSU, ihre
Aufmerksamkeit auf Seite 120 dieses Berichts zu lenken.
({8})
Der massive Fachkräftemangel, die demografische Entwicklung, die internationale Arbeitsteilung machen eine
klare Steuerung der Zuwanderung nach einem Punktesystem geradezu zwingend erforderlich;
({9})
denn das Punktesystem ist ein flexibles, transparentes
und modernes System der Zuwanderungssteuerung.
({10})
Die FDP-Fraktion hat hierzu in der letzten Sitzungswoche bereits das entsprechende Konzept vorgelegt.
({11})
Wer sich einer modernen Zuwanderungssteuerung verschließt, verschließt die Augen vor der Realität und
übersieht die Wachstumspotenziale der Zuwanderung.
Wir brauchen in unserer Gesellschaft, aber auch für die
Migranten eine klare Perspektive, klare Kriterien und
eine offene Willkommenskultur, die beidseitig akzeptiert
werden kann sowie die Rechte und Pflichten definiert.
Eine moderne Zuwanderungssteuerung ist überfällig.
({12})
Nächster Redner ist der Kollege Rüdiger Veit, SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir debattieren heute mehrere Drucksachen, nämlich
den Siebten Bericht der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, den Antrag der Grünen zum Thema
Staatsbürgerschaftstests - dazu wird der Kollege Bürsch
nachher etwas sagen - und den Antrag der FDP - Herr
Kollege Wolff, Sie haben ihn vorgestellt und begründet mit dem Titel „Integrationskurse qualitativ verbessern
und entbürokratisieren“.
Dazu möchte ich gerne einige wenige Bemerkungen
machen. Wenn mich nicht alles täuscht - Herr Kollege
Wolff, nehmen Sie es nicht persönlich, biologisch und
vom Dienstalter her sind Sie außen vor -, war es die
FDP, die nach dem Krieg in rund 40 Jahren Regierungsbeteiligung in der Bundesrepublik das Hauptausmaß an
Defiziten in der Integration jedenfalls mitzuverantworten hat. Deswegen bin ich durchaus froh darüber, dass
Sie dieses Thema entdecken und versuchen, sich ihm auf
der Überholspur widmen. Dabei versuchen Sie uns zu
sagen, wie wir die Integrationskurse verbessern können.
Sie haben einige zustimmungswürdige Dinge genannt. Sie haben aber auch einige Dinge angesprochen,
bei denen wir keine Nachhilfe mehr brauchen. Das
BAMF wird - es ist schon im Begriff, das zu tun - die
Regelungen zur Fahrtkostenerstattung für Kursteilnehmer entbürokratisieren. Die beteiligten Behörden sind
inzwischen gut verzahnt und informieren sich - dazu
sind sie verpflichtet - untereinander. Ebenso gibt es
- hier sind wir um eine Verbesserung bemüht - eine sozialpädagogische und Kinderbetreuung.
Ein Punkt bleibt auch aus meiner Sicht verbesserungswürdig. Sie wollen die Vergütung für die Integrationskurse pro Stunde und Teilnehmer auf 3 Euro hochsetzen. Früher lag der Vergütungssatz bei 2,05 Euro. Die
Koalitionsfraktionen waren sich einig, dass das zu wenig
ist. Das BAMF hat den Satz bereits auf 2,35 Euro erhöht.
Wir könnten uns im Sinne einer noch besseren Qualität
der Kurse und im Sinne der Lehrer, die dort unterrichten,
einen Betrag von 2,50 Euro oder 2,75 Euro vorstellen.
3 Euro scheinen mir ein bisschen viel zu sein. Aber ich
bin guten Mutes, dass das BAMF hier von uns keine
Nachhilfe braucht.
Lassen Sie mich bei dieser Gelegenheit einmal feststellen, Kollege Wolff: Die Behörde arbeitet auf diesem
Gebiet unter der Führung ihres Präsidenten Schmid ganz
hervorragend.
({0})
Was noch wichtiger ist: Niemand, der bisher einen Integrationskurs besuchen wollte - von den Verpflichteten
ganz zu schweigen -, ist deswegen abgelehnt worden,
weil Haushaltsmittel gefehlt hätten. Darauf werden wir
auch in der Zukunft achten.
({1})
Noch einmal: Wir begrüßen Sie und Ihre Vorschläge.
Herzlich willkommen im Klub! Rot-Grün hat die Integrationskurse mit dem Zuwanderungsgesetz geschaffen
nach dem Motto „Learning by Doing“. Ich sage es nicht
ironisch, Herr Grindel, sondern durchaus dankbar anerkennend, dass die CDU/CSU nun aktiv mit im Boot ist.
Die FDP ist im Begriff, ebenfalls mit ins Boot zu steigen. Ich begrüße das. Frau Böhmer hat im Ergebnis natürlich recht: Unterlassene Integration kostet uns eine
Unsumme Geld. Aber: So viel Integration wie heute war
noch nie.
Ich will zum eigentlichen Bericht kommen und Ihnen
anhand von vier Baustellen zeigen, wo ich für diese Legislaturperiode noch Handlungsbedarf sehe. Dabei lasse
ich ausdrücklich kritische Bemerkungen außer Acht,
was wir in der Koalition beim Thema Zuwanderungsrecht und EU-Richtlinienumsetzungsgesetz gemeinsam
getan haben bzw. tun mussten. Ich will keine rückwärtsgewandten Debatten führen; Sie alle kennen das. Ich will
mich vor allen Dingen auf vier Punkte konzentrieren, die
noch in dieser Legislaturperiode lösbar erscheinen oder
im Sinne der Koalitionsvereinbarung der Lösung bedürfen.
Ich kann mich hierbei auf den Bericht der Beauftragten stützen. Frau Staatsministerin Professor Böhmer, ich
bin Ihnen und Ihren Mitarbeitern für diesen Bericht außerordentlich dankbar und anerkenne umso mehr den Inhalt des Berichtes, als er sich in manchen Passagen, in
denen dies in der Sache geboten ist, deutlich von der
Mehrheitsmeinung der CDU in einigen Bundesländern,
vielleicht sogar in Ihrer eigenen Fraktion, wohltuend abhebt. Ich begrüße das außerordentlich.
Ich möchte dies in meinem ersten Punkt am Beispiel
des Rückkehrrechtes für von Zwangsverheiratung betroffene junge Frauen und Mädchen festmachen. Sie
schreiben hierzu zu Recht in Ihrem Bericht:
Die Beauftragte wird sich auch für eine Verbesserung des Rückkehrrechts einsetzen. Aus ihrer Sicht
käme es, wenn sich die Problematik der Heiratsverschleppung als quantitativ relevant und als rechtlich
oftmals nicht lösbar
- das ist sie wohl auch nicht verstetigen würde, vor allem darauf an, die Regelungen des § 51 AufenthG zu modifizieren. Nur der
Fortbestand des Aufenthaltstitels garantiert den Opfern von Heiratsverschleppung die Möglichkeit der
zügigen Rückkehr nach Deutschland, sobald sie
sich aus ihrer Zwangslage befreit haben.
In der Tat - das will ich hier in aller Deutlichkeit sagen -: Wer sich die Bekämpfung von Zwangsverheiratungen im In- oder Ausland zum Ziel gesetzt hat, der
darf nicht nur an Fragen des Nachzugsalters, des Erwerbs vorheriger Deutschkenntnisse im Ausland oder
was auch immer herumdoktern - entschuldigen Sie bitte
das etwas abfällige Wort -, sondern muss sich, glaube
ich, vor allen Dingen einmal den Opfern widmen
({2})
und sagen: Wenn eine junge Frau unter List, Drohung
oder zunächst vielleicht auch freiwillig aus Deutschland
ins Ausland verbracht worden ist und dort durch Druck
zu einer Verheiratung gezwungen wird, dann können wir
als Gesetzgeber, als deutscher Staat nicht zulassen, dass
die betroffene Person - das ist die geltende Rechtslage
ohne Ausnahme; wir haben keine Härtefallregelung nach sechs Monaten ihr Aufenthaltsrecht verliert mit der
misslichen Folge, dass sie gar nicht mehr nach Deutschland zurückkehren kann, um sich so aus ihrer Zwangslage zu befreien. Wer die Bemühungen im Interesse von
jungen Frauen und Mädchen, die von Zwangsheirat betroffen sind, ernst meint, der muss als Erstes genau an
dieser Stelle ansetzen und sagen: Selbstverständlich können die betroffenen jungen Mädchen und Frauen nach
Deutschland zurückkehren. Hier sehe ich Handlungsbedarf.
({3})
Herr Kollege Veit, lassen Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Laurischk zu?
Gerne.
Herr Kollege Veit, die Bekämpfung der Zwangsheirat
ist uns ein wichtiges Thema. Insofern möchte ich von Ihnen gern eine Einschätzung hinsichtlich der Bekämpfung der Zwangsheirat im Inland haben. Hier gibt es eine
auffällig geringe Anzahl von Verurteilungen. Die
Zwangsheirat steht unter Strafe,
({0})
die Verfolgung hier vor Ort erscheint mir aber in zu geringem Maße stattzufinden.
Das mag so sein, Frau Kollegin, aber ich bitte um
Verständnis dafür, dass ich diese Frage nicht beantworten kann, da sie eigentlich an Staatsanwaltschaften und
Polizeien zu richten ist.
({0})
Wir haben seinerzeit mit den erforderlichen Mehrheiten
dafür gesorgt, dass es einen entsprechenden Straftatbestand in § 240 des Strafgesetzbuches gibt. Ich finde, es
wird zu Recht über die Frage diskutiert, ob wir diesen
Straftatbestand unter einer besonderen Überschrift im
Strafgesetzbuch hervorheben sollen, damit sich vor allen
Dingen potenzielle Täter über das, was sie zu tun beabsichtigen, noch einmal verschärft Gedanken machen.
Aber wie gesagt: Die Frage kann ich Ihnen bedauerlicherweise nicht beantworten. Ich bin jetzt hier in beruflicher Funktion im Deutschen Bundestag und nicht bei der
Staatsanwaltschaft.
Ich will mich einem zweiten Punkt zuwenden. Er betrifft die Frage des Umgangs mit sich hier bei uns in
Deutschland illegal Aufhaltenden. Dies ist eine Baustelle, die einige von uns schon seit vielen Jahren beschäftigt. Es ist nach wie vor so, dass Ärzte und andere
in sozialen Berufen tätige Personen von Strafe bedroht
sind - auch wenn wir da eine gewisse Veränderung vorgenommen haben -, wenn sie aus rein humanitären
Gründen sich illegal in Deutschland aufhaltenden Ausländerinnen und Ausländern helfen. Wir haben bei vielen staatlichen Stellen beklagenswerterweise immer
noch Übermittlungspflichten, die dazu führen, dass bestimmte soziale Rechte oder auch das Recht auf Bildung
von Kindern ausländischer sich illegal in Deutschland
aufhaltender Personen nicht wahrgenommen werden
können.
Sie, Frau Professor Böhmer, schreiben zu Recht in Ihrem Bericht unter anderem auf Seite 120, dass man dann,
wenn sich der Gesetzgeber nicht zu einem Handeln entschließen sollte, Veranlassung hätte, im nachgeordneten
Bereich, also im Bereich der Verwaltungsvorschriften,
zu Veränderungen zu kommen und klar und deutlich zu
sagen: Wer sich illegal in Deutschland Aufhaltenden aus
humanitären Gründen medizinische Hilfe leistet, macht
sich nicht strafbar. Hier sind wir uns doch eigentlich alle
einig.
Frau Professor Böhmer, Sie haben völlig recht, wenn
Sie in Ihrem Bericht auch schreiben, dass Sie es für unerlässlich halten, Übermittlungspflichten im Bereich von
Schule und anderen Bildungseinrichtungen zu streichen,
weil sich die Kinder sonst veranlasst sehen könnten,
diese Möglichkeiten der Bildung nicht in Anspruch zu
nehmen; das hätte übrigens auch Konsequenzen für ihre
Integration in Deutschland.
Ich begrüße außerordentlich, dass sowohl die gesamte
SPD-Bundestagsfraktion als auch Teile der CDU/CSUFraktion der Auffassung sind, hier müsse angesetzt und
etwas getan werden. Wir haben Ihnen unseren Vorschlag
mitgeteilt, dass man die Übermittlungspflichten ausdrücklich auf solche Behörden und Stellen beschränken
sollte, die mit der Gewährleistung der Einhaltung von
Sicherheit und Ordnung beschäftigt sind, nicht aber auf
solche Behörden und Stellen erstrecken sollte, die in den
Bereichen der Gewährung sozialer Rechte oder der Bildung tätig sind. Ich wäre froh, wenn wir an dieser Stelle
weiterkommen könnten.
Um eines klarzustellen: Selbst wenn einige von Ihnen
guten Willens sind,
({1})
bin ich mir darüber im Klaren, dass eine Änderung der
Rechtslage leider auch deshalb scheitern könnte,
({2})
weil manche Länderinnenminister, auch solche aus meiner Partei, diesem Vorhaben nicht unbedingt positiv gegenüberstehen,
({3})
obwohl sie zugleich sagen: Das alles ist bei uns überhaupt kein Problem; das findet nämlich in der Praxis
nicht statt.
Dem möchte ich entgegenhalten: Wenn das so ist,
dann kann man die geltende Rechtslage endlich mit dem,
was man in der Praxis tut, in Übereinstimmung bringen.
Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn wir an dieser Stelle
gemeinsam Fortschritte erzielen könnten. Im Berichterstattergespräch haben wir ja bereits entsprechende Verpflichtungen übernommen.
Ich will auf einen weiteren Punkt zu sprechen kommen, der in Ihrem Bericht, Frau Professor Böhmer, wie
die elektronische Suche zeigt, nur an einer einzigen
Stelle erwähnt wird: auf § 23 a des Aufenthaltsgesetzes,
die Härtefallkommissionen. Diese Vorschrift ist bis
zum 31. Dezember 2009 befristet. Die FDP hat dieses
Problem in einem Antrag, die Koalition in ihren Gesprächen und Verhandlungen thematisiert. Ich glaube, wir
sind fast alle der Meinung, dass diese Regelung entfristet
werden muss.
({4})
Wie wir wissen, haben mittlerweile alle Bundesländer, zuletzt übrigens Bayern - zwar nicht gerade unter
großem Beifall der Landtagsfraktion; diese Maßnahme
ist aber durchaus ein Verdienst des damaligen Innenministers Beckstein -, Härtefallkommissionen eingerichtet.
Was ihre Zusammensetzung und die Ergebnisse ihrer
Arbeit betrifft, muss ich sagen: Sie arbeiten nicht überall
nur zu meiner Freude. Im Übrigen bin ich ohnehin der
Meinung, dass eine Härtefallregelung im Gesetz, beispielsweise in § 25 Abs. 4 oder Abs. 5 des Aufenthaltsgesetzes, viel besser gewesen wäre als diese dem Gnadenrecht nachgebildete Verfahrensweise. Da es nun
allerdings diese Möglichkeit gibt, sollten wir dafür sorgen, dass sie auch weiterhin genutzt werden kann.
Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen,
ich komme zum letzten Punkt. Frau Böhmer hat in ihrem
Bericht zu Recht festgestellt, dass wir es noch nicht geschafft haben, das Problem der Kettenduldungen zu lösen. Übrigens haben wir uns dies auch in unserer Koalitionsvereinbarung vorgenommen.
Die Innenminister haben durch Beschluss und wir im
Gesetz eine Altfall- und Bleiberechtsregelung geschaffen.
Herr Kollege Veit, ich muss Sie daran erinnern, dass
Sie von nun an auf Kosten Ihrer Kollegen reden.
Ich dachte, dass ich mich noch im Zeitfenster zur Beantwortung der Zwischenfrage befinde.
Nein.
({0})
Wenn dem nicht so ist, werde ich mich kurzfassen
und zum Schluss kommen. - Wir alle, die wir hier sitzen,
sollten überprüfen, wie sich diese Bleiberechtsregelung
bis zum Stichtag 30. Juni 2008 in der Praxis ausgewirkt
hat und wie vielen Menschen, die sich bereits sechs oder
mehr Jahre in Deutschland aufhalten - vor allen Dingen:
wie vielen Kindern, die zum Teil hier aufgewachsen
und/oder sogar hier geboren sind -, wir damit haben helfen können.
Dann sollten wir gemeinsam überlegen - Frau Staatsministerin, hier haben wir auch Ihre Unterstützung; dafür möchte ich mich nochmals bedanken -, wie wir vielleicht noch in dieser Legislaturperiode dafür sorgen
können, dass mehr Menschen begünstigt werden. Das jedenfalls wäre mein Wunsch.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und für
die Gewährung der zusätzlichen Redezeit.
({0})
Ich gebe das Wort der Kollegin Sevim Dağdelen,
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren!
Der alarmierende Befund, insbesondere im Hinblick auf die Zukunftsperspektiven von 1 Mio. ausländischer Kinder und Jugendlicher im Bundesgebiet, macht umfassende Anstrengungen dringlich,
um größten individuellen und gesamtgesellschaftlichen Schaden abzuwenden.
Dieses Zitat stammt nicht etwa aus dem vorliegenden
Siebten Bericht über die Lage der Ausländerinnen und
Ausländer in Deutschland, ich zitiere den ersten Ausländerbeauftragten, Heinz Kühn, der diesen Appell schon
1979 verfasst hat.
Es ist traurig, dass die Kernaussagen noch heute, fast
30 Jahre später, gelten, wobei wir mittlerweile von
3 Millionen Kindern und Jugendlichen sprechen müssen,
die von der hässlichen Politik dieser Regierung betroffen
sind.
({0})
Obwohl die wesentlichen Handlungsfelder und die
Knackpunkte seit Jahrzehnten bekannt sind, hat sich im
Leben der Migrantinnen und Migranten nicht viel verändert. Die Zahlen - Frau Staatsministerin Böhmer hat
darauf hingewiesen - sprechen eine deutliche Sprache:
Über 17 Prozent haben keinen Schulabschluss, über
40 Prozent keine Ausbildung, über 70 Prozent keine
Qualifizierung, ihre Arbeitslosenquote ist fast doppelt so
hoch wie die von Nichtmigranten.
Angesichts dieser Lage müsste die Bundesregierung
eigentlich ein umfassendes Sofortprogramm vorlegen.
Stattdessen bietet sie einen Bericht, der weder differenziert noch umfassend noch kritisch ist. Das steht im
Widerspruch zu dem, was in der Vorbemerkung dieses
Berichts angekündigt ist. So setzt sich die weitgehende
Unkonkretheit der im Nationalen Integrationsplan der
Bundesregierung enthaltenen Maßnahmen im Bericht
über die Lage der Ausländerinnen und Ausländer fort.
Genau das wollten wir mit dem Antrag, den wir frühzeitig eingereicht haben, verhindern. Wir forderten den
Deutschen Bundestag ausdrücklich auf, die beabsichtigte inhaltliche Neukonzeption des Lageberichts abzulehnen. Die Vermischung einer wissenschaftlich fundierten Darstellung mit den Vorhaben der Bundesregierung
im Rahmen des Nationalen Integrationsplans haben wir
abgelehnt und wollten wir abwenden. Leider sind wir im
Innenausschuss, wo wir federführend darüber beraten
haben, nur von der FDP unterstützt worden.
({1})
Wir wollten einen Lagebericht, der dem Parlament als
Informationsgrundlage dient.
Die Bundesregierung versucht eine Integrationspolitik zu gestalten, ohne zu analysieren, warum Migrantinnen und Migranten noch immer stark benachteiligt sind.
Keine Analyse der Missstände, keine Auseinandersetzung mit den Ursachen und mit den Folgen der Politik.
Da Sie, meine Damen und Herren, nicht in der Lage
sind, eine Analyse vorzulegen, will ich Ihnen dabei
gerne helfen: Ihre neoliberale Politik ist es, die immer
mehr Menschen in Armut treibt, Deutsche wie Ausländer und Menschen mit Migrationshintergrund.
Der kürzlich veröffentlichte 3. Armutsbericht der
Bundesregierung belegt dies eindrucksvoll. Demnach
sind Menschen mit Migrationshintergrund mit 28,2 Prozent deutlich stärker als Deutsche von Armut betroffen.
Die Zahl der Niedriglohnbeschäftigten wächst: Mehr als
ein Drittel der Beschäftigten, 36,4 Prozent, haben einen
Verdienst unterhalb der Niedriglohnschwelle. Hier sind
Migranten aufgrund geringerer Qualifikationen überdurchschnittlich vertreten. Viele müssen neben ihrem
Hauptberuf einer weiteren Beschäftigung nachgehen. Jeder zehnte Minijobbeschäftigte - 64 Prozent sind Frauen;
so viel zu Ihrer Frauenpolitik! - war ein Ausländer. Viele
sind, wie ich erleben konnte, als Nokia sein Werk in meinem Wahlkreis in Bochum schließen wollte, Leiharbeiterinnen oder Leiharbeiter.
Das heißt, die Armut hat trotz Arbeit zugenommen,
und sie nimmt bei Migranten verstärkt zu. Der beklagte
Anstieg der Armut trotz Arbeit und auch der Altersarmut
sind logische Folgen der Hartz-Gesetze, die dem Motto
„Jede Arbeit ist zumutbar“ folgten. Die Armut ist auch
eine Folge der Agenda-2010-Politik. Denn der Zeitraum,
den der 3. Armutsbericht der Bundesregierung abdeckt,
erstreckt sich im Wesentlichen auf die Jahre von 1998
bis 2005. Damit ist dieser Bericht sozusagen ein Armutszeugnis für rot-grüne Politik.
({2})
Sie sagen immer wieder: Bildung entscheidet über
Teilhabechancen und über existenzsichernde Erwerbsbeteiligung. Mit Migrationshintergrund ist der Bildungsstand geringer als ohne Migrationshintergrund, das
bestätigt der 2. Nationale Bildungsbericht der Bundesregierung. Dies wurde auch im Lagebericht ausgeführt.
Statt aber Anregungen zur Überwindung dieser Situation
zu geben, finden sich im Lagebericht ähnlich leere Worte
wie im Nationalen Integrationsplan. Integration wird zunehmend zu einem individuellen Problem der Menschen
mit Migrationshintergrund gemacht: Sie sollen besser
Deutsch lernen - mehr fällt Ihnen dazu nicht ein! - und
sich mehr bilden. Von den genannten strukturellen Defiziten im Bildungssystem ist hingegen keine Rede. Es ist,
wie der Sozialwissenschaftler Christoph Butterwegge
gegenüber der Frankfurter Rundschau gesagt hat, eine
„pure Heuchelei“, Bildung als Weg aus der Armut zu
präsentieren, gleichzeitig aber nichts zu tun, um soziale
Gleichheit herzustellen.
Viele Themen werden im Lagebericht entweder nur
am Rande angesprochen oder in fragwürdiger Weise dargestellt:
Es findet sich zum Beispiel kein Wort über das den
Angehörigen eines Drittstaates nach wie vor verweigerte
Recht, an Kommunalwahlen teilzunehmen. Damit wird
meines Erachtens ein zentraler Punkt der politischen
Teilhabe verweigert.
({3})
Gerade von dieser wird doch ansonsten immer so wortreich gesprochen. Sie sollen sich engagieren. Die Linke
sagt: Wer von Integration redet, der muss den Menschen
auch gleiche Rechte geben, damit sie am gesellschaftlichen Leben auch partizipieren können.
({4})
Im Lagebericht steht auch kein Wort über die Verzweiflung und Wut von Tausenden Frauen und Männern,
die nicht mit ihrem Ehepartner zusammenleben können,
weil sie seit der Novellierung des Zuwanderungsgesetzes im letzten Jahr durch die Anforderungen eines
Sprachtests an einer Einreise nach Deutschland gehindert werden.
Es steht dort auch kein kritisches Wort zu den Zuständen in der Abschiebehaft und zu den durch das Richtlinienumsetzungsgesetz erweiterten Möglichkeiten, Flüchtlinge zu inhaftieren.
Im Lagebericht steht ebenfalls kein kritisches Wort zu
den seit dem Jahr 2000 dramatisch gesunkenen Einbürgerungszahlen. Es werden einfach die Durchschnittswerte der Einbürgerungszahlen in den Fünfjahreszeiträumen 1995 bis 1999 bzw. 2002 bis 2006 miteinander
verglichen. Schon kommt das passende Ergebnis für die
Bundesregierung heraus. Dass die aktuellen Einbürgerungszahlen unter dem Wert von 1999 liegen - also unter
dem Wert von vor der sogenannten rot-grünen Reform -,
findet keinerlei Erwähnung.
Sevim DaðdelenSevim Dağdelen
({5})
- Weil die Bedingungen dadurch schlimmer wurden. Warum sollte die Bundesbeauftragte auch darauf hinweisen, dass die Zahlen seit 2000 kontinuierlich gesunken
sind? Hier muss sich besonders auch die Sozialdemokratie fragen lassen, was sie in zehn Jahren Regierungsverantwortung eigentlich getan hat.
Frau Kollegin, genau einer dieser Sozialdemokraten,
nämlich der Kollege Veit, würde gerne eine Zwischenfrage stellen.
Sehr gerne.
Liebe Frau Kollegin Dağdelen, ich wollte sie fragen,
ob Sie bei Ihren Ausführungen berücksichtigen könnten,
dass die Änderungen im Aufenthaltsgesetz, die wir mit
dem EU-Richtlinienumsetzungsgesetz vorgenommen haben, erst zum August des Jahres 2007 in Kraft getreten
sind und dass der Berichtszeitraum des hier und heute zu
debattierende Berichts der Beauftragten sich nur bis zum
November 2007 erstreckt. Mithin konnten in ihm keine
Auswirkungen dieser Gesetzesänderung berücksichtigt
werden.
({0})
Sie sind mir ein bisschen zuvorgekommen. Das ist bereits berücksichtigt worden, lieber Herr Kollege Veit.
Deshalb wollte ich auch sagen, dass die in dem Bericht
erwähnten Änderungen der Einbürgerungszahlen keine
Trendwende hin in Richtung mehr Einbürgerungen bedeuten. Im August des letzten Jahres wurde durch das
Richtlinienumsetzungsgesetz - Sie haben das selbst
schon gesagt - auch das Staatsangehörigkeitsgesetz geändert, wodurch die vereinfachte bzw. erleichterte Einbürgerung für unter 23-jährige Jugendliche oder Erwachsene - wie Sie wollen - weggefallen ist. Das heißt,
in nächster Zeit werden sich weniger Menschen einbürgern lassen können, als das aufgrund der erleichterten
Einbürgerung der Fall gewesen ist, die es 2006 noch gab.
Deshalb gehe ich davon aus, dass der Trend, dass die
Zahlen sinken, weiter anhalten wird.
({0})
Herr Veit, vor allen Dingen an Sie möchte ich appellieren - sofern ich weiß, sind Sie Mitglied der Sozialdemokraten -: Vergessen Sie jetzt, da Sie sich aktuell über
die Einbürgerungstests so sehr echauffieren, nicht, dass
Sie diese Regelung 2006 bei der Innenministerkonferenz
- zum Beispiel durch Ihren Innenminister Stegner oder
auch durch Innensenator Körting - mitbeschlossen haben
({1})
und dass Sie sie auch im letzten Jahr bei der Änderung
des Staatsangehörigkeitsgesetzes mitbeschlossen haben.
({2})
Es ist im Moment so, wie wir das von der SPD kennen:
Sie verhalten sich hinsichtlich der Einbürgerungstests
falsch und unaufrichtig. Für wie blöd halten Sie uns oder
auch die Menschen außerhalb dieses Parlaments eigentlich?
({3})
Hinsichtlich der Grünen, die einen Antrag vorgelegt
haben und meines Erachtens in die Falle der SPD getappt sind, möchte ich anmerken: Vor allen Dingen Sie
von den Grünen sollten hier nicht immer den Mund so
voll nehmen und versuchen, sich als Gutmenschen zu
präsentieren.
({4})
Sie tragen nämlich Mitverantwortung für die schlimme
Situation der Migrantinnen und Migranten wie auch der
Deutschen in unserem Lande. Sie von den Grünen haben
nämlich für alles, was die Situation der betroffenen
Menschen verschlimmert hat, genauso die Hand gehoben.
({5})
Nun versuchen Sie hier, den Gutmenschen zu geben, als
wenn Sie nicht in der Regierung gewesen wären und
nicht diese neoliberale Politik betrieben hätten, die zu
mehr Armut und auch zu mehr Bildungsarmut bei Migrantinnen und Migranten geführt hat.
Nach wie vor verteidigt die Bundesbeauftragte die
Verschlechterung für Flüchtlinge, die in der schwarz-roten Koalition forciert wird. Es scheint sie nicht zu stören,
dass Menschen nun statt drei Jahre vier Jahre lang Leistungen beziehen, die zwischen 15 und 35 Prozent unter
den vergleichbaren Regelsätzen liegen. Das bedeutet,
dass sie vier Jahre lang von 184,07 Euro im Monat leben
müssen. Das ist beschämend und muss ein Ende haben.
Es ist ein Skandal. Wenn Sie von Teilhabe sprechen,
dann müssen Sie den Menschen auch die materiellen
Voraussetzungen dafür zur Verfügung stellen.
({6})
Insgesamt ist festzustellen, dass der Bericht eines
eindrucksvoll zeigt: Es ging in den letzten Jahrzehnten
und auch in den letzten Jahren nie wirklich um Teilhabe und Integration von Migrantinnen und Migranten
oder auch von Flüchtlingen in unserer Gesellschaft.
Wenn Sie Integration wollen, dann müssen Sie die notwendigen Rahmenbedingungen schaffen. Bekämpfen
Sie nicht die Migranten und Flüchtlinge! Schaffen Sie
Sevim DaðdelenSevim Dağdelen
gleiche Rechte! Betreiben Sie eine gerechte Bildungspolitik, eine wirklich soziale Sozialpolitik und eine
gute Arbeitsmarktpolitik und kehren Sie von Ihrem
neoliberalen Irrsinn ab!
({7})
Nächster Redner ist der Kollege Josef Winkler, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Frau Dağdelen, wenn ich Ihnen zuhöre, dann
kommt es mir vor, als würden Sie am Nordpol stehen.
({0})
Von dort aus geht es in alle Richtungen nach Süden. Sie
müssen ein bisschen zwischen den verschiedenen politischen Positionen der Grünen und der Union in der Integrationspolitik differenzieren.
({1})
Es gibt durchaus einige Unterschiede, die ich jetzt deutlich machen werde.
Wie beim Nationalen Integrationsplan werden auch
im aktuellen Lagebericht der Integrationsbeauftragten
Maßnahmen, die die rechtliche Beteiligung von Ausländerinnen und Ausländern fördern sollen, kategorisch
ausgeblendet. Bezeichnend ist zum Beispiel, dass im Bericht trotz des Umfangs von über 300 Seiten das Thema
„Einführung des kommunalen Wahlrechts für Ausländer“ in keiner Weise erwähnt wird, obwohl es hierzu aktuelle Gesetzesinitiativen in Bundesrat und Bundestag
gibt. Maßnahmen und Vorschläge, wie die Einbürgerung
von Ausländerinnen und Ausländern gefördert werden
soll, werden ebenso verschwiegen. Das ist nicht gut.
„Erfolgreiche Integrationspolitik muss sich an klaren
Indikatoren messen lassen“, heißt es im Nationalen Integrationsplan. Die Staatsministerin hat ja in der letzten
Woche ihre Vorschläge zu solchen wissenschaftlichen
Indikatoren vorgestellt. Aber man muss diese Vorschläge
noch einmal genau betrachten. Im Bildungsbereich
- das hat die Ministerin eben noch einmal gesagt - will
die Regierung in Zukunft messen lassen, wie hoch der
Anteil der 20- bis 24-jährigen Bürger mit Migrationshintergrund ist, die nicht über einen Schulabschluss verfügen. Was verrät uns das über die Erfolge von Integrationspolitik? Erst einmal nichts! Richtig verstandene
Messindikatoren würden eben nicht nur die Migranten,
sondern auch die aufnehmende Gesellschaft in den Blick
nehmen. Es dürfte also nicht nur die Zahl der Schulabschlüsse berücksichtigt werden, sondern es müsste auch
systematisch und jährlich erfasst werden, welche speziellen Bildungsangebote und Angebote überhaupt zur
Förderung dieser Gruppe in den Bundesländern vorhanden sind bzw. ausgebaut werden.
({2})
Im Bereich der Politik wird vorgeschlagen, den Anteil von Mandatsträgerinnen und Mandatsträgern mit
Migrationshintergrund im Deutschen Bundestag und in
den Landesparlamenten als Indikator zugrunde zu legen.
Das ist ein völlig falscher Ansatz. Nicht das Zählen der
Köpfe hilft, sondern das Zählen der Angebote, die gezielt für die Förderung des politischen Engagements von
Menschen mit Migrationshintergrund vorhanden sind.
({3})
Seien wir ehrlich: Die meisten Abgeordneten mit Migrationshintergrund haben es nicht wegen der guten
deutschen Integrationspolitik in die Parlamente geschafft, sondern obwohl es in diesem Land über Jahrzehnte hinweg gar keine Integrationspolitik gab. Die
Union war immer dagegen, aber jetzt will sie sich das,
wofür Frau Dağdelen, ich und andere eintreten, ans Revers heften. Wir passen da erstens gar nicht hin, und das
ist zweitens etwas scheinheilig.
Ich komme nun zu einem anderen Punkt, der in dem
Bericht angesprochen worden, nämlich das wichtige
Thema der Verhinderung von Zwangsverheiratungen.
Hier schlägt die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung heute mutig Dinge vor, die sie im letzten Jahr
nur geflüstert hat. Im Gesetzgebungsverfahren hätte sie
das vortragen müssen. Aber sie hat sich nicht durchgesetzt. In dem Paket, das im letzten Jahr beschlossen
wurde, wurden die Hauptforderungen der Frauen- und
Migrantinnenverbände - Verbesserungen beim eigenständigen Aufenthaltsrecht und ein Rückkehrrecht für
junge Frauen, die ins Ausland verschleppt wurden nicht aufgegriffen. Das muss man hier klar sagen.
({4})
Herr Kollege Veit, Sie haben eben auf die Zwischenfrage von Frau Kollegin Laurischk, warum es so wenige
Strafverfolgungen gibt, nicht antworten können. Das
liegt nicht nur an den Staatsanwaltschaften, sondern
auch daran, dass es zu wenige Anzeigen gibt; denn die
Frauen müssen die Abschiebung fürchten, wenn sie Anzeige erstatten und das Scheidungsverfahren einleiten.
({5})
- Wenn das nicht stimmt, sollten Sie einmal mit den betroffenen Frauen reden.
Dass Sie, Frau Böhmer, dies erst jetzt im Lagebericht
aufgreifen und nicht schon im Gesetzgebungsverfahren,
zeigt Ihre Durchschlagskraft. Es hilft nichts, dass Ihr
Amt im Kanzleramt angesiedelt ist, wie Sie eingangs bemerkt haben. Offensichtlich wäre es fast besser, wenn
Ihr Amt beim Innenministerium angesiedelt wäre; denn
dann fänden Sie mit Ihren Vorschlägen dort endlich Gehör.
Das neue Gesetz ist auch im Bereich des Ehegattennachzugs, der geändert wurde, sehr fehlerhaft. Frau
Sevim DaðdelenSevim Dağdelen
Böhmer, viele Beschwerden über die menschlichen Härten, die diese Neuregelung produziert, müssten Ihnen bekannt sein. Hierzu heißt es aber im Kapitel „Nachweis
einfacher Deutschkenntnisse vor der Einreise“, dass man
eventuell entstehende Härtefälle „genau beobachten
muss“. Das ist nun wirklich zu wenig. Das ist ein Armutszeugnis. Sie sind doch die Anwältin der Ausländerinnen und Ausländer.
({6})
Dieses Gesetz gehört nicht genau beobachtet, sondern in
die Tonne gekloppt.
({7})
Es produziert am laufenden Band nur Härtefälle. Im Petitionsausschuss, in dem ich Obmann meiner Fraktion
bin, stapeln sich die Eingaben aus allen Kontinenten dieses Planeten mit herzerweichenden Bitten von Ehepaaren, die unter dem Schutz von Art. 6 des Grundgesetzes
endlich in Deutschland zusammenleben wollen. Hier
müssen Sie handeln. Es geht nicht darum, ein paar eventuell entstehende Härtefälle genau zu beobachten. Hier
muss nachgearbeitet werden.
({8})
Frau Staatsministerin, Sie reklamieren in Ihrem Lagebericht für sich - genauso wie in Ihrer Rede -, einen Paradigmenwechsel in der Integrationspolitik eingeleitet
zu haben. Im aktuellen Bericht liest sich das wie folgt:
Der Bund geht dabei neue Wege einer aktivierenden und nachhaltigen Integrationspolitik, die die
Potenziale der Zugewanderten erkennt und stärkt
und nicht allein auf die Defizite fokussiert.
Eben haben Sie von einer falschen Freundschaft gesprochen, die ehemalige Integrationsbeauftragte mit ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern eingegangen
seien. Dazu kann ich nur sagen: Das war keine falsche,
sondern eine echte Freundschaft. Wir sind stolz auf die
Leistungen von Marieluise Beck als Integrationsbeauftragte der Bundesregierung.
({9})
Wenn Sie glauben, die für diese Woche geplanten
Treffen mit Migrantenverbänden absagen zu müssen,
weil diese Ihnen ein schlechtes Zeugnis ausgestellt haben, dann zeigt das, dass Sie mit Kritik nicht souverän
umgehen können. Zum Glück können Sie diesen Termin
hier nicht absagen. Im Parlament müssen Sie sich kritisieren lassen.
({10})
Der vorliegende Bericht zeigt, dass die Bundesregierung bislang vor allem festzulegen versucht hat, was Migrantinnen und Migranten in Deutschland lernen, respektieren und befolgen müssen, bevor man bereit ist,
ihnen auf gleicher Augenhöhe zu begegnen. Das ist Integrationspolitik mit erhobenem Zeigefinger. Mein Fazit
über den Bericht lautet daher: Er ist nicht ungenügend,
aber die Versetzung ist stark gefährdet. Die Liste ließe
sich weiter fortführen.
({11})
- Herr Kollege Körper, das ist nicht oberlehrerhaft. Dafür wären Sie der geeignetere Kandidat. Zu diesem
Schluss komme ich, wenn ich an Ihre Zeit als Staatssekretär im Innenministerium zurückdenke.
({12})
Abgesehen davon, ob es überhaupt sinnvoll ist, den
Erwerb gleicher staatsbürgerlicher Rechte von einem
Test abhängig zu machen, stellt sich die Frage nach der
Gestaltung der Einbürgerungskurse. Es wurde mehrfach angesprochen, dass wir hierzu heute einen Antrag
vorgelegt haben. Wir wollen sicherstellen, dass der
Deutsche Bundestag und nicht der Beamtenapparat im
Innenministerium alleine entscheidet, wie die Einbürgerung in Deutschland zu geschehen hat und welche Wissensgrundlagen vorhanden sein müssen.
({13})
Herr Kollege Körper, da helfen auch die Krokodilstränen aus der SPD-Fraktion überhaupt nichts: Sie haben
im letzten Jahr das Gesetz beschlossen, in dem steht,
dass die Regierung das mit einer Verordnung regelt. Der
Vorsitzende des Innenausschusses, der Kollege Edathy,
den ich sonst sehr schätze, kann mich überhaupt nicht
beeindrucken, wenn er jetzt sagt, diese Einbürgerungskurse gehörten in den Verantwortungsbereich des Parlaments. Sie als SPD hätten das im letzten Jahr nicht beschließen dürfen. Sie haben es aber gemacht, und das
muss man hier auch einmal sagen.
({14})
Der Fragenkatalog wird endgültig erst Ende Juni im
Innenministerium vorliegen. Wir sind gespannt, ob es
auch deutschen Staatsbürgern gelingen würde, die Einbürgerung nachträglich zu erlangen. Generell sagen wir:
Man kann über Einbürgerungskurse reden, man muss
aber Härtefallregelungen schaffen, und man darf nicht
nur Gebildete, Akademiker und ähnliche Personen einbürgern; auch Menschen aus bildungsfernen Schichten
müssen in Deutschland ein Recht auf Einbürgerung haben, wenn sie unbescholten sind, lange hier leben und
hier integriert sind. Das muss berücksichtigt werden.
Das werden wir uns genau anschauen. Offensichtlich ist
es der SPD nicht möglich, innerhalb der Koalition an
diesen Dingen teilzunehmen und darauf Einfluss zu nehmen.
({15})
Das haben wir hier gesehen. Herr Kollege Veit hat hier
eine Rede gehalten, die eigentlich die Rede eines Oppositionsabgeordneten war. Den Zuschauern will ich es erklären: Er ist Teil der Regierung und SPD-Abgeordneter.
({16})
Herzlichen Dank.
({17})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Hartmut Koschyk,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Bundespräsident hat in seiner jüngsten Berliner
Rede zu Recht gesagt:
Je mehr wir für Arbeit, für Bildung, für Integration
erreichen, desto näher kommen wir allen dreien und
desto mehr kann unser Land die ganze Kraft entfalten, die in ihm steckt.
({0})
Der Bericht der Beauftragten für Migration und Integration, den wir heute hier im Parlament diskutieren,
macht deutlich: Der Politikwechsel in der Integrationspolitik, den diese Bundesregierung eingeleitet hat, hat
sich gelohnt. Deutschland ist auf einem guten Weg, Integrationsland in Europa zu werden. Drei Kerngedanken
zeichnen den neuen Weg, den Deutschland in der Integrationspolitik geht: Wir wollen miteinander, auch mit
den Migrantinnen und Migranten in unserem Land, über
bessere und gelingende Integration reden, nicht übereinander, wir wollen Probleme offen ansprechen und sie
nicht tabuisieren, und wir wollen deutlich machen: Integration ist eine Aufgabe von nationaler Bedeutung, die
alle angeht.
({1})
Die CDU/CSU-Fraktion hat für diesen Weg wichtige
Anstöße gegeben. Wir haben zu einem Zeitpunkt, als das
- das muss ich leider so sagen - politisch auch in diesem
Hause noch diffamiert worden ist, gesagt: Sprache ist
der Schlüssel zu Integration.
({2})
Ohne Beherrschen der deutschen Sprache kann es keine
gelingende Integration geben. Das ist heute politisches
Allgemeingut, das ist Konsens und dem Streit enthoben,
aber es hat lange gedauert, bis wir diesen Konsens in
Deutschland erreicht haben.
({3})
Unsere Fraktion hat den nationalen Integrationsgipfel
vorgeschlagen, unsere Fraktion hat den Nationalen Integrationsplan vorgeschlagen, und der Nationale Integrationsplan ist eben ein Dokument der Selbstverpflichtungen aller, die wir für gelingende Integration in
Deutschland brauchen. Deshalb ist es auch so wichtig
und richtig, Frau Staatsministerin, dass die Bundesregierung ein Monitoring für Integration auf den Weg gebracht hat; denn wir dürfen den Nationalen Integrationsplan und die Integration in Deutschland nicht sich selbst
überlassen. Wir müssen immer wieder darauf achten,
dass wir unsere selbst gesetzten Integrationsziele auch
erreichen.
Ich will deutlich machen, was uns als CDU/CSUFraktion doch noch von anderen Fraktionen in diesem
Hause unterscheidet - das ist ja auch durch die Debattenbeiträge der Linken und der Grünen deutlich geworden -:
Wir wollen aufhören, Konflikte und Probleme auf dem
Weg zu gelingender Integration in Deutschland zu tabuisieren. Denn diese Probleme und Konflikte mit
Gleichgültigkeit und wohlfeilen Toleranzformeln zu
überdecken, heißt, sie weiter schwelen zu lassen.
Ich will das an den bis in diese Tage hineinreichenden
tragischen Fällen wie dem jenes 16-jährigen Mädchens,
das vor etwa vier Wochen in Hamburg von seinem Bruder getötet wurde, deutlich machen.
({4})
Dieses Mädchen kämpfte um sein Recht, sein Leben
nach eigenen Vorstellungen und nicht nach aufgezwungenen Traditionen zu leben. In unserem Land ist das eine
Selbstverständlichkeit. Aber diesem 16-jährigen Mädchen wurde der Wunsch nach einem individuellen Lebensentwurf tragisch verwehrt. Das kann nur heißen:
Wir dürfen Themen wie patriarchalische Vorstellungen
und Ehrenmorde nicht tabuisieren. Wir müssen auch
offen über die dahintersteckenden falschen Traditionsvorstellungen sprechen, sonst lösen wir dieses Problem
nicht.
({5})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Winkler?
Bitte, Herr Kollege Winkler.
Werter Kollege Koschyk, ich möchte Ihnen die Frage
stellen, ob Sie zuzugestehen bereit sind, dass das, was
Sie gerade in Bezug auf Ehrenmorde und das Verbrechen
an dieser jungen Frau in Hamburg vorgetragen haben, in
diesem Hause allgemeiner Konsens ist und dem politischen Streit nicht nur schon immer enthoben war, sondern auch in Zukunft enthoben bleiben wird?
({0})
Ich will diese Frage mit der Anmerkung verbinden,
dass Ihr Unionsminister Laschet einmal formuliert hat,
dass es nicht angehen kann, dass man bei Migranten immer von „Ehrenmorden“ und bei Deutschen immer von
„Familientragödien“ spricht. Das ist ein Zitat von Herrn
Laschet. Insofern meine ich, wir sollten diese Art von
Auseinandersetzung gar nicht im Rahmen einer integrationspolitischen Debatte führen. Mord steht in diesem
Land unter Strafe - egal, von wem er begangen wird.
({1})
Lieber Kollege Winkler, ich möchte noch einmal
deutlich machen, worum es mir geht: Mit den Vorstellungen, die hinter einem solchen Ehrenmord stecken,
({0})
ist zum Beispiel auch verbunden, dass die Gleichberechtigung von Mann und Frau in unserem Land oder auch
die Wertvorstellungen, die unserem Grundgesetz zugrunde liegen, in bestimmten Kreisen von Zuwanderern
in Deutschland nicht akzeptiert werden. Wir müssen darum ringen, dass sich dies ändert.
({1})
Ich glaube, dass die Art und Weise, lieber Kollege
Winkler, wie die Grünen manchmal mit religiösen Traditionen in unserem Land umgehen - ich möchte nur die
Entscheidung in Ihrem bayrischen Landesverband nennen, von der sich Ihr Spitzenkandidat in Bayern einen
Tag später distanziert hat,
({2})
nämlich Kreuze aus öffentlichen Einrichtungen in Bayern zu entfernen -,
({3})
nämlich Indifferenz im Hinblick auf die religiösen Prägungen unseres Landes, so etwas auch ein Stück weit
Vorschub leistet.
({4})
Deshalb sollten Sie darüber nachdenken, wie Sie mit
der wertgebundenen Integration in unserem Land in Zukunft umgehen wollen.
Ich sage das so deutlich, weil mich sehr beeindruckt
hat, was Charlotte Knobloch in einer bemerkenswerten
Predigt in München den jungen Migrantinnen und Migranten in unserem Land gesagt hat. Sie beklagen ja
manchmal - das ist mit ein Grund dafür, dass sie in die
Fänge von religiösem Fundamentalismus geraten -, dass
in Deutschland christliche Grundwerte nichts mehr gelten. Ich fand es sehr beeindruckend, dass die Präsidentin
des Zentralrates der Juden in Deutschland an junge Migrantinnen und Migranten gewandt gesagt hat: Dieses
Land bietet auch durch den Gottesbezug im Grundgesetz
eine Wertgebundenheit und einen Wertebezug. Bringt
euch mit euren religiösen Überzeugungen in diesem
Land ein, aber achtet diese Verfassung, achtet die Werte
dieses Landes und stellt nicht religiöse Überzeugungen
über den demokratischen Grundkonsens, wie er in unserer Verfassung angelegt ist.
({5})
Darum geht es. Auch darüber müssen wir debattieren.
Für mich ist all das, was im Nationalen Integrationsplan
und im nationalen Integrationspakt angelegt ist, sehr
wichtig und entscheidend.
Ich will ausdrücklich den wichtigen Dialog würdigen,
den der Bundesinnenminister Schäuble mit der Deutschen Islamkonferenz auf den Weg gebracht hat. Es ist
ein Dialog, den auch die Kirchen in unserem Land führen. Ich sage sehr deutlich: Es gilt, zu erkennen, dass
man diesen Dialog bislang etwas blauäugig geführt hat.
Wenn wir nicht die Kernfragen „Wo endet religiöse Toleranz? Wo ist die Achtung unserer Verfassung und der
der Verfassung zugrundeliegenden Werte unabdingbar?“ beantworten, werden wir auch diese geistig-politische Auseinandersetzung nicht gewinnen.
Ich will etwas zum Thema Bürgerengagement, das im
Integrationsbericht angesprochen ist, sagen. Staatsministerin Böhmer verweist in ihrem Bericht sehr eindrucksvoll
darauf, dass vieles, was in Deutschland zu gelingender Integration beiträgt, das Verdienst von Bürgerengagement
ist. Wir wollen dieses Bürgerengagement weiter stärken.
Die nächsten Schritte werden auch darauf ausgerichtet
sein. Nur wenn die Bürgerinnen und Bürger begreifen,
dass dies eine Aufgabe ist, die nicht „von oben“, also
durch die Politik, sondern nur durch das Miteinander aller, also von unten, bewältigt werden kann, werden wir
hier weiterkommen.
Ich will in diesem Zusammenhang sagen, dass Integration in unserem Land nur gelingen kann, wenn die
Bürgerinnen und Bürger das Gefühl haben, dass Zuwanderung nach Deutschland begrenzt und gesteuert wird.
Ich bin der festen Überzeugung: Der politische Konsens,
den wir im Jahr 2005 durch die neue Zuwanderungsgesetzgebung über Parteigrenzen hinweg erreicht haben,
hat es möglich gemacht, über Integration in unserem
Land etwas offensiver zu reden, Maßnahmen auf den
Weg zu bringen und auch etwas für eine nachholende Integration zu tun. Wichtig ist für den Konsens die Überzeugung der Bürgerinnen und Bürger, dass die Politik in
Deutschland Zuwanderung begrenzen und steuern kann.
Ich will zum Schluss dieser Debatte deutlich sagen
- wir haben heute früh über Europapolitik und den heute
beginnenden Europäischen Rat diskutiert -: Die Vorstellungen zur Zuwanderungspolitik, vor allem zur Zuwanderung in den Arbeitsmarkt und zur Möglichkeit, durch
Zuwanderung demografische Probleme zu lösen, die die
EU-Kommission in einer Mitteilung vom 17. Juni durch
den Kommissar Barrot geäußert hat, tragen nicht dazu
bei, das Vertrauen der Bürger zu fördern,
({6})
dass Zuwanderung mit Maß und Mitte gesteuert und begrenzt wird. Deshalb werden wir uns als CDU/CSUFraktion
({7})
diesen Bestrebungen der Europäischen Kommission mit
aller Entschiedenheit widersetzen.
Herzlichen Dank.
({8})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Sibylle Laurischk,
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Koschyk, um es noch einmal ganz deutlich zu sagen: In
diesem Land ist Gewalt gegen Menschen, insbesondere
gegen Frauen, bis hin zu ihrer Tötung keine Frage von
Ehre; vielmehr ist sie verboten, steht unter Höchststrafe
und ist eine Schande.
({0})
Wir beraten heute den „Siebten Bericht über die Lage
der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland“ zur
Kernzeit, weil es sich um eine zentrale Zukunftsfrage
Deutschlands und auch Europas handelt. Warum ist es
eine Zukunftsfrage? Deutschland ist eine schrumpfende
Nation. Es werden hier immer weniger Kinder geboren,
und ganze Landstriche veröden. Bei einer Geburtenziffer
von 1,3 Prozent sind wir - wie die anderen europäischen
Länder auch - nicht mehr in der Lage, Wachstum zu generieren, was uns zu der Frage führen muss, wie wir
wirtschaftliches Wachstum als Grundlage unseres Wohlstands sichern wollen.
Ich will Ihr Augenmerk beim vorliegenden Bericht
auf zwei Punkte lenken: zum einen auf die Erwerbstätigkeit der Bevölkerung mit Migrationshintergrund und die
damit verbundene Integration in den Arbeitsmarkt sowie
zum anderen auf die Integrationskurse.
Ich halte es für geradezu alarmierend, wenn in diesem
Bericht erneut festgestellt wird, dass die Arbeitslosenquote von Migranten doppelt so hoch ist wie in der deutschen Bevölkerung. Dieser Umstand hängt damit zusammen, dass fehlende oder unzureichende Berufsabschlüsse
und Qualifikationen den Zugang zum Arbeitsmarkt erschweren. Ich kann dies nur als Skandal bezeichnen.
({1})
Wir sind eine schrumpfende Gesellschaft, wir haben
einen wachsenden Fachkräftemangel, und wir leisten es
uns, eine ganze Bevölkerungsgruppe, nämlich die der
Personen mit Migrationshintergrund, für den Arbeitsmarkt nicht fit zu machen. Es reicht mir nicht, dies mit
der Aussage zu kommentieren, da bestehe vielleicht kein
Interesse. Eine solche Aussage wäre zu billig. Wenn es
im Bericht heißt, die Entwicklung des Erwerbspersonenpotenzials sei dringend, dann kann ich dazu nur sagen,
dass die Bundesregierungen seit zehn Jahren, egal ob
rot-grün oder schwarz-rot, offensichtlich zu wenig getan
haben, um diesen Mangel zu beheben.
({2})
Interessant ist auch die Aussage, dass sich die Beschäftigung von Ausländern und Ausländerinnen nahezu
ausschließlich auf den Westen Deutschlands einschließlich Berlins konzentriert und in den ostdeutschen Bundesländern lediglich rund 37 000 ausländische Beschäftigte registriert sind, die damit dort nur 1 Prozent aller
Beschäftigten stellen. Ich halte dies für eine bemerkenswerte Feststellung - gerade angesichts der ausländerfeindlichen Parolen, die hinsichtlich der Konkurrenz auf
dem Arbeitsmarkt besonders in den östlichen Bundesländern kursieren.
Geradezu absurd erscheint mir die mangelhafte Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse. Es werden
zum Teil sehr gute Qualifikationen, die Migranten und
Migrantinnen aus dem Ausland mitbringen, aufgrund
bürokratischer Hemmnisse nicht ausreichend gewürdigt.
({3})
In dem Bericht wird davon ausgegangen, dass rund
500 000 zugewanderte Akademiker und Akademikerinnen keine Anerkennung ihres Abschlusses finden
und deshalb keine ausbildungsadäquate Tätigkeit ausüben. Eine Verschleuderung von qualifiziertem Wissen,
indem wir es uns nicht nutzbar machen, ist grotesk und
widerspricht dem Anspruch einer engagierten Integrationspolitik.
({4})
Akademiker fühlen sich beschämt, wenn sie sich in
Deutschland als Taxifahrer, Kellner oder Verkäuferinnen
wiederfinden. Hier muss dringend etwas geschehen.
({5})
Ein anderes wichtiges Moment beim Thema Integrationspolitik ist der Erwerb der deutschen Sprache. Zu
diesem Zweck wurden mit dem Zuwanderungsgesetz die
Integrationskurse geschaffen. Sie müssen verbessert
werden. Wir haben zur heutigen Debatte einen Antrag
dazu vorgelegt. Herr Veit, wenn Sie sagen, Sie hielten
die Vorschläge für durchaus richtig, dann kann ich nur
fordern: Mehr Mut! Geben Sie 3 Euro pro Stunde - Sie
haben es gerade kommentiert -; dann wäre mit den Integrationskursen tatsächlich etwas zu gewinnen.
Das Niveau, das derzeit erreicht werden kann, nämlich B1, genügt nicht wirklich zum Eintritt in den Arbeitsmarkt. Das macht die Leute wieder nicht ausreichend fit, um auf dem Arbeitsmarkt bestehen zu können.
({6})
Wir sind im Übrigen auch der Meinung, dass mit den
derzeit 600 Stunden, in bestimmten Fällen auch
900 Stunden nicht hinreichend fortgebildet werden kann
und der Spracherwerb nur dann tatsächlich gewährleistet
ist, wenn wir zu den 1 200 Stunden Deutschunterricht
zurückkehren, die früher üblich waren.
({7})
Das Stichwort, das im Grünen-Antrag aufgegriffen
wird, können wir nur unterstreichen. Es ist an der Zeit,
im Bundestag gemeinsam, überparteilich Wege aus den
Fehlern der Vergangenheit zu suchen. Hierzu eignet sich
eine Enquete-Kommission zur Integration in hervorragender Weise. Lassen Sie uns gemeinsam die Integration
ins Parlament holen!
({8})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Dr. Michael Bürsch,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich stimme der Kollegin Laurischk ausdrücklich zu,
wenn sie eingangs sagte: Wir diskutieren heute eine zentrale Zukunftsfrage. Aus meiner Sicht hat das aber eine
ganz andere Bedeutung, als Sie es vorgetragen haben,
Frau Laurischk. Bei den vielen Debatten, die wir in den
letzten Monaten und Jahren über die Fragen Zuwanderung und Integration geführt haben, verstärkte sich immer mehr mein Eindruck, dass wir inzwischen sehr stark
zu einer Binnendiskussion neigen, die sich durch Kleinkariertheit, Hickhack, Mäkelei und Kritikasterei auszeichnet, und dabei manchmal aus dem Auge verlieren,
welche Auswirkungen das hat, was wir sagen und wie
wir uns zu diesem nationalen Zukunftsthema verhalten.
Eine aktuelle Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung
gibt Anlass dazu, sich das einmal in Erinnerung zu rufen.
Sie kommt zu dem Ergebnis - das muss uns, wie ich
finde, nachdenklich machen -, das harmonische, tolerante und solidarische Zusammenleben von Deutschen
und Menschen mit Migrationshintergrund - manche Betroffene wählen lieber den Begriff „Menschen mit Einwanderungsgeschichte“ ({0})
ist alles andere als selbstverständlich. Diese Studie mit
dem schönen Titel „Ein Blick in die Mitte“ wurde gerade
herausgegeben, mit aktuellen Daten aus dem Jahre 2006.
Angesichts der konkreten Ergebnisse sollten wir uns
einmal fragen, wie wir an dieses Thema herangehen und
welche Außenwirkungen all das hat, was wir hier machen. So heißt es in der Studie: 37 Prozent der Befragten
meinen, Ausländer kämen nur nach Deutschland, um
den Sozialstaat auszunutzen. 39 Prozent finden Deutschland „in einem gefährlichen Maß überfremdet“. Die
Wissenschaftler ziehen daraus das Fazit - an dieser
Stelle muss man spätestens nachdenklich werden -: Zunehmend entwickelt sich in Deutschland eine neue Form
des kulturellen Rassismus nach dem Motto: Die passen
einfach nicht zu uns. - Ich frage mich nun: Wo nehmen
wir die Verantwortung wahr, die wir alle tragen, wenn
wir uns mit diesem Thema beschäftigen?
Ihnen, verehrte Frau Dağdelen, sage ich: Es ist ja
schön und hat hohen Unterhaltungswert, wie Sie hier
über diese Themen diskutieren. Wie Sie mit den Fakten
umgehen, liegt allerdings schon jenseits des Erlaubten.
Auch wenn Sie nicht alle Schlussfolgerungen dieses
wirklich umfänglichen Berichtes - er hat 200 Seiten ({1})
unterschreiben können, so kommen Sie doch an den
Fakten nicht vorbei. Wenn Sie aber mit dem Faktum der
Einbürgerungszahlen so umgehen, wie Sie es eben gemacht haben, dann können wir darüber nicht sachlich
diskutieren. Ihr Umgang mit diesen Zahlen ist unseriös
und erweckt einen Eindruck, der mit dazu beiträgt, dass
in der Bevölkerung solche Haltungen eingenommen
werden, wie sie die Friedrich-Ebert-Stiftung nun eruiert
hat.
Die Fakten lauten: Die Zahl der Einbürgerungen betrug im Jahre 1997, also vor zehn Jahren, 82 000. Im
Jahre 2000 gab es mit 186 000 Einbürgerungen einen
Höhepunkt. In den letzten Jahren, in den Jahren 2004,
2005 und 2006 stabilisierte sich diese Zahl bei einer
Größenordnung von 125 000. Angesichts dieser Zahlen
kann man nicht von einem kontinuierlichen Rückgang
sprechen. Auch mit manch anderen Fakten, die in diesem Bericht enthalten sind und sorgfältig recherchiert
wurden, sind Sie in ähnlicher Weise umgegangen. Das
ist, bitte schön, keine Art und Weise, die der Verantwortung gerecht wird, die wir bei diesem Thema tragen.
({2})
Herr Kollege Bürsch, die Kollegin Dağdelen würde
gerne eine Zwischenfrage stellen.
Jede Menge.
({0})
Herr Bürsch, haben Sie auch zur Kenntnis genommen, dass ich gesagt habe, dass die steigenden Zahlen
des Jahres 2006 kein Anzeichen für eine Trendwende
sind, weil das Einbürgerungsrecht im letzten Jahr durch
die Änderungen im Staatsangehörigkeitsgesetz, also zum
Beispiel den Wegfall der erleichterten Einbürgerung,
verschärft wurde?
Verehrte Frau Kollegin, ich bleibe bei dem, was ich
eben gesagt habe: Sie drehen und wenden die Zahlen,
die in dem Bericht stehen, wie Sie wollen. Zum Teil zitieren Sie sie auch falsch
({0})
und verwenden sie zu einer populistischen Polemik, die
den Tatsachen nicht entspricht. Die Zahl der Einbürgerungen hat sich in den letzten Jahren stabilisiert. Die Ursachen dafür, warum die Zahlen so sind, wie sie sich hier
widerspiegeln, sind außerordentlich vielfältig. Das hätte
eine seriöse Analyse, die Sie an der Stelle einmal hätten
vornehmen sollen, sofort ergeben. Natürlich sind gesetzliche Vorschriften eine Ursache, aber daneben gibt es
noch viele, viele andere Ursachen. Es ist also absolut billig und populistisch, zu sagen, weil ein Punkt oder ein
Komma im Staatsangehörigkeitsrecht verändert worden
ist, wird alles schlechter; deswegen muss ich jetzt mit
dem Zeigefinger drohen.
Nein, meine Erkenntnis aus diesem Bericht ist:
125 000, das ist die Zahl, die sich jetzt offensichtlich stabilisiert. Dann schauen wir weiter. Dann schauen wir
bitte auch sehr sorgfältig darauf, was die Ursachen sind.
Da würde ich als relativ seriöser Jurist nie wagen, nur
eine bestimmte Ursache auszumachen. Es ist ein vielfältiges Bündel von Ursachen.
Deshalb appelliere ich, gerade an Ihre Adresse, mit
diesem Thema sehr verantwortungsvoll umzugehen, vor
allem wenn ich die Erhebung der Ebert-Stiftung lese. Da
ist übrigens erschreckenderweise noch etwas anderes,
was heute nicht unser Thema ist, festgestellt worden,
nämlich eine wachsende Geringschätzung gegenüber
unserem politischen System schlechthin, gegenüber der
Demokratie. Dort heißt es:
Demokratie ist kein Sockel, der … als gesichert
gelten kann.
Darüber denken wir vielleicht einmal an anderer Stelle
nach.
Ich wollte zwei Bemerkungen zu dem Bericht machen, zum einen zur Staatsangehörigkeit und dann zu
den Einbürgerungen. Vor allem weise ich - besonders
mit Blick auf einen Grundkonsens in diesem Hause, bei
dem vielleicht wir alle zustimmen können, dass etwas
geschehen ist, was uns vorangebracht hat - darauf hin,
dass 1999, egal wer die Väter und Mütter dieser Änderung sind, ein Paradigmenwechsel im Staatsangehörigkeitsrecht stattgefunden hat und wir von dem alten
Prinzip der Abstammung von 1912 weggekommen sind
hin zu dem modernen Prinzip der Anknüpfung an den
Geburtsort. Das ist ein Riesensprung nach vorne gewesen.
({1})
An der Stelle können wir einmal verharren und feststellen: Genau das haben wir gewollt, und das hat sich im
Sinne einer Modernisierung unseres Landes bewährt.
In dem Bericht steht an einer Stelle wunderbar - Frau
Böhmer, da schließe ich mich gerne an; das spricht auch
für die Offenheit dieses Berichtes - zur Mehrstaatigkeit
bei Einbürgerung:
Künftig können alle EU-Bürger sowie Schweizer
unter Hinnahme von Mehrstaatigkeit eingebürgert
werden.
Auch das ist ein Fortschritt; das war nicht immer so.
({2})
Wenn das so ist, stelle ich allerdings die Frage an alle
Mitglieder dieses Hauses: Wenn wir anerkennen, dass es
die Republik nicht infragestellt, wenn EU-Bürger und
Schweizer mehrere Pässe haben und insofern auch mehrere Identitäten, die dahinterstecken, warum öffnen wir
das dann nicht generell? Dafür hat die SPD sich immer
stark gemacht.
({3})
Das ist verunglimpft worden unter dem Stichwort „Doppelpass“. Aber es heißt im Grunde nur, wie in dem Bericht, Mehrstaatigkeit. Das akzeptieren wir; damit können wir leben. Das ist im Zeitalter der Globalisierung,
glaube ich, auch nicht unbedingt zuviel verlangt.
Jetzt kommen wir zur Frage des Einbürgerungstests.
Sie hat ja heute Morgen schon einige Gemüter bewegt.
Ich würde sagen: Lassen wir die Kirche im Dorf.
Schauen wir uns bitte einmal an - nur das hat die SPD
gesagt -, was er enthält. Ehe wir uns wie vor zwei Jahren
fürchterlich erregen, dass da Gesinnungstests geplant
sind, würde ich jetzt den Blick auf das richten, was tatsächlich in der Pipeline ist. Vor zwei Jahren gehörte ich
- manche werden sich erinnern - mit zu den Kritikern
dieses Tests, in dem Gesinnungsfragen gestellt wurden
wie: Was halten Sie eigentlich von Homosexualität?
Können Sie damit leben, dass Ihr Vorgesetzter eine
weibliche Person ist? - Das ist Aberwitz und hat nichts
mit dem zu tun, was ich mir von einem solchen Einbürgerungstest verspreche, nämlich dass er ein Angebot an
diejenigen ist, die bei uns leben wollen. Es ist völlig freiwillig, dass man sich für Deutschland entscheidet. Niemand ist dazu gezwungen. Auf diese Weise kann jeder
mit dem vertraut gemacht werden, was es bei uns an
Grundsätzen gibt: Verfassung, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit usw. Das ist das Angebot.
Da kann ich mich wunderbar jemandem anschließen,
der nicht verdächtig ist, in erster Linie unsere deutschen
Belange zu vertreten. Es ist der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime.
({4})
Er hat gesagt: Ein feierlicher Akt, mit dem ein Einbürgerungswilliger seinen Beitritt zur Grundordnung der Bundesrepublik bekunde, trage zur Identitätsstiftung bei. Er
könne das nur gutheißen. Dieses Einbürgerungsritual sei,
wenn es richtig verstanden werde und kein GesinnungsSevim DaðdelenSevim Dağdelen
test sei, auch ein Stück Anerkennungskultur. So verstehe
ich das, was mit diesem Einbürgerungstest verbunden
ist.
Herr Kollege!
Wir erkennen an, wenn jemand die deutsche Staatsangehörigkeit haben möchte.
({0})
Dann soll er, bitte schön, auch diese kleinen Vorgaben
erfüllen.
Danke schön.
({1})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Reinhard Grindel,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Bürsch, ich lade dazu ein, dass wir nichts
schönreden, aber auch nicht dramatisieren. Sie haben aus
einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung zitiert. In einem Artikel der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung
von heute wurde recherchiert, dass dieser Studie Gespräche mit insgesamt 60 Personen zugrunde liegen und dass
allein fünf der zwölf Gesprächsrunden in Berlin und
Dresden durchgeführt worden sind. Der Journalist weist
nach, dass die Orte, an denen die Gespräche stattgefunden haben, praktisch schon die Ergebnisse präjudiziert
haben. In den Ländern Bayern und Niedersachsen beispielsweise hat es überhaupt keine Gespräche im Rahmen dieser Studie gegeben.
({0})
Ich warne davor, auf der Grundlage einer so schmalen
Datenbasis ein Bild der Gesellschaft zu zeichnen. Das
will ich deutlich sagen.
({1})
Wir sollten anlässlich dieser Debatte die Gelegenheit
nutzen, die Stimmung der Bevölkerung einmal aufzunehmen. In diesen Tagen ist viel davon die Rede, dass
viele Fußballer unserer Nationalmannschaft einen Migrationshintergrund haben. Diese Debatte ist ein guter
Anlass, einmal ein herzliches Wort des Dankes an die
vielen Trainer und Betreuer in den Sportvereinen zu
sagen, die hervorragende Integrationsarbeit leisten und
die „stille Stars“ der Integration in Deutschland sind.
({2})
Es muss eben nicht immer der Sozialpädagoge oder
der Migrationsforscher sein. Manchmal ist es eben auch
ein Trainer, der so unendlich viel für ein friedliches Zusammenleben in unserem Land tut, wenn er einem jungen Migranten zeigt, dass man sein Selbstwertgefühl
steigern und zusätzliche Anerkennung erfahren kann, indem man zum Beispiel in der B- oder C-Jugend Tore
schießt und damit glänzt, anstatt einen Mitschüler auf
dem Schulhof zu verprügeln. Das sind täglich stattfindende Integrationsleistungen in der Praxis. Warum reden
wir in diesem Haus nicht öfter darüber?
({3})
Ich will zum Thema Fußball noch Folgendes anführen: Wenn man sich die Alltagssituation auf den Fußballplätzen anschaut, dann stellt man fest, dass sich auch
dort kleine Parallelwelten entwickelt haben. Wenn türkische, kurdische oder griechische Mannschaften gegeneinander antreten, dann gibt es sehr viele Auseinandersetzungen auf dem Platz, aber auch außerhalb des
Platzes. Wir sollten uns daher überlegen, ob wir nicht
den DFB aufrufen sollten, eine Diskussion anzufangen,
um zu erreichen, dass in allen Sportvereinen sichergestellt wird, dass Deutsche, Aussiedler und Ausländer gemeinsam miteinander Sport treiben. Wir sollten einmal
überprüfen, ob es sein muss, dass es einen Spielbetrieb
mit reinen Ausländervereinen gibt.
({4})
Auch diese kleinen Maßnahmen können ganz praktisch
zur Integration in unserem Land beitragen.
({5})
Lassen Sie mich ein Wort zu den kritischen Anmerkungen sagen, die von ein paar Kollegen zum Thema
verpflichtende Sprachkenntnisse vor dem Familiennachzug gemacht worden sind. Ich bin zutiefst davon
überzeugt, dass wir die vom Gesetzgeber beabsichtigten
Zwecke auch erreichen. Es ist falsch, wenn hier der Eindruck erweckt wird, dass etwa türkische Frauen die Anforderungen an den Spracherwerb nicht erfüllen.
Das Goethe-Institut hat uns in der vergangenen Woche noch einmal bestätigt, dass 80 bis 90 Prozent der
Kursteilnehmerinnen die Sprachzertifikate erwerben.
Der Rückgang beim Ehegattennachzug beruht darauf,
dass deutlich weniger Anträge auf Familienzusammenführung gestellt werden. Das lässt für mich nur eine Bewertung des Vorgangs zu: Es gibt eine gewisse Zahl von
Familien, die eben darauf verzichten, Schwiegertöchter
auf dem Wege einer Zwangsehe nach Deutschland zu
holen, wenn diese Frauen Deutschkenntnisse haben und
damit in der Lage wären, sich auch Hilfe im Kampf gegen eine Zwangsehe zu beschaffen.
({6})
Das ist meine Bewertung angesichts der gemachten Beobachtungen.
({7})
Ich sage in aller Deutlichkeit: Wer die Gesetzgebung
in der Praxis nicht konsequent anwendet - die betroffenen Frauen haben damit die Möglichkeit, sich durch das
Erwerben von Deutschkenntnissen vor dem Familiennachzug ganz praktisch Hilfe zu verschaffen -, der versagt im Kampf gegen Zwangsehen.
({8})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Laurischk?
Ja, selbstverständlich.
Herr Grindel, auch an Sie richte ich die Frage, inwieweit Ihnen bekannt ist, ob es bereits Fälle von Frauen
mit Sprachkenntnissen gibt, die nach einer Zwangsverheiratung in der Lage waren, eine Strafanzeige in
Deutschland zu stellen, und ob es daraus folgend eine
Verurteilung gegeben hat.
({0})
Ich muss den Zwischenruf von Herrn Bürsch aufnehmen: Ich habe nicht ganz verstanden, worauf Sie hinauswollen. Fragen Sie mich, warum so wenige Anzeigen
getätigt werden oder warum es zu so wenigen Verurteilungen kommt?
({0})
Meine Frage geht dahin, ob Sie die Vorstellung haben, dass die Kenntnis von 300 deutschen Wörtern bei
Einreise die zwangsverheiratete Frau tatsächlich in die
Lage versetzt, sich in Deutschland zu orientieren, um
dann Strafanzeige zu erstatten und daraus folgend eine
Verurteilung zu erreichen; denn Zwangsheirat steht unter
Strafe. Sind Ihnen solche Fälle bekannt?
Liebe Frau Laurischk, wir haben über dieses Thema
nun wirklich bei vielen Gelegenheiten diskutiert. Eine
Grundvoraussetzung dafür, Hilfe zu holen, ist doch, dass
man am Telefon zumindest sagen kann, wo man wohnt
und dass die Polizei kommen möge, um einen aus einer
bedrohlichen Notlage herauszuholen.
({0})
Dass diese Frauen das können, wenn sie einen Sprachkurs besucht haben und über einfache Deutschkenntnisse
verfügen, ist doch ganz offensichtlich. Insofern sage ich
Ihnen: Jawohl, die Sprachkenntnisse, die diese Frauen
haben, reichen, um Hilfe zu holen und sich zu wehren.
({1})
Vor allen Dingen: Wir stabilisieren diese Frauen mit
diesen Kursen. Es werden ja nicht nur Sprachkenntnisse
vermittelt. Es wird etwas über unser Land vermittelt. Es
wird vermittelt, dass Frauen und Männer gleichberechtigt sind, dass man frei entscheiden kann, wie man leben
möchte. In den Goethe-Instituten und in vielen anderen
Sprachinstituten sind sehr sensible Kurslehrerinnen und
-lehrer am Werk, die natürlich vor Augen haben, dass
man die Frauen stärken muss, wenn sie nach Deutschland gehen wollen.
({2})
Ich finde, es ist zumindest ein Fortschritt - vielleicht
nicht ganz optimal -, wenn wir diese Gesetzesänderung
jetzt in der Praxis erfolgreich umsetzen. Das sollten wir
nicht schlechtreden, liebe Frau Kollegin.
({3})
Wir sollten dies schon deshalb nicht schlechtreden,
weil es richtig ist, dass wir damit an die in Deutschland
lebenden Familien das klare Signal senden: Ohne
Deutsch geht es nicht. Es kann doch nicht gut sein - Frau
Ministerin Böhmer hat darauf hingewiesen -, dass viele
Kinder und Jugendliche die Schule ohne Abschluss verlassen und dass auch die Sprachkenntnisse bei Schulbeginn immer geringer werden. Wir sollten uns nicht damit
abfinden, dass es Familien gibt, die in Deutschland 20,
22 Jahre leben und trotzdem nur die Sprache des Herkunftslandes sprechen. Diese Regelung soll ein Signal
an die Familien sein: Gebt den Kindern eine Chance auf
schulische und berufliche Entwicklung, indem ihr zulasst, dass Deutsch im Leben eurer Familie eine Rolle
spielt.
({4})
Denn es macht keinen Sinn, wenn die Kinder noch nicht
einmal den Lehrer an der Schultafel verstehen.
Angesichts der Kritik, dass wir in der Zuwanderungspolitik einen Paradigmenwechsel vornehmen, möchte
ich darauf verweisen, dass wir mittlerweile für viele
Länder in Europa Vorbildcharakter haben. Die Regelung, Sprachkenntnisse vor dem Familiennachzug vorzuweisen, ist Teil des Asyl- und Einwanderungspakets,
das von der französischen EU-Präsidentschaft vorgelegt
worden ist.
({5})
Mittlerweile wird auch in anderen Ländern zu einer konsequenten Steuerung geraten. Die Spanier zum Beispiel
haben gerade ein umfassendes Programm zur Rückführung von Ausländern, die illegal in ihrem Land leben,
durchgeführt. Wir wirken hier absolut als Vorbild.
Ich habe mit dem Fußball begonnen und will damit
enden.
({6})
Es sind doch schöne Bilder, wenn wir in diesen Tagen
immer wieder erleben, dass Autos durch die Gegend fahren, die nicht nur von deutschen, sondern von deutschen
und türkischen Fahnen gemeinsam geziert werden. Ich
habe auch schon die Kombination deutsche und kroatische Fahnen erlebt. Ich habe auch schon deutsche und
russische Fahnen gesehen.
({7})
Diese Integrationsleistung ist umso höher zu bewerten,
als ich die Kombination deutsche und niederländische
Fahnen noch bei überhaupt keinem Auto - noch nicht
einmal bei einem Wohnwagen - gesehen habe.
Herzlichen Dank.
({8})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Dr. Lale Akgün, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn man als Letzte redet, dann kommt man nicht darum herum, einige Anmerkungen zu all dem, was zuvor
gesagt worden ist, zu machen. Zuerst zu Ihnen, Frau
Staatsministerin: Erst einmal vielen Dank für den guten
und informativen Bericht. Ich sage das deshalb ausdrücklich, weil in diesem Bericht in der Statistik klar differenziert und eine vernünftige Ursachenanalyse vorgenommen wird.
Meine zweite Anmerkung hängt mit Ihrer Rede zusammen. Sie sagten, dass wir 15 Millionen Menschen
integrieren müssen. Frau Ministerin, in Deutschland leben zwar 15 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund, aber wir müssen Gott sei Dank nicht 15 Millionen
Menschen integrieren. Wo stünde Deutschland, wenn
wir 15 Millionen Menschen integrieren müssten? Das
müssen wir Gott sei Dank nicht.
({0})
Wir müssen diejenigen integrieren, die unserer Hilfe bedürfen, weil sie sozial benachteiligt sind,
({1})
und nicht automatisch alle, die einen Migrationshintergrund haben. Ich denke, wir sollten die Sache etwas differenzierter sehen.
Frau Dağdelen, eine Anmerkung zu Ihrer Rede: Es
mag sein, dass die Integrationspolitik dieser Koalition an
der einen oder anderen Stelle kritisiert werden kann. In
dieser Koalition spricht aber keiner von „Fremdarbeitern“, die den deutschen Arbeitern die Arbeitsplätze
wegnehmen, wie es Ihr Parteivorsitzender ab und zu
gerne tut.
({2})
Herr Koschyk, auch Ihnen möchte ich etwas sagen.
({3})
Bitte akzeptieren Sie, dass wir in den nächsten Jahren
Zuwanderung brauchen. Das ist Realität. Bitte verteufeln Sie die Zuwanderung nicht, sondern helfen Sie uns,
sie zu gestalten und zu steuern.
({4})
Das ist wichtig. Wir dürfen uns nicht abschotten; denn
wir werden sehr bald in eine Lage kommen, in der wir
Zuwanderung brauchen.
Wir müssen die Zuwanderung gemeinsam gestalten
und gemeinsam steuern.
({5})
- Das ist eine nationale Aufgabe.
({6})
Diese Aufgabe werden wir uns nicht aus der Hand nehmen lassen.
({7})
Meine Redezeit rennt davon. Ich möchte aber noch
auf drei Aspekte zu sprechen kommen, die ich im Zusammenhang mit der Integration für substanziell halte:
Erstens: politische Partizipation. Ich glaube, nur wer
sich an dem politischen Entscheidungsfindungsprozess
in unserem Land beteiligen kann, macht sich kundig und
informiert sich. Deswegen werbe ich dafür, dass wir, die
wir von Integration reden, dafür sorgen, dass Zugewanderte viel stärker an der Politik partizipieren und so in
die Gesellschaft hineinwachsen können.
({8})
Die neue Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung mit dem
Titel „Ein Blick in die Mitte“ zeigt deutlich, wie
schwach das Demokratieverständnis in der Gesellschaft
verankert ist, und zwar nicht nur bei Zuwanderern, sondern in der gesamten Gesellschaft. Ich frage Sie: Wenn
schon viele Einheimische keine Lust auf demokratische
Entscheidungsprozesse haben, wie sollen dann Zuwanderer Feuer und Flamme dafür sein? Es ist an der Zeit,
dass wir offensiv um die Mitarbeit und das Engagement
von Migrantinnen und Migranten, um ihre Bürgertugenden werben.
Zweitens: Chancengleichheit. Ich glaube, es hört
keiner mehr hin, wenn man diesen Begriff nennt, weil
dieser Begriff zu einer Floskel verkommen ist. Im Kern
meint „Chancengleichheit“ die Möglichkeit des Menschen, ein Plätzchen in unserer Gesellschaft zu finden,
an dem er leben und zufrieden sein kann.
({9})
- Ich wäre auch mit einem Plätzchen zufrieden.
({10})
Dazu gehören auch Aufstiegschancen. Die wiederum
sind ohne Bildung nicht möglich. Der Ausländerbericht
sagt glasklar: Migranten haben auch mit steigender Vorbildung schlechtere Chancen als die Menschen in der
deutschen Vergleichsgruppe. Das schafft Frust. Ich
glaube, wir müssen dafür sorgen, dass wir heute nicht
den Frust wachsen lassen, der uns morgen ins Gesicht
schlagen könnte. Der Ausländerbericht schlägt die richtigen Instrumente vor. Darauf möchte ich jetzt aber nicht
näher eingehen, weil ich auf einen dritten Punkt zu sprechen kommen möchte.
Ich meine die Einbürgerung. Wir müssen endlich
begreifen, dass Einbürgerung nicht der Schlusspunkt gelungener Integration ist,
({11})
sondern ein Meilenstein mit Belohnungsfaktor auf dem
Weg in unsere Gesellschaft.
({12})
- Herr Grindel, dann werden wir nicht zusammenkommen.
({13})
Dann werden wir weiterhin unterschiedliche Positionen
haben. Sie haben ja immer noch die Vorstellung, die
Staatsangehörigkeit sei so etwas wie ein Doktorhut am
Ende der akademischen Ausbildung zum Diplomdeutschen. Diese Meinung teile ich nicht.
({14})
Der Ausländerbericht rechnet uns minutiös vor, dass
die Zahlen der Einbürgerungen in den Jahren 2002 bis
2004 und 2005 leicht gesunken sind. Mittlerweile haben
wir wieder ein Niveau von ungefähr 124 500 Einbürgerungen erreicht. Wir sollten diese Anzahl unbedingt steigern; denn für einen lebendigen und attraktiven Industrie- und Dienstleistungsstaat reicht diese Zahl im
Jahr 2008 nicht aus.
In Deutschland gibt es 7,5 Millionen Ausländer. 70 Prozent davon haben die Voraussetzung, heute oder morgen
eingebürgert zu werden. Aber sie tun es nicht. Ich frage
mich, warum sie es nicht tun. Im Wesentlichen hat es etwas damit zu tun, dass die Politik Einbürgerungen nicht
gerade erleichtert. Wir sollten nicht nur Einbürgerungen
für Eliten wollen. Wir sollten Einbürgerungen für alle
Gruppierungen wollen.
({15})
Ich habe das Gefühl, viele Einwanderer sind nicht daran interessiert, sich einbürgern zu lassen. Ich frage mich
schon, warum das so ist. Nehmen wir die Diskussion um
die Einbürgerungstests. Darüber ist sehr viel gesprochen worden. Vielleicht macht es uns Spaß und beruhigt
unser Gewissen, wenn wir wie Günther Jauch Fragen in
Multiple-Choice-Manier stellen. Aber was wollen wir
damit erreichen, wenn wir Menschen fragen, wie viele
Bundesländer Deutschland hat? Manchmal kommt mir
Deutschland wie eine Disco auf dem Land vor. Dieser
Disco gehen zwar langsam die Gäste aus, aber sie leistet
sich trotzdem einen Türsteher.
({16})
Dieser steht den ganzen Abend an der Tür und sagt den
Gästen: Du kannst hinein, du nicht und du nur dann,
wenn du mir sagst, wie viele Bundesländer Deutschland
hat.
({17})
Natürlich muss man Interesse an einem Land haben.
Man muss auch etwas über das Land, in dem man lebt,
wissen.
({18})
Ob dieser Multiple-Choice-Test wirklich der richtige
Weg ist, Wissen und Interesse abzufragen, möchte ich
bezweifeln. Ich finde die Initiative der Integrationsbeauftragen für ein bundesweites Integrationsmonitoring
sehr viel sinnvoller. Ein Mensch, der sich zurechtfindet
und nach den Gesetzen unseres Landes lebt, ist integriert. Wir müssen doch zusehen, dass wir die Kompetenzen, die jeder in seiner Umwelt und in seinem Umfeld
braucht, vermitteln und jedem die Möglichkeit geben,
sich einbürgern zu lassen.
Ein weiterer Punkt, den ich sehr wichtig finde:
Deutschland scheint nicht für alle Menschen attraktiv zu
sein. Wo sind die Menschen, die sagen: Das ist mein
Land, manchmal verzweifle ich zwar an diesem Land,
aber unterm Strich fühle ich mich hier sauwohl; ich bin
bereit, für dieses Land einzustehen?
({19})
- Ich kann zwar auf mich selber zeigen, aber ich möchte,
dass diese Haltung in der Gesellschaft immer mehr Anhänger findet. Warum blicken so viele Zuwanderer in
ihre Heimatländer? Ist das pure Nostalgie? Da kann ich
die USA ja nur beneiden.
Frau Kollegin, ich muss Sie darauf aufmerksam machen, dass Ihre Redezeit abgelaufen ist.
Ich komme sofort zum Schluss. - Ich möchte, dass
wir den Ausländerbericht zum Anlass nehmen, über die
Attraktivität unseres Landes nachzudenken. Dabei spielen nicht nur Ziffern und Zahlen eine Rolle, sondern die
gelebte Attraktivität unseres Landes und die Frage, wie
wir das gemeinsam vorleben. Wir müssen den konstruktiven Diskurs miteinander suchen. Darum möchte ich
Sie alle bitten, unser Land noch attraktiver zu machen.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Innenaus-
schusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem
Titel „Für die zügige Vorlage eines qualifizierten Be-
richts über die Lage der Ausländerinnen und Ausländer
in Deutschland“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 16/7246, den Antrag
der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/5788 abzu-
lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/
Die Grünen und CDU/CSU bei Gegenstimmen der Frak-
tion Die Linke und der Fraktion der FDP angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 35 a bis 35 h sowie
Zusatzpunkte 3 a bis 3 d auf:
35 a) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Rainer Stinner, Birgit Homburger, Elke Hoff,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundesbesoldungsgesetzes
- Drucksache 16/9317 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Verteidigungsausschuss
Haushaltsausschuss
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen
zwischen den Europäischen Gemeinschaften
und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der
Republik Albanien andererseits
- Drucksache 16/9395 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({1})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung von Vorschriften über das Deutsche Rote
Kreuz
- Drucksache 16/9396 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({2})
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundeskindergeldgesetzes
- Drucksache 16/9615 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({3})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-
kommen vom 12. November 2007 zwischen
der Bundesrepublik Deutschland und der De-
mokratischen Volksrepublik Algerien zur Ver-
meidung der Doppelbesteuerung und zur Ver-
hinderung der Steuervermeidung und
Steuerhinterziehung auf dem Gebiet der Steu-
ern vom Einkommen und vom Vermögen
- Drucksache 16/9561 -
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Patrick
Döring, Jörg Rohde, Horst Friedrich ({4}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Änderung des § 34 a der Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung - Mobilität von Rollstuhlfahrern verbessern, Sicherheit nicht vernachlässigen
- Drucksache 16/8545 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({5})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Tourismus
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst
Friedrich ({6}), Jan Mücke, Patrick Döring,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Keine Sperrung der Inntal-Autobahn für
Lkw-Transitverkehre
- Drucksache 16/9095 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({7})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Josef
Philip Winkler, Volker Beck ({8}), Monika
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Lazar, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Schutz für Flüchtlinge aus Myanmar
- Drucksache 16/9444 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({9})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
ZP 3 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst
Meierhofer, Michael Kauch, Angelika
Brunkhorst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Barrieren für die Einführung der CCS-Technologie überwinden - Voraussetzungen für
einen praktikablen und zukunftsweisenden
Rechtsrahmen schaffen
- Drucksache 16/9454 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({10})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst
Friedrich ({11}), Patrick Döring, HansMichael Goldmann, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der FDP
Masterplan Güterverkehr und Logistik
grundlegend überarbeiten
- Drucksache 16/9460 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({12})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte
Pothmer, Markus Kurth, Katrin Göring-Eckardt,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Rechte von Arbeitssuchenden stärken - Kompetentes Fallmanagement sicherstellen
- Drucksache 16/9599 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({13})
Haushaltsausschuss
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike
Höfken, Cornelia Behm, Nicole Maisch, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Rahmenbedingungen für Milchmarkt verbessern - Faire Erzeugerpreise für Milch unterstützen
- Drucksache 16/9601 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({14})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 36 a und 36 c bis
36 i sowie Zusatzpunkte 4 a und 4 b auf. Es handelt sich
um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine
Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 36 a:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Verbesserung der grenzüberschreitenden
Forderungsdurchsetzung und Zustellung
- Drucksache 16/8839 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({15})
- Drucksache 16/9639 Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Grosse-Brömer
Dirk Manzewski
Mechthild Dyckmans
Jerzy Montag
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9639, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/8839 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist bei Enthaltung
der Fraktion Die Linke mit den Stimmen des Rests des
Hauses in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit in dritter Beratung mit demselben Stimmenverhältnis wie in zweiter Beratung angenommen.
Tagesordnungspunkt 36 c:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung ({16}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Mitteilung der Kommission
Erster Bericht über die Anwendung der
Rechtsvorschriften zum einheitlichen Luftraum: Ergebnisse und künftiges Vorgehen
KOM ({17}) 845 endg.; Ratsdok. 5078/08
- Drucksachen 16/8135 Nr. 2.17, 16/9322 Berichterstattung:
Abgeordneter Christian Carstensen
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalition bei Enthaltung der Opposition
angenommen.
Wir kommen zu Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 36 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({18})
Sammelübersicht 425 zu Petitionen
- Drucksache 16/9434 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 425 ist mit den Stimmen des
ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 36 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({19})
Sammelübersicht 426 zu Petitionen
- Drucksache 16/9435 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 426 ist mit den Stimmen
von SPD, CDU/CSU und FDP bei Enthaltung der Grünen und Gegenstimmen der Linken angenommen.
Tagesordnungspunkt 36 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({20})
Sammelübersicht 427 zu Petitionen
- Drucksache 16/9436 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 427 ist mit den Stimmen des
ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 36 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({21})
Sammelübersicht 428 zu Petitionen
- Drucksache 16/9437 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 428 ist bei Gegenstimmen
der Linken mit den Stimmen des Hauses im Übrigen angenommen.
Tagesordnungspunkt 36 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({22})
Sammelübersicht 429 zu Petitionen
- Drucksache 16/9438 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 429 ist mit den Stimmen
von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und CDU/CSU bei
Gegenstimmen von FDP und Enthaltung der Fraktion
Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 36 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({23})
Sammelübersicht 430 zu Petitionen
- Drucksache 16/9439 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 430 ist mit den Stimmen
von SPD, CDU/CSU und FDP bei Gegenstimmen von
Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke angenommen.
Zusatzpunkt 4 a:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten
Gesetzes zur Änderung des Güterkraftverkehrsgesetzes und anderer Gesetze
- Drucksache 16/9236 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
({24})
- Drucksache 16/9600 Berichterstattung:
Abgeordneter Horst Friedrich ({25})
Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/9600, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/9236 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um
das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung
mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der
FDP und Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen und
Linken angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist
damit in dritter Beratung mit demselben Stimmergebnis
wie in zweiter Beratung angenommen.
Zusatzpunkt 4 b:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Kultur und Medien
({26}) zu der Unterrichtung durch die
Bundesregierung
Mitteilung der Kommission an den Rat, das
Europäische Parlament, den Europäischen
Wirtschafts- und Sozialausschuss und den
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Ausschuss der Regionen über kreative OnlineInhalte im Binnenmarkt
Ratsdok.-Nr. 8793/08
- Drucksachen 16/9538 A.10, 16/9632 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Günter Krings
Christoph Waitz
Dr. Lukrezia Jochimsen
Undine Kurth ({27})
Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrich-
tung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? -
Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist bei Ent-
haltung der Linken mit den Stimmen des Hauses im
Übrigen angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Renate
Künast, Fritz Kuhn, Birgitt Bender, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Leben am Lebensende - Bessere Rahmenbedingungen für Schwerkranke und Sterbende
schaffen
- Drucksache 16/9442 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({28})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
b) Beratung des Zwischenberichts der EnqueteKommission Ethik und Recht der modernen Medizin
Verbesserung der Versorgung Schwerstkranker und Sterbender in Deutschland durch Palliativmedizin und Hospizarbeit
- Drucksache 15/5858 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({29})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Birgitt Bender, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Antrag, den die Grünen heute zur Diskussion stellen, trägt
den Titel „Leben am Lebensende - Bessere Rahmenbedingungen für Schwerkranke und Sterbende schaffen“.
Dieses Thema ist viel umfassender als das Thema, das in
letzter Zeit große öffentliche Aufmerksamkeit erfahren
hat, nämlich die Patientenverfügung. Die Frage der Vorabfestlegung von Patientinnen und Patienten für den
Fall, dass sie sich nicht mehr äußern können, ist wichtig.
Darüber wird in diesem Hause und auch in unserer Fraktion kontrovers diskutiert, und dieses Thema wird uns in
der nächsten Zeit beschäftigen. Heute reden wir darüber,
was wir tun können, um die Versorgung Schwerstkranker und Sterbender zu verbessern.
Beide Debatten fallen nicht zufällig in eine Zeit, in
der der medizinische Fortschritt zunehmend kritischer
betrachtet wird. Wir alle profitieren von ihm, weil er uns
ermöglicht, länger zu leben. Der medizinische Fortschritt hat aber auch dazu beigetragen, das Sterben zu
verdrängen und es nicht mehr als einen natürlichen Bestandteil des Lebens wahrzunehmen. Ich glaube, wir
sollten uns darauf verständigen, dass wir einen Bewusstseinswandel brauchen, der eine neue Kultur des Sterbens
fördert und zum Abschiednehmen und zur Trauer Raum
gibt. Wir müssen das Sterben und den Tod wieder ins
Leben zurückholen.
({0})
Wir wissen, dass sich eine Mehrheit der Menschen
wünscht, in ihrer gewohnten Umgebung und unterstützt
von lieb gewonnenen Menschen zu sterben; das gilt
sicherlich auch für die Mehrheit der Mitglieder dieses
Hauses. Realität ist jedoch, dass noch immer 70 Prozent
der Menschen in Deutschland ihre letzte Lebensphase,
oft ohne angemessenen Beistand, in Kliniken und
Pflegeheimen verbringen.
Das hat vielfältige Gründe. In vielen Fällen scheitert
die Umsetzung des Wunsches, die letzten Tage, Wochen
oder Monate in der gewohnten Umgebung zu verbringen, am Mangel an pflegerischer und medizinischer Unterstützung vor Ort, die auf diese Situation zugeschnitten
ist. Dieser Mangel kann auch zur Folge haben, dass sich
Angehörige oder Freundinnen und Freunde, die die
Pflege übernehmen wollen, schnell überfordert fühlen.
Gleichzeitig führen solche Erfahrungen zu Ängsten und
Unsicherheiten. Die Menschen fürchten am Ende ihres
Lebens Abhängigkeit, Fremdbestimmung und Einsamkeit.
Unsere Aufgabe sollte sein, diese Ängste dort zu entkräften, wo bereits Angebote vor Ort vorhanden sind.
Manchmal fehlt es schlicht an der Information, dass bereits entsprechende Möglichkeiten existieren. Ich habe
das selbst erlebt, als eine Freundin von mir nach dem
Tod ihrer krebskranken Schwester, die eine akutmedizinische Versorgung erfahren und bis zuletzt gekämpft hat,
sagte: Wenn ich gewusst hätte, dass es in einem Krankenhaus in der Nähe eine palliativmedizinische Abteilung gibt, dann hätte ich mit meiner Schwester anders
gesprochen, und sie hätte ganz anders und aus meiner
Sicht viel besser sterben können.
An vielen Punkten weisen diese Ängste aber auch auf
Probleme hin, die wir als Politiker in Bund und Ländern
lösen müssen. Es ist sicherlich unstrittig - das hoffe ich
zumindest -, dass wir das Ziel verfolgen, Frauen und
Männern, deren Leben in absehbarer Zeit zu Ende geht,
zu ermöglichen, dass dies in Würde, selbstbestimmt, mit
höchstmöglicher Lebensqualität und an dem von ihnen
gewünschten Ort geschieht.
({1})
Das heißt nichts anderes, als dass der Mensch und seine
Bezugspersonen konsequent in den Mittelpunkt gestellt
werden. Dabei sind psychische, spirituelle, soziale Bedürfnisse und Wertvorstellungen zu berücksichtigen.
Wir müssen eine echte Wahl schaffen. Beispielsweise
kann es nicht sein, dass, wer sich einmal entschieden hat,
in ein Pflegeheim zu gehen, keine andere Möglichkeit
mehr hat, als ebendort zu sterben. Es muss mehr Möglichkeiten geben.
Wir stoßen bei der Versorgung Schwerstkranker und
Sterbender auf das, was wir in der Gesundheitspolitik als
Schnittstellenprobleme bezeichnen. In diesem Zusammenhang sei insbesondere die starre Trennung zwischen
ambulanter und stationärer Versorgung genannt. Bei der
Versorgung Schwerstkranker sehen wir mit besonderer
Härte, was diese Strukturprobleme mit sich bringen.
Gleichzeitig haben wir die Chance, neue Versorgungswege auszuprobieren.
In diesem Sinne ist die vor kurzem eingeführte spezialisierte ambulante Palliativversorgung ein Schritt in
die richtige Richtung. Nachdem die entsprechende Vorschrift des Gemeinsamen Bundesausschusses vorliegt,
sind Krankenkassen und Anbieter gefordert, Verträge zu
schließen, die dem geforderten multiprofessionellen Ansatz der Versorgung gerecht werden.
Diesem Schritt müssen weitere folgen. Das, was man
die allgemeine ambulante Palliativversorgung nennt,
muss gestärkt werden. Hierzu könnte, wie es bereits im
Zwischenbericht der Enquete-Kommission „Ethik und
Recht der modernen Medizin“ heißt, die integrierte Versorgung gut geeignet sein; mit ihr sollen ja die Grenzen
zwischen ambulanter und stationärer Versorgung überwunden und die Pflege in die fachübergreifende Zusammenarbeit einbezogen werden. Dieses Instrument sollte
stärker genutzt werden.
Es gibt darüber hinaus konkreten Handlungsbedarf.
Ich will die Punkte nennen: Es muss möglich werden,
dass Schwerstkranke mit hohem Versorgungsbedarf zu
Hause versorgt werden. Das setzt eine entsprechende Infrastruktur voraus. Die Schmerztherapie muss ein integraler Bestandteil sein.
Auch müssen für Angehörige und Freunde Pflege und
Beruf vereinbar sein. An dieser Stelle muss ich sagen,
dass die jüngst im Rahmen der Pflegereform geschaffenen Regeln unzureichend sind. Auch wenn man eine
Freistellung vom Arbeitgeber bekommt: Niemand kann
sich einen völligen Einkommensverzicht erlauben.
({2})
Wir brauchen mehr Beratung und Unterstützung sowohl der Betroffenen als auch der Angehörigen. Insbesondere müssen wir über die Möglichkeit einer Palliativversorgung und über die Hospizdienste bzw. stationären
Hospize, die es gibt, aufklären. Die Hospize müssen gestärkt und ausgebaut werden.
Ferner muss die Palliativmedizin bei der Ausbildung
der Ärztinnen und Ärzte ein Thema sein. Sie müssen lernen, im rechten Moment von der Akutmedizin loszulassen.
({3})
Die Enquete-Kommission hat das schon in der letzten
Legislaturperiode thematisiert.
Es gibt noch einen ganzen Katalog von Aufgaben, der
abzuarbeiten ist. Wir haben die Chance, Neues auszuprobieren und Erprobtes in die Fläche zu bringen.
Wir fordern, dass die Regierung jährlich einen Bericht über die Entwicklung der Strukturen für die Versorgung Schwerkranker und Sterbender vorlegt, damit wir
aus den Erfahrungen lernen können, wenn wir darüber
reden, wie es in diesem Bereich weitergehen soll. Ich
hoffe, dass wir in der Frage, wie Menschen in Würde
sterben können, einen gemeinsamen Weg gehen können.
Danke schön.
({4})
Das Wort hat die Kollegin Maria Eichhorn von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Krankheit und Sterben sind Teil des Lebens. Mit steigender Lebenserwartung sowie medizinischem und technischem Fortschritt gewinnt eine menschenwürdige Sterbebegleitung zunehmend an Bedeutung. Auch unter
veränderten Bedingungen gilt es, ein Sterben in Würde
zu ermöglichen, Sterbenden ein menschenwürdiges Umfeld zu schaffen und dabei deren Wünsche und Bedürfnisse in den Mittelpunkt zu stellen.
Viele Menschen haben Angst vor Fremdbestimmung,
Einsamkeit und Schmerzen am Ende des Lebens. Aus
dieser Angst heraus meinen manche, aktive Sterbehilfe
sei eine Antwort. Auch die Diskussion über die Patientenverfügungen wird von dieser Angst bestimmt.
Palliativmedizin und Hospizarbeit sind für ein Sterben in Würde unverzichtbar. Es ist für die Menschen beruhigend, zu wissen, dass sie im Sterben nicht allein gelassen werden und dass sie an einem vertrauten Ort und
inmitten vertrauter Menschen sterben können. Sie können sich dabei auch sicher sein, dass ihre Schmerzen gelindert werden.
Oftmals stellen sich Sterbende die Frage nach dem
Sinn des Lebens und dem Danach. Die letzten Dinge regeln zu können und zu wissen, dass man in der letzten
Phase des Lebens nicht allein gelassen, sondern begleitet
wird, ist von größter Bedeutung. Wer sich am Ende des
Lebens gut versorgt weiß, der wird dem Sterben ohne
Angst entgegensehen.
Mit der Gesundheitsreform sind wesentliche Verbesserungen im Bereich der Palliativversorgung und der
Hospizarbeit erfolgt. Die Versicherten in der gesetzlichen Krankenversicherung haben nun einen eigenständigen Rechtsanspruch auf eine spezialisierte ambulante
Palliativversorgung - wenn es sein muss, rund um die
Uhr. Dieser Leistungsanspruch steht Patienten zu, die
nur noch eine begrenzte Lebenserwartung haben, aber zu
Hause versorgt werden können. Damit ist es möglich,
den größten Wunsch vieler Sterbender zu erfüllen, nämlich bis zum Lebensende zu Hause sein und dort in Ruhe
sterben zu können. Die übrigen Palliativpatienten werden in stationären Einrichtungen palliativmedizinisch
versorgt.
Auch mit dem Pflegeweiterentwicklungsgesetz sind
positive Leistungsverbesserungen verbunden. Die langjährige berechtigte Forderung nach Einführung einer
Pflegezeit wird jetzt verwirklicht. Auch das ist ein wichtiger Schritt, damit Sterbende zu Hause gepflegt werden
können.
Viele der im Antrag der Grünen genannten Forderungen, die auch im Zwischenbericht der Enquete-Kommission genannt werden, sind schon verwirklicht. Ich habe
mich dazu extra noch einmal bei der ambulanten Palliativstation bei mir vor Ort in Regensburg erkundigt. Frau
Bender, bereits heute können Schwerstkranke, die einen
hohen Bedarf an technischen Apparaten und Hilfsmitteln
haben, wie zum Beispiel Patienten, die nur noch mit
künstlicher Beatmung leben können, zu Hause versorgt
werden.
Strukturen für ethische Fragestellungen im Rahmen
der Sterbebegleitung müssen nicht noch neu geschaffen
werden. Sie sind bereits Teil der spezialisierten Palliativversorgung, sowohl im stationären als auch im ambulanten Bereich.
Auch die Schmerztherapie ist schon integraler Bestandteil der Palliativmedizin und damit der Palliativversorgung. Es gibt bereits heute Beratungsmöglichkeiten, die zu Hause in Anspruch genommen werden können. Bei der Übernahme von Beratung und Pflege durch
Palliativ-Care-Teams ist auch die Bezahlung der Beratung gesichert. Für ehrenamtlich tätige Hospizgruppen
gilt die Vorschrift, für die Helfer eine Supervision zu organisieren und zu finanzieren. Es gibt auch Hilfsangebote für betreuende Bezugspersonen. Am wichtigsten
sind jedoch eine ausreichende Palliativversorgung und
die Entlastung durch Hospizbegleiter, damit die Betreuungsperson auch einmal durchatmen und sich erholen
kann.
Mit der Einführung der Pflegezeit haben wir einen
wichtigen Schritt getan. Lassen Sie uns doch zunächst
einmal abwarten, wie sich dieses Gesetz bewährt, bevor
Sie neue Forderungen stellen!
Natürlich hätte die Union bei der Gesundheitsreform
den Eigenfinanzierungsanteil aller stationären Hospize
gerne auf 5 Prozent begrenzt. Aus Kostengründen
konnte dies jedoch nur für die Kinderhospize erfolgen.
Ich unterstütze nachhaltig die Forderung, Palliativmedizin und -pflege zu einem expliziten Pflichtlehrfach und
Prüfungsfach des Medizinstudiums wie auch bei der
Ausbildung der einschlägigen Berufe in der Krankenpflege aufzuwerten. Dazu sind jedoch noch mehr erfahrene Palliativmediziner notwendig, die das weitergeben
können. In diesem Punkt besteht noch erheblicher Ausbildungsbedarf.
({0})
In einer zunehmend älter werdenden Gesellschaft ist
die Forderung, einen Forschungsschwerpunkt Palliativund Hospizversorgung zu schaffen, richtig. Wir brauchen eine neue Kultur des Umgangs mit Leiden und Tod
in unserer Gesellschaft. Darin stimme ich Ihnen ausdrücklich zu, Frau Bender. Der Tod gehört zu unserem
Leben und darf kein Tabu sein. Durch eine verstärkte Informations- und Öffentlichkeitsarbeit können Berührungsängste in der Gesellschaft abgebaut werden. Dabei
sind auch die Medien aufgerufen, verantwortungsvoll
mit dem Thema Tod und Sterben umzugehen.
Ein guter Bekannter, dessen Frau mit knapp 50 Jahren
an Krebs gestorben ist, sagte mir:
Als ich erfuhr, dass meine Frau nicht mehr lange leben wird, ist für mich eine Welt zusammengebrochen. Aber ich wollte wenigstens bis zum Schluss,
soweit es ging, ihr ein lebenswürdiges Leben zu
Hause ermöglichen. Allein hätte ich das nicht gekonnt. Ich bin so dankbar, dass es bei uns eine ambulante Palliativversorgung gibt, die meiner Frau
und mir eine gemeinsame Vorbereitung auf deren
Tod ermöglicht hat.
Dieser Bekannte engagiert sich seither ehrenamtlich bei
Palliamo, einer vorbildlichen Einrichtung der ambulanten Palliativversorgung in meinem Wahlkreis. Er sagt:
„Das, was ich an Gutem erfahren habe, möchte ich auch
an andere weitergeben.“
Die Union wird weiter daran arbeiten, Menschen ein
Sterben in Würde zu ermöglichen.
({1})
Das Wort hat jetzt der Kollege Michael Kauch von
der FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sterben ist
ein Thema, das im täglichen Leben oft verdrängt wird.
Wenn Menschen darüber nachdenken, dann ist es mit
vielen Ängsten verbunden. Sie haben Angst, lange zu
leiden, Schmerzen zu haben oder allein zu sein. Diese
Ängste sind nicht völlig unbegründet.
Die meisten Menschen wollen zu Hause im Kreis ihrer Familie sterben. Für sie, aber auch für ihre Angehörigen ist das im besten Fall der intensive Abschluss eines
erfüllten Lebens. Ich habe selbst erlebt, dass das ein
schmerzlicher, aber auch bereichernder Punkt im Leben
ist.
Doch oft ist das Sterben zu Hause nicht möglich, weil
die Familie überfordert ist oder es vielleicht gar keine
Familie gibt. Durch den demografischen Wandel werden
wir mit dem Problem konfrontiert, dass immer mehr
Menschen keine Kinder oder Geschwister haben, die ihnen am Sterbebett zur Seite stehen. Deshalb ist es so
wichtig, dass es die Hospizdienste - stationär, aber gerade auch ambulant - gibt und dass diese angemessen
von der Gesellschaft und vom Staat unterstützt werden.
({0})
In den Hospizdiensten arbeiten Menschen, die Zeit
mitbringen, zuhören oder vielleicht auch nur die Hand
halten. Sie verschaffen den Angehörigen eine Atempause, bei der sie sich einmal von ihrer Last befreien
können. Es sind Menschen, die viel Leid erfahren, viel
Kraft mitbringen müssen und deren Arbeit besonders
wichtig ist. Deshalb ist es in einer solchen Debatte an der
Zeit, den Menschen, die sich in diesem Bereich ehrenamtlich engagieren, unseren Dank auszusprechen.
({1})
Es geht aber nicht nur um die psychosoziale Betreuung von Schwerstkranken und Sterbenden. Noch immer
werden Schmerzen und andere häufige Leiden im Sterbeprozess nicht optimal behandelt. Die Medizin ist an vielen
Stellen des Gesundheitssystems immer noch darauf ausgerichtet, auch die letzten Heilungsmöglichkeiten zu
probieren, um Leben zu verlängern. Das geht oft zulasten der Lebensqualität. Es wird zu spät vom Versuch, die
Krankheit zu heilen, auf das Ziel umgestiegen, Leiden zu
mindern und die verbleibende Lebenszeit so angenehm
wie möglich zu gestalten.
Die Entscheidung darüber, welche Therapie für ihn
richtig ist und was ihm wichtig ist, kann letztendlich nur
der Patient selbst treffen. Deshalb schließen sich Fürsorge und Selbstbestimmung gerade nicht aus. Im Gegenteil: Beide gehören zusammen, wenn es um ein menschenwürdiges Leben am Lebensende geht.
Die Gesellschaft muss eine gute Versorgung durch
Palliativmedizin und Hospizdienste sicherstellen. Sie
muss in Krankenhäusern und Pflegeheimen, in denen
noch immer sehr viele Menschen sterben, die Umstände
des Sterbens verbessern und muss das Sterben zu Hause
erleichtern. Die Gesellschaft muss aber auch - hier ist
der Gesetzgeber gefordert - das Recht der Menschen auf
Selbstbestimmung achten, ob sie eine Behandlung wünschen und, wenn ja, welche. Fürsorge in Fremdbestimmung ist genauso schlecht wie Selbstbestimmung ohne
Fürsorge.
({2})
Deshalb ist es schade, dass im Vorfeld ein Gegensatz
zwischen der heutigen Debatte über die Palliativversorgung und der Debatte über Selbstbestimmung und Patientenverfügungen aufgebaut wurde. Wer zur Palliativmedizin Ja, aber Nein zur Selbstbestimmung der Patienten
sagt, wird die Achtung der Menschenwürde am Lebensende nicht erreichen.
Bemerkenswert ist, dass Frau Künast - die immer von
der Ars moriendi spricht, aber nicht anwesend ist, wenn
es im Parlament um ihre Anträge geht - den Antrag ihrer
Fraktion zur Palliativmedizin am 25. April 2007 eingebracht hat. Über ein Jahr hat sie darauf verzichtet, diesen
Antrag im Bundestag beraten zu lassen, obwohl im Rahmen der Pflegereform über eine Reihe der Punkte in diesem Antrag diskutiert und entschieden wurde. Es ist erstaunlich, dass sie die Debatte über diesen Antrag erst
dann auf die Tagesordnung des Bundestages setzen ließ,
als geplant war, über die Patientenverfügung zu diskutieren. Offensichtlich diente die Einbringung des Antrags
dazu, die Diskussion über die Patientenverfügung von
der Tagesordnung zu verdrängen.
(Widerspruch der Abg. Birgitt Bender
({3})
Diesen Umgang mit einem bedeutsamen Thema halte
ich für nicht angemessen.
({4})
Ich will mich daher gar nicht im Detail mit dem Antrag der Grünen, sondern mit den Forderungen der Enquete-Kommission „Ethik und Recht der modernen Medizin“ befassen, über den wir heute mit beraten.
Erfreulich ist, dass es, seit wir den Zwischenbericht der
Enquete-Kommission vor drei Jahren verabschiedet haben, zu Verbesserungen, die von allen Fraktionen positiv
begleitet wurden, insbesondere in Bezug auf die ambulante palliativmedizinische Versorgung gekommen ist.
Es ist ein positives Signal für die Zukunft, dass man
fraktionsübergreifend zu Lösungen gekommen ist, auch
mit der Arbeitsgruppe „Hospiz“ im Deutschen Bundestag; denn die Arbeit ist noch längst nicht getan.
Die Umsetzung der Finanzierungsentscheidung in die
Praxis - was wird im Leben der Menschen tatsächlich
geschehen? - müssen wir genau beobachten. Der Gemeinsame Bundesausschuss von Ärzten, Krankenkassen und Krankenhausgesellschaft hat die Fristen überzogen und dafür gesorgt, dass das, was der Bundestag
beschlossen hat, erst mit Verspätung auf den Weg gebracht werden konnte. Es ist nun Aufgabe der Bundesregierung, dem Bundestag in angemessener Zeit darüber
zu berichten, wie sich die Gesetzesänderungen in der
Realität ausgewirkt haben und ob und wie die Ziele des
Parlaments erreicht wurden.
Die Enquete-Kommission hat zudem - ebenso wie
der Parteitag der FDP - eine Familienhospizkarenz gefordert, also eine Möglichkeit, sich von der Arbeit für
die Pflege sterbender Angehöriger freistellen zu lassen.
Die Vorredner haben bereits darauf hingewiesen, dass
dieser Aspekt mit der Pflegezeit erfasst wurde.
Drei große Themen, die die Enquete-Kommission angesprochen hat, bleiben aber unerledigt: erstens die Ausbildung der Medizin- und Pflegeberufe im Hinblick auf
die Palliativmedizin, zweitens die angemessene Finanzierung der Palliativmedizin im stationären Bereich und
drittens die notwendigen Veränderungen im Heimrecht,
um die Rahmenbedingungen für die stationären Hospize
zu verbessern.
Beim letzten Punkt hat die Föderalismusreform den
Bund leider seiner Kompetenzen beraubt. Deshalb liegt
es jetzt an uns, auf unsere Kolleginnen und Kollegen in
den Landesparlamenten einzuwirken, in den Landesheimgesetzen die Bedürfnisse der Hospize entsprechend
zu berücksichtigen. Die Enquete-Kommission hat beim
Heimrecht unter anderem gefordert, dass die Hospize
von unangemessenen Regelungen befreit werden. Bei einer durchschnittlichen Aufenthaltszeit von 24 Tagen, die
ein Bewohner in einem Hospiz hat, macht es weder Sinn,
einen Heimbeirat zu wählen, noch macht es Sinn, bestimmte Ausstattungsmerkmale eines Heims erfüllen zu
müssen; denn es soll eine familiäre, häusliche Umgebung in einem Hospiz sein und eben keine Heim- oder
Krankenhausatmosphäre.
Auch die Finanzierung der Palliativmedizin im Krankenhaus muss überdacht werden. Die DRGs, die Fallpauschalen, sind darauf ausgerichtet, eine Krankheit so
schnell wie möglich und so gut wie möglich zu heilen
und den Patienten wieder zu entlassen. Das kann und
will die Palliativmedizin nicht. Deshalb würde es aus
meiner Sicht Sinn machen, der Enquete-Kommission zu
folgen und die Palliativmedizin aus dem DRG-System
herauszunehmen und auf einer tagesbasierten Regelung
zu finanzieren.
Last, but not least müssen wir tatsächlich die Ausbildung der Ärzte und der Pflegenden verbessern. Es ist erschreckend, dass es viele Hausärzte gibt - ich weiß das
beispielsweise aus einer Umfrage bei Ärzten in meiner
Heimatstadt -, die keinen Rezeptblock für Betäubungsmittel haben. Wie kann man eine optimale Schmerztherapie ohne Betäubungsmittel machen?
({5})
In der freiwilligen Fortbildung von Ärzten ist vieles
erreicht, aber bei der verpflichtenden Ausbildung der
Ärzte sind wir noch nicht so weit. Das sollte man nicht
als Überfrachtung von Lehrplänen oder als Zusatzbelastung verstehen, sondern es geht um einen Paradigmenwechsel: weg von einer Medizin, die sich nur als kurativ
versteht, die glaubt, alles und jedes regeln zu können,
und die es als Versagen empfindet, wenn jemand stirbt,
hin zu einer Medizin, die es ermöglicht, dass Menschen
an ihrem Lebensende möglichst eine optimale Betreuung
bekommen.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat jetzt der Kollege Christian Kleiminger
von der SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Es ist jetzt 25 Jahre her, dass der erste Patient
in Deutschland in einer Palliativstation behandelt worden ist. In diesen 25 Jahren ist viel geschehen. Gab es
1996 erst 30 stationäre Hospize, 28 Palliativstationen
und 450 ambulante Hospizdienste, so zählt der Deutsche
Hospiz- und Palliativ-Verband heute 162 stationäre Hospizeinrichtungen, 166 Palliativstationen und immerhin
1 500 ambulante Dienste. Ich meine, diese Zahlen zeigen, dass hier in den letzten Jahren eine bedeutende Entwicklung stattgefunden hat. Nach den wichtigen Weichenstellungen in der Gesundheitspolitik sind wir auf
dem Weg zu einer flächendeckenden Palliativversorgung, einem unverzichtbaren Bestandteil unseres Gesundheitswesens.
Palliativversorgung bedeutet zweierlei: schwer erkrankte Menschen während ihrer letzten Lebenstage
psychosozial zu betreuen und zu unterstützen und körperliche Beschwerden medizinisch zu lindern. Beides ist
wichtig. In Hospiz- und Palliativstationen arbeiten Fachkräfte, aber auch der unermüdliche Einsatz vieler Ehrenamtlicher ermöglicht den erkrankten Menschen ein würdevolles Lebensende. Ihnen gelten immer wieder unser
Dank und unsere Anerkennung.
({0})
Die Enquete-Kommission „Ethik und Recht in der
modernen Medizin“ hat vor annähernd drei Jahren einen
Zwischenbericht veröffentlicht. Darin sind verschiedene
Empfehlungen für die Hospizarbeit und die Palliativmedizin ausgesprochen worden. Es wurde beispielsweise
gefordert, den Anspruch auf Palliativversorgung verbindlich festzuschreiben. Es wurde gefordert, die Versorgung im häuslichen Bereich zu stärken und dafür speziell ausgebildete, multidisziplinäre Palliativ-Care-Teams
einzusetzen. Schließlich wurden auch die Vernetzung
der vorhandenen Strukturen und ein besserer Wissenstransfer gefordert. Diese Forderungen haben wir in zwei
wichtigen Reformen in dieser Legislaturperiode in Angriff genommen. Am 1. April 2007 wurde mit der Gesundheitsreform der Leistungsanspruch auf ambulante
Palliativversorgung eingeführt. Ich kann gar nicht sagen,
wie wichtig es ist, dass dank § 37 b SGB V jeder Sterbenskranke, ob Kind oder Erwachsener, das Recht auf
bestmögliche Hospiz- und Palliativversorgung hat - und
das als eine Pflichtleistung der Krankenkassen. Das ist
ein großer Fortschritt.
({1})
Zudem haben wir die Rahmenbedingungen für Kinderhospize in Deutschland verbessert. Bislang mussten
sie 10 Prozent ihrer Kosten aus eigenen Kräften aufbringen, etwa durch Spenden und das ehrenamtliche Engagement. Am 1. April 2007 wurde dieser Anteil erfreulicherweise auf 5 Prozent abgesenkt. Ich bin mir sicher,
dass auch diese Maßnahme dazu beiträgt, dass sich die
bestehenden Kinderhospize weiterentwickeln und auch
neue Häuser entstehen werden.
Einen wichtigen Durchbruch haben wir zur Jahreswende geschafft: In Zusammenarbeit mit dem GemBA
und den maßgeblichen Verbänden haben wir die sogenannte SAPV-Richtlinie erarbeitet. Die spezialisierte
ambulante Palliativversorgung soll es Menschen ermöglichen, bis zum Tode in der vertrauten häuslichen Umgebung betreut zu werden. Das entspricht dem Wunsch
vieler Betroffener, wie Sie ja auch ganz richtig in Ihrem
Antrag feststellen.
Mit der Richtlinie haben wir jetzt einen Definitionsrahmen für die spezialisierte Versorgung in Deutschland
geschaffen. Wir haben die Krankenhausärzte besser
eingebunden. Aber vor allem haben wir die Schaffung
multiprofessioneller Palliativ-Care-Teams ermöglicht.
Ärzte, Pfleger, aber auch Seelsorger, Therapeuten, Psychologen und Ehrenamtliche arbeiten dabei eng zusammen. Denn eine solche ambulante palliative Versorgung
verlangt einen Betreuungsansatz, bei dem ganz unterschiedliche, hoch spezialisierte Kompetenzen gefragt
sind. Wir haben also noch einmal darauf gedrängt, dass
diese Teams wirklich multiprofessionell zusammengestellt sind. Ich bin sehr dankbar, dass das Gesundheitsministerium dieses Kriterium auch ausdrücklich zur
Auflage gemacht hat.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in meinem Bundesland Mecklenburg-Vorpommern wurde diesbezüglich an
der Universität Greifswald schon vor einigen Jahren
wichtige Pionierarbeit geleistet. In den Gesprächen mit
den Aktiven vor Ort ist deutlich geworden, dass wir uns
einig sind: Der Ausbau und die Qualitätssicherung unter
Berücksichtigung der bereits vorhandenen Strukturen in
Deutschland ist unser Ziel.
Deswegen ist es zu begrüßen, dass über die Umsetzung der Richtlinie und damit die Ausgestaltung der
SAPV jährlich Bericht erstattet werden muss. Das gilt
insbesondere hinsichtlich der Belange von Kindern.
Denn nur so schaffen wir es, die Auswirkungen solcher
Regelungen zu überprüfen und gegebenenfalls, wo es
notwendig ist, nachzubessern.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, im März haben
wir in diesem Haus die Pflegereform beschlossen. Viele
schwerkranke Menschen haben Anspruch auf Leistungen aus der Pflegeversicherung. Ihnen werden die Anhebung der Pflegestufen und die verkürzte Begutachtungszeit in ihrer besonderen Pflegesituation zugutekommen.
Vor allem eine Institution wird die Vernetzung von
und den Zugang zu palliativpflegerischen Angeboten
fördern - ich meine den Pflegestützpunkt. Nach unseren
Vorstellungen können sich Angehörige dort informieren
und entsprechend ihren Bedürfnissen beraten lassen.
Wie Sie wissen, stehen hier jetzt die Bundesländer in besonderer Verantwortung.
Ich hoffe, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass eines
klar geworden ist: nämlich dass wir die Empfehlungen
der Enquete-Kommission in vielen Punkten umgesetzt
haben. Doch wir alle wissen: Solche Neuerungen brauchen natürlich Zeit, bis sie umgesetzt werden und erste
Wirkungen zeigen. Daher kann ich auf viele Forderungen Ihres Antrages, verehrte Kolleginnen und Kollegen,
nur antworten: Leider haben Sie bei der Aktualisierung
Ihres Entwurfs von 2007 vieles übersehen, was in diesem Bereich schon gesät wurde und bald auch Früchte
tragen wird.
Ich will keinesfalls bestreiten, dass es noch einiges zu
tun gibt. Denn immer noch ist der gesellschaftliche Diskurs - da stimme ich Ihnen durchaus zu - über das
Thema Sterben mit einem Tabu belegt.
Wir brauchen dringend eine Auseinandersetzung darüber, wie mit sterbenskranken Menschen in unserer Gesellschaft umgegangen wird, auch um unbegründeten
Ängsten zu begegnen. Wir müssen noch breitenwirksamer über die Möglichkeiten und Angebote informieren,
die für schwerkranke Menschen heute bestehen, stationär und zunehmend eben auch ambulant.
Erlauben Sie mir folgenden Einwurf: In den letzten
Monaten mussten wir eine unsägliche und unwürdige
Diskussion um die Sterbehilfe ertragen. An dieser Stelle
möchte ich ganz klar sagen: Wir brauchen in unserem
Land Palliativversorgung auf hohem Niveau und nicht
aktive Sterbehilfe.
({3})
Wenn der palliativpflegerische Ansatz in Deutschland
Fuß fassen soll, muss eine entsprechende Spezialisierung auch in der Breite etabliert werden. Ein Blick nach
Großbritannien reicht, um zu sehen, wie es sein könnte
und welchen Stellenwert diesem Fachgebiet dort zugemessen wird. Wir brauchen die bestmögliche Ausbildung für diese Arbeit, und dabei sollten wir einen ganzheitlichen Ansatz verfolgen, der sich an internationalen
Standards messen lassen kann.
Diesen Appell richte ich insbesondere an unseren Koalitionspartner und an die Landesregierungen. Im Gesundheitsausschuss hat Frau Ministerin Schavan bestätigt, dass in der Hochschullandschaft und in der
Forschung große Defizite in diesem Bereich bestehen.
Daher fordere ich von allen den Einsatz für einen Lehrstuhl für „Palliative Care“ in Deutschland.
({4})
Zu guter Letzt möchte ich von einem Pilotprojekt berichten, das der Deutsche Hospiz- und Palliativverband
gemeinsam mit der Arbeiterwohlfahrt kürzlich ins Leben
gerufen hat: Bundesweit werden erstmals Hunderte von
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in stationären und
ambulanten Pflegediensten für die palliative Pflege geschult. So schaffen wir mehr Hospiz- und Palliativkompetenz in Pflegeheimen.
Auch im Interfraktionellen Gesprächskreis Hospiz
des Bundestages - er wurde erwähnt - setzen wir alles
daran, Hospize und Palliativversorgung in Deutschland
weiterzubringen. Meine sehr geehrten Damen und Herren von der Opposition, ich lade Sie herzlich ein, sich
dort ebenfalls konstruktiv einzubringen. Wir haben zwar
schon einiges erreicht, aber wir haben auch noch viel
vor.
({5})
Das Wort hat der Kollege Dr. Ilja Seifert von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Es war einmal ein Müller. Als er sein Ende nahen
fühlte, rief er seine Familie zusammen und sprach: Du,
Ältester, bekommst die Mühle. Dir, Mittlerer, hinterlasse
ich den Esel, und du, Jüngster, sollst mit dem Kater dein
Glück versuchen. - Als er so alles geregelt sah, starb er
friedlich im Kreise seiner Lieben. Wie das Märchen weitergeht, ist allgemein bekannt; das brauche ich hier nicht
vorzutragen.
Seltener steht genau dieser Anfang im Mittelpunkt
der Überlegungen. Liegt das vielleicht an der ruhigen
Gelassenheit, die diese Szene ausstrahlt, oder an ihrer
Märchenhaftigkeit?
Sterben im Kreise der Familie; ringsum Wärme; in
Ruhe seine Angelegenheiten ein letztes Mal ordnen; die
Lieben um sich haben; alles ohne Pathos, ohne sentimentale Rührseligkeit; sich von seinen Lieben verabschieden können; die Würde des Augenblicks genießen.
- Traumhaft! Märchenhaft! Wer wollte das - sterben wie
im Märchen - nicht?
Wir aber leben in der Wirklichkeit, und wir sterben
auch wirklich. Das ist eine ernste Angelegenheit, aber
wir verdrängen sie, reden kaum darüber, wissen nicht,
wie wir uns verhalten sollen, wenn es so weit ist, weder
beim eigenen Sterben - das kann man ohnehin nicht
„üben“ - noch dann, wenn die Liebsten von uns gehen.
Heute geben uns der Antrag vom Bündnis 90/Die
Grünen und die Erinnerung an die gute Arbeit der Enquete-Kommission „Ethik und Recht der modernen Medizin“ Gelegenheit, über diese Fragen wieder einmal öffentlich nachzudenken. Ich finde das richtig.
Wo und wie wird denn heutzutage gestorben? Was
wird dabei getan? Was wird gesagt, oder wie laut wird
dabei geschwiegen? Wer wagt es denn überhaupt, auszusprechen, dass es zu Ende geht? Ärzte versuchen, oft in
verzweifelter Hilflosigkeit, noch Heilungschancen auszuloten. Oder spielen sie den Betroffenen, den Angehörigen und sich selbst nur etwas vor? Ist es für sie vielleicht zu schwer, die Wahrheit auszusprechen? Dürfen
sie es womöglich gar nicht?
Jedenfalls sterben viele Menschen im Krankenhaus.
Als Letztes sehen sie ihre Ärztin oder ihren Arzt; manchmal ist es auch eine Schwester, die ihnen die Hand hält.
Wenn sie die Zeit dazu findet. Kosteneinsparprogramme
im Gesundheitswesen verhindern das leider immer häufiger.
Im vorliegenden Antrag werden zahlreiche Punkte
benannt - meines Erachtens sind es etwas zu viele; aber
das ist eine Sache, die wir im Ausschuss klären können -,
die neu geregelt werden sollen. Vielem kann die Linke
gut zustimmen.
Gläubigen Menschen bleibt der Priester. Vielleicht
spendet seine Anwesenheit dieser oder jenem Trost? Die
Liebe der Angehörigen kann er nicht ersetzen. Den Angehörigen das Abschiednehmen auch nicht.
Manche finden Sterbebegleitung im Hospiz; darüber
wurde schon sehr viel geredet. Im Hospiz ist das Tabu
allgegenwärtig: ein ganz bewusster Umgang mit dem
letzten Lebensabschnitt. Fast könnte man meinen, hier
seien wir dem Märchentraum am nächsten. Aber Hospize sind noch immer rar.
Ich weiß von vielen Menschen, darunter solchen mit
sehr unterschiedlichen Beeinträchtigungen, die ihre Familie praktisch nicht kennen. Sie leben in Einrichtungen.
Im Zeitregime des Heims ist Sterbebegleitung kein abrechenbarer Faktor. Manchmal gibt es - ähnlich wie in etlichen Krankenhäusern - separate Räume, in die die Betten mit denjenigen geschoben werden, bei denen
vermutet wird, dass sie nicht mehr lange leben. Nicht
wenige verbrachten so schon mehrere Nächte, manchmal Wochen in diesen Separees. Das ist alles andere als
menschenwürdig und alles andere als erstrebenswert.
({0})
Warum versammeln sich nicht die Mitbewohnerinnen
und Mitbewohner - ähnlich der Familie im Märchen - um
die Sterbenden? Warum wagen die Betroffenen es kaum,
sie - analog zum Vater, der sein Ende nahen fühlt - zu
sich zu rufen? Wird ihnen diese Möglichkeit überhaupt irgendwann im Leben eröffnet? Wird ihnen überhaupt gesagt, dass es diese Möglichkeit gäbe? Oder lohnt es sich
nur nicht, weil eh keine Angelegenheiten zu ordnen sind,
sprich: kein Vermögen zu vererben ist?
Damit bin ich wieder bei der Familie. Es soll ja auch
die noch geben, und wer sie hat, soll glücklich sein. Warum aber wagt selbst in solchen Gemeinschaften, die gemeinhin und sogar von den Beteiligten selbst als gut
funktionierend betrachtet werden, kaum jemand, sich ihr
oder sein Lebensende als gemeinsame Erfahrung vorzustellen und diesen Wunsch laut zu äußern?
Merkwürdigerweise fürchten sich nur wenige Menschen vor dem Tod, aber sehr viele vor dem Sterben. Die
Gründe sind hier schon aufgezählt worden. Niemand
möchte unter quälenden Schmerzen, sehenden Auges
und wachen Geistes die eigene Körperlichkeit dahinsiechen erleben.
Mit dem vorliegenden Antrag soll versucht werden,
viele damit im Zusammenhang stehende Probleme zu regeln. Es geht um bessere Pflege, um moderne Schmerzund Palliativmedizin, um weniger separierende Heime,
um das Leben und Sterben mit Assistenz in der eigenen
Wohnung und vieles mehr. Das alles sind wichtige
Punkte, die besprochen werden müssen.
Ich halte es insgesamt für wichtig - das stellen wir
von der Linken heute einmal in den Mittelpunkt -, dass
wir überhaupt das Schweige-Tabu des Sterbens brechen.
Kaum jemand möchte doch seinen liebsten Angehörigen
und besten Freunden zumuten, dem Sterben beizuwohnen. Ja, warum eigentlich nicht? Unsere Kultur, all unsere Erziehung, unsere eigene Angst vor der Begegnung
mit dem Tod lassen uns vor Derartigem noch immer zurückscheuen. Ja, wir schämen uns sogar solcher Gedanken und Wünsche - für den Fall, dass sie einmal aufkommen sollten. Warum eigentlich?
Viele Märchen, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, spiegeln sehr reale Gesellschaften wider. Indem sie
die Wünsche, Sehnsüchte und Träume in Erfüllung gehen lassen, zeigen sie Möglichkeiten auf - Handlungsoptionen! Unsere Wirklichkeit ist nicht unveränderbar:
Also lasst uns das Sterben in die Mitte holen, und wir
werden besser leben.
Danke vielmals.
({1})
Das Wort als nächster Redner hat der Kollege Hubert
Hüppe von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die meisten Menschen wünschen, dass das medizinisch Notwendige und Sinnvolle getan wird. Kein Mensch möchte
unter starken Schmerzen leiden. Niemand möchte abgeschoben werden und einsam sterben. Deswegen ist es
gut, dass wir heute nicht über das Thema „Töten auf Verlangen“ oder über Euthanasie reden, sondern darüber,
wie wir es schaffen, dass die Menschen am Lebensende
pflegerisch, medizinisch und seelsorgerisch so versorgt
werden, dass sie keine Angst vor einem unwürdigen Tod
haben müssen.
Meine Damen und Herren, wir debattieren heute auch
über den Zwischenbericht der Enquete-Kommission
„Ethik und Recht der modernen Medizin“ aus der letzten
Legislaturperiode. Die Enquete-Kommission hat mit ihrem über 80 Seiten umfassenden Bericht wertvolle Arbeit im Bereich Palliativmedizin und Hospizarbeit geleistet. Abgeordnete und externe Sachverständige haben
zusammen nicht nur eine Analyse der damaligen Situation geliefert, sondern einen Katalog von konkreten
Empfehlungen erarbeitet. Wie gut diese Arbeit und auch
die Zusammenarbeit waren, zeigt sich auch daran, dass
inzwischen viele Empfehlungen vom Deutschen Bundestag umgesetzt worden sind. Ich bin mir - ich sage das
auch ganz offen - nicht sicher, ob es genauso gekommen
wäre, wenn wir diesen Rat nur von außen erhalten hätten.
({0})
Wir haben Details umgesetzt, Dinge, die nicht so
wichtig erscheinen, die aber für die Praxis wichtig sind,
wie zum Beispiel die Änderung der Betäubungsmittelverschreibungsverordnung. Jetzt kann man zum Beispiel
nicht verbrauchte Schmerzmittel in stationären Hospizen
weiterverwenden.
Es gab aber auch grundlegende Verbesserungen - sie
wurden schon häufiger erwähnt -: Zum Beispiel wurden
die Finanzierung der ambulanten Palliativversorgung,
die Einführung von ambulanten Palliative-Care-Teams,
die Absenkung des Eigenfinanzierungsanteils beim Aufenthalt zumindest in stationären Kinderhospizen und die
Freistellung von Angehörigen für die Pflege und Sterbebegleitung bei der letzten Gesundheitsreform und bei der
Pflegereform beschlossen.
Darüber hinaus wurden im Rahmen der Pflegereform
auch noch weitere Verbesserungen vorgenommen, die
auch nicht unwichtig sind, zum Beispiel die Verkürzung
der Begutachtungsfrist auf fünf Tage bei Menschen, die
sich in einem stationären Hospiz befinden, oder auch die
Möglichkeit zum Vertragsabschluss mit Einzelpflegekräften, was die ganze Pflegehilfe für denjenigen angenehmer macht, der nicht dauernd mit wechselndem Personal zu tun haben will. Auch das, meine Damen und
Herren, sind wichtige Maßnahmen zugunsten der Betroffenen.
Wenn ich sage, dass wir vieles gesetzgeberisch auf
den Weg gebracht haben, heißt das leider noch nicht,
dass auch alles in der Praxis umgesetzt wurde. Das gilt
insbesondere für die ambulante Palliativversorgung. Das
ist mir deswegen so wichtig, weil die Menschen - das
sagen alle Umfragen - zu Hause sterben wollen und
nicht, wie es jetzt leider noch zu 70 Prozent Realität ist,
in Einrichtungen. Nachdem der Bundestag die sogenannte spezialisierte ambulante Palliativversorgung in
den Leistungskatalog der Krankenkassen aufgenommen
hat, ist mit einigen Monaten Verspätung im März dieses
Jahres die Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses in Kraft getreten. Nun schaffen die Spitzenverbände entsprechende Rahmenempfehlungen, auf deren
Grundlage Verträge mit Leistungserbringern abgeschlossen werden.
So kompliziert sich das anhört, so kompliziert ist es
auch. Auf diese Weise geht weiter kostbare Zeit verloren, und die Mittel, die zum Teil schon im letzten Jahr
für diesen Zweck zur Verfügung gestellt worden sind,
sind nicht mehr vorhanden und können nicht mehr im
Sinne der betroffenen Menschen abgerufen werden. Deswegen an dieser Stelle meine Bitte an diejenigen, die an
diesen Verhandlungen beteiligt sind: Bitte beeilen Sie
sich!
({1})
Selbst wenn man Gefahr läuft, den einen oder anderen
Fehler zu machen - diese Fehler kann man wieder korrigieren. Es werden Fehler gemacht werden; denn das ist
ja eine ganz neue Leistung mit vielen neu beteiligten
Leistungserbringern. Aber es ist wichtig, dass man den
Menschen zu Hause helfen kann.
Meine Bitte an die Länder - ich habe mit Praktikern
gesprochen und festgestellt, dass es da, wo in den Ländern bereits gehandelt wird, zum Beispiel in Hamburg
und Schleswig-Holstein, gut läuft -: Nehmen Sie sich
der Aufgabe an; steuern und koordinieren Sie den Prozess, damit es zu schnellen und vernünftigen Verhandlungen kommt!
Zum Schluss noch einige Bitten an die Kassen und
Leistungserbringer. Bei den Vertragsverhandlungen
scheint zwar die Hospizbegleitung in Altenheimen und
Pflegeheimen vorgesehen zu sein, aber nicht - so sagt
mir zum Beispiel der ambulante Hospizdienst für
Kinder - in Kinderheimen und verschiedenen Behinderteneinrichtungen. Die Begründung der Kassen war bisher, dies sei nicht ausdrücklich im Gesetz geregelt. Das
halte ich für falsch. Es ist falsch, wenn man die betroffenen Kinder ausschließen würde. Wenn sie in einem Kinderheim oder Kinderhospiz sind, müssen sie auch die
Möglichkeit der Palliativversorgung haben.
({2})
Meine zweite Bitte - es ist verständlich, dass ich dies
als Beauftragter meiner Fraktion für die Belange von
Menschen mit Behinderungen sage - ist, dass wir auch
auf die besonderen Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen eingehen, insbesondere von Menschen mit
sogenannter geistiger Behinderung. Ich denke, es ist
wichtig, dass man deren Bedürfnisse wahrnimmt und auf
sie eingeht und dass auch die Leistungserbringer sich
darauf einstellen, dass das eine andere Gruppe mit speziellen Bedürfnissen ist.
Eine letzte Bitte an alle Beteiligten, auch an uns: Eine
gute Palliativversorgung sicherzustellen, medizinisch
und pflegerisch, muss unser gemeinsames Ziel sein.
Aber es darf nicht passieren - darauf lege ich sehr viel
Wert -, dass die bezahlte Versorgung die nichtbezahlte
ehrenamtliche Bürgerbewegung der Hospizlandschaft
mit all ihrem Fachwissen in den Hintergrund drängt.
({3})
Nur wenn es uns gelingt, beides sicherzustellen, werden
wir ein Angebot haben, das den Bedürfnissen der sterbenden Menschen gerecht wird.
Vielen Dank fürs Zuhören.
({4})
Das Wort hat jetzt der Kollege Wolfgang Wodarg von
der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich
möchte zunächst etwas zu der Reihenfolge sagen, in der
wir die Themen, die mit Tod und Sterben zu tun haben,
in diesem Hause behandeln. Wir sprechen heute über
Palliativmedizin, das heißt über das, was getan werden
muss, damit die Menschen in der letzten Phase ihres Lebens Hilfe bekommen. In einer zweiten Sitzung werden
wir dann über die Patientenverfügung sprechen. Auch
die Enquete-Kommission hat festgestellt, dass diese Reihenfolge richtig ist. Wir müssen erst die Hilfe organisieren und dafür sorgen, dass Menschen nicht verzweifelt
sind. Denn wenn sie verzweifelt sind, dann bekommen
sie Angst. Aus dieser Angst heraus schreiben sie Patientenverfügungen. Davon profitieren Notare und Rechtsanwälte. Dieser Ansatz ist vom Ende her gedacht und
daher falsch. Wir wollen eine gute Palliativmedizin.
({0})
Der Gesetzgeber hat vieles möglich gemacht; das haben wir gehört. Wir haben Geld für die Hospizbewegung
zur Verfügung gestellt. Wir haben ein Recht auf Palliative Care im Gesetz festgeschrieben. Hubert Hüppe hat
eben mehrfach darum gebeten, dass doch etwas geschehe. Dies zeigt, dass noch nicht genug umgesetzt
wurde; das muss uns nachdenklich machen. Wir hoffen
aber, dass bald konkrete Hilfe zur Verfügung steht. Wenn
das nicht der Fall wäre, dann hätten wir die ganze Arbeit
umsonst und Politik an den Problemen vorbei gemacht.
Dieser Gefahr müssen wir uns stellen.
Es muss Anreize für diejenigen geben, die Verantwortung tragen, das Richtige zu tun. Es muss sich für diejenigen, die sich um Sterbenskranke kümmern, lohnen,
dass sie Palliative-Care-Strukturen schaffen. Wer ist dafür verantwortlich, wer muss hier noch aktiv werden?
Die Zivilgesellschaft tut eine Menge. In den Gemeinden melden sich viele ehrenamtliche Helferinnen und
Helfer. Es werden Hospizvereine gegründet, die wir fördern. Auch Krankenhäuser und Ärzte versuchen, entsprechende Hilfe anzubieten und spezielle Angebote
weiterzuentwickeln. Es entstehen Palliativstationen und
Hospize. Aber es fehlt immer noch an einer flächendeckenden Versorgung in diesem Bereich.
Die Strukturverantwortung haben diejenigen, die über
das Geld verfügen, um die Versorgung zu gestalten. Bei
uns sind in erster Linie die Krankenkassen und die Pflegekassen dafür verantwortlich. Wir haben ein großes
Problem, dass hier zwei Versicherungen sozusagen nebeneinander arbeiten: die Krankenversicherung und die
Pflegeversicherung. Häufig kommt es vor, dass Menschen beide Versicherungen brauchen und beide in Anspruch nehmen. Die Pflegeversicherung ist eine Teilkaskoversicherung; die Krankenversicherung bezahlt das
Notwendige und fragt nicht nach einzelnen definierten
Leistungen.
Die Pflegeversicherung ist aber die kostengünstigere
Lösung. Daher gibt es Verschiebebahnhöfe. Das sehen
wir besonders im stationären Bereich in den Pflegeheimen. Wir müssen uns die Situation dort genauer anschauen. Ich denke, es kommt in vielen Pflegeheimen zu
Fehl- und Unterversorgungen, wenn es um Palliative
Care geht. Diesen Bereich kann man nicht mit wenig
Personal abdecken; das geht nicht.
Palliative Care ist nicht nur in Krankenhäusern und
Hospizen notwendig. Gehen Sie einmal in die vielen stationären Pflegeeinrichtungen, in denen Menschen die
letzten Monate ihres Lebens verbringen müssen. Die
Pflegeversicherung bezahlt eine Pauschale, und das war
es dann. Wo bleibt da Kraft für Palliative Care? Wie soll
die Finanzierung aussehen? Wenn wir es ehrlich mit diesem Thema meinen, müssen wir uns diesen Fragen stellen.
Jeder weiß, dass die letzten sechs Monate im Leben
eines Menschen die teuersten sind. Das ist nichts Neues.
Wir wollen, dass die Krankenkassen sich anstrengen und
auch dann etwas für ihre Versicherten tun. Stellen Sie
sich aber vor, eine Krankenkasse würde Verträge schließen, um eine flächendeckende und vorzügliche Palliativversorgung zu ermöglichen. Wenn sich das bei den
Krebskranken herumsprechen würde, dann würden alle
in diese Krankenkasse wechseln. Das würde aber bedeuten, dass die Kasse für ihr Engagement finanziell bestraft
und möglicherweise pleitegehen würde, wenn andere
Kassen nicht auch nachziehen würden. Sie müsste möglicherweise die Beiträge erhöhen, nur weil sie das tut,
was eigentlich notwendig ist.
Hier wirkt sich der Kassenwettbewerb, der immer
noch besteht, negativ aus, weil notwendige Leistungen
dann nicht erbracht werden, wenn sie teuer sind. Dieser
Wettbewerb ist fehlleitend. Er ist einer der Hauptursachen dafür, warum wir in Deutschland noch keine flächendeckende Palliativversorgung haben. Wir müssen
dafür sorgen, dass alle Krankenkassen dieser Verpflichtung nachkommen. Das können wir dadurch tun, dass
wir die Morbidität ausgleichen. Das soll durch den morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich geschehen,
den wir beschlossen haben. Er dient dazu, die Kasse zu
belohnen, die solche Themen in Angriff nimmt.
Jetzt höre ich es aber munkeln, dass man einen Rückzieher machen und den Morbi-RSA abschwächen will,
der ja an den Gesundheitsfonds geknüpft ist. Er kommt
vielleicht gar nicht. Wenn wir diesen morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich nicht verwirklichen,
dann wird es sich weiterhin nicht lohnen, sich um teure
Kranke zu kümmern. Das müssen wir wissen; ansonsten
ist all das, was wir hier machen, Schall und Rauch. Ich
weiß, dass diese Aussage wehtut. Ich weiß, dass da viele
andere Argumente eine Rolle spielen; aber diese wichtigen Zusammenhänge kann man nicht unerwähnt lassen.
Wir haben den Bereich der Pflegeversicherung neu
gestaltet und haben vieles möglich gemacht. Wir wollen,
dass sich die Gemeinden im Rahmen der Daseinsvorsorge dort, wo die Menschen leben - „Daheim statt
Heim“, sagen wir in unserem Zusammenschluss, den wir
gegründet haben und den wir fördern; viele von uns nehmen daran teil -, darum kümmern, dass man zu Hause in
vertrauter Umgebung alt werden darf, behindert sein
kann und trotzdem Hilfe erhält und sterben darf, so wie
man möchte. Dazu bedarf es professioneller Unterstützung, und die kostet Geld.
Es ist für eine Gemeinde sehr schwierig, die Player
aus der Pflegekasse und der gesetzlichen Krankenkassen, die in diesem Zusammenhang eine Rolle spielen
und Verantwortung tragen, vor Ort zusammenzubekommen. Die von uns geplanten Pflegestützpunkte, die wir
in Deutschland flächendeckend einführen wollen, sollen
diese koordinierende Funktion übernehmen. Sie sollen
die Stelle sein, bei der man Defizite in der Versorgung
benennt, wo die Kostenträger vor Ort zusammenkommen und sich Gedanken darüber machen, wie die Versorgung verbessert werden kann, wo die Ansprüche der
Bevölkerung angemeldet werden können und über vernünftige ortsangemessene Lösungen diskutiert werden
kann.
Das alles haben wir als Gesetzgeber möglich gemacht. Das ist ein großes Verdienst der Pflegeversicherung, die wir neu gestaltet haben. Dies muss jetzt vor Ort
umgesetzt werden.
Dabei sind die Länder besonders gefragt; denn es
liegt in der Hand der Länder, die koordinierende Funktion der Pflegestützpunkte gesetzlich festzulegen oder
dies zu verweigern. Ich appelliere also an die Länder,
ihre Verantwortung für die Daseinsvorsorge auch hier
wahrzunehmen.
Wie Sie sehen, ist dies ein Thema, bei dem es vor allem auch ums Geld geht. Ich denke, dass das Modell, über
das wir diskutieren - ganz anders, als viele meinen -, sehr
viele wirtschaftliche Vorteile bringen kann. Wenn wir
Menschen zu Hause lassen, wenn wir eine Krankenhauseinweisung vermeiden, dann sparen wir bei jedem Fall
20 000 bis 30 000 Euro. Davon, also von einem vermiedenen Krankenhausaufenthalt, kann eine Pflegekraft ein
ganzes Jahr lang finanziert werden. Dies muss die Krankenkassen und die Pflegekassen doch hellhörig machen.
Wie viel Vernünftiges kann man durch Prävention und
gute Begleitung tun: Man kann gleichzeitig Leid und
Kosten vermeiden. Das ist eine Win-win-Möglichkeit,
die wir viel zu wenig ergreifen.
Ich glaube, dass wir noch viel zu tun haben und in der
Praxis noch viel von dem umzusetzen haben, was wir
theoretisch in der Enquete-Kommission erarbeitet und in
das Gesetz geschrieben haben. Es reicht nicht, wenn die
Dinge im Gesetz stehen. Wir müssen dafür sorgen, dass
sie auch geschehen. Das wollen wir gemeinsam in Angriff nehmen!
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({1})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
das Wort der Kollege Hermann-Josef Scharf von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ein Lebensende in Würde verbringen zu können, ist der Wunsch eines jeden Menschen. Ziel der
Pflege von Sterbenden ist es, dem schwerkranken Menschen so lange wie möglich ein Gefühl des Wohlbefinden zu verschaffen, damit er, wenn er es will, frei wird,
um sich seelisch und geistig auf den Tod vorzubereiten.
Die Auseinandersetzung mit dieser Aufgabe führte zu
der heutigen Hospizbewegung. Aber die dahinterstehende Idee ist weit umfassender. Das lateinische Wort
„hospitium“ in der Bedeutung von „Herberge“ und
„Gastfreundschaft“ sagt für den Hospizgedanken das
Wesentliche: Hilfe und Schutz für den Kranken in der
letzten Phase seines Lebens, der letzten Strecke seines
irdischen Daseins. In ebendieser letzten Phase benötigen
die häufig schwerkranken Menschen Schmerzlinderung
und umfänglichen Beistand. Die Palliativmedizin und
die Hospizarbeit leisten hierbei wichtige Dienste. Für
uns von der Union war es daher ein großes Anliegen, die
Stärkung der Hospizarbeit und der Palliativmedizin im
Koalitionsvertrag festzuschreiben.
Durch die Aufnahme der integrativen hospizlichen
Versorgung in den Leistungskatalog der gesetzlichen
Krankenkassen mit der Gesundheitsreform haben wir
dieses Ziel weitgehend erreicht. Seither haben Versicherte einen Anspruch auf eine spezialisierte ambulante
Palliativversorgung, die durch ihre Ausgestaltung den
Wunsch vieler Frauen und Männer erfüllt, bis zum Tod
in der vertrauten Umgebung betreut zu werden. Durch
diese bedarfsgerechte Palliativversorgung wird die ambulante Pflege am Lebensende erheblich verbessert und
eine Vernetzung von vorhandenen Strukturen vor Ort erreicht. Krankenhäusern ist es nun möglich, ihre hochspezialisierten Leistungen auch ambulant anzubieten. Das
ist ein neues, gutes Angebot. Ein weiterer wichtiger
Punkt ist, dass ambulante Hospizdienste ihre Dienste
nun nicht mehr nur im privaten Bereich, sondern auch in
Alten- und Pflegeheimen, wo sie meines Erachtens dringend benötigt werden, anbieten können.
Aber auch durch die Pflegereform sind zahlreiche
Leistungsverbesserungen entstanden, die die Situation
von Menschen am Lebensende und die ihrer Familien
wesentlich verbessern. Ich denke an die Möglichkeit für
Angehörige, bis zu sechs Monate Pflegezeit mit Rückkehranspruch an den Arbeitsplatz zu nehmen, um Zeit
für den Sterbenden zu haben. Bei einem akut auftretenden Pflegefall ist eine kurzfristige Freistellung von bis
zu zehn Werktagen möglich. Die Fristen zur Begutachtung durch den medizinischen Dienst wurden wesentlich
verkürzt, um den Betroffenen schnell Sicherheit für die
notwendige Hilfe zu geben. So muss bei Menschen, die
bereits in einem Hospiz sind oder in häuslicher Umgebung palliative Leistungen erhalten, innerhalb einer Woche die Entscheidung über das Gutachten vorliegen.
Auch die Erhöhung des Pflegegeldes wird die Situation
der pflegenden Angehörigen verbessern.
Wir sollten der aktiven Sterbehilfe diese guten Alternativen entgegensetzen.
({0})
Der Tod, das Sterben gehört zum Leben. In der Hospizbewegung geht es, wie schon gesagt, um die Bedürfnisse
unserer Sterbenskranken. Was brauchen wir auf unserem
letzten Lebensweg? Bei den Missionarinnen der Nächstenliebe, den Schwestern von Mutter Teresa in Indien,
habe ich eine Antwort gefunden: „Hände, die zum Dienen bereit sind, und ein Herz, das lieben will.“ Die bereits heute in vielen Krankenhäusern, Heimen, Hospizen
und in häuslicher Umgebung geleistete Sterbebegleitung
und die palliativmedizinische Betreuung sind von ganz
zentraler Bedeutung. Diese wollen wir als CDU/CSU
nachhaltig unterstützen.
Herzlichen Dank.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/9442 und 15/5858 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Tätigkeitsbericht 2005 bis 2007 der Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen und Stellungnahme der Bundesregierung
- Drucksache 16/9000 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({0})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Kultur und Medien
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Gibt es
Widerspruch? - Das ist nicht der Fall.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin das Wort der Parlamentarischen Staatssekretärin
Dagmar Wöhrl.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Gerade angesichts der vorherigen Ausführungen ist
es jetzt nicht ganz einfach, das Thema zu wechseln.
Wir kommen jetzt zum Bericht der Bundesnetzagentur. Wir wissen, dass wir 2005 durch die Neufassung des
Energiewirtschaftsgesetzes die Rahmenbedingungen für
die leitungsgebundene Energiewirtschaft geschaffen haben. Unser Ziel war die Netzregulierung für einen wirksamen Wettbewerb bei Erzeugung und Vertrieb. Der
erste Tätigkeitsbericht liegt uns jetzt vor. Er gibt uns einen guten Überblick darüber, wie weit wir gekommen
sind und wo noch weitere Arbeit auf uns wartet. Der Erfahrungszeitraum war relativ kurz. Nichtsdestoweniger
zeigt uns der Bericht, dass große Fortschritte gemacht
worden sind.
Ein Beispiel ist die Kontrolle der Netzentgelte. Die
Bundesnetzagentur hat schon bei der ersten bundesweiten Genehmigungsrunde die von den Netzbetreibern beantragten Entgelte teilweise gekürzt. Auch haben wir der
Bundesnetzagentur die Möglichkeit an die Hand gegeParl. Staatssekretärin Dagmar Wöhrl
ben, Vorschriften zur Entflechtung des Netzbetriebes auf
der Basis des neuen Energiewirtschaftsgesetzes von 2005
durchzusetzen. Dazu gibt es schon heute Vorgaben.
Wir wissen natürlich, dass die Bundesnetzagentur auf
einem schwierigen Feld arbeitet. Es ist nicht immer einfach, bei Entscheidungen die Balance zwischen Preisgünstigkeit und der Versorgungssicherheit zu finden. Sie
muss an die Interessen des Wettbewerbs genauso wie an
das Interesse an weiteren Investitionen in die Leitungsnetze denken. Ich glaube, das ist ihr bis jetzt sehr gut gelungen.
Steigende Energiepreise lösen zurzeit große Unruhen
aus. Wir müssen bei diesem Thema sehr aufpassen, als
Politiker nicht den Eindruck zu erwecken, dass sich globale Entwicklungen einfach lösen lassen. Einzelaktionen
sind die falsche Reaktion, und auch einfache Antworten
auf dieses Problem gibt es nicht.
({0})
Günstige Energiepreise sind nicht allein durch Netzregulierung zu erreichen. Netzentgelte machen etwa
30 Prozent der Preise aus. Sie sind also nur eine von
mehreren Kostenblöcken. Es gibt viele Ursachen: die
Entwicklung der Primärenergiekosten, die staatlich veranlassten Preisbestandteile - das ist ganz klar -,
({1})
die sich auch auf die Preise auswirken, ein noch nicht
hinreichender Wettbewerb; auch das ist ein Thema. Wir
müssen natürlich sagen, dass die Nachfrage nach Energie weltweit steigt und dass dadurch die Situation auf
längere Sicht nicht einfacher wird.
Wir sollten auch ganz ehrlich sagen - darin stimme
ich der FDP zu -, dass seit der Marktöffnung 1998 sehr
viele umweltpolitisch motivierte Entscheidungen getroffen worden sind. Das kann man nicht wegdiskutieren,
und das wollen wir in diesem Zusammenhang auch gar
nicht machen. Diese Entscheidungen haben weder den
Bau neuer Kraftwerke noch die Bereitstellung eines hinreichenden Angebots von Strom erleichtert.
({2})
Die Zahl der staatlich veranlassten Preisbestandteile hat
zugenommen, ich erspare mir hier eine Aufzählung.
Für uns stellt sich schon die Frage: Wie gehen wir mit
diesen Problemen um?
({3})
Der Wettbewerb ist ein wichtiges Thema. Wir brauchen
in diesem Bereich mehr Wettbewerb. Aber - das sage ich
hier ganz ausdrücklich - wir brauchen keine staatliche
Preissetzung. Wir brauchen auch keine staatlich vorgeschriebenen Sozialtarife.
({4})
Dass dieses Thema populär ist, ist klar, aber diese
Forderung ist realitätsfremd. Die Idee, dass die Privatwirtschaft zu einem Träger der Sozialpolitik werden soll,
ist kein Schritt auf dem Weg, den wir einschlagen sollten. Man kann die Privatwirtschaft nicht dazu zwingen.
Was würde es außerdem bedeuten, wenn man sie dazu
zwingen würde? Das würde nur bedeuten, dass die übrigen Verbraucher mit höheren Kosten rechnen müssten.
Hier macht man es sich zu einfach, weil man dadurch
das Problem in die Zukunft verschiebt.
Energieeffizienz und Energieeinsparung sind wichtige Themen, derer sich die Regierung angenommen hat.
Wir haben jetzt im Bundeskabinett den zweiten Teil des
IEKP beschlossen. Ich habe mich sehr gefreut, als ich
eine Studie der BP gelesen habe. Denn sie zeigt, dass in
Deutschland der Energieverbrauch um 5,6 Prozent gesunken ist; in der Europäischen Union ist er im Durchschnitt um nur 2,2 Prozent gesunken. Weltweit ist der
Verbrauch von Primärenergie leider um 2,4 Prozent gestiegen. Das sind Probleme, die uns nicht nur kurzfristig,
sondern auch mittelfristig und langfristig beschäftigen
werden.
Ich glaube, es ist wichtig zu sagen, dass wir uns in
den letzten zwei Jahren nicht zurückgelehnt haben. Wir
haben viel auf den Weg gebracht, auch um zu mehr
Wettbewerb zu kommen. Minister Glos hat schon im
Herbst 2006 das erste Maßnahmenpaket auf den Weg gebracht.
Wir haben die vier Rechtsverordnungen zu den allgemeinen Geschäftsbedingungen der Energieversorger beschlossen. Damit haben wir die Verbraucherrechte gestärkt und - was wichtig ist - die Möglichkeiten für
Lieferantenwechsel verbessert. Die Zahlen zeigen: Der
Wettbewerb um die Haushaltskunden, den wir immer
wollten, hat an Fahrt gewonnen. Mindestens doppelt so
viele Haushalte wie 2006 haben letztes Jahr ihren Lieferanten gewechselt.
Wir haben die Kraftwerks-Netzanschlussverordnung
auf den Weg gebracht. Die Anreizregulierung gilt ab Januar nächsten Jahres. Sie soll auch eine Motivation für
die Netzbetreiber sein, ihre Strom- und Gasnetze effizienter zu betreiben.
Im Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen haben
wir die kartellrechtliche Preismissbrauchsaufsicht verschärft, sodass strenger gegen Preistreiber vorgegangen
werden kann. Wir wissen aufgrund der ersten Fälle in
diesem Bereich, dass dieses Gesetz vom Bundeskartellamt auch angewandt wird. Auch das Gesetz zur Öffnung
des Messwesens bei Strom und Gas für Wettbewerb will
ich hier nicht verschweigen. Dadurch geben wir dem
Verbraucher die Möglichkeit, sich für neue Zähler zu
entscheiden, die mehr Informationen über den Stromverbrauch geben.
Ich glaube, die Beispiele, die ich einzeln aufgezählt
habe, zeigen, wie wichtig dieses Thema für uns ist, wie
wichtig diese Probleme für uns sind, dass wir uns dieser
Probleme schon in der Vergangenheit angenommen haben und uns in Zukunft ihrer weiter annehmen werden.
Das heißt, wir haben nicht nur angekündigt, sondern
auch geliefert.
In dem Sinne vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Gudrun Kopp von der
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Herren und Damen! Frau Kollegin Wöhrl hat eben vorgetragen, was die
Bundesregierung an kleinteiligen Maßnahmen zur Stärkung des Wettbewerbs an der einen oder anderen Stelle
auf den Weg gebracht hat. Davon ist vieles richtig und
gut. Aber zur Energiepreisentwicklung haben Sie lediglich festgestellt, dass die Politik, dass der Staat, dass die
frühere und die jetzige Bundesregierung einen ganz erheblichen Anteil an der Preisgestaltung haben. Ich sage
nur: 40 Prozent des Strompreises und 30 Prozent des
Gaspreises beruhen auf Steuern und Abgaben, die durch
die vorherige und durch die jetzige Bundesregierung
verursacht wurden. Das kneift den Normalverbraucher
in ganz besonderer Art und Weise.
({0})
Leider haben Sie überhaupt nicht gesagt, was Sie dagegen unternehmen wollen.
({1})
Einfach nur festzustellen, dass sich die Steuern und Abgaben auf Energie von 2,2 Milliarden Euro im Jahre
1998 auf derzeit über 13,7 Milliarden Euro erhöht haben, reicht nicht. Das ist mehr als eine Versechsfachung
der politisch verursachten Lasten auf den Energiepreisen. Auch die Regierungserklärung der Kanzlerin heute
Morgen war sehr enttäuschend. Sie zuckt mit den Achseln und sagt, man könne die Preise nicht senken, sie
seien weltwirtschaftlich begründet und man könne leider
nichts tun.
({2})
Das ist eine Bankrotterklärung vor politischem Handeln,
das eigentlich nötig wäre.
({3})
Bei sich selbst anzufangen, wäre angesagt.
({4})
- Was die FDP macht, werde ich gleich gerne sagen.
Wir sprechen heute über den Tätigkeitsbericht 2005
bis 2007 der Bundesnetzagentur. Hierzu stellen wir fest:
Obwohl Regulierung ein schwieriger Prozess ist, sind
bisher schon viele Regulierungsmaßnahmen durchgeführt worden, die recht gut verlaufen sind. Daran waren
wir beteiligt.
({5})
Ich füge aber hinzu: Wir hätten uns gewünscht, dass die
Regulierung, die in den Monopolbereichen nach dem
heutigen Stand der Dinge eine Daueraufgabe bleiben
wird, beim politisch unabhängigen Bundeskartellamt angesiedelt wird; denn dort wäre diese Aufgabe besser aufgehoben.
({6})
Es wurde eine andere Entscheidung getroffen. Die
Netze werden in Zukunft vom Bundeskartellamt reguliert, und im Netz reguliert die Bundesnetzagentur. Am
1. Januar 2009 beginnt die Anreizregulierung. Hierzu
hat die Bundesnetzagentur zeitnah einen sachgerechten
Entwurf vorgelegt, der strenge Maßnahmen zur Einführung einer Anreizregulierung enthielt.
Leider hat die Bundesregierung diesen Entwurf stark
verwässert bzw. politisch Einfluss genommen; das habe
ich bereits kritisiert. Nun liegt ein weichgespülter Entwurf zur Anreizregulierung auf dem Tisch. Wir müssen
beobachten, ob die Klage der Energieunternehmen über
eventuell nicht auskömmliche Renditen tatsächlich berechtigt ist oder ob man darüber hinwegsehen kann. Das
wird sich zeigen.
Der wichtigste Punkt des vorliegenden Tätigkeitsberichts ist die Aufforderung an die Politik - sie richtet
sich an uns alle -, die richtigen Rahmenbedingungen für
den dringend notwendigen Netzausbau zu setzen. Wir
wollen nicht nur, dass in Leitungen investiert wird und
dass Leitungen verlegt werden, sondern auch, dass nach
wie vor Wert auf die Qualität der Leitungen gelegt wird.
({7})
Hier besteht folgendes Problem: Es ist ein massiver
Ausbau von Offshore-Windkraftanlagen, also von Windkraftanlagen auf hoher See, zu verzeichnen, während im
Süden Kernkraftwerke abgeschaltet werden. Jedoch fehlen Leitungen von Norden nach Süden. Wir müssen den
Spagat schaffen und diese Leitungen legen. Das wollen
auch die Unternehmen sehr gern. Sie sehen sich aber mit
dem Problem konfrontiert, dass die Genehmigungsverfahren sehr lange dauern, derzeit rund zehn Jahre. Diese
Verfahren müssen beschleunigt werden. Hierfür wurde
ein guter Ansatz entwickelt.
Die dringend notwendigen Investitionen dürfen aber
nicht dadurch konterkariert werden, dass, wie von der
Bundesregierung geplant, zumindest teilweise auch eine
Erdverkabelung vorgesehen wird. Ich möchte Ihnen ausdrücklich sagen: Das hätte eine enorme Verteuerung der
Netzkosten um das Vier- bis Zehnfache zur Folge und
wäre kontraproduktiv.
({8})
Was wir zur Stärkung des Wettbewerbs unbedingt
brauchen, ist eine strukturelle Trennung von Netz und
Produktion im Energiebereich. Insofern ist der Kompromiss, den die Bundesregierung in Brüssel erzielt hat, der
sogenannte dritte Weg, aus unserer Sicht eher enttäuschend.
({9})
Denn er wird das, was wir uns erhoffen, nicht schaffen,
nämlich mehr Wettbewerb. Das EU-Parlament hat gestern anders entschieden. Es wünscht sich eine Trennung.
({10})
Wir hätten uns gewünscht, dass die Bundesregierung
mutiger gewesen wäre.
({11})
Sie hätte unseren Vorschlag einer unabhängigen
Netz AG aufgreifen sollen. Diese könnte Investitionen
beschließen, ohne dass die vier den Energiemarkt beherrschenden Unternehmen durch direkte Beteiligung
darauf Einfluss haben. Leider ist das nicht geschehen.
Der gestrige Beschluss des EU-Parlaments wird erneut zu Irritationen führen: Wie geht es jetzt weiter? Das
ist nicht gut, weder für die Netzbetreiber, die gerne
Netze bauen wollen, noch für das politische Umfeld.
({12})
Insofern kann ich Ihnen nur sagen: Ihre Hausaufgaben
haben Sie allenfalls zum Teil erledigt.
({13})
Die Regulierung, über die wir heute diskutieren, ist allerdings auf einem guten Weg.
Vielen Dank.
({14})
Das Wort hat der Kollege Rolf Hempelmann von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
sprechen heute über den Tätigkeitsbericht der Bundesnetzagentur. Für die vielen Bundestrainer, die heute auf
die Tribüne verbannt worden sind, sei gesagt: Das ist die
Regulierungsbehörde, die sich um die Infrastruktur, um
die Netze kümmert, und zwar nicht nur um die Energienetze, über die wir heute sprechen, sondern auch um die
Netze für Telekommunikation, Post und Eisenbahnen.
({0})
Anders als meine Vorrednerin glaube ich, dass es gut
ist, dass wir die damalige RegTP, die Regulierungsbehörde für Telekommunikation und Post, die hervorragend gearbeitet hatte, auch mit dem Bereich der leitungsgebundenen Energien - Gas und Strom - betraut
haben.
Der Tätigkeitsbericht zeigt, dass die Agentur in den
letzten Jahren gut vorangekommen ist und erfolgreich
gearbeitet hat. Sie hat, gerade bei den Übertragungsnetzen, einen weitgehend diskriminierungsfreien Netzzugang durchgesetzt; das weist sie uns in jeder Beiratssitzung nach. Insofern können wir sagen, dass die bisherige
Entflechtung vom Grundsatz her durchaus gegriffen hat.
Wir wissen aber gerade mit Blick auf Europa, dass
wir in diesem Zusammenhang weitergehen müssen. Deswegen haben wir die Bundesregierung unterstützt bei ihrem Vorschlag - den sie ja nicht allein gemacht hat, sondern zusammen mit acht weiteren Mitgliedstaaten, die in
eine ähnliche Richtung denken -, das Modell, das wir
kennen und das erfolgreich ist, weiterzuentwickeln.
Ich glaube, dass diejenigen, die sich näher mit der eigentumsrechtlichen Entflechtung befasst haben, wissen,
dass vieles behauptet wird, aber weniges nachgewiesen
ist. So ist zum Beispiel nicht nachgewiesen, dass eine eigentumsrechtliche Entflechtung zu sinkenden Netzentgelten oder zu steigenden Investitionen führt. Beides
wäre schön, und das wären starke Argumente für eine eigentumsrechtliche Entflechtung; aber beides trifft nicht
zu.
Nun ist die Pattsituation zwischen Rat und Parlament
entstanden. Es wäre sicherlich sinnvoll, dass, wie wir es
im Wirtschaftsausschuss mehrfach angeregt haben, das
Bundeswirtschaftsministerium mit den vier Übertragungsnetzbetreibern Kontakt aufnimmt, mit ihnen die Situation bespricht und sondiert, ob das, was unsere nationale Netzagentur macht, ein Modell wäre, das sich die
Unternehmen vorstellen können bzw. das bei ihnen auf
Gegenliebe stößt. Die Signale, die ich wahrnehme, sind
ermutigend. Insofern sollte man das jetzt vorantreiben.
Von sinkenden Netzentgelten war die Rede. Ich
glaube, dass das gut ist und dass Monopolrenditen, jedenfalls weitgehend, der Vergangenheit angehören. Ich
will aber darauf aufmerksam machen, dass wir uns nicht
vorstellen sollten, dass die Netzentgelte auf viele Jahre
hinaus dauerhaft weiter werden sinken können. Da wird
es eine natürliche Grenze geben,
({1})
die einfach dadurch gesetzt ist, dass wir eine hohe Netzqualität haben wollen. Dazu benötigen wir Investitionen
in das Netz. Bei der demnächst beginnenden Anreizregulierung ist es eine besondere Herausforderung, diese
beiden Ziele - kosteneffizient geführte Netze und eine
hohe Versorgungsqualität durch entsprechende Investitionen - miteinander in Einklang zu bringen.
Es gibt Signale, dass sich auch die Bundesnetzagentur
noch in Lernprozessen befindet. Das ist keine Schande;
je mehr sie lernt, desto besser. Signale kommen nicht nur
von den großen Unternehmen, sondern gerade auch von
den Stadtwerken und von Unternehmen, die - was wir
politisch sehr unterstützen - Offshore-Windprojekte ans
Netz anbinden wollen. Es wird darauf ankommen, dass
sich diese Risikoinvestitionen lohnen, dass eine Rendite
dabei herausspringt, die marktüblich ist. Da ist die Bundesnetzagentur aufgefordert, für die entsprechenden
Rahmenbedingungen zu sorgen.
Die Staatssekretärin hat es schon angedeutet: Wir haben eine Menge getan, um der Bundesnetzagentur die
Arbeit zu erleichtern. Wir haben eine Kraftwerks-Netzanschlussverordnung vorbereitet, mit der gerade neue
Kraftwerke bevorzugt werden sollen. Wir haben im
GWB einige Veränderungen vorgenommen, die es dem
Bundeskartellamt erleichtern sollen, die großen Unternehmen zu überprüfen, um zu verhindern, dass sie ihre
zugegebenermaßen starke Marktposition missbrauchen
können. Schließlich haben wir das Mess- und Zählwesen
liberalisiert; gerade in der letzten Woche haben wir das
entsprechende Gesetz verabschiedet. Wir versprechen uns
davon natürlich auch die Möglichkeit, dass der Verbraucher seine eigenen Verbräuche besser erkennt und steuert.
Eben wurde das Stichwort Sozialtarife genannt - auch
von der Bundesregierung. Dieses Thema muss uns sicherlich beschäftigen. Zuallererst denken wir daran, Instrumente zu schaffen, mit denen der Verbraucher in die
Lage versetzt wird, Energie einzusparen. Es geht nicht
nur um Preise, sondern auch um Kosten. Er soll seine
Kosten entsprechend senken können. Dazu haben wir
beispielsweise die Verpflichtung eingeführt, intelligente
Zähler anzubieten. Auf diesem Weg müssen wir aber natürlich weitergehen, und wir müssen insbesondere denen
helfen, die es nicht aus dem eigenen Portemonnaie leisten können, ineffiziente Geräte durch moderne, effiziente und stromsparende Geräte zu ersetzen. Ansätze
dazu gibt es schon - beispielsweise im Marktanreizprogramm und im CO2-Gebäudesanierungsprogramm. Ich
denke aber, dass wir das perfektionieren müssen.
Meine Damen und Herren, eine Aufgabe bleibt dennoch, eine Aufgabe, die zu den Kernaufgaben des Gesetzgebers, aber auch der Bundesregierung, des Bundeswirtschaftsministeriums, gehört. Ich meine das angekündigte
Gesetz zur Beschleunigung von Netzprojekten, das gestern im Kabinett beraten wurde. Dies wird letztlich dazu
dienen, dass die Bundesnetzagentur noch erfolgreicher
arbeiten kann. Es ist richtig - das wurde gerade auch von
der Opposition angesprochen -, dass wir hier vorankommen müssen. Das bisher gültige Beschleunigungsgesetz
hat nicht in dem Umfang gegriffen, wie wir uns das vorgestellt haben. Deswegen ist es eben umso wichtiger, dass
wir hier vorankommen.
Ich glaube, dass die Lösung beim Problem der Erdverkabelung, die jetzt gefunden worden ist, eine Lösung
mit Augenmaß ist: Es handelt sich um eine Verkabelung
in Modellregionen. Diese Lösung ist gegenüber den Vorstellungen, die es dazu in der Vergangenheit gab, deutlich eingegrenzt. Die Kostenaspekte wurden im Auge
behalten. Insofern glaube ich, dass hier eine Voraussetzung für einen zügigen Netzausbau geschaffen wurde.
Es ist klar: Die Erdverkabelung ist teurer. Ich denke
aber, so, wie das jetzt angelegt ist, ist es gut begründet,
gezielt und auch ausgesprochen restriktiv auf die Notwendigkeiten beschränkt.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({2})
Das Wort hat der Kollege Hans-Kurt Hill von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit
der Einrichtung der Bundesnetzagentur wurde ein wichtiger Schritt zur Regulierung des Strom- und Gasmarktes
gemacht; denn ob Schienen-, Gas- oder Stromnetze: Es
verleitet zu Missbrauch, wenn sie in privater Hand sind.
({0})
Es ist Aufgabe der Bundesnetzagentur, dies zu kontrollieren. Dass hier viel Arbeit geleistet wurde, wird auch
durch den Bericht gezeigt.
Was stellen wir fest? Erstens. Die Kontrolle der Netze
greift zu kurz. Zweitens. Mit der Einführung der Bundesnetzagentur wurde der öffentliche Einfluss auf die anderen Bereiche abgeschafft. Drittens. Was ist die Folge?
Die Strom- und Gaspreise steigen ungebremst. Daneben
findet bei der Netznutzung keine Lenkung hin zu Klimaschutz und Energieeffizienz statt. Auf diese Punkte
möchte ich jetzt im Einzelnen eingehen.
Zur Netzkontrolle am Beispiel des Stroms. Die Bundesnetzagentur hat die Netzkosten zugunsten der Verbraucherinnen und Verbraucher zwar erfolgreich verringert - im Ergebnis zahlte der Durchschnittshaushalt im
Jahre 2007 33 Euro weniger für die Netznutzung -, aber
der Strom wurde im letzten Jahr gleich mal um 60 Euro
teurer. Grund ist die künstliche Verteuerung der Strompreise durch das Energiemonopol. Bei einem Etat der
Bundesnetzagentur von 150 Millionen Euro bleibt die
Wirkung für die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler eher
gering.
Damit sind wir beim zweiten Punkt, nämlich bei der
Abschaffung der Tarifgenehmigung im Strombereich
Mitte 2007.
Seit diesem Zeitpunkt steigen die Strompreise schneller und unkontrollierter denn je. Die Linke fordert deshalb die Wiedereinführung der Strom- und Gaspreisaufsicht, die von der Bundesregierung abgeschafft wurde.
Des Weiteren brauchen wir Verbraucherbeiräte. Sie
garantieren den Stromkundinnen und -kunden Einblick
und Mitspracherecht bei der Preisgestaltung.
Der Stromsektor - damit komme ich zum dritten
Punkt - ist vom fairen Wettbewerb weit entfernt. Grund
hierfür ist, dass sich nach wie vor die vier großen Stromkonzerne - Eon, Vattenfall, RWE und EnBW - den
Strommarkt in Deutschland untereinander aufteilen.
Ein weiteres Mittel des Missbrauchs ist die Strombörse. Durch Manipulation und Spekulation werden die
Stromkundinnen und -kunden mit rund 24 Milliarden
Euro pro Jahr belastet. Das Phänomen ist neu; denn erst
seit kurzem tummeln sich an dieser Börse auch Banken
und die Finanzheuschrecken, nämlich die Hedgefonds.
Sie wollen keinen Strom für ihre Büros kaufen; vielmehr
wollen sie mit 25 bis 30 Prozent Profit ihren Reibach
machen. Deshalb müssen wir uns damit befassen, wie
die Kontrolle des Marktes und die Aufgaben der Regulierungsbehörde zu verbessern sind.
Ich komme zum letzten Punkt. Die Strom- und Gasnetze müssen volkswirtschaftlichen Interessen dienen.
Das zeigt auch die Bundesnetzagentur, indem sie beim
Netzentgelt Gewinnobergrenzen festlegt. Interessant ist
dabei, dass die Besitzer der Stromautobahnen wie Eon
und Vattenfall genau dann das Interesse an den Netzen
verlieren, wenn man ihnen auf die Finger schaut.
Dennoch ist zu kritisieren, dass die Behörde nur das
bestehende System verwaltet. Der Präsident der Bundesnetzagentur, Herr Kurth, tut sich manchmal schwer, Vorgaben des Gesetzgebers richtig zu deuten. Ich erinnere
nur an die Erdkabelregelung an der Küste.
Klimaschutz, erneuerbare Energien und Energieeffizienz haben eine hohe Bedeutung, doch die Bundesnetzagentur richtet ihre Arbeit nicht konsequent daran aus.
Bundeswirtschaftsminister Glos als zuständiger Minister
muss endlich Farbe bekennen. Notwendig sind die Ausrichtung der Netzgebühren am CO2-Ausstoß,
({1})
die Besserstellung von Kraftwerken, die Regelenergie für
erneuerbare Energien liefern, und die Förderung von moderner Netzsteuerung, um mehr Windstrom ins Netz zu
bringen. Es ist kein gutes Zeichen, wenn der Netzzugang
für erneuerbare Energien zusätzlich über neue Regeln im
Erneuerbare-Energien-Gesetz erzwungen werden muss,
der Chef der Bundesnetzagentur aber gleichzeitig neue
Kohlekraftwerke fordert, weil angeblich Strom fehlt.
Ab dem nächsten Jahr soll die Anreizregulierung den
Wettbewerb auch auf der Netzebene ermöglichen. Ich
sage Ihnen voraus, dass die Regelung das Aus für viele
Stadtwerke bedeutet und sie den Energiemonopolisten in
die Hände spielt. Am Ende stehen dann höhere Energiepreise und weniger kommunale Selbstversorgung und
damit noch weniger Wettbewerb.
Die Linke fordert deshalb die Überführung der großen Strom- und Gasnetze in die öffentliche Hand.
({2})
- Ja, Herr Pfeiffer, immer noch. Sie werden es so lange
hören, bis es so weit ist. Wir, die Linke, wollen nämlich
eine Energieversorgung, die sozial und ökologisch ist.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Kerstin Andreae von
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der Bericht zieht nach der Änderung des Energiewirtschaftsgesetzes aus dem Jahr 2005 und den damit
verbundenen grundlegenden neuen Rahmenbedingungen
zur Schaffung von mehr Wettbewerb Bilanz. Mehr Wettbewerb im Energiebereich ist sinnvoll für die Verbraucher, um die dringend notwendige Wende in der Energiepolitik zu unterstützen. Für den Wettbewerb sind mehr
Anbieter, mehr Wettbewerber und eine stärkere Dezentralisierung notwendig.
({0})
Die unterschiedlichen Instrumente zur Sicherung des
Wettbewerbs sind bereits angesprochen worden; ich erwähne die Regelung des Netzzugangs. Ich erkenne die
Arbeit der Bundesnetzagentur durchaus an, weise aber
darauf hin, dass in dem Bericht in vielen Punkten Defizite
im Zusammenhang mit dem potenziellen Netzzugang angesprochen werden. Der Bericht ist auch hinsichtlich der
zukünftigen Aufgaben und Herausforderungen sehr differenziert.
Ein weiterer Punkt ist die Entgeltkontrolle mit ihren
preisdämpfenden Effekten. Wie Sie wissen, haben wir
Sie im Bereich der Anreizregulierung unterstützt. Wir
müssen aber anerkennen, dass die Gewinne der Energieversorgungsunternehmen nach wie vor stetig steigen, genauso wie die Energiekosten. Das ist durchaus ein Signal, dass es uns nicht gelungen ist, für Wettbewerb auf
dem Energiemarkt zu sorgen.
({1})
Die Änderungen des Energiewirtschaftsgesetzes waren
durchaus sinnvoll. Aber es ist keine Zeit, innezuhalten.
Wir müssen in sehr vielen Punkten deutlich weiterkommen, was den Wettbewerb auf dem Energiemarkt angeht.
Ich komme nun zu der Frage - das wurde teilweise
schon angesprochen -, wie wir mit den großen Übertragungsnetzen umgehen sollen. Nach wie vor verblüfft
mich, dass die Bundesregierung den sogenannten dritten Weg, den Kompromissvorschlag, der von Brüssel
wieder zurückgewiesen wurde - Frau Kopp hat darauf
aufmerksam gemacht -, als Erfolg feiert. Angesichts der
Tatsache, dass die Energieversorgungsunternehmen selber sagen: „Wir verkaufen unsere Netze“, ist es eine Herausforderung und eine Zukunftsaufgabe, sich darüber
Gedanken zu machen, wer in Zukunft diese Netze verwalten soll. Es ist seltsam, dafür zu kämpfen, dass die
Energieversorgungsunternehmen ihre Netze behalten
dürfen, vor allem wenn diese Unternehmen ihre Netze
verkaufen wollen. Dass Sie sich über die Frage, wer in
Zukunft die großen Übertragungsnetze verwalten und
organisieren soll, keine Gedanken machen, ist mir angesichts der Tatsache, dass es sich hier um eine der
ganz großen Systeminfrastrukturen handelt, ein völliges Rätsel. Sie kommen den Aufgaben, die Sie dringend
angehen müssen, nicht nach.
({2})
Natürlich haben Sie recht, wenn Sie auf die enorme
soziale Herausforderung bei den Energiepreisen hinweisen. Wie wir wissen, gibt es Haushalte, die angesichts
der steigenden Energiepreise, insbesondere angesichts
der steigenden Heizkosten, in wirkliche Schwierigkeiten
kommen. Darüber müssen wir uns Gedanken machen.
Darüber gibt es morgen eine Debatte. Wir Grüne halten
nichts von dem Vorschlag, Sozialtarife einzuführen und
das Ganze steuerlich kozufinanzieren.
({3})
Wir müssen aber den betroffenen Haushalten in verstärktem Maße helfen und sie in die Lage versetzen, mit weniger Verbrauch, mit Energieeffizienz und Energieeinsparungen klarzukommen. Das ist eine mittelfristige
Thematik. Zur Lösung kurzfristiger Probleme ist es aber
notwendig, dass wir uns ernsthaft Gedanken - jenseits
von einfachen Vorschlägen - darüber machen, wie wir
gewährleisten können, dass die Menschen in warmen
Wohnungen leben und Mobilität nicht zum Luxusgut
wird. Das ist die nächste große Aufgabe.
Wir brauchen dringend - das fordern wir Grüne - eine
wirklich nachhaltige wettbewerbliche Ausrichtung des
Energiemarktes. Im Übrigen wird sich die Frage nach
den Netzen auch im Gasbereich stellen. Wir werden uns
schon heute nachhaltig darüber Gedanken machen müssen, wie der Gasmarkt zukünftig gestaltet werden soll.
Geben Sie Ihren Kampf um den dritten Weg im Bereich der Entflechtung endlich auf! Machen Sie sich Gedanken über die Schaffung einer Netzgesellschaft! Wir
wollen eine solche Gesellschaft aber anders ausrichten
als die FDP und die öffentliche Hand daran beteiligen.
Ich glaube nicht, dass der notwendige Netzausbau ausschließlich mit privaten Investoren möglich ist. Vielmehr brauchen wir eine Gemeinwohlorientierung.
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, ich
habe immer die Vorschläge des hessischen Ministers
Rhiel unterstützt, wenn es um die potenzielle Zerschlagung von Energieversorgungsunternehmen geht. Wir
müssen uns die Frage stellen, was wir mit Unternehmen
tun sollen, die in marktbeherrschender Stellung sind. Ich
bin enorm enttäuscht darüber, dass man seit dem Tag der
hessischen Landtagswahl nie mehr etwas von den Vorschlägen des Ministers Rhiel gehört hat. Ich fordere Sie
dringend auf, seinen Vorschlägen zu folgen und sich darüber Gedanken zu machen, wie wir mit Unternehmen in
marktbeherrschender Stellung umgehen sollen, und zwar
für mehr Wettbewerb im Sinne der Verbraucherinnen
und Verbraucher, damit wir eine Wende auf dem Energiemarkt hinbekommen.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat der Kollege Dr. Joachim Pfeiffer von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir sprechen heute über die Energienetze. Ich
glaube, wir sind gut beraten, uns auch in der Politik darauf zu konzentrieren, dort zu handeln, wo wir handeln
können, und nicht den Eindruck zu erwecken, als könnten wir in der Tat - das wurde auch heute wieder angesprochen - die Energiepreise insgesamt staatlich regulieren. Dieses wollen wir nicht, und dieses können wir
nicht. Wir haben vor zehn Jahren genau den anderen
Weg beschritten, nämlich den Weg der Marktwirtschaft,
den Weg in den Markt und in die Liberalisierung. Das ist
der Weg in die richtige Richtung, und wir haben einiges
erreicht.
Ich will an dieser Stelle einen Punkt darstellen, der etwas untergeht. Durch das natürliche Monopol der Netze
wurden in der Vergangenheit Monopolrenditen erzielt.
Vor und auch nach 1998 hat der ursprüngliche Ansatz
des verhandelten Netzzugangs nicht funktioniert. Wir
hatten bis zum Jahr 2005 bei den Netznutzungsentgelten
die höchsten Preissteigerungen. Deshalb haben wir im
Jahr 2005 diesen Paradigmenwechsel eingeleitet und die
Regulierung eingeführt. Das war gerade einmal vor drei
Jahren. Ende Juni 2005 ist das letzte Gesetz dazu - noch
unter der rot-grünen Regierung - im Vermittlungsausschuss beschlossen worden. In diesen drei Jahren ist
doch einiges erreicht worden. Ich möchte die Zahlen, die
durchaus beeindruckend sind, nennen.
Die Netznutzungsentgelte beim Strom sind im letzten
Jahr nicht gleichgeblieben, nicht angestiegen, sondern
gesunken. Das heißt: Dort, wo wir bei diesem natürlichen Monopol handeln können, hat die Politik ihre
Hausaufgaben gemacht und dazu beigetragen, dass von
den Netznutzungsentgelten ein dämpfender, ein senkender Impuls auf die Energiepreise - in dem Fall die
Strompreise und auch die Gaspreise - ausgegangen ist.
({0})
Die Netznutzungsentgelte für die Haushaltskunden sind
im letzten Jahr von 7,7 Cent auf 6,7 Cent gesunken. Der
Anteil an den Stromkosten ist von 38 Prozent auf
32 Prozent zurückgegangen. In Euro ausgedrückt: Der
Verbraucher hatte im letzten Jahr wegen der gesunkenen
bzw. nicht erhöhten Netznutzungsentgelte 2,5 Milliarden
Euro mehr in der Tasche. Das ist der Erfolg dieser Regulierung, über die wir heute sprechen.
Wir sprechen heute über den Bericht der Bundesnetzagentur, und diese, Frau Kopp, ist nicht für die Ausführung der GWB-Novelle zuständig; das ist das Kartellamt. Wir sprechen heute nicht über den Erzeugungs- und
den Wettbewerbsbereich, sondern über den Monopolbereich der Netze und darüber, was wir in diesem Bereich
bisher tun konnten.
Wir sind jetzt in der Übergangsphase, in der Ex-ante-Regulierung. Wir kommen jetzt weg von der alten Kostenregulierung und starten im nächsten Jahr mit der Anreizregulierung. Wir simulieren einen Markt in diesen
Netzen, wobei Erlösobergrenzen festgelegt werden und
diejenigen, die sich dort tummeln - wir wollen, dass sich
dort viele tummeln und dass mit neuen Anbietern mehr
Wettbewerb entsteht -, mehr Klarheit haben. Der, der
sich am meisten anstrengt und unter diesen Erlösobergrenzen liegt, kann einen Gewinn erzielen. Insofern setDr. Joachim Pfeiffer
zen wir auch hier die richtigen Anreize, und wir gehen
davon aus - was wissenschaftlich untermauert ist -, dass
wir immer noch Potenzial bei den Netznutzungsentgelten haben und dass wir in den zwei Perioden, in denen
die Anreizregulierung wirkt, die Netznutzungsentgelte
von heute 22 Milliarden Euro auf 18 Milliarden Euro reduzieren können. Wir können dem Verbraucher in diesem Bereich also eine dauerhafte Entlastung versprechen. Das ist durchaus realistisch. Insofern sind wir hier
auf dem absolut richtigen Weg.
Der Verbraucher ist aber auch selber gefordert. Auch
das muss man an dieser Stelle sagen. Konsumentensouveränität heißt, dass man - wie in anderen Bereichen
auch - einen Anbieterwechsel in Betracht ziehen kann.
Wir haben die Rahmenbedingungen so verändert, dass
dieser Anbieterwechsel problemlos möglich ist - ähnlich
wie bei der Telekommunikation. Dort wird diese Möglichkeit von den Verbrauchern bereits in großem Umfang
genutzt, und die entsprechenden Effekte sind eingetreten. Von 1998 bis 2007 haben gerade einmal 2 Millionen
Verbraucher den Anbieter gewechselt. Allein in 2007 haben 4,5 Millionen Verbraucher den Anbieter gewechselt.
Das heißt also, in 2007 haben mehr Bürger den Anbieter
gewechselt als in den neun Jahren zuvor, in denen die Liberalisierung bereits im Gange war.
Insofern kommt Dynamik in diesen Bereich, auch
durch - Kollege Hempelmann hat das bereits angesprochen - die Marktöffnung beim Zähler- und Messwesen,
die wir in der letzten Sitzungswoche in zweiter und dritter Lesung verabschiedet haben. Zukünftig weiß der Verbraucher genau, was er verbraucht: Er kann in jeder Sekunde mithilfe der intelligenten Zähler nachvollziehen,
mit welchen Geräten er wie viel Strom verbraucht und
was ihn das kostet. Dann kann er entsprechend reagieren. Darauf haben wir hingewirkt; und ab 2010 werden
neue, lastabhängige Tarife angeboten werden können.
Herr Kollege Pfeiffer, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Koppelin?
Ja, selbstverständlich gerne.
Bitte schön.
Herr Kollege, ich habe Ihnen ja nun die ganze Zeit zugehört: Sie haben auf der einen Seite von den Entlastungen gesprochen, die angeblich für die Verbraucher eingetreten sind. Auf der anderen Seite haben Sie in Ihrer
Rede die Verbraucher aufgefordert, auch etwas zu tun.
Sie haben gerade dargestellt, dass in Zukunft jeder Verbraucher nachvollziehen kann, was er verbraucht.
Was nutzt aber das ganze Sparen - das sage ich einmal sehr hart -, wenn der Staat ständig abkassiert? Auch
Sie haben ja als Abgeordneter der Koalition - ich nenne
nur die Mehrwertsteuererhöhung - kräftig abkassiert und
beim Verbraucher in die Tasche gegriffen, sodass er mit
Sparen teilweise gar nicht mehr dagegen ankommt. Andere Bereiche, die nicht direkt hierher gehören - zum
Beispiel die Streichung der Entfernungspauschale -, will
ich gar nicht weiter erwähnen. Ich will nur eines feststellen: Wenn Sie so weiterreden, dann schaffen Sie noch
mehr Politikverdrossenheit; denn die Leute draußen
glauben Ihnen das nicht.
({0})
Herr Kollege, ich habe Tatsachen genannt, die entlastende Wirkung haben. Aber Sie haben völlig recht - diese
Anmerkung fehlt in keiner meiner Reden; das können
Sie in jedem Protokoll nachlesen -, dass die staatlich administrierten Preise das Ihrige getan haben. In der Regierungszeit von Rot-Grün wurde der staatlich administrierte Anteil an den Stromkosten von 25 Prozent auf
41 Prozent erhöht. Seither haben wir es nicht geschafft
- auch nicht in der Großen Koalition -, diesen staatlich
administrierten Anteil zurückzuführen.
({0})
Das ist Realität, das ist richtig. Aber seither wurden
keine weiteren Erhöhungen vorgenommen. Die Stromsteuer ist seither nicht erhöht worden.
Allerdings sind in diesem Zusammenhang andere
Dinge zu erwähnen: In der letzten Woche haben wir mit
großer Mehrheit die Gesetze zu erneuerbaren Energien
und Kraft-Wärme-Kopplung verabschiedet. Dort heißt
es, dass das Umsteuern letztlich, volkswirtschaftlich betrachtet, richtig und sinnvoll ist, aber, betriebswirtschaftlich betrachtet, zunächst über die Umlage mehr kostet.
Mittel- und langfristig bringt es uns aber Versorgungssicherheit und auch eine Veränderung der Energieerzeugungsstruktur, über die wir heute ja nicht sprechen.
Insofern ist es richtig: Es gibt selbstverständlich auch
Komponenten, die den Energie- und den Strompreis beeinflussen, die in die andere Richtung tendieren. Das haben wir staatlich und politisch zu verantworten. Das haben auch Sie mit zu verantworten.
({1})
- Ich bin noch nicht fertig mit der Beantwortung Ihrer
Frage.
({2})
Die Fragen und Antworten sollen kurz und präzise
sein. Bei der Antwort soll nicht eine neue Rede gestaltet
werden.
({0})
Sie sind zufrieden, gut.
Ich will das einfach einmal darstellen, das gehört auch
dazu: Man darf eben nicht nur pauschal sagen - da
würde man das ja über einen Kamm scheren -: Die Energiepreise gehen nur nach oben. - Das ist richtig, die anderen Komponenten, die dieses überlagern, wirken in
diese Richtung. Es gibt aber auch konkrete Handlungsmöglichkeiten, die wir nutzen.
Wir sind aber noch lange nicht am Ende. Was ist weiter zu tun? Ich nenne wieder einmal das natürliche Monopol der Netze. Heute gibt es noch vier Regelzonen
beim Strom. Davon kommen wir auch im Rahmen der
Überlegungen auf europäischer Ebene jetzt weg. In diesem Bereich erwarte ich weitere Kostensenkungspotenziale.
Wir werden die Marktgebiete beim Gas weiter reduzieren. Die Ursprungsüberlegung der Marktteilnehmer
in 2005 war: 29 Marktgebiete. Dann waren es in 2006
19 Marktgebiete. Wir haben heute 14 Marktgebiete. Im
Herbst dieses Jahres werden wir 8 Marktgebiete haben.
Auch da sehe ich das Ende der Fahnenstange noch nicht
erreicht. Es gibt dort also ebenfalls weitere Optimierungspotenziale.
Es darf aber nicht nur - das ist bereits angeklungen;
ich sage es in aller Deutlichkeit - um den Preis gehen,
sondern es muss auch um Versorgungssicherheit, um
Netzausbau gehen, auch im Hinblick auf erneuerbare
Energien. Dieser Ausbau muss stattfinden; denn wir
müssen unsere Versorgungssicherheit - sie ist mit die
beste in der Welt - gewährleisten. Das heißt, wir müssen
Investitionsrahmenbedingungen schaffen, die Investitionen in die Netze weiterhin möglich machen.
Frau Andreae, wir wollen eben nicht, dass der Staat
diese Investitionen tätigt. Den VEB „Netz“, den die Kollegen von der SED hier vorschlagen, wollen wir nach
wie vor nicht.
({0})
Deshalb wird es privatwirtschaftliche Lösungen geben.
Wir begleiten die Suche nach ihnen sehr intensiv; das
Ganze kommt jetzt in Bewegung. Wir wollen langfristig
privates Kapital mobilisieren und staatliche Rahmenbedingungen im Bereich der Regulierung so organisieren,
dass dieses Kapital optimal eingesetzt wird und diesen
Netzausbau und diese Versorgungssicherheit gewährleistet. Insofern sind wir auf dem richtigen Weg, was die
Netze anbelangt.
Wenn unsere Nationalmannschaft ihre Netzaufgaben
heute Abend erfüllt und so oft ins richtige Netz schießt,
wie wir es bei der Anreizregulierung tun, dann sind wir
auf einem guten Wege.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat der Kollege Klaus Barthel von der SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Wir haben gehört: Die Bedeutung der Netze ist nicht zu unterschätzen. Man muss
sich klar werden, worüber wir reden - hier geht nämlich
vieles durcheinander -: 80 Prozent der gesamten Netzkosten der deutschen Stromverteiler und Netzbetreiber
unterliegen der Regulierung durch die Bundesnetzagentur. Dabei handelt es sich um ein Umsatzvolumen von
20 bis 25 Milliarden Euro pro Jahr. Die Netzkosten machen für die privaten Endverbraucher im Durchschnitt
rund ein Drittel des Strompreises aus. Diese Kosten werden reguliert.
In Ergänzung - nicht als Widerspruch - zu dem, was
Herr Dr. Pfeiffer und Rolf Hempelmann vorhin vorgetragen haben, muss man den Blick noch einmal darauf lenken, dass die Erfolge dieser Regulierung durch die Bundesnetzagentur leider kaum spürbar sind, weil sie durch
die Preisexplosion bei den Energierohstoffen und auch
durch die Strukturen auf dem Energieerzeugungsmarkt
überkompensiert werden.
Auch in der Energieproduktion liegt der Verdacht
nahe, dass Marktmacht ausgenutzt wird, und zwar nicht
von einem Monopol, sondern von einem Oligopol.
Schon in den ersten zehn Jahren seit der Liberalisierung,
also von 1995 bis 2005, hat der Konzentrationsgrad in
der Stromerzeugung stark zugenommen und überschreitet längst alle GWB-Schwellenwerte deutlich. Wenn wir
Prognosen glauben, die hier im Umlauf sind, dann
müssen wir davon ausgehen, dass von den derzeit noch
1 000 Energieversorgungsunternehmen in Deutschland
in ein paar Jahren vielleicht bloß noch 150 übrig sind.
Bei aller Liebe zur Regulierung von Netzen dürfen
wir den Blick auf diese Zusammenhänge natürlich nicht
verlieren, ohne dabei allerdings die Bedeutung der Netze
zu unterschätzen. Es kann nicht sein, dass die Bundesnetzagentur jedes Netzentgelt bis auf die zweite Kommastelle prüft und kürzt, dass wir darüber hier stundenlang diskutieren, während sich die Energiekonzerne
gleichzeitig an anderer Stelle mehrfache Beträge, die
weder etwas mit moderner Energieerzeugung noch mit
fairem Wettbewerb noch mit Investitionen zu tun haben,
in die Kassen stopfen.
Ich muss einfach darauf hinweisen: Zwischen 1998
und 2005, also schon vor der Gewinnexplosion in den
letzten beiden Jahren - insbesondere in den letzten Monaten -, haben es die Stromunternehmen geschafft, ihre
Nettogewinne zu verdoppeln. Im selben Zeitraum sind
die jährlichen Investitionen um ein Viertel gekürzt worden. Gleichzeitig malen die Stromkonzerne jetzt das Gespenst einer Versorgungslücke an die Wand. Ich will hier
einfach einmal Zweifel anmelden, ob wirklich der Widerstand aus der Bevölkerung maßgeblich für die angebliche Investitionsblockade beim Bau neuer Kraftwerke
ist. Passt es nicht ganz gut ins Konzept der Energieerzeuger, das Angebot knapp zu halten? Mit diesem
Knappheitsargument können sie gleich vier Fliegen mit
einer Klappe schlagen: Sie können sich erstens aus der
Verantwortung für unterbliebene Investitionen stehlen.
Sie können zweitens die Preise hochhalten. Sie können
drittens alte und abgeschriebene Kraftwerke profitträchtig in Betrieb halten. Sie können viertens für die Option
Kernkraft Druck machen. - Ich frage mich nur, ob dieses
Zurückweichen vor der geballten Bevölkerungsmacht
bei den Energiekonzernen auch dann noch gilt, wenn es
darum gehen sollte, neue Standorte für Kernkraftwerke
zu suchen. Da lässt die Vergangenheit nichts Gutes ahnen.
Ich möchte zum Schluss auf ein Problem hinweisen,
über das heute noch nicht gesprochen worden ist, das
aber nicht befriedigend gelöst ist. Es geht bei der Anreizregulierung, die jetzt kommt, um die Anerkennung von
Lohn- und Lohnnebenkosten. Es scheint zwar klar zu
sein, dass vorhandene Lohn- und Lohnnebenkosten sowie Versorgungslasten als unbeeinflussbare Kosten bei
der Regulierung anerkannt werden müssen. Aber um die
Zukunft von Tarifverträgen und Betriebsvereinbarungen
muss man sich große Sorgen machen.
Wenn ich im Tätigkeitsbericht der Bundesnetzagentur
lese, dass - wörtliches Zitat - „durch Kosteneinsparungen in keinem Fall die wesentlichen Arbeitsbedingungen
der regulierten Teilbereiche der Energiewirtschaft erheblich unterschritten werden dürfen“, gehen bei mir die
Alarmglocken an. Ich erinnere daran, dass die Bundesnetzagentur sich trotz erheblichen faktischen und politischen Drucks erst nach zehn Jahren in der Lage gesehen
hat, im Postbereich, für den sie genauso zuständig ist,
die üblichen Arbeitsbedingungen überhaupt erst einmal
festzustellen, also festzustellen, welches Ausmaß zum
Beispiel das Lohndumping in diesem Bereich hatte. Bis
heute warten wir darauf, dass die üblichen Arbeitsbedingungen, wie es das Gesetz vorsieht, von der Bundesnetzagentur durchgesetzt werden.
Vor diesem Hintergrund verstehe ich die Sorgen vieler Beschäftigter - und ihrer Gewerkschaften -, dass die
Netzregulierung auf die Dauer ihre Arbeitsplätze und
ihre Arbeitsbedingungen gefährdet; denn der Faktor Arbeit scheint in der Kostenrechnung bei der Regulierung
die letzte Variable in den Unternehmen zu sein, wenn
Kapitalverzinsung und Mindestqualität erst einmal festgeschrieben und definiert sind. Wir machen uns da große
Sorgen. Wir wollen nicht zulassen, dass über die Regulierung die Tarifautonomie in diesen Industrien ausgehebelt wird.
({0})
Wir werden nicht zusehen, wie auf ganz unterschiedlichen Wegen die Endverbraucher einerseits und die Beschäftigten andererseits die Lasten der Liberalisierung
alleine tragen. Es wäre meines Erachtens ein wichtiger
Schritt, wenn wir erreichen würden, dass die Bundesnetzagentur von Amts wegen Untersuchungen über die
ökonomischen Kennziffern des Energiesektors wie Umsätze, Beschäftigtenzahl, Lohnkostenanteil, Lohnstückkosten, Produktivitäts- und Gewinnentwicklung, Grad
der Konzentration sowie über übliche Arbeitsbedingungen schon jetzt anstellen und veröffentlichen würde.
Meine Bitte an das Bundeswirtschaftsministerium lautet
also, dies von der Bundesnetzagentur einzufordern. Ich
hoffe, dass wir beim nächsten Tätigkeitsbericht bzw. bei
der nächsten Stellungnahme der Bundesregierung dazu
etwas lesen können, weil wir sonst an die Grundprobleme des Energiesektors nicht herankommen.
Herr Kollege!
Mein letzter Satz, Frau Präsidentin.
Bitte.
Meine Hoffnung ist, dass die Arbeit der Bundesnetzagentur, auch von den Netzen ausgehend, dazu beitragen
kann, dass es mehr Anbietervielfalt, mehr regenerative
Energieerzeugung, mehr Investitionen und Innovationen
sowie sichere Arbeitsbedingungen und Arbeitsplätze
gibt.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/9000 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
EU-Übersetzungsstrategie überarbeiten - Nationalen Parlamenten die umfassende Mitwirkung in EU-Angelegenheiten ermöglichen
- Drucksache 16/9596 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({0})
Finanzausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Michael Roth, SPD-Fraktion.
({1})
I will do my very best, dear colleague. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bislang gehören zu den Voraussetzungen für die Wählbarkeit eines
Bundestagsabgeordneten zum einen die Volljährigkeit
und zum anderen die deutsche Staatsbürgerschaft. Bislang gehört nicht zu unseren Einstellungsvoraussetzungen, dass wir fließend in Wort und Schrift Englisch oder
Französisch beherrschen.
({0})
Wenn es nach der bisherigen Übersetzungspraxis der
EU-Kommission geht, müsste man dies für alle Bundestagsabgeordneten und für viele andere Abgeordnete in
zahlreichen nationalen Parlamenten zur Voraussetzung
machen. Es geht uns also, liebe Kolleginnen und Kollegen, mitnichten um Sprachchauvinismus. Es geht uns
schlicht und ergreifend darum, dass wir unsere Arbeit
machen wollen.
({1})
Wir wollen unserer europapolitischen Verantwortung gerecht werden. Diese Möglichkeit ist momentan nicht gegeben.
Der Kollege Thul und ich hatten kürzlich das Vergnügen, gemeinsam mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
nach Brüssel zu fahren und mit dem zuständigen Kommissar Orban und dem stellvertretenden Generalsekretär
der EU-Kommission zu sprechen, und zwar nicht nach
dem Motto: Außer Spesen nichts gewesen. Wir haben
unsere Position sehr deutlich gemacht und auch die
Hand zum Dialog ausgestreckt. Aber es gibt bislang keinerlei Bereitschaft vonseiten der EU-Kommission, auf
die Bedürfnisse der nationalen Parlamente einzugehen.
Es geht ja nicht allein um uns, um die deutsche Sprache. Es geht um alle nationalen Parlamente, die vor dem
Hintergrund der neuen Kompetenzen, die der Vertrag
von Lissabon eröffnet, ihrer Verantwortung gerecht werden wollen. Es kann eben nicht sein, dass Dokumente,
die für unsere parlamentarische Arbeit von herausgehobener Bedeutung sind, mit denen wir uns im Haushaltsoder Wirtschaftsausschuss, im EU-Ausschuss oder wo
auch immer beschäftigen, nicht in unserer Sprache vorliegen.
Bislang gibt es 47 Dokumente, bei denen eine entsprechende Übersetzung noch aussteht. Auf unsere Bitte
an die Adresse von Brüssel, man möge sie doch bitte
übersetzen, bekamen wir bezüglich 23 Dokumenten die
klare und definitive Antwort: Nein, diese werden nicht
in Übersetzung vorgelegt.
Die EU-Kommission macht sich in dieser Frage unglaubwürdig. Man kann nicht auf der einen Seite von
uns erwarten, dass wir uns umfassend, frühzeitig, verantwortungsbewusst, konstruktiv in das europäische Gesetzgebungsverfahren einbringen, aber uns auf der anderen Seite nicht mit dem notwendigen Rüstzeug versehen.
Hier müssen wir nacharbeiten. Deswegen bin ich allen
Fraktionen, vor allen Dingen auch den geschätzten Kolleginnen und Kollegen der Oppositionsfraktionen, von
den Grünen und der FDP, außerordentlich dankbar, dass
sie bereit waren, uns in diesen gemeinsamen Bemühungen zu unterstützen
({2})
und damit deutlich zu machen, dass es hier nicht um irgendeine Fraktionsangelegenheit geht, sondern dass wir
als Deutscher Bundestag uns insgesamt in dieser Frage
mit einem Problem konfrontiert sehen.
Das ist nicht allein eine Aufgabe des Deutschen Bundestages. Hier ist auch die Bundesregierung gefragt. Es
hat eine Reihe von Briefen von Bundesaußenminister
Steinmeier, der sich in dieser Frage sehr engagiert hat,
gegeben. Es hat offensichtlich auch schon ein Gespräch
zwischen Kommissionspräsident Barroso und der Bundeskanzlerin gegeben. All dies hat aber noch nicht zu
dem Ergebnis geführt, das wir uns wünschen. Deswegen
appellieren wir noch einmal an die Bundeskanzlerin,
dieses Anliegen zur Chefsache zu machen. Offensichtlich ist der zuständige Kommissar nicht einflussreich genug, um das durchzusetzen, was er möglicherweise
selbst eingesehen hat: So geht es nicht weiter.
({3})
Dem Bundestag wurde schon eine Zusicherung gegeben. Kommissar Orban war vor geraumer Zeit im EUAusschuss und hat mit uns das Gespräch gesucht. Damals hat er eine neue Übersetzungsstrategie angekündigt. Auf diese Übersetzungsstrategie warten wir noch
heute.
Auch bei der Brüssel-Begegnung ist uns nicht in Aussicht gestellt worden, dass es diese Übersetzungsstrategie noch in diesem Jahr gibt. Das ist ein Umgang, der
aus unserer Sicht inakzeptabel ist. Was für einen Bundestagsabgeordneten gilt, sollte auch für die EU-Kommission gelten: Versprechen, die man gegeben hat, sollte
man nach Möglichkeit auch halten. Wenn man dazu
nicht in der Lage ist, sollte man zumindest so fair sein,
zu erklären, woran das liegt. Möglicherweise liegt es ja
an der irischen Generalsekretärin der EU-Kommission,
die sagt: Unsere Lingua franca ist Englisch, und in diesem Sinne sollen sich alle anstrengen. - Das kann ja
sein. Aber dann soll man uns das, bitte schön, auch sagen.
Ich lade auch alle anderen nationalen Parlamente ein,
uns in diesem Bemühen zu unterstützen. Denn es geht
hier nicht allein um ein Anliegen der Deutschen; die
Kolleginnen und Kollegen in Italien, Slowenien, Polen
oder auch Portugal stehen vor ähnlichen Problemen. Wir
sollten zumindest am Rande erwähnen, dass Deutsch die
meistgesprochene Muttersprache ist,
({4})
Michael Roth ({5})
sich dies gleichwohl nicht in der Sprachenpraxis der EUKommission und erst recht nicht des Ministerrats widerspiegelt. Wir haben einmal nachgefragt, wie es denn nun
eigentlich mit den Verfahrenssprachen aussieht. Bei der
Kommission sind das neben Englisch immerhin noch
Französisch und Deutsch. Aber in welche Sprachen wird
übersetzt, und wer spricht in der EU-Kommission eigentlich noch Deutsch? Uns wurde gesagt, dass gerade
einmal 3 bis 2,5 Prozent aller Ursprungstexte der Kommission in Deutsch verfasst werden. Circa 70 Prozent
der Ursprungstexte sind in Englisch verfasst. Das sollte
uns sensibler dafür machen, dass zur kulturellen Vielfalt
in Europa auch die sprachliche Vielfalt gehört.
Es kann nicht angehen, dass wir zwar in Sonntagsreden über die kulturelle Vielfalt sprechen, dass das aber in
der Sprachenpraxis in Brüssel überhaupt keine Rolle
spielt. Deshalb gibt es diesen Antrag und unser gemeinsames Bemühen. Vielleicht kann unser gemeinsamer Antrag dazu beitragen, dass zum einen die Bundesregierung
und die Bundeskanzlerin in ihren Aktivitäten unterstützt
werden, zum anderen vielleicht aber auch ein intensiver
Prozess des Nachdenkens bei der EU-Kommission einsetzt. Nochmals ein herzliches Dankeschön an alle. Ich
würde mich freuen, wenn wir dies durch eine gemeinsame Beschlussfassung eindrucksvoll dokumentieren
könnten.
Vielen Dank.
({6})
Für die FDP-Fraktion gebe ich dem Kollegen Michael
Link das Wort.
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Durch
das irische Nein zum Vertrag von Lissabon fehlen dem
Europaparlament und dem Bundestag all die Instrumente, die uns geholfen hätten, die demokratische Willensbildung in der EU zu verbessern. Umso wichtiger ist
jetzt, dass der Bundestag die Mitwirkungsrechte wahrnimmt, die er in EU-Angelegenheiten grundgesetzlich
bereits hat. Deshalb brauchen wir, lieber Kollege Roth,
lieber Michael, diesen interfraktionellen Antrag. Unsere
Parlamentsrechte können wir nur wahrnehmen, wenn
wir grundsätzlich alle EU-Dokumente auch in einer verhandelbaren Fassung, also auf Deutsch, erhalten. Was
für das EP gilt, wo in alle Amtssprachen übersetzt wird,
muss auch für die nationalen Parlamente gelten: EU-Dokumente müssen in der Landessprache vorliegen.
({0})
Wir unterstreichen mit diesem Antrag, dass der Bundestag sich nicht auf den Sankt-Nimmerleins-Tag vertrösten lässt. Der Antrag hat zwei Adressaten: die Kommission, die für die Übersetzungen sorgen muss, und die
Bundesregierung, die das endlich in der EU durchsetzen
muss. Seien wir ehrlich: Noch keine Bundesregierung
der vergangenen Jahrzehnte hat sich bei diesem Thema
mit Ruhm bekleckert. Die jetzige muss deshalb erst recht
endlich handeln, Herr Staatsminister, und zwar nicht nur
durch den ständigen Vertreter in Brüssel oder die Staatssekretäre und Staatsminister, sondern - da hat Michael
Roth völlig recht - auf der Chefebene. Sonst bewegt sich
die Kommission nicht.
Das Kostenargument, das die Kommission ins Feld
führt, ist nicht überzeugend; denn das nötige Geld wäre
da. Jedes Jahr fließen enorme nicht benutzte Gelder zurück an die Mitgliedstaaten. Auch sonst fielen mir im
EU-Haushalt viele Bereiche ein, in denen man Geld umleiten könnte. Dann aber wäre es Sache der Mitgliedstaaten, bei den Haushaltsverhandlungen Druck zu machen,
dass das Geld richtig eingesetzt wird.
({1})
Da ist bei der Bundesregierung leider Fehlanzeige.
Die Kommission spricht von ihren verstärkten Kommunikationsbemühungen gegenüber der Bevölkerung.
Schön; doch wo waren diese im Falle Irlands? Sicher ist
es richtig, wenn die Kommission Europas Erfolge öffentlichkeitswirksam darstellen will. Falsch ist es aber,
den zweiten Schritt vor dem ersten zu machen. Statt im
Nachhinein viel Steuerzahlergeld an Werbeagenturen zu
zahlen, um die unverständlichen Gesetzestexte zu vermitteln, wäre es doch viel wichtiger, dass die Kommission frühzeitig ein verständliches Fundament an gut
übersetzten relevanten EU-Vorlagen liefert. Die FDP
fordert deshalb die Bundesregierung nachdrücklich auf,
im kommenden EU-Haushalt 2009 - da sitzen Sie mit
am Verhandlungstisch - auf eine Umschichtung von Mitteln zugunsten der Übersetzungsdienste hinzuwirken.
({2})
Daneben müssen wir unsere jeweiligen Partnerfraktionen im Europäischen Parlament in die Pflicht nehmen;
denn sie haben schließlich beim Haushalt mitzureden. Die
Kollegin Jutta Haug, SPD, ist die Hauptberichterstatterin
im Europaparlament für den Haushalt der EU 2009. Der
Kollege Reimer Böge, EVP/CDU, ist Vorsitzender des
Haushaltsausschusses im Europäischen Parlament. Ermutigen Sie bitte Ihre Kollegen, dass hier endlich die
richtigen Prioritäten gesetzt werden.
Leider werden deutsche Nichtregierungsorganisationen und deutsche Mittelständler gegenwärtig durch die
Kommission regelmäßig benachteiligt, zum Beispiel
durch die bevorzugte Verwendung von Englisch/Französisch in Wirtschaftsdatenbanken, bei Ausschreibungen
und generell bei Internetauftritten in der EU. So kritisierte kürzlich der Europäische Bürgerbeauftragte, dass
einer deutschen Nichtregierungsorganisation, die Hilfe
für Folteropfer anbietet, verwehrt wurde, ihre Bewerbung in deutscher Sprache abzugeben.
({3})
Es muss Schluss sein mit solch einer Sprachendiskriminierung.
Michael Link ({4})
({5})
Wenn die Kommission mit der Antidiskriminierung
Ernst machen will, dann sollte sie nicht immer neue
Richtlinien zur Antidiskriminierung vorlegen, sondern
erst einmal vor der eigenen Tür kehren. Immerhin handelt es sich beim Deutschen um die meistgesprochene
Muttersprache in der EU.
({6})
Es ist klar, dass wir uns auch an die eigene Nase fassen müssen, zum Beispiel hinsichtlich einer stärkeren
Förderung des Beamtenaustausches mit EU-Institutionen - das ist unsere Aufgabe - und beim Personalaustausch mit anderen Mitgliedstaaten. Seien wir realistisch: Da in den internen EU-Arbeitssitzungen - auch
darauf ist Michael Roth eingegangen - Englisch längst
die Lingua franca, also die Hauptsprache, ist, brauchen
wir neben ins Deutsche übersetzten Dokumenten für unsere Arbeitsebene ein größeres Reservoir deutsch sprechender Top-Beamter, die verhandlungssicher englisch
sprechen, für die Brüsseler Ebene.
({7})
Bei der Entstehung dieses Antrags hofften wir alle
noch auf ein irisches Ja. Nun ist es offen, ob und wann
der VvL, der Vertrag von Lissabon, jemals in Kraft tritt.
Jetzt, wo das Europäische Parlament in der Agrarpolitik
weiterhin keine und in der Innen- und Justizpolitik nur
geringe Rechte hat, wird es umso wichtiger, dass der
Bundestag seine im Grundgesetz festgelegten Rechte
wahrnimmt. Wir im Bundestag sind jetzt die einzigen,
die tatsächlich durchgängig parlamentarisch kontrollieren können.
An die Kollegen der Regierungsfraktionen gerichtet,
frage ich: Was nützen uns die komplettesten und bestübersetzten EU-Vorlagen, wenn Sie hinterher nicht bereit sind, die deutschen Minister vor deren Stimmabgabe
im Rat politisch zu binden?
({8})
Wackere Kollegen aus den Fachausschüssen hatten das
im Übrigen schon mehrfach versucht, zum Beispiel beim
Grünbuch Stadtverkehr, einer aus meiner Sicht klaren
Kompetenzanmaßung der Kommission. Aber jedes Mal,
wenn es ernst wird, werden sie von ihren Fraktionsführungen zurückgepfiffen.
({9})
Das kann und darf so nicht bleiben; das muss sich ändern. Es ist eine fundamentale Frage für den Parlamentarismus.
Die deutsche Haltung zu EU-Vorlagen ist kein Reservat der Exekutive. Der Bundestag muss mehr sein als ein
Notar zur Umsetzung europäischen Rechts.
({10})
Er muss sich, gerade nach Irland, stärker einbringen, was
die Formulierung der deutschen Verhandlungsposition
zu jeder wichtigen neuen EU-Vorlage betrifft.
({11})
Das bedeutet mehr Arbeit für uns alle. Es verlangt aber
vor allem mehr Mut, besonders bei den Fraktionen, die
gerade die Regierung stellen.
Ich danke Ihnen.
({12})
Nächster Redner ist der Kollege Hans Peter Thul,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Werte Kolleginnen und Kollegen! Der vorliegende gemeinsame Antrag von FDP, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen und SPD beschreibt eigentlich eine
Selbstverständlichkeit.
({0})
- Lieber Herr Dr. Dehm, Sie waren nicht in der Lage,
diesen Antrag mitzuformulieren.
({1})
- Sie haben noch Redezeit; dann können Sie Ihre Haltung begründen.
Der vorliegende Antrag beschreibt, wie gesagt, eine
Selbstverständlichkeit. Jedenfalls ist es nach unserem
demokratischen und parlamentarischen Verständnis eine
Selbstverständlichkeit. Wir arbeiten hier gemeinsam auf
der Grundlage eines Mandates, das wir von unseren
Wählerinnen und Wählern erhalten haben. Wir sind diesem Haus und dieser Aufgabe nur unserem Gewissen
folgend und nach bestem Wissen verpflichtet. Dies setzt
aber voraus, dass wir Gelegenheit haben müssen, die
Grundlagen der Entscheidungen, die wir zu treffen haben, sinnerfassend, das heißt Wort für Wort, zu prüfen
und abzuwägen, um dann zu einer Entscheidung zu
kommen. Das können wir - seien wir ehrlich - am ehesten in unserer Muttersprache: Das ist die Amtssprache
Deutsch.
Dies gilt im Übrigen für jede innerhalb der Europäischen Union gesprochene Sprache. Insofern gilt das, was
wir hier fordern, im übertragenen Sinne selbstverständlich auch für alle anderen Sprachen. Daher richtet sich
unser Antrag weder gegen irgendeinen anderen Mitgliedstaat, noch diskriminieren wir mit diesem Antrag
die Verwendung einer anderen innerhalb der Gemeinschaft zukünftig oder jetzt gesprochenen Sprache.
Im Übrigen sollten wir alle - insbesondere am Vorabend der kommenden Wahl - daran interessiert sein, die
Akzeptanz der EU-Regelungen durch die Bürgerinnen
und Bürger zu erhöhen, die Entscheidungen nachvollziehbar zu machen und in dieser Form darüber zu diskutieren. Daneben erwartet und wünscht doch gerade die
EU-Kommission eine stärkere Mitwirkung und ein stärkeres Einmischen der nationalen Parlamente.
Diese Selbstverständlichkeiten haben wir gemeinsam
im vorliegenden Antrag formuliert und in der Zwischenzeit, wie der Kollege Roth schon vorgetragen hat, in
Brüssel dem zuständigen EU-Kommissar Leonard
Orban und auch dem stellvertretenden Generalsekretär
Jouanjean vorgetragen und erläutert. Daneben hatten wir
Gelegenheit, außerparlamentarischen Interessenverbänden - etwa dem Goethe-Institut - dieses Anliegen vorzutragen.
Ich darf vorwegnehmen: Wir haben in allen Gesprächen über keinen einzigen Einwand diskutieren müssen,
der unserem Antrag entgegenstünde. Im Gegenteil, die
derzeit geltende Verordnung 1/58 benennt ausdrücklich
alle Amtssprachen als gleichrangig. Derzeit werden innerhalb der Gemeinschaft 23 Sprachen gesprochen.
Nach unserer Überzeugung gilt das, was wir fordern
- ich wiederhole das gerne an dieser Stelle -, für alle
zurzeit und zukünftig gesprochenen Sprachen gleichermaßen.
({2})
Des Weiteren sind wir uns einig, dass die Übersetzungsleistungen alle beratungs- und entscheidungsrelevanten Dokumente umfassen müssen, mithin also auch
alle Anlagen und alle Anhänge. Nur wir selbst können
entscheiden, welche Informationen für unsere Entscheidungen relevant sind und Bedeutung haben. Die Abwägung zwischen der Notwendigkeit und der rechtlichen
Verpflichtung zur Übersetzung eines Dokumentes ist Sache des nationalen Parlamentes und eben nicht Sache der
Kommission in Brüssel.
Unser Eindruck ist vielmehr, dass viele Dokumente
schematisch und ohne Ansehen der inhaltlichen Relevanz herabgestuft werden. Zurzeit können - auch das
wurde schon vom Kollegen Roth gesagt - nahezu
50 Vorgänge nicht vom deutschen Parlament abschließend bearbeitet werden, weil die entsprechenden Dokumente und Anhänge eben nicht in deutscher Sprache
vorliegen. Das ist für unsere Arbeit eher hemmend und
führt zu vermeidbaren Verzögerungen bei anstehenden
Entscheidungen. Dies ist aufgrund der zunehmenden
Dynamik im globalen Wettbewerb nicht hinnehmbar;
denn wir brauchen flinke Lösungen und kein langatmiges Zuwarten.
Die Kosten der Übersetzungsleistungen fallen für alle
Sprachen in etwa gleicher Höhe an. Dies betont Herr
Orban gleich an zwei Stellen in seiner schriftlichen Antwort vom 11. Juni 2008 auf eine entsprechende Anfrage
des Kollegen Gahler aus dem Europäischen Parlament,
wenn er schreibt, dass bei den Übersetzungskosten oder
entsprechenden Kosten an anderer Stelle pro Seite kaum
ins Gewicht fallende Unterschiede anfallen. Weiter heißt
es wörtlich unter der laufenden Nr. 5 in der eben erwähnten Antwort:
Die Kommission sieht keine besonderen Schwierigkeiten und speziellen Probleme, was den Bedarf an
Übersetzungen ins Deutsche und die fristgerechte
Vorlage anbelangt.
Wenn dem so ist, dann gibt es meiner Ansicht nach kein
ernstzunehmendes Argument, das unserem Antrag widerspricht.
({3})
Die in diesem Zusammenhang immer wieder genannten Finanzierungsmittel lassen sich nach unserer Meinung - auch das wurde schon gesagt - durch Umschichtungen in angemessener Höhe im Haushalt 2009
bereitstellen. Wie man den Protokollen entnehmen kann,
haben die Mitglieder unserer Fraktion im Haushaltsausschuss dies wiederholt gefordert.
Der deutsche EU-Kommissar Verheugen unterstützt
die Hinhaltetaktik - an dieser Stelle muss Kritik erlaubt
sein -, indem er seine Reden, wie zuletzt im April dieses
Jahres, ausschließlich in Englisch hält, und das, obwohl
eine Simultanübersetzung möglich gewesen wäre und
die Vorlagen in allen drei Amtssprachen verfügbar waren. Das ist kontraproduktiv und widerspricht dem Gedanken der europäischen Pluralität.
({4})
- Schönen Dank, Herr Dr. Dehm. - Der Gebrauch der
deutschen Sprache bei der Amtsausführung muss für
Herrn Verheugen so selbstverständlich sein wie die Verwendung der französischen Sprache für den französischen Kollegen Barrot. Alles andere ist nach meiner
Überzeugung falsch verstandene Höflichkeit und noch
dazu unnötig.
Ich komme zum Schluss. Lassen Sie mich die wichtigsten Forderungen unseres Antrages wiederholen:
Neufassung der Übersetzungsstrategie noch im laufenden Jahr, eine angemessene parlamentarische Beteiligung bei dieser Ausarbeitung, die vollständige und zeitnahe Bereitstellung aller entscheidungsrelevanten
Dokumente, eine angemessene Mittelbereitstellung in
den Haushalten sowie eine stärkere Förderung und Verwendung der deutschen Sprache in der kulturellen Präsenz und im Arbeitsgebrauch innerhalb der Institutionen
in Brüssel.
Herzlichen Dank.
({5})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Dr. Diether Dehm,
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Hochverehrte Kolleginnen und Kollegen! Es handelt sich bei dem vorliegenden Antrag
nicht um einen gemeinsamen Antrag aller Fraktionen.
Der Ausschluss der Fraktion Die Linke von der Ausarbeitung dieses interfraktionellen Antrages war ein weiteres parteitaktisches Sandkastenspielchen, das mit dem
etwas infantilen Unvereinbarkeitsbeschluss der CDU/
CSU-Fraktion, den mittlerweile alle kennen, zusammenhängt. Dabei wissen Sie, die Sie im EU-Ausschuss sitzen, dass dies unser gemeinsames Anliegen ist.
({0})
Da Sie die Linke nicht dabei haben wollten, mussten
wir uns eine ganz besondere Begründung einfallen lassen:
({1})
Wir sind für die Demokratisierung der Wirtschaft, für die
Vergesellschaftung der Deutschen Bank, der Allianz und
von Daimler nach Grundgesetz und für die Kommunalisierung der Stromkonzerne, also für einen demokratischen Machtverlust bestimmter Eliten. Das war der besondere Teil der Begründung. Vor allem sind wir für die
Demokratisierung des Wissens. Ich zitiere Martin
Luther - das entspricht eher dem Mainstream -, der mit
der Übersetzung der Bibel die Deutungshoheit dem Klerus entrissen und für das gemeine Volk geöffnet hat:
({2})
- Herr Eisel, da Sie sich zu einem notorischen Zwischenrufer bei meinen Reden entwickeln, fällt mir - mit
Verlaub - ein, was ein früherer Bundesaußenminister
mal zu einem früheren Bundestagspräsidenten gesagt
hat. Seien Sie lieber etwas vorsichtiger.
({3})
Jetzt zitiere ich Martin Luther:
Denn man muß nicht die Buchstaben in der lateinischen Sprache fragen, wie man soll deutsch reden
… sondern man muß die Mutter im Hause, die Kinder auf der Gasse, den gemeinen Mann auf dem
Markt darum fragen und denselbigen auf das Maul
sehen, wie sie reden, und darnach dolmetschen, so
verstehen sie es denn und merken, daß man deutsch
mit ihnen redet.
Die Kommission muss zur Kenntnis nehmen, dass die
über 90 Millionen Menschen mit Deutsch als Muttersprache fast 20 Prozent aller Bürgerinnen und Bürger der
EU ausmachen. Darüber hinaus sprechen circa
10 Prozent der EU-Bürgerinnen und -Bürger Deutsch als
Fremdsprache. Zum Vergleich: Nur 13 Prozent der EUBürgerinnen und -Bürger sprechen Englisch als Muttersprache, obwohl Englisch mit 47 Prozent die meistverwendete Sprache in der EU ist. Französisch liegt mit
23 Prozent Verbreitung sogar hinter Deutsch nur auf
Platz drei und ist für 12 Prozent Muttersprache und nur
11 Prozent Fremdsprache.
Ich will Stefan Klein zitieren, der in der FAZ vom
6. Juli 2007 ausführte:
Ob Deutsch eine Wissenschaftssprache bleibt oder
nicht, ist darum keine Frage des Nationalstolzes. Es
geht um viel mehr: um die Demokratie.
Auch deshalb hält die Linke es für falsch, dass die Übersetzungskosten unter Verwaltungskosten subsumiert
werden. Übersetzungskosten sind politische Kosten, sind
Kosten der Demokratie.
Eine quantitative Untersuchung der EU-Kommission
geht davon aus, dass über 18 000 beratungsrelevante
Seiten nachübersetzt werden müssen. Demokratische
Teilhabe müssen wir uns etwas kosten lassen. Es ist
nicht akzeptabel, wenn wir Parlamentarier wichtige Entscheidungen im Deutschen Bundestag anhand von Dokumenten vornehmen sollen, die bestenfalls teilweise
übersetzt sind und hochkomplexe fremdsprachliche
Fachtermini enthalten. Das nötige Kontrollrecht des Parlaments darf nicht dadurch ausgehöhlt werden, dass Parlamentarier nicht alle Dokumente unmittelbar lesen und
verstehen können. Wenn die EU-Kommission den Bitten
des Deutschen Bundestags, Nachübersetzungen vorzunehmen, nicht entsprechen will, müssen wir uns gemeinsam überlegen, wie wir sie dazu zwingen.
Ansonsten kann es nicht verwundern, wenn sich immer mehr Menschen von den undurchschaubaren Vorgängen in Brüssel abwenden. Selbstherrlichkeit kommt
meist vor dem Fall. Auch dies haben die irischen, französischen und niederländischen Volksabstimmungen gezeigt. Es war die Fraktion Die Linke, die stets darauf
hingewiesen hat, dass sich die EU den Völkern öffnen
muss oder in eine Legitimationskrise gerät.
Ich zitiere noch einmal Stefan Klein in der FAZ: „We
are dumber in English.“ „Dumb“ heißt hier nicht nur
„dumm“, sondern auch „tumb“ und „unsensibel“. Klein
schreibt - ich zitiere -:
Weder Studenten noch Lehrern ist das Problem gewöhnlich bewusst, weil alle ihre Gewandtheit im
Englischen überschätzen.
Das Patchworkenglisch an europäischen Hochschulen
und Schulen hat sich jedenfalls nicht als nachhaltig-zivilisatorischer Fortschritt erwiesen.
Sprache ist nicht phonetisiertes Denken, sondern präzisiert und schärft den Denkvorgang. Wo jemand den genauen Begriff nicht findet, kann er auch nicht genau begreifen. Shakespeare formuliert das so: „Ich habe das
Wort vergessen, und körperlos taumelt der Gedanke zurück ins Prunkgemach der Schatten.“
Auch darum sind 53 Prozent der Bevölkerung laut einer
Allensbach-Umfrage für eine stärkere Verwendung der
deutschen Sprache: für kulturelle Vielfalt und gegen elitäre Deutungshoheiten in europäischen Fragen.
Die Fraktion Die Linke teilt das mit dem Antrag verfolgte Anliegen. Wir stimmen diesem, wenn auch etwas
elitär zustande gekommenen Antrag zu.
({4})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Rainder Steenblock,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Natürlich haben die beiden Europadiskussionen, die wir
am heutigen Tage führen - heute Morgen über den Vertrag von Lissabon und jetzt über die Übersetzungsstrategie -, etwas miteinander zu tun. Wir haben heute Morgen sehr deutlich gemacht, dass die Menschen in Europa
Schwierigkeiten haben, die EU zu verstehen. Die EU
muss verständlich sein, muss sich verständlich ausdrücken, um verstanden zu werden. Sie muss den Willen haben, verständlich zu sein.
Sprache ist das zentrale Medium, ein Schlüssel für
Verständigung und für Verständnis. Deshalb stehen wir
vor der ganz zentralen Herausforderung, uns als Deutscher Bundestag dafür einzusetzen, dass die EU in all
den Sprachen, die in Europa gesprochen werden, die die
Menschen gebrauchen, um sich über Europa auszutauschen und zu verständigen, um Europa zu verstehen,
kommuniziert. Das ist die Voraussetzung dafür, dass dieses Projekt gelingt, sonst kann sich keiner mit dem, was
wir hier machen, identifizieren.
Wenn Europa, was heute Morgen auch gesagt worden
ist, nicht nur das Projekt der Eliten, sondern auch das
Projekt der Menschen sein will, dann muss es in den
Sprachen der Menschen in Europa kommunizieren. Das
heißt, diese Übersetzungsstrategie ist die Voraussetzung
dafür, dass wir in all den entscheidenden Fragen kommunizieren können. Deshalb haben wir an diesem Antrag gerne mitgearbeitet. Die Opposition, lieber Michael
Roth, bedankt sich bei der Regierungskoalition für die
Unterstützung bei diesem Antrag.
({0})
Wir haben den Charakter gemeinsam so verändert,
dass wir nicht nur über die Förderung der deutschen
Sprache diskutieren, sondern dass es bei dem Thema
Übersetzungsstrategie um ganz Europa geht, das einen
deutschen Kern hat. Wichtig ist uns: Es geht uns hier um
ganz Europa.
Schauen wir uns die Zielgruppen an, um die es in Europa geht. Viele Kollegen haben auf die parlamentarischen Abläufe hingewiesen: Wenn wir als Bundestag
über Entscheidungen diskutieren wollen, die in Europa
anstehen, dann muss das auf Deutsch möglich sein und
dann muss man sich auf Deutsch dazu äußern können.
Dafür sind die Voraussetzungen geschaffen. Wir werfen
der EU vor, dass ihr die Sensibilität fehlt, dies als Problem zu erkennen.
Natürlich hat Diether Dehm recht, wenn er sagt, dass
Übersetzungskosten Demokratiekosten sind. Wenn Europa aus so vielen Ländern mit so vielen kulturellen Hintergründen besteht und wir diese kulturelle Vielfalt in
den Sonntagsreden immer loben, dann müssen wir bereit
sein, für die Kosten, die dadurch entstehen, dass wir
viele Kulturen und Sprachen haben, aufzukommen. Wir
müssen das ernst nehmen und dafür Steuermittel aufwenden - keine Frage.
({1})
Wir müssen neben dem Politikbetrieb, für den das
wichtig ist, den Wirtschaftsbetrieb betrachten. Er ist eine
zentrale tragende Säule und hat von Europa viel profitiert. Es kann nicht sein, dass jeder Betrieb in Deutschland noch zehn Personen für Übersetzungen einstellen
muss. Die Ausschreibungen müssen so gestaltet sein,
dass sich jeder Betrieb in Deutschland ohne großen zusätzlichen Aufwand beteiligen kann und andere keine
Wettbewerbsvorteile durch sprachliche Diversifizierungen haben. Das gehört nicht ins europäische Wettbewerbsrecht; durch den Gebrauch von Sprache darf keine
Unterschiedlichkeit entstehen. Auch dieser Bereich ist
daher wichtig.
Es hat also eine ökonomische Dimension, aber natürlich auch eine bürgerschaftliche Dimension, das heißt
die Kommunikation von Menschen untereinander. Dabei
geht es zum Beispiel auch um Internetauftritte. Das Internet ist das Medium, durch das man viele Menschen
erreicht. Die EU hat Internetauftritte und Beteiligungsverfahren, die aus meiner Sicht vorbildlich sind. Aber
wenn sie in einer Sprache stattfinden, die nicht alle Menschen beherrschen, ist das undemokratisch. Das kann
nicht sein. Diese Internetauftritte müssen so gestaltet
sein, dass sich alle Menschen in Europa an diesem Austausch beteiligen können. Dann werden wir es auch
schaffen, dieses gemeinsame Europa zu realisieren.
Lassen Sie mich noch eines sagen, weil hier über die
deutsche Sprache und ihre Bedeutung in Europa viel gesagt worden ist. Ich finde, wir sollten uns - das sage
ich, weil die Bundesregierung hier ein bisschen angegriffen worden ist - der historischen Wahrheit stellen.
Ich will die Bundesregierung nicht groß verteidigen.
Aber sie hat sich - das sieht man in den Protokollen
von Herrn Duckwitz - in den letzten Monaten sehr intensiv und im Interesse unserer Beschlussfassung dafür
eingesetzt. Das ist überhaupt keine Frage. Das bestehende Ungleichgewicht, das in Bezug auf die deutsche
Sprache in Europa besteht, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP und der CDU/CSU, ist Folge einer bewussten Entscheidung der Regierung Kohl/Genscher.
Sie hatte sich nicht dafür eingesetzt, die deutsche Sprache gleichgewichtig in die EU einzubringen. Das hatte
politische Gründe, die man akzeptieren kann oder nicht.
Aber es war eine historische Entscheidung der Regierung Kohl/Genscher.
Wenn man die deutsche Sprache fördern will - auch
das sei zum Schluss noch einmal gesagt -, dann muss
man darauf hinweisen, dass es eine falsche Entscheidung
dieser Regierung war - wir haben sie immer wieder kritisiert -, durch die Einschränkung der Freizügigkeit die
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus Polen und anderen mittel- und osteuropäischen Ländern an Deutschland vorbei nach England und Skandinavien zu lenken
und so die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Osteuropa
und dem Vereinigten Königreich und Skandinavien drastisch zu fördern.
({2})
Dass nun in Osteuropa viele englischsprachige und wenige deutschsprachige Kompetenzen vorhanden sind, hat
mit dieser Entscheidung zu tun, die aus meiner Sicht völlig falsch war und nicht im deutschen Interesse lag. Sie
hat auch ökonomisch zu verfehlten Entwicklungen geführt.
Herr Kollege.
Politisch kann man vielleicht nachvollziehen, warum
die Entscheidung getroffen wurde, aber sie war falsch
und hat uns auch bezüglich der Sprachenförderung geschadet.
Vielen Dank.
({0})
Ich gebe das Wort der Kollegin Dorothee Bär, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man die
Rede des SED-, pardon, PDS-Kollegen Dehm vorhin gehört hat,
({0})
dann wünscht man sich manchmal, der deutschen Sprache nicht mächtig zu sein.
({1})
In der Europäischen Union kämpfen wir dauernd um
Bürgernähe, um mehr Teilhabe und um die Interessen
der Bürger. Wenn im nächsten Jahr bei der Europawahl
eine Wahlbeteiligung zwischen 30 und 40 Prozent zu
verzeichnen sein wird, wird das Erstaunen wieder groß
sein. Dann wird der politikverdrossene Bürger wieder
ermahnt werden, endlich seine staatsbürgerlichen Pflichten wahrzunehmen und die Politik der EU mitzugestalten.
({2})
Partizipation erfordert Verständnis. Ich meine in diesem Fall nicht das Verständnis der politischen Abläufe,
dass man weiß, wie Politik funktioniert. Ich spreche vom
Verständnis jedes einzelnen Wortes, vom Verstehen der
Sprache. Wir haben heute schon mehrfach gehört, dass für
18 Prozent der Bürger in der Europäischen Union - das
sind immerhin 91 Millionen Menschen - Deutsch die
Muttersprache ist. Mit der französischen oder der englischen Sprache sind viel weniger Menschen vertraut. Außerdem gibt es sehr viele deutsche EU-Parlamentarier,
im Moment 99. Hinzu kommen die Deutsch sprechenden Kollegen aus Österreich, Luxemburg, Belgien und
Italien. In diesen Ländern ist Deutsch eine der offiziellen
Amtssprachen.
({3})
- An diesem unqualifizierten Zwischenruf wurde deutlich, dass Sie Bayerisch und Fränkisch nicht unterscheiden können. So viel dazu. ({4})
75 Prozent der EU-Bürger bleibt die Teilhabe an den politischen Prozessen in ihrer Muttersprache verwehrt.
Hinzu kommt - auch das hat Kollege Steenblock erwähnt -, dass wir, die Abgeordneten des Deutschen
Bundestages, unsere Kontrollaufgaben nur dann vollständig und zufriedenstellend erfüllen können, wenn wir
im wahrsten Sinne des Wortes verstehen, was uns die
Kollegen aus Brüssel übermitteln.
Uns Politikern wird oft vorgeworfen, dass wir über
Dinge reden, die wir nicht verstehen; bei diesem Thema
trifft das allerdings nur auf die linke Seite dieses Hauses
zu.
({5})
In diesem Fall muss man aber fragen: Wie denn auch?
Als Mitglied der Enquete-Kommission „Kultur in
Deutschland“ habe ich mich sehr intensiv mit der Frage
beschäftigt, ob wir die deutsche Sprache verfassungsrechtlich schützen sollten. Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass unsere Sprache als Bestandteil unserer
Kultur den Schutz des Grundgesetzes verdient. Dieser
Entschluss unterstreicht die Bedeutung der Landessprache für jeden einzelnen Bürger. Die eigene Muttersprache bedeutet für uns alle auch Heimat.
Wenn die EU ihren Bürgern nicht die Möglichkeit
bietet, in ihrer jeweiligen Landessprache an der Politik
teilzuhaben, dann wird sie sich weiterhin den Vorwurf
gefallen lassen müssen, nur für die wenigsten ein Zuhause zu sein.
Eigentlich ist unser Antrag eine Selbstverständlichkeit. Denn es geht - in Anführungszeichen - „nur“ um
das Deutsche, „nur“ um unsere Muttersprache. Es geht
nicht um die einzelnen Dialekte, die es in den verschiedenen Sprachen gibt. Ich denke, die Präsidentin des
Deutschen Bundestages gibt mir recht, dass Fränkisch
sicherlich noch am leichtesten zu verstehen ist. Schwieriger wären Plattdeutsch, Sächsisch oder Oberbayerisch.
Ich hoffe, dass eine große Mehrheit dieses Hauses unserem Antrag zustimmt, und ich bedanke mich bei den
vier vernünftigen Fraktionen im Bundestag.
Vielen Dank.
({6})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Klaus Hagemann,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren im Plenarsaal und auf der Tribüne! Welche Bedeutung die Europapolitik für Deutschland und die anderen europäischen Nationalstaaten hat, hat unsere heutige
Tagesordnung bewiesen; denn wir beschäftigen uns
heute schon zum zweiten Mal mit diesem Thema. Der
Schock über das Ergebnis des Referendums in Irland
war allen Debattenbeiträgen zu entnehmen. Ich bin aber
davon überzeugt, dass die Menschen in Irland nicht in
erster Linie die europäische Einigung abgelehnt haben.
Das, was sie bewogen hat, liegt tiefer, und es geht dabei
auch um andere Themen.
Wenn wir unsere Wahlkreise besuchen, hören wir
ständig, wie sich Menschen darüber beklagen, dass „die
in Brüssel“ nicht mehr die Sprache des kleinen Mannes
bzw. der Mehrheit der Menschen sprechen. Dabei geht
es nicht um die Muttersprache. Wir alle sprechen eine
technokratische Sprache, und das über die Köpfe der
Menschen hinweg.
({0})
Das gilt nicht nur für „die in Brüssel“, sondern zum Teil
auch für uns,
({1})
egal welche Muttersprache wir sprechen. Wir erreichen
die Herzen der Menschen nicht mehr.
({2})
Das ist das Problem, mit dem sich die Verantwortlichen
in Brüssel, mit dem aber auch wir uns auseinandersetzen
müssen.
({3})
Kollege Steenblock hat den Internetauftritt der EU angesprochen; er ist sicherlich sehr positiv. Wenn man genauer hinsieht, stellt man aber fest, dass diese Internetseiten noch nicht einmal in die eigene Muttersprache
übersetzt worden sind. Das ist ein großes Problem, das
man lösen muss. Damit muss sich in erster Linie Brüssel
beschäftigen.
In diesem Zusammenhang spielen auch die Entscheidungen, die in letzter Zeit in Brüssel getroffen worden
sind - von der Kommission, vom Parlament und vom
Europäischen Gerichtshof -, eine Rolle. Die soziale Dimension scheint etwas in den Hintergrund getreten zu
sein. Das europäische Sozialmodell kommt nicht mehr
genug zum Vorschein.
({4})
Auch das hat mit der Muttersprache nichts zu tun. Trotzdem sollten wir diese Entwicklung beobachten.
Wir müssen die Interessen der Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer, der Mehrheit der Menschen in den
europäischen Staaten, stärker in den Mittelpunkt rücken.
Stattdessen stehen die „Technik der Integration“, die
Marktmechanismen, die zum Teil sogar ruinösen Marktmechanismen, und die Interessen der Konzerne im Vordergrund - so zumindest kommt es bei den Menschen
an. Als Beispiel sei die Richtlinie über die Einsetzung eines Europäischen Betriebsrates genannt, die in der Diskussion ist. Auch da, Kollege Willsch, kommen wir
nicht voran. Erwähnt seien auch die langen Diskussionen über die Dienstleistungsrichtlinie und über verschiedene Urteile des Europäischen Gerichtshofs in letzter
Zeit.
Vor etwa einem Jahr haben wir über die Frage der
deutschen Sprache diskutiert und gefordert, dass alle
EU-Dokumente ins Deutsche übersetzt werden. Ich will
herausstellen: Viel getan hat sich nicht. Es geht bei dieser Forderung nicht nur um eine stärkere Berücksichtigung unserer Sprache, es geht insbesondere - als Haushälter möchte ich das erwähnen - um die Kontrolle der
EU-Ausgaben und um eine effiziente Verwaltung der
Mittel. Wir legen in unserem Unterausschuss des Haushaltsausschusses Wert darauf, dass wir das alles kontrollieren können.
Auch der Entwurf des Vertrages von Lissabon macht
deutlich, dass nicht nur das Europäische Parlament, sondern auch die nationalen Parlamente mehr Rechte bekommen sollen. Da braucht man übersetzte Dokumente.
Deswegen stehen wir voll und ganz hinter dem Antrag,
den wir heute verabschieden. Wir brauchen mehr Transparenz, mehr Durchsichtigkeit. Es geht bei diesem Antrag, um das klar zu sagen, nicht um Deutschtümelei
oder gar Neid, dass andere Sprachen stärker verwendet
werden,
({5})
es geht vielmehr um die Kontrolle der Kommission, der
Exekutive. Wir wollen unsere Kontroll- und Mitwirkungsrechte nützen. Dazu brauchen wir die Dokumente
in unserer Sprache.
Meine Damen und Herren, ich meine, ganz gut Englisch und Französisch sprechen zu können. Bei Fachsprachen ist bei mir allerdings oft Sendepause. Das wird
vielen anderen auch so gehen. Wenn ich Entscheidungen
zu treffen habe, möchte ich die Dokumente nach eigener
Lektüre bewerten und nicht auf Zusammenfassungen in
deutscher Sprache angewiesen sein, bei denen sich immer die Frage stellt, wer überhaupt mit welchem Interesse zusammengefasst hat.
Es wurden schon die Kostenfragen angesprochen. Der
Haushaltsentwurf 2009 ist von der Kommission vorge17896
legt; wir haben uns im Unterausschuss des Haushaltsausschusses damit auseinandergesetzt. Der Haushalt wächst
nach Vorschlag der Kommission im Allgemeinen um
3,1 Prozent, die Verwaltungsausgaben wachsen um
5 Prozent. Man muss fragen, warum gerade die Verwaltungsausgaben so stark wachsen. Es geht schließlich um
7,6 Milliarden Euro. Ich meine, hier ließe sich durch
Umschichtung - der Ausdruck ist des Öfteren gefallen mehr erreichen, dass nämlich mehr Mittel für den Sprachendienst zur Verfügung gestellt werden. Auch das haben wir im Unterausschuss bereits intensiv besprochen.
Kommende Woche findet auf Einladung des Europäischen Parlaments eine Zusammenkunft der Vorsitzenden
der Haushaltsausschüsse statt. Ich darf, wie sich zwischenzeitlich geklärt hat, unseren Haushaltsausschuss
dort vertreten. Ich werde den Komplex Sprachendienst
zu einem der Themen machen, die behandelt werden
müssen. Wenn man alle Beschäftigten der europäischen
Kommissionen und Agenturen zusammenrechnet, kommt
man auf 36 000 Beschäftigte. Da werden sich doch noch
ein paar mehr finden lassen, die Übersetzungsarbeit leisten können.
({6})
Herr Staatsminister, ein herzliches Dankeschön an
den Außenminister für die Unterstützung und für die Bemühungen! Auch den Bundestagspräsidenten möchte ich
in diesem Zusammenhang erwähnen. Es ist gut, dass alle
an einem Strang ziehen. Die Forderungen, meine Damen
und Herren, richten sich aber nicht nur an die andere
Seite, sie richten sich natürlich auch an uns. So konnte
man vor rund einem Jahr in der Süddeutschen Zeitung lesen:
Deutsch … spielt eine Nebenrolle, weil es die
Hauptrolle nie gewollt hat.
Ich komme zum letzten Satz, Frau Präsidentin. - Wir
alle in allen Gremien müssen uns bemühen, dass auch
Deutsch gesprochen wird. Natürlich müssen wir fremde
Sprachen lernen - in diesem Zusammenhang kann ich
nur an die vielen Jugendlichen auf den Tribünen appellieren -, damit wir gewappnet sind. Noch einmal: Die
Zukunftsfähigkeit Deutschlands liegt in Europa. Lassen
Sie uns dafür gemeinsam streiten!
Vielen Dank.
({7})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Klaus-Peter Willsch,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kollegen! Ich werde nicht zur Betriebsräterichtlinie sprechen, und mir geht es auch nicht um die
Sprachkompetenz der deutschen Abgeordneten. Ich
weiß, dass es sehr viele unter uns gibt, die sich fließend
in sehr vielen Sprachen verständigen können. Darum
geht es aber nicht. Es geht um die Kompetenz des Deutschen Bundestages, also des Verfassungsorgans.
Wir haben Mitwirkungsrechte bei EU-Prozessen. Deshalb müssen wir dafür Sorge tragen, dass die EU - wir
sind ein nicht unerheblicher Zahler für all das, was dort
geschieht - auch die Rechte des Bundestages wahrt.
Diese sind nur gewahrt, wenn wir die Vorlagen in unserer
Muttersprache beraten können. So einfach ist die Sache.
({0})
Im Haushaltsausschuss gibt es ja den Unterausschuss
zu Fragen der Europäischen Union, dem vorzustehen ich
die Freude und Ehre habe. Als ich diese Funktion vor
drei Jahren übernommen habe, haben wir den Brauch
eingeführt, dass wir nicht übersetzte Vorlagen nicht
mehr annehmen, sondern zurückweisen, weil wir sie für
nicht beratungsfähig erklären. So kann es nämlich nicht
gehen.
Bevor ich in den Bundestag kam, war ich einmal Bürgermeister.
({1})
Ich kenne die Praxis von Verwaltungen, möglichst
viel Papier zu produzieren und irgendwo das hineinzuschreiben, was niemand finden soll. Wenn man dazu
noch die Möglichkeit der Camouflage durch die Sprache
hat, wird das noch sehr viel leichter. Deshalb dürfen wir
uns nicht darauf einlassen; wir als Deutsche müssen
ganz selbstverständlich und ohne irgendeine Überheblichkeit darauf bestehen, dass die Sprache, die von den
meisten in Europa muttersprachlich gesprochen wird,
auch bei der EU verwendet wird und dass uns die Dokumente in dieser Sprache vorgelegt werden. Nicht mehr
und nicht weniger fordern wir.
Dass wir die Bemühungen, mit denen wir vor drei
Jahren im Unterausschuss begonnen haben, jetzt mit einem gemeinsamen Antrag hier im Plenum zu einem
Zwischenergebnis führen - das Brett, das wir dort bohren, bleibt nämlich weiter dick -, macht mich froh.
({2})
Es ist ein Punkt angesprochen worden, den ich auch
noch einmal unterstreichen will. Ich möchte all diejenigen, die für uns in Europa in irgendeiner Funktion Verantwortung tragen - sei es in der Bürokratie, sei es im
Parlament, sei es in der Kommission -, ermuntern, ihre
Tätigkeit in ihrer Muttersprache auszuüben; denn es hat
natürlich Auswirkungen, wenn sie überall hinkommen
und die super Weltläufigen spielen, die sich in anderen
Sprachen verständigen können. Dann wird einfach nicht
mehr der Bedarf gesehen, dass das alles auf Deutsch
übersetzt werden muss.
Es ist deutlich geworden - dafür danke ich dem Kollegen Hagemann -, dass wir vor allen Dingen auch an
die Bürger in unserem Lande denken müssen, die wir für
Europa begeistern wollen. Wir wollen die Begeisterung
neu entfachen bzw. erhalten. Die Bürger müssen mitgenommen werden können - auch sprachlich. Wir können
nicht einfach voraussetzen, dass jeder die Dokumente lesen kann, die uns in wirklich aberwitzigen Umfängen erreicht haben: 10, 12 Seiten auf Deutsch, 130 Seiten auf
Französisch und 80 Seiten auf Englisch. Bei allem guten
Willen: So lassen wir nicht mit uns umgehen. Das muss
sich ändern. Ich danke der Bundesregierung, dass sie uns
dabei unterstützt, und fordere sie nachdrücklich auf, das
entsprechend fortzusetzen.
Das Ganze hat auch Auswirkungen in anderen Bereichen. Die Homepages sind angesprochen worden. Mir
liegt ein Bericht aus der Frankfurter Neuen Presse vor:
EU diskriminiert die deutsche Sprache. - Es ging darum,
dass sich jemand für ein Rehabilitationsprojekt für Folteropfer bewerben wollte. Dabei war ausdrücklich ausgeschlossen, sich in anderen Sprachen als in Englisch,
Französisch oder Spanisch zu bewerben. Wo kommen
wir denn da hin?
({3})
- Ja, die Diskriminierungsbeauftragte hat auch gesagt,
dass das eine Diskriminierung ist. Die Kommission hat
aber erst einmal so gehandelt. - Das dürfen wir nicht
durchgehen und mit uns machen lassen. Ich glaube,
wenn wir weiter fest genug an dem Thema bleiben, dann
wird uns dort auch ein Erfolg gelingen.
Ich will der Kommission noch einmal ausdrücklich
anbieten: Für den Fall, dass sie das nicht auf einen
Schlag hinbekommt, könnten wir für eine Übergangszeit
Übersetzer beim Deutschen Bundestag einstellen. Englisch und Französisch sind ja nun keine Mangelfächer.
Es ist kein Problem, das in Deutsch zu übersetzen. Die
Kosten dafür verrechnen wir dann mit anderen Zahlungen, die die EU von uns erwartet. Dann übersetzen wir
uns die Sachen eben selbst.
Langfristig ist es aber sicher richtig, dass wir so an
das Thema herangehen, wie wir das hier im Antrag niedergelegt haben. Wir müssen darauf achten, dass die
Amtssprachen auch in der EU ihren entsprechenden Niederschlag finden, und wir als Deutscher Bundestag müssen besonderen Wert darauf legen, dass uns die Dokumente in Deutsch vorgelegt werden. Ich denke, das wird
uns jeder nachsehen.
Deshalb bedanke ich mich dafür, dass diese breite
Mehrheit hier zustande gekommen ist. Ich bin mir sicher, dass wir noch zwei-, dreimal über dieses Thema
debattieren müssen, bis wir es dann endlich abgeschlossen haben. Ich bin mir aber auch sicher, dass wir am
Ende am Ziel ankommen werden.
Vielen Dank.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/9596 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Gisela
Piltz, Hans-Michael Goldmann, Sabine
Leutheusser-Schnarrenberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Datenschutz im nicht öffentlichen Bereich verbessern
- Drucksache 16/9452 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Gisela Piltz, FDP-Fraktion.
({1})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Jeder zweite Haushalt besitzt eine sogenannte
Payback-Karte. Knapp zwei Drittel aller Deutschen nutzen das Internet privat und vermutlich auch am Arbeitsplatz, wobei 94 Prozent der Jüngeren von 18 bis
24 Jahren online sind. Die SCHUFA hat Daten über
96 Prozent unserer Bundesbürger gespeichert. Private
Datensammlungen stellen damit alle Datensammlungen
des Staates weit in den Schatten. Es wird prophylaktisch
gesammelt; das Nutzerverhalten wird akribisch festgehalten und anschließend vielfältig ausgewertet.
Beobachten, Verkaufen, Bespitzeln: Dieser Dreisatz,
der offensichtlich in mehr Unternehmen, als uns lieb
sein kann, an der Tagesordnung ist, zeigt uns, dass wir
als Politiker dieses Thema dringend im Auge behalten
müssen.
({0})
Videoüberwachung, die sogenannte RFID-Technik und
Kassensysteme mit der Möglichkeit, im Supermarkt per
Fingerabdruck zu bezahlen, sind nur einige Beispiele für
den rasanten Technologiewandel, den wir in den letzten
Jahren erleben konnten.
Im Internet legen vor allem immer mehr junge Menschen einen Daten-Striptease hin, veröffentlichen peinli17898
che Partybilder und ihre Meinung zu Sex, Drugs and
Rock ’n’ Roll, und das alles nur, um ein bisschen Öffentlichkeit und Aufmerksamkeit zu ergattern. Die weitreichenden Konsequenzen werden meist nicht bedacht.
Meine Warnung an die Generation Internet lautet:
Denken Sie gut darüber nach, was Sie ins Internet einstellen! Das Internet vergisst und vergibt Ihnen nichts.
({1})
- Ja, Schäuble sieht alles, aber auch jeder andere, zum
Beispiel der Arbeitgeber, wenn er Sie googelt.
Kunden werden mit mageren und undurchsichtigen
Rabatten angelockt. Wenn Sie glauben, es käme Ihnen
zugute, wenn Sie zum Beispiel solche Karten haben,
dann kann ich Sie nur darauf aufmerksam machen, dass
das nicht der Fall ist; vielmehr verdient jemand anders
mit Ihren Daten Geld. Daran sollten Sie immer denken.
Wenn Sie Ihre Daten weitergeben, dann werden Sie wie
Fliegen in einer Venusfalle zerquetscht, um an Ihre begehrten persönlichen Daten zu kommen.
Diese riesigen persönlichen Datenmengen bergen
auch sozialen Sprengstoff. Das sehen die meisten gar
nicht. Bisher haben nämlich vor allem diejenigen die
Nachteile zu spüren bekommen, die ärmeren Schichten
angehören, weil sie keine Kredite oder Versicherungen
bekommen bzw. schlechtere Vertragskonditionen zum
Beispiel bei Krediten in Kauf nehmen müssen.
Menschen werden katalogisiert und nach ihren persönlichen Daten eingeteilt, ohne einen blassen Schimmer
davon zu haben. Wir dürfen Menschen nicht auf bloße
Datensätze oder Nummern reduzieren. Der Mensch ist
kein bloßes Objekt. Das widerspricht der Menschenwürde, wie schon das Bundesverfassungsgericht festgestellt hat.
({2})
Wir brauchen ein neues Datenschutzbewusstsein in
der Bevölkerung. Das Grundrecht auf informationelle
Selbstbestimmung und das sozusagen brandneue Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme - oder auch ITGrundrecht - kann man leider nicht anfassen oder sehen.
Das ist der Unterschied zu vielen anderen Schutzgütern
von Grundrechten. Man kann sie nicht erleben wie den
Beruf oder die körperliche Unversehrtheit. Man kann sie
auch nicht anfassen oder sehen wie die Kunst oder das
Eigentum. Trotzdem sind diese beiden Grundrechte in
unserer modernen Kommunikation von herausragender
Bedeutung und beeinflussen nicht unerheblich auch den
nichtöffentlichen Bereich.
Elektronische Datenspeicherungen laufen vorwiegend ohne unser Zutun im Hintergrund ab. Das macht
sie so gefährlich. Wir müssen eben nicht nach jedem Telefonat oder nach jeder Internetnutzung einen Bogen
ausfüllen und unsere Zustimmung zur Speicherung geben. Wir bekommen meist nicht einmal mit, wenn sogenannte Cookies installiert werden. Dabei geht es nicht
um Kuchen; das muss ich vielleicht manchem älteren
Kollegen erklären.
({3})
- Wenn Sie sich angesprochen fühlen, Herr Tauss, dann
habe ich mein Ziel schon erreicht.
({4})
Cookies werden installiert, damit das Surfverhalten
analysiert werden kann und später Werbemails an Sie
verschickt werden können. Von der Installation von
Cookies merken wir so gut wie nichts. Deshalb wehren
wir uns nicht. Konsequenzen hat unser Verhalten im Internet meistens leider noch nicht.
Wir sind aber in den letzten Wochen abrupt wachgerüttelt worden. Es erinnert ein wenig an das Märchen
„Des Kaisers neue Kleider“. Wir laufen buchstäblich
nackt durch die Gegend - keine Sorge, wir sind zwar im
Plenarsaal, aber es geht nur um die Daten -; denn die riesigen Datensammlungen gefährden unsere Privatsphäre.
Wir sollten schnellstmöglich handeln und den Datenschutz im nichtöffentlichen Bereich verbessern. Wir haben dazu im Bundestag die Chance. Wir sollten es tun.
Wir sollten auch alle staatlichen Datensammlungen
überprüfen, die diesen Trend erst eingeleitet haben:
Fluggastdaten, Vorratsdatenspeicherung, biometrische
Daten im Pass und im Personalausweis sowie Kfz-Kennzeichen-Scanning. Die Große Koalition muss sich aus
unserer Sicht mäßigen. Unternehmen schauen auf den
Staat. Er hat eine Vorbildfunktion. Es kommt noch
schlimmer: Viele Unternehmen sammeln im Auftrag des
Staates. Datensätze, die einmal da sind, wecken Begehrlichkeiten. Das heißt, der Staat hat die Geister selbst gerufen.
Der Gewöhnungseffekt ist - Gott sei Dank - noch
nicht vollständig eingetreten. Noch können wir etwas
bewegen. 30 000 Menschen haben Klage gegen die Vorratsdatenspeicherung in Karlsruhe eingereicht. Sie wollen nicht überlegen, mit wem sie telefonieren, welche Internetseite sie aufrufen können und welches Verhalten
genehm ist oder nicht. Wir brauchen zudem ein Umdenken bei den Unternehmen. Die Position der betrieblichen
Datenschutzbeauftragten muss gestärkt werden. Eine unabhängige Prüfungskompetenz muss eine Selbstverständlichkeit sein. Wir brauchen des Weiteren dringend
ein Datenschutzauditgesetz. Wir hoffen, dass die Bundesregierung bald einen entsprechenden Entwurf vorlegt
und dass dieser endlich in dieser Legislaturperiode verabschiedet werden kann. Wir brauchen außerdem eine
Gesamtstrategie zur Förderung datenschutzrechtlicher
Techniken; denn Deutschland hat heute einen hohen
Datenschutzstandard. Wir müssen das als Standortvorteil
begreifen. Die Erde ist keine Scheibe, sondern rund.
({5})
- Ich weiß, dass Sie das überrascht. Aber es muss einmal
gesagt werden.
Datenschutz ist kein innovationshemmendes Teufelszeug, sondern die Menschenwürde respektierendes Ambrosia. Sie müssen nur den Mut haben. Wir haben ihn.
({6})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Beatrix Philipp,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Ich habe nachgeschaut und festgestellt, dass wir
hier keine Grundsatzdebatte über den Datenschutz führen, sondern dass wir uns mit einem FDP-Antrag befassen sollen. Ich will nicht sagen, dass dieser genauso zu
bewerten ist wie die letzte Bemerkung der Kollegin
Piltz, dass die Erde rund sei. Aber er ist ähnlich zu betrachten. Das werde ich gleich nachweisen.
Ich finde Äußerungen und Zwischenrufe aus dem
Kreis der FDP wie „Schäuble sieht alles“ überhaupt
nicht witzig. Wenn sich ein Innenminister, begleitet
durch das Parlament, ernsthaft bemüht, gesetzliche Regelungen zu schaffen, sodass ein größtmöglicher Schutz
der Bevölkerung vor den zweifellos vorhandenen Terrorismusgefahren besteht, dann ist er auf dem Weg, das,
was sein Vorgänger ohne gesetzliche Regelungen, das
heißt ohne Parlament erreichen wollte, nun in geordnete
Bahnen zu lenken. Deswegen finde ich die immer wieder geäußerte Bemerkung „Schäuble sieht alles“ - das
grenzt an Diffamierung - nicht witzig. Das ist unserem
Parlament nicht angemessen. Das will ich ganz deutlich
sagen.
({0})
Der vorliegende Antrag ist - das wissen Sie besser als
wir alle, Frau Piltz - der Beschluss des FDP-Parteitags,
der vom 31. Mai bis 1. Juni stattgefunden hat. Seine Formulierung kann nicht sehr schwierig gewesen sein, weil
er im Wesentlichen die Forderungen enthält, die wir Berichterstatter in einer gemeinsamen, mühsam erarbeiteten Entschließung im Zusammenhang mit dem Bericht
des Datenschutzbeauftragten erhoben haben. Deswegen
bin ich ein bisschen enttäuscht; denn als ich gelesen
habe, dass die FDP hierzu einen Antrag einbringt, habe
ich gedacht, dass wir dann endlich wissen, wie es im Bereich des Datenschutzes weitergehen soll. Eigentlich,
Frau Piltz, bin ich von Ihnen - das meine ich ganz positiv - viel mehr Kreativität gewöhnt, als es in diesem Antrag zum Ausdruck kommt.
Wir hätten es eigentlich besser wissen müssen. Sie
haben auf aktuelle Ereignisse und Skandale zum Beispiel bei der Telekom und bei Lidl Bezug genommen.
Aber alle Kundigen waren sich einig, dass es diesmal
nicht zu Überreaktionen und Schnellschüssen kommen
darf. Ich kann mich gut daran erinnern, schon von dieser
Stelle aus gesagt zu haben, dass das, was wir im Zusammenhang mit dem grausamen Geschehen in Erfurt in Bezug auf das Waffenrecht viel zu schnell und hektisch,
fast an Aktionismus grenzend auf den Weg gebracht haben, der Sache nicht sehr gedient hat.
Ich war lange genug Mitglied einer Oppositionsfraktion und weiß deshalb - Frau Piltz, auch Sie wissen das -,
dass in dieser Lage der Zwang zur Schnelligkeit oft vor
Gründlichkeit geht. Dass das auch hier der Fall ist, kann
ich an einigen Beispielen zeigen.
({1})
- Herr Tauss, über die Opposition reden wir beide extra.
Da gibt es noch eine ganz andere Beziehung.
({2})
Lassen Sie mich zu Anfang gleich sagen, dass natürlich jede Fraktion zu jedem Zeitpunkt und zu jedem
Thema Anträge stellen kann. Es mutet aber schon ein
bisschen seltsam an, wenn dieselben Themen wortgleich
auf verschiedenen Ebenen diskutiert werden und gleichzeitig so der Eindruck erweckt wird, man habe spontan
eine Lösung auf den Tisch gelegt, während die anderen
Kolleginnen und Kollegen noch nach einem angemessenem Umgang mit der Sache suchen. So ganz toll, fand
ich, ist es nicht.
Nun zurück zum Antrag. Die erste Feststellung - „Die
aktuellen Datenschutzskandale zeigen dringenden Handlungsbedarf für eine Stärkung des Datenschutzes im
nicht öffentlichen Bereich“ - ist eher irreführend; denn
wir alle haben auch von dieser Stelle darauf hingewiesen, dass wir und auch diejenigen, die bei der Telekom
das Sagen haben, noch im Nebel stochern. Keiner weiß
- vielleicht weiß es die Staatsanwaltschaft inzwischen -,
ob es an der gesetzlichen Grundlage lag oder ob es andere Dinge gewesen sind. Jedenfalls ist die genaue Vorgehensweise der Täter überhaupt nicht bekannt. Wir
müssen sehr vorsichtig sein, damit wir nicht wieder das
Kind mit dem Bade ausschütten. Es ist natürlich überhaupt nicht falsch, wenn man den Datenschutz im nichtöffentlichen Bereich stärken will. Wer könnte etwas dagegen haben? Ich finde es aber nicht so gut, das an
einem Skandal festzumachen, von dem wir wissen, dass
es einer längeren Zeit bedarf, bis er aufgeklärt ist. Wir
sollten deswegen auch nicht in der Öffentlichkeit den
Eindruck erwecken, wir wüssten inzwischen alles und
hätten den Stein der Weisen gefunden, wenn nicht einmal die Fakten auf dem Tisch liegen.
Ich will auch in Erinnerung rufen, dass selbst der Datenschutzbeauftragte im Innenausschuss und auch in
Presseveröffentlichungen gesagt hat, dass er im Rahmen
seiner Tätigkeit natürlich bei der Telekom gewesen sei.
Er hat auch gesagt - das haben andere im Innenausschuss zum Ausdruck gebracht -, dass selbst eine Erhöhung des Personalbestands, was verständlicherweise
vom Datenschutzbeauftragten gefordert wird, überhaupt
nicht sichergestellt hätte, dass es nicht zu diesem Skandal gekommen wäre. Diese hundertprozentige Sicherheit
gibt es jedenfalls nicht. Wir sollten der Bevölkerung
auch nicht vorgaukeln, dass man sie herstellen könnte. In
dem Augenblick, in dem kriminelles Handeln stattfindet,
sind die Grenzen des Gesetzgebers relativ schnell erreicht. Er kann etwas einmal oder auch zweimal verbieten und unter Strafe stellen, aber er wird dadurch keinen
hundertprozentigen Schutz gewährleisten.
({3})
- Es gibt noch andere Bereiche, in denen das ganz genauso ist. - Immer dann, wenn kriminelles Handeln
stattfindet, sind die Grenzen der Einflussmöglichkeiten
des Gesetzgebers schnell erreicht. Man sollte nicht behaupten, es gebe einen hundertprozentigen Schutz.
Ein weiterer Punkt: Schwierig wird die Beratung auch
deswegen, weil das, was Sie in Ihrem Antrag ausgeführt
haben, sehr einleuchtend klingt, aber bei näherem Hinsehen festzustellen ist, dass es sich dabei um Forderungen
handelt, die entweder schon gesetzlich geregelt sind oder
die in einem Gesetzentwurf stehen, der bereits Kabinettsreife erreicht hat, oder die so selbstverständlich
sind, dass ich mich fast wundere, dass sie überhaupt in
einem Antrag formuliert sind. Ich will aus Zeitgründen
nur einige Beispiele bringen. In Ziffer 2 Ihres Antrags
heißt es:
Unternehmen müssen ihre Verantwortung für den
Datenschutz ernst nehmen.
Ein Blick in das geltende Bundesdatenschutzgesetz
zeigt, dass es gerade hier keinen gesetzgeberischen
Handlungsbedarf gibt, sondern vielleicht eher ein Vollzugsdefizit herrscht. Letzteres will ich nicht bestreiten.
In § 3 Abs. 7 heißt es:
Verantwortliche Stelle ist jede Person oder Stelle,
die personenbezogene Daten für sich selbst erhebt,
verarbeitet oder nutzt oder dies durch andere im
Auftrag vornehmen lässt.
Das heißt konkret, dass die datenschutzrechtliche Verantwortung bei dem datenverarbeitenden Unternehmen
selbst liegt, wie es Ihr Antrag fordert. Weiter heißt es in
§ 4 f Abs. 3 Satz 2 bis 4 zum betrieblichen Datenschutzbeauftragten:
Er
- also dieser betriebliche Datenschutzbeauftragte ist in Ausübung seiner Fachkunde auf dem Gebiet
des Datenschutzes weisungsfrei. Er darf wegen der
Erfüllung seiner Aufgaben nicht benachteiligt werden. Die Bestellung zum Beauftragten für den
Datenschutz kann in entsprechender Anwendung
von § 626 des Bürgerlichen Gesetzbuches, bei
nicht-öffentlichen Stellen auch auf Verlangen der
Aufsichtsbehörde, widerrufen werden.
Schon der Hinweis bzw. die Bezugnahme auf das
Bürgerliche Gesetzbuch bedeutet, dass der betriebliche
Datenschutzbeauftragte nur aus zwingendem Grund
fristlos gekündigt werden kann. Also genießt er einen
besonderen Kündigungsschutz. Auf den arbeitsrechtlichen Aspekt will ich nicht weiter eingehen.
Schon an diesem Beispiel - es gibt noch sehr viele
mehr, die aber aus Zeitgründen keine Erwähnung finden
können - ist klar zu erkennen, dass viele Punkte aus dem
Antrag der FDP bereits geregelt sind.
Nun zum Grundsatz der Datensparsamkeit. Im
Bundesdatenschutzgesetz finden wir auch den Grundsatz der Datenvermeidung und der Datensparsamkeit.
Dort heißt es nämlich in § 3 a:
Gestaltung und Auswahl von Datenverarbeitungssystemen haben sich an dem Ziel auszurichten,
keine oder so wenig personenbezogene Daten wie
möglich zu erheben, zu verarbeiten oder zu nutzen.
Ich will noch etwas zu RFID und zu dem von Ihnen
geforderten Koppelungsverbot sagen, weil Sie das kurz
angesprochen haben. Das Koppelungsverbot haben wir,
wie Sie sicherlich wissen, bereits im Telekommunikationsgesetz bzw. für die Bereitstellung von Telemedien
im Telemediengesetz geregelt. Deswegen ist eine Regelung in anderen Bereichen unserer Meinung nach nicht
notwendig. Im Bundesdatenschutzgesetz findet sich das
Kopplungsverbot bereits insofern wieder, als die Einwilligung des Betroffenen auf seiner freiwilligen Entscheidung beruhen muss.
Nun noch zu RFID: In Ihrem Antrag fordern Sie die
Bundesregierung auf, dafür zu sorgen, dass RFID-Chips
spätestens beim Verlassen des Ladens automatisch dauerhaft und unwiderruflich deaktiviert werden. Wir sollten, meine ich jedenfalls, erst einmal abwarten - und es
stünde auch der FDP-Fraktion gut an, wenn sie das wie
meine Fraktion täte -, wie eine Selbstverpflichtungserklärung vonseiten der Wirtschaft aussieht und ob sie sich
bewähren wird.
({4})
- Nein, Frau Piltz, Sie sind nicht auf dem neuesten
Stand. Ich habe mich gestern noch einmal erkundigt:
Das RFID-Forum hat sehr wohl Interesse daran. Das
kann ich Ihnen gleich zeigen; das Material habe ich dabei.
({5})
- Nein, es ist nicht gescheitert. - Das Forum hat nach
wie vor diese Bereitschaft zur Selbstverpflichtung. Ausgehandelt werden muss, inwieweit den Vorstellungen
des Innenministeriums entgegengekommen wird. Darüber wird zweifellos diskutiert; die Diskussion läuft.
Ich habe das Gerücht, es sei gescheitert, auch gehört.
Deswegen habe ich mich gestern noch einmal kundig gemacht und kann feststellen: Diese Behauptung kann so
nicht aufrechterhalten werden.
Im Gegenteil: Wir sollten bedenken - denn auch
Brüssel ist wieder aktiv, das werden Sie genauso wissen
wie ich -, dass jede voreilige Entscheidung im Zusammenhang mit Verfahren bei RFID-Chips einen möglicherweise erheblichen Nachteil für die deutsche Wirtschaft und Industrie bedeuten kann. Deswegen meine
ich, man sollte sehr vorsichtig damit umgehen und nicht
Türen zuschlagen, ehe man weiß, was sich hinter diesen
Türen verbirgt. Die Haltung der Bundesregierung - das
wissen Sie - ist der Bundestagsdrucksache 16/7891 von
Ende Januar deutlich zu entnehmen.
Nun komme ich zum letzten Punkt, den ich gerne ansprechen möchte: Datenmissbrauch bei Kundenkarten.
Sie haben eben wieder ein Szenario entwickelt, bei dem
ich gedacht habe: Um Gottes willen! Natürlich müssen
die Menschen in unserem Land lernen, mit ihren eigenen
Daten vorsichtig und sorgfältig umzugehen - das ist
überhaupt keine Frage. Aber gerade bei den KundenkarBeatrix Philipp
ten - wir haben sehr viele Gespräche geführt; ich nehme
an, Sie auch - sind sich die Unternehmen der Tatsache
sehr bewusst, dass auch nur ein einziger Fall des Missbrauchs von Kundendaten ihren absoluten Ruin bedeuten würde.
Das bringt mich zu dem, was ich hier schon öfter ausgeführt habe: Wenn wir es schaffen, dass die Industrie,
dass die Firmen im eigenen Interesse im Bereich des Datenschutzes selber hohe Standards anlegen - denn sie
wissen ja, dass sie als Partner überhaupt nicht mehr akzeptabel wären, wenn es auch nur einen einzigen Fall
von Datenmissbrauch gäbe; zum Beispiel wäre ein Unternehmen wie Payback dann völlig ruiniert -, dann
wäre auch der von uns immer wieder geforderte freiwillige und unbürokratische Datenschutzaudit, Herr Tauss,
mehr als nur ein frommer Wunsch, weil er dann auch
umsetzbar wäre.
Ich will die FDP nicht enttäuschen, was ihre Arbeit
angeht, und daher auch ein Lob aussprechen. In Ihrem
Antrag heißt es unter Ziffer 1:
Eigenverantwortung ist der beste Datenschutz.
Dagegen kann man eigentlich überhaupt nicht sein;
deswegen stimmen wir dem genauso wie der Überweisung des Antrags in den Ausschuss zu. Ich freue mich
auf eine intensive Diskussion.
Vielen Dank.
({6})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Petra Pau, Fraktion
Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir haben erst zwei Wochen hier im Plenum des Bundestages über die Telekom, über Lidl und über weitere Datenschutzskandale diskutiert. Wir waren uns fraktionsübergreifend einig: Das Datenschutzrecht ist nicht mehr
auf der Höhe der Zeit, und das muss geändert werden.
Dieser Befund trifft vor allem auf den Bundestag zu;
denn hier wird Recht gesetzt oder eben nicht. Wenn
nicht, dann haben wir es mit einem Versäumnis zu tun,
das sich für die Bürgerinnen und Bürger im wahren Leben negativ auswirken kann. Die Linke bleibt daher dabei: Wir brauchen endlich ein Datenschutzrecht, das dem
Internetzeitalter gerecht wird.
({0})
Außerdem brauchen wir Gesetze, die den Datenschutz stärken und nicht schwächen. Meine feste Überzeugung ist: Deshalb muss auch das Gesetz über die Vorratsdatenspeicherung von Telekommunikationsdaten vom
Tisch. Soviel ich weiß, ist es übrigens das erste Mal in
der Geschichte der Bundesrepublik, dass gleich zwei Vizepräsidenten des Bundestages gegen ein Gesetz, das der
Bundestag mit Mehrheit beschlossen hat, klagen. Jetzt
ist es so.
({1})
Nun hat die FDP heute einen konkreten Antrag zur
Debatte gestellt. Sie will den Datenschutz im nichtöffentlichen Bereich verbessern. Es geht also vor allem um
Datenschutz in Unternehmen, um Datenschutz für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, letztlich aber auch
für Kundinnen und Kunden. Diesem Anliegen stimmt
die Fraktion Die Linke grundsätzlich zu.
Die Grenzen zwischen öffentlichen und nichtöffentlichen Bereichen werden aber immer fließender. Das kritisiert die Linke, die FDP befürwortet dies. Das ist unsere
grundlegende Differenz. Wir haben in unserer Fraktion
in dieser Woche übrigens erneut mit Expertinnen und
Experten über die Chancen und Gefahren, die in der geplanten elektronischen Gesundheitskarte schlummern,
debattiert. Gerade im Gesundheitssystem gibt es einen
aktuellen Trend, den öffentlichen Bereich zu privatisieren. So besteht die Gefahr, dass ganz sensible persönliche Daten zwischen öffentlich und privat hin und her
wechseln und dass der Datenschutz letztlich Vermarktungsinteressen geopfert wird. Übrigens hat der Gesetzgeber auch hier im Gesetz die passende Vokabel verankert: Mehrwertleistungen. Ich finde, wir brauchen mehr
denn je ganz strenge Datenschutzregeln, wenn es um die
elektronische Gesundheitskarte geht.
({2})
Die FDP hat in 14 Punkten aufgelistet, wo sie Handlungsbedarf sieht. Das reicht vom Schutz von erhobenen
DNA-Daten über die Transparenz bei RFID-Technologien bis zum Schutz von Kundendaten vor Missbrauch.
Über all das können wir in den Ausschüssen sachlich
und fachlich beraten. Ich signalisiere schon einmal große
Offenheit der Linksfraktion.
Dennoch will ich an einen Gemeinplatz erinnern, bei
dem sich die FDP und die Linke wahrscheinlich wieder
einig sind: Am besten geschützt sind noch immer Daten,
die weder preisgegeben noch pflichtgemäß erhoben werden. Deshalb muss das Augenmerk vor allen Dingen auf
die Frage gerichtet bleiben: Wie können wir das Errichten von Datenbergen prinzipiell verhindern?
Da hätte ich es gern etwas grundsätzlicher, Kollegin
Piltz. Das Bundesverfassungsgericht hat den Datenschutz mehrfach gestärkt, indem es das Grundgesetz positiv interpretiert hat. Umso dringender wäre es, das
Grundgesetz explizit auf die Höhe der Zeit zu heben. Ich
befürchte nur: Das wird noch immer an der Bürgerrechtsblockade der Union scheitern.
({3})
Zurück zum FDP-Antrag: Er enthält ein gutes Dutzend Forderungen an die Bundesregierung. Diese Forderungen teile ich weitgehend. Aber weshalb richten Sie
diese Forderungen an die Bundesregierung? Sie ist die
falsche Adresse, zumindest in Teilen, weil der Gesetzgeber der Bundestag ist. Nach Lage der Dinge kommt dabei der SPD eine Schlüsselrolle zu.
({4})
Die SPD muss sich entscheiden, ob sie im Unionskorsett
verharren will oder nicht. Das ist bei den sozialen Rechten so. Das ist bei den Bürgerrechten nicht anders. Kollege Tauss, das heißt, die SPD muss sich endlich von den
Verrungenschaften ihres Exkanzlers Schröder und Exinnenministers Schily emanzipieren.
({5})
Zum Teil gilt das übrigens auch für die Grünen.
Weil aber die Dinge in der übergroßen Union/SPDKoalition so sind, wie sie sind, gebe ich dem FDP-Antrag in dieser Legislaturperiode nicht viele Chancen. Das
wird uns nicht entmutigen, weiter für den Datenschutz
zu streiten; denn Datenschutz ist und bleibt Persönlichkeitsschutz. Das ist die Grundregel und auch die Messlatte für uns alle.
({6})
Für die SPD-Fraktion gebe ich das Wort dem Kollegen Jörg Tauss.
({0})
Frau Präsidentin! Lieber Kollege Wiefelspütz, ich
überlege immer noch, inwiefern wir uns von Rechtsanwalt Schröder in Fragen des Datenschutzes emanzipieren müssten. Das können wir vielleicht separat klären.
Wir haben heute bereits eine Reihe von sehr interessanten Dingen gehört. Liebe Frau Kollegin Piltz, Sie haben ein bisschen Generationendiskriminierung betrieben,
({0})
indem Sie gesagt haben, dass ein älterer Mensch nicht
weiß, was ein Cookie ist.
({1})
Es hat in der Tat doch etwas mit „Keks“ zu tun. Es ist der
englische Begriff für Keks. So falsch ist das gar nicht.
Die Internetszene ist sehr kreativ.
({2})
Man hat ganz bewusst nach solchen Vergleichen gesucht, Frau Kollegin Philipp. „Cookie“ ist etwas wahnsinnig Sympathisches. Man vermutet nichts dahinter,
aber dann sind natürlich elektronische Krümel da - auch
insofern passt dieser bildhafte Vergleich -, die es erlauben, auf dem PC des Anwenders Infos zu hinterlegen.
Das kann positiv sein, das kann negativ sein. Positiv ist
es, wenn man es weiß und bewusst zulässt. Das gilt übrigens für den gesamten Datenschutz. Das gilt auch für
Kundenkarten und all diese Dinge. Ich nutze keine Kundenkarte, würde aber auch nicht pauschal davor warnen.
Ich will aber - das sage ich ganz bewusst in Richtung
unserer Verbraucherschützer -, dass die einzelnen Menschen wissen, was mit ihren Daten geschieht, wenn sie
eine Kundenkarte in Anspruch nehmen,
({3})
dass sie nämlich ein Profil in einem Unternehmen hinterlassen. Das muss nicht grundsätzlich von Übel sein. Es
gibt Szenarien - das geht schon in den Science-FictionBereich hinein -, dass man im Warenhaus willkommen
geheißen wird nach dem Motto: Liebe Frau Gleicke, wir
freuen uns, dass Sie wieder da sind. In Ihrer Größe haben
wir ein wunderbares Angebot. - Iris Gleicke kann dann
sagen: Das ist genau das, worauf ich warte. - Das ist
Kundennähe.
({4})
- Sie will es nicht. Ich habe es auch nur als Beispiel genannt.
Ich gehe lieber anonym in ein Geschäft und will nicht
gleich erkannt werden,
({5})
nicht deshalb, weil ich ich bin, sondern einfach deshalb,
weil ich denke, dass es doch noch ein paar Dinge gibt,
die ein Warenhaus nicht zu interessieren hat.
Wenn man ein Cookie zulässt, wenn solche Krümel
hinterlassen werden, hat man also den Vorteil, dass man
erkannt wird und möglicherweise ein individuelles Angebot bekommt.
Frau Kollegin Philipp, Sie sind die FDP heute etwas
heftig angegangen.
({6})
Mein Fraktionsvorsitzender hat mir heute Morgen zu
meinen Zwischenrufen bei der Rede von Herrn
Westerwelle - sie waren berechtigt - gesagt, ich solle zu
unserem künftigen Koalitionspartner ein bisschen netter
sein. Ich tue es jetzt. Ich finde den Antrag nicht ganz so
schlecht wie Sie, Frau Philipp. Ich halte den Antrag aber
für nicht so gut, dass wir zustimmen könnten. Frau Piltz,
immerhin unterstelle ich, dass Sie sich Mühe gegeben
haben.
({7})
- Wir sind nicht in der Schule. Freuen Sie sich doch,
wenn Sie von jemandem, der sich in dem Thema gut
auskennt, ein Lob bekommen.
({8})
Das Lob ist noch nicht einmal vergiftet.
({9})
Ich freue mich darüber - das sage ich wirklich in großem Ernst und ganz offen -, dass die FDP diesen Antrag
eingebracht hat; denn in letzter Zeit hatte man immer
den Eindruck, dass der Datenschutz eigentlich nur noch
die Altliberalen interessiert.
({10})
Ich erinnere an unsere früheren Koalitionspartner Hirsch
und Baum, die eine ganze Reihe von Prozessen angestrengt haben und die im Datenschutz wirklich Spuren
hinterlassen haben.
({11})
Das waren einmal Koalitionspartner. Da konnte man mit
der FDP noch koalieren.
({12})
Das war fast so erbaulich wie mit Ihnen, Frau Stokar,
aber nur fast.
Kommen wir nun zurück zum Thema: Ich teile die
Einschätzung der Verfasser des Antrags, also der FDP,
dass die Skandale von Lidl bis Telekom natürlich deutlich machen, dass es im privaten Bereich der Datenverarbeitung Probleme gibt. Für den staatlichen Bereich,
den Sie in Ihrer Rede heute sehr kritisch betrachtet haben
- vielfach haben wir uns damit ja kritisch auseinandergesetzt, auch mit den Vorstellungen des Innenministeriums
und anderer -, haben wir zumindest Regeln gesetzt. Welche Hürden haben wir da aufgebaut, bis hinterlegte Telekommunikationsdaten tatsächlich rechtsstaatlich durch
Polizeiorgane oder wen auch immer verwendet werden
dürfen! Ich erinnere nur an die richterliche Weisung.
Nun musste man mit Entsetzen feststellen, dass im
Privatbereich der Datenschutz nicht eine so große Rolle
gespielt hat. Vielleicht hängt das damit zusammen - ich
habe das neulich schon kritisch in Richtung des BMI gesagt -, dass das BMI gemäß der Philosophie gehandelt
hat: Wer nichts zu verbergen hat, kann seine Daten auch
offenlegen. Ich freue mich aber, dass ich diese Töne in
letzter Zeit nicht mehr gehört habe, Herr Kollege
Bergner; denn diese Philosophie hat natürlich dazu beigetragen, dass der eine oder andere im privaten Bereich
auf die Idee kommt: Wenn meine lieben Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nichts zu verbergen haben, kann ich
sie auch bis auf die Toilette überwachen. Das geht natürlich nicht. Das ist keine Frage. Deswegen finde ich es
aber gar nicht schlecht, dass wir jetzt darüber diskutieren.
Frau Kollegin Philipp, Sie haben angesprochen, dass
wir ins Bundesdatenschutzgesetz reingeschrieben haben,
dass auch noch ein Datenschutz-Audit-Gesetz kommen
soll. Sie wissen, dass das eines meiner Lieblingsthemen
ist. In diesem Punkt teile ich in der Tat die Auffassung
der FDP. Sie haben nun die Argumente dafür im Grunde
genommen geliefert. Ein Datenschutz-Audit-Gesetz bietet tatsächlich die Möglichkeit, im privaten Bereich - ({13})
- Ob Gesetze eingehalten werden, ist eine ganz andere
Frage. Sie zäumen ja das Pferd von hinten auf, indem
Sie sagen: Wenn ein Skandal beim Umgang mit Daten
aufgedeckt wird - das hat das Beispiel Telekom ja bewiesen -, bekommt eine Firma Probleme. Man kann das
natürlich auch ins Positive wenden, indem man einer
Firma, die den Datenschutz respektieren will, insbesondere den Schutz der Kundendaten - das ist ja bei Kundenkarten ganz wichtig -, und nachweist, dass sie mit
den entsprechenden Daten verantwortungsbewusst umgeht und außerdem noch besonders hohen Standards genügt, die Möglichkeit gibt, dieses Einhalten der Standards im Wettbewerb zum eigenen Vorteil einzusetzen.
Wenn wir ein entsprechendes Zertifizierungsverfahren
schaffen würden, täten wir wirklich etwas für den Datenschutz.
({14})
Ich weiß, Sie sind noch immer ein wenig skeptisch, aber
das bekommen wir innerkoalitionär sicherlich in einem
guten Sinne hin.
Die Frage des Kopplungsverbotes ist angesprochen
worden. Ein solches sehe ich nicht ganz so positiv. Natürlich kann man sagen, dass man ein Angebot eben
nicht nutzt, wenn man zu viele Daten angeben muss. Das
ist zwar Gesetzeslage, aber das kann es ja nun nicht sein.
In vielen Geschäftsbedingungen findet man ja die Aussage: Wenn Sie die Daten nicht hinterlegen, können Sie
das Geschäft mit uns nicht abwickeln. Man muss sich ja
überlegen, ob das in jedem Fall sinnvoll ist. Genau da
sind wir in einem Bereich, wo Kopplungsverbote greifen
würden. Eventuell ist man ja auf die Nutzung eines Angebotes angewiesen. Somit stellt sich hier in der Tat die
Frage, ob im Bereich des Kopplungsverbotes nicht noch
die eine oder andere Frage diskutiert werden müsste.
RFID-Chips, diese neuen Funkchips, halte ich in der
Tat für eine absolut spannende Technologie. Im Logistikbereich liegt darin die Zukunft. Wenn mit der Weiterentwicklung Wettbewerbsvorteile für Deutschland verbunden sind und wir eine führende Position dabei
einnehmen können, wäre ich der Letzte, der sich darüber
nicht freut. Ich möchte aber in aller Deutlichkeit sagen,
dass mich ärgert, dass man vonseiten des RFID-Bündnisses nur zusagt, sich um Datenschutz zu kümmern.
Solche Zusagen haben wir schon oft bekommen. In vielen anderen Fällen haben wir ja angeregt, gemeinsam
mit den Datenschützern eine Technologie verbraucherfreundlich und datenschutzfreundlich weiterzuentwickeln. Das ist aber bisher nicht erfolgt. Insofern möchte
ich dieser Branche nicht generell attestieren, dass bei ihr
alles in Ordnung ist. Ich würde ihr einfach empfehlen,
bei der Weiterentwicklung der RFID-Technologie von
vornherein auf Datenschutzverträglichkeit zu achten.
Damit hätte man global einen zusätzlichen Wettbewerbsvorteil. Hier bieten sich also zusätzliche Chancen. Wenn
das Ganze dann noch über ein Audit-Verfahren entsprechend zertifiziert würde, wäre das eine ganz interessante
Geschichte.
In diesem Zusammenhang wäre es übrigens ganz gut,
wenn diese Debatte, Herr Staatssekretär Bergner, gemäß
dem Motto: Wer nichts zu verbergen hat, kann auch offenlegen, dazu führt, dass der Vertrag zwischen dem Innenministerium und der Bundesdruckerei, was die Herstellung von Personalausweisen und Pässen angeht,
offengelegt wird.
({15})
- Wir haben Einsicht nach Informationsfreiheitsgesetz
beantragt, Kollege Wiefelspütz. Das ist schon ganz interessant. Wie gesagt, wer nichts zu verbergen hat, kann
offenlegen.
Was soll dieses Audit haben? Ich denke, es hat einen
betriebswirtschaftlichen Mehrwert. Kollege Wiefelspütz,
auch Sie sind ja ein Fan vom Datenschutz-Audit-Gesetz.
({16})
- Ein Fan! Ein Vorbereiter, ein Wegbereiter, ein Vorauseilender, wie auch immer. Ich will jetzt nicht allzu euphorisch werden. Es gibt auch im Innenministerium bereits einen Gesetzentwurf. Das finde ich sehr gut.
({17})
- Wir haben den nicht direkt bekommen, nur durch die
Verbände, aber nicht offiziell. Die Datenschutzbeauftragten haben diesen Gesetzentwurf, den ich nicht offiziell gesehen habe, aber inoffiziell bekommen habe,
({18})
als etwas lust- und lieblos bezeichnet. Das wäre ein
Punkt, bei dem wir als Parlamentarier und sicherlich
auch das Haus einen Beitrag leisten können, indem wir
sagen: Macht es mit noch mehr Lust und Liebe! Sie wissen ja: Wenn Beamte von ihrem Dienstherrn den Hinweis bekommen, dass sie nicht für den Papierkorb arbeiten, sondern dass ihre Arbeit geschätzt wird, und wenn
Herr Schäuble oder Herr Bergner mit Leidenschaft dahinterstehen, machen sie ihre Arbeit mit noch mehr Lust
und Liebe. Insofern sollten wir das ins Verfahren mit
einziehen.
({19})
- Ich hoffe, Frau Philipp, Sie machen dabei mit, das entsprechend zu transportieren.
Ziel des Audits wird also, wie gesagt, die Fortentwicklung des Datenschutzes sein.
Lassen Sie mich noch einen Punkt ansprechen, weil
Informationsfreiheit nur die eine Seite der Medaille ist.
Ich habe es gerade schon angesprochen.
({20})
Die andere Seite ist der Datenschutz. Deswegen ist der
Bundesbeauftragte für den Datenschutz auch der Beauftragte für die IT-Sicherheit. Es gibt ein paar Erfahrungen, die wir mit unserem Gesetz schon gemacht haben.
Das Verwaltungsgericht Berlin hat jetzt beispielsweise
eine Einsicht in den Mautvertrag untersagt, weil da ein
Schiedsverfahren tangiert ist. Wir haben, Herr Kollege
Wiefelspütz, bewusst gesagt, wir wollen ein staatliches
Gerichtsverfahren und nicht die Gleichsetzung. Für die
Evaluation bekommen wir also eine ganze Reihe von interessanten Punkten.
Frau Kollegin Philipp, das Verwaltungsgericht in
Düsseldorf hat jetzt geurteilt, dass eine öffentlich-rechtliche Bank in NRW nach dem dortigen Gesetz, das aber
sehr stark mit dem Bundesgesetz korrespondiert, nicht
Einsicht gewähren muss, weil der beantragende Journalist im Hintergrund mit einer Rundfunkanstalt verbandelt
sei und die Rundfunkanstalten nicht Einsicht nehmen
könnten.
({21})
So haben wir es uns allerdings nicht vorgestellt; auch das
muss ich in der Deutlichkeit sagen, denn damit hätten
wir natürlich unendlich viele Ausschlussgründe.
Das heißt, liebe Kolleginnen und Kollegen, in Sachen
Datenschutz und Informationsfreiheit gibt es einiges zu
tun. Der FDP-Antrag benennt einige Punkte, die übrigens - da hat Frau Philipp recht - bereits auf dem Weg
sind. Ich nenne das Stichwort „Scoring“, also die automatisierte Kreditverarbeitung und -bearbeitung. Da wollen wir natürlich schon wissen, welche Kriterien gespeichert werden. Die Formel, nach der das dann berechnet
wird, ist mir relativ egal. Aber wenn jemand von vornherein als Kreditnehmer abgelehnt wird, nur weil er als
Bundestagsabgeordneter ein unsicheres Arbeitsverhältnis hat, das nach vier Jahren automatisch endet, ist das
nicht akzeptabel. Entsprechende Fälle gibt es übrigens;
das ist ganz lustig, weil das Verfahren das überhaupt
nicht vorgesehen hat. Der Abgeordnete hat - trotz der
nicht erfolgten Diätenerhöhung - ein relativ hohes Einkommen, aber ein unsicheres Arbeitsverhältnis. Außerdem hat er wechselnde Wohnorte. Das alles gilt als suspekt. Wir sind im Scoring-Verfahren kreditmäßig ein
absolut suspekter Verein. Das automatisiert zu überwachen, wäre etwas, was wir nicht wollen. Hier wird sich
etwas tun.
Ansonsten muss in aller Klarheit gesagt werden - vor
dem Hintergrund dessen, was bei der Telekom, bei Lidl
oder wo auch immer passiert ist -: Es ist nicht akzeptabel
- ich glaube, da sind wir uns alle hier im Hause einig -,
dass in dieser Form mit Daten umgegangen wird, dass
Überwachungen stattfinden, dass, wie bei Lidl, der Arbeitnehmerdatenschutz mit Füßen getreten wird.
Aber vielleicht gibt es auch etwas Positives zu sagen.
Das zeigt auch die heutige Debatte. Wir haben ja oft genug, Frau Stokar, über den Datenschutz zu nächtlicher
Stunde im Bundestag diskutiert. An der heutigen DebatJörg Tauss
tenzeit kann man erkennen, dass sich Datenschutz zu einem wichtigen Thema entwickelt hat. Vielleicht - das
sage ich als Bildungspolitiker - haben wir eine ähnliche
Chance wie beim Thema PISA. Der PISA-Schock hat
dazu beigetragen, dass wir wieder über Bildung im
Lande diskutiert haben, dass es an vielen Stellen im öffentlichen Bildungswesen einen Ruck gegeben hat. Es
ist noch nicht ausreichend, aber es hat sich viel getan.
Wenn der Telekom-Skandal für den Datenschutz die
Bedeutung bekäme, die der PISA-Schock für den Bildungsbereich hat, wenn durch diesen Skandal eine
gründliche Diskussion über den Datenschutz, der an
vielen Stellen in der Tat in die Jahre gekommen ist, und
gesetzgeberisches Handeln ausgelöst würden, dann hätten wir für den Datenschutz schon etwas erreicht.
Wir gehen Schritt für Schritt vor. Wir haben das Informationsfreiheitsgesetz verabschiedet, zuvor die Umsetzung der entsprechenden EU-Richtlinie. Jetzt packen wir
das Scoring an. Die Gesamtreform des Datenschutzes
steht auf der Tagesordnung.
Frau Präsidentin, mein Wunsch, den ich abschließend
äußern möchte, aber ist, dass wir zunächst ein gutes Gesetz zum Datenschutz-Audit auf den Weg bringen.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({22})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Silke Stokar, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Werter
Herr Kollege Tauss, es ist nicht nur so, dass wir hier zu
nächtlicher Zeit über den Datenschutz debattiert haben.
Ich erinnere mich daran, dass wir zu nächtlicher Zeit
über den Datenschutz - dazu gehören die Themen Datenschutz-Audit und Scoring - auch verhandelt haben.
({0})
Es ist leider mit der SPD nicht möglich gewesen, hier zu
irgendwelchen Ergebnissen zu kommen.
({1})
Auch das gehört zur Wahrheit.
({2})
Der Datenklau bei der Telekom war mit Sicherheit
nicht der letzte große Datenschutzskandal, mit dem wir
uns hier auseinandersetzen müssen. Ich habe das Gefühl,
das ist ein wenig so wie beim Gammelfleisch: Solange
Politik und Wirtschaft nur halbherzig reagieren, folgt ein
Skandal auf den anderen.
({3})
Angesichts der letzten Skandale - Telekom und Lidl
sind nur die Spitze des Eisbergs - plädiere ich für eine
radikale Umkehr in der Datenschutzpolitik. Der Bundestag, die Privatwirtschaft und die Bundesregierung müssen sich hier mehr bewegen. Ich denke, eines hat der Telekom-Skandal gezeigt: Durch Vertrauensverlust, wie er
in den beiden genannten Unternehmen entstanden ist,
entsteht ein hoher ökonomischer Schaden. Ich kann nur
hoffen, dass die Unternehmen aus diesem Schaden klug
werden und dass die Privatwirtschaft ihre Widerstände
beim Datenschutz-Audit und bei den anderen Themen,
die hier angesprochen worden sind, aufgibt. Frau Kollegin Philipp, wir fordern staatliche Regeln und ein Datenschutzgütesiegel, damit die Bürgerinnen und Bürger erkennen können, dass da, wo Datenschutz draufsteht,
auch Datenschutz drin ist. Wir wollen ähnliche Standards wie beim Biosiegel.
({4})
Beim Thema Scoring wollen wir sicherstellen, dass es
keine soziale Diskriminierung gibt und dass keine Geodaten erhoben werden. Hier erwarten wir, dass sich die
Wirtschaft bewegt. Zu beiden Themen liegen seit geraumer Zeit Anträge der Grünen vor.
Die Grünen waren die Ersten, die konkrete Vorschläge zur Aufnahme des Datenschutzes ins Grundgesetz gemacht haben. Wir freuen uns hier auf eine kritische Auseinandersetzung. Ich möchte deutlich machen,
warum wir diesen Weg gegangen sind. Der Bundestag ist
der Verfassungsgeber. Die laxe Haltung, die sich hier
teilweise durchgesetzt hat nach dem Motto „Wir gehen
mit den Sicherheitsgesetzen bis an die Grenze dessen,
was die Verfassung zulässt, und warten dann ab, ob das
Bundesverfassungsgericht uns korrigiert“, ist dem Parlament nicht angemessen. Wir haben den Auftrag, zu prüfen, ob wir uns noch im Rahmen der Verfassung bewegen. Wir möchten nicht, dass sich die Bürgerinnen und
Bürger ihre Grundrechte aus Urteilen von Karlsruhe der
letzten zehn Jahre zusammenklauben müssen. Ein Blick
ins Grundgesetz muss ausreichen, um zu wissen, dass
das Recht auf Datenschutz und das informationelle
Selbstbestimmungsrecht Grundrechte sind.
({5})
Darüber hinaus plädiere ich für eine Organisationsänderung beim Datenschutz. Bundesinnenminister
Schäuble will die Befreiung der Sicherheitsbehörden
von datenschutzrechtlichen Grenzen. Er fordert in Umkehrung eines berühmten Satzes „Vertrauen statt Kontrolle“ für die Privatwirtschaft. Es ist außerdem ein Fehler im System, dass der Bundesdatenschutzbeauftragte
beim BMI angesiedelt ist. Der Bundesdatenschutzbeauftragte gehört zum Parlament. Hier sollte man ihn in völliger Unabhängigkeit ansiedeln.
Wir halten zwar den Grundsatz der Haushaltskonsolidierung für wesentlich. Wenn es aber im Rahmen des
BKA-Gesetzes möglich ist, einmal kurz zwischendurch
100 zusätzliche Stellen beim BKA auszuweisen, dann
sehe ich nicht ein, dass wir nicht zehn zusätzliche Stellen
beim Bundesbeauftragten für den Datenschutz einfor17906
dern können, damit er seine Kontrollen durchführen und
das Thema Informationsfreiheit bearbeiten kann.
({6})
Wenn wir schon einmal dabei sind, klar und deutlich zu
sagen, was die Antwort auf die Datenschutzskandale ist:
Ich fordere angesichts dessen den Komplettumzug nach
Berlin. Der Bundesdatenschutzbeauftragte gehört dahin,
wo das Parlament ist.
({7})
Lassen Sie mich zum Abschluss noch einen Satz zu
dem jüngsten Kompromiss der Großen Koalition sagen.
({8})
Ich finde es richtig witzig, dass Sie den Bürgerinnen und
Bürgern freistellen, ob ihr Personalausweis ihren Fingerabdruck enthält oder nicht. Es ist das erste Mal in
Deutschland, dass hoheitliche Eingriffe freigestellt werden. Wir sollten solche freiwilligen Bürgerentscheide
auch in anderen Sicherheitsbereichen zulassen. Ich kann
zum Fingerabdruck im Personalausweis nur sagen:
Meine Fingerabdrücke gehören mir. Die bekommt Herr
Schäuble nicht. Sie sind bei Herrn Schäuble nicht sicher;
er schickt sie in die USA und in andere Staaten.
({9})
Ich kann allen Bürgerinnen und Bürgern nur sagen:
Behaltet eure Fingerabdrücke! Vertraut sie nicht dem
Bundesinnenminister an! Nehmt euer Recht auf eine
freiwillige Entscheidung wahr!
({10})
Wir werden den Datenschutz aus dem Parlament heraus nach vorne bringen. Wir sind an fraktionsübergreifenden Lösungen interessiert.
Frau Kollegin!
Ich freue mich auf die Debatte.
Danke schön.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/9452 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Weiterentwicklung der Organisationsstrukturen in
der gesetzlichen Krankenversicherung ({0})
- Drucksache 16/9559 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt.
({2})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Bei allen unterschiedlichen Auffassungen im Detail waren wir uns in einem immer einig: Zu einem fairen Wettbewerb der Kassen gehören gleiche Bedingungen für
alle Kassen. Dem widerspricht, wenn für einige Kassen
das Insolvenzrecht gilt, für andere wiederum nicht.
Mit dem heutigen Gesetzentwurf werden gerechte
und wettbewerbsorientierte Organisationsstrukturen in
der gesetzlichen Krankenversicherung geschaffen. Zum
1. Januar 2010 werden alle Krankenkassen insolvenzfähig. Alle Kassen müssen ab diesem Zeitpunkt ihre Bücher nach einheitlichen Vorschriften führen. Das ist ein
längst überfälliger Schritt zu mehr Transparenz. Die
landesunmittelbaren Krankenkassen - etwa die AOK
Bayern oder die AOK Sachsen - sind aufgrund landesrechtlicher Sonderregelungen nicht insolvenzfähig; bundeseinheitliche Kassen sind es aber sehr wohl. Diese uneinheitliche Rechtslage ist ordnungspolitisch
unbefriedigend. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf
wird diese Schieflage aufgehoben. Das entspricht einem
Wunsch, der von Länderseite an uns herangetragen
wurde.
Damit verbunden ist die Verpflichtung der Kassen,
eingegangene Zusagen zur Altersvorsorge gegenüber ihren Mitarbeitern offenzulegen. Allein die Diskussion um
das Insolvenzrecht hat gezeigt, dass in diesem Bereich
dringend Handlungsbedarf besteht, da ein Großteil der
Zusagen nicht abgesichert ist.
({0})
Die Krankenkassen werden daher verpflichtet, diese
Versorgungszusagen abzusichern und im Zeitablauf ein
ausreichendes Deckungskapital zu bilden. Um eine
Überforderung zu vermeiden und einen Weg finden zu
können, der nicht beitragssatzrelevant ist, ist dafür ein
Zeitraum von 40 Jahren vorgesehen.
Wichtig ist: Jede Krankenkasse und jede Kassenart
hat für ihre Pensionsverpflichtungen genauso wie für
alle anderen Ansprüche zunächst selbst einzustehen. Auf
keinen Fall sollen Pensionslasten auf Krankenkassen anderer Kassenarten oder auf die Steuerzahler abgewälzt
werden. Erst im extrem unwahrscheinlichen Fall, dass
sämtliche Krankenkassen der jeweiligen Kassenart nicht
mehr in der Lage sind, diese Verpflichtungen zu bedienen, wird die gesetzliche Krankenversicherung insgesamt zur Haftung herangezogen. Das entspricht dem Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes.
Der Schutz im Krankheitsfall als zentraler Bestandteil
unseres Sozialstaates ist ein wichtiges Gut, für das wir
alle eine hohe Verantwortung tragen. Im vorliegenden
Gesetzentwurf sind deshalb Sonderregelungen vorgesehen. Diese stellen sicher, dass die Ansprüche der Versicherten und der Leistungserbringer auch im Fall der
Schließung oder der Insolvenz einer Kasse in vollem
Umfang gewährleistet sind.
({1})
Die gleiche Garantie gibt es für die Versorgungsansprüche der Beschäftigten bei den Krankenkassen.
({2})
Dem Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes entspricht
auch die Vorgabe - dies hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zum Risikostrukturausgleich ausdrücklich bestätigt -, dass ein gerechter Ausgleich der
Risiken zwischen den Krankenkassen organisiert werden
muss. Es liegt in der Natur der Sache, dass bei einem
solchen Ausgleich Regionen mit wohlhabenderen Versicherten etwas mehr zahlen als Regionen mit ärmeren
Versicherten. Gleichwohl steht die Bundesregierung zu
ihrer Zusage, dass die Krankenkassen in einem Land
nicht mit mehr als 100 Millionen Euro jährlich belastet
werden sollen. Da die bisherigen Vorschläge der Länder
hierzu sehr schwer umsetzbar sind, werden wir in Kürze
einen praxistauglichen Weg vorschlagen, um diese Zusage einhalten zu können.
({3})
Der Gesundheitsfonds ist ein Instrument, mit dem wir
dafür sorgen, dass die Beitragsgelder - das ist das gute
und hart verdiente Geld der Versicherten - in qualitativ
hochstehende Versorgungsangebote fließen. Der Fonds
schafft mehr Solidarität zwischen Ost und West, zwischen Nord und Süd.
({4})
Er ist die Voraussetzung dafür, dass das Risiko, mehr
Kranke versorgen zu müssen, von der einzelnen Arztpraxis und vom einzelnen Krankenhaus auf die Krankenkassen und damit auf die Versichertengemeinschaft
übergehen kann. Er wird insofern zu mehr Gerechtigkeit
in der Versorgung führen.
({5})
Der Ausgleich wird dafür sorgen, dass sich alle mit
dem gleichen Anteil ihres Einkommens an der Finanzierung beteiligen und das Geld dorthin fließt, wo mehr
kranke oder mehr ältere Menschen zu versorgen sind,
und weniger Geld dorthin, wo junge und gesunde Menschen versichert sind. Das wird die Versorgung verbessern.
Die Einführung des Fonds ist auf gutem Weg. Alles
andere - auch das möchte ich hier sagen - wäre unverantwortlich. Wir brauchen jetzt eine bessere Verteilung
der Gelder, auch zum Wohle der Versicherten. Wir brauchen jetzt eine gerechtere Honorierung der Ärztinnen
und Ärzte. Dieser Gesetzentwurf ist ein Schritt auf dem
Weg dorthin. Ich denke, dass sich das in den Beratungen
zeigen wird.
Vielen Dank.
({6})
Für die FDP-Fraktion gebe ich das Wort dem Kollegen Daniel Bahr.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesgesundheitsministerin hat gerade gesagt
- das hat sie auch in den Reden zur letzten Gesundheitsreform gerne so formuliert -, dass es der Bundesregierung darum geht, faire Wettbewerbsbedingungen zu
schaffen.
In der Tat wäre es für faire Wettbewerbsbedingungen
erforderlich, ein einheitliches Insolvenzrecht für die
Krankenkassen zu schaffen. Die Wettbewerbsbedingungen sind nämlich unfair, wenn für die eine Kasse ein Insolvenzrecht gilt und für die andere nicht. Dann brauchen
wir aber eine Insolvenzordnung, die wettbewerbsorientiert ist und die nicht das Ziel hat, ein zentralistisches Gesundheitswesen zu schaffen.
({0})
Frau Gesundheitsministerin, mit dem Insolvenzgesetz
- in Kombination mit der letzten Gesundheitsreform ebnen Sie den Weg zu einem zentralistischen, immer
stärker staatlich organisierten Gesundheitswesen. Das ist
letztlich der Abschied von einem gegliederten Krankenversicherungssystem, das auch regional orientiert ist.
Das Ziel der schwarz-roten Gesundheitsreform war
laut Gesetzestitel, den Wettbewerb zu stärken. Angesichts des Gesundheitsfonds, eines staatlich festgesetzten Einheitsbeitragssatzes und von vielem anderen war
schon der Titel ein Hohn. Das hier vorliegende Insolvenzgesetz hat aber mit dem Wettbewerbsgedanken in
vielen Bereichen wenig zu tun.
({1})
Der von der Koalition neu geschaffene Spitzenverband Bund der Krankenkassen sollte nach Ihren Aussa17908
Daniel Bahr ({2})
gen ein kleiner, schlanker und vor allem wettbewerbsneutraler Verband sein. Die einzelnen Kassen - das war
doch die Idee; ich habe Ihre Reden gelesen - sollten
mehr Gestaltungsmöglichkeiten erhalten, um im Wettbewerb miteinander zu bestehen. Mit diesem Gesetz bauen
Sie allerdings den Einfluss des Spitzenverbandes Bund
deutlich aus; er wird zu einer entscheidenden zentralistischen Kontroll- und Gestaltungsinstanz.
Ich möchte einige Beispiele dafür nennen. Der Spitzenverband Bund erhält zukünftig die Vierteljahresrechnungen aller Krankenkassen sowie deren Jahresrechnungen. Damit erhält er Einblick in die Geschäftsdaten. Im
Hinblick darauf, dass der Spitzenverband Bund von
AOK und Ersatzkassen dominiert wird, kann von einer
neutralen Institution im Wettbewerb der Krankenkassen
kaum die Rede sein.
Der Spitzenverband Bund kann darüber hinaus Fusionsvorschläge machen, wenn bei einer Krankenkasse
Zahlungsunfähigkeit droht. Damit gewinnt er Gestaltungskompetenz: Er ist nicht mehr ein neutraler Verband,
sondern entscheidet mit, wie das Gesundheitswesen
strukturiert sein soll. Im Benehmen mit dem Spitzenverband Bund kann die Aufsichtsbehörde bei gefährdeter
Leistungsfähigkeit sogar gegen den Willen der betroffenen Krankenkasse eine Fusion herbeiführen.
({3})
Was hat das bitte schön mit Wettbewerb zu tun?
Man möge sich nur einmal vorstellen - ich übertrage
das auf einen anderen Bereich -, staatliche Aufsichten
zwängen die Commerzbank, mit dem angeschlagenen
Konkurrenten, der staatlichen IKB, zu fusionieren.
({4})
Das, was Sie hier vorschlagen, ist staatlicher Dirigismus
und hat mit Wettbewerbsorientierung nichts zu tun.
({5})
Der Spitzenverband Bund bestimmt in seiner Satzung
zudem über die Gewährung finanzieller Hilfen zur Ermöglichung oder Erleichterung von Fusionen. Die finanziellen Hilfen durch den Spitzenverband Bund werden
unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Leistungsfähigkeit der Krankenkassen - wie es heißt - „angemessen“ aufgeteilt. „Angemessen“ ist ein völlig unklarer
und unscharfer Begriff, der Manipulationen ermöglicht.
Frau Widmann-Mauz, was ist denn angemessen? Wie
soll denn die Leistungsfähigkeit bestimmt werden? All
das soll der Spitzenverband Bund für sich und seine Mitglieder entscheiden können.
Der Spitzenverband Bund, der von Ihnen als schlanker Verband gedacht war, erhält also immer mehr Kompetenzen, auch in die Strukturen der Krankenkassen einzugreifen. Das macht uns sehr viel Sorgen; denn wir
haben den Eindruck, dass mit den in diesem Gesetz vorgesehenen Veränderungen beim Spitzenverband Bund
eine Einheitsversicherung vorbereitet werden soll.
In Kombination mit der Gesundheitsreform wird das
für viele Krankenkassen auch zu einer realen Bedrohung: Der Gesundheitsfonds, der die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung nur noch zu 95 Prozent
decken muss, in Kombination mit der Begrenzung des
Zusatzbeitrages auf 1 Prozent des Bruttoeinkommens
versetzt viele Krankenkassen, was die Insolvenzgefahr
anbelangt, in allerhöchste Alarmbereitschaft.
Der Sachverständigenrat hat darauf hingewiesen, dass
die heutigen Regelungen zu Gesundheitsfonds und Zusatzbeitrag viele Krankenkassen, obwohl sie möglicherweise wirtschaftlich gut handeln, in die Gefahr einer Insolvenz bringen, weil sie möglicherweise nicht mit den
Geldern auskommen können, die sie nur im engen Rahmen über Zusatzbeiträge generieren dürfen.
Ich möchte auf einen anderen Punkt hinweisen: auf die
Frage, was demnächst umverteilt werden soll. Demnächst
sollen auch die Verwaltungskosten bei der Umverteilung
berücksichtigt werden. Das ist aber bisher ganz bewusst
nicht über den Risikostrukturausgleich umverteilt worden. Auch in Ländern wie den Niederlanden, wo es schon
einen krankheitsbezogenen Risikostrukturausgleich gibt,
wurden die Verwaltungskosten übrigens ganz bewusst
nicht einbezogen, weil man der Meinung ist, dass die Verwaltungskosten der Krankenkassen ein Wettbewerbsparameter sein sollen. Sie sehen aber vor, dass die Verwaltungskosten nach einem 50 : 50-Schlüssel - 50 Prozent
nach Krankheitsbildern, 50 Prozent nach Zahl der Versicherten - umverteilt werden. Ich frage Sie: Warum überlassen wir die Verwaltungskosten nicht dem Wettbewerb?
Warum muss das umverteilt werden?
Es gab sogar Forderungen - das stand im ursprünglichen Referentenentwurf -, die Kosten im Verhältnis
70 : 30 umzuverteilen. Ich sage Ihnen, warum die Nettoverwaltungskosten pro Mitglied im Jahr 2006 bei der
AOK Thüringen nur 122,11 Euro betragen haben, während sie bei der AOK Hessen 179,56 Euro betragen haben: Das liegt vielleicht daran, dass die AOK Thüringen
im Wettbewerb entschieden hat, die Verwaltungsprozesse zu verschlanken, um so die Effizienz zu stärken
und einen Wettbewerbsvorteil zu erhalten.
Sie wollen diesen Wettbewerbsvorteil, den die Kassen
haben, über Verwaltungskosten immer weiter negieren.
Sie wollen auch das umverteilen.
Der vorliegende Gesetzentwurf - Frau Schmidt hat
darauf hingewiesen, indem sie von der Konvergenzklausel sprach - wird das Korrekturgesetz für die verkorkste
Gesundheitsreform. Ich sage Ihnen voraus, dass Sie dieses Gesetz nutzen werden, um über Änderungsanträge
Korrekturen an der Gesundheitsreform vorzunehmen.
({6})
- Frau Ferner, Sie haben doch eben gehört, dass Korrekturen vorgenommen werden müssen, weil die KonverDaniel Bahr ({7})
genzklausel so nicht umsetzbar ist. Das werden Sie natürlich über dieses Insolvenzgesetz machen.
({8})
Vieles von dem, was Sie im Rahmen der Reform beschlossen haben, lässt sich so nicht umsetzen, zum Beispiel die 1-Prozent-Begrenzung beim Zusatzbeitrag, der
Wettbewerbsrahmen für Rabattverträge, die Konvergenzklausel und vieles andere mehr. Ich sage Ihnen voraus: Wir werden erleben, wie Sie versuchen, über dieses
Gesetz Korrekturen an der Gesundheitsreform vorzunehmen. Das Beste wäre, wenn Sie gleich auf den unsinnigen und völlig überflüssigen Gesundheitsfonds verzichteten.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Annette WidmannMauz, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Nachhaltigkeit ist ein vieldiskutierter gesellschaftlicher Grundsatz in diesem Hause bei der Energiepolitik, beim Klimaschutz und bei den Staatsfinanzen.
Auch in der Sozialpolitik können wir diesem Postulat
nicht ausweichen. Denn auch in der Sozialpolitik gilt es,
nachhaltige Antworten auf die Frage der Generationengerechtigkeit zu entwickeln und das Gesundheitssystem
so auszurichten, dass wir die Kosten der Sozialsysteme
heute nicht regelmäßig auf die Schultern der kommenden Generationen lenken und legen.
Unser Ziel muss es also sein, in der gesetzlichen Krankenversicherung den notwendigen Ausgabenanstieg - er
ist notwendig, weil die Bevölkerung älter wird und der
medizinische Fortschritt vieles mehr möglich macht, das
allen zugute kommen soll - so moderat zu gestalten, dass
die Lasten auch für künftige Generationen bewältigbar
bleiben. Das heißt, Wettbewerb, Transparenz, Effizienz,
Kosten- und Verantwortungsbewusstsein sowie das Subsidiaritätsprinzip müssen auch in der gesetzlichen Krankenversicherung gestärkt werden.
Mit der Gesundheitsreform des Jahres 2007 haben wir
dazu einen wichtigen Schritt getan. Wir sorgen damit für
mehr Transparenz und mehr Wettbewerb im System. Die
Instrumente fangen an, zu greifen. Wir haben eine Vielzahl von neuen vertraglichen Möglichkeiten, die die
Krankenkassen nutzen. Denken Sie an Rabattverträge,
an Hausarztverträge und an die einsetzende Straffung
der Organisationsstrukturen in den Krankenkassen.
({0})
Zu dieser Transparenz, die wir im Übrigen auch bei
den Leistungserbringern einfordern, gehört auch mehr
Transparenz in den Krankenkassen. Von einigen Kassen
wurde in der Vergangenheit durchaus der Mechanismus
praktiziert - und leider Gottes von mancher Aufsicht geduldet -, bei höherem Finanzbedarf lieber Schulden zu
machen, als die Beiträge zu erhöhen.
({1})
Die Schulden von gestern sind die höheren Beiträge von
heute. Aber wir haben genau dies mit dem Gesundheitsmodernisierungsgesetz unterbunden. Denn die Krankenkassen wurden verpflichtet, bis Ende 2007 ihre Schulden
abzubauen. Wir haben diese Frist verlängert. Bis zum
Ende des nächsten Jahres werden wir diesen Zustand erreicht haben.
Summa summarum ist die Entwicklung der gesetzlichen Krankenversicherung seit 2004 durch eine finanzielle Konsolidierung gekennzeichnet. Aus über 6 Milliarden Euro Schulden netto wurden ein Überschuss in
Höhe von 1,8 Milliarden Euro und Reserven in Höhe
von 3,2 Milliarden Euro. Das ist wichtig und war vor
fünf Jahren so nicht absehbar. Damals waren noch über
300 Kassen verschuldet. Ende dieses Jahres wird es,
wenn alles weiter so gut läuft, keine mehr sein. Das ist
wichtig. Denn das schafft genau die Wettbewerbsvoraussetzungen und die Gleichheit, die an der Stelle notwendig ist.
({2})
Transparenz und gleiche Wettbewerbsbedingungen sind
auch für den Wettbewerb zwischen den gesetzlichen
Krankenkassen essenziell. Wir haben als Gesetzgeber
die Aufgabe, dafür die Rahmenbedingungen zu schaffen.
Derzeit - die Ministerin hat das ausgeführt - gilt die
Insolvenzordnung nur für bundesunmittelbare Krankenkassen. Mit dem Gesetz zur Weiterentwicklung der Organisationsstrukturen in der gesetzlichen Krankenversicherung, das heute in erster Lesung beraten wird, wollen
wir diesen Ungleichheitszustand beheben und die erforderliche Transparenz hinsichtlich der Finanzen der Kassen erhöhen. Auch das ist ein unabdingbarer Baustein,
um unser Gesundheitssystem zukunftssicher zu machen.
Im vorliegenden Entwurf eines Insolvenzgesetzes - ich
nenne es jetzt einmal so, weil diese Bezeichnung den
Schwerpunkt des Gesetzentwurfes am besten widerspiegelt - ist vorgesehen, dass ab dem 1. Januar 2010 alle
Krankenkassen der Insolvenzordnung unterliegen. Darüber hinaus soll die implizite Verschuldung durch versteckte Risiken bzw. durch sogenannte DO-Lasten, also
durch Altersversorgungslasten, die für die Dienstordnungsangestellten entstanden sind und weiterhin entstehen, beendet werden.
Jetzt haben die Kassen den Auftrag, im Hinblick auf
die zukünftige Geltendmachung von Versorgungsansprüchen innerhalb von 40 Jahren Kapital aufzubauen.
Diese lange Zeitspanne wird vorgesehen, um eine Überforderung einzelner Krankenkassen zu verhindern. Jede
Kasse hat für die von ihr begründeten Pensionsverpflichtungen selbst aufzukommen. Das entspricht der gewollten Subsidiarität auch im Gesundheitswesen.
Das Schließungsverfahren hat Vorrang vor der Einleitung eines Insolvenzverfahrens. Auch das haben wir
ganz bewusst zum Vorteil der Versicherten, der Leistungserbringer und der Beschäftigten in den Kassen so
entschieden.
Im Laufe der Beratungen innerhalb der Bundesregierung konnte eine ganze Reihe von Verbesserungen erreicht werden.
({3})
Im Vergleich zum ersten Referentenentwurf ist es zum
Beispiel gelungen, eine unakzeptable Kompetenzausdehnung des Spitzenverbandes Bund zu vermeiden.
({4})
Es ist inzwischen nicht mehr so, wie Sie es dargestellt
haben. Deshalb ist dieser Entwurf eine wirklich gute
Grundlage.
({5})
Es gibt keine Zwangsfusionen von Krankenkassen
durch den Spitzenverband Bund.
({6})
Dieses Recht kann nur von der Aufsichtsbehörde ausgeübt werden.
({7})
- Lieber Kollege Bahr, wenn Sie ein Beispiel anführen,
dann müssen Sie das richtig machen. Sie müssen beachten, was im Gesetzentwurf steht. Sie haben gesagt, die
Commerzbank könne nicht gezwungen werden, die IKB
zu schlucken. Das ist aber überhaupt nicht Gegenstand
dieses Gesetzes. Umgekehrt dürfen die Verantwortlichen
bei der IKB doch nicht sagen: Wir möchten nicht von einem leistungsstärkeren Partner übernommen werden,
sondern weiterhin in unserer schwierigen Situation verbleiben.
({8})
Das ginge zulasten der Versicherten und der Beitragszahlerinnen und Beitragszahler. Hier müssen wir leistungsfähige Strukturen schaffen.
({9})
- Im Gesetz steht: wenn freiwillige Vereinbarungen in
den Systemen nicht notwendig und nicht mehr möglich
sind; nicht mehr und nicht weniger. Ihr Beispiel ist
falsch.
({10})
Die Möglichkeiten des Spitzenverbandes Bund, auf
die Gestaltung der Haushalte der Kassen Einfluss zu
nehmen, wurden deutlich eingeschränkt. Statt einer
Pflicht der Krankenkassen, den Spitzenverband Bund
bei geringfügiger Abweichung von den Einnahmen zu
informieren, wird jetzt ein realistisches und praktikables
Frühwarnsystem eingeführt. Wir dürfen nicht immer
warten, bis das Kind in den Brunnen gefallen ist, sondern wir müssen frühzeitig reagieren, wenn die Mechanismen nicht mehr greifen. Der Spitzenverband Bund ist
verpflichtet, die Aufsichtsbehörden zu informieren; das
ist auch richtig. So kann die Aufsicht bei einer Unterfinanzierung ihre Verantwortung wahrnehmen.
Auch bei etwaigen Finanzhilfen hat sich das Subsidiaritätsprinzip durchgesetzt; das ist gut so. Die Finanzhilfen innerhalb der Kassenart haben jetzt eindeutigen Vorrang vor finanziellen Hilfen des Spitzenverbandes Bund.
Diese sind nur noch möglich, wenn freiwillige finanzielle Hilfen der Kassenart entweder schon erfolgt oder
nicht mehr möglich sind. Und selbst diese Regelung gilt
nur für Leistungszusagen, nicht für sogenannte DO-Lasten.
Uns, der Union, war von Anfang an wichtig, dass die
wesentlichen Rechnungslegungsvorschriften des Handelsrechts jetzt auch für die Krankenkassen gelten. Es
müsste doch gerade im Interesse einer liberalen Partei
sein,
({11})
dass wir dafür sorgen wollen, dass hier nicht nach anderen Kriterien gewirtschaftet wird als in den übrigen Unternehmensbereichen, die im Zweifel sogar im Wettbewerb miteinander stehen.
({12})
Dadurch wird die Transparenz hinsichtlich der Finanzen
der Kassen erheblich verbessert. Das ist dringend überfällig und notwendig.
({13})
Die Bundesknappschaft muss sich in ihrer Haushaltsführung wie die anderen Kassen an die im Handelsgesetzbuch geregelten Grundsätze einer ordnungsgemäßen
Buchführung und Bilanzierung halten. Dies ist ein richtiger Schritt zur Anwendung der Bedingungen, die für geöffnete, im Wettbewerb stehende Krankenkassen gelten.
Lieber Kollege Bahr, Sie haben den Schlüssel für die
Ermittlung der standardisierten Verwaltungsausgaben
angesprochen, die sogenannte 50 : 50-Regelung. Transparenz ist im Gesundheitswesen gerade bei den Verwaltungskosten wichtig. Noch immer gehören die Verwaltungskosten je Versicherten - sie sind in diesem
Zusammenhang die aussagekräftigsten Werte - zu den
am besten gehüteten Geheimnissen der Krankenkassen.
Sich selbst Versorgerkassen nennende Krankenkassen
fordern eine Umverteilung, die weit über die vom Gesetzgeber vorgesehene 100-prozentige Finanzkraftangleichung hinausgeht.
({14})
Das würde diejenigen Kassen finanziell bevorzugen, die
schon über den morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich deutlich höhere Zuweisungen erhalten.
({15})
Kollegin Widmann-Mauz, achten Sie bitte auf die
Zeit.
Eines ist klar - Sie haben es durch Ihre Forderung,
nichts auszugleichen, bestätigt -:
({0})
Der im Gesetzentwurf befindliche Aufteilungsschlüssel
stellt eine sachgerechte Lösung dar.
Ich fasse zusammen und komme zum Schluss: Mit
diesem Gesetzentwurf werden das Subsidiaritätsprinzip
und der Wettbewerb gestärkt und wird das Verantwortungsbewusstsein der Krankenkassen geschärft. Wir
schaffen damit mehr Transparenz im Gesundheitswesen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Für die Fraktion Die Linke hat nun der Kollege Frank
Spieth das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Meine
Damen und Herren! Mit dem Gesetzentwurf, über den
wir heute in erster Lesung beraten, wird, wie wir gehört
haben, der Versuch unternommen, im Zusammenhang
mit dem Start des Gesundheitsfonds im Jahre 2009 die
Schließung und/oder die Insolvenz aller gesetzlichen
Krankenkassen zu regeln. Damit wird ein Ablasshandel
mit den Bundesländern vollzogen: Die Länder werden
- das war ihr dringlicher Wunsch - aus der Haftung für
die landesunmittelbaren Krankenkassen entlassen. Nur
darum geht es bei diesem Gesetzentwurf.
Für die Fraktion Die Linke ist ein Insolvenzrecht für
die gesetzliche Krankenversicherung sozialstaatlich wie
verfassungsrechtlich in hohem Maße bedenklich. Es
stellt sich die Frage: Wozu brauchen wir eine Insolvenzfähigkeit gesetzlicher Krankenversicherungen? Sind gesetzliche Krankenkassen tatsächlich mit Privatunternehmen vergleichbar? Treffen sie im Rahmen der Erfüllung
ihrer Aufgaben tatsächlich unabhängige unternehmerische Entscheidungen? Und wer zahlt die Zeche, wenn
eine Krankenkasse insolvent wird? Die Zeche - das kann
man jetzt schon sagen - zahlen allein die Versicherten.
Die Einnahmen werden mit der Einführung des Gesundheitsfonds 2009 nicht mehr von den gesetzlichen
Krankenkassen verantwortet, sondern von der Bundesregierung. Sie legt die Beiträge der Versicherten und der
Arbeitgeber sowie den Steuerzuschuss fest. Die Ausgaben werden im Startjahr 2009 angeblich - wir hoffen,
dass es so sein wird - zu 100 Prozent durch den Gesundheitsfonds finanziert. Die Ausgaben basieren allerdings
auf Leistungen, die im Wesentlichen durch Gesetz definiert sind. Die Krankenkassen haben einen geringen unternehmerischen Entscheidungsspielraum. Er besteht darin, dass durch den Gesundheitsfonds nicht finanzierte
Leistungen über eine zusätzliche Kopfpauschale, die
ausschließlich von den Versicherten gezahlt wird, finanziert werden können.
Die gesetzliche Krankenversicherung ist nach der
ständigen Rechtsprechung Teil der mittelbaren Staatsverwaltung. Das Bundessozialgericht hat aus Art. 20
Abs. 1 des Grundgesetzes immer eine Verpflichtung des
Bundes und der Länder, einen funktionsfähigen und sozialen Krankenschutz zu gewährleisten, abgeleitet. Ich
frage Sie allen Ernstes: Was macht es dann für einen
Sinn, eine Insolvenzfähigkeit der Krankenkassen zu organisieren? Sie schreiben doch selbst in Ihrem Gesetzentwurf, dass die Haftung der Krankenkassen untereinander Vorrang hat und nur, falls unvermeidbar, das
komplizierte Schließungsverfahren eingeleitet werden
soll. Welchen Sinn macht dann also diese Regelung zur
Insolvenzfähigkeit?
Die finanziellen Aufwendungen der Krankenkassen
für die Insolvenzsicherung, die Alterssicherung und den
Haftungsfonds, um das Risiko einer Insolvenz abzudecken, müssen zukünftig zusätzlich zu den bisherigen
Leistungen aufgebracht werden. Auch dies zahlen dann
alleine die Versicherten einer Kasse. Arbeitgeber zahlen
keinen Cent dazu. Das ist aus unserer Sicht ein Skandal.
({0})
Absurd finden wir die Tatsache, dass die Haftung der
Bundesländer auf deren Betreiben hin bis zum 1. Januar 2009 entfallen soll, während das Insolvenzrecht mit
all seinen Folgen nach Ihren Vorschlägen erst zum 1. Januar 2010 in Kraft tritt. Hier ist wohl eine Deckungslücke entstanden,
({1})
die quasi im großen Loch entschwunden ist. - Ich habe
gerade heute noch einmal aktuelle Gutachten zu diesem
Thema gelesen. Es wird dort ausdrücklich bestätigt, dass
ganz eindeutig eine Haftungslücke vorhanden ist.
Unverantwortlich ist aber erst recht - wie Rechtsexperten sagen -, dass vollkommen unklar bleibt, wie
die Behandlung der Kranken im Falle der Insolvenz fortgesetzt und die daraus abgeleitete Finanzierung gesichert
werden soll. Ebenso unklar bleibt, wie die Ansprüche
von Ärzten und Krankenhäusern rechtlich abgesichert
und zeitnah befriedigt werden.
({2})
Es bleiben also nicht nur Fragen nach dem Sinn des
Gesetzes, sondern auch eine Menge rechtlicher Bedenken. Ich finde, im Interesse der Krankenversicherten haben wir in der Tat allen Anlass, uns darüber aufzuregen,
auf welche Art und Weise hier über die Interessen der
Versicherten und auch der Leistungserbringer hinweggegangen wird.
Im Interesse der Versicherten und im Interesse der
Leistungsbringer werden wir diese unsinnige Regelung
zur Insolvenzfähigkeit der Krankenkassen im weiteren
Verfahren hoffentlich zu Fall bringen.
({3})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die
Kollegin Birgitt Bender das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die getragenen Reden, die hier vonseiten der Koalitionsfraktionen gehalten werden,
({0})
können nicht darüber hinwegtäuschen, dass der vorliegende Gesetzentwurf nichts anderes als der Ausdruck
von Reformversagen in der Gesundheitspolitik ist. Warum? Frau Widmann-Mauz, Sie als gesundheitspolitische Sprecherin der Union versteigen sich ja sogar dazu,
Ihre bisherigen sogenannten Reformen als Ausdruck sozialer Nachhaltigkeit zu preisen. Ich sage Ihnen: Das ist
genauso wie die Tatsache, dass die CDU die Atomenergie neuerdings als Ökoenergie bezeichnet, nämlich voll
daneben.
({1})
In Wirklichkeit ist es doch so: Die gesetzlichen Krankenkassen schreiben rote Zahlen. Im ersten Vierteljahr
gab es ein Defizit von über 1 Milliarde Euro. Dazu sagt
das Bundesgesundheitsministerium in den üblichen
Pressemitteilungen, das sei jahreszeitlich durchaus üblich. Glaubt man der Regierung und der Koalition, dann
geht es der GKV richtig gut. Ich frage mich dann aber:
Wieso reden wir heute eigentlich über Krankenkasseninsolvenzen, wenn doch alles ganz wunderbar ist? Warum
ist es so dringend, das Insolvenzrecht kurz vor der
Scharfschaltung des Gesundheitsfonds noch in das Gesetz einzufügen? Ich will Ihnen sagen, weshalb.
Es gibt zwei Gründe. Erstens. Sie haben vor den dringendsten Reformaufgaben in der Krankenversicherung
kapituliert. Mit Ihrer sogenannten Gesundheitsreform
leisten Sie überhaupt nichts dazu, die Finanzierung der
Gesundheitsversorgung über den Tag hinaus zu gewährleisten.
({2})
Sie tun eben nichts dafür, die Schere zwischen den steigenden Ausgaben und der schwindenden Finanzierungsbasis zu schließen. Im Gegenteil: Sie öffnet sich weiter.
Trotz einer günstigen Arbeitsmarktsituation schreibt
die GKV rote Zahlen.
({3})
Man mag sich gar nicht vorstellen,
({4})
wie es wäre, wenn wir uns in einem Konjunkturtief befänden. Das heißt, dadurch, dass Sie hinsichtlich der
Nachhaltigkeit in der Gesundheitsversorgung nichts tun,
treiben Sie die Kassen geradezu in die Zahlungsunfähigkeit.
Zweitens. Es kommt noch etwas hinzu: Das Insolvenzrecht wird auch deshalb so wichtig, weil die Koalition
mit dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz ein Gesetz
verabschiedet hat, in dem nichts, aber auch gar nichts zusammenpasst. Ab 2010 sollen die Kassen nur noch
95 Prozent ihrer Leistungsausgaben aus dem Gesundheitsfonds finanziert bekommen. Die restlichen 5 Prozent sollen sie über Zusatzbeiträge finanzieren.
({5})
- Das steht in eurem Gesetz. Ihr hättet es ja wenigstens
lesen können.
({6})
Der Zusatzbeitrag belastet einseitig die Versicherten
- das ist schon schlimm genug -, aber vor allem wird er
in der vorgesehenen Fassung zu schweren Verwerfungen
im Kassensystem führen. Darauf haben während der Gesetzesberatungen schon etliche Sachverständige hingewiesen, übrigens auch diejenigen, die Sie selber eingeladen haben.
Der Zusatzbeitrag ist in der beschlossenen Fassung
nicht umsetzbar. Durch die Koppelung von Zusatzbeitrag, einprozentiger Überlastungsgrenze und 8-Euro-Bagatellgrenze wird die Höhe des Zusatzbeitrages nämlich
nicht von der Wirtschaftlichkeit einer Kasse, sondern
von der Einkommens- und Familienstruktur ihrer Mitglieder abhängig sein.
({7})
Das heißt, je mehr Mitglieder einer Kasse wegen geringen Einkommens unter die Belastungsgrenze fallen und
je mehr Kinder diese Kasse mitzuversichern hat, desto
höher wird der Zusatzbeitrag sein, den sie verlangen
muss. Damit wird sie im Kassenwettbewerb völlig unverschuldet zurückfallen. Es sind sogar Konstellationen
denkbar, in denen eine Kasse mit vielen einkommensBirgitt Bender
schwachen und kinderreichen Mitgliedern über ihren
Zusatzbeitrag gar nicht das Finanzvolumen realisieren
kann, das sie zur Versorgung ihrer Versicherten braucht.
({8})
- Diese Kasse müsste dann Insolvenz anmelden, Frau
Widmann-Mauz, und zwar nicht, weil sie schlecht wirtschaftet, sondern weil sie im Sinne des von Ihnen verabschiedeten Gesetzes die falschen Mitglieder hat. Ihr Vorhaben ist eine Reise nach Absurdistan.
({9})
Aber statt daraus die Konsequenzen zu ziehen und
das Durcheinander zu beheben, das Sie angerichtet haben, machen Sie einfach weiter. Diese Geisterfahrt wird
spätestens im Jahr 2010 zu einer Welle von Kasseninsolvenzen führen.
Damit wir uns richtig verstehen: Die Grünen sind
nicht dagegen, dass die Krankenkassen die Konsequenzen ihres Finanzgebarens tragen müssen.
({10})
Dazu gehört auch das Insolvenzrisiko.
({11})
Wir sind aber entschieden dagegen, dass eine Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen ihrer Arbeit
nicht nachkommen und dann ein Gesetzentwurf durch
den Bundestag gepeitscht wird, mit dem sie die Folgekosten ihrer Arbeitsverweigerung auf die Beitragszahler
abwälzen. Genau das findet hier statt. Das lassen wir
aber nicht durchgehen.
({12})
Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Dr. Carola
Reimann das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf werden alle
Krankenkassen insolvenzfähig, auch die landesunmittelbaren, für die das bisher nicht galt. Es geht nicht um Insolvenzen, sondern um Insolvenzfähigkeit.
({0})
Das ist ein großer Unterschied. Die allermeisten Kassen
sind bereits insolvenzfähig.
Die Regelungen stellen aber auch sicher, dass die Altersversorgungsansprüche, die die Beschäftigten der
Kassen erworben haben, im Insolvenzfall abgedeckt sind
und ausgezahlt werden können. Das sieht das Regelwerk
zur Insolvenzfähigkeit vor.
Gleichzeitig regelt der Gesetzentwurf auch wichtige
Teile des Finanzausgleichs. Auf die unterschiedlichen
Versichertenstrukturen der Krankenkassen wurde bereits
hingewiesen. Neu ist auch, dass die Verwaltungskosten
in den Finanzausgleich einbezogen werden.
({1})
Das ist richtig. Es muss aber auch richtig gewichtet werden.
({2})
Der vom Kabinett vorgelegte Gesetzentwurf setzt hier
unserer Meinung nach einen falschen Schwerpunkt.
Nebenbei bemerkt - um in Sachen Verwaltungskosten
aller platten Polemik über Glaspaläste und große Dienstwagen zuvorzukommen -: Es geht nicht darum, Bürokratie zu fördern oder Verschwendung zu finanzieren.
({3})
Es geht im Gegenteil darum, effizienzfördernden Wettbewerb auch im Bereich der Verwaltung zu etablieren.
Bisher waren die Verwaltungskosten nicht Teil des Finanzausgleichs. Deshalb hatten Kassen mit höheren Verwaltungskosten einen Beitragssatznachteil, und zwar unabhängig davon, ob sie besonders unwirtschaftliche
Verwaltungsstrukturen hatten oder ob sie sich besonders
intensiv um ihre kranken Versicherten vor Ort gekümmert haben.
Eine Internetkasse ohne Geschäftsstellen und mit
weitgehend gesunden Versicherten braucht nun einmal
weniger Verwaltung als eine Versorgerkasse mit Mitgliederservice und Geschäftsstellen vor Ort und einem Versorgungsmanagement für chronisch Kranke.
({4})
Weil wir aber eine bessere Betreuung der Versicherten
fördern wollen, dürfen wir nicht zulassen, dass Krankenkassen, die Betreuung anbieten, in Zukunft wirtschaftliche Nachteile erleiden. Die Krankenkassen brauchen
also einen angemessenen Ausgleich für ihre Verwaltungskosten.
Die entscheidenden Fragen lauten nun: Was ist angemessen? Woran sollen sich die Verwaltungskosten orientieren? Da ist zum einen - unbestritten - die Größe einer
Krankenkasse. Je mehr Versicherte, desto mehr Verwaltung ist erforderlich.
({5})
Da ist zum anderen - das ist ebenso unbestritten - der
Gesundheitszustand der Versicherten. In den letzten
13 Jahren meiner Mitgliedschaft in der gesetzlichen
Krankenversicherung habe ich keine Geschäftsstelle
meiner Krankenkasse als Patientin von innen gesehen.
Darüber bin ich froh, und dafür bin ich dankbar.
({6})
Chronisch Kranke brauchen dagegen neben medizinischer Versorgung eine intensive und kontinuierliche Betreuung und Beratung durch ihre Krankenkasse. Es liegt
deshalb auf der Hand, dass neben der Zahl der Versicherten die Morbidität bei der Höhe der Verwaltungskosten
berücksichtigt werden muss, und das in größerem Umfang.
({7})
Das ist im Übrigen auch in der Pflegeversicherung so.
Hier haben sich die Krankenkassen darauf verständigt,
dass 70 Prozent der Verwaltungskosten nach der Morbidität und 30 Prozent nach der Größe der Krankenkasse
bzw. der Zahl der Versicherten bemessen werden.
({8})
Dieses Verhältnis spiegelt die tatsächlichen Kosten wider. Deshalb sollte es unserer Meinung nach im Gesetz
verankert werden.
({9})
Die nun vorgeschlagene 50 : 50-Aufteilung benachteiligte dagegen vor allem die Krankenkassen, die nur deshalb höhere Verwaltungskosten haben, weil sie sich intensiver um ihre kranken Versicherten kümmern und
dazu zum Beispiel ein flächendeckendes Geschäftsstellennetz vorhalten. Eine 50 : 50-Aufteilung schafft deshalb
unserer Meinung nach die falschen Anreize. Für solche
Krankenkassen würde es unter diesen Bedingungen lohnend sein, Service und Betreuung für ihre Versicherten
einzuschränken und Geschäftsstellen zu schließen.
({10})
Das ist nicht im Sinne der SPD. Wir wollen, dass die
Krankenkassen einen Wettbewerb um die beste Versorgung führen und sich besonders um kranke Versicherte,
um wirkliche Patienten kümmern und keinen Wettbewerb führen, bei dem es nur darum geht, sich gegenseitig
die gesunden Versicherten abzujagen.
({11})
Wir plädieren deshalb für eine stärkere Berücksichtigung der Morbidität bei den Verwaltungskosten. Das in
der Pflegeversicherung bewährte Verhältnis von 70 zu
30 ist nach unserer Meinung das richtige Maß.
Ich danke fürs Zuhören.
({12})
Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Max
Straubinger das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Eine kleine Vorbemerkung, Frau Bender: Sie haben vorhin versucht, darzulegen, dass man alles aufgrund der
vierteljährigen Finanzentwicklung der Krankenkassen
auf Insolvenz trimme. Sie sind doch lange genug gesundheitspolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion
der Grünen, um zu wissen, dass die gesetzliche Krankenversicherung im ersten Vierteljahr immer ein Defizit zu
verzeichnen hat, dass der erste Teil des Bundeszuschusses an die Krankenkassen Mitte des Jahres ausgezahlt
wird und dass die gesetzliche Krankenversicherung - zumindest während unserer Regierungszeit - am Ende des
Jahres Überschüsse erzielt.
({0})
Das Ganze hat nichts mit der heute in erster Lesung
beratenen Insolvenzfähigkeit der Krankenkassen zu tun.
({1})
Frau Kollegin Reimann hat bereits dargelegt, dass es nur
um die rechtliche Gleichstellung aller gesetzlichen Krankenversicherungen geht. Das ist Ziel des Gesetzgebungsverfahrens.
({2})
Mit dem Gesetz zur Weiterentwicklung der Organisationsstrukturen in der gesetzlichen Krankenversicherung
leiten wir das letzte Gesetzgebungsverfahren im Rahmen
der Gesundheitsreform der Bundesregierung ein. Es ist
wichtig, auf wesentliche Bestandteile hinzuweisen.
({3})
- Die Frau Bundesministerin hat vorhin angekündigt,
dass zeitnah eine praktikable Konvergenzformel gefunden wird. Ich vertraue der Bundesministerin.
({4})
Ich sage aber gerade im Namen der CSU sehr bestimmt:
Die Konvergenzklausel muss politisch so umgesetzt
werden, wie sie vereinbart wurde. Einzelne Bundesländer dürfen nicht mit mehr als 100 Millionen Euro im
Jahr zusätzlich belastet werden. Deshalb, Frau Bundesgesundheitsministerin, wäre es natürlich gut, wenn dies
sehr schnell dargelegt würde, um damit manche Diskussion sicherlich positiv zu beeinflussen.
({5})
Kollege Straubinger, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Bahr?
Vizepräsidentin Petra Pau
({0})
Natürlich.
Herr Kollege Straubinger, vielleicht erinnern Sie sich
noch an die Sitzung des Gesundheitsausschusses in der
vorletzten Sitzungswoche, als wir Professor Wasem eingeladen hatten, der ein Gutachten über die Verteilungswirkung durch den Fonds auf die Länder erstellt hat. Dabei sagte er auf meine Frage, dass man erst Ende des
Jahres, wahrscheinlich im Dezember, mit verlässlichen
Zahlen operieren und erst dann richtig berechnen kann,
wie sich die Fondsverteilung auf die Länder auswirkt. Ist
es eigentlich nicht sinnvoller, darauf zu warten, anstatt
schon vorher politische Entscheidungen zu treffen? Haben Sie nicht die Sorge, dass Sie hier möglicherweise
eine Entscheidung treffen, die Bayern viel härter trifft,
als Sie es erwartet hätten?
({0})
Herr Kollege Bahr, ich vertraue voll darauf, dass sich
die Bundesregierung und die Bundesministerin nicht nur
auf angenommene Zahlen stützen. Herr Professor
Wasem hat hier ausdrücklich dargelegt, dass das Gutachten auf Annahmen und nicht auf realen Grundlagen basiert. Ich gehe davon aus, dass die Bundesregierung noch
bessere Grundlagen erarbeiten wird,
({0})
um auf dieser Basis einen nachvollziehbaren Vorschlag
auch für die Umsetzung der Konvergenz machen zu können.
({1})
Ich glaube, es ist notwendig, dass Klarheit in der Ausgestaltung des Morbi-RSA geschaffen wird. Das ist meines Erachtens sehr wichtig, weil sich die Finanzströme
dementsprechend verändern werden.
Kollege Straubinger, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage, diesmal von der Kollegin Bender?
Oh je. Da kann ich natürlich nicht Nein sagen.
({0})
Herr Kollege Straubinger, ich habe noch Informationsbedarf hinsichtlich der Konvergenzklausel. Können
Sie uns denn sagen, wer den Ausgleich, der für Bayern
und Baden-Württemberg geschaffen werden soll, bezahlen soll? Sollen das die anderen Länder sein, oder soll
der Betrag von dem Steuerzahler oder der Steuerzahlerin
kommen? An welche Beträge denken Sie, und wie sollen
diese aufgebracht werden?
Ich warte zuerst auf den guten Vorschlag der Bundesgesundheitsministerin.
({0})
Dann werden wir dies auf alle Fälle - möglicherweise in
einer strittigen Diskussion - zu einem guten Ziel führen.
({1})
Ich glaube, dass es wichtig ist, auch beim morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich Klarheit zu schaffen
und auch der Fachöffentlichkeit, die dies begleitet, die
Auswirkungen darzulegen.
Für uns ist noch ein zweiter Punkt wichtig - die Frau
Bundesgesundheitsministerin hat das kurz anklingen lassen -: Es geht natürlich auch um die Bezahlung der Leistungserbringer. Leistungserbringer sind die Ärzte. Wir
haben eine neue Honorarordnung. Es gibt im Zusammenhang mit dieser neuen Honorarordnung Befürchtungen, dass unter Umständen Abflüsse aus Ländern erfolgen werden. Dies muss auf alle Fälle so gestaltet werden,
dass alle Ärzte in Deutschland gleichmäßig betroffen
sind. Die Frau Bundesgesundheitsministerin hat am
21. Mai 2008 in Ulm die berechtigte Forderung der
Ärzte nach einer Honorarsteigerung zur Kenntnis genommen und zumindest in Aussicht gestellt, dass
2,5 Milliarden Euro mehr für das Honorar der Ärzte bereitgestellt werden sollen. Dies muss entsprechend untermauert werden und durch Gesetz oder anderweitig erfolgen, sodass sichtbar wird, dass die Honorare der
Ärztinnen und Ärzte steigen werden. Das ist meines Erachtens sehr wichtig.
Derzeit gibt es in den einzelnen Bundesländern unterschiedliche Honorierungen. Es kann aber nicht angehen,
dass die Honorare nur bei einigen Leistungserbringern
stark angehoben werden. Auch dort, wo die Honorierung
aufgrund der Entwicklungen der vergangenen Jahre und
Jahrzehnte derzeit besser gestaltet ist, müssen die Leistungserbringer an einem Einkommensfortschritt teilhaben. Im Bereich der Ärzteschaft wird immer sehr deutlich formuliert - und ich sage das ganz bewusst; das ist
auch für uns ganz wichtig -, dass eine Klarstellung in
§ 87 SGB V notwendig ist. Auch meines Erachtens hat
eine gesetzliche Umsetzung zu erfolgen.
Ein zweiter Gesichtspunkt, der sicherlich für uns mit
entscheidend ist, ist, dass der Stärkung des Verhandlungsmandats für eine große Gruppe von Hausärzten
stattgegeben wird und dementsprechend neue Formen
gefunden werden.
In diesem Sinne nehmen wir die Beratungen auf. Sicherlich werden auch noch manch andere Themen zu
diskutieren sein, beispielsweise die Ein-Prozent-Regelung, die wichtig ist, um die Finanzausstattung der Krankenkassen auch zukünftig sicherzustellen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/9559 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang
Nešković, Ulla Jelpke, Sevim Dağdelen, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Einführung eines verpflichtenden Lobbyistenregisters
- Drucksache 16/8453 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung ({0})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion Die Linke fünf Minuten Redezeit erhalten soll. Ich höre keinen Widerspruch, dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Wolfgang Nešković für die Fraktion Die Linke.
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Kolleginnen und Kollegen! In den 70er-Jahren des vorletzten Jahrhunderts brannte das Weiße Haus. Der damalige amerikanische Präsident zog in ein Hotel um. Dort
lebte er sicherlich weiter komfortabel, aber immer weniger abgeschirmt von Besuchern. In der Lobby des Hotels
erwarteten ihn nun täglich zahllose Interessenvertreter,
um ihn energisch zu für sie günstigen Entscheidungen zu
drängen. Der Begriff des Lobbyismus war geboren und
beschäftigt seitdem eine kritische Öffentlichkeit.
Heute muss kein Interessenvertreter aus Wirtschaft
oder Gesellschaft auf einen Brand im Regierungsviertel
hoffen. Ein riesiger Dienstleistungsbetrieb arbeitet zwischenzeitlich mit gewaltigen materiellen und personellen
Ressourcen, um die Politik zu gewünschten Entscheidungen „hinzuberaten“. Mittlerweile beschränken sich
Lobbyisten nicht länger auf Beratung. Sie setzen ihre
Ratschläge innerhalb der Exekutive gleich selbst um. Zu
Recht rügte der Bundesrechnungshof, dass allein zwischen 2004 und 2006 rund 100 Lobbyisten jährlich in
bundesdeutschen Ministerien arbeiteten. Bezahlt von der
Crème de la Crème der deutschen Wirtschaft betrieben
diese Leute Sacharbeit in ganz eigenem Interesse.
Was dieser Einfluss auf die Demokratie für die Demokratie bedeutet, hat Ende 2005 ein namhafter Lobbyist
auf den Punkt gebracht. Herr Dieter Schulze van Loon,
Präsident eines Dachverbandes von Lobby- und PR-Unternehmen, hat in einem bemerkenswerten Aufsatz
hierzu Folgendes ausgeführt:
Einerseits bleibt festzuhalten, dass Lobbying den
Einsatz großer Mengen an Ressourcen - vor allem
Geld und Zeit - voraussetzt, wenn es erfolgreich
sein will. Dies allein bedingt schon, dass nur entsprechend wohlhabende Unternehmen oder Organisationen Lobbying betreiben können, was zu einer
Selektion der Interessen führt. Wer sich Lobbying
nicht leisten kann, hat meist auch keine Lobby. Dieser Selektionsprozess ist aus demokratietheoretischer Sicht in der Tat bedenklich, …
Da hat Herr van Loon völlig recht.
Aus allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und
geheimer Wahl gehen Parlament und dann Regierung
hervor. Dann werden aber nur noch zwei der fünf genannten Grundsätze gewahrt. Dann vergehen vier Jahre,
in denen der gesellschaftliche Einfluss auf die Politik
weder gleich noch allgemein noch sonderlich frei ist. Allerdings ist der Einfluss von Lobbyisten auf die Politik
oft unmittelbar und nicht selten geheim.
Wir haben Ihnen heute einen Antrag vorgelegt, mit
dem wir diesen Missständen begegnen wollen. Es
müsste Ihnen bei Durchsicht des Antrags allerdings etwas Überraschendes aufgefallen sein: Die Forderung
nach einer Eindämmung von Lobbyismus steht dort
nicht im Vordergrund. Der Antrag kennt keine Kategorien von zu viel oder zu wenig Lobbyismus. In dem Antrag wird auch nicht zwischen bösem und gutem Lobbyismus unterschieden. In unserem Antrag wird diese
Bewertung einzig und allein dem dazu Berufenen überlassen: dem Souverän, den Wählerinnen und Wählern.
({0})
Durch die Verabschiedung unseres Antrags würde allerdings dafür gesorgt, dass die Menschen erstmals überhaupt in den Stand versetzt werden, Lobbyismus sachlich zu bewerten. Warum es genau darauf ankommt,
erläutert Ihnen Herr van Loon in seinem Aufsatz - ich
zitiere -:
Bedenklich ist auch die meist fehlende Transparenz
- von Lobbying -.
Entscheidungsprozesse und insbesondere ihr Ergebnis sind für den Bürger nicht mehr nachzuvollziehen und führen zu einem sinkenden Vertrauen in
Politik und Politiker. Dieses Misstrauen wird noch
verstärkt durch die publik gewordenen Fälle von
Vorteilsnahmen durch Politiker, …
Durch unseren Antrag wird die völlige Öffentlichmachung jeder Lobbyarbeit auf Bundesebene bezweckt.
({1})
Wenn Sie diesen Antrag annehmen, dann haben Lobbyisten die sanktionsbewehrte Pflicht, sich in ein Internetregister einzutragen. Dann sind in diesem Register die finanziellen Aufwendungen der Lobbyarbeit und ihre
Nutznießer offenzulegen. Dann sind Lobbyisten, die an
Regierungsstellen ausgeliehen werden, im Register namentlich einzutragen. Dann erhielten die Bürgerinnen
und Bürger schließlich zu jeder einzelnen parlamentarischen Initiative Auskunft über die Beteiligung von Lobbyisten an ebendieser Initiative.
Wenn Sie unseren Antrag annehmen, dann ermöglichen Sie erstmals eine informierte, gesellschaftliche
Debatte zu Nutzen und Schaden von Lobbyarbeit. Dann
bedürfte es auch nicht der Intervention des Bundesrechnungshofes. Dann könnte ein öffentlicher Diskurs dafür
sorgen, dass Lobbyismus dort verschwindet, wo er der
Allgemeinheit schadet. Ein informierter Diskurs könnte
zugleich dafür sorgen, dass Lobbyismus erhalten bleibt,
wo er der Allgemeinheit nützt. Ein ernstes Demokratiedefizit kann so durch die Demokratie selbst behoben
werden.
Vielen Dank.
({2})
Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Dr. Ole
Schröder das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Demokratie beinhaltet die Möglichkeit eines jeden Bürgers,
seine Interessen zu vertreten. Das beginnt bei den Gesprächen von uns Abgeordneten und auch der Kandidaten mit den Bürgern ihres Wahlkreises. Hier werden
nicht nur ganz persönliche Belange des Einzelnen besprochen; vielmehr werden schon dort Anliegen einzelner Berufsgruppen an einen Abgeordneten herangetragen.
Das Vorbringen eigener Interessen vor Ort setzt sich
auf regionaler und Landesebene fort bis hin zur Bundespolitik. Die Organisation dieser Interessenvertretungen
nimmt dabei einen wichtigen Teil ein. Dagegen gibt es
überhaupt nichts einzuwenden. Im Gegenteil: Interessenvertretung ist ein Kernelement der demokratischen
Idee.
({0})
Es ist für den demokratischen Prozess allerdings entscheidend, dass die Abläufe durchschaubar und dass
Entscheidungen nachvollziehbar, das heißt transparent
sind.
({1})
Das parlamentarische Verfahren ist dabei nicht das vorwiegende Problem. Hier ist - unter anderem durch die
öffentlichen Anhörungen, durch die öffentlichen Debatten und Anträge - für Transparenz gesorgt.
Systembedingt gibt es geringe Transparenz vor allem
dort, wo die öffentliche Debatte fehlt: in den Ministerien. Genau dort werden heute aber die meisten Gesetzentwürfe geschrieben. Die Exekutive ist deshalb natürlich auch die Hauptanlaufstelle für Lobbyisten aller
Couleur. Es ist problematisch, wenn zum Beispiel im
Gesundheitsministerium Mitarbeiter von Krankenkassen
an der Formulierung von Gesetzen mitwirken, von denen die Krankenkassen unmittelbar profitieren, auch
wenn es sich dabei nicht um Lobbyismus im klassischen
Sinne handelt. Darüber, dass dagegen etwas unternommen werden muss, sind wir uns hier im Hause alle einig.
({2})
Der Haushaltsausschuss des Bundestages hat hierzu
einen deutlichen Beschluss gefasst. Er fordert die Bundesregierung auf, klare Verbotsbereiche für externe Personen zu definieren. Das bedeutet zum Beispiel: kein
Einsatz von Externen bei der Formulierung von Gesetzesentwürfen, kein Einsatz in Leitungs- und Kontrollbereichen, genaue Angaben zu Dauer, Tätigkeit und Entlohnung der beschäftigten Personen.
Die Bundesregierung hat bereits reagiert und will
noch vor der Sommerpause eine Verwaltungsvorschrift
mit klaren Regelungen für externe Mitarbeiter erlassen.
Damit machen wir einen wichtigen Schritt hin zu mehr
Transparenz.
Solche Regelungen sind wichtig. Eines muss man
aber auch deutlich machen: Viele Bereiche, über die die
Politik heute entscheidet, sind hochkomplex. Externer
Sachverstand ist deshalb gerade in vielen Detailfragen
von entscheidender Bedeutung. Andersherum wäre es
sogar verantwortungslos, in Detailfragen keinen externen Sachverstand hinzuzuziehen. Wir wollen deshalb
das Kind nicht mit dem Bade ausschütten und nicht auf
externen Rat verzichten.
({3})
Sich für mehr Transparenz einzusetzen, ist ein richtiges und wichtiges Anliegen. Der Antrag der Linkspartei
wird diesem sensiblen Thema allerdings nicht gerecht.
({4})
Mit Klassenkampfparolen bestückt, lässt er sich in die
immer wiederkehrende uralte Leier von gierigen Großkapitalisten und bösen Großgrundbesitzern einreihen
({5})
- so steht es wirklich im Antrag -, die durch ihr Geld
Einfluss auf die Politik erlangen. Es gehe beim Lobbyismus nur darum, heißt es, die gesellschaftlichen Machtverhältnisse zu verstetigen.
({6})
Wolfgang NeškoviæWolfgang Nešković
Das ist wirklich absurd, verlogen und missachtet vor allem den Gleichheitsgrundsatz.
({7})
Vertreter von Gewerkschaften und Sozialverbänden sind
genauso Lobbyisten wie Industrievertreter, wenn sie ihrer Lobbyarbeit nachgehen. Das ist für die Vertreter der
Linksfraktion offensichtlich nicht so.
Interessant finde ich, dass ausgerechnet Sie von den
Linken einen Antrag vorlegen, mit dem mehr Transparenz und Offenheit gefordert wird. In Bereichen, die Sie
selbst betreffen, ist Ihnen Transparenz allerdings höchst
unangenehm.
({8})
Zum Beispiel haben sich bisher insgesamt 141 Mitglieder des Bundestags freiwillig auf eine Stasimitgliedschaft überprüfen lassen. In Ihrer Fraktion war es bisher
eine einzige Person.
({9})
Ihr Fraktionsvorsitzender versucht gerichtlich, jegliche
Transparenz zu verhindern, wenn es um seine eigene
Verstrickung innerhalb der Stasi geht. Dass Sie dann einen Antrag mit dem Ziel von mehr Transparenz vorlegen, ist schon einigermaßen verlogen.
({10})
Transparenz ist in einer Demokratie grundsätzlich wichtig, aber nicht nur dort, wo es einem passt, sondern überall.
Es ist nicht nur das, was Ihren Antrag unglaubwürdig
macht. Es ist naiv, zu glauben, dass derjenige, der am
meisten Geld in Lobbyarbeit investiert, auch den meisten Einfluss hat.
({11})
Wir wissen doch, dass es etwas anderes ist, besonders
auch bei uns Abgeordneten, was Einfluss von außen sichert.
({12})
Eine viel wichtigere Rolle spielen persönliche Bindungen und Beziehungen. Selbstverständlich haben zum
Beispiel die Gewerkschaften Einfluss auf Ihre Fraktion.
({13})
Ich will das auch gar nicht kritisieren. Es ist das gute
Recht eines Gewerkschaftssekretärs, Mitglied des Deutschen Bundestags zu werden. Es ist aber auch das gute
Recht eines Geschäftsführers eines Industrieverbandes,
Mitglied des Deutschen Bundestags zu werden.
({14})
Wir alle wissen, dass solche persönlichen Bindungen
stärkeren Einfluss haben als ein großes und pompöses
parlamentarisches Sommerfest, allein schon deshalb,
weil die Informationswege kürzer sind. Aber persönliche
Bindungen und Gespräche im Privaten kann und soll
man eben nicht kontrollieren; denn eine Art Staatssicherheit, die erfasst, wer sich wo mit wem trifft, wollen wir
doch wirklich nicht.
({15})
Meine Damen und Herren, dabei zeigt sich auch noch
eine andere Schwierigkeit. Wer gilt denn im eigentlichen
Sinne als Lobbyist? Ist jede organisierte Interessenvertretung Lobbyismus?
Was ist zum Beispiel mit dem Phänomen der Massenschreiben, die wir alle bekommen? Wenn beispielsweise
ein Bürger Massenschreiben organisiert und dafür sorgt,
dass auch andere dieses Massenschreiben an uns senden,
ist das Lobbyismus? Muss sich ein solcher Bürger in das
Lobbyistenregister eintragen?
Was ist zum Beispiel mit einem Handwerksvertreter,
der sich an einen Abgeordneten wendet
({16})
und wiederholt ganz explizit seine Interessen und auch
die Interessen seiner Berufskollegen gegenüber einem
Abgeordneten vertritt?
Wir alle bekommen Schreiben von Rechtsanwälten,
die von ihren Erfahrungen berichten. Was ist zum Beispiel mit einem Fachanwalt für Familienrecht, der ganz
explizit Stellung nimmt, wie sich Gesetze auf konkrete
Fälle in seiner Praxis auswirken.
({17})
Muss sich ein solcher Anwalt für Familienrecht, der auf
eine fragwürdige Gesetzesvorschrift hinweist und deshalb für eine ganz bestimmte Klientel aus seiner Praxis
etwas erreichen will, in das Lobbyistenregister eintragen?
Das alles sind Fragen, die schwierig zu beantworten
sind. Somit ist eine verpflichtende Registratur sicherlich
nicht das richtige Mittel. Auf den zusätzlichen Bürokratieaufwand möchte ich gar nicht weiter eingehen. Sie
brauchen ja Personen, die das Register verwalten, die
Sanktionen feststellen usw.
Meine Damen und Herren von der Linken, wir haben
bereits ein Register - das ist Ihnen vielleicht entgangen -,
in das sich Lobbyisten auf freiwilliger Basis eintragen
können.
({18})
Wenn Verbände zu Anhörungen eingeladen werden wollen, müssen sie dort sogar eingetragen sein. Wer ein professioneller und seriöser Lobbyist ist, der wird dies auch
tun. Ob wir durch ein solches Register die anderen von
unseriösen Praktiken abhalten, wage ich zu bezweifeln.
Im Übrigen: Wenn Sie ein solches Register für so
dringend notwendig halten und das bis auf die kommunale Ebene, dann frage ich mich, warum Sie in Berlin,
wo Sie ja mitregieren und wo es meines Erachtens ein
solches Register, selbst ein freiwilliges Register, nicht
gibt, nicht eine einzige parlamentarische Initiative in
diese Richtung gestartet haben.
({19})
Wenn Ihnen dieses ein solches Anliegen ist, dann sollten
Sie wenigstens da, wo Sie an der Regierung sind, damit
anfangen.
({20})
Kollege Schröder, achten Sie bitte auf die Zeit.
({0})
Ich komme zum Schluss. - Interessenvertretung ist in
einer Demokratie existenziell. Transparenz und Regeln
sind dabei unabdingbar, um Unabhängigkeit zu bewahren. Es ist deshalb richtig, dass wir dieses Thema auf die
Tagesordnung gesetzt haben, uns mit ihm beschäftigen
und in den Ausschüssen diskutieren. Der Antrag der Linken wird diesem sensiblen Thema allerdings nicht gerecht.
({0})
Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Jörg van
Essen das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es gibt eine Rüstungslobby. Es gibt eine Atomlobby. Es
gibt eine Raucherlobby, eine Autolobby, eine Industrielobby. Aber haben Sie schon einmal die Begriffe Gewerkschaftslobby oder Umweltlobby gehört? Das Ganze
zeigt doch, dass mit dieser Bezeichnung ganz offensichtlich ein Makel verbunden werden soll. Diese Absicht bestimmt die Diskussion bei vielen Themen, die wir hier
behandeln.
So wie es ganz selbstverständlich ist, dass Gewerkschaftsfunktionäre hier die Interessen der Arbeitnehmer
vertreten, so selbstverständlich wird immer wieder,
wenn jemand seine praktischen Erfahrungen als Unternehmer einbringt, hinterfragt, ob er damit nicht einseitig
Interessen im Deutschen Bundestag vertritt.
Für uns Liberale ist die Antwort völlig klar und eindeutig: Jeder Abgeordnete ist selbstverständlich Interessenvertreter. Er wird von den Bürgern seines Wahlkreises hier hingeschickt, um deren Interessen zu vertreten.
({0})
Interessenvertretung ist also überhaupt nichts Negatives,
sondern ganz selbstverständlich mit Parlamentarismus
verbunden.
Deshalb lasse ich es auch nicht zu, dass bestimmte Interessen mit dem Makel „Lobby“ verbunden werden, um
damit deutlich zu machen, dass das eigentlich Interessen
sind, die es nicht wert sind, im Parlament vertreten zu
werden.
({1})
Selbstverständlich darf die Industrie ihre Interessen vertreten,
({2})
so wie es selbstverständlich ist, dass auch die Gewerkschaften das tun dürfen. Herr Nešković, Ihr Antrag - darauf hat der Kollege Schröder zu Recht hingewiesen atmet doch mit jedem Satz, den Sie geschrieben haben,
den schlechten Geruch des Klassenkampfes.
({3})
Genau davon ist dieser Antrag geprägt.
Ich bin ganz sicher, dass es mir da genauso wie vielen
Kollegen hier geht: Ich bin dankbar, dass verschiedene
Gruppierungen sich melden und mich auf Dinge, die aus
ihrer Sicht problematisch sind, aufmerksam machen. Ich
habe immer wieder erlebt, dass mich das nicht überzeugt
hat; aber ich konnte mich damit auseinandersetzen. Ich
konnte aber auch Anregungen aufnehmen, die mir eingeleuchtet haben, die ich vernünftig gefunden habe. Das
gehört doch gerade zum parlamentarischen Prozess mit
dazu. Deshalb sollten wir durch die Einführung eines
Registers nicht den Eindruck erwecken, dass das, was in
dem Zusammenhang getan wird, nämlich Abgeordnete
zu beraten, etwas Negatives ist.
Allerdings - das sehe ich genauso wie der Kollege
Schröder - haben wir ganz offensichtlich in der letzten
Zeit eine Fehlentwicklung gehabt, die so nicht zu akzeptieren ist. In einigen Ministerien waren offenbar Vertreter
von Interessenverbänden ganz unmittelbar an der Gesetzgebung beteiligt. Dass sie Hinweise für die Gesetzgebung geben, ist klar und selbstverständlich. Aber dass sie
unmittelbar an der Formulierung beteiligt waren, ist etwas, was aus meiner Sicht so nicht hingenommen werden kann. Die Bundesregierung hat auch notwendiger17920
weise darauf reagiert. Ich bin dafür dankbar. Wir werden
prüfen, ob das ausreichend ist; aber es war dringend notwendig.
({4})
Im Übrigen - auch das sage ich Ihnen, Herr Nešković -:
Viele der Begründungen, die Sie vorgetragen haben, tragen doch nicht. Ihnen wird es wahrscheinlich genauso
gehen wie mir. Es gibt Bürger, die sich in regelmäßigen
Abständen melden und ihre Anregungen vortragen. Darunter sind auch Ehrenamtler, die die Interessen ihres jeweiligen Verbandes vor Ort vortragen. Da steht in Ihrer
Begründung: Wenn sich jemand als Bürger an Abgeordnete wendet, soll er nicht in das Lobbyregister, weil er
nicht ehrenamtlich tätig ist. Das entspricht doch überhaupt nicht der Wirklichkeit. Auch deswegen ist Ihr Antrag kein Schritt nach vorne. Die FDP-Bundestagsfraktion lehnt deshalb den Antrag der Linken ab.
Vielen Dank.
({5})
Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege Peter
Friedrich.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Die SPD-Fraktion hatte Anfang des Jahres Günter Grass
zu Gast. Er hat eine Rede gehalten und unter anderem
gesagt, dass der Lobbyismus inzwischen die größte Gefahr für das Ansehen der Demokratie darstelle. Jetzt
muss man diese Ansicht nicht per se teilen. Aber man
muss doch erhebliche Zweifel daran anmelden, wie Lobbyarbeit in Deutschland stattfindet und funktioniert, und
man kann nicht darüber hinwegsehen, dass die Legitimität des Gesetzgebers durch die Art der Lobbyarbeit in
der Praxis untergraben wird.
Deswegen haben wir eine gemeinsame Verpflichtung,
bei diesem Thema voranzukommen. Da nützt es aus
meiner Sicht herzlich wenig, wenn wir darin verharren,
uns gegenseitig Splitter in den Augen zu diagnostizieren.
Ich glaube, alle Fraktionen in diesem Hause sind sich
einig, dass es legitim ist, Gespräche zu führen und Interessen zu vertreten. Das ist in einer Demokratie nicht nur
legitim, sondern lebensnotwendig. Es ist so lange berechtigt, wie kein unzulässiger Einfluss ausgeübt wird.
Wir sind darauf angewiesen, bei der Formulierung von
Gesetzen die Anliegen betroffener Gruppen einzuholen
und anzuhören. Notwendig ist aber auch - da gebe ich
dem Sinn des Antrages durchaus recht -, dass die Qualität und die Stichhaltigkeit von Argumenten nicht davon
abhängig sein darf, wie viel finanzielle Macht hinter
dem einzelnen Argument gesammelt wird. Deswegen
glaube ich, dass wir in der Tat in diesem Bereich besser
werden müssen.
Ich verstehe allerdings in Ihrer Argumentation nicht
so ganz, warum Sie die Bundesregierung beauftragen
wollen, einen Gesetzentwurf vorzulegen.
({0})
Ehrlich gesagt ist das ein Kernbestandteil des Parlamentarismus, um den es hier geht. Deswegen ist es Aufgabe
dieses Parlaments, zu einer Lösung zu finden, selbst Lösungen zu entwickeln, statt die Bundesregierung zu beauftragen, einen Gesetzentwurf vorzulegen, der regelt,
wie Parlamentarismus und Interessenvertretung gegenüber dem Parlament stattzufinden haben.
({1})
Parlamentarische Willensbildung ist Sache des Parlaments selbst und nicht Sache der Regierung. Natürlich
gibt es bestimmte Aspekte, was das Regierungshandeln
betrifft. Dazu wird mein Kollege Lange noch etwas sagen.
Herr Schröder, Sie haben die Verbändeliste erwähnt,
die es seit 1972 gibt. Darin werden aber nur die Verbände geführt. Wir bekommen keinerlei Auskunft darüber, wie diese Verbände ihre Mittel beziehen und was
sie eigentlich machen. Natürlich wundern wir uns über
bestimmte Beispiele aus der täglichen Praxis. Wenn ich
mit einem Verband zu tun habe, der sich beispielsweise
Patientenverband nennt, dann möchte ich wissen, ob es
sich tatsächlich um einen Patientenverband oder um eine
Vorfeldorganisation der Pharmaindustrie handelt. Wir
alle kennen solche Beispiele aus der Praxis.
({2})
Die SPD-Fraktion möchte das Verbänderegister um die
Angabe erweitern, welche Mittel die Verbände erhalten.
Die Verbändeliste wird zwar geführt. Aber seit 1979
gibt es einen Auslegungsbeschluss, durch den der Sinn
der Liste praktisch ausgehebelt wird. Ich habe mir einmal eine Aufstellung aller Verbände machen lassen, die
allein in dieser Legislaturperiode zu Anhörungen des
Ausschusses, in dem ich Mitglied bin - das ist der Ausschuss für Gesundheit -, eingeladen worden sind und die
nicht auf der Liste stehen. Diese Aufstellung umfasst
drei Seiten. Diese Liste ist momentan, so sehr sie gelobt
wurde - damals war Deutschland Vorreiter in dieser Angelegenheit -, leider nicht das wert, was wir uns wünschen.
Wir möchten wissen: Wie finanzieren sich Verbände?
Woher nehmen sie ihre Mittel? Wer beauftragt sie für
welchen Zweck? Wir können das innerhalb der Geschäftsordnung regeln. Die SPD-Fraktion wird dazu einen eigenen Vorschlag auf den Tisch legen. Wir haben
bereits einen entsprechenden Beschluss gefasst und werden darüber in der Koalition sprechen. Für eine Regelung brauchen wir aber kein Gesetz; wir können unsere
Geschäftsordnung entsprechend ändern und die Bundesregierung anhalten, ebenso zu verfahren. Ich wäre froh,
wenn wir gemeinsam daran arbeiten würden. Denn es
würde zur Stärkung der Glaubwürdigkeit des Parlaments
insgesamt beitragen. Es ist nicht die Aufgabe einzelner.
({3})
Ich kann dem Vorschlag, ein Lobbyistenregister einzuführen, durchaus einiges abgewinnen. In Brüssel geschieht genau dies unter Mitwirkung aller Beteiligten.
({4})
Ich habe aber erhebliche Zweifel daran, ob das in der
Weise möglich ist, wie es die Linkspartei beschreibt. Für
mich ist der Begriff „Erfassung von Lobbyisten“ schwierig zu verstehen. Dazu wurde eben schon etwas gesagt.
Es ist auch problematisch, diesen Begriff auf die Kommunen herunterzubrechen. Ist der stellvertretende Vorsitzende eines Fußballvereins schon ein Lobbyist, wenn er
mit seinem Gemeinderat nach einem Spiel darüber reden
möchte, ob es einen neuen Platz gibt oder nicht. Ihn als
Lobbyist zu führen, scheint mir wenig lebensnah zu sein.
Wir dürfen an dieser Stelle Politik nicht von den Menschen dadurch entfremden, dass wir sie transparent machen wollen. Das macht aus meiner Sicht keinen Sinn.
({5})
Was können wir schnell tun? Wir können unsere Geschäftsordnung so ändern, dass offengelegt wird, wer
mit uns spricht und warum er mit uns spricht. Das sollten
wir tun. Dann kommen wir gemeinsam voran.
Vielen Dank.
({6})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der
Kollege Volker Beck das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir Abgeordnete sind gewählt, um die in unserer Gesellschaft
unterschiedlichen Interessen im Parlament in einen nach
unserem Verständnis sinnvollen Ausgleich zu bringen
und alle berechtigten Interessen zum Tragen kommen zu
lassen. Deswegen sollten wir Interessenwahrnehmung
und Lobbyismus nicht per se als Unworte in dieser Debatte gebrauchen. Es gehört zur Demokratie dazu, dass
die Zivilgesellschaft auf ihre gewählten Körperschaften
versucht Einfluss zu nehmen.
({0})
Wenn das offen, transparent und fair abläuft, ist dagegen
überhaupt nichts zu sagen. Das muss man angesichts Ihres Redebeitrags zu Beginn der Debatte schon einmal
festhalten.
({1})
Die Demokratie nimmt insgesamt Schaden, wenn der
Eindruck entsteht, es würden mit Geld bestimmte Interessen im politischen Meinungsstreit verstärkt und es
würde illegitimerweise auf Entscheidungen des Gesetzgebers oder der Exekutive Einfluss genommen. Deshalb
finde ich es wichtig, dass wir Parlamentarier überlegen,
wo wir durch mehr Transparenz dafür sorgen können,
dass die politischen Entscheidungen nachvollziehbarer
werden und dass es schwieriger wird, auf illegitime
Weise auf die Gesetzgebungsorgane und auf die Exekutive Einfluss zu nehmen. Wir haben das unter Rot-Grün
bei den Abgeordneten mit der viel gescholtenen Regelung zur Transparenz bei den Nebentätigkeiten begonnen.
({2})
Wir haben der Regierung bei den externen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Dampf gemacht; denn wir haben
gesagt: Wir wollen unsere Verwaltung zwar nicht gegen
externen Sachverstand abschotten; aber das muss transparent erfolgen und in einer Art und Weise geschehen,
dass keine illegitime Einflussnahme auf exekutives Handeln möglich ist, wie es in der Vergangenheit geschehen
ist, als Industriemitarbeiter Genehmigungsverfahren
durchgeführt und Gesetzentwürfe formuliert haben. Keiner derjenigen hier im Hause, die damit zu tun hatten,
hat dies gewusst und konnte dadurch die fremden Interessen ausmachen, sie hinterfragen und womöglich politisch korrigieren.
Wir brauchen etwas, was die Europäische Union
längst hat: Wir brauchen eine Karenzzeit für ausgeschiedene Regierungsmitglieder. Man hat auf EU-Ebene eine
solche Karenzzeit damals wegen Herrn Bangemann eingeführt, der zu einem Telekommunikationsunternehmen
gewechselt ist. Ich erinnere nur an Schröder, Clement
und andere.
({3})
Es täte der Bundesregierung gut - nicht nur dieser, sondern auch der Vorgängerregierung -, wenn man innerhalb eines bestimmten Zeitraums nicht ohne Genehmigung der Regierung in die Wirtschaft gehen könnte und
womöglich eine Dividende in dem Bereich einstreicht,
in dem man vorher im Rahmen der Exekutive Verantwortung innegehabt hat.
({4})
- Da war die Karenzzeit sicher erfüllt; denn die beträgt
in Brüssel ein Jahr. Wir können gerne eine längere vorsehen. Aber wir wollen nicht, dass jemand, der einmal
Mitglied der Regierung oder des Parlaments war, in Zukunft arbeitslos sein muss. Wir müssen vielmehr sehen,
dass es keine Interessenkollisionen gibt. Darauf kommt
es an.
Jetzt zu Ihrem Antrag, Herr Nešković. Ich halte ein
Lobbyistenregister für grundsätzlich überlegenswert.
Wir müssen darüber nachdenken, ob wir da mehr machen können; denn das, was wir haben, gibt bestenfalls
Auskunft über die Adresse des Verbandes, aber über
sonst nichts. Ich würde zum Beispiel gerne wissen, wo17922
Volker Beck ({5})
her der Bund der Steuerzahler Deutschland sein Geld hat
und welche Einnahmestruktur sich dahinter verbirgt.
({6})
Das würde mich wirklich interessieren. Mich würde das
auch bei anderen Verbänden interessieren. Es schadet ja
nichts, wenn die Einnahmen hoch sind, wenn es mit
rechten Dingen zugeht und nachvollziehbar ist und nicht
illegitim ist. Man kann das alles ja auf den Tisch legen.
Wenn das für alle gilt, dann wird sich die öffentliche Debatte auch schnell beruhigen.
Aber was machen Sie hier? Sie sind Jurist, Herr
Nešković. Sie wollen eine sanktionsbewehrte Pflicht
einführen, sich in ein Lobbyistenregister einzutragen,
wenn man sich ehrenamtlich wiederkehrend, also mindestens zweimal, an Abgeordnete oder die Regierung
gewandt hat. Wenn man es gar berufsmäßig tut, reicht
auch einmal. Woher nehmen Sie das Recht auf Sanktionen? Das sind doch Grundrechtseingriffe. Sie verlangen
von den Leuten, dass sie sich eintragen. Wenn sie es
nicht tun, bekommen sie eine Ordnungsstrafe oder womöglich eine Geldstrafe. Was haben Sie sich dabei gedacht? Woher nehmen Sie die verfassungsrechtliche
Grundlage für diesen Grundrechtseingriff?
({7})
- Ich hatte eigentlich gehofft, dass Sie dies in Ihrer Rede
erklären. Sie hatten ja vorhin die Chance dazu. Sie haben
nichts dazu gesagt, woher die Rechtsgrundlage für so etwas kommen soll.
Kollege Beck, achten Sie bitte auf die Zeit.
Das tue ich und komme auch gleich zum Ende.
Sie wollen jemanden beauftragen, eigenständige Prüfungen durchzuführen. Der darf dann in die Vereinsgeschäftsstellen und in die Unternehmen gehen und Detektiv spielen? Auf welcher Rechtsgrundlage? Woher soll
diese Befugnis kommen, bei einem Bürger bzw. in der
Zivilgesellschaft Dinge auszuforschen? Die gibt es so
nicht.
Ich meine, wir sollten für ein gutes Lobbyistenregister
sorgen, wobei wir bestimmte Fragen stellen können.
Kollege Beck, jetzt geht es nicht mehr um das Achten, sondern um den Schluss.
Ich bin bei meinem letzten Satz. - Das sagt etwas
über die Qualität der Verbände aus. Diejenigen, die sich
eintragen, sind besonders vertrauenswürdig. Aber mit
Sanktionen, so glaube ich, kommen wir nicht weiter.
Deshalb sieht man auf europäischer Ebene Freiwilligkeit
vor; denn mit Zwang wird es wohl nicht gehen.
({0})
Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Christian
Lange das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Am Ende der Debatte können wir eines festhalten: Interessenvertretung nicht dämonisieren, sondern
transparent gestalten - das muss das Motto sein.
Ich will ausdrücklich einen Bereich herausgreifen, der
in den vergangenen Wochen immer wieder ein Geschmäckle, wie wir Schwaben sagen, hatte, nämlich den
der externen Personen in der Bundesverwaltung. Wir
Abgeordnete sind unabhängig und nur dem Gewissen
unterworfen; so steht es im Grundgesetz. Wir sind auf
der einen Seite sehr wohl Interessenvertreter; das will
ich ausdrücklich zugestehen. Ich verstehe mich zumindest für meinen Wahlkreis so. Wir sind aber auf eine
Verwaltung, auf eine Exekutive angewiesen, die ausschließlich Recht und Gesetz verpflichtet ist. Deshalb ist
die Frage, wie es bei der Bundesverwaltung mit externen
Personen aussieht, eine entscheidende.
Um die Dimensionen richtig zu würdigen und der Dämonisierung entgegenzutreten, will ich sagen, dass nach
meinen Recherchen rund 100 externe Mitarbeiter pro
Jahr in Bundesministerien tätig waren. Zum Vergleich:
Wir haben ungefähr 5 270 Planstellen für Beamtinnen
und Beamte des höheren Dienstes. Ich will den Einsatz
externer Personen nicht bagatellisieren, sondern die Dimensionen deutlich machen. Von denen, die als Externe
in der öffentlichen Verwaltung tätig sind, stammen nach
meinem Kenntnisstand ungefähr 33 Prozent aus nachgeordneten Behörden und Dienststellen, was sicher niemand beanstanden möchte. Circa 30 Prozent kommen
aus Verbänden, aus Interessenvertretungen, von Sozialversicherungsträgern oder gemeinnützigen Organisationen. Ich sage das ganz bewusst - Stichwort: Gut und
Böse -, weil hier gerne auf die 16 Prozent, die aus der
gewerblichen Wirtschaft stammen, Bezug genommen
wird.
Wenn wir über Interessenvertretung sprechen, müssen
wir auch sagen - auch das gehört zur Wahrheit -, dass
gemeinnützige Organisationen Kompetenzen haben, die
wir nutzen wollen, sie aber gleichwohl Interessenvertreter sind. Genauso gehört es zur Wahrheit, dass wir zum
Beispiel im Diplomatischen Dienst seit vielen Jahren immer wieder gerne die Kompetenz der Verbände nutzen.
Erinnern wir uns an die Sozialattachés, die aus dem Bereich der Gewerkschaften kommen, und an die Wirtschaftsattachés, die aus dem BDI kommen.
Wir haben also eine Verflechtung. Ich sage dazu: Das
ist richtig, solange sie öffentlich und transparent ist; das
füge ich ausdrücklich hinzu. Deshalb hat das Kabinett
gestern einen entsprechenden Beschluss gefasst. Ich will
hier einige Dinge nennen, weil die geneigten Zuhörer
Christian Lange ({0})
daran interessiert sind, zu erfahren, was man konkret getan hat, um der Dämonisierung entgegenzutreten:
Erstens. Der Einsatz externer Berater und Personen ist
vorübergehend und nur zum Zweck des Personalaustauschs zwischen der Verwaltung und der Privatwirtschaft oder zur Nutzung spezifischen Fachinteresses zulässig.
Zweitens. Personalmangel rechtfertigt einen Einsatz
externer Personen nicht.
Drittens. Die Dauer des Einsatzes ist im Regelfall auf
sechs Monate beschränkt.
Viertens. Das Gehalt der externen Personen kann bis
zu sechs Monate, im Falle des Personalaustausches für
die Dauer des Austausches, von der entsendenden Stelle
getragen werden. Im Übrigen ist der entsendenden Stelle
das Gehalt zu erstatten.
Fünftens. Externe Personen dürfen grundsätzlich
nicht in bestimmenden Funktionen eingesetzt werden.
Das betrifft das Argument „Formulierung von Gesetzentwürfen“, was uns Abgeordnete interessiert. Es geht
um Leitungsfunktionen und die Vergabe von öffentlichen Aufträgen; Stichwort: Filz.
Sechstens. Der Einsatz muss transparent ausgestaltet
sein, und der Status als externe Person muss grundsätzlich deutlich gemacht werden. Das heißt, als Gesetzgeber müssen wir wissen, mit wem wir im Ministerium
sprechen, wenn wir unsere Gesetzentwürfe abstimmen.
Wir müssen wissen, ob es sich um einen Beamten oder
eine externe Person handelt.
Siebtens. Das Bundesministerium des Innern berichtet dem Haushaltsausschuss regelmäßig und umfassend
über die externen Berater.
Herr van Essen, Ihr FDP-Kollege Brüderle hat dies
gestern in einem Gespräch mit einer Agentur begrüßt. Er
hat gesagt, das sei ein guter Entwurf. Er hat auch gesagt,
dass er sich bezüglich der Veröffentlichung im Internet
mehr vorstellen könne. Ich will das aufgreifen. Auch ich
kann mir vorstellen, dass wir an dieser Stelle noch etwas
drauflegen.
Immerhin haben wir aber einen wichtigen Weg eingeschlagen.
({1})
Ich bin der Auffassung, dass wir dies erst einmal in der
Praxis ausprobieren sollten. Wir sollten feststellen, ob
der Haushaltsausschuss seiner Kontrollfunktion nachkommen kann. Wenn er das kann, ist das der richtige
Weg. Wenn er das nicht kann, werden wir uns hier sicherlich wieder zusammensetzen und uns einen besseren
Weg überlegen.
Herzlichen Dank.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/8453 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Vorlage
federführend beim Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung beraten werden soll. Sind Sie
damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung der Unterrichtung durch den Wehrbeauftragten
Jahresbericht 2007 ({0})
- Drucksache 16/8200 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Bevor ich die Aussprache eröffne, muss ich Sie über
eine Nachricht, welche gerade außerhalb des Plenarsaals
verbreitet wird, informieren: Heute Mittag ist ein Hubschrauber der EUFOR in der Nähe der Stadt Banja
Luka abgestürzt. Alle vier an Bord befindlichen Soldaten, zwei davon Angehörige der Bundeswehr, sind dabei
gestorben. Ich spreche im Namen des gesamten Hauses
den Angehörigen der getöteten Soldaten unser Beileid
aus.
Ich eröffne nun die Aussprache zum Bericht des
Wehrbeauftragten. Das Wort hat der Wehrbeauftragte
des Deutschen Bundestages, Reinhold Robbe.
Reinhold Robbe, Wehrbeauftragter des Deutschen
Bundestages:
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Ausnahmsweise darf ich herzlich
die Soldatinnen und Soldaten begrüßen, die auf den Zuschauerbänken Platz genommen haben.
Auch mir ist es ein aufrichtig gemeintes Anliegen,
den Angehörigen der in Bosnien ums Leben gekommenen Soldaten mein aufrichtiges Beileid auszusprechen.
Auch dieser Unfall zeigt, dass selbst im Quasi-Friedensbetrieb Dinge passieren können, die wir alle uns nicht
vorstellen mögen, die aber allgegenwärtig sind. Wir sehen wieder einmal, mit welchen Risiken der Soldatenberuf verbunden ist.
Ich stehe noch sehr unter dem Eindruck meines gerade beendeten Truppenbesuches in Afghanistan. Zehn
Tage lang habe ich alle deutschen Einheiten und Einsatzorte besucht und mit Hunderten von Soldatinnen und
Soldaten sprechen können. Es verging kaum ein Tag, an
dem die Fahnen in unseren Feldlagern und bei den PRTs
nicht auf Halbmast gesetzt waren. Immer, wenn der Tod
eines Soldaten der ISAF-Mission zu beklagen ist, wird
an allen Einsatzstandorten und Stützpunkten des Gefallenen gedacht. Dies war auch bei meinem Truppenbesuch so, und zwar fast jeden Tag.
Wehrbeauftragter Reinhold Robbe
Das führt uns vor Augen, wie es nicht nur um die Sicherheits-, sondern auch um die Stimmungslage bei den
deutschen Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan bestellt ist. Auf der einen Seite haben unsere Soldatinnen
und Soldaten trotz der vielen Alltagssorgen, trotz der
schwierigen Rahmenbedingungen und trotz der existierenden Sicherheitsrisiken eine bewundernswerte Motivation. Auf der anderen Seite sind sie permanent mit einer komplizierten und manchmal kaum überschaubaren
Gesamtlage konfrontiert. Deshalb lautet das Resümee
meines Truppenbesuches in aller Kürze:
Erstens. Unsere Soldatinnen und Soldaten machen in
ihrem Verantwortungsbereich im Norden Afghanistans
- von Masar-i-Scharif über Kabul bis Kandahar - einen
unglaublich guten Job.
({1})
Zweitens. Bei der Festlegung der Mandatsobergrenze
müssen aus meiner Sicht die Erfahrungen und Einsatznotwendigkeiten, wie sie von den Verantwortungsträgern vor Ort erkannt werden, unbedingt Berücksichtigung finden.
Drittens. Mit Blick auf die personelle und materielle
Ausstattung unserer in Afghanistan eingesetzten Verbände ist es unbedingt notwendig, den Soldatinnen und
Soldaten all das zur Verfügung zu stellen, was sie für die
Erfüllung ihres schwierigen und oft lebensgefährlichen
Auftrags benötigen.
({2})
Seit mehr als zehn Jahren bestimmt die Beteiligung
an internationalen Einsätzen den Alltag unserer Bundeswehr. Meine Erkenntnisse dazu stehen deshalb regelmäßig am Anfang eines Jahresberichtes. Das gilt auch für
den zur Beratung vorliegenden 49. Bericht. Die Defizite,
die ich aufgeführt habe, sind weitgehend die alten. Sie
zeigen sich in vielen Bereichen: angefangen von der Einsatzplanung über die Einsatzvorbereitung und Ausbildung bis hin zur persönlichen Ausrüstung und Ausstattung. Auch wenn einiges getan wird, zufriedenstellend
ist das leider alles noch nicht. Darüber hinaus beschäftigt
die Truppe die wachsende Gefährdungslage und die
Frage nach der weiteren Entwicklung in Afghanistan.
Die Soldaten stellen Fragen, und die politisch wie militärisch Verantwortlichen sind in der Pflicht, offen und
überzeugend Antworten darauf zu geben.
Nicht nur die Auslandseinsätze, auch die Situation in
den Heimatstandorten gibt Anlass, Defizite deutlich zu
benennen. Über den teilweise katastrophalen Zustand
vieler Kasernen, insbesondere in den alten Bundesländern, habe ich bereits im vergangenen Jahr berichtet.
Das hat Wirkung gezeigt. Ich bin dem gesamten Deutschen Bundestag, insbesondere dem Verteidigungsausschuss und dem Bundesminister der Verteidigung,
außerordentlich dankbar, dass sie dieses für die Soldaten
so wichtige Thema aufgegriffen haben und inzwischen
auch für Abhilfemaßnahmen gesorgt bzw. diese eingeleitet haben. Das inzwischen aufgelegte Sanierungsprogramm ist ein wichtiges Zeichen für die Soldatinnen und
Soldaten. Das stelle ich bei jedem Besuch fest. Dennoch
werden die bisher zur Verfügung gestellten Mittel leider
nicht ausreichen, zumal die 645 Millionen Euro ohnehin
nur etwa die Hälfte des Anfang 2007 festgestellten Sanierungsbedarfs abdecken.
Mit Blick auf die Unterbringung zeigt sich ein weiteres Problem. Inzwischen geht es nicht nur um den mangelhaften Zustand der Gebäude, es fehlt schlicht und einfach an Platz. Nicht unterkunftspflichtige Soldaten
finden in der Kaserne keine Bleibe mehr und werden auf
private Unterkünfte verwiesen. Das ist heute Realität.
Die Bundeswehr von heute hat sich zu einer Pendlerarmee entwickelt. Diesen veränderten Umständen muss
jetzt auch gesetzlich Rechnung getragen werden. Will
heißen, die vorrangige Erstattung von Umzugskosten anstelle der Gewährung von Trennungsgeld ist zumindest
aus meiner Sicht nicht mehr zeitgemäß.
Zu großer Enttäuschung in der Truppe haben in den
vergangenen Jahren auch die kontinuierlichen Leistungskürzungen im öffentlichen Dienst geführt. Die
wachsende Unzufriedenheit gründet sich aber vor allem
auf das Gefühl unzureichender Fürsorge. Dazu gehört
neben der Besoldung, der Unterbringung und der sanitätsdienstlichen Versorgung auch die Vereinbarkeit von
Familie und Dienst. Die vom Generalinspekteur hierzu
erlassene erste Teilkonzeption ist zunächst einmal, wie
ich manchmal zu sagen pflege, bedrucktes Papier. Sie
hat berechtigte Erwartungen geweckt, denen nun Taten
folgen müssen. Aufwendige Studien zur Bedarfsermittlung im Bereich der Kinderbetreuung lösen das Problem
leider nicht.
Ein Thema, dem ich meine besondere Aufmerksamkeit widme, ist das Führungsverhalten in unseren Streitkräften. Hier habe ich auch 2007 erhebliche Mängel und
Defizite feststellen müssen, die aus meiner Sicht Anlass
zur Sorge geben. „Führen durch Vorbild“ ist, wie wir alle
wissen, eine zentrale Forderung der Inneren Führung.
Viele Vorgesetzte aber werden diesem Anspruch heute
nicht oder nicht mehr gerecht. Das reicht bis in die
höchsten Dienstgradgruppen. Das sind keine Einzelfälle.
Wir brauchen an dieser Stelle dringend grundsätzliche,
über eine disziplinare Würdigung hinausgehende Maßnahmen.
Abschließen möchte ich mit einem Thema des Jahresberichtes, das im engeren, aber auch im weiteren Sinne
mit Betreuung und Fürsorge zu tun hat: der physische
Zustand unserer Soldatinnen und Soldaten. Dazu nur
ganz kurz: Mir geht es hierbei in erster Linie - das ist
aus meiner Sicht ganz wesentlich - um die Gesunderhaltung der Truppe, um den Erhalt der körperlichen, aber
auch der geistigen Leistungsfähigkeit des Einzelnen und
um ein verändertes Bewusstsein in diesem Zusammenhang.
Mit den genannten Themen habe ich nur einige
Schwerpunkte des Jahresberichtes 2007 aufgeführt.
Nicht wenige davon weisen über das Berichtsjahr hinaus. Im Sinne der Soldatinnen und Soldaten würde es
mich freuen, wenn der Bericht Anstöße für spürbare und
nachhaltige Verbesserungen geben könnte.
Wehrbeauftragter Reinhold Robbe
Abschließend möchte ich allen Mitgliedern des Verteidigungsausschusses, selbstverständlich aber auch dem
Bundesminister der Verteidigung und allen nachgeordneten Stellen des Ministeriums und der Truppe, die mit
Personalbearbeitung zu tun haben, meinen ausdrücklichen Dank sagen. Natürlich möchte ich mich auch bei
meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ganz herzlich
bedanken.
Herzlichen Dank.
({3})
Bevor ich der nächsten Rednerin das Wort erteile,
möchte ich dem Wehrbeauftragten und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Namen des Hauses für die
Vorlage des Jahresberichts 2007 danken.
({0})
Das Wort hat nun die Kollegin Elke Hoff für die FDPFraktion.
({1})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Ich möchte an dieser Stelle im Namen
meiner Fraktion und aller anderen Kolleginnen und Kollegen im Hinblick auf die Todesfälle, die die Bundeswehr erneut zu beklagen hat, unser tiefes Bedauern und
unser aufrichtiges Beileid zum Ausdruck bringen. Unsere ganz besondere Anteilnahme gilt den Angehörigen
der beiden Soldaten.
Sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter, Sie haben aufgrund der Erfahrungen, die Sie in Afghanistan gemacht
haben, mit Recht darauf hingewiesen, dass die Fahnen
vor Ort häufig auf Halbmast hängen. Ich denke, alle Kollegen, die in Afghanistan waren, haben das Gleiche festgestellt. Trotzdem möchte ich darauf hinweisen, dass davon nicht nur unsere Soldatinnen und Soldaten betroffen
sind, sondern dass davon auch die afghanische Zivilbevölkerung betroffen ist. Es ist schrecklich, das jedes
Mal, wenn wir dort sind, zu erleben. Ich denke aber, dass
es angebracht wäre, auch einmal der vielen zivilen Opfer
in Afghanistan zu gedenken.
Sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter, ich danke Ihnen
auch im Namen meiner Fraktion für den von Ihnen vorgelegten Bericht, insbesondere natürlich Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die wichtige Informationen
über die Probleme der Soldatinnen und Soldaten für das
Parlament ausgewertet und in diesem sehr wichtigen Bericht zusammengestellt haben.
Im Mittelpunkt Ihrer jährlichen Berichte stehen die
Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr, denen ich an
dieser Stelle für ihre Arbeit zu Hause und in internationalen Einsätzen danken möchte. Wir erhalten heute wieder einmal ein umfassendes Bild von ihren Problemen
und Nöten. Leider müssen wir auch in diesem Jahr feststellen, dass viele Dauerbrenner dabei sind.
Herr Wehrbeauftragter, ich schätze Ihre Arbeit sehr;
das wissen Sie. Ich habe Sie in den letzten Jahren für
Ihre klaren Schwerpunktsetzungen in Ihren Berichten
ausdrücklich gelobt. Mit der Konzentration auf wenige
wesentliche Punkte haben Sie die öffentliche Aufmerksamkeit auf diese Probleme gelenkt, die dann auch an
manchen, allerdings leider an zu wenigen Stellen zu Verbesserungen geführt haben.
In diesem Jahr kann ich Ihre Schwerpunktsetzung
aber nicht ganz nachvollziehen. Zwar sind Übergewicht
und ungesunde Lebensweise gesamtgesellschaftliche
Probleme, die auch vor der Bundeswehr nicht haltmachen. Ich habe aber nicht den Eindruck, dass diese Phänomene unmittelbare Auswirkungen auf die Einsatzfähigkeit der Soldatinnen und Soldaten vor Ort haben.
Jedenfalls war die Öffentlichkeit mit Ihren Ausführungen über die „dicken Soldaten“ so sehr beschäftigt, dass
die wirklich wichtigen Probleme der Bundeswehr dabei
etwas aus dem Blickfeld gerieten.
Unsere gemeinsamen Aufgaben sind der Schutz der
Grundrechte der Soldatinnen und Soldaten und die Sicherstellung der Ausübung der parlamentarischen Kontrolle. Es sollte jedoch Aufgabe des Dienstherrn Bundeswehr bleiben, sich über den Fitnessgrad seiner Soldaten
den Kopf zu zerbrechen und hier für Abhilfe zu sorgen.
In einem Interview mit dem Wiesbadener Kurier bestätigte Minister Jung höchstpersönlich, dass das deutsche Rauchverbot auch bei Auslandseinsätzen eingehalten wird und dass nach 19 Uhr nur noch zwei Bier
erlaubt sind. Neben Mülltrennung und ASU ist das sicherlich eine gelungene Ergänzung der Meldungen über
die aktuellen Einsatzbedingungen unserer Soldatinnen
und Soldaten.
Ernsthaft: Die schwerwiegendsten Probleme in der
Bundeswehr werden durch den Umfang des Beschwerdeaufkommens und die Inhalte der Beschwerden realistisch wiedergegeben. Zu nennen sind hier insbesondere
das Fehlen finanzieller Handlungsspielräume, die eklatanten Ausbildungs- und Ausrüstungsdefizite, das Beklagen des Attraktivitätsverlustes im Allgemeinen und
der große Unmut im Sanitätsdienst im Speziellen, die
Behinderung durch zu viel Bürokratie sowie die Zunahme posttraumatischer Belastungsstörungen.
Ich begrüße es sehr, dass Sie sich in Ihrem Bericht
umfangreich dem Thema PTBS gewidmet haben. Dieses
Thema wird uns in der Zukunft immer stärker beschäftigen. Die Zahl der Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr, die in der Folge eines Auslandseinsatzes an PTBS
erkranken, hat in den vergangenen Jahren stetig zugenommen. Meine Fraktion hat einen entsprechenden Antrag in den Deutschen Bundestag eingebracht. Sie unterstützen in Ihrem Bericht unsere Forderung nach einem
Kompetenz- und Forschungszentrum zur Behandlung
von posttraumatischen Belastungsstörungen. Ich hoffe,
dass uns das gemeinsam gelingen wird.
Dass der Dienst in der Bundeswehr generell an Attraktivität verloren hat, lässt sich an der deutlich zurück17926
gegangenen Zahl der Bewerber nachweisen, er kann
nicht mehr schöngeredet werden. Die Studie des Deutschen Bundeswehrverbandes zur Berufszufriedenheit
belegt gerade wegen der hohen Zahl von Teilnehmern
eindrucksvoll, was unsere Soldatinnen und Soldaten
über ihre Arbeit und über ihren Dienstherrn denken.
Insbesondere auf die diesjährigen Haushaltsberatungen zum Verteidigungshaushalt blicke ich sehr gespannt.
Es wäre gut gewesen, wenn die Abgeordneten des Deutschen Bundestages noch vor der parlamentarischen
Sommerpause erfahren hätten, womit die Bundeswehr
im nächsten Jahr rechnen darf. Nicht einmal Eckdaten
des Bundeswehreinzelplans 2009 sind bekannt. Wir wissen also nicht, wie sich der Minister die mittelfristige Finanzplanung der Bundeswehr vorstellt. Die Bundeskanzlerin hat schon vor anderthalb Jahren darauf
hingewiesen, dass die Bundeswehr mehr Geld braucht.
Ich bin gespannt, ob der Minister seine Bundeskanzlerin
in die Pflicht nimmt oder ob es wieder einmal umgekehrt
sein wird.
Bei Ausbildung und Ausrüstungsplanung vermisse
ich immer noch eine konsequente Einsatzorientierung.
Zu Recht weist der Wehrbeauftragte in seinem Bericht
wiederholt auf die zentrale Bedeutung des Einsatzes in
Afghanistan hin. Eine konsequente Schwerpunktsetzung für diesen Einsatz findet aber nicht statt.
Schon anlässlich des letzten Berichts des Wehrbeauftragten habe ich darauf hingewiesen, dass auf die deutschen Soldaten im Rahmen des ISAF-Einsatzes mit der
Quick Reaction Force bei der Ausstattung neue Anforderungen zukommen werden. Ohne weiter ins Detail gehen
zu wollen, will ich sagen, dass es bei der QRF offenkundig nach wie vor signifikante Ausrüstungsdefizite gibt.
Dafür habe ich kein Verständnis. Das gilt auch für den
Verzicht auf eine an die realen Einsatzbedingungen angepasste Taschenkarte, die unseren Soldatinnen und Soldaten in schwierigsten Situationen die nötige Rechtssicherheit bietet. Wir fordern die Bundesregierung auf,
hier schnellstmöglich Abhilfe zu schaffen. Es macht wenig Sinn, sicherheitspolitisch Luftschlösser zu bauen,
während die Baustelle Bundeswehr weder das nötige Arbeitsgerät noch die notwendigen finanziellen Mittel besitzt.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat nun der Bundesminister der Verteidigung, Dr. Franz Josef Jung.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich will zunächst auch gegenüber dem Parlament deutlich machen, dass ich die Nachricht von dem
Absturz des spanischen Hubschraubers in Bosnien-Herzegowina, dessen vier Insassen, zwei davon deutsche
Soldaten, die in Zweibrücken stationiert waren, ums Leben gekommen sind, mit Betroffenheit und innerer Anteilnahme aufgenommen habe. Ich möchte den Angehörigen gegenüber unser Mitgefühl zum Ausdruck bringen
und unser Beileid aussprechen.
Dieser Vorfall zeigt wieder einmal, mit welchem Risiko für Leib und Leben der Einsatz für Frieden und Stabilität und damit für unsere Sicherheit verbunden ist. Ich
hoffe und wünsche, dass Sie alle diese innere Anteilnahme teilen.
Lassen Sie mich jetzt zum eigentlichen Punkt der Tagesordnung kommen. Der Wehrbeauftragte legt seinen
Bericht vor. Ihn haben wir heute zu debattieren. Der
Wehrbeauftragte unterstützt die parlamentarische Kontrolle der Streitkräfte, er ist ein Ansprechpartner für alle
Soldatinnen und Soldaten. Deshalb ist sein Bericht sowohl für das Parlament als auch für die Bundeswehr von
Wert.
Herr Wehrbeauftragter, ich möchte Ihnen für Ihre Arbeit, aber auch für die Zusammenarbeit sehr herzlich
danken und bitte Sie, diesen Dank auch Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu übermitteln.
Meine Damen und Herren, die Auslandseinsätze prägen den Alltag der Bundeswehr ganz entscheidend. In
Afghanistan, auf dem Balkan, vor der Küste des Libanon, am Horn von Afrika, im Mittelmeer, im Sudan, in
Darfur, in Äthiopien und in Georgien leisten unsere Soldatinnen und Soldaten einen wichtigen Beitrag für Frieden und Stabilität in den betroffenen Regionen.
Aber auch im Grundbetrieb in der Heimat sind die
Anforderungen unvermindert hoch. Die Vor- und Nachbereitung der Einsätze sowie deren Unterstützung prägen das Bild. Aber auch die Hilfeleistungen der Bundeswehr sind nicht zu vergessen, die sie zum Schutze
Deutschlands im Inland durchführt.
Ich bin deshalb dem Wehrbeauftragten dankbar, dass
er bei all den Punkten, die er hier kritisch vorgetragen
hat, doch auch deutlich gemacht hat, wie hervorragend
unsere Soldatinnen und Soldaten ihren Auftrag erfüllen.
Ich möchte sowohl unseren Soldatinnen und Soldaten im
Auslandseinsatz als auch denjenigen, die ihren Dienst
zum Schutze Deutschlands tun, auf das Herzlichste für
ihren Beitrag danken, den sie für Frieden und Freiheit
und für unsere Sicherheit leisten.
({0})
Natürlich ist dazu auch die entsprechende finanzielle
Ausstattung notwendig; Frau Kollegin Hoff, Sie haben
das gerade angesprochen. Wir haben im letzten Jahr
1 Milliarde Euro mehr zur Verfügung stellen können.
Dadurch konnten wir zusätzliche Schutzfunktionen für
unsere Soldatinnen und Soldaten und auch eine verbesserte Attraktivität der Streitkräfte erreichen. Insofern bin
ich dem Deutschen Bundestag für diese Unterstützung
dankbar.
Sie haben es bereits angesprochen: Natürlich ist es
richtig, dass in einem gesunden Körper auch ein gesunBundesminister Dr. Franz Josef Jung
der Geist wohnt. Deshalb konzentrieren wir uns auch auf
die Sportausbildung. Aber auch die gesellschaftliche
Entwicklung darf nicht an der Bundeswehr vorbeigehen.
Daneben stehen wir vor weiteren Herausforderungen.
Wir haben die die Innere Führung betreffende Dienstvorschrift neu formuliert und bewusst das Thema „Familie und Dienst“ aufgenommen. Ich glaube nämlich, dass
auch das zur Attraktivität der Streitkräfte gehört.
15 000 Soldatinnen tun zurzeit ihren Dienst in der Bundeswehr. Ich glaube, es ist gerade auch für die Soldatinnen und Soldaten im Auslandseinsatz wichtig, dass wir
unseren Beitrag für die Familienbetreuung leisten.
Ich habe vor zwei Wochen das 17. Einsatzkontingent
für Afghanistan verabschiedet. Dabei war übrigens auch
der 250 000-ste deutsche Soldat, der in einen Auslandseinsatz ging. Ich glaube, wenn man sich die Familien bei
der Verabschiedung anschaut, die Frauen mit drei Monate alten Kindern, die wissen, dass der Vater jetzt vier
Monate lang im Auslandseinsatz ist, dann erkennt man,
wie wichtig es ist, dass die Familienbetreuung auch bei
uns hier eine große Rolle spielt und dass wir hinsichtlich
des Themas „Familie und Dienst“ die Teilzeitarbeit und
die Telearbeit weiterentwickeln.
Der Wehrbeauftragte hat es angesprochen: Wir müssen jetzt auch Modellprojekte zur Unterbringung nicht
unterkunftspflichtiger Soldatinnen und Soldaten entwickeln, um auch dafür zu einer Lösung zu kommen; denn
je mehr sich die Stationierung konzentriert, umso stärker
kommt dieses Problem auf uns zu. Das gilt auch für den
gesamten Bereich der Kinderbetreuung.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich denke,
mit der Verabschiedung des Einsatzweiterverwendungsgesetzes, für die ich dem Deutschen Bundestag dankbar
bin, haben wir gerade zur Stärkung des Vertrauensverhältnisses zwischen den Soldatinnen und Soldaten im
Einsatz und dem Dienstherren einen wichtigen Punkt gesetzt.
Es entspricht der Aufgabe des Wehrbeauftragten, dass
er vor allem die Sorgen unserer Soldatinnen und Soldaten schildert und die Verletzung ihrer Rechte im Blick
hat. Ich denke, umso wertvoller ist die Feststellung, dass
die Männer und Frauen der Bundeswehr ihre Aufträge
im In- und Ausland gut erfüllen. Bei meinen Besuchen
bei der Truppe wurde dieser positive Eindruck ebenfalls
unterstrichen. Sie sind gut ausgebildet, haben eine gute
Ausrüstung und sind hoch motiviert.
Wir haben eine leistungsfähige Armee, die über ein
hohes Ansehen in der Welt verfügt. Das Engagement unserer Streitkräfte für unser Land und damit für die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger ist vorbildlich.
Deshalb nehmen wir auch die in dem Bericht angemerkten Kritikpunkte ernst und bemühen uns, die genannten
Defizite zu beseitigen. Denn das Ziel ist klar: Wir brauchen attraktive und moderne Streitkräfte, um auch in der
Welt von morgen im Einsatz für den Frieden unseren
Dienst leisten zu können.
Ich danke Ihnen.
({1})
Das Wort hat nun der Kollege Dr. Keskin für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch
ich möchte meine tiefe Anteilnahme für die Angehörigen der verstorbenen Soldaten zum Ausdruck bringen. Der Wehrbeauftragte hat in seinem Jahresbericht eine
differenzierte und zugleich recht kritische Situationsbeschreibung präsentiert. Seine Arbeit hat sich in der Vergangenheit sehr bewährt und sollte für uns Anlass sein,
ihn zu ermutigen, seine parlamentarische Kontrollfunktion voll auszuschöpfen. Dazu gehört, dass er mit konkreten Eigeninitiativen stärker zur Lösung struktureller
Probleme beitragen kann. Dies betrifft beispielweise die
Wehrdisziplinarordnung und die Innere Führung.
Bevor ich auf weitere Punkte zu sprechen komme,
lassen Sie mich bitte Folgendes feststellen: Wenn wir
den aktuellen Bericht des Wehrbeauftragten mit dem des
Vorjahres vergleichen, dann werden uns viele Kritikpunkte sehr bekannt vorkommen, wie der Wehrbeauftragte bereits unterstrichen hat. Der Wehrbeauftragte
kommt deshalb schon in seinem Vorwort zu dem Fazit,
dass - ich zitiere - „sich an den grundsätzlichen und
strukturellen Problemen der Bundeswehr nur wenig zum
Positiven hin geändert“ hat. Alleine diese einleitende
Feststellung sollte für die Bundesregierung Grund genug
sein, endlich die aufgeführten Missstände zu beseitigen.
Grob umrissen betrifft dies vor allem die Ausstattung
und Unterbringung der Soldatinnen und Soldaten bei
Bundeswehreinsätzen im Ausland. Des Weiteren befinden sich im Inland zahlreiche Bundeswehrkasernen in
einem beklagenswerten Zustand. Die Wohnunterkünfte
sind zum Teil dramatisch überbelegt und oft dringend sanierungsbedürftig. Auch was die Innere Führung betrifft,
macht der Bericht deutlich, dass das Bewusstsein der
Soldatinnen und Soldaten für die Menschenwürde weiter
gestärkt werden muss.
Als zunehmend problematisch wird die Qualität der
sanitätsdienstlichen und medizinischen Versorgung beschrieben. Insbesondere gilt dies für den Bereich posttraumatischer Belastungsstörungen von Soldatinnen und
Soldaten, die von Auslandseinsätzen zurückkehren. Der
Wehrbeauftragte geht von einer vierfach höheren Dunkelziffer von Erkrankungen aus. Diese Entwicklung
muss uns Anlass zu großer Sorge geben. Die Schwierigkeiten dürfen nicht auf dem Rücken der Betroffenen abgeladen werden.
Die Linke fordert, dass die Erkrankten umgehend die
bestmögliche medizinische und psychologische Betreuung erhalten. Fest steht, dass Kampfeinsätze im Ausland
oft langfristige psychische Schäden hinterlassen. Laut
Jahresbericht des Wehrbeauftragten stellt sich eine größer werdende Zahl von Soldatinnen und Soldaten die
Frage nach dem Sinn ihrer Einsätze. Es ist schon auffällig, wie die Bundesregierung gebetsmühlenartig die Not17928
wendigkeit von Auslandseinsätzen betont, wenn gleichzeitig diejenigen, die diese Einsätze durchführen müssen,
aufgrund eigener Erfahrungen zunehmend Zweifel äußern.
Abgesehen davon, dass für uns Krieg kein Mittel zur
Konfliktlösung ist,
({0})
sieht die Linke sich in ihrer grundsätzlichen Kritik an
militärischen Kampfeinsätzen der Bundeswehr im Ausland bestätigt und fordert die Bundesregierung auf, von
dieser verhängnisvollen Politik abzurücken. Die Linke
ruft die Bundesregierung auf, Konflikte im internationalen Staatensystem mithilfe des Völkerrechts und seiner
Gremien friedlich zu lösen. Die militärischen Kampfeinsätze im Ausland müssen schnellstmöglich beendet werden. Die Bundesregierung würde damit die Voraussetzung schaffen, dass sich die Bundeswehr wieder um ihre
eigentliche Aufgabe kümmern kann. Diese besteht nach
dem Verständnis der Linksfraktion in der unmittelbaren
Verteidigung der Landesgrenzen der Bundesrepublik
Deutschland.
Ich danke Ihnen.
({1})
Das Wort hat nun die Kollegin Hedi Wegener für die
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Herren
und Damen! So schnell werden wir also mit der Gefährlichkeit des Soldatenberufs konfrontiert. Es macht uns
sprachlos und immer wieder hilflos, zu sehen, wie
schnell so etwas an jedem Tag und an jedem Einsatzort
passieren kann. Dabei vermeldet der Bericht des Wehrbeauftragten gleich zu Beginn etwas Positives. Im letzten Jahresbericht 2006 wurde der schlechte Zustand der
Kasernen zum Schwerpunkt gemacht. Das Thema war
und ist nicht neu und tauchte in jedem Bericht auf. Wenn
ich die Kasernen in Munster und Lüneburg in meinem
Wahlkreis besuche, werden mir natürlich die renovierungsbedürftigen Liegenschaften gezeigt. Aber durch
eine gemeinsame Anstrengung von Parlament, Wehrbeauftragtem und BMVg haben wir erreicht, dass Mittel
für ein Sonderprogramm „Sanierung Kasernen West“
bereitgestellt wurden. In den nächsten Jahren sollen die
größten Mängel behoben werden; das ist sehr erfreulich.
Für den Stein des Anstoßes recht herzlichen Dank, Herr
Robbe.
({0})
Die deutsche Gründlichkeit und der Hang zu Bürokratie
tragen allerdings dazu bei, dass vom Antrag bis zum
Baubeginn wahrscheinlich mit fünf Jahren Planungszeit
zu rechnen ist und viel Zeit vergehen wird, bis alles realisiert ist. Eine angemessene Unterbringung gehört jedenfalls zur Steigerung der Attraktivität des Soldatenberufs.
Damit bin ich schon beim nächsten Thema. Der demografische Wandel wird zu einem erheblichen Personalmangel führen. Die Bundeswehr muss sich auf dem
Markt immer mehr behaupten und zunehmend um die
besten Frauen und Männer konkurrieren. Daher ist es
von entscheidender Bedeutung, Anreize für die Berufswahl zu geben. Geld ist das eine. Das andere ist: Der
Frust in der Truppe wächst. Dem müssen wir entgegenwirken; denn der Frust bleibt nicht in den Kasernen und
ist nicht auf interne Gespräche beschränkt. Wie will ich
jemanden überzeugen, Berufssoldatin bzw. Berufssoldat
zu werden, wenn man immer wieder hört, dass die Belastung durch die Auslandseinsätze steigt, dass die Ausrüstung schlecht ist, dass die Winterkleidung im Sommer
kommt und dass gepanzerte Fahrzeuge nicht zur Verfügung stehen? Auf diesem Gebiet haben wir sicherlich
schon für Abhilfe gesorgt.
Ich halte es für problematisch, wenn es Ausrüstungsmängel gibt, die von der Bundeswehr ebenfalls beklagt
werden, gleichzeitig jedoch diese Mängel als subjektiv
empfunden abqualifiziert werden und es bei Eigenbeschaffungen durch die Soldaten Schwierigkeiten gibt.
Aber nicht alle Probleme der Auslandseinsätze sind mit
dem Hinweis auf zu wenig Geld abzutun. Der Bundestag
hat finanzielle Verbesserungen erreicht. Was die Bürokratie angeht, die ich schon in meinem letzten Bericht
angesprochen habe, so müssen wir wirklich flexibler
werden.
Der Bericht des Wehrbeauftragten und die Stellungnahmen des BMVg machen aber noch etwas deutlich: Es
gibt viele Probleme, die Jahr für Jahr angesprochen werden. Obwohl Jahr für Jahr Besserung bzw. Abhilfe gelobt werden, lesen wir im folgenden Jahr wieder von den
gleichen Problemen. Ein Beispiel: Unsere Marine ist im
Rahmen von OEF im Einsatz, und zwar, wie wir wissen,
nicht in der Nordsee; dennoch ist es, wie wir hören, bis
heute nicht möglich, den Klimabedingungen entsprechende Kleidung zu beschaffen. Ich finde aber auch,
dass unter den schwierigen Bedingungen des Einsatzes
nicht immer der Inlandsstandard aufrechterhalten werden kann. Die Bundeswehr greift viele Anregungen des
Wehrbeauftragten auf und versucht, Abhilfe zu schaffen.
Manchmal müssen die Beteiligten vielleicht daran erinnert werden, dass ein Einsatz nun einmal ein Einsatz ist
und keine Übung auf dem Truppenübungsplatz in Bergen.
Die SPD-Bundestagsfraktion hat in ihrem Positionspapier zur Transformation der Bundeswehr eine Reihe
von sehr guten Vorschlägen gemacht, wie man die
Attraktivität des Soldatenberufes verbessern kann. Wir
wollen eine Armee der Zukunft. Da macht auch die Diskussion über die Vereinbarkeit von Beruf und Familie
nicht vor der Bundeswehr halt. Es ist nun ein dringendes
und, wie man zurzeit merkt, ein wirklich modernes
Thema. Es ist in aller Munde, nicht nur bei der Bundeswehr. Die zunehmende Berufstätigkeit der Soldatenfrauen, aber auch der Soldatinnen selber bringt das
Thema in den Fokus. Das BMVg hat bereits darauf reHedi Wegener
agiert. Es gibt gute Dienstvorschriften, die vieles ermöglichen. Leider hapert es an der Praxis, wie der Bericht
des Wehrbeauftragten zeigt. Es gibt Ermessensspielräume zugunsten der Soldatinnen und Soldaten, die auch
genutzt werden sollten. Dass Versetzungen unter Einbeziehung der Partner und der Familie besprochen werden
müssen, klingt gut und liest sich gut, aber der Wehrbeauftragte sagt, dass Realität und Vorschrift auseinanderklaffen. Ich gehe davon aus, dass es sich bei den geschilderten Fällen nicht um Einzelfälle handelt, sondern dass
diese Einzelfälle exemplarisch für einen Missstand stehen.
Es ist schon auffällig, dass in den Anmerkungen zum
Bericht des Wehrbeauftragten immer wieder steht, in einem bestimmten Falle sei etwas schiefgelaufen, aber generell sei alles in Ordnung. Ich frage mich manchmal, ob
nicht zu wenig mit den Vorgesetzten geredet wird. Ich
bin der festen Überzeugung - meine Lebenserfahrung
hat mich das zumindest gelehrt -, dass man manchen
Mangel und manches Defizit beheben könnte, wenn man
miteinander reden würde. Wir haben zu allem Erlasse,
Befehle und Broschüren. Wenn es an der Umsetzung und
Anwendung hapert, dann müssen wir überlegen, wie
man Theorie und Praxis besser miteinander in Einklang
bringen kann.
Aus dem Sachstandsbericht des BMVg zum Pilotprojekt „Kinderbetreuung“ geht hervor, dass die Bundesregierung zwar eine Menge Geld für Kinderbetreuung bereitstellt, die Bundeswehr sich aber auf Hilfe zur
Selbsthilfe und Beratung beschränkt. Wir wollen dem im
Haushalt 2009 abhelfen. Dazu zitiere ich zum Schluss
den Wehrbeauftragten:
Was hält die Bundeswehr eigentlich davon ab, auf
dem Feld der Familienfreundlichkeit besser zu werden als andere? Dabei reicht es nach meiner Beobachtung nicht aus, mehr Geld bereitzustellen.
Mindestens ebenso wichtig wird es sein, kreative
und unkonventionelle Problemlösungen zu entwickeln.
Dem kann ich nur voll zustimmen.
Herr Robbe, ich danke Ihnen und Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern recht herzlich für die geleistete Arbeit. Mein Dank gilt auch den Soldatinnen und Soldaten
für ihre geleistete Arbeit und für den schwierigen Einsatz - einen Einsatz unter Lebensgefahr, wie sich heute
wieder gezeigt hat.
Recht herzlichen Dank und alles Gute für Sie!
({1})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht nun
der Kollege Winfried Nachtwei.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Als Mitglieder des Verteidigungsausschusses waren wir
schon öfter in Bosnien-Herzegowina und haben dort so
manche Hubschrauberbesatzung kennen- und schätzen
gelernt. Deshalb empfinden wir ein ganz besonderes
Mitgefühl für diejenigen, deren Angehörige oder
Freunde nicht lebend aus dem Einsatz zurückkommen.
Herr Wehrbeauftragter, wir schließen uns gerne dem
Dank der anderen Fraktionen und der Präsidentin an Sie
und Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an. Mir ist das
auch deshalb ein besonderes Anliegen, weil ich die Methodik, mit der Sie Ihr Amt ausführen, sehr schätze.
Dazu gehört zum Beispiel, dass Sie bei bestimmten
Punkten nicht bei der Benennung von Mängeln stehenbleiben, sondern auch in die Tiefe gehen. In diesem Bericht betrifft das zum Beispiel den Bereich Ausbildung.
Sie haben sich die Offiziersausbildung einmal näher angeschaut und haben dann gesehen, woran es mangelt.
Ich will allerdings nicht zu dem spektakulären Mangel bzw. eigentlich dem Gegenteil davon kommen, nämlich zu manchen überdimensionierten Soldaten, sondern
zu anderen enorm wichtigen Themen. Ich will drei Komplexe ansprechen: erstens den Bereich Fürsorge, zweitens den Bereich Führungsverhalten und drittens den Bereich Rechtsklarheit.
Die Politik stellt ganz besondere Anforderungen an
Soldatinnen und Soldaten. Das fängt mit dem schnellen
Wechsel von Standorten an und hört bei den Auslandseinsätzen auf. Die Soldaten haben deshalb selbstverständlich einen besonderen Anspruch auf verlässliche
Fürsorge. Die Brennpunkte dieser Fürsorgeanforderungen sind heute schon mehrfach genannt worden: die Verhältnisse der baulichen Infrastruktur, die Unterbringung
in den Kasernen, die Wohnbedingungen und nicht zuletzt die Vereinbarkeit von Familie und Dienst. Schnelle
Abhilfen sind unbedingt notwendig, damit nicht erst die
nächste Generation davon profitiert.
Die Auslandseinsätze sind belastend und riskant. Das
zeigt sich ganz besonders und heimtückisch bei posttraumatischen Belastungsstörungen, die noch ziemlich lange
nach einem Einsatz auftreten können. Manche von uns
haben - so wie ich in den letzten Monaten - einige von
den Betroffenen kennengelernt. Dabei haben wir
schlimme Krankheitsgeschichten gehört. Es stellte sich
heraus, dass hier ein wirklich dringender Handlungsbedarf besteht. Es darf nicht sein, dass Soldaten jahrelang
um die Anerkennung einer Wehrdienstbeschädigung
kämpfen müssen und dass entlassene Zeitsoldaten auf
der Suche nach Heilung und Unterstützung eine regelrechte Odyssee durchmachen müssen. Dies ist zurzeit
noch eine organisierte Verantwortungslosigkeit.
({0})
Zum Führungsverhalten - wie im letzten Jahresbericht ist dieses Thema auch jetzt wieder angesprochen
worden -: Es ist ausgesprochen beunruhigend, was von
manchen Offizieren, von Hauptleuten und darüber hinaus, berichtet wird; beunruhigend ist vielmehr auch die
Feststellung des Wehrbeauftragten, dass es sich nicht um
Einzelfälle handelt, sondern um einen zum Teil zuneh17930
menden Trend. Darüber haben wir vor allem im Ausschuss noch vertieft zu diskutieren.
Schließlich zur Rechtsklarheit. Soldaten der Bundeswehr sind klar und deutlich an Recht und Gesetz, an die
Grundrechte und das Völkerrecht gebunden. Umgekehrt
erwarten sie natürlich von der politischen Führung, von
der Bundesregierung, rechtlich einwandfreie Aufträge
und Befehle.
Wie sieht das inzwischen beim Auftrag „Enduring
Freedom“ aus? Vor sieben Jahren wurde der Verteidigungsfall ausgerufen. Dies ist doch wahrhaftig keine in
irgendeiner Weise nachvollziehbare Legitimation mehr.
An dieser Stelle endlos weiterzumachen, ist eine Zumutung für jedes Rechtsempfinden.
({1})
Unglaublich für jedes Rechtsempfinden ist, was der Tornadobesatzung des Jagdbombergeschwaders 33 in Büchel zugemutet wurde. In der Taschenkarte „Humanitäres Völkerrecht“ des Verteidigungsministeriums vom
August 2006 heißt es unter „Kampfmittel und Kampfmethoden“ - ich zitiere -: Insbesondere der Einsatz folgender Kampfmittel ist deutschen Soldaten bzw. Soldatinnen verboten: Antipersonenminen, chemische und
bakteriologische Waffen, atomare Waffen. - Im Rahmen
der technischen nuklearen Teilhabe müssen Tornadobesatzungen den Abwurf von Atombomben üben. Zurzeit
tun sie das im Inland und im Ausland auch noch.
Herr Minister, ich fordere Sie auf, diesen offenkundig
rechtswidrigen Auftrag umgehend zu widerrufen. Das ist
nicht zuletzt eine Verpflichtung gegenüber den Staatsbürgern in Uniform der Bundeswehr.
Danke schön.
({2})
Für die Unionsfraktion hat nun die Kollegin Anita
Schäfer das Wort.
({0})
Meine Damen und Herren! Meine Kollegin Lydia
Westrich von der SPD und ich als Abgeordnete auch für
Zweibrücken möchten stellvertretend für unsere Fraktionen, sowohl für die SPD-Fraktion als auch für die CDU/
CSU-Fraktion, den Angehörigen der heute in Bosnien
verunglückten Soldaten unser tiefes Mitgefühl aussprechen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Sehr
geehrter Herr Wehrbeauftragter Robbe! Ich danke Ihnen
auch im Namen der CDU/CSU-Fraktion für die prägnante Vorstellung Ihres Jahresberichts 2007. Ich habe
bei Ihrer Rede wieder einmal empfunden, mit welch großem Engagement Sie Ihrer Aufgabe nachgehen. Dafür
gebührt Ihnen und Ihren Mitarbeitern Dank und Anerkennung.
Gegenüber den letzten beiden Berichten hat die Zahl
der Beschwerden, wie Ihnen meine Kollegin aus der
SPD schon mitgeteilt hat, leicht abgenommen. Das ist
natürlich erst einmal eine gute Nachricht. Es bedeutet
aber nicht, dass wir uns nun in froher Erwartung eines
Trends zum Positiven zurücklehnen können. Denn auch
dieser Bericht behandelt wieder Themen, die uns teilweise schon seit Jahren beschäftigen. Ich nenne die Ausstattung und Betreuung im Einsatz und die Vereinbarkeit
von Familie und Dienst. Sie gehören zu den Bereichen
mit den größten Auswirkungen auf die Attraktivität der
Bundeswehr. Wir müssen uns hier also nicht nur um das
Wohlergehen der jetzt dienenden Soldaten sorgen, sondern auch um das derjenigen Männer und Frauen, die zukünftig eine Verpflichtung erwägen.
Besonders besorgniserregend finde ich, dass sich die
Zahl der Eingaben zur Vereinbarkeit von Familie und
Dienst gegenüber dem Vorjahr mehr als verdoppelt hat.
Spezielle Problemfelder sind weiterhin die Kinderbetreuung und die Trennung von der Familie bei Versetzungen und Kommandierungen. Dies haben mittlerweile
alle Beteiligten als wichtige Herausforderung erkannt.
Im Unterausschuss „Weiterentwicklung der Inneren
Führung“ haben wir darauf gedrängt, das Thema in der
neuen Zentralen Dienstvorschrift 10/1 umfassend zu
verankern. Ganz aktuell hat das Verteidigungsministerium den Sachstandsbericht zur Vereinbarkeit von Familie und Dienst vorgelegt. Ich hoffe sehr, dass die getroffenen und noch geplanten Maßnahmen die Situation
nachhaltig verbessern werden. Denn meiner Einschätzung nach wird die Bedeutung dieses Themas eher noch
zunehmen.
Einzelne Einrichtungen der Bundeswehr haben mit
viel Initiative und mit kooperativen kommunalen Partnern vor Ort bereits individuelle Lösungen zur Kinderbetreuung erzielt. Die bisherigen Ergebnisse des Pilotprojekts „Kinderbetreuung“ zeigen, dass dies der
richtige Weg ist.
Ein weiteres Problem sind die Unterkünfte für die zunehmende Zahl von Pendlern unter den Soldaten. Hier
müssen geeignete Rahmenbedingungen zur Lösung des
Problems geschaffen werden.
({0})
Der Wehrbeauftragte hat im letzten Jahr mit Nachdruck auf den schlechten Zustand vieler Kasernen in
Westdeutschland hingewiesen. Die Bundesregierung hat
darauf rasch reagiert. Dafür möchte ich insbesondere
Verteidigungsminister Jung noch einmal ausdrücklich
danken.
({1})
Mit dem Sonderprogramm „Sanierung Kaserne West“
sind umfangreiche Mittel zur Sanierung bereitgestellt
worden. Damit stehen wir natürlich noch ganz am Anfang. Der aktuelle Bericht liefert noch einmal Beispiele
für Mängel bei der Infrastruktur: von brüchigen Deckenteilen über Schimmel- und Legionellenbefall bis hin zu
überbelegten Stuben. Ich habe bei der letzten Debatte
Anita Schäfer ({2})
hierzu gesagt, dass wir Abgeordneten die Umsetzung
des Sanierungsprogramms aufmerksam verfolgen werden. Natürlich freut es besonders, wenn im heimischen
Wahlkreis Mittel ankommen, etwa für die seit langem
fällige Sanierung der Niederauerbach-Kaserne in Zweibrücken.
({3})
Insofern kann ich berichten: Es tut sich was.
Aber wir müssen über den Tellerrand hinaussehen.
Damit meine ich sowohl die Grenzen des eigenen Beritts
als auch den zeitlichen und finanziellen Rahmen des
Sonderprogramms „Sanierung Kaserne West“. Wir müssen langfristig für eine Infrastruktur sorgen, die den Anforderungen an Dienst und Unterbringung unserer Soldaten rundum gerecht wird, und zwar den jeweils
aktuellen Anforderungen in Ost wie in West.
Das ist natürlich nicht zuletzt eine Frage des Geldes.
Die Union hat seit Übernahme der Regierungsverantwortung den Trend zum Abbau des Verteidigungshaushalts umgekehrt.
({4})
Unser Ziel ist, die Bundeswehr dauerhaft auf eine gesunde finanzielle Basis zu stellen.
({5})
Das gilt für die Entwicklung und Beschaffung von Ausstattung sowie für die Infrastruktur. Diesen Kurs werden
wir im Rahmen des Möglichen auch weiterhin verfolgen.
Alarmierende Aussagen macht der Wehrbeauftragte
zum Thema „Sport und Fitness in der Bundeswehr“.
Demnach ist der Anteil Übergewichtiger in der Altersgruppe von 18 bis 29 Jahren unter den Soldaten größer
als in der Zivilbevölkerung. Das konnte ich im ersten
Moment fast nicht glauben. Gesundheit und körperliche
Leistungsfähigkeit sollten doch eigentlich eine Grundvoraussetzung für den Dienst in der Bundeswehr sein. Die
Klagen über mangelnde Möglichkeiten zum Sport gegenüber dem Wehrbeauftragten lassen vermuten, dass es
am Willen dazu nicht fehlt.
Das mangelnde Bewusstsein für gesunde Ernährung
in der Bevölkerung scheint aber auch vor der Truppe
nicht haltzumachen. Der Forderung des Wehrbeauftragten nach umfassender Aufklärung, die nicht erst bei auffällig übergewichtigen Soldaten einsetzt, kann ich nur
zustimmen. Die körperliche Verfassung unserer Soldaten
muss für uns mindestens dieselbe Bedeutung haben wie
ihre Ausstattung, sowohl um ihrer selbst willen, als auch
im Interesse der Auftragserfüllung; denn letztlich ist es
der Soldat, der den Auftrag erfüllt, nicht seine Ausrüstung. Das gilt auch noch im Zeitalter hochkomplexer
Rüstungstechnik. Jeder Soldat muss wissen, dass in den
gegenwärtigen Einsätzen jederzeit seine körperliche
Leistungsfähigkeit gefragt sein kann, auch wenn sein
Posten an einem Computer im Feldlager ist.
Über die Forderung nach Sonderprogrammen für kritische Bereiche dürfen wir natürlich nicht die übrigen
Problemfelder aus den Augen verlieren. Wo immer
Handlungsbedarf besteht, muss er klar benannt werden
und muss Abhilfe geschaffen werden. Herr Minister, ich
bitte Sie, den eingeschlagenen Kurs der Haushaltskonsolidierung fortzusetzen. Wir als Abgeordnete sind aufgefordert, Sie dabei entsprechend zu begleiten und zu unterstützen - zum Wohle unserer Soldatinnen und
Soldaten. Ich bin sicher, dass wir uns in diesem Ziel einig sind.
Herzlichen Dank.
({6})
Das Wort hat nun Petra Heß, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dem
49. Bericht liegen neben den Auswertungen zahlreicher
Standort- und Truppenbesuche mehr als 5 000 Eingaben
zugrunde. Unsere Soldatinnen und Soldaten wenden sich
mit ihren Anliegen heutzutage sehr selbstbewusst und
vor allen Dingen auch mit Selbstverständlichkeit an den
Wehrbeauftragten. Sie unterstreichen mit ihrem Eingabeverhalten, dass sie wirklich verantwortungsvolle
Staatsbürger in Uniform sind. Ich gebe aber zu: Auch die
Umtriebigkeit und das Engagement des Wehrbeauftragten spielen eine entscheidende Rolle. Durch unzählige
unangemeldete Truppenbesuche hat der Wehrbeauftragte
einen Blick hinter die Kulissen der Truppe werfen können.
Herr Wehrbeauftragter, während der Besuche haben
Sie sich in hohem Maße offen und ansprechbar gezeigt,
sodass sich im Laufe der Zeit ein echtes gegenseitiges
Vertrauensverhältnis entwickeln konnte. Dafür unseren
herzlichen Dank!
({0})
Der Bericht gibt einen wichtigen, weil authentischen
Einblick in das Innenleben der Streitkräfte und hält damit nicht nur der militärischen Führung, sondern auch
der Politik den Spiegel vors Gesicht.
Ich will zunächst den Fokus auf den Bereich des Sanitätsdienstes richten: Wie schon in den vergangenen Jahren ist die sanitätsdienstliche Lage der Bundeswehr im
Inland durch die Bindung von Ärzten und Pflegekräften
in Auslandseinsätzen weiterhin angespannt. Der Aufwuchs bei der Zahl der Sanitätsoffiziere verläuft zwar
planmäßig, aber noch immer sind 400 von insgesamt
3 100 Dienstposten für Sanitätsoffiziere unbesetzt. Besonders in den Bundeswehrkrankenhäusern führte dies
zu problematischen Personalengpässen bei Ärzten und
Sanitätern, ein Problem, das nach Auskunft des Bundesministeriums der Verteidigung nur mittelfristig gelöst
werden kann.
Die Umgliederung der Krankenhäuser auf einsatzorientierte Strukturen erfordert in zunehmendem Maße
die Kooperation mit zivilen Gesundheitseinrichtungen.
Die Anzahl und Verteilung der regionalen Sanitätseinrichtungen richtet sich nach der Gliederung und Stationierung der Streitkräfte, wobei der Anspruch einer flächendeckenden fachärztlichen Versorgung vor Ort
aufgegeben wurde. Entsprechende Leistungen werden,
wie bereits erwähnt, nur noch in den fünf Bundeswehrkrankenhäusern sowie in den 18 Sanitätsfachzentren erbracht und müssen ansonsten aus dem zivilen Bereich
bezogen werden, was teilweise lange Anfahrtswege mit
sich bringt. Hier ist natürlich auch die militärische Führung aufgerufen, die im Rahmen der Transformation notwendigen Maßnahmen und Einschnitte immer wieder zu
erklären, gegebenenfalls Mängel und Unzumutbarkeiten
klar zu benennen und, wenn möglich, abzustellen. Hier
muss die Truppe ganz einfach mehr mitgenommen werden.
Etwas entspannt gegenüber dem vorangegangenen
Berichtsjahr hat sich die Situation beim Assistenz-,
Pflege- und Rettungspersonal. Viele Sanitätsfeldwebel
konnten ihre Qualifizierung im Rahmen einer zivilen
Aus- und Weiterbildungsmaßnahme im Berichtsjahr erfolgreich abschließen, sodass im Schnitt 80 Prozent der
Dienstposten besetzt werden konnten.
Nicht unerwähnt lassen will ich an dieser Stelle die
Behandlung von Soldatinnen und Soldaten mit posttraumatischen Belastungsstörungen. Ihre Zahl ist zwar im
Berichtszeitraum nicht signifikant gestiegen, allerdings
lässt die zunehmende Zahl stark belastender Auslandseinsätze erwarten, dass es hier künftig einen starken Anstieg geben wird. Die seitens der Sanität geforderte Errichtung eines Zentrums für solche komplexen Erkrankungen ist daher ausdrücklich zu unterstützen. Dies
geschieht übrigens vonseiten des gesamten Parlaments.
Nun noch einige Ausführungen zum wichtigen
Thema „Führung und Ausbildung“ und insbesondere zur
Inneren Führung: Die Innere Führung ist und bleibt das
Herzstück der Bundeswehr. Ihre Prinzipien sind für jeden Soldaten und jede Soldatin verbindlich. Ganz besonders gilt das für die Vorgesetzten. Durch die Innere Führung werden die Werte und Normen des Grundgesetzes
in der Bundeswehr verwirklicht. Die Innere Führung ist
nämlich das Aushängeschild der Bundeswehr bei Auslandseinsätzen.
Umso bedauerlicher ist es, dass auch im Berichtsjahr
2007 wieder Mängel und Verstöße im Führungsverhalten
von Vorgesetzten gemeldet wurden. Es kam zur Missachtung von Untergebenen durch Geringschätzungen
und Beleidigungen, aber auch zu regelrechtem Missbrauch der Befehlsbefugnis, indem zum Beispiel Kollektivbestrafungen vorgenommen wurden. Es liegt auf der
Hand, dass solches Verhalten von Vorgesetzten nachhaltig schädlich für den Zusammenhalt in der Truppe ist.
Wer Menschen führen will, kann dies nur durch sein
Vorbild tun. Er oder sie muss echte Autorität mitbringen,
Autorität, die sich eben nicht einfach nur auf Hierarchie
gründet, sondern auf einem Mehr an Wissen, einem
Mehr an Können und einem Mehr an Erfahrung.
Moltke hat einmal gesagt: Gehorsam ist das Prinzip,
aber der Mensch steht über dem Prinzip. - Hier müssen
wir wachsam bleiben; denn Vorgesetzte aller Ebenen
prägen durch ihr Handeln die Streitkräfte, und jeder Soldat und jede Soldatin muss ihrem Vorgesetzten vertrauen
können. Das bedeutet auch, dass aus Beschwerden oder
Eingaben dem oder der Betroffenen keine Nachteile erwachsen dürfen, und vor allen Dingen, dass die Anliegen, die sie an den Wehrbeauftragten herantragen, zügig
bearbeitet werden müssen.
Um dem Missbrauch von Autorität gezielt vorzubeugen, müssen die Soldatinnen und Soldaten bereits in ihrer Ausbildung und später selbstverständlich auch in ihrem aktiven Dienst einbezogen werden; sie müssen
mitgestalten können. Ein Vorgesetzter, der seine Untergebenen aktiv mit einbezieht, der ihre Stärken und Fähigkeiten fördert und stets den Dialog mit ihnen sucht,
kann aus einem Vertrauensverhältnis und aus echter Einsicht heraus führen, wie es das Prinzip der Inneren Führung verlangt. Aber Innere Führung bedeutet natürlich
auch in besonderem Maße Verantwortung und Eigenverantwortung. Jeder Soldat und jede Soldatin, besonders in
der Funktion eines Ausbilders, ist während, aber auch
außerhalb der Dienstzeit zu einem vorbildlichen staatsbürgerlichen Verhalten verpflichtet. Gegen Verstöße
muss daher konsequent eingeschritten werden, und das
geschieht auch.
Gleiches gilt in besonderem Maße für Verstöße mit
rechtsextremem Hintergrund, deren Zahl glücklicherweise im Berichtsjahr erneut rückläufig war. Aber jeder
Vorfall ist einer zu viel. In der Bundeswehr darf es für
keine Form des Extremismus und der Fremdenfeindlichkeit einen Platz geben.
Ein letztes Wort zur körperlichen Fitness, auch wenn
der Präsident schon aufleuchtet.
({1})
- Der Präsident nicht! - Auch in diesem Punkt spielt die
Vorbildfunktion der Vorgesetzten eine wichtige Rolle.
Die zunehmende Zahl der Auslandseinsätze verlangt
nach körperlich belastbaren Soldatinnen und Soldaten.
Eine moderne Armee kann es sich einfach nicht leisten,
körperlich unzureichend gebildete Soldatinnen und Soldaten zu haben. Deshalb muss man hier weiter dranbleiben und die entsprechenden Rahmenbedingungen schaffen. Da ist das Bundesverteidigungsministerium durch
die Anregungen des Wehrbeauftragten auf dem richtigen
Weg.
Ich danke dem Wehrbeauftragten und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Ich wünsche mir, dass er
an seiner bisherigen Umtriebigkeit festhält. Ich danke
vor allen Dingen den Soldatinnen und Soldaten für ihren
Dienst, den sie für Frieden und Freiheit unseres Landes
leisten.
Vielen Dank.
({2})
Ich hoffe, ich habe jetzt genug geleuchtet.
Ich schließe die Aussprache.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/8200 an den Verteidigungsausschuss vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Irmingard Schewe-Gerigk, Volker Beck ({0}),
Britta Haßelmann, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Durchsetzung der Entgeltgleichheit von
Frauen und Männern - Gleicher Lohn für
gleichwertige Arbeit
- Drucksache 16/8784 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({1})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten
soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin
Irmingard Schewe-Gerigk, Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Jetzt können wieder einige darüber frotzeln, dass wir
jetzt, anderthalb Stunden vor dem EM-Viertelfinale
Deutschland-Portugal,
({0})
hier im Plenum noch über Frauenlöhne reden und ich
nicht bereit war, diese Rede zu Protokoll zu geben, nach
dem Motto: typisch Frauenpolitik! Deshalb lassen Sie es
mich gleich in aller Deutlichkeit sagen: Der Grund liegt
im peinlichen Versagen der Großen Koalition. Sie hatten
uns fest zugesagt, einen eigenen Antrag dazu einzubringen, über den wir am nächsten Donnerstagnachmittag
diskutieren wollten. Leider sind Sie bei diesem Vorhaben wieder einmal gescheitert. Das ist eine echte Bankrotterklärung.
({1})
Männer und Frauen, so eine aktuelle Umfrage, sehen
in der Entgeltungleichheit eine der großen noch bestehenden Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft. Die EU
hat sie zum Schwerpunktthema gemacht. Sozialkommissar Spidla hielt der Bundesregierung erst letzte Woche
eine Standpauke. Über dieses so wichtige Thema, das
die ganze Gesellschaft erregt, reden wir abends zu einer
denkbar ungünstigen Zeit. Das macht deutlich, wie
wichtig Ihnen dieses Thema ist. Aber am nächsten Equal
Pay Day werden Sie alle wieder lauthals Ihre Empörung
über die große Lohnungerechtigkeit kundtun. Die restlichen Tage im Jahr schieben sich Wirtschaft, Gewerkschaften und Bundesregierung die Verantwortung dafür
dann wieder gegenseitig zu. Die Gewerkschaften sagen,
die Wirtschaft muss handeln. Die Wirtschaft schiebt die
Verantwortung auf die Politik. Die Politik verweist auf
die Tarifparteien.
Genau diese Passivität aller Beteiligten lässt sich auch
trefflich aus der vor kurzem veröffentlichten 3. Bilanz
Chancengleichheit ablesen. Geräuschlos und geradezu
das Licht der Öffentlichkeit scheuend hat die Bundesregierung sie am letzten Freitag veröffentlicht. Kein Wunder: Sie belegt eindrucksvoll den kompletten Stillstand
in Sachen Gleichstellung in der Privatwirtschaft.
Das Lohngefälle sticht hier ganz besonders heraus:
22 Prozent beträgt der Lohnunterschied zwischen
Frauen und Männern in Deutschland; 15 Prozent sind es
im europäischen Durchschnitt. Nur Zypern, Estland und
die Slowakei stehen noch schlechter da. Ich finde, das ist
ein Armutszeugnis für unser Land.
({2})
Dieses Lohngefälle ist in den letzten Jahren eher gewachsen als geschrumpft. Je höher das Einkommen,
desto größer ist die Differenz. Allein bei einem Drittel
dieses Gefälles handelt es sich um direkte Diskriminierungen. Die weibliche Leistung wird in Deutschland immer noch wie eine Minderleistung bezahlt. Gerade das
ist für die jungen und gut ausgebildeten Frauen besonders bitter: dass mit der schlechteren Bezahlung auch
eine geringere Wertschätzung ihrer Arbeit einhergeht.
Vergeblich habe ich in der Bilanz danach gesucht,
was Wirtschaft und Bundesregierung dagegen tun werden. Nichts habe ich gefunden, rein gar nichts. Die freiwillige Selbstverpflichtung ist damit gescheitert. Darum
brauchen wir ein Gleichstellungsgesetz für die Privatwirtschaft.
({3})
- Ina, ich weiß, dass du es nicht willst.
Ohne ein Eingreifen des Staates wird Entgeltgleichheit nicht erreicht werden. - Dieser Satz stammt nicht
von mir. Das ist die Meinung der Bevölkerung zur Lohndiskriminierung in Deutschland. Die Bundesregierung
hat diese Aussage im Rahmen einer großen Umfrage
eingeholt. Aber sie handelt trotzdem nicht. Nehmen Sie
das Ergebnis für bare Münze und handeln Sie, verehrte
Kolleginnen und Kollegen! Falls Sie nicht wissen, wie,
können Sie sich ja schon einmal an unserem Antrag orientieren.
Der Bund muss endlich als Vorbild vorangehen und
die fortbestehenden Diskriminierungen im öffentlichen
Tarifsystem abbauen. Außerdem bedarf es eines echten
Verbandsklagerechts. Mindestlöhne sind notwendig;
denn gerade die Frauen sind besonders oft im Niedriglohnsektor beschäftigt. Aufgabe der Antidiskriminierungsstelle sollte es nicht länger sein, als Sprachrohr der
Bundesregierung gegen eine vernünftige EU-Antidiskriminierungspolitik zu fungieren. Stattdessen muss sie in
den Unternehmen für geschlechtergerechte Bezahlung
werben. Das wäre die Aufgabe einer Antidiskriminierungsstelle.
({4})
- Beifall nahezu im ganzen Hause. ({5})
Die Ursachen direkter Lohndiskriminierung soll sie mit
einer Studie ans Tageslicht bringen. Die Ministerin hat
erst kürzlich gefordert, die Unternehmen sollten für
Transparenz bei den Gehältern sorgen. Gut so, Frau
Ministerin, aber von alleine werden die Unternehmen
das nicht umsetzen.
Wir waren vor kurzem mit einer Delegation des Frauenausschusses in Kanada. Dort haben wir uns davon
überzeugen können, wie durch ein Gesetz Entgeltgleichheit praktiziert wird. Es gibt weitere europäische Länder,
die entsprechende Gesetze haben. Es ist also kein Teufelszeug. Deshalb, meine Damen und Herren: Die Politik
darf beim Thema Entgeltgleichheit nicht länger nur den
Platz auf der Zuschauertribüne einnehmen, wie es heute
unser armer Bundestrainer unfreiwillig erleben muss.
Lassen Sie uns ins Geschehen eingreifen! Bringen wir
den Ball ins Rollen! Eine Anhörung könnte dazu ein erster Schritt sein.
({6})
Da wir gerade bei Lohnungerechtigkeit und Fußball
sind: Vielleicht können wir bei dieser Gelegenheit auch
klären, warum eigentlich unsere Fußballweltmeisterinnen so viel weniger verdienen als unsere Herren, die es
bei der EM nur mit Mühe ins Viertelfinale geschafft haben.
({7})
Ich danke Ihnen.
({8})
Das Wort hat nun Eva Möllring, CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk, die
Große Koalition ist zwar mächtig und kann eine Menge
machen, aber die Fußballtermine setzt sie noch nicht
fest.
({0})
Ich gebe Ihnen völlig recht: Die enormen Lohn- und
Gehaltsunterschiede schreien zum Himmel; das kann
uns nicht ruhen lassen. Da sind wir völlig einer Meinung. Es ist in aller Munde - jeder weiß es -, dass die
deutschen Frauen 22 Prozent weniger verdienen als die
Männer und dass der europäische Durchschnitt bei
15 Prozent liegt. Diese Zahlen machen uns wütend. Wir
wollen etwas dagegen tun. Am liebsten würden wir den
Schalter umdrehen und die ganze Problematik abstellen.
Das versuchen Sie mit Ihrem Antrag. Sie fordern die
Einführung eines Mindestlohns.
({1})
Sie beziehen sich auf die Friseurinnen und Floristinnen.
Liebe Kolleginnen, das Friseurhandwerk ist einer der
wenigen Berufe, in dem nun wirklich überhaupt kein
Euro Differenz zwischen dem Verdienst der Frauen und
dem der Männer besteht. Das Gleiche gilt für die Kassiererinnen und für Floristinnen: überall genau der gleiche
Lohn für Männer wie für Frauen. Im Bäckerfachverkauf
verdienen Frauen sogar 30 Euro mehr als Männer. Deswegen hat das Thema Mindestlohn in einem Antrag, in
dem gleiche Löhne für Frauen und Männer gefordert
werden, nichts zu suchen. Darüber sollten Sie an anderer
Stelle diskutieren.
Wir von der Koalition haben am 7. März 2007 einen
Antrag vorgelegt, in dem wir die Situation umfassend
darstellen und die verschiedenen Ursachen aufzählen.
({2})
21 Maßnahmen haben wir vorgeschlagen und gefordert,
um die verschiedenen Stellschrauben deutlich zu machen, wie man dem zwischen Frauen und Männern bestehenden Lohngefälle beikommen kann.
({3})
- Das erkläre ich gleich.
({4})
Die erste Stellschraube ist die Berufswahl junger
Frauen; denn trotz eines guten Schulabschlusses ergreifen immer noch zu wenige Frauen technische und naturwissenschaftliche Berufe. Deshalb begrüßen wir die Initiative der Ministerin Schavan und verschiedener
Wirtschaftsverbände, den Anteil der Studienanfängerinnen in den MINT-Berufen deutlich zu erhöhen. Der
Startschuss war in den letzten Wochen; ich bin dabei gewesen. Es fehlen immer noch 330 000 Akademikerinnen
in diesem Bereich, und der Fachkräftemangel wird immer größer. Deshalb ist es gerade für die Wirtschaft so
wichtig, dass sich Mädchen schon frühzeitig für Naturwissenschaften und Technik interessieren. Das ist ein
politisches Feld und kein Feld der Unternehmen und Gewerkschaften; denn es geht um Bildung, und da können
wir eine Menge tun. Dies gilt gerade für die Länder, wo
wir die jungen Mädchen in Kindertagesstätten, Grundschulen und im späteren Schulleben über die Pubertät
hinaus für diese Fächer interessieren und motivieren
müssen, wenn sie Fähigkeiten in diesem Bereich haben.
Es ist völlig richtig, die Unternehmen, die fortschrittlich denken, an dieser Stelle mit ins Boot zu nehmen;
denn diese haben schon erkannt, dass ihnen das weibliche Potenzial fehlt. Die rechnen hoch und merken, dass
sie ihre Leistungen überhaupt nicht mehr erbringen können, wenn es nicht mehr Frauen in diesem Bereich gibt.
- Das ist die zweite Stellschraube. Daran muss gedreht
werden; denn noch immer sind von den Topmanagern
nur 5,5 Prozent weiblich, und diese Zahl ist rückläufig.
Das macht mir Sorgen. Deswegen: Die Unternehmensverbände sind gefragt, dieses Thema positiv zu begleiten. Sie sind gefragt, die freiwillige Vereinbarung zur
Förderung der Chancengleichheit umzusetzen, und zwar
schleunigst.
({5})
Sie sind gefragt, die Erfolge mit ihren Mitgliedsunternehmen zu kommunizieren.
Die dritte wichtige Stellschraube in diesem Bereich
ist die Balance von Familie und Beruf. Da hat die Bundesregierung einen ganz großen Schritt gemacht und die
finanziellen Voraussetzungen für die Betreuung von
kleinen Kindern geschaffen.
({6})
Die jungen Frauen werden zukünftig ganz andere Möglichkeiten haben, in den Beruf einzusteigen und die Tätigkeit auch dann fortzusetzen, wenn sie eine Familie
gründen.
({7})
Die Inanspruchnahme der Vätermonate zeigt, dass sich
auch Väter mehr für die Familie engagieren und sich
auch mehr engagieren wollen. Wir wollen die Zahl der
Vätermonate ausbauen.
({8})
Damit ist ein wichtiger Teil der Rollentrennung, die wir
bisher praktizieren, überwunden; denn so werden die
Frauen mehr Chancen im Beruf haben.
Abschließend möchte ich eines ganz deutlich sagen:
Die Eingruppierung von Berufstätigkeiten von Frauen
und Männern ist nicht Sache der Bundesregierung und
nicht Sache des Staates. Das ist vielmehr die Angelegenheit der Tarifparteien, und zwar der Arbeitgeber und der
Gewerkschaften. Ich würde mir sehr wünschen, dass wir
viel mehr Frauen bei den Gewerkschaften hätten, die dafür eintreten, die Erfolg haben und solche Rechte durchsetzen. - Das ist die vierte Stellschraube.
Die Politik hat nicht die Möglichkeit, diese Felder direkt zu steuern, aber sie hat die Aufgabe, die Rahmenbedingungen in allen vier Feldern zu setzen. In Kanada haben wir von den Erfahrungen mit einem Gesetz zu Equal
Pay gehört. Wir haben auch gehört, dass es keine Erfolge
bringt.
({9})
Wir haben von der Gewerkschaftsvertreterin erfahren,
dass sie zwar jahrelang versucht hat, in einzelnen Fällen
tätig zu werden, dass sie aber - auch im Rahmen der
kommunalen Stelle, die extra dafür gegründet wurde keine Erfolge hat. Ich meine, dass wir mit unseren Maßnahmen - auch mit der Antidiskriminierungsrichtlinie;
das ist völlig richtig - auf einem guten Weg sind und Erfolg haben werden.
Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Danke schön fürs Zuhören.
({0})
Nun hat Kollegin Ina Lenke, FDP-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Grünen haben in ihrem Antrag die rechtlichen Voraussetzungen zur Durchsetzung der Entgeltgleichheit von Männern und Frauen richtig dargestellt. Auch ihrer Analyse
der Situation in Deutschland stimme ich zu.
In unserer Gesellschaft - gerade wir Politikerinnen
müssen uns das bewusst machen - werden die traditionellen Geschlechterrollen immer noch als gegeben angesehen. Vor kurzem hat mich die Zuschrift einer Frau erreicht, die die Familienarbeit ausschließlich den Frauen
zuordnet.
({0})
Das kann ich überhaupt nicht verstehen. Das zeigt, dass
wir viel besser kommunizieren müssen.
Diese Einstellung mag bei vielen Frauen noch immer
Einfluss auf die Berufswahl haben. Viele junge Frauen
wollen natürlich Kinder haben und später Erwerbstätigkeit und Familienarbeit miteinander vereinbaren. Frau
Schewe-Gerigk, im Antrag der Grünen kommt meines
Erachtens zum Ausdruck, dass die bestehenden Gesetze
den Zustand der Entgeltgleichheit für Männer und
Frauen nicht verbessert haben.
({1})
Der Irrglaube, dass es nur neuer Gesetze bedarf, um Verhalten zu ändern, hat nun auch die Grünen erreicht. Ich
habe Ihren Antrag ganz genau gelesen. Deshalb sage ich:
Frau Schewe-Gerigk, Ihr Antrag, mit dem Sie ein
Gleichstellungsgesetz für den Bereich der Wirtschaft
fordern, zielt in die Leere.
Ich erinnere an das Bundesgleichstellungsgesetz, das
für die Ministerien und den öffentlichen Dienst insgesamt gilt. Was haben wir in einem Bericht über dieses
Gesetz lesen müssen? Die erleichterten Teilzeitregelungen bei gleichzeitiger Arbeitsplatzsicherheit im öffentlichen Dienst haben - darüber haben wir schon diskutiert nicht dazu geführt, dass mehr Väter Teilzeitarbeit beantragen, um Familienarbeit zu leisten.
({2})
Im Gegenteil - Frau Schewe-Gerigk, das können Sie
nicht wegreden -: Im ersten Erfahrungsbericht der Bundesregierung heißt es wortwörtlich:
Teilzeitbeschäftigung im Bundesdienst war und ist
weiterhin Frauensache …
Und das zu 91 Prozent.
({3})
Frau Schewe-Gerigk, trotz richtiger Analysen sind die
Forderungen in Ihrem Antrag in Teilen verfehlt und für
die FDP und mich nicht nachvollziehbar. Die FDP wird
Ihrer Forderung nach Mindestlöhnen und der Ausweitung des erst Ende 2006 eingeführten Allgemeinen
Gleichbehandlungsgesetzes nicht zustimmen.
({4})
Wir müssen erst einmal abwarten, wie das Gesetz wirkt.
Ich glaube, Sie werden dafür keine Mehrheit in diesem
Haus bekommen.
({5})
Wenn man sich die Vorschläge genau ansieht, stellt
man fest, dass sie nicht geeignet sind, das Problem der
Entgeltungleichheit zu lösen. Sie haben festgestellt - das
müssen wir konzedieren -, dass Deutschland im Vergleich mit allen 27 europäischen Ländern die rote Laterne trägt, hinter der Slowakei, Estland und Zypern. Ich
finde, das ist einfach nur peinlich.
({6})
Ich finde es nicht begründbar, dass ein Verkäufer im
Durchschnitt 2 050 Euro verdient, eine Verkäuferin aber
nur 1 656 Euro. Ein Kellner verdient 1 626 Euro im Monat im Durchschnitt, eine Kellnerin dagegen nur
1 453 Euro. Mich hat sehr nachdenklich gestimmt, dass
es sich die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände sehr einfach macht, indem sie, wie einem
aktuellen Positionspapier vom März dieses Jahres zu
entnehmen ist, die Verantwortung auf den Staat und die
Frauen schiebt, ihre Verantwortung und die ihrer Mitgliedsunternehmen aber ausblendet. Wenn der BDA die
Verhältnisse wirklich verbessern will, dann sollte er nach
meiner Meinung dafür sorgen, dass junge Väter im Betrieb bei Krankheit des Kindes bis zu seinem zwölften
Lebensjahr Kinderkrankentage - jährlich zehn Kinderkrankentage pro Vater und pro Mutter - in Anspruch
nehmen; er sollte offensiv für eine Elternzeit der jungen
Väter eintreten, die nicht im Glauben gelassen werden
dürfen, dies schade ihrer Karriere.
Zum Schluss möchte ich auf ein weiteres Problem,
die Entgeltungerechtigkeit, zu sprechen kommen. Dazu
gehört nicht nur ein Vergleich der Bruttolöhne, sondern
auch der Vergleich zwischen Brutto- und Nettolohn. Die
Steuerklasse V sorgt für eine große Lücke zwischen
Brutto- und Nettolohn. Wir haben schon lange gefordert,
die Steuerklasse V abzuschaffen und ein Anteilsverfahren einzuführen. Sie sehen vor, über das Jahressteuergesetz 2009 ein Anteilsverfahren einzuführen; eine vorgesehene Regelung im Jahressteuergesetz 2008 haben Sie
wieder herausgenommen. Erst 2010 soll das Anteilsverfahren angewendet werden.
({7})
Ich halte es für schlimm, dass Sie die Frauen, deren Einkommen in Steuerklasse V besteuert wird, so alleine lassen. Wir wollen, dass das Anteilsverfahren nicht erst
2010, sondern schon 2009 eingeführt wird. Ich finde, das
dauert bei Ihnen zu lange.
({8})
Ich komme jetzt zum Schluss. Wir müssen eine Gesamtstrategie für Frauen vor dem Berufseinstieg, während der Erwerbstätigkeit und während der Familienphase entwickeln. Das Gleiche gilt für Männer, jedoch -
Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen.
Ich komme zum Ende, möchte aber gerne die Männer
ansprechen; denn das Gleiche gilt für Männer, jedoch
unter anderen Vorzeichen.
Sie müssen wirklich zum Ende kommen. Sie haben
Ihre Redezeit um 30 Prozent überschritten.
Ich freue mich auf die Diskussion im Ausschuss.
({0})
Das Wort hat nun Renate Gradistanac, SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Frau Dr. Möllring, am Anfang meiner Rede
möchte ich darauf hinweisen, dass Ihre Rede in großen
Teilen die Ansichten in der Großen Koalition nicht widergespiegelt hat.
({0})
Vor 50 Jahren trat das Gleichberechtigungsgesetz in
Kraft. Ich freue mich, dass wir heute dank der Grünen
das Thema „Gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit“ auf
der Tagesordnung haben. Damals, vor 50 Jahren, galt die
berufliche Arbeitsleistung von Männern als Normalleistung, die von Frauen als Minderleistung. Mit folgenden
Argumenten haben die Arbeitsgerichte und die Arbeitgeber Verdienstunterschiede gerechtfertigt: Frauen seien
psychisch und physisch weniger belastbar als Männer.
({1})
Es entspreche der Psyche der Frau, dass sie die Hausarbeit bevorzuge und darüber ihre beruflichen Pflichten
vernachlässige.
({2})
Es sei die natürliche Bestimmung der Frau, sich der Ehe
und Familie zu widmen.
Heute argumentieren manche wieder genauso platt,
beispielsweise Eva Herman, Bischof Mixa oder Christa
Müller.
({3})
Die Mehrheit der Bevölkerung ist da ganz anderer Meinung.
({4})
- Das ist gut so. - Die Mehrheit der Bevölkerung anerkennt die berufliche Arbeitsleistung von Frauen als
gleichwertig. Eine überwältigende Mehrheit der Bevölkerung - 92 Prozent - ist der Meinung, dass Frauen und
Männer für gleichwertige Arbeit selbstverständlich in
gleicher Höhe bezahlt werden sollten. Sie empfinden die
geringe Bezahlung für Frauen als unzeitgemäß, ungerecht und diskriminierend.
({5})
Der Verdienstabstand zwischen Frauen und Männern
ist über 50 Jahre hinweg kontinuierlich gesunken.
({6})
Dies ist aber nur scheinbar eine gute Nachricht; aktuelle
Daten zeigen einen unhaltbaren Zustand auf - wir haben
das schon mehrmals gehört, aber trotzdem ist es nicht
falsch -: Die Frauen in Europa verdienen im Durchschnitt 15 Prozent weniger als Männer; in Deutschland
- das ist ein Skandal - verdienen sie sogar 22 Prozent
weniger. Während der Gehaltsunterschied EU-weit seit
1995 um 2 Prozentpunkte gesunken ist, ist er bei uns um
1 Prozentpunkt angestiegen.
({7})
Heutiges Fazit: Deutschland ist in der EU auf einem der
letzten Plätze angelangt.
Was heißt das nun konkret? Ein Maschinenbauingenieur - jetzt möchte ich einmal diesen Bereich nennen erhält im Monat 4 329 Euro, eine Maschinenbauingenieurin erhält nur 3 557 Euro. Sie hat also brutto
772 Euro weniger in der Tasche als ihr männlicher Kollege.
({8})
Übrigens gibt es zum Thema Lohndiskriminierung einen
bemerkenswerten Spot der Bayerischen Staatsregierung
mit dem Titel - ich empfehle Ihnen, ihn sich anzusehen „Schluss mit dem Unsinn“. Apropos Schluss mit dem
Unsinn: Um als CSU wirklich glaubwürdig zu sein,
müsste sich ihr frauenpolitischer Sprecher, mein lieber
Kollege Herr Johannes Singhammer, auch hier im Deutschen Bundestag an die Spitze der Antidiskriminierungskampagne stellen,
({9})
mindestens dahin, wo wir Feministinnen seit langem stehen. Beim Stichwort „Feministinnen“ schaue ich Ina
Lenke als Partnerin an.
({10})
Der Leitsatz „Gleicher Lohn für gleiche und gleichwertige Arbeit“ ist seit langem in unserem Rechtssystem
verankert. Mit dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz haben wir dies noch bekräftigt. Benachteiligte können sich an die Antidiskriminierungsstelle des Bundes
wenden. Ich erwarte allerdings, dass sich diese unabhängige Instanz in Zukunft weniger für die Interessen der
Wirtschaft, sondern verstärkt für eine diskriminierungsfreie Entlohnung einsetzen wird.
({11})
Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten unterstützen an dieser Stelle die Forderung im Grünenantrag. Es gilt, zu prüfen, ob das Schweizer Modell ein
sinnvolles Instrument zur Beseitigung der Lohnunterschiede ist und übernommen werden kann. Dies findet
sich übrigens auch im rot-schwarzen Antrag „Chancen
von Frauen auf dem Arbeitsmarkt stärken“ wieder.
({12})
Je größer ein Unternehmen, desto geringer ist der Anteil von Frauen in Führungspositionen. Bei den hundert
größten deutschen Unternehmen gibt es nur eine Frau im
Vorstand. Frauen - das wiederholen wir immer wieder stoßen nach wie vor an die sogenannte gläserne Decke,
die es für Männer nicht gibt. Seit 2001 gibt es die Vereinbarung zwischen der Bundesregierung und den Spitzenverbänden der deutschen Wirtschaft zur Förderung
der Chancengleichheit von Frauen und Männern in der
Privatwirtschaft. Auch die dritte Chancengleichheitsbilanz zeigt, dass freiwillige Maßnahmen nicht zum Ziel
führen, um Frauen in Führungspositionen zu bringen. Es
ist daher höchste Zeit, verbindliche und wirksame Instrumente zu entwickeln.
({13})
Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten stehen für ein Gleichstellungsgesetz in der Privatwirtschaft.
({14})
Norwegen und Spanien sind Vorbilder. Diese beiden Gesetze sehen unter anderem Quoten für die Besetzung von
Führungspositionen in privaten Unternehmen vor.
Bei der Durchsetzung von Entgeltgleichheit kommt
den Tarifpartnern eine entscheidende Rolle zu. Es ist
aber unsere Aufgabe im Parlament, hierfür Rahmenbedingungen zu schaffen. Aus Sicht der Bevölkerung besteht Handlungsbedarf. Die Bevölkerung ist der Meinung, dass Entgeltgleichheit ohne politische
Maßnahmen nicht zu erreichen ist. Frauen wollen fair
bezahlte und sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse. Sie brauchen sie zur Sicherung ihrer
Existenz und zum Aufbau eigenständiger Altersversorgung.
Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten wollen flächendeckende Mindestlöhne.
({15})
Schließlich sind 70 Prozent der Beschäftigten im Niedriglohnsektor Frauen.
Das Steuerrecht in Deutschland, Frau Lenke, muss
umgestaltet werden.
({16})
Ehegattensplitting und Steuerklasse V sind überholte
Modelle, die die Erwerbstätigkeit für verheiratete Frauen
unattraktiv machen.
({17})
Mit den Partnermonaten beim Elterngeld und dem
Rechtsanspruch auf Betreuung für alle Kinder ab eins
verbessern wir die Rahmenbedingungen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Mit den Partnermonaten
beim Elterngeld schaffen wir erfolgreich Anreize für
Männer, berufliche Auszeiten für Familien- und Erziehungsarbeit einzuplanen. Dies ist ein wichtiger Beitrag
zur Überwindung der Rollenklischees. Solange aber traditionelle Rollenbilder die Arbeitsaufteilung in der Familie bestimmen, ist es gerade für Frauen von großer Bedeutung, dass die Kinderbetreuung ausgebaut wird.
Durch die Kinderbetreuung und nicht durch das Betreuungsgeld wird echte Wahlfreiheit geschaffen.
({18})
Die OECD-Studie „Babys und Bosse“ belegt eindrucksvoll, dass dieser Weg der richtige ist. In der
OECD haben nämlich die Länder die höchsten Geburtenraten, in denen ein überdurchschnittlich hoher Anteil
von Frauen erwerbstätig ist.
Die Ursachen für Lohndiskriminierung sind vielfältig.
Frauen sind besser ausgebildet. Frauen verfügen aber
noch immer über geringere Berufs- und Aufstiegschancen und somit über weniger soziale Absicherung als
Männer, und das allen gleichstellungs- und arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen zum Trotz. Das ist ein gesamtgesellschaftlicher Skandal, den wir uns angesichts des
demografischen Wandels nicht leisten können.
({19})
Gleichstellungspolitik ist eine Querschnittsaufgabe;
({20})
die Worte „Gender-Mainstreaming“ und „Gender-Budgeting“ - ich betone diese Worte - werden auch die
Letzten noch lernen. Sie darf der Familienpolitik weder
untergeordnet noch auf die Vereinbarkeit von Familie
und Beruf reduziert werden.
({21})
Es ist schade, dass die Bundeskanzlerin nicht hier ist.
Herr Staatssekretär Kues, ich bitte Sie, ihr Folgendes
auszurichten:
({22})
Wir erwarten, dass die Kanzlerin das Thema Entgeltgleichheit zur Chefsache macht, und zwar im Sinne des
Hamburger Grundsatzprogramms der SPD: „Wer die
menschliche Gesellschaft will, muss die männliche überwinden.“
Vielen Dank.
({23})
Das Wort hat nun Kirsten Tackmann, Fraktion Die
Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Gäste! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Skandalöse 22 Prozent verdienen Frauen in Deutschland weniger als Männer. Damit gehört das reiche Deutschland zu den Schlusslichtern in der EU-27; das wurde schon erwähnt. Dabei ist es
für mehr als 90 Prozent aller Menschen in diesem Land
selbstverständlich, dass Frauen und Männer gleich viel
verdienen sollten. Der Handlungsauftrag an uns ist also
eindeutig. Den Anfang könnten wir - das ist schon gesagt worden - mit der Einführung eines gesetzlichen
Mindestlohns machen. Im Bundestagswahlkampf 2005
war die Linke mit dieser Forderung noch relativ einsam.
Unterdessen gibt es dafür eine parlamentarische Mehrheit. Es fehlen allerdings noch die Konsequenzen.
Zum Zusammenhang zwischen Mindestlöhnen und
der Bekämpfung der Lohndiskriminierung von Frauen
haben wir eine Kleine Anfrage gestellt. Ich zitiere aus
der nichtssagenden Antwort der Bundesregierung:
Der Einkommensabstand zwischen Frauen und
Männern fußt auf vielfältigen, vor allem mittelbaren Ursachen. Lösungsstrategien sollen deshalb gezielt an den Ursachen ansetzen.
Genau diese Lösungsstrategien fehlen.
Stattdessen lässt die Frauenministerin, die eigentlich
eher Familienministerin ist, nur die Einstellungen der
Menschen zur Diskriminierung untersuchen. Nicht, dass
das uninteressant wäre; aber viel dringender brauchen
wir wirksame Handlungsstrategien für die 22 Eurocent,
die am Frauen-Euro fehlen.
Was tut die Bundesregierung zum Beispiel gegen die
systematische Unterbewertung typischer Frauenberufe
und -tätigkeiten? Warum findet sie sich damit ab, dass
Kfz-Mechaniker besser bezahlt werden als Kindergärtnerinnen und Kassiererinnen schlechter als Lagerarbeiter? Ich weiß, dass es schwierig ist, systematische Lohndiskriminierungen bei gleichwertiger Arbeit zu
bekämpfen. Denn sie fußen auf Geschlechterrollen, die
in unserer Gesellschaft offensichtlich nach wie vor tief
verankert sind.
Die US-amerikanischen Sozialpsychologinnen Shepela
und Viviano haben es auf den Punkt gebracht - Zitat -:
Frauen verdienen weniger, weil sie Frauenarbeiten
verrichten, und Frauenarbeiten werden geringer bezahlt, weil sie von Frauen ausgeübt werden.
Angeblich sind Frauenberufe weniger produktiv. Die
Wahrheit ist: Viele Fähigkeiten und Leistungen fehlen
bei der Bewertung ihrer Arbeit und fallen einfach unter
den Tisch.
({0})
Ein Beispiel: Einfühlungsvermögen und Sozialkompetenz werden bei Frauen als natürlich gegeben vorausgesetzt und nicht bezahlt. Bei männlichen Managern dagegen werden sie als wertvolle Zusatzqualifikationen
geschätzt und zusätzlich vergütet. Das ist absurd.
Bei der Ausschussreise nach Kanada haben wir gesehen, dass es durch eine höhere Bewertung von Qualifikation, psychischer Belastung und Verantwortung sehr
wohl möglich ist, die Lohnungerechtigkeit schrittweise
zu überwinden.
Nicht weniger absurd ist die Tatsache, dass Frauen in
Unternehmen ohnehin nur die schlechter bezahlten Jobs
bekommen. Für die Linke steht fest: Daran kann man
nur durch gesetzliche Regelungen etwas ändern. Dazu
gehört für uns - diese Forderung fehlt im Antrag der
Grünen leider - ein Gesetz zur Gleichstellung von Männern und Frauen in der Privatwirtschaft.
({1})
Ein solches Gesetz brauchen wir dringend. Leider sieht
auch diese Bundesregierung keinen Handlungsbedarf.
Ich zitiere aus der 2. Bilanz Chancengleichheit:
Bundesregierung und Wirtschaft sind sich … einig,
dass es … keiner weiteren gesetzlichen Regelungen
zur Gleichbehandlung von Frauen und Männern im
Erwerbsleben bedarf.
Angesichts des Diskriminierungsalltags ist dieser Befund absurd.
Es geht uns nicht um Sonderrechte für Frauen, es geht
uns um ein Gesetz, mit dem Diskriminierung von Frauen
am Arbeitsplatz verhindert wird.
({2})
Eigentlich geht es um mehr: Es geht nicht um die Abwesenheit von Diskriminierung, es geht um wirkliche
Gleichstellung; aber der Weg dorthin ist noch viel länger.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Das Wort hat nun Ingrid Fischbach, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Wer sieben Jahre lang die Möglichkeit hatte, all das,
was er hier großmundig einfordert, umzusetzen, das aber
nicht geschafft hat, sollte ganz still sein, Frau ScheweGerigk! Ich komme gleich noch zu Ihnen.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Frau Gradistanac,
ich bin froh, dass ich sagen kann: Auch Sie haben nicht
für die Koalition gesprochen.
({1})
Wir Frauen in der Union können gleichberechtigt sein,
ohne Feministinnen sein zu müssen.
({2})
- Ob Sie weiter sind, weiß ich nicht. - Wir schaffen die
gleichberechtigte Teilhabe auch anders.
({3})
- Ich habe anscheinend in ein Wespennest gestochen; es
muss also etwas dran sein.
({4})
Ich musste mich über Ihren Antrag schon wundern,
Frau Schewe-Gerigk. Sie fordern Studien, Kampagnen,
alles soll noch einmal erforscht werden.
({5})
All das, was gesagt worden ist - da sind wir uns doch einig -,
({6})
ist lange bekannt.
({7})
Sie wollen weitere Studien. Wo sollen diese Studien gemacht werden? Irgendwann muss es einmal gut sein!
Wir brauchen nicht noch mehr Studien.
({8})
Wir müssen in der Tat Lösungen für das Problem entwickeln. Wir wollen, dass Frauen für gleichwertige Arbeit das Gleiche wie ihre männlichen Kollegen verdienen. Punkt!
({9})
In dieser Hinsicht sind wir vollkommen einer Meinung.
Das schaffen wir aber nicht mit dem Mindestlohn. Sie
beide, Rot und Grün, haben gerade lauthals verkündet,
dass es eigentlich darum geht, dass Frauen in höheren
Positionen, in den Chefetagen viel weniger verdienen.
({10})
40 Jahre Mindestlohn von 7,50 Euro bei 40 Wochenstunden Arbeit,
({11})
wissen Sie, was da rauskommt, Frau Schewe-Gerigk?
20 Euro unter Hartz IV; so viel zum Mindestlohn. Der
Mindestlohn löst das Problem der Entgeltungleichheit
nicht. Er ist absoluter Quatsch; außerdem passt er als Argument nicht.
({12})
Sie tun in Ihrem Antrag so - Frau Gradistanac hat in
die gleiche Kerbe geschlagen -, als hätte die Politik die
Möglichkeit, diese Ungleichheit mit einem Schlag zu beseitigen.
({13})
Wenn das so einfach ist, Frau Schewe-Gerigk, warum
haben Sie die Chance, diese Ungleichheit zu beseitigen,
sieben Jahre lang nicht genutzt?
({14})
Frau Gradistanac, warum haben Sie denn eine freiwillige
Vereinbarung unterzeichnet, warum haben Sie nicht
gleich eine gesetzliche Regelung geschaffen? Ihr Bundeskanzler hätte das doch sicherlich sofort zur Chefsache gemacht, wenn es ihm wichtig gewesen wäre. Man
muss sich immer an die eigene Nase fassen!
({15})
Meine Damen und Herren, sehen Sie doch einmal die
Ursachen dafür, dass wir diese Entgeltungleichheit haben:
({16})
9 Prozent des Unterschieds sind darauf zurückzuführen,
dass Frauen zu viele Erwerbsunterbrechungen haben.
Die Bundesregierung ist mit der Großen Koalition
jetzt auf dem richtigen Wege. Wir sagen nämlich, dass
wir mit dem Elterngeld Frauen und jungen Familien helfen wollen, schneller wieder in den Beruf zu kommen,
um diese Erwerbsunterbrechungen zu verkürzen. Das ist
ein guter Weg, der auch angenommen wird, und das ist
ein erster Schritt, der dazu beitragen wird, diese Ungleichheit zu beseitigen.
({17})
Frau Schewe-Gerigk, dies steht überhaupt nicht in Ihrem Antrag. Es ist so, als sei es für Sie überhaupt kein
Thema, daran zu arbeiten, die Ungleichheit beim Entgelt
zu beseitigen. Ich denke, das ist der Punkt.
Genauso wichtig ist es, dass wir uns damit beschäftigen, den Wiedereinstieg der Frauen zu ermöglichen, sodass sie nach einer Familienphase die Möglichkeit haben, so schnell wie möglich wieder in den Beruf
einzusteigen, wenn sie das wollen.
({18})
- Sie wollen wieder die Hoheit haben, und zwar nicht
nur über die Kinderbetten, sondern jetzt auch über die
Frauen. Es ist doch gut: Lassen Sie die Familien und die
Frauen doch selber entscheiden, wie sie das tun wollen;
wir stellen den Rahmen dafür zur Verfügung.
({19})
Ich bin wirklich froh, dass wir an dieser Stelle unterschiedlicher Auffassung darüber sind, wie das Problem
zu beheben ist.
({20})
Eines ist sicher - davon können Sie ausgehen -: Die
CDU/CSU-Bundestagsfraktion wird alles in ihrer Macht
Stehende dafür tun, diese Ungleichheiten zu bekämpfen,
sie aufzuheben und dafür zu sorgen, dass die Frauen für
die gleiche Arbeit den gleichen Lohn bekommen.
({21})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/8784 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Bevor ich den nächsten Tagesordnungspunkt aufrufe,
möchte ich, wie interfraktionell vereinbart, noch einmal
zurück zu Tagesordnungspunkt 4 a sowie zu den
Zusatzpunkten 1 und 2 kommen, soweit sie heute Morgen noch nicht erledigt wurden. - Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich um die Überweisungen
von drei Vorlagen. Interfraktionell wird Überweisung dieser Vorlagen auf den Drucksachen 16/7600, 16/9593 und
16/9602 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe nun eine
ganze Reihe von Tagesordnungspunkten auf, bei denen
in unserem gemeinsamen Interesse die Reden zu Protokoll gegeben worden sind. Sie müssen mir jetzt also aufmerksam zuhören.
({0})
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13 a und 13 b auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Fünften Vermögensbildungsgesetzes
- Drucksache 16/9560 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({1})
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Priska
Hinz ({2}), Dr. Gerhard Schick, Kai
Gehring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Bildungssparen als ein Baustein zur Förderung lebenslangen Lernens
- Drucksache 16/9349 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({3})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Die Reden von folgenden Kolleginnen und Kollegen
sind, wie interfraktionell vorgeschlagen, zu Protokoll ge-
geben worden: Alexander Dobrindt, Ute Berg, Dr. Ernst
Dieter Rossmann, Patrick Meinhardt, Ulrike Flach,
Volker Schneider, Priska Hinz und Andreas Storm.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/9560 und 16/9349 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht
der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst
Friedrich ({4}), Patrick Döring, Joachim
Günther ({5}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Keine Erhöhung der Lkw-Maut ohne vorherige Harmonisierung der Wettbewerbsbedingungen
- Drucksache 16/9344 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({6})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Interfraktionell ist vorgeschlagen, dass die Reden der
Kollegen Wilhelm Josef Sebastian, Jörg Vogelsänger,
Jan Mücke, Lutz Heilmann und Winfried Hermann zu
Protokoll gegeben werden.2)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/9344 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 15 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Ergänzung der Bekämpfung der Geldwäsche und der Terrorismusfinanzierung
({7})
- Drucksachen 16/9038, 16/9080 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({8})
- Drucksache 16/9631 Berichterstattung:
Abgeordnete Helmut Brandt
Frank Hofmann ({9})
Ulla Jelpke
1) Anlage 2
2) Anlage 3
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
der FDP vor.
Interfraktionell ist vereinbart worden, die Reden zu
Protokoll zugeben. Es handelt sich um die Reden folgen-
der Kollegin und folgender Kollegen: Helmut Brandt,
Frank Hofmann, Frank Schäffler, Ulla Jelpke und
Wolfgang Wieland.1)
Wir kommen damit zur Abstimmung. Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/9631, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 16/9038 und 16/9080 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit
in zweiter Beratung mit den Stimmen von CDU/CSU
und SPD gegen die Stimmen der Linkspartei bei Stimmenthaltung von FDP und Grünen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der FDP und der Linken bei Stimmenthaltung der Grünen angenommen.
Abstimmung über den Entschließungsantrag der
Fraktion der FDP auf Drucksache 16/9647. Wer stimmt
für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit
den Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der FDP bei Stimmenthaltung von Linkspartei und
Grünen abgelehnt.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wolfgang Gehrcke, Monika Knoche, HüseyinKenan Aydin, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE
Den Prozess von Annapolis durch eigenständige Initiativen unterstützen
- Drucksache 16/9483 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({10})
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden der
Kollegen Holger Haibach, Niels Annen, Harald
Leibrecht, Wolfgang Gehrcke und Kerstin Müller zu
Protokoll zu geben.2)
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/9483 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
1) Anlage 4
2) Anlage 5
verstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 17 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe ({11})
- zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU
und der SPD
Das Recht auf Meinungs- und Pressefreiheit
weltweit durchsetzen und der Internetzensur entgegentreten
- zu dem Antrag der Abgeordneten Volker Beck
({12}), Marieluise Beck ({13}), Grietje
Bettin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Pressefreiheit als Fundament für die Demokratie
- Drucksachen 16/8871, 16/3613, 16/9587 Berichterstattung:
Abgeordnete Holger Haibach
Christoph Strässer
Michael Leutert
Volker Beck ({14})
Interfraktionell ist vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. -
Sie sind damit einverstanden. Die Kollegen Holger
Haibach, Herta Däubler-Gmelin, Florian Toncar,
Michael Leutert und Volker Beck haben ihre Reden zu
Protokoll gegeben.3)
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe auf
Drucksache 16/9587. Der Ausschuss empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Annahme
des Antrags der Fraktionen von CDU/CSU und SPD auf
Drucksache 16/8871. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? -
Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von
CDU/CSU, SPD und FDP bei Enthaltung der Linkspar-
tei und der Grünen angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen auf Drucksache 16/3613. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? -
Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen
von Linkspartei und Grünen bei Stimmenthaltung der
FDP angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole
Maisch, Peter Hettlich, Rainder Steenblock, wei-
3) Anlage 6
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
terer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Erarbeitung einer nationalen Strategie für den
Erhalt der Gewässerbiodiversität und zur
Flankierung der Umsetzung der EG-Wasserrahmenrichtlinie in den Bundesländern
- Drucksache 16/9359 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({15})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Interfraktionell ist vorgeschlagen, die Reden der Kol-
legen Ulrich Petzold, Petra Bierwirth, Horst Meierhofer,
Eva Bulling-Schröter und Nicole Maisch zu Protokoll zu
geben.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/9359 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 19 a und 19 b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({16})
zu dem Antrag der Abgeordneten Jürgen Klimke,
Dr. Christian Ruck, Maria Eichhorn, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie
der Abgeordneten Dr. Sascha Raabe, Gregor
Amann, Sabine Bätzing, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD
Nationale und internationale Maßnahmen für
einen verbesserten Kampf gegen Drogenhan-
del und -anbau in Entwicklungsländern
- Drucksachen 16/8776, 16/9539 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Jürgen Klimke
Dr. Sascha Raabe
Hellmut Königshaus
Hüseyin-Kenan Aydin
Ute Koczy
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({17}) zu dem Antrag der Abgeordneten Monika
Knoche, Hüseyin-Kenan Aydin, Dr. Diether
Dehm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Afghanistan eine Chance für legalen lizenzier-
ten Mohnanbau geben - Drogenmafia wirk-
sam bekämpfen
- Drucksachen 16/7525, 16/9153 -
1) Anlage 7
Berichterstattung:
Abgeordnete Bernd Schmidbauer
Detlef Dzembritzki
Dr. Werner Hoyer
Wolfgang Gehrcke
Kerstin Müller ({18})
Interfraktionell ist vorgeschlagen, die Reden zu Pro-
tokoll zu geben, und zwar von folgenden Kollegen:
Jürgen Klimke, Sabine Bätzing, Sascha Raabe, Hellmut
Königshaus, Monika Knoche und Ute Koczy.2)
Wir kommen zur Abstimmung. Tagesordnungspunkt 19 a. Der Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9539, den Antrag
der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache
16/8776 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von
CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der Grünen bei
Enthaltung von FDP und Linkspartei angenommen.
Tagesordnungspunkt 19 b: Der Auswärtige Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9153, den Antrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 16/7525 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 20 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Paul K.
Friedhoff, Dr. Karl Addicks, Rainer Brüderle,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Sozialverträgliche Beendigung des subventionierten Steinkohlebergbaus beschleunigen
- Drucksache 16/8772 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({19})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen, und zwar von den Kollegen Joachim Pfeiffer, Rolf Hempelmann, Paul
Friedhoff, Ulla Lötzer und Kerstin Andreae.
Das starke, durch den Steinkohleabbau verursachte
Erdbeben am 23. Februar 2008 im Saarland hat uns alle
betroffen gemacht. Die CDU-Landesregierung des Saar-
landes hat unmittelbar reagiert und mit der Verfügung
des unbefristeten Abbaustopps verdeutlicht, dass die
Sicherheit der Bürger an erster Stelle steht. Auch die Bun-
desregierung reagierte auf die Vorkommnisse: Ursprüng-
lich war für das Bergwerk im Saarland ein Ausstieg im
Jahre 2014 vorgesehen. Dieser wird jetzt im Einverneh-
men mit dem betroffenen Unternehmen, der RAG Deut-
sche Steinkohle AG, RAG, auf 2012 vorverlegt.
Nun zu Ihrem Antrag: Ein beschleunigter Ausstieg aus
dem Steinkohlebergbau, wie Sie ihn fordern, schießt über
2) Anlage 8
das Ziel hinaus und ist kontraproduktiv. Die Koalition hat
erst am 20. Dezember 2007 das Gesetz zur Steinkohlefinanzierung beschlossen und damit eine Grundlage für
den Ausstieg aus der staatlichen Dauersubventionierung
gelegt. Mir ist es wichtig, hervorzuheben, dass wir die
Entscheidung über die Zukunft der deutschen Steinkohle
in einem breiten Konsens mit allen Beteiligten - einschließlich der Gewerkschaft - getroffen haben. Die subventionierte Förderung der Steinkohle in Deutschland
wird bis spätestens 2018 sozialverträglich beendet. Ziel
des Gesetzes ist es, einen sozialverträglichen Ausstieg
aus der Steinkohlefinanzierung ohne betriebsbedingte
Kündigungen zu erreichen. Es ist ein Fahrplan zur Beendigung der staatlichen Dauersubventionen für den Steinkohlebergbau, der einen vollständigen Ausstieg bis spätestens 2018 vorsieht. Gleichzeitig schaffen wir damit
eine Lösung, die die Ewigkeitslasten wie Bergbauschäden, Wasserhaltung etc. dauerhaft und abschließend in
Form eines Stiftungsmodells regelt. Das Steinkohlefinanzierungsgesetz ist daher in der Tat ordnungspolitisch eine
wichtige Grundsatzentscheidung. Damit wird der größte
Subventionsabbau in der Geschichte der Bundesrepublik
auf den Weg gebracht. Gleichzeitig ist es uns gelungen,
einen sozialverträglichen Rahmen zu vereinbaren. Die
Große Koalition hat mit diesem historischen Beschluss
einmal mehr ihre Handlungsfähigkeit bewiesen. Die betroffenen Bergbauregionen starten jetzt in einen zukunftsgerichteten Strukturwandel. Die nötigen Mittel sind freigegeben. Die Große Koalition hat ihre Hausaufgaben
gemacht und den notwendigen staatlichen Rahmen gesetzt, in dem die Unternehmen frei agieren können. Es ist
ihnen unbenommen, den Steinkohleabbau auch früher zu
beenden. Es ist weise und eine demokratische Selbstverständlichkeit, dass der Deutsche Bundestag zum festgeschriebenen Zeitpunkt 2012 überprüft, ob die heutigen
energiewirtschaftlichen Rahmenbedingungen weiterhin
Bestand haben. In den letzten 50 Jahren hat die Subventionspolitik im Steinkohlebereich den Steuerzahler rund
125 Mil-liarden Euro gekostet. Statt weiter Jahr für Jahr
mehr als 2 Milliarden Euro in Erhaltungssubventionen zu
stecken, setzen wir ein strategisches Signal für die Zukunft. Dies ist eine Entscheidung für den Standort
Deutschland. Sie zeigt, dass wir in der Lage sind, moderne und zukunftsgerichtete Strukturen in unserem Land
zu schaffen. Für die Union ist von Bedeutung, dass Planungssicherheit bei den Unternehmen geschaffen wurde.
Sie können sich jetzt auf die veränderten Bedingungen
einstellen und selbst über den Zeitpunkt der Beendigung
des Steinkohleabbaus entscheiden. So ist endlich der Weg
für die Umstrukturierung des ehemaligen RAG-Konzerns
frei geworden. Den Sparten des weißen Bereichs, also alles außer Kohle, wurde in seinem neuen Outfit als Evonik
die nötige Perspektive für die weitere Entwicklung gegeben. Der Börsengang ist dabei ein wichtiger Schritt. Damit erhält der Konzern Zugang zum Kapitalmarkt.
Gleichzeitig werden über die Stiftung die Mittel für die Finanzierung der Ewigkeitslasten des Bergbaus wie Dauerbergschäden und Wasserhaltung aufgebracht und durch
die Revierländer abgesichert. Die deutsche Bergbaumaschinenindustrie und deren Zulieferer sind nicht mehr auf
den deutschen Kohlebergbau angewiesen. Die Bergbaumaschinenindustrie hat ihre Referenzen heute überwiegend im Ausland und braucht keinen heimischen Bergbau, um ihre Zukunft abzusichern. Auch die Bergleute
gehen mit sicherer Planung in die Zukunft. Sie wissen,
dass es keine betriebsbedingten Kündigungen geben wird
und sie nicht um ihren Job fürchten müssen.
Zusammenfassend halte ich fest: Mir ist es wichtig,
dass wir einen Konsens mit allen Beteiligten - Beschäftigten, Unternehmen und der Politik - erreicht und auch
ein klares Ziel festgelegt haben. Deutschland steigt aus
einem subventionierten Steinkohlebergbau aus. Gleichzeitig haben die Vorkommnisse im Saarland vom
23. Februar 2008, durch die Vorverlegung des Ausstiegsdatums auf 2012, gezeigt, dass das von der Koalition beschlossene Paket auf solche Ereignisse flexibel reagieren
kann, ohne das Ziel der Sozialverträglichkeit aus den Augen zu verlieren und die Planungssicherheit zu gefährden. Ein beschleunigter Ausstieg aus der Steinkohlefinanzierung, wie ihn der Antrag der FDP-Fraktion fordert, ist
daher nicht notwendig und würde zusätzlich zu Verunsicherung bei den Unternehmen und den Bergleuten führen. Aus diesem Grund lehnt die CDU/CSU-Bundestagsfraktion den Antrag der FDP ab.
Mit dem uns heute vorliegenden Antrag für eine beschleunigte Beendigung des subventionierten deutschen
Steinkohlenbergbaus unternimmt die FDP-Fraktion ein
leicht durchschaubares Manöver. Sie versucht, ein im
vergangenen Jahr nach schwierigen Verhandlungen erfolgreich geklärtes Streitthema wiederzubeleben und in
ihrem Sinne parteitaktisch zu instrumentalisieren.
Schon aus diesem Grund macht es Sinn, sich das Ergebnis der kohlepolitischen Verständigung vom Frühjahr
2007 noch einmal ins Gedächtnis zu rufen. Damals ist
zwischen dem Bund, den Kohleländern NRW und Saarland, der IG BCE und der RAG AG vereinbart worden,
den subventionierten deutschen Steinkohlenbergbau bis
zum Jahr 2018 sozialverträglich, das heißt ohne betriebsbedingte Kündigungen, auslaufen zu lassen. Diesem Datum 2018 haben alle Beteiligten, also auch die NRW-Landesregierung, der die FDP ja bekanntlich angehört,
ausdrücklich zugestimmt.
Heute, also gerade einmal eineinhalb Jahre später, das
gemeinsam vereinbarte und in der Zwischenzeit mit dem
Steinkohlefinanzierungsgesetz in Rechtsform gegossene
Kompromissmodell infrage zu stellen, ist gewiss kein
Ausweis besonderer politischer Verlässlichkeit. Auch
deshalb werden wir der FDP derartige taktische Spielereien nicht durchgehen lassen. Ein vorgezogenes Ende
des deutschen Steinkohlebergbaus, das die gesamte Architektonik des seinerzeitigen Kompromisses durcheinander brächte, ist mit uns nicht zu haben! Ich will vielmehr
an den zweiten wesentlichen Einigungspunkt der kohlepolitischen Verständigung erinnern. Bestandteil der Vereinbarung war ja nicht etwa ein unkonditioniertes Ende
des subventionierten deutschen Steinkohlenbergbaus frühestens im Jahr 2018, sondern auch eine allgemeine Revisionsklausel. Diese besagt, dass die Entscheidung über
ein mögliches Auslaufen des Bergbaus sechs Jahre vor
dem festgelegten Auslaufdatum - also 2012 - im Lichte
Zu Protokoll gegebene Reden
der dann aktuellen energiewirtschaftlichen Erkenntnisse
und unter Berücksichtigung des energiepolitischen Ziels
der Versorgungssicherheit noch einmal überprüft wird.
Auch wenn einige Debattenteilnehmer und zuletzt
auch noch einmal der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Jürgen Rüttgers meinen, diese Revisionsklausel
sei keine reale Option, sage ich an dieser Stelle ganz deutlich: Die an den Verhandlungen beteiligte SPD-Seite hat
diese Klausel - übrigens genauso wie die IG BCE und vor
allem die direkt betroffenen Bergleute und ihre Familien - sehr ernst gemeint. Und sie sieht sich durch die
Entwicklung der vergangenen zwölf Monate in ihrer Einschätzung durchaus bestätigt.
Die weltweit steigenden Preise für fossile Energieträger, die die Menschen gegenwärtig vor allem an den
Tankstellen in ihrem Geldbeutel zu spüren bekommen,
machen auch vor der Steinkohle nicht halt. Mehr als deutlich wird dies im Blick auf die aktuelle Entwicklung der
Preise für Kokskohle. Hier haben sich die Preise innerhalb eines guten Jahres nahezu verdreifacht - auf ein Niveau von aktuell beinahe 300 US-Dollar pro Tonne.
Eine solch rasante Entwicklung der Weltmarktpreise
hätten noch vor einiger Zeit sicherlich nur die wenigsten
- insbesondere bei den selbsternannten Experten von der
FDP - für möglich gehalten. Sie ist aber Realität, und sie
belegt, dass es energiepolitisch sinnvoll gewesen ist, für
den Fall einer zunehmenden Wettbewerbsfähigkeit der
heimischen Steinkohleförderung eine echte Revisionsklausel für das Jahr 2012 zu verankern und auch an dieser festzuhalten.
Vor diesem Hintergrund begrüße ich ausdrücklich die
in der vergangenen Woche vom Aufsichtsrat der RAG beschlossene Bergbauplanung bis zum Jahr 2012. Der Beschluss sieht über die bereits feststehenden Schließungen
der Bergwerke Walsum ({0}) und Lippe
({1}) die Schließung des Bergwerks Saar
({2}) vor. Für das Bergwerk Ost in Hamm, das
die Förderung ursprünglich bereits Ende 2009 einstellen
sollte, ist eine Verlängerung der Laufzeit bis zum
30. September 2010 vereinbart worden.
Diese Entscheidung des Aufsichtsrats, mit der die Weichen für eine Förderung von noch 12 Millionen Tonnen
deutscher Steinkohle im Jahr 2012 und eine Halbierung
der Beschäftigtenzahl auf 15 000 Mitarbeiter gestellt
werden, entspricht dem mit dem Steinkohlefinanzierungsgesetz festgelegten Finanzrahmen und folgt auch im
übrigen den grundlegenden Leitgedanken des Gesetzes.
Sie garantiert zum einen auch weiterhin die Sozialverträglichkeit des Auslaufprozesses und vermeidet
gleichzeitig, dass das Tor in Richtung eines eventuellen
Sockelbergbaus in Deutschland ohne Not zugeschlagen
wird. Dieser vernünftigen Politik sollte sich auch die
FDP nicht verschließen und in Zukunft auf Anträge wie
den vorliegenden verzichten.
Gestatten Sie mir zunächst eine grundsätzliche Vorbemerkung über die Position der FDP-Bundestagsfraktion
zur Diskussion um die deutsche Steinkohle: Die FDP hat
nichts gegen den Abbau von Steinkohle in Deutschland solange dieser ohne Subventionen auskommt und keine
Gefahren für Menschen und Umwelt schafft. Außerdem
müssen die aus der so abgebauten Steinkohle gewonnenen Erträge ausreichen, um für die dauerhaft entstehenden Schäden aufzukommen. Diese Voraussetzungen sind
in Deutschland seit mehr als drei Jahrzehnten nicht mehr
erfüllt. Deshalb setzt sich die FDP als einzige politische
Partei schon seit den 80er-Jahren für eine konsequente
Beendigung der Steinkohlesubventionen ein. Wie nötig
dieser Einsatz ist, zeigt sich daran, dass der deutsche
Steuerzahler insgesamt bereits über 130 Milliarden Euro
für die unrentable Steinkohleförderung in Deutschland
ausgeben musste und für die Beendigung weitere 39 Milliarden Euro benötigt werden.
Wir wissen, dass sich weniger als 1 Prozent der Weltkohlevorräte in Deutschland befinden, die in großer Tiefe
und in wenig mächtigen Flözen liegen. Diese Vorräte sind
für unsere Versorgungssicherheit wenig relevant; denn
auf dem Weltmarkt können wir uns für deutlich niedrigere
Kosten mit Kohle versorgen. Das tun wir bereits kräftig;
über zwei Drittel des deutschen Kohleverbrauchs decken
wir heute aus günstigen Importen.
Nun muss der Fahrplan für den beschlossenen Abbau
der Steinkohlesubventionen durch die starken Erdbeben
an der Saar verändert werden. Durch Beschluss des Saarländischen Landtags ist die Kohleförderung in der Primsmulde frühzeitig zu beenden. Da der Zeitplan für den Abbau der Subventionen modifiziert werden muss, fordern
wir erneut, den Auslauf der Subventionen zu beschleunigen - mit dem Ziel, Teile der frei werdenden Mittel für
Maßnahmen zum beschleunigten Strukturwandel in den
betroffenen Regionen und damit zur Schaffung neuer Arbeitsplätze einzusetzen. Zurzeit träumen insbesondere die
Sozialdemokraten in Nordrhein-Westfalen von einer Renaissance des Steinkohlebergbaus in Deutschland. Wenn
sich herausstellen sollte, dass die in der Presse behaupteten Kosten für den Abbau und die Erlöse von Kokskohle
- zum Beispiel im Bergwerk Ost - richtig sind, dann ließe
sich dort gegenwärtig Kokskohle ohne Subventionen abbauen. Hier gilt das zu Beginn genannte: Wir sind gegen
Subventionen, nicht gegen einen unsubventionierten
Steinkohlebergbau. Dies gilt auch für das vielfach genannte, unsubventionierte neue Bergwerk Donar, für das
bisher aber noch keine konkreten Investoren bekannt
sind.
Da man Geld nur einmal ausgeben kann, sollten wir
das Geld so schnell wie möglich nicht für Kohlesubventionen ausgeben, sondern zum Beispiel für Bildung und
bessere Strukturen für mehr Arbeitsplätze nutzen.
Die FDP nimmt die Probleme im Saarland zum Anlass, ihre alte Leier für einen raschen Ausstieg aus der
heimischen Steinkohleförderung abzuspielen. Doch
schon die Überschrift des FDP-Antrags ist ein Widerspruch in sich. Denn ein vorzeitiger Ausstieg aus der heimischen Steinkohleförderung ist eben nicht sozialverträglich zu machen. Der Steinkohlebergbau hat für
Nordrhein-Westfalen wie auch für das Saarland noch imZu Protokoll gegebene Reden
mer eine wichtige wirtschaftliche Bedeutung. Die acht
deutschen Zechen und eine Kokerei der Ruhrkohle AG
beschäftigen allein noch rund 34 000 Menschen, insgesamt hängen vom Steinkohlenbergbau circa 100 000
Arbeitsplätze ab. Den Ausstieg zu beschleunigen, würde
bedeuten, viele Menschen im Ruhrgebiet in die Arbeitslosigkeit zu schicken; und das vor dem Hintergrund, dass
der Verkauf von 25,01 Prozent an den britischen PrivateEquity-Fonds CVC zum Verlust von Arbeitsplätzen im sogenannten „weißen“ Bereich führen wird. CVC hat für
den Kauf der Anteile Kredite in Höhe von 1,2 Milliarden
Euro aufgenommen. Also braucht CVC hohe Dividenden,
um die Zinsen und Tilgung des Kredites zu bedienen.
Diese hohen Dividenden hat Herr Bonse-Geuking CVC
fest zugesagt: 2008 sollen rund 280 Millionen Euro an
CVC ausgeschüttet werden, 2009 bereits 320 Millionen
Euro und 2010 dann 400 Millionen Euro. Wer wird wohl
wieder einmal für diese Dividenden bluten müssen? Natürlich an erster Stelle die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
Der ganze „Steinkohlekompromiss“, wie er vor einem
Jahr ausgehandelt wurde, die Konstruktion mit der privatrechtlichen RAG-Stiftung und der Veräußerung von
Evonik ist nichts anderes als ein riesiges Arbeitsplatzvernichtungsprogramm. Die Klausel, wonach der Ausstieg
aus der Steinkohleförderung 2012 noch einmal überprüft
werden soll, ist das Papier nicht wert, auf dem sie geschrieben ist. Jeder weiß, dass sie lediglich dazu gedient
hat, dass die SPD ihr Gesicht wahren sollte. Die verbindlichen Stilllegungspläne bis 2018 sind doch schon an die
EU-Kommission gemeldet worden.
Bundes- und Landesregierungen haben die Chance
vertan, im Rahmen einer öffentlich-rechtlichen Stiftung
Einfluss auf eine positive Entwicklung im Ruhrgebiet zu
nehmen. Sie haben sich aus der sozialen und ökologischen Verantwortung gestohlen. Sie haben die Chance
vertan, mit der STEAG eine zukunftsweisende Energiepolitik zu betreiben. Bundes- und Landesregierung müssen
in Absprache mit der Gewerkschaft ein Konzept entwickeln, das Qualifizierungsmaßnahmen für die Bergleute
vorsieht. Noch wichtiger aber ist ein Konzept für alternative Arbeitsplätze im Ruhrgebiet, auch für den „weißen“
Bereich.
Die Bergbautechnologie führt zu Innovationen im Anlagenbau. Das Wissen im industriellen Anlagenbau kann
in neuen Technologiebereichen, wie der Entwicklung und
dem Bau von Systemen und Komponenten für die Offshore-Windenergie, genutzt werden. Dazu braucht es jedoch einer gezielten Ansiedlungsstrategie. Wir treten
nach wie vor dafür ein, eine Grundfördermenge an Steinkohle zu erhalten. Nur so kann die damit verbundene
Kompetenz erhalten werden. An dieser Kompetenz hängen noch einmal Tausende von Arbeitsplätzen im Ruhrgebiet. Mittelfristig kann die Kohle ein wichtiger Ersatzrohstoff für das zur Neige gehende Erdöl als Grundstoff der
petrochemischen Industrie werden. Je nach der Entwicklung auf den Rohstoffmärkten werden wir eines Tages
vielleicht noch heilfroh sein, wenn wir heute die heimischen technologischen Kompetenzen im Bergbau nicht
völlig vernichten. Eine Beschleunigung der Beendigung
des Steinkohlenbergbaus wäre jedenfalls schädlich.
Der Steinkohlebergbau scheint zum Dauerthema deutscher Politik zu werden. Leider verbinden wir aber damit
in erster Linie eine misslungene Subventionspolitik der
Bundesregierung. Wir haben bereits in der Plenumsdebatte am 8. November 2007 deutlich gemacht, dass die
deutsche Steinkohle keine Perspektive hat, auch wenn wir
aktuell der Presse entnehmen müssen, dass es leider immer noch ein paar Ewiggestrige gibt, die weiterhin das
Hohelied auf die Steinkohle singen. So nehmen wir zum
Beispiel überraschend zur Kenntnis, dass ein ehemaliger
Funktionär der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie
und Energie aus Nordrhein-Westfalen den Ausstieg aus
dem Ausstieg propagiert, obwohl das Erdbeben in der Region erst wenige Wochen her ist. Und die dortige Landesregierung, wie auch unsere Bundesregierung schweigt
dazu. Ich frage die Kolleginnen und Kollegen von Union
und SPD: Stehen Sie zu Ihrem Gesetz und damit auch zum
endgültigen Kohleausstieg 2018 oder nicht? Ich wünsche
mir hier eine klare Aussage, damit dieser Irrsinn ein Ende
hat.
Dabei sprechen die Fakten für sich: Die Nachfrage
nach Steinkohle sank in Deutschland von etwa 106 Millionen Tonnen im Jahr 1973 auf unter 68 Millionen Tonnen im Jahr 2004. Noch stärker verringerte sich die Förderung der Kohle. Sie fiel zwischen 1978 und 2004 in den
europäischen OECD-Ländern um etwa 60 Prozent, von
483 auf 187 Millionen Tonnen. Die deutsche Steinkohle
deckt heute gerade noch 4 Prozent des gesamten heimischen Primärenergieverbrauchs und ist schon seit Jahrzehnten nicht mehr wettbewerbsfähig. Die wesentliche
Ursache hierfür liegt in den Förderkosten. So ist der
Preis für eine Tonne deutsche Steinkohle dreimal höher
als der Weltmarktpreis für Kraftwerkskohle. Es ist illusorisch, zu glauben, dass sich dieser Wettbewerbsnachteil
in der Zukunft aufheben wird. Die geologischen Nachteile
in Deutschland bleiben ein dauerhaftes Problem. Wie
man angesichts dieser Zahlen von einem Revival heimischer Kohle oder gar einem Rohstoffschatz reden kann,
ist mir ein Rätsel.
Mit jedem weiteren Jahr der Kohleförderung rücken
zunehmend die durch den Bergbau verursachten Umweltund Gebäudeschäden in den Blickpunkt. Durch den heimischen Steinkohleabbau entstehen bedeutende Mengen
an Klimagasen wie Kohlendioxid und Methan. Allein die
Menge an CO2-Emissionen, die durch den Energieverbrauch des deutschen Steinkohlenbergbaus verursacht
werden, belief sich 2002 auf 2,7 Millionen Tonnen. Es ist
das erklärte Ziel der Betreiber im Rahmen der freiwilligen Selbstverpflichtung der deutschen Industrie zur Klimaschutzvorsorge, den jährlichen CO2-Ausstoß bis 2012
auf 2,3 Millionen Tonnen zu verringern. Das Rheinwestfälische Institut Essen hat in seiner Stellungnahme vom
Oktober 2007 bereits festgestellt, dass durch den Verzicht
auf einen heimischen Abbau jährlich beinnahe ein Viertel
dieser Emissionsreduktionen erbracht werden könnte.
Das müsste doch eigentlich ganz im Sinne unserer Klimaschutzregierung sein.
Der Steinkohlebergbau im Saarland ist nicht mehr zu
verantworten. Die Gefahr, dass bei einem Weiterbetrieb
Menschen und Häuser zu schaden kommen, verbietet,
Zu Protokoll gegebene Reden
dass weiter Steinkohle abgebaut wird. Die milliardenschwere Subventionierung dieser Branche stellt eine Verschwendung von Steuergeldern dar. Diese können und
müssen für den Strukturwandel im Saarland eingesetzt
werden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass ein sozialverträglicher Ausstieg aus der deutschen Steinkohleförderung deutlich früher als bislang geplant möglich ist und
somit diese öffentlichen Gelder in Zukunftstechnologien
und Bildungsinvestitionen gelenkt werden können. Die
Förderung jeder weiteren Tonne heimischer Steinkohle ist
ökonomisch wie ökologisch schädlich. Wir unterstützen
daher den Antrag der FDP. Er deckt sich im Wesentlichen
mit unserem eigenen Antrag, Drucksache 16/9099, über
den wir in Kürze ebenfalls noch abzustimmen haben.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/8772 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 21auf:
Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Masseur- und Physiotherapeutengesetzes und anderer Gesetze zur Regelung
von Gesundheitsfachberufen
- Drucksache 16/1031 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit ({0})
- Drucksache 16/9577 Berichterstattung:
Abgeordnete Maria Michalk
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen, und zwar von den Kollegen Maria Michalk, Margrit Spielmann, Konrad
Schily, Frank Spieth, Elisabeth Scharfenberg und Rolf
Schwanitz.
Mit dem heutigen Beschluss setzen wir erneut ein Zeichen für den verbesserten Ausbildungs- und Berufseinstieg junger Menschen. In allen Gesundheitseinrichtungen werden gute Fachkräfte gebraucht. Das setzt eine
fundierte theoretische und praktische Ausbildung voraus,
aber auch die persönliche Eignung für den jeweiligen Beruf. Überall in unserer Arbeitswelt sind Kompetenzen im
menschlichen Miteinander gefragt, unbestritten in den
sozialen Berufen ganz besonders. Deshalb kommt der
Auswahl der Bewerberinnen und Bewerber eine hohe Bedeutung zu. In den zurückliegenden Jahren spielte dabei
das Alter der jungen Menschen noch eine dominante
Rolle.
Ich möchte daran erinnern, dass wir als Bundesgesetzgeber bereits 2003 mit der Novellierung des Krankenpflegegesetzes bewusst auf die Festlegung einer Altersanforderung als Zugangsvoraussetzung zur Ausbildung als
Krankenpfleger verzichtet haben. Die Vollendung des
17. Lebensjahres war damals die Vorgabe. Der Möglichkeit, die Ausbildung unmittelbar nach Beendigung der
Schule zu beginnen, wurde also der Vorzug vor einer starren Altersgrenze gegeben. Wartezeiten wurden vermieden, und Bewerber sind auch nicht mehr „verlustig gegangen“, da sie sofort nach Beendigung der Schule in die
Berufsausbildung einsteigen konnten, wie das in anderen
Berufen der Fall ist. Vor allem die Krankenhäuser haben
sich sehr gut darauf eingestellt, geeignete Bewerberinnen
und Bewerber zu rekrutieren, die dann durch „altersgerechte“ Einsatzplanung, im Rahmen der praktischen Ausbildung, nach und nach an das vorgegebene Ausbildungsziel herangeführt werden.
Die Praxis hat gezeigt: Die Abschaffung der Altersvorgabe als Zugangsvoraussetzung zur Ausbildung in den
Berufen der Krankenpflege hat sich bewährt. Deshalb
haben wir die Initiative des Bundesrates aufgegriffen und
das heute zur Abstimmung stehende Gesetz beraten. Es
hat die Streichung der Altersvorgabe im Hebammengesetz, im Logopädengesetz, im Masseur- und Physiotherapeutengesetz zum Inhalt. Obwohl es sich hier vor allem
um eine verschulte Ausbildung handelt, hat die Anhörung
ganz deutlich gezeigt, dass auch die Schulen für die vorgenannten Gesundheitsfachberufe über die notwendigen
Instrumente verfügen, um geeignete Bewerberinnen und
Bewerber für die jeweilige Ausbildung auszuwählen;
denn wie wir wissen, ergeben sich die individuellen Voraussetzungen für die Durchführung einer Ausbildung
nicht zwingend aus dem Lebensalter.
Dem Berufsbildungsbericht 2008 ist zu entnehmen,
das sich im Schuljahr 2006/07 121 391 Schülerinnen und
Schüler an 1 848 Schulen des Gesundheitswesens befinden. Neben den Schulen für das Gesundheitswesen werden Ausbildungen in den Gesundheitsfachberufen aufgrund des unterschiedlich strukturierten föderalen
Schulsystems auch an Berufsfachschulen und Fachschulen durchgeführt. Nach einem kontinuierlichen Anstieg in
den vergangenen 5 Jahren bei der Zahl der Schülerinnen
und Schüler der Ausbildungen in der Logopädie, Physiotherapie, Ergotherapie sowie der Rettungsassistenz ist in
diesem Jahr erstmals eine Stagnation eingetreten. Auch
das ist für uns Anlass, eine lückenlose Ausbildung zu ermöglichen, um interessierte Jugendliche für Gesundheitsberufe nicht zu verlieren. Allein die demografischen
Herausforderungen gebieten, Vorsorge für die Zukunft in
den Gesundheitsberufen zu treffen.
In der Anhörung, die wir zu diesem Gesetz durchgeführt haben, wurde klar herausgestellt, dass die Ausbildungseinrichtungen kein Problem mit der Herabsetzung
des Zugangsalters haben, auch aus arbeitsschutzrechtlicher Sicht nicht. Allerdings wurde auch einvernehmlich
festgestellt, dass es immer von großem Wert ist, wenn die
jungen Leute im Rahmen der vorgeschriebenen schulischen Praktika oder auch freiwillig in den Ferien Erfahrungen in den Gesundheitseinrichtungen sammeln. Sie
müssen aus der praktischen Arbeit kennen, auf was sie
sich einlassen, wenn sie einen der genannten Gesundheitsberufe erlernen. Hier ist im wahrsten Sinne des Wortes die „Liebe zum Beruf“ gefragt. Bereits in der letzten
Legislaturperiode wurde ein Vorstoß unternommen, hier
zur Aufhebung der Altersgrenze zu kommen. Dieser Ge17948
setzentwurf war der Diskontinuität anheimgefallen. Deshalb ist es erfreulich, dass wir nunmehr heute diese Regelung verabschieden können - und das im Wissen, dass
alle Sachverständigen, die wir gehört haben, und die Vertreter der Berufsverbände diese Gesetzesinitiative begrüßen.
Zusätzlich haben wir mit einem Änderungsantrag der
Koalitionsfraktionen die Altersvorgabe „18. Lebensjahr“
für die Beantragung der Erlaubnis zur Berufsausübung
als pharmazeutisch-technischer Assistent/pharmazeutische Assistentin im PTA-Gesetz gestrichen. Damit wird
vermieden, dass bei PTAs, die ihre Ausbildung beendet
haben, unnötige Wartezeiten für den Berufsbeginn entstehen. Eine Verzögerung ist weder fachlich vertretbar und
widerspricht den bereits beschriebenen bildungspolitischen Grundsätzen. Mit dieser Änderung haben wir eine
Harmonisierung mit der Streichung der Altersvorgaberegelung bei den anderen, genannten Gesundheitsfachberufen erreicht.
Hinweisen will ich noch auf die Tatsache, dass wir uns
im Rahmen der Anhörung auch dem Thema der Aufhebung der Höchstaltersgrenze für die Zulassung von Vertragszahnärzten gewidmet haben. Die Aufhebung der sogenannten 68er-Regelung wurde vor allem auch aus
verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten für notwendig
erachtet. Die entsprechende gesetzliche Änderung wird
aber nunmehr nicht in diesem Gesetz vorgenommen. Die
Koalitionsfraktionen sind sich jedoch einig, dies zeitnah
in einem anderen Gesetz aus dem Bereich des SGB V zu
regeln.
Die gesundheitliche Versorgung in Deutschland erfolgt unbestritten auf einem qualitativ hohen Niveau. Dieses zu stabilisieren und weiter zu verbessern, ist das
zentrale Anliegen einer verantwortungsvollen Gesundheitspolitik, die sich an unserer Lebenswirklichkeit ausrichtet und sich an den besonderen Bedürfnissen kranker
Menschen orientiert. Am Umgang mit Kranken und Hilfebedürftigen lässt sich sehr deutlich die menschliche und
soziale Wärme einer Gesellschaft erkennen. Die Gesundheitspolitik muss sich daran orientieren. Mit dem heutigen Gesetz leisten wir durchaus einen guten Beitrag dazu.
Unser Gesetz, das wir heute im Bundestag beschließen
- und ich bitte um Ihre Zustimmung - wird im September
den Bundesrat passieren. Da es sich um eine Bundesratsinitiative handelt, gehe ich davon aus, dass dies problemlos geschieht, sodass sich Ausbildungseinrichtungen und
Berufsanwärter auf die neue Situation einstellen können.
Meine Fraktion und ich begrüßen sehr, dass der Zugang zu Ausbildungen in Gesundheitsfachberufen künftig
nicht mehr an ein bestimmtes Alter gebunden ist.
Bisher wird in sechs bundesgesetzlich geregelten Ausbildungen aus dem Bereich der nichtärztlichen Gesundheitsberufe die Zulassung zur Ausbildung von einem Mindestalter abhängig gemacht: im Hebammengesetz, im
Logopädengesetz, im Masseur- und Physiotherapeutengesetz, im Rettungsassistentengesetz und im pharmazeutisch-technischen Assistentengesetz. Die einzige Ausnahme, die im Rettungsassistentengesetz enthaltene
Altersgrenze, bleibt unberührt, da die Auszubildenden regelmäßig als Fahrer des Rettungswagens eingesetzt werden. Dafür müssen sie über eine Fahrerlaubnis verfügen.
Bewerberinnen und Bewerber, die die schulischen Voraussetzungen erfüllen, aber noch nicht alt genug sind,
verlieren zurzeit ein Jahr, weil die Ausbildungen einmal
jährlich beginnen. Dieses Jahr muss mit irgendwelchen
anderen Maßnahmen überbrückt werden. Das ist nicht
zeitgemäß und entspricht bildungspolitisch nicht unseren
Grundsätzen! Mit dem Wegfall der Altersgrenze soll deshalb den Schülern und Schülerinnen ein Eintritt in diese
Ausbildungen ohne Verzögerungen ermöglicht werden.
Für den Wegfall der Altersgrenze sprach sich auch die
überwiegende Mehrheit der Sachverständigen in einer
öffentlichen Anhörung aus. Die persönliche Eignung
hängt nicht zwingend mit dem Lebensalter der Bewerber
zusammen. Und eine streng am Lebensalter ausgerichtete
Grenze ist keine Gewähr dafür, dass die persönliche Reife
für eine Ausbildung vorliegt. Wir wollen hier den Schulen
mehr Möglichkeiten und mehr Verantwortung übertragen.
Die Berücksichtigung des Alters und der persönlichen
Reife hat der Gesetzgeber im Rahmen des Alten- und
Krankenpflegegesetzes von 2003 bereits vorgesehen. Und
das hat sich bewährt. Die Krankenpflegeschulen berichten über positive Erfahrungen, weil sie mehr Ermessensspielraum erhalten haben. Das heißt aber nicht zwangsläufig, dass jetzt nur noch junge Bewerberinnen und
Bewerber aufgenommen werden, wie wir von den Sachverständigen bei der Anhörung erfahren konnten.
Auch bei anderen Heilberufen ohne Mindestalter, wie
etwa Ergotherapeuten oder medizinisch-technische Assistenten, gibt es keine negativen Erfahrungen.
Die Zahl der Schulabgänger sinkt ständig, sodass in
den kommenden Jahren bis zu 100 000 Bewerber für Ausbildungen weniger zur Verfügung stehen. Besonders betroffen von diesem Mangel sind die Gesundheitsberufe.
Deshalb gibt es dringenden Handlungsbedarf!
Das Problem ist richtig erkannt und nach Auffassung
der Fraktion der FDP sachgerecht gelöst. Die Mindestalterregelung wird aus dem Gesetz herausgenommen.
Das Gesetz eröffnet den Schulen die Freiheiten, in eigener Verantwortung ohne Altersvorgabe die Schülerinnen
und Schüler in den verschiedenen Berufsgruppen zur
Ausbildung aufzunehmen. Die FDP-Fraktion stimmt dem
Gesetzentwurf zu.
Der hier vom Bundesrat vorgelegte Gesetzentwurf findet die volle Zustimmung meiner Fraktion. In dem Gesetzentwurf wurde ein erstaunlich lebensnaher Vorschlag
gemacht, der mich nach drei Jahren Bundestagspraxis
positiv überrascht hat. Zum Sachverhalt: Bisher dürfen
Auszubildende bestimmte Heilberufe, wie zum Beispiel
Physiotherapeut, Logopäde oder Hebamme erst ab dem
18. Lebensjahr erlernen, weil sie erst dann laut derzeit
Zu Protokoll gegebene Reden
bestehendem Gesetz die entsprechende Reife für diese Berufe mitbringen. Das Problem dabei ist nur, dass Schüler
in den seltensten Fällen bei Abschluss der 10. Klasse
schon 18 Jahre alt sind. In der Folge tut sich für die Auszubildenden zwischen Schule und Ausbildung eine Lücke
von bis zu zwei Jahren auf, die zu Warteschleifen zwingt.
Dies soll jetzt anders werden. Um den Auszubildenden einen nahtlosen Übergang nach Abschluss der 10. Klasse
in ihr Berufsleben zu ermöglichen, sind die jetzt vorgelegten Änderungen lange überfällig. Warum soll ein 17-jähriger Auszubildender nicht die nötige Reife für einen
Heilberuf besitzen, die dann ein 18-jähriger Auszubildender besitzen soll? Wieso soll eine 16-jährige Schülerin
qua Gesetz nicht mit einer Ausbildung zur Hebamme beginnen dürfen? Die jetzt vorgelegten Regelungen, die
Reife der Auszubildenden durch die Berufsschulen und
nachrangig durch die Ausbildungsbetriebe individuell
einschätzen zu lassen, entspricht wesentlich mehr den Realitäten, als diese Eignung durch ein Gesetz festzulegen.
Dies wurde auch in der Anhörung von allen Sachverständigen bestätigt. So müssen die jungen Menschen, die den
Wunsch verspüren, sich in diesen Heilberufen ausbilden
zu lassen, keine Lücken in ihren Lebensläufen mehr fürchten.
Schon 2003 wurde im Rahmen des Altenpflegegesetzes
und des Krankenpflegegesetzes vorgesehen, dass die Berufsschulen für Bewerber zum Beruf der Alten- und Krankenpflege auf Grund ihrer Fachkompetenz diese Eignung
feststellen sollen. Wenn dies jetzt auch auf Physiotherapeuten, Masseure, Logopäden, Hebammen und andere
Heilberufe angewandt wird, ist dies nur konsequent und
richtig. Schön, dass auch die Union und die FDP im Gesetzgebungsverfahren von der Notwendigkeit der Beurteilung der Reife durch die Schulen überzeugt wurden.
Die Linke jedenfalls stimmt dem Gesetzentwurf zu.
Die Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen
wird sich in der Abstimmung zum vorliegenden Gesetzentwurf des Bundesrates enthalten. Grundsätzlich sind
wir Grünen der Ansicht, dass Altersgrenzen nur bedingt
in der Lage sind, zu gewährleisten, dass Auszubildende
einen gewissen Reifegrad für das entsprechende Berufsbild vorweisen. Das im Gesetzentwurf angeführte Argument, dass durch die Streichung der Altersgrenze verhindert werden kann, eine zu große zeitliche Lücke zwischen
Schulabschluss und Ausbildungsbeginn entstehen zu lassen, ist durchaus plausibel. Insofern spricht rein arbeitsmarktpolitisch einiges für diese Maßnahme.
Wir dürfen jedoch nicht vergessen, dass es sich bei all
den Berufen, um die es in diesem Gesetz geht, um personennahe und mit hoher Verantwortung einhergehende
Tätigkeiten handelt. Dies kommt uns bei der Diskussion
um dieses Gesetz etwas zu kurz. Klare Kriterien, wie die
Ausbildungsträger in Zukunft die „Reife“ der Schülerinnen und Schüler beurteilen könnten, werden im Gesetz
nicht benannt. Zumindest wird das Problembewusstsein
dafür nicht deutlich genug.
Angesichts der Tatsache, dass sich viele im Wettbewerb stehende Schulen, etwa in der Logopädie-Ausbildung, privat über - oftmals recht hohe - Schulgelder der
Azubis bzw. ihrer Eltern finanzieren, ist es nicht garantiert, dass hier wirklich immer die „Reife“ das ausschlaggebende Kriterium für oder gegen eine Einstellung ist.
Diese Frage, bei der es letztlich auch um die Versorgungsqualität geht, die bei den Patientinnen und Patienten ankommt, muss hier ebenfalls diskutiert und vor allem
auch in Zukunft genau beobachtet werden. Dies leistet
der Gesetzentwurf nicht. Er bietet keine geeigneten Instrumente zur Wirkungsbeobachtung an.
Aus den Reihen einiger Berufsverbände ist im Rahmen
der öffentlichen Anhörung zu dem vorliegenden Gesetzentwurf auch gefordert worden, den Zugang zu einer Ausbildung nicht unbedingt an ein Mindestalter, zumindest
aber einen bestimmten Schulabschluss zu binden, um auf
diesem Wege eine gewisse kognitive Reife der Schülerinnen und Schüler sicherzustellen.
Ohne dass wir uns dieses Argument sofort zueigen machen möchten, so wollen wir doch feststellen, dass wir
eine ernsthafte Abwägung solcher Bedenken in dem gesamten Prozess durch die Große Koalition vermisst haben und auch nicht sehen, dass dies in Zukunft geschehen
soll.
Zudem hat eine Differenzierung der verschiedenen Berufsbilder nicht stattgefunden. Unter Umständen ist es jedoch ein großer Unterschied, ob ich die Altersgrenze in
der Physiotherapie- oder in der Hebammenausbildung
streiche. In diesem Gesetz aber werden einfach die entsprechenden Berufe über einen Kamm geschert, was
nicht gerade für eine differenzierte Wahrnehmung der
Gesundheitsberufe in der Großen Koalition spricht.
Kurzum: Trotz einiger Vorteile, die wir durchaus sehen, stehen am Ende doch eine deutliche Skepsis und einige unbeantwortete Fragen, die uns eine Zustimmung
nicht möglich machen.
Mit dem vorliegenden Gesetz entfällt eine Zugangssperre für die Ausbildungen, die im Masseur- und Physiotherapeutengesetz, Logopäden-, Hebammen- sowie PTAGesetz geregelt sind. Diese Gesetze enthalten noch Vorgaben für ein Mindestzugangsalter, das die Bewerberinnen und Bewerber für die jeweiligen Ausbildungen erreicht haben müssen. Ein nahtloser Übergang von der
Schule in die Ausbildung ist damit nicht immer möglich.
Das werden wir mit dem vorliegenden Gesetz ändern.
Altersvorgaben sind nicht mehr zeitgemäß. Jugendlichen darf zwar auch heute nicht alles zugemutet werden.
Sie sind jedoch früher reif. Sie sind damit früher in der
Lage, auch mit schwierigen Situationen umzugehen, in
die sie durch die Betreuung der Patientinnen und Patienten und die Konfrontation mit den verschiedensten
Krankheitsbildern während der Ausbildung kommen können. Hierzu tragen auch die Schulen bei. Sie können die
notwendige persönliche Reife der Bewerberinnen und
Bewerber durch eine geeignete Auswahlentscheidung siZu Protokoll gegebene Reden
cherstellen. Sie können die Ausbildungen so organisieren, dass auch Arbeitsschutzaspekten entsprochen werden kann. Das ist ein geringer Mehraufwand, wenn es
darum geht, junge Menschen zeitnah in die von ihnen gewünschte Ausbildung zu lassen.
Die Bundesregierung begrüßt und unterstützt daher
das mit dem Gesetz beabsichtigte Ziel.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Gesundheit empfiehlt auf Drucksache 16/9577, den Gesetzentwurf des Bundesrates auf Drucksache 16/1031 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in dieser Fassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung mit den Stimmen des Hauses bei Enthaltung
der Fraktion Die Grünen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit dem gleichen Mehrheitsverhältnis wie zuvor
angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 22 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Werner
Dreibus, Dr. Barbara Höll, Ulla Lötzer, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Verstöße gegen den Mindestlohn im Baugewerbe wirksam bekämpfen
- Drucksache 16/9594 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen, und zwar von den Kollegen Paul Lehrieder, Andreas Steppuhn, Heinrich Kolb,
Werner Dreibus und der Kollegin Brigitte Pothmer.
Heute hat sich die Linkspartei den Mindestlohn im
Baugewerbe ausgesucht, um uns den x-ten Aufguss ihrer
ewig gleichen Forderungen nach mehr Kontrolle und
mehr Staat auf dem Arbeitsmarkt zu servieren. Landauf
landab sind immer wieder Forderungen nach weniger
Bürokratie und Verwaltungsvereinfachung zu hören.
Kommt es aber zu einer Gesetzesübertretung, ziehen Sie
sozusagen als Soforttherapie neue und mehr Vorschriften
aus dem Ärmel. So kann man vielleicht Meister in der
Disziplin „Populismus“ werden, aber keine ernstzunehmende Politik machen. Ich will ja gar nicht in Abrede stellen, dass es die von Ihnen aufgeführten Missstände auf
Baustellen gibt, dass insbesondere Mindestlohnbestimmungen wiederholt nicht eingehalten wurden.
Insofern kann ich Ihnen folgen, als Sie fordern, dass
wirksam kontrolliert werden muss, ob bestehende Gesetze
auch befolgt werden. Ihr Forderungskatalog preist zum
Teil als Neuheit an, was längst schon auf dem Markt ist,
zum Teil verlangt er Verschärfungen, die durch das Ausmaß der Vorfälle kaum gerechtfertigt sind. Die IG Bau hat
ausdrücklich klargestellt, dass die überwiegende Mehrheit der Bauarbeiter in Deutschland den Tariflohn bekommt. Es ist demnach schlicht falsch, wenn der Eindruck entsteht, dass 150 000 deutsche Bauarbeiter unter
Mindestlohn bezahlt würden. Diese Aussage, wie sie in
der „Kölnischen Rundschau“ vom 24. September 2007
zitiert wird, lassen Sie in Ihrer Antragsbegründung bezeichnenderweise unter den Tisch fallen. Der Präsident
des Zentralverbandes des Deutschen Baugewerbes,
Hans-Hartwig Loewenstein, hat zwar gesagt, dass die
Größenordnung „150 000“ realistisch sei, wenn die aus
den mittel- und osteuropäischen Ländern auf deutsche
Baustellen entsandten Beschäftigten einbezogen würden.
Ohne die Lohnuntergrenze würden aber ihm zufolge noch
mehr Menschen aus Osteuropa zu sehr niedrigen Löhnen
auf deutschen Baustellen arbeiten, was die Wirksamkeit
der derzeitigen Rechtslage unterstreicht.
Natürlich sind 150 000 Betroffene 150 000 zu viel. Natürlich müssen wir auf die Einhaltung der Gesetze drängen und Verstöße entsprechend sanktionieren, wie wir
dies immer schon getan haben.
Ein eigentlich naheliegendes „Gegenmittel“ habe ich
in Ihrem Antrag aber vergeblich gesucht: Auch und gerade die Tarifpartner, die die Mindestlöhne ja ausgehandelt haben, sind in der Pflicht, wenn es um bessere Kontrollen geht. ZDB-Präsident Loewenstein hat sich im
September vergangenen Jahres dafür ausgesprochen und
zum Beispiel Berufskleidung mit speziellen Emblemen
vorgeschlagen, an denen legal Beschäftigte sofort zu erkennen sein sollen.
Selbstverständlich ist auch der Staat gefragt, wenn es
darum geht, die Einhaltung von Mindestlöhnen zu überwachen. Zur direkten Bekämpfung von Missbräuchen
sind vonseiten der Bundesregierung bereits differenzierte
Maßnahmen auf den Weg gebracht worden. Es ist verständlich, dass diese nach ihrer Einführung erst greifen
müssen, bevor sie ihre Wirkung entfalten. Mittlerweile
haben sie sich als sehr viel effektiver erwiesen, als es Ihr
Antrag suggeriert, liebe Kollegen von der Linkspartei.
Zoll und Finanzkontrolle Schwarzarbeit haben in den
vergangenen Jahren viel geleistet. Natürlich werden wir
uns in unserer Gesellschaft immer mit kriminellen Energien auseinandersetzen müssen. Aber ich bin überzeugt:
Die Kontrollen des Zolls haben eine nicht zu unterschätzende präventive Wirkung. Unsere gesetzlichen Arbeitsund Sozialstandards sind keine zahnlosen Papiertiger.
Die Beamten der Zollverwaltung sind bei der Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten oder Straftaten in unmittelbarem Zusammenhang mit § 2 Abs. 1 SchwarzArbG
Ermittlungspersonen der Staatsanwaltschaft. Arbeitgeber, Arbeitnehmer und Dritte, die bei der Prüfung angetroffen werden, haben die Prüfung zu dulden und müssen
nach § 3 Abs. 1 SchwarzArbG auf Verlangen Auskunft
über relevante Tatsachen geben. Ausländische Arbeitnehmer sind verpflichtet, Pass und Aufenthaltsgenehmigung
oder Duldung vorzulegen. Arbeitgeber haben nach § 5
Abs. 1 Satz 4 bis 8 SchwarzArbG in automatisierten DaPaul Lehrieder
teien gespeicherte Daten zur Verfügung zu stellen. Das
mussten im vergangenen Jahr auch einige Unternehmen
aus dem Baugewerbe und aus dem Gebäudereinigerhandwerk erfahren. Bei mehr als 22 000 Kontrollen wurden im vergangenen Jahr bei knapp 12 Prozent - also gut
2 600 - der insgesamt überprüften Unternehmen Ermittlungsverfahren wegen des Tatbestands des Mindestlohnverstoßes eingeleitet.
Die bisherigen Ermittlungen zeigen zudem, wie variantenreich Mindestlohnbetrüger vorgehen: Vielfach
werden erstens die tatsächlichen Arbeitszeiten in der
Buchführung falsch ausgewiesen. Oder Arbeitnehmer
- oftmals aus den neuen EU-Mitgliedstaaten - werden
zweitens als „Selbstständige Unternehmer“ umetikettiert. Auch erhalten drittens Arbeitnehmer häufig lediglich den Mindestlohn für ungelernte Arbeitskräfte, obwohl sie eigentlich Fachkräfte sind. Je klarer die
Strukturen kriminellen Vorgehens zutage treten, desto
zielgerichteter kann der Rechtsstaat sanktionieren.
Der Antrag der Linken nimmt zwar auf die vorhandenen Sanktionsmöglichkeiten Bezug, gibt davon aber kein
umfassendes Bild. Deshalb hier noch einmal das Wichtigste in Kürze: Verstöße gegen das AEntG können als
Ordnungswidrigkeit mit Geldbußen bis zu 500 000 Euro
geahndet werden. Zusätzlich kann sich unter Umständen
eine Strafbarkeit wegen Wuchers sowie wegen Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt, § 266 a StGB, ergeben. Zusätzlich zu einer Geldbuße kann eine Gewinnabschöpfung in unbegrenzter Höhe erfolgen.
Ausländischen Arbeitgebern, die ihren Melde- oder
Aufzeichnungspflichten nicht vollständig nachkommen,
drohen Bußgelder bis 25 000 Euro. Wegen Unzuverlässigkeit können Bewerber um öffentliche Aufträge für eine
angemessene Zeit von der Vergabe ausgeschlossen werden, wenn sie wegen eines Verstoßes gegen das AEntG
mit einer Geldbuße von wenigstens 2 500 Euro belegt
worden sind, § 6 AEntG. Die Dauer des Ausschlusses von
Bauaufträgen - auch auf Länderebene - ist unbestimmt:
Sie bemisst sich je nach Schwere des Vergehens und kann
für mehrere Jahre gelten. Der Nachweis für die Wiedererlangung der „Zuverlässigkeit“ obliegt dem Arbeitgeber. Zuständig für den Ausschluss sind die Vergabestellen,
die jederzeit von den Bußgeldbehörden Auskünfte einholen können. Weitere Rechtsgrundlage für einen Ausschluss von öffentlichen Aufträgen ist § 21 SchwarzArbG.
Der drohende Ausschluss wird manchen Unternehmer
zum Umdenken veranlassen.
Ab einer Geldbuße von 100 Euro erfolgt die Eintragung in das Gewerbezentralregister.
Die Arbeitsgruppe „Einführung einer Sozialkarte zur
Bekämpfung von Schwarzarbeit und illegaler Beschäftigung“ des Bundesfinanz- und des Bundesarbeitsministeriums ist kürzlich zu dem Ergebnis gekommen, dass es
völlig genüge, eine Mitführungspflicht für Ausweise in
Branchen einzuführen, die wie der Baubereich besonders
von Schwarzarbeit betroffen sind. Bauverbände wie der
Zentralverband des Deutschen Baugewerbes haben bereits signalisiert, dass diese Lösung anstelle einer sogenannten Bau-Card ausreichend sei.
Ich finde es bemerkenswert, dass die Linkspartei dies
in ihrer Antragsbegründung erwähnt und somit zur
Kenntnis nimmt, sich gleichwohl aber als einzig wahrer
Impulsgeber aufspielt. Um klarzustellen: Die Bundesregierung hat schon längst die Tatsachen geschaffen, auf
die die Linkspartei nun ihr Etikett kleben möchte. Neben
den Mitwirkungsmöglichkeiten der Tarifparteien bei der
Mindestlohnkontrolle lässt die Linkspartei in ihrem Antrag übrigens noch einen weiteren Aspekt unter den Tisch
fallen: § 8 des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes. Ein Arbeitnehmer, der in den Geltungsbereich dieses Gesetzes
entsandt ist oder war, kann demnach eine auf den Zeitraum der Entsendung bezogene Klage auf Gewährung
der Arbeitsbedingungen nach den §§ 1, 1 a und 7 auch
vor einem deutschen Gericht für Arbeitssachen erheben.
Diese Klagemöglichkeit besteht auch für eine gemeinsame Einrichtung der Tarifvertragsparteien nach § 1
Abs. 3 in Bezug auf die ihr zustehenden Beiträge.
Wir sind uns der Probleme bewusst, die es im Baubereich noch immer in Bezug auf Mindestlohn und illegale
Beschäftigung gibt. Uns stehen verschiedene Sanktionsmechanismen und strafrechtliche Mittel zur Verfügung,
um dagegen vorzugehen. Wir werden die Entwicklung auf
dem Bausektor sorgfältig beobachten. Gesetzesverschärfungen können nur das letzte Mittel sein.
Den Antrag der Linken lehnen wir somit konsequenterweise ab.
Die SPD-Bundestagsfraktion hat dafür gesorgt, dass
flächendeckende allgemeinverbindliche Mindestlöhne
eingehalten und Verstöße möglichst wirksam bekämpft
werden können. Dazu gehört vor allem der Baumindestlohn. Zuständig hierfür ist die Finanzkontrolle Schwarzarbeit, die diese Kontrolltätigkeit zu organisieren hat. Die
noch unter der rot-grünen Bundesregierung beschlossenen Strukturveränderungen und damit verbunden die in
den zurückliegenden Jahren Schritt für Schritt umgesetzten Organisationsveränderungen bei der Finanzkontrolle
Schwarzarbeit haben nicht nur zu stärkeren, sondern
auch zu wirksameren Kontrollen geführt. Die Arbeit der
Finanzkontrolle Schwarzarbeit ist dadurch deutlich effektiver und erfolgreicher geworden.
Unser Ziel war es von Anfang an, bei der Einführung
von Mindestlöhnen auch für eine entsprechende Durchsetzung Sorge zu tragen. Deshalb haben wir bereits in der
14. Wahlperiode mit dem Gesetz zur Bekämpfung illegaler Beschäftigung und Schwarzarbeit wichtige Instrumente installiert. Seither besteht zum Beispiel die Möglichkeit, bei Baustellenkontrollen mittels moderner
Computertechnik einen Datenabgleich mit anderen Behörden vorzunehmen.
Die Bekämpfung von illegaler Beschäftigung und
Schwarzarbeit und damit verbunden auch die Kontrolle
von Mindestlöhnen ist mittlerweile zum Tagesgeschäft
der Finanzkontrolle Schwarzarbeit geworden. Dazu gehört aber nicht nur die Kontrolle der Mindestlöhne im
Baugewerbe, sondern auch die Kontrolle im Maler- und
Lackiererhandwerk, im Dachdeckerhandwerk, im Abbruchgewerbe, im Gebäudereinigerhandwerk und - nicht
Zu Protokoll gegebene Reden
zu vergessen - nach der dortigen Einführung auch im Bereich der Briefdienstleister. Und trotz der Vielzahl an
Branchen, die in das Aufgabengebiet der Finanzkontrolle
Schwarzarbeit fallen: Die Ergebnisse und erkennbaren
Erfolge der Finanzkontrolle Schwarzarbeit sprechen für
sich.
Sicherlich - und das ist an dieser Stelle auch nicht zu
verschweigen - stellt ein besonderes Problem die Kontrolle von Mindestlöhnen osteuropäischer Arbeitnehmer
dar. Hierbei geht es sicherlich nicht nur um die formale
Einhaltung von Mindestlöhnen, sondern auch um die tatsächliche Auszahlung der Löhne selbst. Es bestehen zum
Teil kriminelle Strukturen. Hier handelt es sich nicht um
Kavaliersdelikte, sondern um organisierte Kriminalität,
die nicht einfach zu bekämpfen ist. Auch hier kann die Bekämpfungsbehörde beachtliche Erfolge verbuchen.
Hieran anknüpfend hat die Bundesregierung das kürzlich vom Bundeskabinett verabschiedete Aktionsprogramm Recht und Ordnung auf dem Arbeitsmarkt auf den
Weg gebracht. Wir begrüßen ausdrücklich eine ergänzende Gesetzesinitiative zur Bekämpfung von illegaler
Beschäftigung und Schwarzarbeit. Es ist erfreulich, dass
Sie, meine Damen und Herren von der Linksfraktion, die
Punkte des Aktionsprogramms nochmals benennen und in
Ihrem Antrag aufschreiben. Es wäre schön, wenn Sie
dann später auch Ihren Forderungen tatsächlich zustimmen.
Beispielhaft gehe ich an dieser Stelle auf zwei Punkte
Ihres Antrages ein. Sie fordern zum einen die Meldung
zur Sozialversicherung bei Beginn eines neuen Beschäftigungsverhältnisses. Das am 4. Juni 2008 vom Bundeskabinett verabschiedete Aktionsprogramm sieht genau
dies vor: die Einführung einer Sofortmeldung, das heißt
der Personendaten des Beschäftigten, der Angabe des Arbeitgebers sowie das Datum der Beschäftigungsaufnahme. Ein zweiter Punkt Ihres Antrages will die Mitführungspflicht von Personaldokumenten. Auch dieser
Punkt, die Pflicht zur Mitführung der Personaldokumente, ist bereits im Aktionsprogramm der Bundesregierung enthalten.
An dieser Stelle möchte ich aber noch einen weiteren
für uns wichtigen Punkt erwähnen. Gerade im Baugewerbe, aber auch im Bauausbaugewerbe und somit in den
klassischen Handwerksbereichen zeigt sich, dass Mindestlöhne zu einem faireren Wettbewerb bei den Unternehmen untereinander führen. Genau dies haben wir
auch mit der Einführung der Mindestlöhne in den genannten Bereichen gewollt. Wenn sich Unternehmen jedoch nicht an die im Arbeitnehmer-Entsendegesetz für allgemeinverbindlich erklärten Mindestlöhne halten - und
das muss man an dieser Stelle so deutlich sagen -, betreiben sie schlicht und ergreifend Lohndumping und einen
Gesetzesverstoß. Das ist einerseits für die Sozialversicherungssysteme schädlich und verhindert andererseits legale Beschäftigung. Um es kurz zu sagen: Dumpinglöhne
und Steuer- und Abgabenhinterziehung schädigen ehrliche Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Dafür haben wir gerade mit Blick auf die Menschen und in Bezug auf unsere
Sozialversicherungssysteme kein Verständnis. Solches
Verhalten ist schlicht Gewinnmaximierung von Unternehmen auf Kosten anderer.
Ein weiterer Punkt: Die IG Bau-Agrar-Umwelt, der
Hauptverband der Deutschen Bauindustrie, der Zentralverband des Deutschen Baugewerbes, die Tarifvertragsparteien im Bau- und Ausbaugewerbe und die Sozialkassen der Tarifvertragsparteien arbeiten sehr eng mit der
Finanzkontrolle Schwarzarbeit zusammen; und dies nicht
erst seit gestern. Richtig ist sicherlich die Situation, dass
sich die Vollstreckung der von den Behörden der Zollverwaltung festgesetzten rechtskräftigen Geldbußen gegen
ausländische Unternehmen, das heißt also im Herkunftsland, aufgrund von bilateraler Anerkennung und Rechtsprechungsabkommen als schwierig darstellt. Im Ausland
fehlt es derzeit an einer tragfähigen völkerrechtlichen
Grundlage, auf die entsprechende Beitreibungsersuchen
der Vollstreckungsstellen gestützt werden könnten. Aber
auch hier gibt es bereits Erfolge. Mit der vom BMF und
BMAS eingerichteten Task Force werden bereits bilaterale Abkommen vereinbart, und ein Erfolg ihrer Arbeit ist
der elektronische Datenaustausch mit einzelnen verschiedenen EU-Staaten. Daher müssen wir hier ansetzen und
auf der europäischen Ebene entsprechende Regelungen
und Vereinbarungen treffen und forcieren, die eine bessere Vollstreckung ermöglichen.
Ein weiterer Ansatz könnte der Rahmenbeschluss des
Europäischen Rates vom 24. Februar 2005 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung von Geldstrafen und Geldbußen sein. Danach sollen in einem EU-Mitgliedstaat verhängte Geldstrafen
und Geldbußen europaweit gegenseitig anerkannt und
vollstreckt werden. Hier sind nun die Mitgliedstaaten
gefordert, diesen Rahmenbeschluss in nationales Recht
umzusetzen. In Deutschland wird bereits an einem entsprechenden Gesetzentwurf gearbeitet. Das ist jedoch
nur die eine Seite. Sorgen machen wir uns insbesondere
um den zum Teil mafiös organisierten Menschenhandel,
der ebenfalls dahintersteckt. Deshalb ist es gut und richtig, dass wir alles daransetzen, die Arbeit der Finanzkontrolle Schwarzarbeit weiterzuentwickeln. Daher ist es
auch in Zukunft erforderlich, die Finanzkontrolle
Schwarzarbeit personell entsprechend auszustatten. Derzeit scheint der Personalbestand der Finanzkontrolle
Schwarzarbeit mit knapp 700 Stellen noch als ausreichend. Wann und ob es angesichts der Aufnahme weiterer
Branchen in das Arbeitnehmer-Entsendegesetz zukünftig
zu einer verbesserten Personalausstattung kommen wird,
dafür werden Bund und Länder sicherlich Sorge tragen.
Die Bundesregierung und die aus SPD und CDU/CSU
bestehende Koalitionsfraktion haben ein großes Interesse
daran - wie eingangs bereits erwähnt -, Mindestlöhne
wirksam im Interesse der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu kontrollieren und umzusetzen. Diese Aufgabe
wird auch von der Finanzkontrolle Schwarzarbeit immer
besser erfüllt. Das heißt jedoch nicht, dass es nicht noch
besser und effektiver erfolgen kann. Sie können sich sicher sein: Hieran haben wir ein großes Interesse. Wichtig
ist dabei: Je einfacher Rechtsansprüche formuliert sind,
desto einfacher ist die Kontrolle. Daher werden wir auch
hieran arbeiten.
Zu Protokoll gegebene Reden
Weiter ist wichtig, dass Arbeitgeber, die Subunternehmer beauftragen, in Haftung genommen werden können.
Die präventive Wirkung beim Mindestlohn Bau wird beispielsweise auch durch die bestehende Generalunternehmerhaftung nicht zu unterschätzen sein. Lohndumping ist
kein Kavaliersdelikt. Lohndumping gehört nicht nur
wirksam kontrolliert. Lohndumping und Wettbewerbsverstöße gehören bestraft.
Lassen Sie mich zunächst feststellen: Ich finde es
schon bemerkenswert, wie Die Linke die Spitzenverbände
der Bauwirtschaft für ihre Zwecke vereinnahmt und sich
diejenigen Positionen des Arbeitgeberverbandes herauspickt, die ihr gerade ins Konzept passen. Sonst schlägt die
Linke gegenüber den Arbeitgebern ja doch eher andere
Töne an. Das ist nicht nur opportunistisch, das ist auch
ein Stück weit unglaubwürdig.
Für die FDP sage ich: Schwarzarbeit, illegale Beschäftigung und Dumpinglöhne sind nicht hinnehmbar
und müssen bekämpft werden. Ich sage für die FDPFraktion aber genauso klar: Die im Antrag der Linken
vorgeschlagenen Maßnahmen taugen dazu nicht. Die
Maßnahmen sind ineffektiv, zu bürokratisch, zu teuer und
für mich der entscheidende Punkt: Sie sind zum Teil sogar
schädlich und dazu angetan, reguläre Arbeitsplätze zu
vernichten. Es ist nicht zielführend, den ehrlichen Unternehmen zusätzliche bürokratische Belastungen aufzuerlegen, um die schwarzen Schafe zu bekämpfen. Dadurch
werden die seriösen Firmen mit zusätzlichen Kosten belastet. Wir brauchen effektive und unbürokratische Maßnahmen, um illegale Beschäftigung, Schwarzarbeit und
Lohndumping zu bekämpfen.
Eine wirksame Bekämpfung der erkannten Missstände
beginnt mit der Suche nach den Ursachen und Gründen.
Ich stelle fest, und hier beziehe ich mich auf den Präsidenten des Zentralverbandes des Deutschen Baugewerbes, Dr. Loewenstein, dass im Wesentlichen zwei Gruppen
von Lohndumping betroffen sind:
Zum einen sind es die illegal beschäftigten Arbeitnehmer, die zum Großteil von ausländischen Subunternehmern kommen. Zum anderen sind es diejenigen, die formal als selbstständig firmieren, aber nur scheinbar legal
arbeiten. Auch sie kommen zum überwiegenden Teil aus
dem europäischen Ausland.
Darüber hinaus und ganz generell ist als ein weiterer
Grund natürlich noch die zu hohe Steuer- und Abgabenlast zu nennen, die mit dafür verantwortlich ist, dass
Schwarzarbeit und illegale Beschäftigung nicht zurückgehen, sondern eher noch zunehmen. Legale Arbeit ist in
Größenordnung teurer als illegale Arbeit. Ich betone das,
weil die Fraktion Die Linke sich ja dadurch auszeichnet,
dass sie regelmäßig mit obskuren Vorschlägen die Steuerund Abgabenbelastung von Unternehmen und Bürgern in
der Tendenz noch weiter erhöhen will. Ein wirksames
Mittel zur Beseitigung der Missstände ist, ein Unterlaufen der gesetzlichen Vorschriften weniger attraktiv zu machen.
Doch in das Denken der Linken passt ein solcher Lösungsvorschlag natürlich nicht. Viel lieber wird mit Drohungen und Sanktionen hantiert, auch wenn dabei das
Kind mit dem Bade ausgeschüttet wird. Allein Ihre Forderung, Unternehmen umgehend von der Bauleistung
auszuschließen, wenn Verstöße gegen Mindestlohnvorschriften, illegale Beschäftigung oder Schwarzarbeit festgestellt werden, offenbart Ihr wirtschaftspolitisches Verständnis. Da nehmen Sie den Verlust von regulären
Arbeitsplätzen in Kauf, ohne in Betracht zu ziehen, wie
hoch bzw. in welchem Umfang der Schaden eines Verstoßes zu beziffern ist. Das ist Ideologie pur und zeigt, wie es
um Ihr Verhältnis zu den Unternehmen in der Bauwirtschaft wirklich bestellt ist.
Ihr Vorschlag, die Generalunternehmerhaftung auszuweiten und die Generalunternehmerhaftung für die
Zahlung der Mindestentgelte mit der für Sozialversicherungsbeiträge zu harmonisieren, ist ebenfalls abzulehnen.
In einem sechs Seiten langen Bericht der Bundesregierung wurde bereits Anfang 2007 festgestellt, dass sich
diese Regelungen nicht bewährt haben und zudem ein Bürokratieaufwand in Höhe von 53 Millionen Euro einer
Haftungssumme von circa 13 000 Euro gegenüber stehe.
Angesichts dieser inakzeptablen Kosten-Nutzen-Rechnung verwundert Ihr Vorschlag doch sehr. Es zeigt sich
wieder einmal, dass die Kreativität der Fraktion der Linken sich darauf beschränkt, zusätzliche bürokratische Regelungen zu erfinden, die die Unternehmen fesseln sollen.
Noch einmal ganz klar: Die FDP tritt für eine wirksame Bekämpfung der Schwarzarbeit ein. Dies ist allein
mit den bereits bestehenden gesetzlichen Maßnahmen wie
dem Schwarzarbeitbekämpfungsgesetz sowie den Vorschriften über den Sozialversicherungsausweis anscheinend noch nicht in ausreichendem Maße gelungen.
Schwarzarbeit schädigt den Staat, schädigt die sozialen
Sicherungssysteme und schadet den Betrieben in der
Baubranche, die regulär sozialversicherungspflichtige
Arbeitnehmer beschäftigen. Als ein geeignetes Mittel zur
Bekämpfung der Schwarzarbeit sieht die FDP zum Beispiel die Einführung einer elektronisch lesbaren Chipkarte für den Baubereich. Diese stellt einen relativ schnell
realisierbaren Hebel zur Bekämpfung der Schwarzarbeit
dar. Das Unterlaufen der Zahlung der tariflichen Mindestlöhne im Baubereich wird vor allem durch Schwarzarbeit ermöglicht. Mit der Einführung der elektronisch
lesbaren Chipkarte könnte auf Baustellen schnell, unbürokratisch und ohne großen Kostenaufwand festgestellt
werden, wer sich dort legal und wer sich dort illegal aufhält. Doch trotz vollmundiger Ankündigungen seitens der
Großen Koalition ist hier nach fast drei Jahren schwarzroter Regierungsverantwortung immer noch nichts geschehen.
Lassen Sie mich zum Schluss noch Folgendes bemerken: Die Senkung der Lohnzusatzkosten ist mit Sicherheit
das wirksamste Mittel bei der Bekämpfung von Schwarzarbeit, illegaler Beschäftigung und Dumpinglöhnen. Wir
brauchen darüber hinaus ein flexibles Tarifrecht, damit
sich die Löhne wieder stärker an der Produktivität orientieren können. In einem flexiblen Arbeitsmarkt können
sich die Unternehmen den veränderten Wettbewerbsbedingungen anpassen. Dies hilft letztlich den ArbeitnehZu Protokoll gegebene Reden
mern am besten. Der Antrag der Fraktion Die Linken ist
dazu mehr als untauglich.
Der Mindestlohn im Baugewerbe ist ein Erfolg. Nach
den übereinstimmenden Einschätzungen der IG BauenAgrar-Umwelt, IG BAU, und der Spitzenverbände der
Bauwirtschaft wurden durch den Mindestlohn Zehntausende Arbeitsplätze erhalten. Und ich füge hinzu: Der
Mindestlohn sorgt für ein auskömmliches Einkommen für
alle Beschäftigten im Baugewerbe, eine Situation, von
der die Beschäftigten vieler anderer Branchen nur träumen.
Diese Vorbildfunktion des Baumindestlohns müssen
wir erhalten. Dazu müssen Verstöße wirksam bekämpft
werden. Wir brauchen ausreichende Kontrollen und eine
strikte Ahndung von Verletzungen des Mindestlohngebots. Das BMAS hat kürzlich eingeräumt, dass es hier
Nachbesserungsbedarf gibt. Diese Sicht teilen auch die
IG BAU, die Bau-Arbeitgeberverbände und die für die
Kontrolle und Ahndung zuständige Finanzkontrolle
Schwarzarbeit, FKS, des Zolls.
Wir fordern die Bundesregierung deshalb dringend
dazu auf, es nicht bei der Feststellung von Defiziten zu belassen und unverzüglich die entsprechenden gesetzlichen
Grundlagen vorzubereiten. Bereits im März hatte das
BMF dem zuständigen Bundestagsausschuss die Ergebnisse einer Evaluation der Bekämpfung von Schwarzarbeit und illegaler Beschäftigung für das Jahr 2007 mitgeteilt. Danach gibt es Verstöße, aber es gibt auch
konkrete Vorstellungen zu wirksamen Gegenmaßnahmen.
Jeder weitere Tag, den die Bundesregierung verstreichen
lässt, ohne aktiv zu werden, ist ein Tag, an dem Beschäftigte auf dem Bau die ihnen zustehenden Löhne nicht erhalten.
Meine Fraktion hat in Gesprächen mit Vertretern der
Arbeitgeber und der Gewerkschaften eine Reihe praktikabler und wirksamer Maßnahmen für den Schutz des
Mindestlohns in der Baubranche identifiziert. Diese sind
in unserem Antrag aufgelistet und begründet. Ich hebe
zwei Dinge hervor. Zum ersten gilt es, die Mitführung eines amtlichen Personaldokuments auf Baustellen oder an
anderen Arbeitsstätten zur Pflicht zu machen. Beim heutigen Stand der Technik könnten die Kontrollbehörden an
Ort und Stelle anhand der personenbezogenen Daten auf
alle relevanten Datenbanken zugreifen. Die Frage „Illegal oder legal beschäftigt?“ würde sofort geklärt. Die
Vertreter der Arbeitgeber, die zuständige Gewerkschaft,
das Wirtschafts- und das Arbeitsministerium gehen übereinstimmend von einer hohen Wirksamkeit einer solchen
Mitführungspflicht aus.
Notwendig ist zum Zweiten, das Schlupfloch der nachträglichen Meldung eines neuen Beschäftigungsverhältnisses durch den Arbeitgeber zu schließen. Heute ist es
zulässig, ein neues Beschäftigungsverhältnis bis zu sechs
Wochen nach dem eigentlichen Beginn der Beschäftigung
bei der Sozialversicherung zu melden. Die Baufirma
etwa, die illegal beschäftigt, kann sich bei Kontrollen so
immer darauf hinausreden, dass ein noch nicht gemeldeter Beschäftigter gerade erst eingestellt worden sei und
die Meldung selbstverständlich noch erfolge. Das ist
nicht hinnehmbar und dieser Missstand ist leicht abzustellen.
Dass bestehende gesetzliche Bestimmungen auch
durchgesetzt und vor Verletzungen bewahrt werden müssen, versteht sich von selbst. Ich erwarte daher eine konstruktive Diskussion unserer Vorschläge.
Die Baubranche ist eine der wenigen Branchen in
Deutschland, die mit einem allgemeinverbindlichen Mindestlohn vor Lohndumping geschützt ist. Gleichzeitig
wissen wir, dass es immer schwarze Schafe gibt, die diese
Regelungen unterlaufen und ihre Beschäftigten mit weniger als dem Mindestlohn abspeisen wollen. „Vertrauen
ist gut, Kontrolle ist besser“, dieser Satz gilt deshalb auch
für die Baubranche. Um es deutlich zu sagen: Ja, wir
Grünen wollen Mindestlöhne, und wenn es sie gibt, dann
müssen sich selbstverständlich auch alle daran halten.
Auch die Schwarzarbeit ist aus grüner Sicht inakzeptabel; sie muss ebenso energisch bekämpft werden wie der
Lohnraub. Und Sie alle werden mir zustimmen, dass solche Ansagen umso wirkungsvoller sind, je besser sie mit
einem entsprechenden Instrumentarium unterlegt sind.
Aber - wie so oft - auch in diesem Aktionsfeld muss man
die Bundesregierung zum Jagen tragen. Dafür ist der vorliegende Antrag genauso ein Indiz wie die vor wenigen
Wochen hier im Parlament geführte Debatte um die Einführung einer Chipkarte im Baubereich.
Vor einem halben Jahr hat der Bundesrechnungshof
dem Arbeits- und dem Finanzminister ein umfangreiches
Aufgabenpaket in Sachen Schwarzarbeit geschnürt. Zu
Beginn dieses Monats haben das BMAS und das BMF ihr
Aktionsprogramm für Recht und Ordnung auf dem Arbeitsmarkt vorgelegt. So weit, so gut. Wenn wir uns aber
das Programm genauer angucken, dann kann ich hier sicherlich feststellen, dass es Schwarzarbeitern und Lohnräubern nicht das Fürchten lehren wird. Ich kann Ihnen
auch sagen, warum das nicht passieren wird. In Ihrem Aktionsprogramm verkaufen Sie uns überwiegend „Prüfungen“, „Erwägungen“ und „Appelle“ als Maßnahmen.
Erst gestern wurde Ihrem Programm im Finanzausschuss
attestiert, dass darin lediglich ein Vorschlag des Bundesrechnungshofs aufgegriffen wird, und auch dieser - wen
wundert‘s - wird lediglich geprüft.
Meine Damen und Herren von der Regierung, so geht
es nicht, wenn wir wirklich etwas gegen Mindestlohnbetrug und Schwarzarbeit nicht nur im Baubereich tun
wollen. Immerhin, im Bereich „Sofortmeldung und Ausweispflicht“ hat die Bundesregierung Verbesserungen
angekündigt. Aber Letzteres wird nur dann Wirkung zeigen, wenn die Kontrollen vor Ort verbessert werden.
Der Bundesrechnungshof hat in seinem Bericht die
mangelnde Präsenz der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Finanzkontrolle Schwarzarbeit moniert. Die
sollen eigentlich mindestens 50 Prozent ihrer Arbeitszeit
im Außendienst verbringen. Diese Quote wird aber
überhaupt nicht erreicht; nur knapp ein Drittel ihrer Arbeitszeit verbringen die Mitarbeiter an den Orten des Geschehens. Und was schlägt die Regierung vor? Ein PilotZu Protokoll gegebene Reden
projekt mit dauerhaften Prüfstützpunkten auf einigen
Großbaustellen. Das heißt im Klartext, dass weitere
Jahre vergehen werden, bis Betrüger auf Baustellen und
anderswo damit rechnen müssen, kontrolliert zu werden.
Probleme anpacken - das geht anders!
Wir sehen den Handlungsbedarf, und wir werden die
im Antrag vorgelegten Vorschläge prüfen. Zwar sind wir
im Einzelfall skeptisch; wir lassen uns aber durch gute
Argumente gerne überzeugen. Insofern sehe ich den Ausschussberatungen mit Interesse entgegen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/9594 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 23 auf:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom
31. August 2006 zwischen der Regierung der
Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Sozialistischen Republik Vietnam
über die Zusammenarbeit bei der Bekämpfung von schwerwiegenden Straftaten und der
Organisierten Kriminalität
- Drucksache 16/9277 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({0})
- Drucksache 16/9614 Berichterstattung:
Abgeordnete Clemens Binninger
Frank Hofmann ({1})
Ulla Jelpke
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen, und zwar von folgenden Kolleginnen und Kollegen: Frank Hofmann, Gisela
Piltz, Ulla Jelpke, Wolfgang Wieland und Peter
Altmaier.
Mit dem vorliegenden Geldwäschebekämpfungsergänzungsgesetz setzen wir, wie so oft im Bereich der Innenpolitik, eine EG-Richtlinie um. So sollen die Vorgaben
der sogenannten Dritten EG-Geldwäscherichtline, Richtlinie 2005/60/EG des Europäischen Parlaments und des
Rates vom 26. Oktober 2005 zur Verhinderung der Nutzung des Finanzsystems zum Zwecke der Geldwäsche und
der Terrorismusfinanzierung, und eine hierzu von der
EG-Kommission erlassene Durchführungsrichtlinie,
Richtlinie 2006/70/EG der Kommission vom 1. August
2006, in nationales Recht umgesetzt werden. Durch die
Dritte EG-Geldwäscherichtlinie sind die EU-rechtlichen
Vorgaben für die nationalen Geldwäschegesetzgebungen
grundlegend umstrukturiert und erweitert worden. Deshalb ist es nötig gewesen, mit diesem Gesetz auch das
deutsche Geldwäscherecht vollständig neu zu fassen. Es
beschränkt sich zu über 90 Prozent darauf, die europarechtlichen Vorgaben eins zu eins umzusetzen. In dieser
europarechtlichen Überlagerung besteht ein wesentlicher Kritikpunkt allgemeiner Natur: Es ist sehr unbefriedigend, wenn der nationale Gesetzgeber, also der Deutsche Bundestag, keinen eigenen Entscheidungsspielraum
hat, sondern auf die Rolle eines Notars herabsinkt, der
die Vorgaben aus Brüssel in nationales Recht umsetzen
soll. Dies ist eine prinzipielle Durchbrechung der Gewaltenteilung. Es erfolgt keine materielle, parlamentarische
Gesetzgebung, weder durch das Europaparlament noch
durch den Deutschen Bundestag, sondern nur durch die
nationalen Regierungen im Europäischen Rat. Die mittelbare Legitimation durch die Umsetzung in nationales
Recht halte ich, insbesondere in sensiblen, grundrechtsintensiven Regelungsbereichen, für problematisch. Soweit zur Kritik an dieser Verfahrensart.
Nun zum Gesetzentwurf selbst. Das Gesetz ist wichtig,
um das Netz gegen Einschleusen von illegal erworbenen
Vermögenswerten, zum Beispiel aus organisierter Kriminalität, in den legalen Finanz- und Wirtschaftskreislauf
europaweit noch enger zu flechten. Geldwäsche und die
Finanzströme des internationalen Terrorismus werden in
Deutschland in Zukunft mit dem neuen Gesetz noch effektiver bekämpft. Das zur Geldwäschebekämpfung entwickelte Instrumentarium wird nun auch auf die Bekämpfung der Terrorismusfinanzierung ausgeweitet. In Zeiten
des deutschen Terrorismus der 70er-Jahre hätte die Geldwäschebekämpfung nicht gezogen. Die RAF hat sich in
erster Linie finanziert durch Überfälle auf Banken und
Geldboten und durch Geiselnahmen. Der islamistische
Terrorismus dagegen nutzt die gesamte Bandbreite der
bekannten Finanzierungsmöglichkeiten. Bis 2005 wurden
weltweit mehr als 150 Millionen Dollar, die als Terroristengelder identifiziert wurden, aus dem Geldverkehr gezogen. Völlig neu ist die industrielle Geschäftsbasis bei
der Finanzierung, wie sie für den Multimillionär Osama
Bin Laden nachweisbar ist, ebenso wie das „Sponsoring“
aus Drogengeldern. Deshalb macht die Erweiterung auf
die Terrorismusfinanzierung Sinn. Bei der Prüfung, ob
ein Geldwäscheverdacht vorliegt, wird grundsätzlich ein
risikoorientierter Ansatz verfolgt. Dieser verdeutlicht,
dass die Gefahr der Geldwäsche und der Terrorismusfinanzierung nicht bei allen Transaktionen oder Geschäften gleich hoch ist. Zentrales Anliegen des Gesetzentwurfes ist daher die Ausbalancierung von vereinfachten und
verstärkten Sorgfaltspflichten unter Berücksichtigung
des Umstands, dass die Verpflichteten den ihnen obliegenden Anforderungen risikoadäquat und praxisgerecht
unter vernünftigem Aufwand nachkommen können. Weiterhin steht die flexiblere Normierung der den Verpflichteten auferlegten Sorgfaltspflichten gegenüber Kunden
im Vordergrund. Grundlage soll dabei insbesondere die
Risikoträchtigkeit der jeweiligen Transaktion oder Geschäftbeziehung sein, nach der jeweils allgemeine, vereinfachte oder verstärkte Sorgfaltspflichten gegenüber
Vertragspartnern, Kunden und Mandanten zu beachten
sind. Wo die Richtlinie es zuließ, erfolgte die Ausgestaltung des Gesetzes so, dass überflüssige Bürokratiekosten
vermieden wurden. Die häufige Kritik aus der Kreditwirt17956
Frank Hofmann ({0})
schaft an der übermäßigen Bürokratie des Gesetzes, zum
Beispiel an § 1 Abs. 6 des Geldwäschegesetzes, wonach
bei Gesellschaften der wirtschaftliche Eigentümer identifiziert werden muss, ist nicht gerechtfertigt. Außerdem
würde man, sollte man auf die entsprechende Verpflichtung verzichten, die Richtlinie nicht vollständig umsetzen
und ein Vertragsverletzungsverfahren riskieren. Im
Gesetzentwurf hat die Bundesregierung Verbesserungsvorschläge des Bundesrates aufgegriffen und so die Anwendung des Gesetzes praktikabler gemacht. Die Aufzeichnungspflicht zur Identifizierung von juristischen
Personen als Vertragspartner kann nun durch eine Kopie
des Handelsregisterauszugs erfolgen und muss nicht manuell erfasst werden. Wird über Internet auf ein elektronisch geführtes Register zugegriffen, reicht die Anfertigung eines Ausdrucks aus, sodass ebenfalls auf eine
manuelle Erfassung der Daten verzichtet werden kann.
Die Einführung einer Bagatellgrenze von 2 500 Euro für
die Identifikation bei Sorten-Bar-Geschäften, also beim
Umtausch von Bargeld gegen Devisen, wurde eingeführt.
Damit wird eine übermäßige Belastung von Banken in
Grenzregionen verhindert.
Zur dritten Beratung des Gesetzentwurfs hat die FDP
kurzfristig einen Entschließungsantrag vorgelegt, der abzulehnen ist. Die Kritik am Gesetzentwurf der Bundesregierung kann ich nicht teilen. Die Regelung zur Bestimmung des wirtschaftlich Berechtigten stellt die Banken
keineswegs vor unlösbare Probleme. Auch gibt es keinen
Generalverdacht gegen die sogenannten politisch exponierten Personen. Die FDP hat sich mit ihrem Antrag insbesondere die Kritik der Bankenverbände zu eigen gemacht, die uns nicht überzeugt. Insgesamt ist der
vorliegende Gesetzentwurf kaum kritikwürdig, weil er
sich ganz eng an die Richtlinie anlehnt, also dem Prinzip
der Eins-zu-eins-Umsetzung folgt. Die Bekämpfung der
Geldwäsche selbst hat sich grundsätzlich bewährt. Wenn
es auch sicher schwer ist, im Einzelnen die Effizienz und
die Wirksamkeit zu messen, so kann man dennoch sagen,
dass die Geldwäschevorschriften die Geldwäsche erschweren und somit auch die Terrorismusfinanzierung
und so einen Beitrag zur Bekämpfung von Kriminalität
und Terrorismus leisten.
Wieder einmal beraten wir im Deutschen Bundestag
über die Ratifizierung eines „Sicherheitsabkommens“
der Bundesregierung, über einen Vertrag, der ohne vorherige Befassung und Information des Parlaments unterzeichnet wurde. Wieder einmal spotten die Regelungen
dem Datenschutz.
Die Bundesregierung macht es sich leicht: einfach
„Copy and Paste“. Egal ob es sich um die Vereinigten
Arabischen Emirate oder, wie heute, um Vietnam handelt:
Wie man derart verantwortungslos mit dem Datenschutz
und auch der Sicherheit der Bundesrepublik - die Abkommen dienen ja immer der Bekämpfung von schwerwiegenden Straftaten und der organisierten Kriminalität - umgehen kann, wird wohl niemand verstehen. Nach dem
Abkommen ist vorgesehen, dass die übermittelten Daten
auch „zur Verhütung und Verfolgung von Straftaten von
erheblicher Bedeutung sowie zum Zweck der Abwehr von
erheblichen Gefahren für die öffentliche Sicherheit“ verwendet werden können.
Wann besteht denn aber wohl eine erhebliche Gefahr
für die öffentliche Sicherheit nach vietnamesischem
Recht? Wenn jemand ohne Führerschein Motorrad
fährt? Oder nur dann, wenn er einen Sprengstoffgürtel
umhat? Das können wir alle nicht beantworten. Vor allen
Dingen: Auch das Abkommen gibt uns dazu keine Antwort. Wieso verzichtet die Bundesregierung darauf, in
den „Sicherheitsabkommen“ festzulegen, für welche Taten die übermittelten Daten verwendet werden dürfen?
Dies ist für die Rechtssicherheit der deutschen Bürgerinnen und Bürger dringend geboten. Stattdessen wird es der
Rechtsinterpretation vietnamesischer Behörden überlassen.
Erneut ist es die Bedrohung durch den internationalen
Terrorismus, die einen weiteren Eingriff in die Freiheitsrechte der Bürgerinnen und Bürger rechtfertigen soll.
Insbesondere seit der letzten Bundestagswahl und dem
damit verbundenen Amtsantritt Wolfgangs Schäubles als
Bundesinnenminister dient die Terrorgefahr als Vorwand
für diverse Gesetze, die staatliche Überwachung ermöglichen sollen, oder, wie hier, über datenschutzrechtliche
Bestimmungen schlicht hinweggehen.
Aus unserer Sicht ist die internationale Zusammenarbeit, gerade im Bereich der Inneren Sicherheit, angesichts der grenzüberschreitenden Kriminalität und des internationalen Terrorismus unabdingbar. Wir sind davon
überzeugt, dass die Probleme in einer globalisierten Welt
nicht durch nationale Alleingänge gelöst werden können.
Aus diesem Grund sind vertrauensvolle Beziehungen mit
internationalen Partnern von herausragender Bedeutung. Gleichwohl können wir bilateralen Abkommen
dann nicht zustimmen, wenn Regelungen enthalten sind,
die wir auch auf nationaler Ebene seit jeher ablehnen.
Mit diesem Abkommen werden der missbräuchlichen Verwendung personenbezogener Daten Tür und Tor geöffnet.
Daher lehnen wir das Abkommen ab.
Das vorliegende Abkommen steht in einer langen
Reihe fast gleichlautender Abkommen mit Staaten, in denen es anhaltende Probleme mit Menschenrechten, gewerkschaftlichen und politischen Freiheiten oder der
Justiz gibt. Nun möchte ich Vietnam nicht mit den mittelalterlich verfassten Vereinigten Arabischen Emiraten
gleichsetzen, über die vor wenigen Tagen als Kooperationspartner in der Verbrechensbekämpfung diskutiert
wurden. Aber auch in Vietnam ist die Menschenrechtssituation noch keineswegs in allen Bereichen befriedigend.
Weiterhin wird beispielsweise die Bildung freier Gewerkschaften verhindert. Weiterhin werden kritische
Journalisten, die sich zum Beispiel mit der verbreiteten
Korruption befassen, inhaftiert. Auch politische Freiheiten oder Minderheitenrechte sind nicht gewährleistet.
Gerade zum Zeitpunkt des Abkommens vor zwei Jahren
wurden zahlreiche Angehörige der sogenannten Bergvölker so drangsaliert, dass sie massenhaft ins benachbarte
Kambodscha fliehen mussten. Schließlich existiert in
Zu Protokoll gegebene Reden
Vietnam weiterhin die Todesstrafe, und diese wird auch
verhängt und vollstreckt. Zwar heißt es in diesem Abkommen, dass in Fällen, in denen die Todesstrafe droht, die
Unterstützung verweigert werden kann. Allerdings wird
hier nur die butterweiche Formulierung gebraucht: - ich
zitiere -:
sofern nicht die ersuchende Vertragspartei eine von
der ersuchten Vertragspartei als ausreichend erachtete Zusicherung abgibt, dass die Todesstrafe
nicht mehr verhängt oder, falls sie verhängt wird,
nicht mehr vollstreckt wird.
Das ist uns zu wenig. Hier müsste weiterhin die Regel
gelten, dass generell keine Personen an Staaten ausgeliefert werden dürfen, in denen ihnen die Todesstrafe droht.
Vage Zusicherungen der Regierung oder Justiz des Partnerlandes reichen uns nicht aus.
Niemand hier wird bestreiten, dass Länder wie Vietnam gerade im Bereich des Datenschutzes noch erhebliche Defizite aufweisen. Nun soll sich die Zusammenarbeit
bei der Kriminalitätsbekämpfung aber gerade auch auf
den Bereich des Datenaustausches erstrecken. Was mit
diesen Daten geschieht, ist weitgehend unkontrollierbar.
Die praktische Kooperation mit solchen Staaten ist der
Öffentlichkeit entzogen. Waren schon die Formulierungen zur organisierten Kriminalität problematisch und
wenig eingegrenzt, so verschärft sich dies durch die Ausrichtung auf den noch viel weniger eindeutig definierten
Terrorismus. Die offizielle Begründung für den Abschluss
solcher Abkommen ist regelmäßig die Behauptung, dass
sich dadurch auch die Rechtsstaatsprobleme in diesen
Ländern verbessern ließe. Dies ist in meinen Augen unehrlich; denn in Wirklichkeit stehen eigene Interessen
nach Migrationskontrolle oder Informationserlangung
aus dem - unklar definierten - Terrorismusbereich im
Vordergrund des deutschen Interesses.
Die Bundesregierung müsste hier sehr viel deutlicher
belegen, dass diese Abkommen tatsächlich einen Beitrag
zur Verbesserung der rechtsstaatlichen Situation in den
jeweiligen Partnerländern leisten. Da dies nicht glaubwürdig geschieht, wird die Fraktion Die Linke den vorliegenden Gesetzentwurf ablehnen.
Zum dritten Mal in wenigen Wochen diskutieren wir
heute ein Abkommen über die Zusammenarbeit im Bereich schwerwiegende und organisierte Kriminalität mit
einem anderen Staat. Den Anfang machte das katastrophale Abkommen mit den USA: Der Datenschutz wird
dort fast vollkommen ignoriert, die Tatbestände sind
schwammig definiert, und Absurditäten wie Daten zur
Gewerkschaftszugehörigkeit oder zum Sexualleben
setzen den Unzulänglichkeiten dieses Vertrages die Krone
auf.
Das Abkommen mit den Vereinigten Arabischen Emiraten sah gerade in puncto Rechtsweg und Datenschutz
deutlich besser aus, ließ viel mehr Spielraum, Daten nur
im Einzelfall weiterzugeben, und bedeutete keinen Weitergabeautomatismus. Aber auch hier musste man sich
fragen, welche schwerwiegenden Verbrechen gemeint
sind und was unter Terrorismus zu verstehen ist. Das ist
bei einem Land, in dem Demokratiebestrebungen und
Terrorismus von den Machthabern vielleicht nicht immer
in unserem Sinne unterschieden werden, ein Problem ganz abgesehen von der Tatsache, dass Terrorismus ein
schnell geäußerter Verdacht ist, der selten sicher belegt
wird und gravierende Konsequenzen für die Betroffenen
hat.
Nun aber zum heute vorliegenden Text des Abkommens
mit Vietnam. Hier geht es nicht - wie im Abkommen mit
den USA - um die Übermittlung von Fingerabdruck und
DNA-Daten, sondern um das Teilen polizeilicher Erkenntnisse. Das ist schon einmal erfreulich, zumal die
Weitergabe strikt nach deutschem Recht erfolgt und in jedem Einzelfall geprüft werden soll.
Auch ausgetauscht werden sollen methodische Kenntnisse und Forschungsergebnisse. Das ist sicher ganz
sinnvoll; man fragt sich aber, ob ein Datenaustauschabkommen der richtige Ort ist, um eine Ausbildungszusammenarbeit zu vereinbaren. Da wäre ein Abkommen im
Rahmen des Rechtsstaatsdialogs oder ein Programm zur
Unterstützung der Polizeiausbildung und -reform sicher
angemessener.
Das Verhältnismäßigkeitsprinzip ist im Abkommen
spezifisch erwähnt, ebenso die Einhaltung von Speicherfristen und das Verbot der Weitergabe übermittelter Daten. Das ist löblich, aber eben nicht zu kontrollieren. Man
muss sich schon fragen, ob man sensible Daten verantwortlich exportieren kann und wohin. Das Recht auf Auskunft und Einsicht und sogar auf Schadenersatz hilft wenig, wenn es in einem Land eingeklagt werden muss,
dessen Rechtssystem doch einige Wünsche offen lässt.
Ganz problematisch ist der Katalog der Straftaten, für
den dieses Abkommen gelten soll. Terroristische Taten
sind notorisch schwer zu definieren, Terrorismus liegt gewissermaßen im Auge des Betrachters. In so einem Abkommen haben auch sehr allgemeine Straftatbestände
bzw. Kategorien wie „Eigentumsdelikte“ oder „Schmuggel von Waren“ nichts verloren. Denn unter diese Überschriften fallen doch allzu viele Delikte.
Verschlimmert wird das alles durch das Wörtchen
„insbesondere“ - es wird also bei allen Straftaten zusammengearbeitet, der Katalog ist mehr Augenwischerei als
Einschränkung. Denn das bedeutet: Bei schwerwiegenden Straftaten wird immer zusammengearbeitet. Aber
eben auch bei nicht schwerwiegenden, sobald „organisierte kriminelle Strukturen“ erkennbar sind. Das ist für
den wie gesagt kaum kontrollierbaren Austausch von Daten eine viel zu weitgehende Fassung; denn es muss beispielsweise nicht belegt werden, dass organisierte Strukturen existieren, nicht einmal ein erhärteter Verdacht ist
gefordert. Das ist eine zu weiche Grundlage für den Datenexport. Und es wird im ganzen Abkommen nicht deutlich, welche Fälle hier abgedeckt werden, die im Rahmen
der Rechtshilfe bei der Strafverfolgung nicht erfasst sind.
Da ist zu befürchten, dass umfassend Daten getauscht
werden, gerade weil noch nichts konkret und erhärtet ist
und deshalb die Rechtshilfe nicht greift.
Zu Protokoll gegebene Reden
Es bleibt also bei den gleichen Mängeln: unklare Definition und viel zu weite Fassung der Gründe für den
Austausch von Daten, keine Möglichkeit, die Weiterverwendung der Daten zu kontrollieren, ein Versprechen auf
Rechtsweg und individuellen Schutz, das mangels eines
funktionierenden Rechtssystems aber kaum eingelöst
werden kann. Aus diesen Gründen können wir dem Abkommen nicht zustimmen.
Der Kampf gegen die organisierte Kriminalität und
den internationalen Terrorismus ist die vorrangige sicherheitspolitische Herausforderung unserer Zeit. Dieser
Herausforderung können wir - das liegt klar auf der
Hand - allein im nationalstaatlichen Rahmen nicht gerecht werden.
Die Tätergruppierungen sind häufig international zusammengesetzt. Sie agieren über die nationalen Grenzen
hinweg. Sie machen sich zunutze, dass im Zuge der Globalisierung die Möglichkeiten zu weltweiten Kommunikations-, Transport- und Kapitalbewegungen rasant zunehmen. Globalisierung eröffnet Menschen und
Unternehmen große Chancen. Sie eröffnet auch einige
Risiken, die nach politischer Gestaltung rufen.
Um mit der Entwicklung Schritt zu halten, bedarf es
enger, vertrauensvoller und rechtlich geordneter internationaler Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden,
Hierin liegt die zeitgemäße, die unabdingbare Antwort
auf die Internationalisierung krimineller Strukturen.
Ohne sie würden wir unserer Verantwortung für die Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger unter den Bedingungen der Globalisierung nicht gerecht werden können. Die Bürgerinnen und Bürger erwarten von uns zu
Recht, dass wir sie auch gegen solche Gefahren schützen,
die ihren Ursprung außerhalb unserer Grenzen haben.
Unsere nationale Verantwortung gebietet internationales
Handeln.
Sie wissen, dass die Bundesregierung einen Schwerpunkt ihrer internationalen Sicherheitspolitik auf Ebene
der Europäischen Union setzt. Wir engagieren uns gemeinsam mit unseren europäischen Partnern dafür, dass
im Europa der offenen Grenzen fortlaufend die grenzüberschreitende Zusammenarbeit in den Bereichen der
Strafverfolgung und Gefahrenabwehr verbessert wird.
Wir können hierbei - auch dies ist bekannt - auf beachtliche Erfolge zurückblicken, gerade aus der Zeit der deutschen EU-Präsidentschaft. Wir ruhen uns auf diesen Erfolgen nicht aus, sondern setzen uns entschlossen für den
weiteren Ausbau der europäischen Sicherheitsarchitektur
ein.
Die Bundesregierung engagiert sich darüber hinaus
aber auch - sie muss dies tun - bei der Fortentwicklung
der sicherheitspolitischen Zusammenarbeit mit Drittstaaten außerhalb der Europäischen Union. Die internationale Kriminalität macht bekanntlich an den Grenzen
Europas nicht halt. Internationale Sicherheitspolitik
muss dementsprechend über die Union hinausgreifen;
dieser Einsicht folgen übrigens auch unsere europäischen Partner.
Ein wichtiger Eckstein ist hierbei die bilaterale Vertragspolitik, die sich in den 90er-Jahren noch auf mittelund osteuropäische Staaten konzentrierte und die seit einigen Jahren den Nahen Osten und auch Asien einbezieht. In diesen Rahmen fügt sich das Regierungsabkommen mit Vietnam über die Zusammenarbeit bei der
Bekämpfung von schwerwiegenden Straftaten und der organisierten Kriminalität ein. Es liegt im deutschen Interesse, mit Vietnam - einem Land mit einer der weltweit
am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften - nicht nur
gute Handelsbeziehungen zu pflegen, sondern auch bei
der Kriminalitätsbekämpfung zusammenzuarbeiten.
Das Abkommen schafft konkrete Instrumente, um die
Zusammenarbeit mit Leben zu erfüllen. Es legt die zuständigen Behörden fest. Es regelt präzise die Verfahrenswege. Es definiert die einzelnen Felder der Zusammenarbeit. Den beteiligten Behörden wird so ein Bestand an
Regelungen an die Hand gegeben, mit denen sie praktisch
arbeiten können.
Das Abkommen regelt darüber hinaus - auch dies ist
nötig - die inhaltlichen Maßgaben, an denen sich die Zusammenarbeit zu orientieren hat. Das Abkommen folgt
hierbei selbstverständlich den rechtsstaatlichen Grundsätzen, die für unsere politische und rechtliche Ordnung
konstitutiv sind und die wir auch im Angesicht weltweiter
terroristischer und krimineller Gefährdungen nicht preisgeben dürfen. Ich darf in diesem Zusammenhang beispielhaft darauf verweisen, dass das Abkommen ein eigenes Datenschutzregime installiert und so sicherstellt,
dass die diejenigen grundrechtlichen Standards umgesetzt werden und Beachtung finden, die das Grundgesetz
vorgibt.
Durch die Inkraftsetzung des Abkommens mit der Sozialistischen Republik Vietnam leisten wir einen praktischen Beitrag zum Ausbau der internationalen Kooperation im Sicherheitsbereich und damit letztlich zur
Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger. Ich bitte daher um Ihre Zustimmung zu dem Entwurf des Vertragsgesetzes.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Innenausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9614, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 16/9277 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu
erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist mit den Stimmen von CDU/CSU und
SPD gegen die Stimmen der drei Oppositionsfraktionen
angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 18 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Brigitte Pothmer, Katrin Göring-Eckardt, Kerstin
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Neue Sicherheit für flexible Arbeitsverhältnisse
- Drucksachen 16/6436, 16/8191 Berichterstattung:
Abgeordneter Peter Rauen
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen, und zwar von den Kolleginnen und Kollegen Gitta Connemann, Angelika
Krüger-Leißner, Dirk Niebel, Kornelia Möller und
Brigitte Pothmer.
1930 warnte der Reichsbund Deutscher Kunsthochschüler vor den Risiken, den Beruf des Künstlers ergreifen zu wollen: „Der Künstlerberuf hat für den Fernstehenden etwas Verlockendes. … Doch abgesehen von
seltenen Ausnahmen gestaltet er sich in Wahrheit anders:
Mühevolles Aneignen des handwerklichen Könnens, Ringen mit der eigenen Begabung, Kampf gegen starke Konkurrenz, …, Verkennung und Verständnislosigkeit beim
Publikum, Schwierigkeiten und Entbehrungen aller Art,
allmähliches Herabsinken ins Künstlerelend, Berufswechsel oder Übernahme von minderwertiger Arbeit, nur
um das Leben zu fristen: solche Wirklichkeit bietet nichts
Verlockendes.“
An diesem Befund hat sich - relativ gesehen - bis heute
leider nicht alles geändert. Zwar gibt es inzwischen mit
der Künstlersozialversicherung eine weltweit einmalige
soziale Sicherung für selbstständige Künstler und Publizisten. Aber der Abschlussbericht der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ zeigt auch, dass die Einkommenssituation von Künstlerinnen und Künstlern nach
wie vor besorgniserregend ist.
Dennoch ließen und lassen sich Künstlerinnen und
Künstler nicht schrecken. Denn sie fühlen sich berufen zu schauspielern, zu musizieren, zu tanzen. Glücklicherweise! Künstlerinnen und Künstler sind nämlich das Fundament unseres einzigartigen kulturellen Lebens in
Deutschland. Ohne ihre Werke, ohne ihre Ausübung gäbe
es dieses nicht oder würde sich nur noch auf die Vergangenheit beziehen. Es ist deshalb unverzichtbar, für ihre
ausreichende soziale Sicherung zu sorgen - auch im Fall
der Arbeitslosigkeit von abhängig Beschäftigten in Kulturberufen.
Schon vor der Agenda 2010 hatten viele von diesen
keine Chance, Arbeitslosengeld I zu beziehen. Denn die
Anspruchsvoraussetzung, in drei Jahren zwölf Monate
sozialversicherungspflichtig gearbeitet zu haben, wurde
nicht erfüllt. Diese Situation hat sich durch die 2003 beschlossene Verkürzung der Rahmenfrist verschärft. Seit
2006 muss jeder Arbeitnehmer nun in zwei Jahren diese
sogenannte Anwartschaftszeit erfüllen.
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen nimmt diese besondere Situation der Versicherten in Kulturberufen zum
Anlass, den vorliegenden Antrag vorzulegen. Danach
sollen künftig geringere Beitragszeiten für alle, ich
betone, alle Arbeitnehmer zu einem Arbeitslosengeldanspruch führen. Zudem soll ein Anspruch auf eine Vermittlungspause eingeführt werden, während die Leistungsempfänger ausschließlich selbst für ihre Integration
verantwortlich sein sollen. Diesen Antrag lehnen wir, die
Mitglieder der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, ab. Denn
er setzt zum einen für alle Arbeitnehmer den fehlerhaften
Anreiz, Arbeitsverhältnisse zulasten der Beitragszahler
möglichst kurz zu halten. Zum anderen widerspricht die
Forderung nach Einführung einer Vermittlungspause
dem Grundgedanken, Arbeitslosigkeit durch intensive
Vermittlungsbemühungen möglichst zu vermeiden oder
zu verkürzen. Schließlich steht der vorliegende Antrag in
klarem Widerspruch zu einer Empfehlung, die von allen
Fraktionen des Deutschen Bundestages, also auch mit
den Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen, in der
Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ verabschiedet worden ist: nämlich eine spezifische gesetzliche
Ausnahmeregelung für Versicherte in Kulturberufen zu
schaffen.
Denn bei den Versicherten in Kulturberufen handelt es
sich um eine Berufsgruppe, die wegen der Ausgestaltung
der Beschäftigungsverhältnisse mit keiner anderen zu
vergleichen ist. Es handelt sich hier um ein spezifisches
Problem, das spezifisch gelöst werden muss, und nicht als
Anlass für eine grundsätzliche Änderung des Arbeitslosenversicherungsrechts zulasten der Beitragsgemeinschaft missbraucht werden darf. Künstler und Kulturschaffende insbesondere im Film- und Fernsehbereich
stehen regelmäßig nur in kurz befristeten Engagements
bei ständig wechselnden Arbeitgebern. Kennzeichnend
ist die Zweck-, nicht die Zeitbefristung: angestellt für eine
Produktion, egal wie lange diese dauert. Diese Versicherten sind vielfältigen Unwägbarkeiten ausgesetzt, die das
Fristende bestimmen - für sie unplanbar.
Ein Filmschaffender beschreibt diese Arbeitswelt in
einer E-Mail, die ich vor einer Woche erhielt, wie folgt:
Genau genommen werden wir jeweils nur solange angestellt, wie das Projekt gerade dauert, das heißt, von wenigen Tagen bis zu einigen Wochen. Nach der letzten
Klappe ist die Produktion beendet und wir stehen alle
wieder auf der Straße. Dann wird es für viele von uns wieder eine Zitterpartie geben, ob und wann ein weiteres
Filmprojekt hereinkommt. Dabei gibt es viele Unsicherheitsfaktoren: Probleme bei der Filmfinanzierung, Abhängigkeit von der Sendeplanung, Protagonistensuche,
Witterungsbedingungen usw.
Diese besondere Ausgestaltung der Beschäftigungsverhältnisse hat schon in der Vergangenheit dazu geführt,
dass Versicherte in Kulturberufen an vielen sozialen
Errungenschaften kaum Anteil hatten und haben. Ich
möchte dies am Beispiel der Situation von Film- und
Fernsehschaffenden deutlich machen. Filmschaffende
haben faktisch keine Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, da kranke Filmschaffende angesichts der kurzen Anstellungsphase gar nicht erst angestellt werden. Extrem
kurze Beschäftigungszeiten lassen so die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall für die meisten ebenso zu einer
theoretischen Erscheinung werden wie Leistungen in Gestalt des Mutterschafts- oder Elterngeldes. Denn auch
Schwangere werden in der Praxis nicht angestellt. Glei17960
ches gilt für Rehabilitationsmaßnahmen etc. Von einer
betrieblichen Altersversorgung können Filmschaffende
nur träumen. Auch gesetzliche Ansprüche auf Teilzeitarbeit oder gleitende Übergänge in den Ruhestand durch
Modelle der Altersteilzeit bleiben ihnen versperrt.
Die Versicherung gegen Arbeitslosigkeit war in der
Vergangenheit nahezu die einzige soziale Sicherung, die
Halt zu versprechen schien, und Sicherheit gegen eine
stete Existenzangst, geprägt von Fragen wie: Was kommt
nach der nächsten Produktion? Wird das Telefon klingeln? Tatsächlich ist dies übrigens ein Schein. Denn
Künstler und Kulturschaffende, die regelmäßig in nur
kurz befristeten Engagements bei ständig wechselnden
Arbeitgebern stehen, ist es nahezu unmöglich, die Anwartschaftszeit von zwölf Monaten zu erfüllen. Dazu
muss zum Beispiel ein Schauspieler entweder acht Hauptrollen in einer Filmproduktion oder aber zwei Hauptrollen in einer Serienproduktion spielen. Dies ist schon
faktisch in zwei Jahren, aber auch in drei Jahren ausgeschlossen. Auch das tariflich abgesicherte Zeitkontenmodell reicht nicht aus, um die erforderlichen Pflichtversicherungszeiten zu erreichen. Künstlerisch Tätige geraten
damit in die Situation, zwar Beiträge in die Arbeitslosenversicherung einzuzahlen, aber häufig keine Leistungen
aus dieser Versicherung zu erhalten. Die von der zentralen Bühne-, Film- und Fernsehvermittlung sowie von den
Künstleragenturen erbrachten Leistungen für Unterstützung, Beratung und Vermittlung sowie für Mobilitätskosten entfallen dadurch ebenfalls.
Wir sehen die Not vieler Künstler. Deshalb setzt sich
die CDU/CSU-Bundestagsfraktion beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales seit geraumer Zeit dafür ein,
eine spezifische gesetzliche Ausnahmeregelung für die
Versicherten der Kulturberufe zu schaffen. Eine solche
wurde von der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ schon 2005 angemahnt. Die Kommission hat auch
in ihrem Abschlussbericht im Dezember 2007 einstimmig,
mit den Stimmen aller Fraktionen, empfohlen, eine Sonderregelung für Kulturberufe mit wechselnden und befristeten Anstellungen entsprechend des sogenannten
Schweizer Modells zu schaffen. Dieser Abschlussbericht
ist von den Mitgliedern des Deutschen Bundestages fraktionsübergreifend angenommen worden.
Denn bei den Versicherten in Kulturberufen handelt es
sich um eine Berufsgruppe, die wegen der Ausgestaltung
der Beschäftigungsverhältnisse mit keiner anderen zu
vergleichen ist. Es handelt sich hier um ein spezifisches
Problem, das spezifisch gelöst werden muss. Hier bietet
sich die Regelung in der Schweiz an, die sich dort seit vier
Jahren praxiserprobt bewährt hat. Danach wäre die ermittelte Beitragszeit für die ersten 30 Kalendertage eines
befristeten Arbeitsverhältnisses zu verdoppeln - übrigens
nur die Beitragszeit, nicht die Beitragsbemessungsgrenze. Diese Regelung wäre für viele Künstler und
Kulturschaffende weitaus günstiger als die alte Rahmenfristregelung, und es würden mit wirklich geringen finanziellen Auswirkungen für die Beitragsgemeinschaft die
schlimmsten Verwerfungen beseitigt. Lassen Sie uns diesen Weg gemeinsam gehen.
Der Antrag der Fraktion der Grünen hat ein Problem
benannt, dessen Lösung auch meiner Fraktion ganz besonders wichtig ist. Hier wird ein Vorschlag unterbreitet,
der bei den problematischen Auswirkungen durch die
verkürzte Rahmenfrist Abhilfe schaffen soll. Betroffen davon ist die Gruppe der Beschäftigten, die in unsteten Verhältnissen arbeiten, also befristet, kurzfristig und mit
wechselnden Arbeitgebern. Typischerweise findet sich
dies im Kulturbereich, insbesondere bei Film und Fernsehen und beim Theater. Aber auch darüber hinaus überall dort, wo projektbezogen bzw. produktionsgebunden
gearbeitet wird. Die meisten Beschäftigten, auf die diese
Merkmale zutreffen, haben im Falle der Arbeitslosigkeit
trotz erbrachter Beitragszahlungen keine realistische
Chance auf Arbeitslosengeld. Das ist nach meiner Auffassung nicht hinnehmbar.
Ich kann der Zielstellung des vorliegenden Antrags,
eine Änderung für alle betroffenen Beschäftigten herbeizuführen, zustimmen. Wir brauchen endlich eine Lösung
für diese besonderen Arbeitsverhältnisse. Seit langem arbeite ich dafür. Und so hat sich auch bei mir nach unzähligen Gesprächen und Beratungen die Auffassung herauskristallisiert, dass das nicht mit einer spezifischen
Einzellösung sondern nur auf dem Wege einer Regelung
für alle betroffenen Versicherten machbar ist. Aber auch
hier gibt es unterschiedliche Lösungswege, auch bessere
als den hier vorgeschlagenen.
Im vergangenen November haben wir an dieser Stelle
bereits über diesen Antrag beraten. Und seitdem hat sich
einiges getan. Im Dezember hat die Enquete-Kommission
„Kultur in Deutschland“ ihren Schlussbericht vorgelegt.
Ein Schwerpunkt widmet sich der wirtschaftlichen und
sozialen Lage der Künstlerinnen und Künstler. In der entsprechenden Handlungsempfehlung wird eine Lösung für
die Kulturberufe gefordert. Seit Anfang des Jahres hat
das Ministerium für Arbeit und Soziales, BMAS, intensiv
geprüft, wie dieses Ziel gesetzlich umgesetzt werden
kann. Im Mittelpunkt stand dabei auch der Vorschlag der
Enquete-Kommission.
Dem Prüfergebnis können wir uns nicht verschließen.
Wir müssen zur Kenntnis nehmen: Die sozialversicherungsrechtlichen, verfassungsrechtlichen und verwaltungspraktischen Prüfungen haben ergeben, dass wir von
der ursprünglich ins Auge gefassten Sonderlösung für
den Kulturbereich - ich selbst hatte diesen Weg verfolgt Abstand nehmen müssen. Eine praktikable, umsetzbare
und vor allem rechtssichere Lösung des Problems können
wir nur erreichen, indem wir es generell anpacken. Die
verschiedenen Modelle für Sonderlösungen mögen sich
auf dem Papier gut lesen, entscheidend aber ist, was konkret umsetzbar ist. Hier muss man auch den Mut haben,
sich eines Besseren belehren zu lassen.
Das BMAS hat dazu inzwischen einen konkreten Vorschlag unterbreitet: Wir schaffen den Stein des Anstoßes
aus der Welt, indem wir die Verkürzung der Rahmenfrist
von drei auf zwei Jahre wieder rückgängig machen. Alle
maßgeblichen Verbände der ganz besonders betroffenen
Filmschaffenden haben das ebenso wie die Produzentenverbände begrüßt. Nur ein Schauspielerverband steht
Zu Protokoll gegebene Reden
dem Vorschlag reserviert gegenüber. Berufsgruppenspezifische Lösungen stellen in unserem historisch gewachsenen Sozialversicherungssystem ein grundsätzliches
Problem dar. Sonderlösungen anderer Länder lassen sich
deshalb nicht einfach übertragen. So unkompliziert sie
auf den ersten Blick erscheinen, so wichtig ist es doch,
sich mit den Einwänden im Einzelnen auseinanderzusetzen:
Erstens. Die Gruppe der betroffenen Kultur- und Medienschaffenden lässt sich nicht sauber abgrenzen. Es
wird immer Grenzfälle geben, die Anlass für Rechtsstreitigkeiten bieten.
Zweitens. Indem wir eine Sonderlösung für eine Berufsgruppe schaffen, rufen wir die anderen Branchen auf
den Plan, die auch ihre Probleme mit der Rahmenfrist haben. Das gilt für den gesamten Bereich der Saisonbeschäftigten im Tourismus, in der Gastronomie, in der
Land- und Forstwirtschaft.
Drittens. Nach Auskunft der Arbeitsagentur wäre der
Verwaltungsaufwand für eine Sonderregelung zum Beispiel nach dem Schweizer Modell in unserem Versicherungssystem immens. Dagegen könnten wir bei der generellen dreijährigen Rahmenfrist auf sowieso schon
vorgehaltene Daten zurückgreifen - der verwaltungstechnische Aufwand wäre vergleichsweise minimal. Das wäre
auch im Interesse des Bürokratieabbaus nur zu begrüßen.
Viertens. Eine Sonderlösung bietet keine Rechtssicherheit. Sie kann jederzeit beklagt werden. Dabei wird es von
Verfassungsjuristen als sehr fraglich eingeschätzt, ob sie
unter dem Aspekt der Gleichbehandlung Bestand hätte.
Diese Rechtsunsicherheit möchte ich keinem Kulturschaffenden zumuten.
Von diesen Argumenten musste ich mich überzeugen
lassen und ich komme zu dem Ergebnis: Angesichts der
mit einer Sonderlösung verbundenen Probleme und Unsicherheiten, die man nicht wegdiskutieren kann, ist eine
generelle Lösung die pragmatischere, bessere Lösung.
Dies gilt um so mehr, als es inzwischen zusätzliche gewichtige Argumente für eine generelle Lösung im Sinne
einer Rückkehr zur dreijährigen Rahmenfrist gibt: Vonseiten der Bayerischen Staatsregierung und der Hessischen Landesregierung ist an den Bund das Problem einer weiteren Betroffenengruppe herangetragen worden.
Eltern mit Mehrlingsgeburten und Eltern, deren Kinder
in kurzem Abstand zur Welt kommen, und die im Rahmen
der Familienförderung Erziehungszeiten in Anspruch
nehmen und dann arbeitslos werden, können trotz Beitragszahlungen keine Arbeitslosengeldansprüche geltend
machen, weil ihnen genau ein Jahr bei der Rahmenfrist
fehlt. Ein ähnliches Problem zeigt sich bei der Meisterausbildung. Hier müssen wir einfach reagieren und dürfen nicht die Augen verschließen oder alten Lösungsvorstellungen nachlaufen.
Die Gespräche mit unserem Koalitionspartner sind
noch nicht abgeschlossen. Seit Wochen ringen wir um
eine Lösung. Ich hoffe, dass wir zu einem Ergebnis kommen, das wir gemeinsam tragen können. Als filmpolitische Sprecherin meiner Fraktion ist mir dies vor allem im
Sinne der ganz besonders betroffenen Film- und Fernsehschaffenden wichtig.
Lassen Sie mich noch einmal zurückkommen zum vorliegenden Antrag der Grünen. Den hier vorgeschlagenen
Weg einer Verkürzung der Anwartschaftszeit von zwölf
auf vier Monate lehne ich aus den folgenden Gründen ab:
Erstens. Damit würden wir einen ganz falschen Anreiz
setzen. Das wäre zum Beispiel eine Aufforderung an die
Filmproduzenten, die Drehzeiten weiter zu verkürzen.
Das wäre nicht im Interesse der Arbeitnehmer in der
Film- und Fernsehbranche.
Zweitens. Außerdem entfiele damit der Druck auf die
Tarifpartner, zur Lösung dieses berufsspezifischen Problems auch durch tarifvertragliche Vereinbarungen selber beizutragen; denn mitnichten wird eine Rückkehr zu
drei Jahren Rahmenfrist alle Probleme dieser Arbeitsverhältnisse lösen können. Da muss noch viel mehr getan
werden.
Drittens. Wichtig ist mir auch der Hinweis, dass der
Vorschlag der Grünen die Versichertengemeinschaft unzumutbar belasten würde; denn aufgrund der Beitragsbemessungsgrenzen würden die Betroffenen unverhältnismäßig profitieren. Hohe Arbeitslosengeldleistungen
stünden relativ niedrigen Beitragszahlungen gegenüber.
Die Differenz müsste die Solidargemeinschaft tragen.
Das können wir nicht ernsthaft wollen.
Vor diesem Hintergrund und angesichts des vorliegenden Lösungsvorschlags, den auch das BMAS empfiehlt,
lehne ich den Antrag der Grünen ab. Wir haben einen
praktikablen, rechtssicheren und - nicht zu vergessen - finanzierbaren Vorschlag auf dem Tisch, der nur noch umgesetzt werden muss.
Anlässlich der ersten Beratung hier im Plenum sagte
der Kollege Bisky im Interesse einer schnellen Lösung für
die Betroffenen:
Alle Vorschläge, die Sie machen, um die soziale
Lage der Kreativschaffenden zu verbessern, werden
wir nach Kräften unterstützen.
Auch ich versteife mich nicht auf einen Weg. Mir ist jede
Regelung recht, die weiterhilft. Sie muss nur umsetzbar
und sicher sein. Ich bin überzeugt, auch die Grünen werden dem nicht widersprechen.
Die FDP-Bundestagsfraktion lehnt den vorliegenden
Antrag ab. Mit dem Antrag der Grünen sollen auch diejenigen, die nur wenige Monate im Jahr sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind, einen Anspruch auf Leistungen der Arbeitslosenversicherung haben. Dazu sollen
neue, kürzere Bezugszeiten eingeführt und die Dauer des
Arbeitslosengeldbezugs an die Beitragszeiten gekoppelt
werden. Weiterhin soll ein Anspruch auf eine befristete
Vermittlungspause im SGB III und SGB II eingeführt
werden, in der keine Teilnahme- oder Nachweispflichten
bestehen.
Wir lehnen eine Ausweitung der Leistungen der Arbeitslosenversicherung ab. Eine Koppelung der BezugsZu Protokoll gegebene Reden
zeiten für das Arbeitslosengeld an die Zeiten der Beitragszahlung ist schon im Ansatz verfehlt. Bei der
Arbeitslosenversicherung handelt es sich um eine Risikoversicherung, nicht um eine Ansparversicherung. Das bedeutet, dass man bei der Arbeitslosenversicherung nicht
aufrechnen kann, was man eingezahlt hat und was man
herausbekommt.
Wir brauchen für die Leistungsbezieher nicht noch
mehr Tatbestände für noch mehr Leistungen. Sie brauchen eine Perspektive, die zu Beschäftigung führt. Und
wir brauchen auch für diejenigen, die die finanzielle
Grundlage des Leistungsbezuges ermöglichen, eine andere Perspektive. Das sind die Menschen in der Mitte der
Gesellschaft. Die fragen sich nämlich zu Recht, warum
der Aufschwung bei ihnen nicht angekommen ist, wo der
Abschwung schon in Sichtweite ist. Sie müssen entlastet
statt immer weiter belastet werden. Dazu müssen alle
Spielräume genutzt werden.
Gerade wird wieder über die Senkung der Beiträge zur
Arbeitslosenversicherung diskutiert. Hier gibt es schon
lange weiteren Absenkungsspielraum, aber die schwarzrote Koalition will erst im Herbst entscheiden. Die Entlastung durch die letzte Beitragssenkung ist schon längst
aufgefressen. Höhere Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung sind bereits angekündigt. Die Sozialversicherungsbeiträge, die die schwarz-rote Koalition dauerhaft unter 40 Prozent senken wollte, bleiben folglich
weiterhin auf einem zu hohem Niveau.
Arbeitslose sollten aktiviert und vermittelt statt möglichst lange alimentiert werden. Fördern und Fordern war
als Begriffspaar in aller Munde. Diese Ziele wurden bisher
nicht erreicht, weil die notwendigen Rahmenbedingungen
nicht gesetzt wurden. Um mehr Arbeitsplätze zu schaffen,
müssen Steuern und Abgaben gesenkt, Bürokratie abgebaut
und arbeits- und tarifrechtliche Vorschriften gelockert werden. Wir fordern seit langem die Auflösung der Bundesagentur für Arbeit in ihrer jetzigen Form und die Neuordnung ihrer Aufgaben. Mit den Mitteln der Beitrags- und
Steuerzahler soll verantwortlich umgegangen und das Angebot an die Bedürfnisse der Arbeitslosen, Arbeitgeber und
Arbeitsuchenden angepasst werden. Das Zuständigkeitschaos, das die rot-grüne Koalition mit Arbeitsagenturen,
Kommunen und Arbeitsgemeinschaften angerichtet hat,
wird auch durch die freiwillige Zusammenarbeit in den kooperativen Jobcentern von Arbeitsminister Olaf Scholz
nicht beseitigt.
Die Bundesregierung hat drei Jahre Zeit, um nach dem
Urteil des Bundesverfassungsgerichts für eine neue Ordnung zu sorgen. Wir wollen, dass alle Arbeitslosen in
kommunalen Jobcentern aus einer Hand betreut und beraten werden, weil die Kommunen besser auf individuelle
Problemlagen und den regionalen Arbeitsmarkt reagieren können. In diesem Rahmen haben wir bei der Arbeitslosenversicherung neben Pflichtleistungen auch Wahltarife vorgesehen, mit denen die Bedürfnisse der
Betroffenen und einzelner Branchen individuell berücksichtigt werden können.
Ja, ich stimme dem vorliegenden Antrag insoweit zu,
dass heute insbesondere befristet Beschäftigte oftmals
ohne Absicherung in der Arbeitslosenversicherung bleiben, obwohl sie Versicherungsbeiträge abführen. Insbesondere Künstler, Kulturschaffende und Projektarbeitende mit kurzfristigen, unterbrochenen und befristeten
Projektbeschäftigungen sind deshalb im Falle von Arbeitslosigkeit in der Regel sofort auf Grundsicherungsleistungen des SGB II angewiesen. Für diese Beschäftigtengruppe muss deshalb eine faire Lösung gefunden
werden. Eine solche faire Lösung hat unsere Fraktion
bereits mit unserem Antrag „Anpassung der Sozialgesetzgebung für Kultur- Medien- und Filmschaffende“ vom
6. Juli 2007 vorgeschlagen. Eine Anwartschaft von fünf
Monaten hatten wir zur Diskussion gestellt.
In der Analyse zur gegenwärtigen Situation, speziell
zur Erosion des Normalarbeitsverhältnisses, möchte die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen augenscheinlich den
Anschein erwecken, als ob der sich vollziehende Prozess
einer Ausdifferenzierung und eines Wandels der Arbeitswelt mit Patchwork-Karrieren, unterschiedlichsten atypischen Beschäftigungsverhältnissen, „moderater und extremer Flexibilisierung“, ursachenlos sei. Das lasse ich
Ihnen so nicht durchgehen! Denn spätestens hier wird Ihr
Antrag unglaubwürdig, meine Damen und Herren von
den Grünen: Weil Sie zu den Ursachen dieser Entwicklung während ihrer „Mitregierungszeit“ von 1994 bis
2005 selbst beigetragen haben. Die Ursachen liegen
nicht schlechthin im Prozess der kapitalistischen Globalisierung und Produktivkraftentwicklung. Sie liegen darin, in welcher Art und Weise die Gesellschaft, die gesellschaftlichen Institutionen und die verantwortlichen
politischen Eliten, also Schwarz-Rot und zuvor Rot-Grün,
auf diese Entwicklungen reagieren. Und da gibt es deutliche Unterschiede in Europa!
In Deutschland haben Sie, die Abgeordneten von
Bündnis 90/Die Grünen, zusammen mit der SPD auf die
neoliberale Karte der Arbeitsmarktpolitik gesetzt - ganz
anders als zum Beispiel in einigen skandinavischen Ländern.
Mit Ihrem gemeinsam mit der SPD begonnenen und
von der Großen Koalition fortgesetzten Weg der Agenda
2010 und insbesondere den Hartz-Gesetzen - als angeblich alternativlose Lösung - haben Sie nicht nur die Situation der betroffenen Beschäftigten unzumutbar und existenzbedrohend verschärft. Sie haben atypischen und prekären Arbeitsverhältnissen auf der ganzen Linie zum
Durchbruch verholfen.
Sie haben alle Schranken bezüglich der Ausdehnung
von Leiharbeit niedergerissen, Sie haben die Umverteilung von unten nach oben in bisher nicht gekanntem
Tempo fortgesetzt, was der Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung mit erschreckenden Zahlen
belegt, Sie haben die Zahl derer, die trotz Vollzeitarbeit
nicht ohne Alimentierung ihre Existenz fristen können,
über die Millionengrenze getrieben, Sie haben die Zahl
derer, die trotz Vollzeitarbeit Hartz IV beantragen müssen, über die Millionengrenze getrieben und Sie haben
mit Hartz IV ein Angstinstrument von gigantischem AusZu Protokoll gegebene Reden
maß geschaffen, sodass die Kolleginnen, die noch Arbeit
haben, bereit sind, jede Arbeit anzunehmen, ist sie auch
noch so prekär.
Wenn Sie wirklich etwas für Gerechtigkeit und Fairness tun wollen, dann helfen Sie mit, den verhängisvollen
Weg der Hartz-Gesetze zu verlassen. Sie verändern damit
auch die Situation der Beschäftigtengruppe der Künstler,
Kulturschaffenden und Projektarbeitenden, um die es in
Ihrem Antrag geht.
Dringend notwendig ist eine einheitliche Arbeitsmarktpolitik, mit der die Trennung der beiden Regelkreise
von SGB II und SGB III aufgehoben und die diskriminierende Einteilung in zwei Gruppen von Arbeitslosen mit
unterschiedlichen Rechten und Pflichten beendet wird.
Ich zitiere aus dem Evaluationsbericht zur Hartz I bis II
Gesetzgebung von 2006:
Die Trennung der Trägerschaft arbeitsmarktpolitischer Leistungen nach den Rechtskreisen SGB II
und SGB III stellt aus Sicht der Wissenschaftler/-innen eine der größten Achillesfersen der deutschen
Arbeitsmarktpolitik dar. Bei den anvisierten politischen Korrekturen der Arbeitsmarktpolitik solle daher die Notwendigkeit einer einheitlichen, rechtskreisübergreifenden Arbeitsmarktpolitik und einer
entsprechenden Steuerung durch die Bundesagentur für Arbeit in den Mittelpunkt gerückt werden.
Angemahnt wird ein breiter öffentlicher Diskurs
darüber, wie aus gesamtgesellschaftlicher Sicht die
Zielsetzung der Bundesagentur für Arbeit im Bereich des SGB III aussehen sollte. Politisch entschieden und auch gesetzgeberisch stärker verankert werden müsse, ob die Bundesagentur für Arbeit
in der Arbeitsmarktpolitik eine sozialpolitische und
umverteilende Aufgabe wahrzunehmen habe oder
ob sie als eine rein nach betriebswirtschaftlichen
Prinzipien handelnde Versicherungsanstalt agieren
solle.
Sie, meine Damen und Herren von den Grünen, wollen
eine gerechtere Lösung für eine kleine Gruppe Hartz-IVBetroffener. Wie die bisherigen parlamentarischen Beratungen zeigten, will die Große Koalition nicht mal das akzeptieren. Sie könnten mit gutem Beispiel vorangehen.
Haben Sie etwas mehr Mut und gestehen Sie sich und uns
allen ein, dass die Hartz-Gesetze der falsche Weg waren.
Unsere Unterstützung haben Sie dabei!
Wir als Die Linke wollen eine gerechtere Lösung für
alle Erwerbslosen und alle von Erwerbslosigkeit Bedrohten. Wir, die Abgeordneten der Fraktion Die Linke, wollen
eine Arbeitsmarktpolitik ohne Hartz IV.
Die Große Koalition ist nicht in der Lage, vernünftige
Lösungen für die neuen arbeitsmarktpolitischen Probleme und Herausforderungen zu entwickeln und umzusetzen. Der Union geht es in der Arbeitsmarktpolitik nur
noch um Ideologie und Einsparungen, die SPD ist auf
Vergangenheitskurs. Während der Niedriglohnsektor in
Deutschland boomt und immer mehr Menschen trotz Arbeit arm sind, ergehen sich Union und SPD in endlosen
Koalitionsrunden und Streitereien. Die Einführung von
Mindestlöhnen in Deutschland wird verschleppt bis zum
St. Nimmerleinstag.
Auch auf die Frage der sozialen Absicherung bei zunehmend flexibleren Arbeitsverhältnissen hat die Koalition keine Antwort. Vor diesem Hintergrund ist es umso
beschämender, wenn Sie nicht einmal in der Lage sind
Lösungen, die auf den Tisch gelegt werden, zuzustimmen.
Das ist auch beim vorliegenden Antrag der Fall.
Worum geht es? Immer mehr Arbeitnehmer sind atypisch beschäftigt. Sie haben befristete Verträge, arbeiten
Teilzeit oder wechseln als Zeitarbeitnehmer häufig ihren
Arbeitsplatz. Betroffen sind zunehmend junge Menschen
in den verschiedensten Berufen. 53 Prozent der jungen
Beschäftigten hatten bereits in den ersten Jahren ihrer relativ kurzen Erwerbsbiografie mindestens einen befristeten Arbeitsvertrag - so das Ergebnis der Sonderauswertung des DGB-Index Gute Arbeit 2007 für unter
30-Jährige. Hinzu kommt die wachsende Gruppe der
Solo-Selbstständigen und die Gruppe derjenigen, die
diese Formen kombiniert oder im steten Wechsel mal auf
der einen, mal auf der anderen Basis arbeitet. Von ihnen
wird ein hohes Maß an Flexibilität verlangt. Ihr Erwerbsleben ist häufiger von Phasen der Arbeitslosigkeit unterbrochen. Dieser großen Unsicherheit und Diskontinuität
steht aber auf der anderen Seite kein genauso hohes Maß
an Sicherheit gegenüber. Denn unsere sozialen Sicherungssysteme orientieren sich immer noch am Normalarbeitsverhältnis. Die Situation der Kulturschaffenden ist
exemplarisch für diese Entwicklung. Schauspielerinnen
und Schauspieler werden häufig zwischen ihren verschiedenen Engagements arbeitslos. Ihre Einzahlzeiten in die
Arbeitslosenversicherung sind oft zu kurz, um daraus einen Anspruch auf Arbeitslosengeld zu erzielen. Denn wer
nicht innerhalb von zwei Jahren zwölf Monate einzahlt,
erhält nach der derzeitigen Gesetzeslage kein Arbeitslosengeld, mit all den damit verbundenen Konsequenzen.
Für Künstlerinnen und Künstler, aber auch für all die anderen Erwerbstätigen, von denen ein hohes Maß an Flexibilität gefordert wird und deren Jobs mit dem guten alten Normalarbeitsverhältnis kaum noch etwas zu tun
haben, müssen neue Instrumente der sozialen Sicherheit
entwickelt werden.
Im Bereich der Arbeitslosenversicherung schlagen wir
mit unserem Antrag eine neue Staffelung von Beitragsund Bezugszeiten vor. Wir wollen eine bessere Absicherung für all die Beschäftigten ermöglichen, deren Erwerbsleben zu häufig von Phasen der Arbeitslosigkeit unterbrochen ist, um nach den derzeitigen Regelungen
Arbeitslosengeld beziehen zu können. Alle, die vier Monate innerhalb von zwei Jahren in die Versicherung eingezahlt haben, sollen zukünftig einen Anspruch auf zwei
Monate Arbeitslosengeldbezug haben. Dieser Anspruch
steigt dann mit steigenden Beitragszeiten gestuft an.
Wenn zwölf Monate Beitragszahlungszeit erreicht sind,
greift die heute gültige Regelung. Mit unserem Antrag
wollen wir aber auch - über die Neuregelung der Beitrags- und Bezugszeiten im Rahmen des Arbeitslosengeldes hinaus - Freiräume schaffen, damit Menschen in Eigenregie so schnell wie möglich im Falle von
Arbeitslosigkeit einen neuen Arbeitsplatz finden. InsbeZu Protokoll gegebene Reden
sondere im Kreativ- und Projektbereich ist dies notwendig, damit qualifizierte neue Arbeitsgelegenheiten, Projekte und Aufträge akquiriert werden können. Jenseits
der straffen Regelungen der Arbeitsvermittlung setzen
wir - im Rahmen einer befristeten Vermittlungspause stärker auf Eigenverantwortung.
Die Ausschussberatung hat gezeigt, dass die Probleme, die für viele der flexibel Beschäftigten bei den derzeitigen Regelungen bestehen, von allen Fraktionen gesehen werden. Aber: Weder gibt es bei Union und SPD die
Bereitschaft, unsere Vorschläge zu einer neuen sozialen
Absicherung für flexible Arbeitsverhältnisse zu unterstützen, noch machen die Regierungsfraktionen eigene Vorschläge zur Lösung der arbeitsmarktpolitischen Herausforderungen.
Heinrich Schafmeister, Vorstandsmitglied des Bundesverbandes der Film- und Fernsehschauspieler hat kürzlich gegenüber der Presse erklärt: „Die Politik redet
ständig über Flexibilität, hat aber vergessen, adäquate
Regeln nicht nur für uns, sondern für alle Berufstätige zu
schaffen, die nur zeitweise festangestellt sind.“ Das gilt
zwar nicht für die gesamte Politik, wohl aber für
Schwarz-Rot.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Arbeit und Soziales empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/8191, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/6436
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU,
SPD und FDP gegen die Stimmen der Grünen bei
Stimmenthaltung der Linken angenommen.
Ich rufe Zusatzpunkt 6 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Maria Flachsbarth, Marie-Luise Dött,
Michael Brand, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU und der Abgeordneten
Dr. Hermann Scheer, Ulrich Kelber, Dirk Becker,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Hans-Josef Fell, Bärbel
Höhn, Winfried Hermann, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Gründung einer Internationalen Agentur für
Erneuerbare Energien ({0})
- Drucksache 16/9597 -
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu die-
sem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. - Sie
sind damit einverstanden. Also verfahren wir so. Die
Kollegen Maria Flachsbarth, Hermann Scheer, Michael
Kauch, Hans-Kurt Hill und Hans-Josef Fell haben ihre
Reden zu Protokoll gegeben.1)
1) Anlage 9
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU, der SPD und des
Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/9597.
Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Der Antrag ist mit den Stimmen von
CDU/CSU, SPD, Linken und Grünen bei Stimmenthaltung der FDP angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst
Friedrich ({1}), Patrick Döring, Joachim
Günther ({2}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Wettbewerb zwischen Bahn und Bus zulassen Parallelverkehr als Ablehnungsgrund im Personenbeförderungsgesetz abschaffen
- Drucksache 16/6435 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({3})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Tourismus
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, sind die Reden der Kollegen Klaus Hofbauer, Heinz Paula, Patrick
Döring, Dorothée Menzner und Anton Hofreiter zu Protokoll genommen.
Der Antrag der FDP-Fraktion, mit dem sie mehr Wettbewerb zwischen Bus und Bahn fordert, kommt mir sehr
bekannt vor.
Einen inhaltsgleichen, in weiten Teilen sogar wortgleichen Antrag hat die FDP-Fraktion bereits vor zwei Jahren gestellt. Die CDU/CSU hat den Antrag seinerzeit abgelehnt und zwar aus gutem Grund.
Erstens. Unser Ziel ist, mehr Verkehr auf die Schiene
zu bringen. Dieses Ziel haben wir mit der Bahnreform
1993/94 verfolgt. Dieses Ziel findet sich im Koalitionsvertrag. Dort heißt es ausdrücklich: „Deutschland
braucht leistungsstarke Schienenverkehrsunternehmen.“
Und dieses Ziel stand auch hinter der vor einem Monat
beschlossenen Bahnprivatisierung - ein Schritt, den Sie,
liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, tendenziell
begrüßt haben.
Zweitens. Die Auswirkungen des Vorschlags auf die
Bahn sind: Schwächung der Bahn, Streckenstilllegung
und höhere Preise. Die Bahn ist aufgrund der Angebote
von Billigfliegern bereits heute einem starken Konkurrenzdruck ausgesetzt. Die uneingeschränkte Zulassung
von Buslinien auf Strecken, die bereits von der Bahn hinreichend bedient werden, würde die Wirtschaftlichkeit des
Schienenverkehrs erheblich schwächen. Vor allem auf
den lukrativen Strecken würden der Bahn Fahrgäste entzogen. Die Folgen wären: Stilllegungen der unrentablen
Strecken sowie höhere Preise für die Kunden.
Aus diesen Gründen hat auch die gemeinsame Konferenz der für Verkehr und Straßenbau zuständigen Abteilungsleiter des Bundes und der Länder beschlossen, den
Konkurrenzschutz zugunsten der Eisenbahn beizubehalten.
Des Weiteren steht der Antrag der FDP im Widerspruch zu unseren oben genannten Zielen. Durch zusätzlichen, parallelen Busverkehr würde der Verkehr weg von
der Schiene und auf die Straße verlagert. Das Zeichen,
das wir mit einer solchen Regelung setzen würde, wäre:
„Mehr Verkehr auf die Straße“. Das steht unseren Zielen
diametral entgegen und kann auch nicht ernsthaft vonseiten der FDP-Fraktion gewollt sein.
Eine Folge dieser Verlagerung des Fernverkehrs von
der Bahn auf die Straße wäre, dass zur starken Belastung
auf den Autobahnen aufgrund des Lkw-Verkehrs eine Belastung durch den Busverkehr hinzukäme. Das würde zu
noch mehr Staus führen und das Unfallrisiko deutlich erhöhen.
Im Übrigen bemühen wir uns nach Kräften, die CO2Belastung in Deutschland zu reduzieren. Einen wichtigen
Beitrag hierzu leistet die verstärkte Verlagerung des Verkehrs auf die Schiene. Wenn diese Verlagerung nun durch
zusätzlichen Buslinienverkehr wieder rückgängig gemacht wird, konterkarieren wir unsere Bemühungen zur
CO2-Reduzierung in beispielloser Weise.
Drittens. Zu den Auswirkungen des Vorschlags auf das
Busgewerbe. Wenn die FDP-Fraktion meint, sie würde
mit ihrem Vorschlag den Busunternehmen einen Gefallen
tun, so irrt sie gewaltig. Zunächst muss bedacht werden,
dass die uneingeschränkte Zulassung paralleler Buslinienverkehre aus Gründen der Wettbewerbsgleichheit
auch die Einführung einer Mautpflicht für Busse erfordert. Die Bahn muss für ihre Verkehre Wegekosten zahlen,
die Lkw müssen Mautgebühren zahlen, und demnach
dürften auch die Busse aus Gründen der Gleichbehandlung nicht länger privilegiert werden. Die Konsequenz
aus dem Vorschlag der FDP wäre damit eine zusätzliche
Belastung für das Busgewerbe. Das ist mit uns nicht zu
machen.
Darüber hinaus erklären uns die Busunternehmen immer wieder, dass der Buslinienfernverkehr wirtschaftlich
nicht sehr sinnvoll ist. Das Marktsegment ist aufgrund attraktiver Flug- und Bahnangebote nicht sehr groß. Man
erhofft sich keine wesentlichen Steigerungsraten durch
eine Ausdehnung des Buslinienverkehrs vom Nah- auf
den Fernverkehr. Eine Änderung der derzeitigen Rechtslage ist daher überhaupt nicht notwendig.
Außerdem sollte einmal klargestellt werden, dass Parallelverkehr nach der derzeitigen Regelung im PBefG
durchaus möglich ist, zum Beispiel durch andere Taktfrequenzen. Auch macht die Regelung im Personenbeförderungsgesetz keinen Unterschied zwischen Nah- und Fernverkehr, und im Nahverkehr findet Parallelverkehr statt.
Das zeigt, dass eine Änderung der derzeitigen Rechtslage
nicht notwendig ist. Sie birgt, im Gegenteil, nur die Gefahr, dass große ausländische Busunternehmen den
Markt besetzen, dann auch in den Regionalverkehr vorstoßen und letztlich die kleinen deutschen Busunternehmen verdrängen.
Die Position der CDU/CSU zum wiederholten Antrag
der FDP-Fraktion hat sich nicht geändert.
Für uns ist klar: Wir wollen mehr Verkehr auf die
Schiene und keine Schwächung dieses Verkehrsträgers,
wir wollen weniger CO2-Ausstoß, und wir wollen das
deutsche Busgewerbe nicht gefährden.
Den Antrag der FDP-Fraktion lehnen wir aus diesen
Gründen ab.
Zum wiederholten Male kommen wir heute hier zusammen, um einen immer wieder leicht abgeänderten Antrag
der FDP-Fraktion zu diskutieren. Zum vierten Mal wird
an dieser Stelle der Antrag der FDP an die Ausschüsse
überwiesen werden, wo er zum wiederholten Male abgelehnt werden wird. Dieser Antrag fordert, einen Gesetzentwurf vorzulegen, in dem die Genehmigungspflicht
nach § 13 Abs. 2 PBefG so verändert wird, dass die
Wahrnehmung von Verkehrsaufgaben durch bereits vorhandene Verkehrsunternehmen - hier die Bahn - kein
Versagungsgrund mehr ist, Omnibuslinienfernverkehr
auf Parallelstrecken zuzulassen. Immerhin verlangen Sie
nicht mehr die komplette Streichung der Genehmigungspflicht nach § 13 Abs. 2, wie Sie es noch im Januar 2006
getan haben. Ihre Argumentation jedoch bleibt die gleiche, verehrte Kolleginnen und Kollegen der FDP.
Der Wettbewerb im öffentlichen Personenfernverkehr
werde Ihrer Meinung nach ausgeschlossen. Sie wollen
konkurrierende Busdienste zulassen, und zwar auch parallel zu bestehenden Bahnverbindungen. Sie glauben,
wenn ein Kunde nicht zig Alternativen hat, dass die Leistungen immer teurer und schlechter sein müssten. Sie argumentieren mit dem Einbruch im Personenfernverkehr
der Bahn 2003, als wegen des unglücklichen neuen Preissystems - da gebe ich Ihnen recht - das Fahrgastaufkommen um rund 10 Prozent zurückgegangen ist. Nun, die
Bahn hat das „neue“ Preissystem ziemlich schnell zurückgenommen. Zwischenzeitlich erfährt die Bahn auch
im Personenfernverkehr - nicht zuletzt wegen der anziehenden Spritpreise - eine rasant steigende Nachfrage. Im
gesamten Personenverkehr ist die Anzahl der beförderten
Personen von 2002 bis 2005 um 32 Prozent gestiegen.
Seit 2005 verzeichnet die DB AG jährlich einen Anstieg
um die 4 Prozent.
Die Bahn hat sich in den vergangenen Jahren zu einem
sehr erfolgreichen Unternehmen entwickelt. Von schlechten Leistungen - wie Sie sagen - kann keine Rede sein.
Die Bahn ist nach wie vor eines der umweltfreundlichsten, zuverlässigsten, sichersten und beliebtesten Verkehrsmittel überhaupt und wird von den Bürgerinnen und
Bürgern gut angenommen. Somit kann Ihre Argumentation für mich nicht gelten.
Aber auch der Omnibusverkehr hat in unserem Land
eine wichtige Funktion. Da gebe ich Ihnen recht. Der Bus
ist und bleibt ein ökologisch sinnvoller und sicherer Verkehrsträger, den es zu fördern gilt. Der Bus benötigt weniger als ein Drittel an Kraftstoff und emittiert proportional weniger CO2 als ein Pkw bei gleicher Auslastung
und ist damit umweltfreundlicher. Der Flächenbedarf ist
geringer.
Wie die Bahn ist auch der Bus ein sicheres Verkehrsmittel. Auch aufgrund schärferer Kontrollen gab es 2006
im Busverkehr keinen einzigen getöteten Insassen. Im
Zu Protokoll gegebene Reden
motorisierten Individualverkehr dagegen sind 5 091 Todesopfer zu verzeichnen. Der Omnibusverkehr bedient
Reisegruppen und Touristikunternehmen. Er bietet als Alternative zum Flugzeug und zur Bahn Mehrtagestouren
an. Dies ist eine Leistung, die weder das Flugzeug noch
die Bahn erbringen können. Der Omnibusverkehr ist zudem eine preiswerte Reisealternative für Menschen, die
sich keinen ausgedehnten Urlaub auf den Malediven oder
auf den Kanaren leisten können. Auch im öffentlichen
Personenfernverkehr hat der Omnibusverkehr eine wichtige Bedeutung, die oftmals unterschätzt wird.
Dort, wo die Bahn aus ökonomischen Gründen kein attraktives oder befriedigendes Angebot leisten kann, sind
nach § 13 PBefG Parallelverkehre zugelassen. Das heißt,
Konkurrenz ist nicht völlig ausgeschlossen. Ein neuer
Buslinienfernverkehr kann dann genehmigt werden,
wenn der Zielort nicht mit der Bahn erreichbar ist, oder
mehrere Umstiege die Reisedauer beträchtlich erhöhen.
Mit dieser Regelung ist ein gut funktionierender öffentlicher Personenfernverkehr gewährleistet - die Bürgerinnen und Bürger im öffentlichen Personenfernverkehr
werden gut bedient.
Nicht zuletzt leistet der Omnibus im ÖPNV und im
Schulbusverkehr hervorragende und wertvolle Dienste.
Ein funktionierender öffentlicher Personennahverkehr ist
ohne private Busunternehmen nicht vorstellbar. Insbesondere in Mittelstädten und ländlichen Regionen bilden
die Busunternehmen das Rückgrat des ÖPNV. Trotz wirtschaftlich schwieriger Zeiten in jüngster Vergangenheit
konnten die privaten Busunternehmen nach Angaben des
bdo ihre Passagierzahlen auf 551,7 Millionen Personen
steigern.
Sie setzen sich nun für eine Änderung des § 13 Abs. 2
PBefG ein. Dahin gehend, dass auch parallel zu bestehenden und gut funktionierenden sowie ausgelasteten
Bahnstrecken Omnibusverkehre zugelassen werden dürfen. Sie wollen die bedingungslose Öffnung des intermodalen Wettbewerbes im Personenfernverkehr. Der von Ihnen kritisierte § 13 Abs. 2 PBefG hat jedoch durchaus
seine Berechtigung. Er trägt der verkehrspolitischen Bedeutung des Schienenverkehrs Rechnung. Denn durch
diese Regelung wird verhindert, dass dem Schienenverkehr durch entsprechende Parallelangebote im Straßenverkehr Fahrgäste in erheblichem Umfang entzogen werden. Durch diese Regelung wird verhindert, dass die
Wirtschaftlichkeit des Schienenverkehrs geschwächt
wird. Wir haben - und das dürfen auch Sie nicht vergessen - die Gemeinwohlverpflichtung für einen funktionierenden öffentlichen Personenverkehr.
Auf der Grundlage des Grundgesetzes stecken wir sehr
hohe Summen in das Schienennetz und in eine funktionierende Infrastruktur. Alleine das Investitionsrahmenprogramm der Bundesregierung sieht zwischen 2006 und
2010 25,2 Milliarden Euro für den Neu- und Ausbau von
Schienenwegen vor. Das sind jährlich circa 5 Milliarden
Euro.
Was aber würde passieren, wenn man den Paragrafen
abschaffen bzw. ändern würde, wie Sie es verlangen? Zumindest auf Strecken mit hohem Fahrgastaufkommen ist
zu erwarten, dass zahlreiche parallele Busverkehre zu bestehenden Strecken angeboten werden. Der so entstehende Wettbewerb könnte die Eisenbahnen dazu verleiten, den Betrieb auf den dadurch unrentablen Strecken
einzuschränken oder nur auf Bestellung mit Zuschüssen
durch die öffentliche Hand durchzuführen. Unser ehemaliger Kollege Ali Schmidt nannte dieses Phänomen einst
Kannibalisierungseffekt zwischen Bus und Bahn - ich
gebe ihm da durchaus recht. Letztlich ginge dieser Effekt
zulasten der Allgemeinheit. Streckenstilllegungen wären
die Folge.
Es entstünde eine ähnliche Situation wie derzeit bei
den Billigfliegern - eine Entwicklung, die nicht nur in unserer Partei auf Bedenken stößt. Mittlerweile ist man sich
wohl parteiübergreifend einig, dass aus ökologischen Gesichtspunkten Billigfliegerei keine langfristige Zukunft
haben wird.
Die Gefahr verstopfter Straßen würde weiter anwachsen. Durch das hohe Verkehrsaufkommen stößt unsere
Verkehrsinfrastruktur schon jetzt an ihre Grenzen. Wir
haben soeben den Masterplan Güterverkehr aufgelegt,
um des stetig steigenden Güterverkehrsaufkommens Herr
zu werden. Zusätzlichen Verkehr auf der Straße können
wir uns nicht leisten.
Eine Aufhebung des Konkurrenzschutzes hätte zudem
negative Auswirkungen auf den Nahverkehr. Einige Nahverkehrsbeziehungen werden durch Fernverkehrszüge
mit abgedeckt. Fallen diese weg, wird auch der Nahverkehr nicht mehr entsprechend bedient. Es müssten im öffentlichen Personennahverkehr neue Zugverbindungen
geschaffen werden - oder wollen Sie allen Ernstes erhebliche Angebotsverschlechterungen herbeiführen?
Zusätzlich bestünde bei Wegfall des Konkurrenzschutzes die so häufig zitierte Gefahr des „Rosinenpickens“.
Unternehmen von Fernbuslinien werden sich auf wenige
Angebote nur zu attraktiven Zeiten beschränken. Die unattraktiven Zeiten blieben der Bahn vorbehalten, die so
kaum konkurrenzfähig bleiben kann. Auch hier verweise
ich wieder auf die hohen Investitionen, die der Bund jährlich in eine funktionierende Eisenbahninfrastruktur steckt.
Unserem Auftrag zur Gemeinwohlverpflichtung werden wir so nicht gerecht. Wir wollen, dass der Schienenverkehr leistungsstark und attraktiv bleibt - wie bisher.
Wir wollen eine Überlastung des Straßennetzes - nicht
zuletzt aus ökologischen Gründen - vermeiden. Deshalb
wollen wir den Verkehrsträger Schiene stärken. So haben
wir es im Koalitionsvertrag vereinbart. Dort ist zu lesen,
dass „der Schienenverkehr unverzichtbar ist, um das Verkehrswachstum der Zukunft ökonomisch effizient und
ökologisch verträglich zu bewältigen. Wir werden Wettbewerbsfähigkeit und Leistungsvermögen der Schiene
weiter stärken. Für den Erhalt und den Ausbau der Schienenwege müssen die Mittel deutlich erhöht und dauerhaft
auf dem erhöhten Niveau verstetigt werden.“ Dazu stehen
wir. Und § 13 Abs. 2 PBefG dient diesen Zielen.
Wie das in Verkehrsfragen häufig so ist, hat die EU
auch bei nationalen Entscheidungen immer ein Wörtchen
mitzureden. So auch in diesem Fall. Im März 2005 hatte
ich in meiner Rede zu einem ähnlichen Antrag der FDP
darauf hingewiesen, dass der fortschreitende OmnibusliZu Protokoll gegebene Reden
nienverkehr innerhalb der Europäischen Gemeinschaft
Veranlassung gibt, auch den nationalen Rechtsrahmen zu
überprüfen. Damals war die Überarbeitung der EG-Verordnungen 684/92 und 12/98 noch nicht begonnen - inzwischen werden sie im Rahmen des „Road Package“
neu gefasst und sollen zukünftig als „Verordnung über gemeinsame Regeln für den Zugang zum Personenkraftverkehrsmarkt“ fortgelten.
Nach derzeitigem Stand ist es wahrscheinlich, dass
künftig - mehr noch als heute - die Möglichkeit der Beschränkung von Kabotageverkehren von den jeweiligen
nationalen Vorschriften - wie eben auch unseren § 13
Abs. 2 PBefG - abhängen wird. Denn solche nationalen
Vorschriften zur Beschränkung von Parallelverkehren zu
existierenden Fernverkehrslinien - ob Bahn oder Bus dürften auch künftig diskriminierungsfrei auf ausländische
Unternehmen Anwendung finden können, die im Rahmen
einer grenzüberschreitenden Buslinie zwischen Haltestellen in Deutschland die Personenbeförderung - Kabotage anbieten wollen. Dies kann sowohl für bestehende Eisenbahnlinien wie für bestehende innerdeutsche Busfernlinien von besonderer Bedeutung sein, weil Verkehrsunternehmen mit ausländischem Sitz und ausländischem
Fahrpersonal zum Teil erhebliche Kostenvorteile gegenüber in Deutschland ansässigen Eisenbahn- und Busunternehmen mit in Deutschland ansässigem Fahrpersonal
haben. Dieser Ansicht sind im Übrigen auch die Länder.
Die Gemeinsame Konferenz der Verkehrs- und Straßenbauabteilungsleiter der Länder, die GKVS, hat sich bereits mehrfach mit der Frage auseinandergesetzt, ob an
dem Konkurrenzschutz im Busfernverkehr festgehalten
werden soll. Bisher tendierten die Länder im zweiten BundLänder-Fachausschuss Straßenpersonenverkehr - der
BLFA - dazu, den Konkurrenzschutz im Verhältnis BusBus aufzuheben und im Verhältnis Bus-Bahn beizubehalten. Die GKVS hat diesen Bericht zur Kenntnis genommen. Im März wurde zuletzt der Arbeitskreis „Bahnpolitik“ gebeten, gemeinsam mit den Betroffenen und
dem BLFA den Konkurrenzschutz nach § 13 Abs. 2 PBefG
vertieft weiterzubehandeln. Im Frühjahr 2009 können wir
mit Ergebnissen rechnen.
Bei den Vorbereitungen zu meiner Rede habe ich festgestellt, dass Ihre Forderungen von Antrag zu Antrag
kleiner wurden. Ich will nicht sagen, Sie sind bescheidener geworden. Vielleicht besteht ja die Hoffnung, dass wir
im kommenden Jahr auf einen Antrag zum gleichen
Thema verzichten können.
Stellen Sie sich bitte einmal folgende Regelung vor:
„Radwege sind nicht zu bauen, wenn es auf derselben
Strecke bereits eine Straße gibt.“ - Das ist unvorstellbar,
geradezu absurd! Da werden wir uns hier im Hause einig
sein.
Ebenso absurd ist aber die Regelung des § 13 Abs. 2
Nr. 2 Buchstabe a Personenbeförderungsgesetz, der die
Genehmigung von neuen Linienverkehrsverbindungen im
Fernverkehr unter den Vorbehalt stellt, dass der Verkehr
nicht schon durch bestehende Verkehrsmittel bedient werden kann.
Besonders deutlich durften wir alle die Auswirkungen
dieser Vorschrift im Verlauf des letzten Jahres erleben, als
die Eisenbahnen streikbedingt nicht fuhren und jegliche
Ausweichmöglichkeit im öffentlichen Personenfernverkehr - mit Ausnahme des Flugzeuges - fehlte. Und - das
muss hier berücksichtigt werden - nicht überall gibt es einen Flughafen. Und nicht auf allen Strecken ist Fliegen
sinnvoll. Gerade in dem stark frequentierten Bereich der
kurzen Fernverkehre bis zu einer Entfernung von 200 Kilometern macht Fliegen schon aus zeitlichen Gründen in
der Regel wenig Sinn. Dass viele Menschen im letzten
Sommer nicht von A nach B gekommen sind, lag nicht nur
am Streik der Lokomotivführer. Vielmehr ist es die aktuelle Fassung des Personenbeförderungsgesetzes, die verhindert, dass es in solchen Fällen Ausweichangebote
gibt. Diesen Missstand für die Zukunft zu beheben, ist der
eine wichtige Grund für den vorliegenden Antrag.
Ich komme gleich zum zweiten. Das Verbot von Parallelverkehren im öffentlichen Personenfernverkehr ist ein
protektionistischer Schutzwall für die Deutsche Bahn AG.
Der schienengebundene Fernverkehr liegt fast allein in
der Hand der DB. Wettbewerb auf der Schiene gibt es bei
diesen Verkehren so gut wie nicht.
Schon 1994 hatte sich unter dem Eindruck der Qualität der Leistungen von Bundesbahn und Reichsbahn aber
die Ansicht durchgesetzt, dass Wettbewerb den Schienenverkehr voranbringen würde. Wettbewerb führt zu höherer Qualität und niedrigeren Preisen; auch da wird sich
kaum Widerspruch regen. Im Schienennahverkehr und im
Güterverkehr keimt der Wettbewerb. Auch andere Branchen haben vorgemacht, wie sich der Wettbewerb positiv
für die Menschen auswirkt.
Das große Ziel der Bahnreform von 1994 war es deshalb ja, die Grundlage für echte Wettbewerbsbedingungen auf der Schiene zu schaffen. Auch wenn bei der Bahnprivatisierung für manche in den letzten Monaten
fiskalische Aspekte in den Vordergrund gerückt zu sein
scheinen - für die FDP-Fraktion gilt: Ziel der Bahnprivatisierung ist die Förderung von Wettbewerb, und wir
freuen uns über alle, die dieses Ziel auch weiter im Blick
haben und die Wege zu diesem Ziel in der Zukunft mitgehen. Aus diesem Grund wollen wir das Netz vom Verkehrsbetrieb trennen. Aus demselben Grund soll die Netzverantwortung komplett in staatlicher Hand bleiben. Ziel
all dieser Überlegungen - das sei noch einmal gesagt ist die Gewährleistung des fairen Wettbewerbs auf der
Schiene.
Wettbewerb darf es aber nicht nur innerhalb eines Verkehrsträgers geben. Wettbewerb muss auch zwischen den
Verkehrsträgern möglich sein. Und genau das verhindert
derzeit das Verbot für parallele Linienfernverkehre. Denn
Linienbusverkehre werden nicht neu genehmigt. Die wenigen noch existierenden Fernbuslinien fahren aufgrund
alter Genehmigungen. Dabei ist festzustellen: Die Ökobilanz der Fernbuslinien ist sehr gut. Nach Berechnungen
des Heidelberger IFEU-Instituts aus dem Jahr 2003 verursacht die Busreise einer Person auf der circa 500 Kilometer langen Strecke von Mannheim nach Prag einen
Kohlendioxidausstoß von gut 20 kg. Die Zugfahrt im EC
oder IC - noch nicht einmal im IGE - schlägt bereits mit
Zu Protokoll gegebene Reden
mehr als 40 kg zu Buche. Ein ähnliches Verhältnis ergibt
sich beim Primärenergieverbrauch. Auch der Preis für
eine Fahrt im Linienfernbus ist häufig erheblich geringer
als der Normalpreis für eine Zugfahrt in der zweiten
Klasse. Die Gründe, die für die Zulassung dieses Wettbewerbs sprechen, springen einen geradezu an.
Um es noch einmal deutlich zu sagen: Der Genehmigungsvorbehalt zugunsten bereits existierender Linienfernverkehre ist genau das Gegenteil dessen, was wir in
der Verkehrspolitik seit Jahren zu erreichen versuchen,
wofür wir - überwiegend gemeinsam - seit Jahren kämpfen. Deshalb appelliere ich an Sie, insbesondere auch aus
den Reihen der Großen Koalition: Beenden Sie mit uns
dieses absurde Wettbewerbshindernis, und freuen Sie sich
mit uns über einen weiteren Schritt hin zu mehr Wettbewerb im Personenfernverkehr!
Der Fleiß, mit dem die FDP vermeintliche Entbürokratisierungslücken entdeckt, ist zuweilen beeindruckend. Denn einmal mehr beglücken uns die Liberalen
hier mit einem sogenannten Entbürokratisierungsvorschlag und haben sich dieses Mal das Personenbeförderungsgesetz vorgenommen. Angestrebt wird die Liberalisierung des Busfernlinienverkehrs. Dieser ist derzeit
nach den Vorschriften des Personenbeförderungsgesetzes
ausgeschlossen, sofern er parallel zu Fernstrecken der
Bahn angeboten wird.
Angesichts der Tatsache, dass die Deutsche Bahn immer mehr Fernzüge und vor allem -strecken einstellt,
klingt es eigentlich verlockend, parallele Ersatzverkehre
durch Busse anzubieten. Selbst Sie, werte Kolleginnen
und Kollegen von der Fraktion der Grünen, hatten schon
im März 2006 einen entsprechenden Antrag in den
Bundestag eingebracht, dass PbfG dahin gehend zu
novellieren, Fernlinienbusverkehr zu ermöglichen.
Doch die Krux des Fernverkehrs in Deutschland liegt
nicht in der nicht vorhandenen Konkurrenz, sondern darin, wie wir mehr Verkehrsanteile für den öffentlichen
Verkehr generieren können. Die Konkurrenz bewegt sich
in der Tat auf der Straße; allerdings in privaten Pkw.
Leider entspricht der Antrag der Bündnisgrünen ebensowenig den Vorstellungen meiner Fraktion wie der
FDP-Antrag.
Eine Anmerkung dazu möchte ich mir an dieser Stelle
jedoch erlauben, nämlich dass der öffentliche Personenverkehr bis zu den massiven Spritpreiserhöhungen der
letzen Wochen ständig Marktanteile an den Pkw verloren
hat. Die Ursache dafür liegt jedoch nicht in der mangelnden Konkurrenz der verschiedenen öffentlichen Verkehrsträger bzw. -mittel, sondern eher in den Kürzungen der
Finanzmittel für Verkehrsleistungen im öffentlichen Nahund Fernverkehr.
Gerade weil die Deutsche Bahn AG die Auflage hat,
Fernverkehre eigenwirtschaftlich zu erbringen, was weltweit ohnehin kaum irgendwo gelingt, kann sie aus betriebswirtschaftlicher Sicht durchaus gezwungen sein,
wenn es an Unterstützung durch öffentliche Mittel fehlt,
Züge einzustellen. Das muss ich auch als linke Abgeordnete eindeutig feststellen.
Also sollten wir schauen, wie wir den bundesweiten
Fernverkehr ins richtige Gleis bringen; mit einem Schienen-Fernverkehrsgesetz, über das noch im Bundestag zu
reden sein wird.
Gehen wir von dieser Prämisse aus, dann erübrigen
sich im Prinzip Gesetzentwürfe zur Einführung von mehr
Konkurrenz zur Bahn.
Daraus kann ich nur eine Schlussfolgerung ziehen:
Nicht die Konkurrenz der verschiedenen öffentlichen Verkehrsmittel und -träger muss in den Fokus unserer Überlegung gerückt werden, sondern die Frage, wie wir den
öffentlichen Personenverkehr insgesamt stärken können.
Wir haben also zu überlegen, wie wir, zum Beispiel auf
dem Wege von Ausschreibungen auch im Fernverkehr, zu
einem insgesamt besseren Angebot kommen. Ob dies zuweilen auch von Bussen erbracht werden könnte, sei hier
einmal dahingestellt.
Doch davon steht weder etwas im Antrag der FDP
noch in dem der Bündnisgrünen. Beiden Fraktionen geht
es in ihren Anträgen nur um eine Öffnung des Marktes zuungunsten der Bahn. Das können und wollen wir als
Linke nicht mittragen.
Durch mehr künstliche Konkurrenz auf der Straße
bringen wir den Fernverkehr nicht weiter. Sie ist eher
kontraproduktiv. Daher lehnt die Fraktion Die Linke
auch die Vorschläge der Grünen zur Novellierung des
Personenbeförderungsgesetzes ab.
Trotzdem wollen wir uns der Tatsache nicht verschließen, dass der Bus Lücken füllen kann, die die Bahn auf
dem von der Regierungspolitik gewollten Weg zur Börsenfähigkeit aufreißen musste. Schließlich fährt die Bahn
heute bereits gemeinsam mit privaten Unternehmen im
Berlin-Linienbusverkehr, zum Beispiel nach Hamburg,
und zwar in Konkurrenz zum eigenen ICE- und IC-Verkehr.
Nur dort, wo der Fernverkehr Angebotsbrachen hinterlassen hat, zum Beispiel in vielen ostdeutschen Regionen, sollten wir das Einrichten von Fernbuslinien temporär zulassen, um die Lücken zu schließen; dann aber bitte
nicht in einem deregulierten Wettbewerb. Das lehren die
negativen Erfahrungen aus Großbritannien.
Wenn die Vorschläge zu einer Änderung des Personenbeförderungsgesetzes in diese Richtung gegangen wären,
hätte die Linke ihnen gern zugestimmt. So bleibt es bei unserem Nein zum vorliegenden Antrag der FDP.
Die FDP hat unter Drucksache 16/6435 einen Antrag
eingebracht, der vorsieht, dass Parallelverkehr zur Bahn
als Ablehnungsgrund im Personenbeförderungsgesetz
abzuschaffen sei.
Der geltende Rechtsrahmen sieht nach dem Personenbeförderungsgesetz die Genehmigungspflicht für Buslinienverkehre vor. Die Genehmigung ist zu versagen,
wenn der Verkehr mit den vorhandenen Verkehrsmitteln
Zu Protokoll gegebene Reden
befriedigend bedient werden kann oder der beantragte
Verkehr ohne eine wesentliche Verbesserung der Verkehrsbedienung Verkehrsaufgaben übernehmen soll, die
vorhandene Unternehmer oder Eisenbahnen bereits
wahrnehmen.
Im liniengebundenen Personenfernverkehr verhindert
die gesetzliche Regelung Parallelverkehre bzw. Konkurrenz zwischen Bahn und Omnibus. Innerhalb Deutschlands gibt es bis auf Ausnahmen wie den Verkehr von und
nach Berlin, der in der Zeit der Insellage Berlins
entstand, oder Zubringerverkehre zu Flughäfen keinen
Linienfernverkehr mit Omnibussen. Da die Deutsche
Bahn AG bis auf nicht ins Gewicht fallende Ausnahmen
alleiniger Anbieter von Fernverkehrsleistungen auf der
Schiene ist, schützt diese Regelung de facto die DB vor
Konkurrenz auf der Straße. Betrachtet man den gesamten
Fernverkehrsmarkt, schützt die Regelung aber auch
andere Verkehrsleistungsanbieter wie Mitfahrzentralen
oder Billigflieger. Die DB muss sich heute schon der Konkurrenz des Flugzeugs, des Autos und des Reisebusses
stellen. Ob und wie sie das bewerkstelligt, ist eine andere
Frage. Der Schutz vor einem bestimmten Konkurrenten
ist zumindest unsystematisch.
Im Nahverkehr verhindert die gesetzliche Regelung
Parallelverkehre zwischen unterschiedlichen öffentlichen Verkehrsmitteln, die alle mehr oder weniger staatlich direkt mitfinanziert werden. Die Regelung verhindert
die Konkurrenz um Betriebskostenzuschüsse. Die Kannibalisierung des Schienenpersonennahverkehrs durch den
bahneigenen Busverkehr hat sie nicht verhindert. Beim
Fernverkehr stellt sich die Situation anders dar. Der DBFernverkehr soll eigenwirtschaftlich erbracht werden.
Vom Bund gibt es keinen Betriebskostenzuschuss. Im
Fernbusverkehr gibt es auch keine direkten Zuschüsse.
Wenn im Schienenpersonenfernverkehr durch Entwicklungen auf europäischer Ebene Wettbewerb durch
den Markteintritt anderer Bahnen stattfindet, verändert
das die Konkurrenzsituation wesentlich stärker als die
Zulassung des Linienbusfernverkehrs.
Wettbewerb auf der Schiene im Nah- und Fernverkehr
ist möglich, wenn auch bisher in unterschiedlicher Intensität. Die Angebotsqualität zumindest im Nahverkehr hat
sich verbessert. Dies hat nicht nur damit zu tun, dass
mehr Geld für den SPNV seit Beginn der Bahnreform zur
Verfügung steht, sondern dass es neue Anbieter gibt.
Wettbewerb mit dem Fernlinienbus könnte ansatzweise
ebenfalls positive Effekte haben.
Dass die Konkurrenz des Fernlinienbusses der Bahn
derart zusetzen kann, dass die Bahn ihr Angebot zurücknehmen muss, ist nicht zwingend. Die Bahn hat auch ohne
Buskonkurrenz Marktsegmente im Fernverkehr zurückgefahren, zum Beispiel InterRegio und Tagesrandlagen.
Wenn zukünftig der DB-Fernverkehr auch eigentumsrechtlich privatisiert wird, würde der Staat bei Aufrechterhaltung des faktischen Verbots des Fernbuslinienverkehrs sogar einen privaten Anbieter vor Konkurrenz
schützen.
Für liniengebundenen Fernbusverkehr gibt es wahrscheinlich einen Markt. Der DB-Fernverkehr bedient
selbst Städte mit mehr als 100 000 Einwohnern nicht.
Viele Mittelstädte werden nicht vom DB-Fernverkehr bedient. Viele Fernverkehrshalte werden nicht umsteigefrei
miteinander verbunden. Flughäfen und Flugverkehrsangebote weisen eine noch geringere Flächendeckung auf
als der Bahnfernverkehr. Auch in preislicher Hinsicht
sind andere Angebote zu erwarten. Bei der Betrachtung
des DB-Fernverkehrsangebots könnte man vermuten,
dass die Angebotsqualität fehlendem Wettbewerb geschuldet ist.
Die Ermöglichung von Konkurrenz zwischen Bus und
Bahn im Bereich des Personenfernverkehrs ist aus unserer
Sicht an die Aufstellung fairer Wettbewerbsregeln zu binden. Das beinhaltet im Bereich der Wegekostenentgelte,
dafür zu sorgen, dass nicht nur die Bahn Trassenentgelte
bezahlen muss, sondern dass für den Bus auch Maut zu
entrichten ist. Nach dem geltenden Autobahnmautgesetz
ist der Bus von der Autobahnmaut befreit. In Österreich
zahlt der Bus Maut. Eine negative Auswirkung auf die
Busunternehmen und den Busreiseverkehr ist mir nicht
bekannt.
Im Berlinverkehr macht sich die Deutsche Bahn mit
der eigenen Busflotte Konkurrenz. Mit der Konkurrenz im
eigenen Haus hat die Bahn ja reichlich Erfahrung, wie
der Güterverkehrsbereich mit Schenker und Railion
schön zeigt. Aus Reihen der Bahn dürfte also nicht mit
qualifizierter Kritik an der Ermöglichung des bundesweiten Fernlinienbusverkehrs zu rechnen sein.
Zumindest im Bereich des Fernlinienbusses, der keine
staatlichen Zuschüsse bekommt, ist eine Änderung der
Versagungsgründe sinnvoll. Im Bereich des Nahverkehrs
erscheint eine Aufweichung des Versagungsgrundes Parallelverkehr zwar nicht sinnvoll. In der Vergangenheit hat
dieser Versagungsgrund aber nicht verhindert, dass die
DB sich selbst mit Bussen im Nahverkehr keine Konkurrenz gemacht hat. Sie hat trotz des Versagungsgrundes
Möglichkeiten gefunden, stilllegungsbedrohte Strecken
durch Konkurrenz auf der Straße bei gleichzeitiger Verringerung des Zugangebotes noch schneller stillzulegen.
Intelligente ÖPNV-Aufgabenträger brauchen diesen Versagungsgrund auch nicht.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/6435 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe die Zusatzpunkte 7 und 8 auf:
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Andreas
Jung ({0}), Marie-Luise Dött, Michael
Brand, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU und der Abgeordneten Frank
Schwabe, Marco Bülow, Dirk Becker, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD und der
Abgeordneten Michael Kauch, Angelika
Brunkhorst, Horst Meierhofer, Dr. Guido
Westerwelle und der Fraktion der FDP sowie der
Abgeordneten Bärbel Höhn, Hans-Josef Fell,
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Cornelia Behm, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Internationalen Klimaschutz sichern - Integri-
tät und Wirksamkeit der CDM-Projekte wei-
ter verbessern
- Drucksache 16/9598 -
ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Eva
Bulling-Schröter, Dr. Gesine Lötzsch, Monika
Knoche, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Unterlaufen von Klimaschutzzielen durch
CDM-Projekte beenden
- Drucksache 16/7752 -
Interfraktionell ist vereinbart, den Antrag der Fraktion
Die Linke auf Drucksache 16/7752 mit dem Titel „Un-
terlaufen von Klimaschutzzielen durch CDM-Projekte
beenden“ heute abschließend zu beraten und insoweit
die in der 136. Sitzung am 17. Januar 2008 beschlossene
Überweisung an die Ausschüsse rückgängig zu machen. -
Sie sind damit einverstanden. Dann verfahren wir so.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu die-
sen Tagesordnungspunkten zu Protokoll zu geben. - Sie
sind damit einverstanden. Dann verfahren wir so.
Andreas Jung, Frank Schwabe,1) Michael Kauch, Eva
Bulling-Schröter und Bärbel Höhn haben ihre Reden zu
Protokoll gegeben.2)
Wir kommen zunächst zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen von CDU/CSU, SPD, FDP und
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/9598. Wer
stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen des Hauses bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen.
Zusatzpunkt 8: Abstimmung über den Antrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/7752. Wer
stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen von CDU/
CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der Linken bei
Enthaltung der Grünen abgelehnt.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 24 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Behm, Undine Kurth ({1}), Bärbel
Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Das Bundeswaldgesetz novellieren und ökologische Mindeststandards für die Waldbewirtschaftung einführen
- Drucksache 16/9450 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({2})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
1) Der Redebeitrag wird im nächsten Plenarbericht abgedruckt.
2) Anlage 10
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, sind die Reden der Kollegen Hans-Heinrich Jordan, Gerhard Botz,
Christel Happach-Kasan, Kirsten Tackmann und
Cornelia Behm zu Protokoll genommen.
Deutschland gehört zu den waldreichsten Ländern in
der Europäischen Union. Mit circa 11 Millionen Hektar
ist nahezu ein Drittel der Fläche unseres Landes mit Wald
bedeckt. Dabei ist unser Land zugleich einer der am dichtesten besiedelten Flächenstaaten auf der Welt. Der Wald
ist heute mehr denn je auch ein Wirtschaftsfaktor. Fast
2 Millionen Waldbesitzer, circa 185 000 Betriebe mit
1 Million Beschäftigten und einem Umsatz von über
100 Milliarden Euro sprechen für sich.
Der Schutz des Waldes bedarf aber auch einer wirtschaftlich ertragreichen Forstwirtschaft. Sie steigert zudem die Attraktivität der ländlichen Räume, zu der auch
der Erhalt der kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen
Funktion des Waldes gehört. Er steht maßgeblich für viele
natürliche Funktionen wie Klimaschutz, Schutz des Wasserhaushaltes, Hochwasserschutz und Schutz der ökologischen Vielfalt. Die Waldbesitzer haben ein ureigenes Interesse daran, den Wald nachhaltig zu bewirtschaften.
Die deutschen Forstwirte pflanzen deshalb überwiegend
Baumarten der natürlichen Waldgesellschaft. Die Ergebnisse der Bundeswaldinventur aus dem Jahr 2002 sind
ein Beleg der erfolgreichen Arbeit. Seit 1970 ist der Laubbaumbestand von 29 Prozent auf 39 Prozent gestiegen.
Deutschland hat mit einem Holzvorrat von mehr als
2 Milliarden Quadratmeter den größten Bestand in der
Europäischen Union.
Die vorliegenden Studien zum Waldbestand und zur
Waldgesundheit deuten darauf hin, dass die deutschen
Waldbauern nach wie vor große Aktivitäten darauf richten müssen, die „Waldgesundheit“ zu erhöhen. Trotz aller
meist ideologisch motivierten Chaostheorien gibt es in
Deutschland auch weiterhin gute Voraussetzungen für einen gesunden, wirtschaftlich wertvollen Waldbestand.
Entscheidend ist dafür die ordnungsgemäß betriebene
Forstwirtschaft, die als gute fachliche Praxis ausgeübt
wird. Der vorliegende Antrag der Grünen spiegelt in keiner Weise die reale Situation in der deutschen Forstwirtschaft wieder.
Die Forstwirte nutzen seit Jahrhunderten wissenschaftliche Erkenntnisse zur ordnungsgemäßen Forstwirtschaft. Der Ausbildungsstand unserer Forstwirte basiert auf einem hohen Niveau. Die Betreuung der
Waldbesitzer bzw. des deutschen Waldbestandes wird auf
vielfältige Weise durch staatliche und private Fachinstitutionen betrieben. Dazu gibt es ein umfangreiches länderspezifisches Organisationssystem. In hervorragender
Weise haben die Forstwirte stets auf die sich veränderten
Einflüsse dynamisch reagiert und insbesondere die Vorgaben des Bundeswaldgesetzes und die der Ländergesetze in die Praxis umgesetzt.
Das Bundeswaldgesetz hat sich insgesamt bewährt, es
bietet ausreichend Raum, um auch auf die neuen gesellschaftlichen, klimatischen, ökologischen und vor allem
wirtschaftlichen Veränderungen reagieren zu können.
Die im Grünen-Antrag geforderten massiven Einschnitte
stellen durch bürokratische Vorgaben die fachliche Qualität und Handlungsfähigkeit der deutschen Forstwirte
infrage, aber insbesondere auch die eigentumsrechtlich
geschützten Werte. Teilweise blitzen in den Forderungen
enteignungsgleiche Akte gegen die Waldbesitzer bzw. den
Waldbesitz durch.
Der vorliegende Antrag übersteigt bei weitem die in
§ 5 Bundesnaturschutzgesetz vorgesehenen Ziele und
Praktiken einer ordnungsgemäßen Forstwirtschaft. Bundeswaldgesetz und Naturschutzgesetz ergänzen sich
schon heute in praxisrelevanter Weise und bieten Handlungsspielraum zur Entwicklung der im Bundeswaldgesetz beschriebenen Aufgaben.
Mit diesem Antrag soll die Bundesregierung aufgefordert werden, die Forstwirtschaft in ein enggezurrtes, starres, handlungsunfähiges Korsett zu zwängen. Ich vertraue gerne den Experten, insbesondere den gelernten
und studierten Forstwirten, die mit ihrem Berufsethos, ihren fundierten Erfahrungen einen kompetenten und korrekten Umgang mit dem Kulturgut Wald garantieren. Der
Wald an sich und dessen Bewirtschaftung sind nicht die
entscheidende Ursache für Schäden und Kalamitäten,
sondern von außen einwirkende Faktoren wie Umweltverschmutzung, Zersiedlung usw. haben zu Ausnahmesituationen und Problemen geführt.
Der deutsche Wald und dessen Bewirtschafter bzw.
dessen Eigentümer sind auf wissenschaftlich begründete
wirtschaftliche Maßnahmen angewiesen. Dies gilt auch
für die vielfältigen Nutzungsmöglichkeiten der Holzproduktion. Sie steht nicht im Widerspruch zur ordnungsgemäß betriebenen Forstwirtschaft, sondern ist notwendige
Voraussetzung für finanzielle Rentabilität in den Forstbetrieben. Daher muss es bei nachhaltiger Nutzung standortgerechte Entscheidungen zur Bewirtschaftung und
Nutzung geben.
Mit der Föderalismusreform I wurden bewusst den
Ländern mehr Gestaltungsräume und mehr Kompetenzen
bei der Waldgesetzgebung zugesprochen. In allen Ländern ist ihre Eigenverantwortung an die gute forstwirtschaftliche Praxis zukunftsorientiert festgelegt. Eine
Novellierung des Bundeswaldgesetzes würde in die Kompetenzen der Länder restriktiv eingreifen und deren Verantwortung konterkarieren. Unausweichlich führt dies
zum Wachsen von Bürokratie, staatlicher Überwachung
und gezielter Planwirtschaft. Ein Kernziel unserer Regierungsarbeit ist die Reduzierung der Bürokratie. Verbotsstrategien, wie hier vorgeschlagen, bewirken das Gegenteil. Natürlich bedingt vor allem die gesellschaftliche
Entwicklung Eingriffe und Veränderung in der Rechtsetzung. Daher unterstütze ich aufgrund der sachlichen Notwendigkeit, dass im Rahmen eines Artikelgesetzes wichtige Sachzusammenhänge klargestellt bzw. neu geordnet
werden. Dies betrifft insbesondere die Zuordnung von
Kurzumtriebsplantagen und Agroforsten als Form landwirtschaftlicher Bodennutzung, die nichts mit nachhaltiger Waldbewirtschaftung zu tun haben.
Im Weiteren sind die Beschränkungen zur Tätigkeit
forstwirtschaftlicher Vereinigungen aufzuheben. In Angleichung an die Vorschriften der Forstbetriebsgemeinschaften sind neue Aufgabenkataloge zu bestimmen. Zugleich ist aufgrund der Neuorganisation der Bundes- und
Landesforstverwaltungen in andere Rechtsformen eine
neue Bestimmung der Stellung des Staatswaldes notwendig.
Des Weiteren erfordern internationale Berichtspflichten zu Waldinventuren, dass neue Rechtsnormen zu statistischen Erhebungen gesetzt werden. Im Bundeswaldgesetz sollte die Forderung nach einer qualifizierten
Betreuung durch Fachkräfte in Staatsforsten und kommunalen Forsten festgeschrieben werden.
Abschließend möchte ich noch einmal feststellen, dass
der vorliegende Antrag weit an der grundgesetzlich gesicherten Unabhängigkeit der Länder und Waldbesitzer
und an den Erfordernissen der Waldbewirtschaftung vorbeigeht.
Zahlreiche Diskussionen zur Nutzung regenerativer
Energieformen rücken auch den Wald und den damit verbundenen Rohstoff Holz ins Licht der Öffentlichkeit. Die
Fraktion der Grünen springt hier mit Leichtigkeit auf den
bereits rollenden Zug auf. Eine Novelle des Bundeswaldgesetzes ist keine große Neuigkeit, sondern bereits schon
seit längerer Zeit in der Diskussion und wird auch bereits
auf verschiedenen Ebenen bearbeitet.
Zentrale Punkte finden sich auch im vorliegenden Antrag wieder. Völlig unstrittig - und das sogar fraktionsübergreifend - sind die Forderungen zu den Aufgaben der
forstbetrieblichen Gemeinschaften. Hier stimme ich mit
dem Antrag überein. Gerade im Kleinprivatwald können
noch bisher völlig ungenutzte Holzvorräte erschlossen
werden. Wichtig ist hier eine Ergänzung des Aufgabenkataloges zur Erleichterung des Holzverkaufes.
Auch die klare fachliche Abgrenzung der Begriffe
Agroforstsystem und Kurzumtriebsplantage aus dem
Waldbegriff sind nicht nur in der Großen Koalition völlig
unstrittig. Dies haben auch die Erfahrungen der Ausschussreise nach Frankreich und Großbritannien gezeigt.
Allerdings schießen Sie, liebe Grüne, in Ihrem Antrag
auch deutlich über das Ziel hinaus. Wir müssen uns die
Frage stellen, was kann und was sollte ein Bundeswaldgesetz regeln. Ich denke, die benannten Mindestanforderungen für eine nachhaltige Waldwirtschaft im Sinne einer guten fachlichen Praxis für den Wald sind viel zu eng
gefasst und tragen der Vielfalt von Wald und dessen Erscheinungsbild nur ungenügend Rechnung. Mit festgelegter Waldrandstruktur beispielsweise oder vorgeschriebenen Mischbeständen werden hier zwangsweise
Waldbestände zementiert, die auch gewünschte monotone natürliche Waldbestände, wie schützenswerte KalkBuchenwälder ausschließen, die von Natur aus sehr artenarm sind. Ich denke, hier dürfen einige, wenn auch gut
gemeinte Formulierungen nicht so eng gefasst werden.
Im Übrigen darf man den Ländern und ihren meist hervorragend qualifizierten Forstfachleuten ruhig zutrauen,
dass sie eine geeignete Rahmengesetzgebung des Bundes,
angepasst an die jeweiligen standortlichen Bedingungen
in den unterschiedlichsten Bundesländern, kompetent
Zu Protokoll gegebene Reden
landesrechtlich ausfüllen. Bereits jetzt sind einige Landeswaldgesetze sehr zukunftsorientiert und ökologischwirtschaftlich nachhaltig formuliert. Da wird es Zeit,
dass der Bund endlich nachzieht.
An dieser Stelle möchte ich meine Worte direkt an die
Union als unseren Koalitionspartner richten. Eine entsprechende Formulierung zur guten fachlichen Praxis
und nachhaltigen Waldbewirtschaftung ist längst überfällig in der Fachgesetzgebung des Bundes. Das war
eben auch der Grund, weshalb diese Zielstellung im Koalitionsvertrag klar festgelegt wurde. Lassen Sie daran
bitte keine, wenn auch noch so kleine Novelle des Bundeswaldgesetzes scheitern. Es rückt nur endlich gerade, was
in vielen, meiner Meinung sogar der Mehrzahl der Bundesländer längst gängige Praxis ist und fester Bestandteil
der Landeswaldgesetze.
Sehr geehrte Damen und Herren der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, ich muss mich schon sehr wundern,
wenn ich Ihren Antrag lese, ob Sie sich so sehr von den
Menschen dort draußen entfernt haben. Die Menschen
haben von je her eine enge Bindung an den Wald, und das
ändert auch kein Gesetz von 1975 und wird auch keine
Novelle ändern. Sie leben mit ihm, sie leben von ihm, sie
regenerieren sich dort; und nicht nur Menschen aus dem
ländlichen Raum. Stellen Sie das doch nicht so als Nebensächlichkeit hin! Wald und Mensch gehören in Mitteleuropa von Anfang an zusammen. Die Verbundenheit der
Bevölkerung mit ihrem Wald ist wesentlich stärker, als es
hier zum Ausdruck kommt. Diejenigen, die draußen in
diesem Sinne handeln, warten eh nicht auf das nächste
kluge Papier.
Ihre Zielstellungen für eine Waldpolitik scheinen mir
etwas konfus zu sein. Einerseits formulieren Sie den
Wunsch nach arten- und strukturreichen, naturnahen, gesunden Wäldern, wogegen generell ja niemand - wirklich niemand - etwas einzuwenden hat, aber dann lassen
Sie - überspitzt gesagt - möglichst viel Totholz für den
Käfer übrig, mobilisieren ganz groß die heimische Holznutzung, retten mit dem Bundesgesetz den Regenwald,
fordern gleichzeitig in Deutschland die Extensivierung
der Waldbewirtschaftung und legen dann möglichst viele
Waldflächen still, das heißt Sie wollen Totalreservate.
Liebe Grünen, spätestens an diesem Punkt haben Sie die
Menschen da draußen verloren und sollten sich erst einmal darüber klar werden, was Sie wirklich wollen. Verstärkte Holznutzung und Totalreservat schließen sich einfach aus.
Wir sind der Auffassung, dass Ökologie und Ökonomie unter einen Hut zu bringen sind, nur mit schöner
Ideologie ist da nichts zu machen. Und noch ein kleiner Hinweis! Kahlschläge möchte sicher niemand mehr,
und auch das ist in vielen Landesgesetzgebungen bereits verankert. Darüber brauchen wir hier im Hause
wohl nicht mehr zu streiten. Aber Sie unterliegen einer
Fehlinformation, wenn Sie meinen, mit höheren Holzvorräten retten wir unser Klima. Nein, ein stehender
Holzvorrat kann natürlich auch nicht mehr viel an CO2
akkumulieren. Übrigens wird derzeit in Deutschland
immer noch weniger an Holz aus dem Wald gewonnen
als jährlich nachwächst. Auch das liest sich in Ihrem
Antrag etwas anders.
So könnte ich noch einige Dinge aufzählen, schlage
aber vor, Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren
von Bündnis 90/Die Grünen, überarbeiten erstmal Ihren
Antrag, damit der Leser erfährt, was Sie denn eigentlich
wollen!
Die FDP-Bundestagsfraktion hält eine vollständige
Novellierung des Bundeswaldgesetzes zum jetzigen Zeitpunkt nicht für erforderlich. Das Bundeswaldgesetz hat
sich in den vergangenen Jahrzehnten in Deutschland bewährt. Die Ergebnisse der letzten Bundeswaldinventur
haben gezeigt, dass eine sinnvolle Bewirtschaftung der
Wälder im Rahmen des jetzigen Bundeswaldgesetzes gegeben ist.
In klar definierten Einzelpunkten gibt es allerdings Änderungsbedarf. Die FDP-Bundestagsfraktion fordert,
dass das Bundeswaldgesetz geändert wird, um die Produktion von Holz zur energetischen Verwertung in
Kurzumtriebsplantagen zu ermöglichen. Die Begriffe
„Agroforstsysteme“ und „Wald“ müssen klar voneinander abgegrenzt sein. Agroforstsysteme sind kein Wald. Sie
sind eine besondere Form landwirtschaftlicher Nutzung.
Das muss im Bundeswaldgesetz entsprechend klar formuliert werden, damit für diejenigen, die sich in diesem Bereich engagieren wollen, klare rechtliche Rahmenbedingungen gelten.
Insbesondere nach Vorlage des Gutachtens des Wissenschaftlichen Beirats beim Ministerium für Ernährung,
Landwirtschaft und Verbraucherschutz ist eine solche
Gesetzesänderung überfällig. Das Gutachten hat klar herausgestellt, dass hinsichtlich der CO2-Vermeidungskosten und der Flächeneffizienz die Nutzung von Hackschnitzeln, die aus Holz aus Kurzumtriebsplantagen erzeugt
wurden, die günstigsten Werte aufweist. Es ist völlig unerklärlich, warum das Ministerium noch immer keinen
Gesetzentwurf vorgelegt hat, um die Anlage von Agroforstsystemen zu erleichtern.
Ein weiterer Punkt ist die Verkehrssicherungspflicht,
die zurzeit unbefriedigend geregelt ist. Die Verurteilung
von Forstleuten, die sich nichts haben zu Schulden kommen lassen, muss das Ministerium aufschrecken und Anlass sein, nach Lösungen zu suchen. Das ist bis jetzt nicht
geschehen. Allerdings sind auch die Lösungsvorschläge
im vorliegenden Antrag noch unbefriedigend.
Besonders im deutschen Kleinprivatwald können noch
große Holzvorräte erschlossen werden, um die Nutzung
des nachwachsenden Rohstoffs Holz zu intensivieren.
Dies wäre im Sinne der Charta für den Wald. Die FDP
schließt sich der Forderung an, dass hierfür künftig die
Holzvermarktung durch forstwirtschaftliche Vereinigungen von Kleinwaldbesitzern erleichtert wird. Alle Anstrengungen, den Mobilisierungsgrad von Holz aus dem
Kleinprivatwald zu erhöhen, sind hierbei ausdrücklich zu
unterstützen.
Im Übrigen enthält der vorliegende Antrag von Bündnis 90/Die Grünen neben wenigen bedenkenswerten AnZu Protokoll gegebene Reden
sätzen, die wir unterstützen, viele Forderungspunkte, die
nicht einmal nachvollziehbar sind und nicht der derzeitigen Ausrichtung einer modernen und nachhaltig betriebenen Waldbewirtschaftung entsprechen. Der Antrag ist
von Misstrauen gegenüber Waldbesitzern und Forstleuten geprägt, einem Misstrauen, das weitgehend unberechtigt ist; denn die Bundeswaldinventur hat die hohe
Qualität unserer Waldbewirtschaftung eindeutig bestätigt. Der Gesetzgeber kann nicht hinter jedem Förster stehen, sondern muss seinem Sachverstand und seiner guten
Ausbildung vertrauen. Das hat bis jetzt gut funktioniert.
Eine Fläche von 1 000 Quadratmetern als Wald definieren zu wollen, wenn darauf Waldbäume stehen, wie
der Antrag dies vorschlägt, ist ein Beispiel für PepitaDenken. Demnächst werden dann 100 Quadratmetern
Vorgartenrasen mit Gänseblümchen als Wildblumenwiese definiert und unter Schutz gestellt. Wer so kleinteilig denkt, verliert die große Linie aus den Augen. Das ist
Bürokratismus pur.
Die Forderung im Antrag der Grünen, das Verbot von
Kahlschlägen in einem neuen Waldgesetz zu verstärken,
ist überflüssig. Kahlschläge im Wald sind bereits im
bestehenden Bundeswaldgesetz verboten. Nach Naturereignissen, wie zum Beispiel dem verheerenden Orkan
„Kyrill“ im Januar 2007 sind sie nach behördlicher Genehmigung zulässig und notwendig, um eine nachhaltige
Wiederaufforstung der betroffenen Flächen rasch zu ermöglichen. Aufforstungen erst nach fünf Jahren erlauben
zu wollen, verkennt, dass unter bestimmten standörtlichen Bedingungen dies zu starker Bodenerosion führen
kann.
Viele der minutiös aufgelisteten Kleinstpunkte gehören
nicht in ein Gesetz. Dass Bodenverdichtungen vermieden
werden sollten, weiß jeder, der in der Land- oder Forstwirtschaft tätig ist. Auch die Tatsache, dass Bodenschutzkalkungen nach den standörtlichen Bedingungen zu
orientieren sind, ist bekannt. Für diese und viele weitere
Punkte ist keine Novellierung des Bundeswaldgesetzes
erforderlich.
Die Wälder in Mitteleuropa liefern den nachwachsenden Rohstoff Holz. Holz ist der für die rohstoffliche und
energetische Nutzung wichtigste nachwachsende Rohstoff in Deutschland. Wälder sind Erholungsraum für
viele Menschen, sie empfinden Wälder als Natur pur. Die
natürliche Vegetation in Deutschland ist Wald. Deshalb
sind Wälder für den Artenschutz von besonderer Bedeutung. Die Wälder bieten zahlreichen Menschen einen Arbeitsplatz und ein gesichertes Einkommen, insbesondere
im strukturschwachen ländlichen Raum. Wir müssen unsere Wälder nachhaltig bewirtschaften, ihre Artenvielfalt
erhalten und durch Nutzen schützen. Ein neues Bundeswaldgesetz mit vielen kleinteiligen Regelungen und viel
Bürokratie brauchen wir dafür nicht. Deshalb lehnen wir
den Antrag ab.
Seit Beginn der 16. Wahlperiode wird immer wieder
eine Überarbeitung des Bundeswaldgesetzes angekündigt.
Es stammt aus dem Jahr 1974, und eine Novellierung
ist überfällig. Schon Rot-Grün hatte sie im Koalitionsvertrag festgeschrieben. Aber über einen Entwurf sind auch
sie nicht hinausgekommen. Unterdessen hat sich weiterer
Änderungs- und Konkretisierungsbedarf ergeben, der
nun dringend eingearbeitet werden muss.
Die Linke fordert endlich Taten statt folgenlose Ankündigungen. Wir sehen vor allem in drei Aspekten Änderungsbedarf: Erstens ist eine Neudefinition des Waldbegriffes dringend nötig. Dazu brauchen wir im § 2 BWaldG
eine Regelung, die die Anlage und Nutzung von Agroforstflächen unterstützt und nicht verhindert. Zweitens
brauchen wir eine konkretere Festlegung, was unter der
„guten fachlichen Praxis“ in der Fortwirtschaft zu verstehen ist. Drittens werden dringend Regelungen benötigt, die in den Kleinprivatwäldern die Mobilisierung der
Holzreserven bzw. den Waldumbau hin zu naturnahen
Mischwäldern besser unterstützen.
Aber selbst bei diesen Minimalforderungen blockiert
sich die Koalition - wie bei so vielen politischen Erfordernissen - gegenseitig. Auf eine mündliche Frage, wann
denn mit einem Gesetzentwurf zur Novellierung des Bundeswaldgesetzes zu rechnen sei, antwortetet mir die Parlamentarische Staatssekretärin Ursula Heinen im Januar
2008, „mit der Zuleitung einer entsprechenden Gesetzesvorlage an den Deutschen Bundestag ist für das erste
Halbjahr 2008 zu rechnen“. Gut, bis zum Ende des ersten
Halbjahres haben Sie ja noch elf Tage Zeit! Ich bin sehr
gespannt, ob Sie bis dahin doch noch schaffen, wovon Sie
schon seit zwei Jahren reden.
Natürlich ist der Wald kein Ökosystem, das kurzfristig
reagiert. Da gibt es erstaunliche Parallelen zum Agieren
der Regierung. Aber gerade weil dieses System träge,
also zeitverzögert, reagiert, ist richtiges Handeln zum
richtigen Zeitpunkt umso notwendiger. Und da sind wir
aus dem Zeitfenster schon fast raus. Hinsichtlich des
Handlungsbedarfs ist sich die Opposition dieses Mal einig: nach Linken und FDP haben nun mit den Grünen
alle drei Oppositionsfraktionen ihre Forderungen auf den
Tisch des Hohen Hauses gelegt. Die Linke hat in ihrem
Antrag - Drucksache 16/9075 - gefordert, die Bedingungen für eine naturnahe Waldbewirtschaftung zu definieren. Die Grünen greifen dieses Thema auf, was wir natürlich begrüßen. Ziel muss es sein, die bestehenden
Waldfunktionen - nutzen, schützen und erholen - zu stärken und gleichzeitig mit wichtigen neuen Herausforderungen wie Naturschutz, Klimawandel, Artenvielfalt und
Umweltbildung zu verknüpfen. Das geht nicht in standortfremden Monokulturen, sondern in naturnahen Mischwäldern mit zum Standort passenden Arten - was für uns
sowohl aus ökologischem als auch aus ökonomischem
Blickwinkel zu definieren ist. Standortheimische Arten
haben dabei für uns Vorrang. Wir wenden uns aber gegen
eine Instrumentalisierung dieser Diskussion, die darauf
hinausläuft, dass sich Regionen forstwirtschaftlich abschotten. Deutschland hat dabei eine besondere Verantwortung für die Buchenwälder. Zwar würde die Buche
ohne forstwirtschaftliche Eingriffe in ganz Mitteleuropa
vorkommen, aber ausgedehnte Buchenwälder sind heute
selten geworden. Daher gilt es besonders im Herzen des
Zu Protokoll gegebene Reden
natürlichen Verbreitungsgebietes - und das ist Deutschland - Buchenwälder wieder emporwachsen zu lassen
und nachhaltig zu nutzen. Für die Linke hat bei der Überarbeitung des Gesetzes der dauerhafte Erhalt des Ökosystems Wald Vorrang, weil das im Interesse der gesamten
Gesellschaft ist und weil nur das auch die Option der Nutzung der natürlichen Ressource Holz sichert. Das ist sowohl sozial als auch ökonomisch sinnvoll und daher von
großer Bedeutung.
Um dieses Ziel zu erreichen, sind die gesetzlichen Regelungen an folgende Kriterien zu binden: Gebraucht
wird eine Orientierung am Dauerwaldprinzip und am
Mischwaldprinzip. Damit werden dauerhafte Kahlschläge ausgeschlossen und standortheimische Bestände
bevorzugt. Die Naturverjüngung muss gegenüber waldbaulichen Maßnahmen Vorrang haben. Dazu ist es aber
auch notwendig, die Wilddichten anzupassen. Gegebenenfalls muss das Bundesjagdgesetz überarbeitet werden. Die forsttechnischen Arbeitsschritte müssen sich an
der Reduzierung des Einsatzes von Chemie, einer bodenschonenden Bearbeitung sowie der Gentechnikfreiheit im
Wald orientieren.
Um kein Missverständnis hervorzurufen: Die angeführten Kriterien schließen die Bewirtschaftung der Wälder nicht aus. Im Gegenteil. Die Linke bekennt sich ganz
klar zu einer nachhaltigen Nutzung durch die einheimische Forstwirtschaft. Sie sichert Leben und Arbeit in den
ländlichen Regionen, versorgt uns mit hochwertigem
Holz zur stofflichen Nutzung und bietet damit eine sinnvolle Alternative zu Holzimporten aus Raubbau. Selbst
die energetische Nutzung des Holzes ist angesichts der
dramatisch gestiegenen Energiepreise für viele wieder
eine sinnvolle Alternative geworden.
Aber der Wald kann seine vielen Funktionen nur erfüllen, wenn er nachhaltig genutzt wird. Noch viel mehr als
in der Landwirtschaft muss in der Forstwirtschaft langfristig gedacht werden, denn das Handeln unserer Generation im Wald bestimmt über die Bedingungen für die
nächste Generation Forstleute. Wir benötigen für die
Überarbeitung des Bundeswaldgesetzes einen breiten gesellschaftlichen Dialog, auch über die Leistungen, die wir
vom Wald und vom Förster - oder der Försterin - erwarten. Dieser Dialog sollte nicht nur im Ausschuss, sondern
auch in einer öffentlichen Anhörung stattfinden.
Die Linke sieht sich in der Verantwortung, die naturorientierte Waldwirtschaft durch die Novellierung des
Bundeswaldgesetzes zu stärken. Die „gute forstfachliche
Praxis“ muss so definiert werden, dass sie den Herausforderungen der Zukunft gerecht wird.
Waldpolitik findet bei Schwarz-Rot nicht statt. Das
muss man nach zweidreiviertel Jahren Großer Koalition
nüchtern feststellen. Und zwar gilt das nicht nur für die
von der Großen Koalition angekündigte Änderung des
Bundeswaldgesetzes, auf die wir bis heute vergeblich
warten. Nein, es gilt auch für andere gestalterische Initiativen rund um den Wald und die Holzwirtschaft. Einzige Ausnahme bildet die Holzbeschaffungsrichtlinie. Allerdings schloss die Große Koalition damit auch nur ein
Vorhaben ab, das Rot-Grün bereits begonnen hatte. Auch
wenn wir uns damals vor Überraschung die Augen rieben: Es ist Tatsache, dass die Große Koalition im Koalitionsvertrag vereinbarte, das Bundeswaldgesetz zu novellieren. Wörtlich heißt es dort, die große Koalition
wolle „die Inhalte einer nachhaltigen Waldbewirtschaftung im Bundeswaldgesetz klarer fassen.“ Ja, wir haben
uns vor Überraschung die Augen gerieben; denn aus
Kreisen der Union wurde bis dahin immer nur gebetsmühlenartig wiederholt, das Bundeswaldgesetz habe sich
bewährt und bedürfe keiner Änderung. Die Union lehnte
insbesondere die Festlegung einer guten fachlichen Praxis ab, welche die Inhalte einer nachhaltigen Waldbewirtschaftung definiert. Nun ja, ein Entwurf zur Änderung des
Bundeswaldgesetzes liegt bisher - man muss sagen: erwartungsgemäß - noch nicht vor, obwohl die Zeit bis zum
Ende der Legislaturperiode langsam knapp wird. Anfang
des Jahres wurde uns mitgeteilt, ein Entwurf zur Änderung des Bundeswaldgesetzes werde in der ersten Hälfte
dieses Jahres vorgelegt. Das halbe Jahr ist fast um, und
nichts ist passiert. Mittlerweile ist zu befürchten, dass die
Koalition die Novelle doch nicht mehr anpacken wird.
Das hieße dann, die Gegner einer Novellierung des Bundeswaldgesetzes im Agrarministerium hätten dieses
Thema dann eine weitere Legislaturperiode erfolgreich
ausgesessen. Vor diesem Hintergrund hat die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen jetzt die Initiative für eine Novellierung des Bundeswaldgesetzes ergriffen. Damit wollen
wir Druck machen, damit die dringend notwendige Anpassung der Rechtsgrundlage der Waldwirtschaft an die
aktuellen Herausforderungen endlich auf den Weg gebracht wird. Dabei gibt es durchaus Änderungen, über
die wir uns parteiübergreifend einig sind. Dazu gehören
die Abgrenzung von Agroforstsystemen und Kurzumtriebsplantagen gegenüber Wald, die Begrenzung und
klarere Regelung der Verkehrssicherungspflicht sowie die
Erleichterung des wirtschaftlichen Betriebes in forstwirtschaftlichen Zusammenschlüssen. Auf diese Änderungen
wartet die Branche seit Jahren, und es ist völlig unverständlich, warum hier nichts passiert. Kern unseres
Antrages ist jedoch die Einführung ökologischer Mindeststandards für die Waldbewirtschaftung in das Bundeswaldgesetz. Dies ist deshalb dringend erforderlich,
weil laut Bundeswaldinventur 65 Prozent der Wälder in
Deutschland nicht naturnah sind. Das heißt, es besteht
ein großer Nachholbedarf in Sachen naturnaher Bewirtschaftung. Hinzu kommt der zunehmende Nutzungsdruck
auf unsere Wälder durch die Holz- und Bioenergienutzung. Hier bedarf es klarer Grenzen, um die Übernutzung
unserer Wälder zukünftig ausschließen zu können. Leider
ist Übernutzung kein Horrorszenario, sondern in Teilen
deutscher Wälder bereits Realität. Durchschnittszahlen
über wachsende Holzvorräte verschleiern dieses Bild.
Denn jeder in der Branche weiß, dass die meisten Landesforstverwaltungen und großen Privatforstbetriebe
bereits am Limit ihres Einschlagspotenzials arbeiten,
während es im Kleinprivatwald große Holzmobilisierungsreserven gibt. Und genauso bekannt ist, dass es mittlerweile einzelne Waldbesitzer gibt, die auf Kosten der
Nachhaltigkeit schnell Kasse machen wollen und dies
Zu Protokoll gegebene Reden
auch tun. Aber es geht uns nicht allein darum, die Wälder
vor einer übermäßigen Nutzung zu schützen. Es geht uns
auch darum, welche Art von Waldbau auf der gesamten
Fläche betrieben wird und welche Art von Beständen aufgebaut wird. Ziel unseres Antrages ist es, arten- und
strukturreiche, naturnahe und gesunde Dauerwälder zu
schaffen und die biologische Vielfalt der Waldökosysteme
zu erhalten bzw. zu verbessern. Schließlich sind artenreiche Wälder stabiler und bieten einen höheren Schutz vor
den Unbilden des Klimawandels. Wir Grüne sind deshalb
fest davon überzeugt, dass gerade in Zeiten des Klimawandels der Aufbau naturnaher Dauermischwälder
grundsätzlich der richtige Weg ist, um auch in Zukunft sichere Holzerträge zu gewährleisten. Der Anbau standortfremder Baumarten und von großflächigen Monokulturen
mit dem - trügerischen - Ziel der Holzertragsmaximierung muss jedoch beendet werden. Obwohl wir Grüne uns
mit diesen Forderungen auf einer Linie mit einer Vielzahl
moderner Forst- und Umweltwissenschaftler befinden,
gibt es noch immer viele Befürworter der alten Schule der
Altersklassenwälder. Deswegen ist es alles andere als
müßig, die konkreten Vorgaben einer naturnahen und
nachhaltigen Waldwirtschaft in das Bundeswaldgesetz
aufzunehmen. Sicher ist es nötig, über jede einzelne Vorgabe gründlich zu diskutieren und nachzudenken und die
Erfahrungen der Praktiker in diese Debatte einfließen zu
lassen. Genau dies würde ich mir wünschen. Es wäre mir
zu wenig, wenn die Diskussion nur darum gehen würde,
ob es richtig und nötig ist, ökologische Mindeststandards
in das Waldgesetz aufzunehmen oder nicht. Auf den Inhalt
kommt es an. Der Wald wird es danken.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/9450 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 26 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Florian
Toncar, Harald Leibrecht, Burkhardt MüllerSönksen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Das Verhalten von Birmas Junta muss Konsequenzen haben
- Drucksache 16/9340 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden der Kollegen Holger Haibach, Johannes Pflug,
Florian Toncar, Norman Paech und Kerstin Müller zu
Protokoll genommen.
Das Thema Birma bleibt leider auch weiterhin auf unserer Agenda. Zum zweiten Mal innerhalb eines halben
Jahres müssen wir uns mit einem Land beschäftigen, das
nicht aus den negativen Schlagzeilen herauskommt. Im
vergangenen Jahr sprachen wir hier an gleicher Stelle
über Birma, als sich die buddhistischen Mönche erhoben
und gegen die katastrophale menschenrechtliche und humanitäre Situation in ihrer Heimat protestierten. Wir alle
wissen, mit welcher Brutalität das Regime zurückgeschlagen und die Demonstrationen gewaltsam aufgelöst
hat. Die Welt stand damals unter dem Schock des Eindrucks der Ereignisse, und es hat einen Moment gedauert, bis wir die geeigneten Reaktionen gefunden haben.
Wir haben es in Birma mit einem Regime zu tun, das sich
wie viele andere Unrechtsdiktaturen auf die Waffen seiner
Armee stützt. Die Armee, die Militärjunta ist das beherrschende Element des Staates, der keine echte Opposition
duldet und derartige Bestrebungen sofort unterdrückt.
Die birmanische Junta ist offensichtlich ein menschenverachtendes Regime, das schnellstens abtreten sollte.
Nicht zuletzt die zynische Reaktion der Junta auf den Zyklon im Mai dieses Jahres bestätigt dies. Nach Angaben
der Vereinten Nationen sind rund 130 000 Tote zu beklagen, rund 2,4 Millionen Menschen sind durch den Wirbelsturm obdachlos geworden. Angesichts der Trauer über
die Opfer und dem Mitgefühl mit ihnen dürfen wir jedoch
nicht die Augen verschließen. Statt die angebotene internationale Hilfe schnell und kompromisslos anzunehmen,
hat das Regime zuerst jegliche ausländische Hilfe abgelehnt und damit den Tod von vielen Menschen billigend in
Kauf genommen. Tagelang ließen die Militärs keine ausländischen Helfer ins Land, was für die Menschen die eigentliche Katastrophe nach der Katastrophe bedeutete.
Statt sich um die Opfer des Zyklons zu kümmern, hat
die Regierung am 10. Mai das geplante Verfassungsreferendum durchführen lassen, das das erwartete, offensichtlich manipulierte Ergebnis von über 92 Prozent
Zustimmung brachte. Dadurch wurden natürlich notwendige finanzielle und personelle Ressourcen gebunden, die
nicht zur Bekämpfung der Katastrophe zur Verfügung
standen. Die Regierung hat damit wichtige Zeit vergeudet
und weitere Tote verschuldet.
Umso mehr gilt unser Dank heute den Vertretern des
Auswärtigen Amtes, insbesondere Staatsminister Erler,
dass sie die Geberkonferenz genutzt haben, um auf die
Regierung in Rangun einzuwirken. Erst danach konnten
ausländische Hilfslieferungen ins Land und zu den Menschen gelangen. Den deutschen Helfern, die unter
schlimmsten Zuständen vor Ort tätig sind, möchte ich daher heute ebenfalls meinen Dank und die Wertschätzung
für ihre Arbeit aussprechen. Die Probleme in Birma bleiben aber weiterhin virulent. Die Regierung klammert sich
an die Macht und geht weiter mit Gewalt und Unterdrückung gegen die kleine Opposition vor. Friedensnobelpreisträgerin und Oppositionsführerin Aung San Suu Kyi
ist trotz internationaler Proteste noch immer unter Hausarrest gestellt. Erst in der vergangenen Woche wurde
Zarganar, Birmas populärster Komiker, Schauspieler und
Filmemacher, der dem Regime den Spiegel vorhielt, mit
der Begründung festgenommen, dass er das Ansehen der
Regierung schädige. Von einer politischen Entspannung
sind wir also noch weit entfernt.
Doch was bleibt zu tun? Die FDP hat in diesen Tagen ihren neuen Birma-Antrag eingebracht, in dem sie
ausführlich darlegt, wie sich die Situation momentan in
dem Land darstellt. Das ist gut und richtig und vermittelt ein schmerzliches Bild eines zerrissenen Landes.
Die FDP stellt die richtigen Forderungen, auch wenn
sie nicht wirklich neu sind. So haben erst jüngst die
Außenminister der Europäischen Union über eine
Verschärfung der Sanktionen gegenüber Birma nachgedacht. Die Haltungen dazu sind durchaus unterschiedlich. Zwar mag ein Exportverbot für Luxusgüter
nach Birma sicherlich „unschädlich“ für die einfachen
Menschen sein. Wir brauchen jedoch wirksamere Mittel, um Druck auszuüben.
Wir sollten vielmehr versuchen, zusammen mit unseren
internationalen Partnern die Finanzströme des Landes,
natürlich vor allem die des Regimes, einzuschränken.
Dazu müssen Auslandskonten gesperrt und Transaktionen verhindert werden. Aber auch hier ist darauf zu achten, dass sich alle Länder, auch die in der unmittelbaren
Umgebung - wie etwa China -, an solchen Maßnahmen
beteiligen.
Ich will noch auf einen anderen Punkt zu sprechen
kommen, der sich auch in dem Antrag der FDP wiederfindet. Sie fordern ein stärkeres Engagement der asiatischen Länder, vor allem der ASEAN-Staaten. Dies sehe
ich genauso. Hier müssen wir den Schlüssel für den
Durchbruch von Demokratie und Menschenrechten in
Birma suchen. Europa und die westlichen Staaten können
diesen Prozess unterstützen. Der eigentliche Anstoß für
Veränderungen muss jedoch von den asiatischen Ländern
ausgehen. Die ASEAN-Staaten haben sich im vergangenen Dezember eine Charta gegeben und sich zur Demokratie bekannt. Dies ist der Ansatzpunkt, den wir unterstützen sollten. Nicht wir sollten Birma den erhobenen
Zeigefinger vorhalten, sondern ASEAN sollte sein Mitglied Birma an seine Verpflichtungen zu Demokratie und
Menschenrechten erinnern. Europa kann hier Hilfestellung leisten, der Antrieb muss jedoch aus dem Land selbst
bzw. von seinen asiatischen Nachbarn kommen. Dies bedeutet: Besonders China muss Druck ausüben und den
Machthabern deutlich machen, dass ihre Politik inakzeptabel ist. China muss sich auch an möglichen Sanktionen
und Ähnlichem beteiligen, um diesen Druck zu erhöhen.
Ähnliches gilt für die ASEAN-Staaten, die sich nicht hinter das Prinzip der Nichteinmischung zurückziehen dürfen. Wir sind uns, so glaube ich, darüber einig, dass wir
nicht den Eindruck erwecken dürfen, wir als Europäer
oder gar allein als Deutsche seien in der Lage, entscheidend Einfluss auf die Situation in Birma auszuüben. Dafür braucht es einen weiteren Ansatz.
Dass wir dies fraktionsübergreifend so sehen, beweist
nicht zuletzt der Antrag „Menschenrechte und Demokratie in Birma durchsetzen“ vom Oktober 2007. Darüber
hinaus greift die FDP viele Punkte des Antrages „Menschenrechte in der ASEAN-Staatengemeinschaft“ der
Koalition auf. Darauf aufbauend, dass wir in vielen
Punkten übereinstimmen, sollten wir sehen, welchen Beitrag wir zur Verbesserung der Situation in Birma leisten
können.
Zunächst möchte ich feststellen, dass die späte Stunde
zur Behandlung dieses Tagesordnungspunktes dem
Thema nicht gerecht wird. Da unsere Reden auch nicht
gehalten, sondern zu Protokoll gegeben werden, verzichte ich auf weitere Ausführungen. Der menschenverachtende Umgang der Militärjunta mit den Menschen bei
der schlimmen humanitären Katastrophe im Mai dieses
Jahres unterstreicht noch einmal besonders deutlich den
brutalen Charakter dieses Unterdrückungsregimes und
ist durch nichts zu entschuldigen. Weil die Koalitionsvereinbarungen keine wechselnden Mehrheiten bei Abstimmungen vorsehen, lehnen wir den Antrag der FDPBundestagsfraktion ab. Natürlich hat dies keinerlei praktische Auswirkungen für die Menschen in Birma. Außerdem fordert der Antrag Dinge und Maßnahmen, die die
Bundesregierung bereits weitestgehend leistet. Der Antrag ist von einem Geist getragen, der die Sanktionierung
und Bestrafung des Regimes vorsieht, aber auch keine
praktischen Verbesserungen für die betroffenen Menschen bringt. Natürlich habe auch ich das Gefühl
ohnmächtiger Wut auf das Regime in Birma, aber Rachegedanken sollten kein Leitfaden für internationale Beziehungen sein.
Aber wir sind uns alle darin einig, dass dieser Militärjunta keinerlei Vertrauen geschenkt werden darf. Als der,
durch die totale Abschottung der birmesischen Junta bedingte, spärliche und viel zu späte Fluss von Hilfsgütern
stattfand, nahm der Staatsekretär im Auswärtigen Amt,
Gernot Erler, an der Geberkonferenz für Birma teil, die
endlich auf Druck der internationalen Öffentlichkeit und
den Vereinten Nationen zustande kam. Und auch nur die
internationale Staatengemeinschaft kann zusammen mit
China den entsprechenden Druck aufbauen, um Veränderungen zu bewirken.
Wie sich bei der Lieferung der Hilfsgüter zeigte, hat
noch am ehesten die Einflussnahme des UNO-Generalsekretärs Ban Ki Moon eine Wirkung gehabt. Zu glauben,
dass die sprachliche Verschärfung der Sanktionen aus
Deutschland, die außerdem schwer zu kontrollieren sind,
bei dieser menschenverachtenden Junta eine Wirkung
zeigen, ist unrealistisch. Nur ein Regimewechsel kann zu
einer Verbesserung der Situation für die Menschen führen. Wie dieser Wechsel jedoch erfolgen könnte, kann im
Augenblick niemand sagen. Die internationale Staatengemeinschaft muss deshalb Birma im Auge behalten und
immer da, wo sie es wirksam kann, auch reagieren. Sanktionen auf Ebene der EU oder ASEAN sind in den entsprechenden Gremien bereits Thema. Für uns gilt, dass ein
entsprechend überarbeiteter, interfraktioneller Antrag
gerne noch einmal in den entsprechenden Ausschüssen
veranlasst werden kann.
Die Bilder von den verheerenden Naturkatastrophen
in Asien haben uns tief bewegt. Wirbelsturm „Nargis“ in
Birma am 2. Mai 2008 sowie das Erdbeben in China am
13. Mai 2008 kamen beide plötzlich und forderten ZehnFlorian Toncar
tausende Menschenleben. Der Umgang mit den Katastrophen könnte unterschiedlicher nicht sein. Während China
sich erstmals nach einer Naturkatastrophe für ausländische Hilfe öffnete, stellt das Verhalten der birmanischen
Militärregierung das krasse Gegenteil dar. Sie schottete
das Land in größter Not in den ersten drei Wochen nach
der Katastrophe ab. Das Verhalten der birmanischen Generäle angesichts der Wirbelsturmkatastrophe ist so
schockierend, dass die EU reagieren muss.
Lassen Sie mich eingangs die wesentlichen Ereignisse
kurz skizzieren: Nachdem die Junta frühzeitige Warnungen vor dem herannahenden Sturm ignorierte, schlug der
Zyklon mit aller Härte zu. „Nargis“, die schlimmste
Naturkatastrophe seit dem Tsunami 2004, forderte
130 000 Menschenleben. 2,4 Millionen Bürger wurden
obdachlos. Angesichts dieser Ausmaße galt es, rasch effektive humanitäre Hilfe für die Betroffenen zu leisten.
Dazu mussten die Opfer mit Lebensmitteln, Trinkwasser,
Decken und Medikamenten versorgt werden. Für die
Durchführung komplizierter Hilfsmaßnahmen nach einer
Naturkatastrophe ist es grundsätzlich entscheidend, unverzüglich professionelles Hilfspersonal in das Krisengebiet zu verlegen. Die internationale Staatengemeinschaft
einschließlich der Vereinten Nationen bot der Regierung
von Birma umfangreiche Unterstützung an. Diese lehnte
die Hilfsangebote zunächst jedoch ab.
Für die Junta kam die Katastrophe zur Unzeit. Sie
wollte ein Referendum über eine neue Verfassung abhalten, um ihre Macht zu festigen. Trotz der Krise hielt die
Junta an ihrem Vorhaben fest. Um das Land vor und während des Referendums abzuschotten, verweigerte die
Junta ausländischen Katastrophenhelfern und Journalisten die Einreise. Einzig Finanztransfers und Hilfsgüter
wurden ins Land gelassen. Erst am 23. Mai 2008 lenkte
der birmanische Junta-Chef Than Shwe gegenüber VNGeneralsekretär Ban Ki-moon ein und gestattete die Einreise westlicher Katastrophenhelfer.
Dennoch werden weiterhin Meldungen über massive
Behinderungen bekannt, da Helfer in Rangun festsitzen
und nicht ins Katastrophengebiet vorgelassen werden.
Die Bevölkerung im Irrawady-Delta unterliegt Einschränkungen ihrer Bewegungsfreiheit, Flüchtlinge werden gegen ihren Willen aus Flüchtlingslagern zurück in
ihre zerstörten Häuser geschickt. Sechs Wochen nach der
Katastrophe hat überhaupt erst ein kleiner Teil der Betroffenen Zugang zu humanitärer Hilfe erhalten. Die
Junta gibt deren Anteil offiziell mit 40 Prozent an. Vertreter birmanischer Nichtregierungsorganisationen, mit denen ich in Kontakt stehe, halten selbst diese Zahl für zu
optimistisch. Malaria und andere Krankheiten breiten
sich aus. Zudem wurde ein Großteil der landwirtschaftlichen Nutzfläche zerstört, sodass in absehbarer Zukunft
Ernteausfälle und Hungersnot drohen. Dessen ungeachtet exportiert die Junta dringend benötigte Reisreserven
aus dem Norden des Landes nach Sri Lanka, um Devisen
zu erhalten. So weit die aktuelle insgesamt schockierende
Lage.
Das Vorgehen von Birmas Generälen hat für die Bevölkerung fatale Konsequenzen. Es ist zu befürchten, dass
die gezielte Verhinderung professioneller humanitärer
Hilfe unzählige Menschenleben gekostet hat. Dies geschah nur acht Monate nach der gewaltsamen Niederschlagung friedlicher Proteste buddhistischer Mönche in
Birma im September 2007. Diese Eskalation muss Konsequenzen für die Junta haben. Die Europäische Union
verfolgt eine zweigleisige Strategie, die einerseits die Bereitschaft zum Dialog sowie zur Unterstützung für demokratische Reformen zusichert. Andererseits erließ die EU
bereits 1996 gezielte Sanktionen gegen die Militärführung in Birma. Angesichts der jüngsten Ereignisse müssen diese weiter verschärft werden.
Der vorliegende Antrag umfasst eine Reihe von Maßnahmen, die ganz gezielt die Militärführung treffen. Die
birmanische Bevölkerung soll davon nicht in Mitleidenschaft gezogen werden. Beispielsweise sollten zukünftig
nur Luxusgüter vom Export an die Junta in Birma ausgeschlossen werden. Die gegen die Junta bestehenden Finanz- und Reisesanktionen müssen verschärft werden.
Ferner ist es notwendig, die Wirksamkeit der Sanktionen
aufmerksam zu beobachten und bei Mängeln rasch nachzujustieren. Die EU muss ihre Sanktionen mit denen anderer Länder wie den USA und Australien abstimmen. Es
muss verhindert werden, dass die Junta Lücken zwischen
den unterschiedlichen Sanktionsregimen ausnutzt.
Langfristig kann die Junta jedoch nur zu einer Verhaltensänderung bewegt werden, wenn auch Birmas Nachbarn klar Position beziehen. Daher müssen insbesondere
die asiatischen Nachbarstaaten der ASEAN-Gruppe ihren Einfluss geltend machen. Vor allem China darf nicht
länger seine schützende Hand über Birmas Generäle halten. China muss im UN-Sicherheitsrat ein Waffenembargo gegen die Militärregierung Birmas unterstützen.
Deutschland gemeinsam mit den europäischen Partnern
muss auch auf Ebene der UNO für gezielte Sanktionen gegen die Militärs in Birma eintreten.
Die Forderung der FDP nach einer Verschärfung der
Sanktionen gegen die Junta soll nicht zulasten der Zivilbevölkerung in Birma gehen. Dies ist ausdrücklich nicht
beabsichtigt. Insofern hat der im Herbst 2007 von CDU/
CSU, SPD, FDP und Grünen gemeinsam getragene Antrag zur Durchsetzung von Menschenrechten und Demokratie in Birma weiter seine Gültigkeit. Ich möchte unterstreichen: Die Verschärfung der Sanktionen gegen die
verantwortlichen Individuen der Junta einerseits und die
Gewährung humanitärer Hilfe für die Bevölkerung andererseits schließen sich nicht aus. Wer sich mit dem Forderungskatalog auseinandersetzt, wird erkennen, dass die
Maßnahmen nicht die Zivilbevölkerung betreffen.
Skeptiker mögen befürchten, dass Sanktionen die politischen Hardliner in der Junta stärken und zu Solidarisierungseffekten mit der Junta führen könnten. Dem
entgegne ich: Nur wenn das jüngste Verhalten der Militärführung in Birma eine klare Reaktion der EU hervorruft, werden die Hardliner spüren, dass ihr Verhalten
nicht wortlos hingenommen wird. Negatives Verhalten
der Junta muss umgehend beantwortet werden.
Diese Reaktionsschnelle gilt umgekehrt auch für positives Verhalten. Die EU hat stets deutlich gemacht, dass
sie rechtsstaatliche Reformen im Land unterstützen wird.
Wenn die Militärs bereit sind, Schritte zu einer Liberali17978
sierung zu unternehmen, wird die EU rasch reagieren.
Anreize dazu sind seit langem vorhanden. Jetzt liegt es an
den führenden Mitgliedern der Militärclique, ihre Handlungen der letzten Monate zu reflektieren und endlich umzudenken. Wenn die Junta ernsthaft den Weg der Reformen beschreitet, wird die EU ihr selbstverständlich
helfend die Hand anbieten.
Dass wir es bei der birmanischen Regierung nicht mit
einem Kaffeekränzchen netter älterer Herren zu tun haben, ist seit langem bekannt. Seit der blutigen Niederschlagung der Demokratiebewegung 1988 beherrscht ein
Militärregime das Land, das jede demokratische Opposition brutal unterdrückt. Der jüngste Report von Amnesty
International zur weltweiten Lage der Menschenrechte
stellt fest, das sich die Menschenrechtslage in Birma weiter verschlechtert, das Recht auf freie Meinungsäußerung
weiterhin massiv unterdrückt wird, die Militärs mit exzessiver Gewalt gegen die Bevölkerung vorgehen und damit
systematisch gegen das Völkerrecht verstoßen.
Bereits im letzten Herbst hat sich der Bundestag mit
Myanmar befasst. Damals ging es um das brutale Vorgehen der birmanischen Militärs gegen friedliche Demonstrantinnen und Demonstranten, bei dem es zu zahlreiche
Toten und Verletzten kam. Anlass für die heutige Debatte
ist das Verhalten der birmanischen Regierung, die nach
der verheerenden Verwüstung durch den Zyklon
„Nargis“ Anfang Mai die dringend benötigte internationale Hilfe wochenlang blockierte und damit den Tod Tausender Menschen in Kauf nahm.
Der vorliegende Antrag der FDP fordert Konsequenzen und konzentriert sich hierbei vor allem auf die Umsetzung und Verschärfung der bestehenden EU-Sanktionen. Meine Fraktion ist äußerst skeptisch, ob dies der
richtige Weg ist. Die bestehenden Sanktionen haben in
der Vergangenheit nichts gebracht, und ich bin mir sicher,
dass sie auch in Zukunft nichts bringen werden. Sie haben
vor allem symbolischen Charakter, um zu zeigen, dass die
EU etwas unternimmt. Doch die birmanische Bevölkerung hat wenig davon.
Mit dieser Symbolpolitik sollte sich die Bundesregierung nicht begnügen. Sie muss sich vielmehr darum bemühen, gemeinsam mit China, Indien und den ASEANStaaten den Dialog mit Myanmar zu suchen. Denn sie
sind als wichtigste Kooperationspartner Myanmars der
Schlüssel zu einer Öffnung des Landes für eine demokratische Entwicklung. Auf keinen Fall sollte die Bundesregierung sich jenen anschließen, die einer militärischen
Intervention das Wort reden. Ginge es nach den USA, so
wäre jetzt ein günstiger Zeitpunkt, den lang ersehnten
Regime Change militärisch herbeizuführen. Die USA
machen keinen Hehl daraus, dass sie den Verbündeten
Chinas lieber heute als morgen ausschalten wollen, und
haben mehrfach Drohungen gegen das Land ausgesprochen. Unterstützung bekamen sie jüngst von Frankreichs
Außenminister Kouchner. Er forderte mit Verweis auf das
Konzept der internationalen Schutzverantwortung
Responsibility to Protect, mit militärischen Mitteln die
humanitäre Hilfe für Myanmar zu erzwingen - im Zweifelsfall auch ohne UN-Mandat. Gleichzeitig kündigte
Frankreich an, Hilfsgüter per Kriegsschiff nach
Myanmar zu entsenden, und die USA schickten einen
hochgerüsteten Zerstörer und drei amphibische Kriegsschiffe in die Region. Das sind nicht gerade vertrauensbildende Maßnahmen und sicher nicht hilfreich für das
Angebot, Hilfe für die Bevölkerung ins Land zu bringen
wollen.
Auch wenn eine militärische Intervention abgewendet
werden konnte und die internationale Geberkonferenz
unter Federführung Ban Ki-moons und des ASEAN-Generalsekretärs Pitsuwan endlich den Zugang internationaler Hilfsorganisationen erwirkte, deutet einiges darauf
hin, dass die Befürworter der Responsibility to Protect
auch weiterhin auf eine völkerrechtswidrige militärische
Intervention in Myanmar drängen könnten. Damit wäre
den Menschen in Myanmar nicht geholfen. Umso wichtiger ist es, dass sich die Bundesregierung eindeutig gegen
eine militärische Intervention ausspricht. Vielmehr muss
sie auf den Dialog setzen, in dem die Kooperationspartner Myanmars eine zentrale Rolle einnehmen müssen.
Es gibt keinen vergleichbaren Fall, bei dem eine Regierung nach einer Naturkatastrophe ein derart rücksichtsloses Verhalten gegenüber der eigenen Bevölkerung an den Tag gelegt hat, wie es die Regierung
Birmas getan hat und weiterhin tut. Bis heute verweigert sie der internationalen Gemeinschaft umfassenden
Zugang, um der betroffenen Bevölkerung zu helfen. Sogar Hilfslieferungen der Vereinten Nationen beschlagnahmte sie. Umfassende Hilfe wurde und wird bis heute
bewusst nicht zugelassen, obwohl diese vor der Tür
steht. Anders als China, das bei der jüngsten Erdbebenkatastrophe einen vergleichsweise revolutionären Lernprozess bewiesen hat, führte die Politik der Junta zu einer Katastrophe nach der Katastrophe. Diese hat
nochmals tausende Menschen das Leben gekostet! Laut
VN-Angaben sind 102 000 Menschen ums Leben gekommen, 220 000 Menschen gelten als vermisst und
etwa 2,4 Millionen sind entweder obdachlos oder von
Nahrungsmittelknappheit und Seuchen direkt betroffen.
Im Delta des Irrawaddys lebt die Hälfte der rund
54 Millionen Einwohner Myanmars/Birma. Da die
Ernte in großen Teilen zerstört ist und die Versalzung
der Böden sich auch in naher Zukunft negativ auswirken dürfte, ist die Bevölkerung auf internationale Unterstützung weiterhin angewiesen.
Die wiederholten Ankündigungen der Junta wie auf
der internationalen Geberkonferenz am 25. Mai in Rangun, jetzt umfassende Hilfe ins Land zu lassen, werden
nicht im notwendigen Maße umgesetzt. Noch immer
wird berichtet, dass Hilfsorganisationen in ihrer Arbeit
erheblich beeinträchtigt sind. Die Vereinten Nationen
selbst brauchten Wochen um die Erlaubnis zu erhalten,
Hilfsgüter auch mit Helikoptern in entfernte Orte zu
bringen.
Die berechtigte internationale Debatte über den unterbundenen Zugang von Schiffen und Helikoptern mit HilfsKerstin Müller ({0})
lieferungen aus den USA, Frankreich und Großbritannien, hat vorübergehend verschleiert, wie eindrucksvoll
die Bürger des Landes, vor allem aber auch die Mönche
Hilfe selbst organisiert haben. Sie sind in den Worten einer britischen Diplomatin die „eigentlichen Helden“ der
Hilfsbemühungen. Einen genaueren Einblick werden wir
erhalten, wenn ein Bericht von rund 250 offiziellen Helfern aus verschiedenen ASEAN-Staaten in der kommenden Woche veröffentlicht wird.
Es war ein absurdes Schauspiel, mit welcher Entschlossenheit die Junta just zum Höhepunkt der Katastrophe ein Verfassungsreferendum durchführte, anstatt alle
Kräfte für die Hilfe der notleidenden Menschen zu mobilisieren. Trotz der anhaltenden Katastrophe konzentrierte
sich die Junta weiterhin auf die Unterdrückung der Opposition.
Das Handeln der Junta folgt nur einer Logik: der des
absoluten Machterhalts. Die Militärs sahen und sehen
ihre Macht durch die massive Präsenz internationaler
Hilfsorganisationen oder gar ausländischer Soldaten gefährdet. Unter allen Umständen soll der Eindruck vermieden werden, dass die eigene Regierung nicht in der
Lage ist, die Nothilfe der Bevölkerung sicherzustellen,
geschweige denn den Wiederaufbau aus eigener Kraft zu
stemmen. Deshalb werden die Militärs auch weiterhin alles tun, um die humanitäre Hilfe und den Wiederaufbau
systematisch zu kontrollieren.
Angesichts des Ausmaßes der real existierenden Verwüstung des Landes ist davon auszugehen, dass der Zyklon die Junta mittelfristig aber geschwächt hat. Allein
den Wiederaufbau beziffert die Militärregierung mit über
11 Milliarden Dollar, wobei klar ist, dass anders als bei
der Nothilfe Hilfe zum Wideraufbau an strikte Bedingungen geknüpft werden muss.
All diese Entwicklungen bringen politische Fragen auf
zwei Ebenen mit sich. Erstens: Wie kann in den kommenden Monaten sichergestellt werden, dass möglichst alle
Menschen die Hilfe erhalten, die sie brauchen, um die kritische Zeit bis Ende des Jahres zu überstehen? Zweitens und dies thematisiert ihr Antrag - die Frage, mit welchen
Mitteln auf das Verhalten der Junta reagiert werden kann gerade jetzt, wenn die Junta mit dem Rücken an der Wand
steht. Wie kann der internationale Druck erhöht werden,
um der Opposition die Möglichkeit zu geben, sich politisch zu artikulieren?
Um es klar zu sagen: Ich unterstütze die Forderung
nach einer gezielten Ausweitung von Sanktionen, wie es
der FDP-Antrag vorsieht. Bestehende EU-Sanktionen
wie das Waffenembargo, die Handels- und Investitionsbeschränkungen, die eingeschränkten Visavergaben usw.
sollten angemessen ergänzt werden. Im Finanzsektor
können Sanktionen in Kooperation mit den USA besser
abgestimmt und erweitert werden, um eine Umgehung
über Drittländer zu verhindern. Ziel muss es sein, Investitionen von Finanzinstituten, die mit der Junta zusammenarbeiten, in Europa und den USA zu erschweren und
im besten Fall zu untersagen.
All dies entledigt uns jedoch nicht davon, darüber
nachzudenken, welche Reichweite europäische und amerikanische Sanktionen haben. Wenn diese beispielsweise
zu weiteren Repressalien gegenüber der eigenen Bevölkerung führen und die humanitäre Hilfe verhindern, zahlen
den entscheidenden Preis die leidenden Menschen in
Birma. Das kann durchaus zur Gradwanderung werden.
Eine „lückenlose Effektivität der gezielten Sanktionsinstrumente“, von der der Antrag spricht, würde eine Beteiligung der ASEAN-Staaten und Chinas voraussetzen.
Diese erfolgen bisher nicht. Vor allem über den Finanzstandort Singapur wickelt Birma viele seiner FinanzTransaktionen ab. China, Singapur und die übrigen
ASEAN-Staaten müssen mit ins Boot geholt werden, wenn
die Sanktionen wirken sollen.
Daher erwarte ich von der Bundesregierung, dass
sie China und den ASEAN-Staaten deutlich macht, dass
diese ihre Verantwortung gegenüber den Menschen in
Birma wahrnehmen müssen. China und die ASEANStaaten müssen ihren Einfluss auf Birma geltend machen, um so zumindest einen Zugang der Helfer zu erreichen. Chinas eigene Öffnung im Zusammenhang mit
der Erdbebenkatastrophe kann da der Anknüpfungspunkt sein.
Und noch etwas hat sich im Falle Birmas gezeigt: Obwohl die Anerkennung der Responsibility to Protect
durch die internationale Staatengemeinschaft in 2005 einen historischen Durchbruch in den Vereinten Nationen
markierte, sind sich die Staaten keineswegs einig, wann
diese greift. Dadurch, dass China, Indien und einige andere ASEAN-Staaten bisher diplomatisch eine Strategie
der Nichteinmischung verfolgen, lief der Vorstoß des
französischen Außenministers Kouchner ins Leere. Allein
sein Versuch einer diplomatischen Intervention des VNSicherheitsrates scheiterte am Veto Chinas.
Birma zeigt: Die Diskussion darüber, wann die Internationale Gemeinschaft aufgrund der Responsibility to
Protect verpflichtet wäre, einzugreifen, hat gerade erst
begonnen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/9340 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 20. Juni 2008, 9 Uhr,
ein.
Ich wünsche unserer, der deutschen Mannschaft Erfolg und uns Anlass zum Jubeln.
Einen schönen Abend.
Die Sitzung ist geschlossen.
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