Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 6/19/2008

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Sitzung ist eröffnet. Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alle herzlich. Vor Eintritt in die Tagesordnung gratuliere ich dem Kollegen Hans-Werner Kammer, der am 16. Juni seinen 60. Geburtstag begangen hat, nachträglich im Namen des ganzen Hauses. Herzliche Glückwünsche und alles Gute für die Zukunft! ({0}) Bevor ich den ersten Punkt unserer heutigen Tagesordnung aufrufe, müssen wir neue Mitglieder für das Kuratorium der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung, Zukunft“ wählen. Die Fraktionen haben dazu folgende Vorschläge unterbreitet: für die Fraktion der CDU/CSU den Kollegen Ingo Wellenreuther als ordentliches Mitglied und den Kollegen Stephan Mayer als Stellvertreter, für die SPD-Fraktion Herrn Dietmar Nietan als ordentliches Mitglied und den Kollegen Dr. Dieter Wiefelspütz als Stellvertreter, für die Fraktion der FDP den Kollegen Dr. Max Stadler als ordentliches Mitglied und den Kollegen Hellmut Königshaus als Stellvertreter, für die Fraktion Die Linke die Kollegin Ulla Jelpke als ordentliches Mitglied und die Kollegin Petra Pau als deren Stellvertreterin und für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen den Kollegen Volker Beck als ordentliches Mitglied und den Kollegen Jerzy Montag als Stellvertreter. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offenkundig der Fall. Dann ist das so beschlossen. Die genannten Kolleginnen und Kollegen sind damit in das Kuratorium der Stiftung gewählt. Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern: ZP 1 Beratung des Antrags der Abgeordneten Sibylle Laurischk, Dr. Max Stadler, Gisela Piltz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Integrationskurse qualitativ verbessern und entbürokratisieren - Drucksache 16/9593 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({1}) Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Josef Philip Winkler, Volker Beck ({2}), Monika Lazar, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Das Parlament bei der Ausgestaltung des Einbürgerungstests beteiligen - Drucksache 16/9602 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({3}) Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ZP 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren ({4}) a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst Meierhofer, Michael Kauch, Angelika Brunkhorst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Barrieren für die Einführung der CCSTechnologie überwinden - Voraussetzungen für einen praktikablen und zukunftsweisenden Rechtsrahmen schaffen - Drucksache 16/9454 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({5}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst Friedrich ({6}), Patrick Döring, Hans-Michael Goldmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Masterplan Güterverkehr und Logistik grundlegend überarbeiten - Drucksache 16/9460 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({7}) Redetext Präsident Dr. Norbert Lammert Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte Pothmer, Markus Kurth, Katrin Göring-Eckardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Rechte von Arbeitssuchenden stärken Kompetentes Fallmanagement sicherstellen - Drucksache 16/9599 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({8}) Haushaltsausschuss d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike Höfken, Cornelia Behm, Nicole Maisch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Rahmenbedingungen für Milchmarkt verbessern - Faire Erzeugerpreise für Milch unterstützen - Drucksache 16/9601 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({9}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Haushaltsausschuss ZP 4 Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache ({10}) a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Güterkraftverkehrsgesetzes und anderer Gesetze - Drucksache 16/9236 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({11}) - Drucksache 16/9600 Berichterstattung: Abgeordneter Horst Friedrich ({12}) b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Kultur und Medien ({13}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen über kreative Online-Inhalte im Binnenmarkt Ratsdok.-Nr. 8793/08 - Drucksachen 16/9538 A.10, 16/9632 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Günter Krings Christoph Waitz Dr. Lukrezia Jochimsen Undine Kurth ({14}) ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Irmingard Schewe-Gerigk, Volker Beck ({15}), Britta Haßelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Durchsetzung der Entgeltgleichheit von Frauen und Männern - Gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit - Drucksache 16/8784 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({16}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Maria Flachsbarth, Marie-Luise Dött, Michael Brand, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU und der Abgeordneten Dr. Hermann Scheer, Ulrich Kelber, Dirk Becker, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn, Winfried Hermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gründung einer Internationalen Agentur für Erneuerbare Energien ({17}) - Drucksache 16/9597 ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Andreas Jung ({18}), Marie-Luise Dött, Michael Brand, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU und der Abgeordneten Frank Schwabe, Marco Bülow, Dirk Becker, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD und der Abgeordneten Michael Kauch, Angelika Brunkhorst, Horst Meierhofer, Dr. Guido Westerwelle und der Fraktion der FDP sowie der Abgeordneten Bärbel Höhn, Hans-Josef Fell, Cornelia Behm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Internationalen Klimaschutz sichern - Integrität und Wirksamkeit der CDM-Projekte weiter verbessern - Drucksache 16/9598 ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Eva Bulling-Schröter, Dr. Gesine Lötzsch, Monika Knoche, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Unterlaufen von Klimaschutzzielen durch CDM-Projekte beenden - Drucksache 16/7752 ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Gudrun Kopp, Jens Ackermann, Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Präsident Dr. Norbert Lammert Energiekosten senken - Mehr Netto für die Verbraucher - Drucksache 16/9595 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({19}) Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker Beck ({20}), Marieluise Beck ({21}), Alexander Bonde, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Menschenrechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgendern und Intersexuellen weltweit sicherstellen - Yogyakarta-Prinzipien unterstützen - Drucksache 16/9603 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({22}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll dabei, soweit erforderlich, abgewichen werden. Außerdem ist vorgesehen, die Tagesordnungspunkte 32 - Flächenerwerbsänderungsgesetz - und 36 b Gesetz zur Änderung des Europaabgeordnetengesetzes und des Abgeordnetengesetzes - abzusetzen. In der Reihenfolge ergeben sich daraus ebenfalls Änderungen: Tagesordnungspunkt 12 wird nach Tagesordnungspunkt 17 aufgerufen, Tagesordnungspunkt 18 nach Tagesordnungspunkt 23, Tagesordnungspunkt 24 nach der Beratung der Zusatzpunkte 7 und 8, und morgen sollen die Tagesordnungspunkte 33 und 34 getauscht werden. - Auch das ist offenkundig nicht streitig. Dann können wir so verfahren. Wir kommen damit zu Tagesordnungspunkt 3: Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin zum Europäischen Rat in Brüssel am 19./20. Juni Hierzu liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktion der FDP, der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung 90 Minuten vorgesehen. - Auch das können wir offensichtlich so vereinbaren. Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat nun die Bundeskanzlerin, Frau Dr. Angela Merkel. ({23})

Dr. Angela Merkel (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001478

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Heute tritt der Europäische Rat zu seiner regelmäßigen Junisitzung zusammen. Es stehen wichtige Themen auf der Tagesordnung. Am Freitag werden wir über die Auswirkungen des Anstiegs der Preise für Lebensmittel, Öl und Gas sprechen. Wir alle wissen, dass es hier keine einfachen Antworten gibt und dass dieses Problem nicht mit Einzelaktionen zu lösen ist; so kann man ihm nicht beikommen. Wir werden versuchen, in Europa gemeinsam und abgestimmt vorzugehen, zum Beispiel dann, wenn es um schnelle und effektive Hilfe geht. So hat die Europäische Union als Reaktion auf die Nahrungsmittelsituation bereits den Umfang der Soforthilfe deutlich erhöht, und sie unterstützt alle Maßnahmen der internationalen Organisationen. Die Bundesregierung hat gestern im Kabinett einen Maßnahmenkatalog verabschiedet, der auch dem Parlament vorgestellt wurde. Wir werden unsere Vorschläge im Juli auch in den Kreis der G-8-Beratungen einbringen. Die wichtigste und aus meiner Sicht zielführendste Antwort Europas auf den Anstieg der Ölpreise heißt mehr Energieeffizienz und Ausbau erneuerbarer Energien. ({0}) Dass Deutschland hier im Vergleich zu anderen Ländern auf einem guten Weg ist, kann man heute in den Zeitungen nachlesen; ich finde, das darf man einmal sagen. Wir sind zwar noch am Anfang dieses Weges, aber wir kommen voran. Die Europäische Union hat sich unter deutscher Präsidentschaft im letzten Jahr sehr ehrgeizige Ziele gesetzt. Diese Ziele müssen jetzt Schritt für Schritt umgesetzt werden. Das wird insbesondere während der französischen Präsidentschaft ein Thema sein. Ich glaube, das Wichtigste neben der Frage des Klimaschutzes ist, dass wir mit unseren Maßnahmen bei den Ursachen hoher Ölpreise ansetzen: Eine Ursache sind Verknappungen. Verknappungen können nur dadurch bekämpft werden, dass wir versuchen, uns von dem Verbrauch solcher Ressourcen zu entkoppeln. Eingriffe, insbesondere solche finanzpolitischer Natur, wie sie immer wieder diskutiert werden, behindern letztlich die notwendigen Anpassungen an veränderte Marktbedingungen und sollten aus unserer Sicht vermieden werden. Ich will noch einmal daran erinnern, dass die Europäische Union im Jahre 2005 eine Abmachung getroffen hat, die sogenannte Manchester-Erklärung, bei der darum geworben wurde, dass nicht einzelne Mitgliedstaaten durch steuerliche Maßnahmen Verzerrungen innerhalb des europäischen Binnenmarktes hervorrufen, die nur zu Ausweichverhalten führen, aber in der Preisbildung nicht zielführend sind. Wir halten diese Abmachung nach wie vor für richtig. Wir fordern natürlich auch ein gemeinsames Vorgehen von Produzenten- und Verbraucherländern. Wir begrüßen deshalb ausdrücklich die Initiative des Königreichs Saudi-Arabien für einen vertieften Dialog zwischen Produzenten und Verbrauchern, der mit der Einladung zum Ministertreffen nach Dschidda angestoßen wurde. Es geht hierbei natürlich auch darum, ob die Raffineriekapazitäten ausreichen und wie wir Investitionen in neue Fördermöglichkeiten unterstützen können. Wir brauchen auch eine möglichst verlässliche Planung der Nachfrage der Schwellenländer, insbesondere so großer Länder wie China und Indien. Deshalb wird das auch bei dem Treffen mit den Schwellenländern auf dem G-8-Gipfel ein Thema sein. Es ist gut, dass wir im vergangenen Jahr beim G-8-Gipfel in Heiligendamm einen kontinuierlichen Dialog zwischen den G-8-Staaten und den Schwellenländern angestoßen haben. ({1}) Diese und andere Themen sind für die Beratungen des heute beginnenden EU-Rates in ihrer Bedeutung nicht zu unterschätzen, sie bewegen die Menschen. Aber machen wir uns nichts vor: Diese Themen werden heute wahrscheinlich nicht im Mittelpunkt stehen. Die Aufmerksamkeit wird sich auf die Situation richten, die wir nach der Ablehnung des Vertrags von Lissabon in Irland haben; darüber werden wir heute beim Abendessen beraten. Auf das Ergebnis des Referendums in Irland muss der Rat reagieren, und zwar ebenso umsichtig wie entschlossen, ebenso unmissverständlich wie geschlossen. Es hilft nicht, zurückzuschauen und das Abstimmungsergebnis zu bedauern. Wenn wir darin verharren, ist das Zeitverschwendung. Dann verschwenden wir Zeit, die wir nicht haben. Ich füge hinzu: Wenn die Diskussion Sinn und Verstand haben soll, dürfen wir sie nicht frei von sachlichen Gegebenheiten führen. Dazu gehört für mich Folgendes: Wir müssen sehen, dass Verträge in der Europäischen Union einstimmig fortentwickelt werden müssen. Daran führt kein Weg vorbei, wie anstrengend das auch immer sein mag. Die Einstimmigkeit ist die Voraussetzung, weil die Mitgliedstaaten Herr der Verträge sind und deshalb jeder einzelne Mitgliedstaat sein Einverständnis für eine Fortentwicklung des Vertrages geben muss. Deshalb helfen uns in dieser Situation Diskussionen über ein Europa der zwei Geschwindigkeiten bzw. über ein Kerneuropa nicht weiter. Damit wir uns nicht missverstehen: Ich halte diese Diskussionen ohnehin für nicht zielführend und zum Teil auch für fahrlässig; denn man kann nicht eine erweiterte Europäische Union haben und zugleich bei der ersten Schwierigkeit immer sofort sagen: Nun gestalten wir ein Kerneuropa. Das heißt, die Geschlossenheit Europas, so mühsam zu erreichen sie auch immer sein mag, ist kein Selbstzweck, sondern ein hohes Gut. Das hat mich geleitet, und das wird mich immer leiten - nicht nur an Jahrestagen, an denen wir dieses großartigen Europas als Friedenswerk und Antwort auf jahrhundertelange Kriege und Feindschaften gedenken, sondern eben auch als Herausforderung für unsere Generation und für unsere Zeit, in der wir uns bei der Gestaltung der Globalisierung wieder zu bewähren haben und in der Europa die richtige Antwort auf die Herausforderungen in einer globalen Welt ist. ({2}) Auch wenn wir das nur formal und rechtlich betrachten würden, führten uns Überlegungen für ein Kerneuropa oder ein Europa der zwei Geschwindigkeiten an dieser Stelle keinen Schritt weiter. Natürlich können sich die Mitgliedstaaten bei einzelnen Politiken entscheiden, mitzumachen oder nicht. Das gibt es vielfach, zum Beispiel beim Schengener Abkommen, beim Euro und bei der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Dänemark beteiligt sich bis heute nicht an der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Wenn es aber um institutionelle Weiterentwicklungen geht, also um die Rechte des Parlaments, die Rechte des Rates und die Ausgestaltung der Arbeit des Rates, dann brauchen wir die Einstimmigkeit. Darüber kann nur die gemeinsame Europäische Union entscheiden. Deshalb ist es an dieser Stelle unsere Aufgabe, gemeinsam einen Weg zu finden. Ich rate uns deswegen, nicht Debatten zu führen, die uns ablenken - das kann man in theoretischen Seminaren tun -, sondern uns darauf zu konzentrieren, was sachlich und rechtlich möglich und geboten ist. Ich bin zutiefst davon überzeugt und fest entschlossen: Angesichts dieser Situation gilt es, gemeinsam mit den Iren einen Lösungsweg zu suchen. Für diese gemeinsame Lösung werden wir all unsere Kraft einsetzen. Ich bin von einem Weiteren überzeugt, nämlich davon, dass wir diese Lösung finden können und finden werden. Wir stehen heute erst am Anfang der Debatte, und ich kann Ihnen hier jetzt natürlich nicht berichten, was heute Nachmittag debattiert wird, so gerne ich das vielleicht auch tun würde. ({3}) Ich kann und werde Ihnen jetzt aber exakt sagen - das möchte ich auch -, woran ich mich orientiere und was mich bei den Gesprächen leiten wird. Erstens. Europa kann sich keine erneute Reflexionsphase leisten. ({4}) Der Europäische Rat muss so schnell wie möglich eine grundsätzliche Entscheidung treffen. Im Übrigen brauchen wir sie auch, um zu wissen, in welcher Form und wie wir die Wahlen zum Europäischen Parlament im Juni 2009 durchführen werden. Zweitens. Europa kann sich auch keinen Kuhhandel leisten; das muss jeder wissen. Natürlich müssen und werden wir uns die Argumente der Iren anhören. Ministerpräsident Cowen wird uns in der heutigen Sitzung des Europäischen Rates eine erste Analyse der Ursachen vortragen, die er dafür sieht, dass es zu einer Ablehnung in Irland kam. Ich werde heute auch die Möglichkeit zu einem bilateralen Gespräch haben. Wir sollten und werden Irland jetzt die Chance geben, selber wieder in das Spiel zurückkehren zu können. Ich glaube, das ist der beste Weg. Drittens. Wir brauchen den Vertrag von Lissabon. ({5}) Es bleibt bei meiner Überzeugung, die ich hier zuletzt auch am 24. April 2008 deutlich gemacht habe: Der Vertrag von Nizza reicht nicht aus. Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Wer nicht will, dass die Europäische Union auf Gebieten tätig wird, die nicht in ihre Zuständigkeit gehören, der muss sich jetzt für den Vertrag von Lissabon einsetzen; denn nur dann, wenn der Vertrag von Lissabon Wirklichkeit wird, erhalten die nationalen Parlamente neue Rechte, die sie bisher nicht hatten. ({6}) Sie erhalten diese Rechte, um die Tätigkeit der Union zu kontrollieren und notfalls sogar dagegen zu klagen. Erst dann können wir auch das Subsidiaritätsprinzip, das uns im Rahmen der Arbeit der Europäischen Union so wichtig ist, wirklich mit Leben erfüllen. Wer will, dass das vielfach beklagte Demokratiedefizit in der Europäischen Union abgebaut wird, der muss für den Vertrag von Lissabon sein. Denn erst mit dem Vertrag wird das Europäische Parlament zum wirklich gleichberechtigten Entscheidungspartner. Wer nicht will, dass auf wichtigen Politikfeldern der Langsamste immer das Verhandlungstempo aller bestimmt, der muss jetzt für den Vertrag von Lissabon sein. Denn der Vertrag bringt die Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen und nimmt damit die Möglichkeit, dass der Langsamste alles blockieren kann. Wer nicht will, dass die Vereinigten Staaten von Amerika oder Russland oder andere Länder auf der Welt immer 27 europäische Meinungen zu Gehör bekommen, bevor sie wissen, was Europa will, der muss jetzt für den Vertrag von Lissabon kämpfen. Denn nur durch den Hohen Beauftragten für die Außenpolitik, durch die Zusammenführung der Kommissions- und Ratsaufgaben in diesem Zusammenhang und durch den Aufbau eines Europäischen Auswärtigen Dienstes werden wir effizient unsere europäische Position in der Welt darstellen können, in all den wichtigen Fragen, die wir alleine nicht mehr lösen können. ({7}) Deshalb würde ein „Weiter so“ bedeuten, dass wir genau auf diesen wichtigen Punkt verzichten und damit Europa in der Welt nicht die Rolle spielen kann, die ihm aus unserer gemeinsamen Sicht zukommt. Das können wir nicht wollen, das dürfen wir nicht zulassen. Deshalb müssen wir hier eine Veränderung schaffen. Und schließlich: Wer nicht will, dass die europäische Zukunft des westlichen Balkans infrage gestellt wird, der muss für den Vertrag von Lissabon eintreten; denn nur er macht die Europäische Union erweiterungsfähig. Mit Nizza geht das nicht. ({8}) Viertens. Der Ratifizierungsprozess in Europa muss fortgesetzt werden. Alle Mitgliedstaaten unserer Europäischen Union müssen ihre Haltung festlegen, natürlich entsprechend den nationalen Ratifizierungsbedingungen. In Deutschland ist dies im Bundestag und inzwischen auch im Bundesrat geschehen. Ich möchte mich heute noch einmal für die breite Unterstützung bedanken. Ich bin überzeugt: Ein besseres Reformpaket für mehr Demokratie und Handlungsfähigkeit als den Lissaboner Vertrag werden wir kaum schnüren können. Der Vertrag von Lissabon geht bereits auf die in den letzten Jahren laut gewordenen Sorgen - berechtigten Sorgen, sage ich ausdrücklich - der Bürgerinnen und Bürger ein. Alle, die jetzt sofort wieder davon reden, die Iren hätten einer geheimen Politik im Hinterzimmer eine Absage erteilt, die müssten es eigentlich - auch das sage ich ausdrücklich - besser wissen. Dieser Vertrag von Lissabon ist das Ergebnis eines siebenjährigen Verfahrens, in das nationale Parlamente und die Bürgergesellschaft einbezogen waren. ({9}) Er ist ein Vertrag, dessen Substanz aus den öffentlichen Beratungen im europäischen Konsens hervorgegangen ist. In Deutschland waren Bundestag und Bundesrat an allen Schritten beteiligt. ({10}) - Wenn Sie sich als Abgeordneter nicht vom Volk gewählt fühlen, dann sind Sie selber schuld. ({11}) Wir alle wissen, dass die Europäische Union die Fortschritte benötigt, die der Vertrag von Lissabon vorsieht. Deshalb hat dieses Haus dem Vertragswerk mit so großer Mehrheit zugestimmt. (Beifall des Abg. Jörg Tauss ({12}) Weitere 17 Mitgliedstaaten haben es bereits ratifiziert. Ich werde heute und morgen beim Rat dafür werben, dass dieser Ratifizierungsprozess fortgesetzt wird. ({13}) Es haben sich viele Mitgliedstaaten in ähnlicher Weise geäußert. Die gute Nachricht, die wir alle vernommen haben, ist, dass auch in Großbritannien der parlamentarische Beratungsprozess erfolgreich abgeschlossen worden ist, gestern im Oberhaus, vorher schon im Unterhaus. Das ist für Europa eine ganz wichtige Nachricht, über die wir uns sehr freuen. ({14}) Wenn dann die Ratifizierungsprozesse im Herbst in die Endrunde gehen, dann wird auch der Punkt gekommen sein, an dem Irland vortragen wird, wie es weiter vorgehen möchte. Ohne Zweifel wird für diese Aufgabe eine besonders große Verantwortung beim kommenden französischen Ratsvorsitz liegen. Ich glaube, es steht völlig außer Zweifel - das möchte ich noch einmal verdeutlichen -, dass Deutschland, die Bundesregierung, aber auch wir alle gemeinsam die französische Ratspräsidentschaft bei diesen Bemühungen unterstützen werden. Das sagt der Bundesaußenminister. Das sage ich. Das sagt die gesamte Bundesregierung. Unser Ziel ist und bleibt, die notwendigen Reformen so rasch wie möglich in Kraft zu setzen. Nur so sind wir mit effektiveren Institutionen gerüstet, uns um die Lösung der Probleme der Bürgerinnen und Bürger wirklich kümmern zu können. Sie erwarten - ich habe über die Probleme am Anfang gesprochen -, dass wir Europäer gemeinsam die Globalisierung durch soziale Marktwirtschaft, durch eine wertegebundene Außenpolitik sowie durch eine moderne Klima- und Energiepolitik gestalten. Dafür brauchen wir die neuen Grundlagen des Vertrags von Lissabon. ({15}) Das sind die Gründe, warum wir alle - ich gebrauche das Wort mit Bedacht - ein leidenschaftliches Interesse daran haben müssen, dass der Vertrag von Lissabon rasch in Kraft tritt. Wir alle in diesem Haus - mit Ausnahme weniger - wissen, dass wir ein handlungsfähiges Europa brauchen, um in der Welt in Frieden, Freiheit und Sicherheit leben zu können. Ich bitte Sie um Ihre Unterstützung, damit wir mit Irland einen gemeinsamen Weg finden, und zwar so, wie ich es zu Beginn gesagt habe: einen Weg, der ebenso umsichtig wie entschlossen ist, der ebenso unmissverständlich wie geschlossen ist im Interesse Irlands, im Interesse der Europäischen Union und im Interesse Deutschlands. Das ist aus meiner Sicht jede Mühe wert. Dafür werden wir arbeiten. Herzlichen Dank. ({16})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Dr. Guido Westerwelle, FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Bundeskanzlerin, Sie haben Ihre Regierungserklärung mit dem Hinweis auf die steigenden Preise und die Belastungen der Bürgerinnen und Bürger in Europa und - das betrifft dieses Haus - insbesondere in Deutschland angefangen. Sie haben gesagt, dass Sie durch Europa reisen und mit Saudi-Arabien sprechen möchten, um die Preisentwicklungen in den Griff zu bekommen. Sie haben aber über das, was Sie selbst tun wollen und können, um die steigenden Preise anzugehen, nicht gesprochen. ({0}) Bevor Sie über Brüssel reden, müssen Sie Ihre eigenen Hausaufgaben machen. Das gilt insbesondere für den Energiebereich. Sie sprechen davon, dass die steigenden, galoppierenden Energiepreise das Ergebnis von Verknappung seien. Das ist bestenfalls die halbe Wahrheit. In Wahrheit sind sie das Ergebnis einer Preistreiberei durch Steuern und Abgaben des Staates. ({1}) Die Preistreiber bei der Energie sitzen auf der Regierungsbank. ({2}) Anstatt das Problem wolkig zu beschreiben, sollten Sie selbst handeln. Da die Bundesregierung selbst in diesem Monat deutlich gemacht hat, wie hoch der Steueranteil an den Preisen für Benzin bzw. Diesel ist, möchte ich noch einmal darauf aufmerksam machen: Bis zu zwei Drittel der Energiepreise werden vom Staat, werden von der Regierung gemacht. Das ist die ganze Wahrheit für die Bürgerinnen und Bürger. Es reicht nicht aus, wenn Sie versprechen, dass Energieeffizienz und erneuerbare Energien zu einer Senkung der Preise führen werden. Notwendig ist, jetzt zu handeln. Der französische Staatspräsident hat entsprechende Vorschläge gemacht. Sie lehnen sie ab. Das muss festgehalten werden. Sie dürfen sich nicht hinter Europa verstecken, wenn Sie eine falsche Energiepolitik machen. ({3}) Wir haben kein Wort dazu gehört, was aus unserer Sicht in der Energiepolitik notwendig wäre, beispielsweise ein rationaler Energiemix. Es ist bedauerlich, dass sich auch die Unionskolleginnen und -kollegen nicht mehr an das erinnern, was sie eigentlich regelmäßig wollen und früher einmal - vor langer Zeit, bis vor zweieinhalb Jahren - vertreten haben, nämlich dass wir einen rationalen Energiemix brauchen. Frau Bundeskanzlerin, wenn Sie bei steigenden Preisen über erneuerbare Energien und über Energieeffizienz reden, dann ist das richtig. Dass Sie aber verschweigen, wie notwendig es wäre, den Beschluss zum Ausstieg aus der Kernenergie rückgängig zu machen, ist falsch. ({4}) Da wir über Europa reden: Wir wissen, dass in ganz Europa ein anderer Weg beschritten wird. Wir wissen, dass beispielsweise Großbritannien und Frankreich soeben angekündigt haben, in der Energiepolitik ganz andere Wege zu gehen. In Europa setzt man auf die CO2freie Kernenergie, ausdrücklich im Mix mit den erneuerbaren Energien. Wir in Deutschland steigen aus der Atomenergie aus. Das treibt die Preise nach oben, wickelt die Forschung ab, ist schlecht für die Umwelt, schlecht für die Wirtschaft und unsozial gerade für die, die hohe Preise zu tragen haben. ({5}) Es reicht also nicht aus, dass man sagt, man wolle in Brüssel dieses oder jenes Thema ansprechen. Notwendig ist, dass Sie dies hier zu Hause tun. Die Tatsache, dass Sie das in Ihrer Regierungserklärung nicht sagen - anders als auf den diversen Messen, die Sie eröffnen -, hängt damit zusammen, dass Sie in dieser Koalition keine Einigkeit in Bezug auf die Entwicklung der Energiepreise haben. Das ist der entscheidende politische Punkt. Bei Regierungserklärungen kommt es nämlich nicht nur darauf an, was gesagt wird, sondern es kommt ganz entscheidend darauf an, was nicht gesagt wird. All das, was Sie nicht gesagt haben, lässt eine ausführliche Zustandsbeschreibung über die Uneinigkeit dieser Koalition, dieser Regierungsparteien zu. ({6}) Sie haben sich in Ihrem zweiten Teil mit den politischen Folgen nach dem gescheiterten Referendum in Irland auseinandergesetzt. Auch dazu ist es notwendig, festzuhalten, dass Sie uns in diesem Hause vom Lissabon-Vertrag nicht zu überzeugen brauchen. Überzeugen müssen Sie und wir alle die Bürgerinnen und Bürger. Ich glaube, man macht es sich zu leicht, wenn man einfach sagt, es sei das kleine Irland gewesen und im Rest von Europa wäre eine Abstimmung garantiert anders ausgegangen. Man macht es sich auch zu leicht, wenn man sagt, für die Abstimmung seien die Abgeordneten da, die das Volk repräsentierten. Natürlich ist es richtig, dass wir in diesem Hohen Hause mit großer Mehrheit den Lissabon-Vertrag ratifiziert haben. Aber natürlich ist es deswegen nicht weniger notwendig, auch die Mehrheiten unserer Völker hinter diese europäische Integration zu bekommen. Das ist der entscheidende Auftrag, den wir in der Europapolitik haben. ({7}) Wenn man meint, das sei ein insulares Problem, dann hat man die Lage in Europa nicht verstanden. Das ist nicht nur Irland, ({8}) und das sind nicht nur einige wenige, zu denen auch ich in Gegnerschaft stehe. Es ist in Wahrheit eine Aufgabe für uns alle. Wir haben den Lissabon-Vertrag in diesem Hohen Hause mit einer Mehrheit von 90 Prozent ratifiziert, weil er gut für unsere Völker und gut für Europa ist. Trotzdem müssen wir unseren Bürgerinnen und Bürgern jeden Tag, immer wieder aufs Neue, den Nutzen der europäischen Integration für unsere Völker erklären. Der Dialog ist zu wenig, er ist zu kümmerlich, er findet zu sehr in den Eliten statt und zu wenig in der Breite. Eine selbstkritische Analyse muss uns gebieten, das festzustellen. ({9}) Das heißt doch nicht, dass diejenigen, die das ansprechen, weniger von der europäischen Idee begeistert wären. Es geht ganz einfach darum, dass man sich die Frage stellen muss: Maßt sich Europa die Einmischung in Dinge an, aus denen es sich besser heraushalten sollte? Wir wollen doch einmal etwas festhalten, was die Subsidiarität angeht. Jeden Tag gibt es Bemerkungen, bei denen man sich fragt, ob man so etwas auf nationaler Ebene diskutieren würde. Ich bin nicht davon überzeugt, dass die deutsche Bundeskanzlerin mit dem Programm vor den Bundestag treten würde, die Glühbirnen abzuschaffen. Und weil das hier nicht gemacht wird, wird über Bande gespielt - so ist es doch in Wahrheit: Vieles von dem, was sich hier in Deutschland bzw. in den nationalen Parlamenten manch einer nicht traut, landet über die Ecke in Brüssel, damit dann anschließend hier über Brüssel geschimpft werden kann. Auch das ist eine komische Arbeitsteilung, über die gesprochen werden muss. ({10}) Frau Bundeskanzlerin, Sie haben sehr vehement ein Europa der zwei Geschwindigkeiten abgelehnt. Sie haben aber nicht gesagt, was Sie wollen. Sie haben nur gesagt, dass Sie jetzt die Vorschläge aus Irland erwarten. Genauso können wir sagen: Wir erwarten Ihre Vorschläge. - Wir unterstützen es ausdrücklich, dass Sie sagen: Wir halten am Lissabon-Vertrag fest. - Denn er verbessert das, was ist. Europa wird durch diesen Vertrag demokratischer, transparenter, effizienter und handlungsfähiger. Das wissen wir. Aber einfach nur zu sagen „Wir halten am Lissabon-Vertrag fest“, obwohl man doch zur Kenntnis nehmen muss, dass dieses Volksvotum in Irland gegen den Integrationsprozess nicht das erste war, ist aus unserer Sicht zu wenig. ({11}) Um die Völker wieder für die europäische Idee zu begeistern, hätten Sie hier sagen müssen: Das ist unser Maßnahmenpaket. - Nicht alleine das, was in Konferenzen der Regierungen stattfindet, entscheidet das Schicksal Europas. Entschieden wird das Schicksal Europas an der Frage, ob sich die Völker hinter diese Idee stellen. Das zu erreichen, ist die Hauptaufgabe der Regierenden in ganz Europa, meine sehr geehrten Damen und Herren. ({12}) - Herr Kollege Tauss, „Westerwelle nach Irland“ war einer Ihrer intelligentesten Zurufe. Das ist ein herausragender Zuruf. ({13}) Wo Sie mittlerweile stehen, ist leicht erklärbar - so ignorant, wie Sie mittlerweile über diese Fragen reden, Herr Kollege. Ich wundere mich wirklich nicht. ({14}) Es ist eine ganz einfache Sache: Es ist und bleibt ein Rückschlag. Wenn wir ehrlich sein wollen, dann sollten wir auch ein gewisses Maß unserer Ratlosigkeit zugeben. Vor allen Dingen sollten wir aber am europäischen Integrationsprozess festhalten. Frau Bundeskanzlerin, Sie sagen: Es gibt kein Europa der zwei Geschwindigkeiten. - Ich hoffe, dass Sie recht haben. Aber ich glaube, wenn sich andere Teile Europas nicht mehr am europäischen Integrationsprozess beteiligen wollen, dann müssen wir irgendwann auch darüber reden, ob dies das übrige Europa wirklich daran hindern darf, den Integrationsprozess, der für unser Schicksal so notwendig ist, fortzusetzen. Sie sprechen davon, dass nicht der Langsamste das Tempo bestimmen darf. Das ist richtig. Aber das muss dann auch gelten, wenn es darum geht, Europa demokratischer werden zu lassen. Ich glaube, wir müssen in der Europapolitik neu denken. Wir müssen fest bei unseren Zielen bleiben, aber wir müssen auch erkennen: Die Lage ist nach diesen Referenden eine andere. ({15}) Unsere Aufgabe ist es, an der europäischen Integrationsidee festzuhalten und nicht nur Parlamente, sondern vor allen Dingen auch die Bürgerinnen und Bürger für diese großartige Idee zu gewinnen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({16})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. SchwallDüren von der SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Angelica Schwall-Düren (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002795, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Vor wenigen Wochen standen wir voller Hoffnung hier im Bundestag und haben gemeinsam mit großer Mehrheit die Ratifizierung des Lissabonner Vertrages beschlossen. Mit diesem Lissabonner Vertrag haben wir eine kritische Phase abgeschlossen, in der die deutsche EU-Ratspräsidentschaft Hervorragendes geleistet hat, um den Weg einer gleichzeitigen Vertiefung und Erweiterung der Europäischen Union weiterzugehen. Beides gehört zusammen; denn die Erweiterung ist eine der großen Herausforderungen, vor denen die Europäische Union steht. Diese Erweiterung war und ist nach Jahrzehnten der Kriege, der Auseinandersetzungen, einschließlich des Kalten Krieges, die historische Chance unseres Kontinentes, zu einer Wiedervereinigung zu kommen, aber eben auch die Voraussetzungen dafür zu schaffen, ein handlungsfähiges, ein demokratisches, ein bürgernahes Europa zu haben, um den Herausforderungen der Globalisierung gerecht zu werden. Frau Bundeskanzlerin hat auf einige Themen hingewiesen, die heute auch im Rat eine Rolle spielen werden. Herr Westerwelle, Sie haben die Bundesregierung hier wegen ihrer Energiepolitik gegeißelt, ich kann Sie daher nur fragen: Haben Sie vergessen, welche großen Erfolge die deutsche Ratspräsidentschaft - gerade auf der europäischen Bühne - erreicht hat, um beim Thema Klimaschutz voranzukommen, welche wegweisenden Ziele wir dort miteinander verabredet haben? ({0}) Haben Sie übersehen, dass wir gestern das zweite Klimaschutzpaket auf der nationalen Ebene verabschiedet haben und dass wir damit keine kurzfristigen, keine populistischen Maßnahmen in Gang setzen, die Augenwischerei wären? Vielmehr tragen wir dazu bei, dass die Energie den Bürgern auf Dauer in einem vernünftigen Mix und zu angemessenen Preisen zur Verfügung steht. ({1}) Leider - da muss ich Herrn Westerwelle ein Stück weit recht geben ({2}) ist das Referendum in Irland aber ein Beleg dafür, dass es uns nicht durchgängig gelungen ist, die Europäische Union als eine Möglichkeit für die soziale Gestaltung der Globalisierung deutlich zu machen. Sosehr wir die Entscheidung in Irland zu respektieren haben, so muss ich dennoch sagen, dass die Bestürzung, die Enttäuschung darüber, dass wir jetzt eine so komplizierte Lage haben, auf die wir eben keine schnelle Antwort finden, selbstverständlich groß ist. Wenn die Vertragsgegner sagen, die Europäische Union habe eine schallende Ohrfeige erhalten, dann ist das schlicht und einfach falsch - genauso war die Kritik am Vertrag im Vorhinein eine Irreführung der Menschen -; denn das Nein zum Lissabonner Vertrag ist ein Ja zu den bestehenden Zuständen, die man angeblich kritisiert. Nur das Ja zum Vertrag gibt uns die Möglichkeit, Europa weiterzuentwickeln. ({3}) Deswegen ist es in der Tat so, dass wir die Ratifikation jetzt unbedingt fortsetzen müssen, damit alle Länder, deren Entscheidung noch aussteht, deutlich machen, dass sie ein starkes Europa wollen. Irland muss Vorschläge entwickeln, und zwar selbstverständlich solche Vorschläge, bei deren Umsetzung die anderen Mitgliedstaaten mithelfen können. Hier hat die französische Ratspräsidentschaft eine große Verantwortung. Wir brauchen aber auch eine Analyse Irlands. Dazu möchte ich ganz leise sagen: Eigentlich hätte ich schon erwartet, dass man aus den vorherigen Erfahrungen Schlussfolgerungen gezogen hätte. Vielleicht hätte man mehr tun können, dieses negative Ergebnis zu vermeiden. Jetzt bleibt allerdings nicht viel Zeit. Wir können uns eine lähmende Pause vom Denken in der Europäischen Union nicht mehr erlauben. ({4}) Wir müssen zwar mit kühlem Kopf überlegen, aber dennoch bedenken: Die Wahlen zum Europäischen Parlament 2009 stehen an. Lassen sie mich auf die verschiedenen Alternativen eingehen, die im Raum stehen. Alle Alternativen, die bisher diskutiert werden und bekannt sind, bringen Probleme mit sich und bergen Risiken. ({5}) Da gibt es das Votum, man solle doch auf der Geschäftsgrundlage des Nizza-Vertrages einfach so weitermachen. Von einigen hören wir, der Lissabon-Vertrag sei ohnehin tot. Aber dann würde die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union immer schwächer werden, und - die Frau Bundeskanzlerin hat darauf ebenfalls hingewiesen - Erweiterungen in größerem Umfang wären dann nur schwer vorstellbar - Erweiterungen, die wir aus Stabilitätsgründen und aus friedenspolitischen Gründen unbedingt brauchen. Auch die zweite Alternative, in Irland ein neues Referendum durchzuführen, möglicherweise mit einer Erklärung oder Opt-outs versehen, birgt Risiken, weil dieses Beispiel schlechte Schule machen könnte oder sich die Wähler in Irland düpiert fühlen und erneut Nein sagen könnten. Die Alternative, einen neuen Vertrag auszuhandeln, halte ich für illusionär. Dieses Ziel wäre schwer zu erreichen, und das würde unter den gegebenen Umständen dazu führen, dass die Substanz unglaublich ausgedünnt würde. Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Auch ich persönlich hege große Skepsis in der Frage, ob wir mit den vertiefungswilligen Staaten zu einer sogenannten Neugründung der Europäischen Union kommen sollen, um das Problem mit einem Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten oder einem Kerneuropa zu lösen. Neue Probleme stünden am Horizont, ebenso zunehmende Komplexität und Intransparenz. Außerdem stellt sich die Frage, wie wir dann noch die demokratische Legitimation von solch unterschiedlichen Gemeinschaften über ein europäisches Parlament sicherstellen könnten. Der leisen Hoffnung, ein solcher Weg würde so attraktiv sein, dass sich die Mehrzahl der Staaten ihm anschließt, steht die Sorge gegenüber, dass die Zentrifugalkräfte stärker werden. Deswegen müssen wir, glaube ich, grundsätzlicher an die Frage herangehen. Wir müssen uns fragen, welches Europa wir wirklich wollen. Haben wir ein gemeinsames Verständnis zwischen Iren und Deutschen, zwischen Kroaten und Franzosen, zwischen Mazedoniern und Schweden? Diese Debatte über die Finalität muss selbstverständlich von den Staats- und Regierungschefs geführt werden. Sie muss aber auch zwischen den Abgeordneten der nationalen Parlamente geführt werden. Es ist zudem nicht nur eine Frage der Eliten, sondern es ist eine Frage, die die Menschen bewegt und die wir mit den Menschen, mit den Bürgern und Bürgerinnen, diskutieren müssen. Gibt es nicht doch eine Verbindung zwischen dem Nein, das die Franzosen und die Niederländer in ihren Referenden gegenüber dem Verfassungsvertrag ausgesprochen haben, und der Eurodistanz und dem Euroskeptizismus, die wir in vielen anderen Ländern ebenfalls erleben? Dies ist aber keine grundsätzliche Ablehnung der Europäischen Union. Die Menschen haben hohe Erwartungen an das, was wir gemeinsam gestalten wollen. Fragen des Klimaschutzes, Fragen des zunehmenden Wohlstandsgefälles zwischen unseren Staaten, Fragen der Sicherheit vor Gewalt, Fragen nach sozialer Sicherheit beschäftigen die Menschen, die hierzu Erwartungen an die Europäische Union haben. Es ist klar: Soziale Unsicherheit hat eine unmittelbare Verbindung zur Gewalt. Nur diejenigen, die reich sind, können sich privat Schutz vor Gewalt sichern. Die Europäische Union und die Mitgliedstaaten in ihr müssen gemeinsam gegen die Probleme kämpfen, die unsere Bürger und Bürgerinnen ängstigen. Dabei dürfen wir selbstverständlich nicht in Populismus oder billigen Protektionismus und Renationalisierung verfallen. Aber es ist klar - das sage ich durchaus auch in Richtung der Wirtschaftsliberalen -: Ein integrierter Markt braucht auch eine gemeinsame Politik; nur so kann das gewünschte Ergebnis - ein sozialer Zusammenhalt in unserem Europa - erreicht werden. ({6}) Wenn dagegen eine größere Kluft entsteht, dann sagen die Menschen Nein zu Europa; denn dann sehen sie nicht, was sie von diesem Europa haben. Ich glaube zutiefst, dass wir unsere Informationsund Kommunikationspolitik verbessern müssen, dass wir aufwachen müssen, dass wir Verantwortung übernehmen müssen und dass wir - ich erinnere mich an einen Vorfall gestern im EU-Ausschuss - von uns aus nicht schlecht über Europa und seine Institutionen reden dürfen. ({7}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir alle müssen Leidenschaft in dieser Debatte entwickeln, ({8}) und wir müssen gemäß dem Ausspruch von Habermas Europa auf unseren Marktplätzen zum Thema machen. Nur mit den Bürgerinnen und Bürgern schaffen wir ein nachhaltiges Europa, ein handlungsfähiges Europa, ein soziales Europa. Nur im Dialog mit den Bürgerinnen und Bürgern schaffen wir eine europäische Identität auf der Grundlage der europäischen Wertegemeinschaft. Gestern Abend war ich bei der Präsentation der Stipendiaten unseres IPS-Programms. ({9}) Es war wunderbar, dort diese Vielfalt und diese Zusammenarbeit von jungen Leuten aus unterschiedlichen europäischen Ländern - egal, ob sie zur EU gehören oder nicht - zu erleben. Aus dieser Zusammenarbeit erwächst Stärke. Das ist meine Hoffnung. Diese jungen Leute dürfen wir nicht alleinlassen. Wir dürfen uns nicht zurücklehnen und ausruhen. Lassen Sie uns über die Zukunft der Europäischen Union gemeinsam mit den Bürgern streiten, aber lassen Sie uns Europa auch gemeinsam voranbringen. Herzlichen Dank. ({10})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Dr. Gregor Gysi ist der nächste Redner für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Westerwelle, Sie haben zu Beginn Ihrer Rede über die Energiepreise gesprochen und gesagt, die Kanzlerin hätte, als sie auf die Verknappung der Ressourcen hingewiesen hat, höchstens die halbe Wahrheit gesagt; zur ganzen Wahrheit gehöre auch ein Verweis auf die Abgaben- und Steuerquote. Ich muss sagen: Auch damit ist noch nicht die ganze Wahrheit erfasst. Einen Umstand haben Sie nämlich vergessen: Die ganze Energieversorgung haben sich vier Konzerne in Deutschland feudal aufgeteilt, und sie nutzen diese Stellung zur Abzocke. Das ist die ganze Wahrheit. ({0}) Deswegen haben wir immer wieder vorgeschlagen, die Energieversorgung zu rekommunalisieren, damit die Politik wieder zuständig wird. ({1}) Eigentlich geht es ja um Europa. Eigentlich geht es um Irland. Ich fand es gut, dass die Bundeskanzlerin hier nicht arrogant aufgetreten ist. Allerdings hat sie auch nicht einmal die Andeutung einer Lösung gemacht und, wenn man es sich genau überlegt, sogar das Gegenteil davon. Sie hat nämlich klipp und klar gesagt: Wir müssen eine Lösung mit Irland finden, aber der Vertrag von Lissabon muss bleiben. Aber nun hat die Mehrheit des Volkes in Irland Nein zu dem Vertrag gesagt. ({2}) Ergo müssten doch andere Vorschläge kommen. Es gibt Reaktionen der Arroganz auch aus anderen Ländern Europas. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn man sagt, man könne sich nicht nach dieser komischen Insel richten etc. Ich finde diese Haltungen völlig unpassend und erinnere daran, dass damals, als der Verfassungsvertrag keine Mehrheiten in den Niederlanden und in Frankreich fand, zumindest nicht so arrogant reagiert wurde wie jetzt gegenüber Irland. ({3}) Aus Art. 6 Abs. 2 des Vertrages von Lissabon geht klipp und klar hervor, dass alle 27 Mitgliedsländer den Vertrag ratifizieren müssen. Irland hat nun Nein gesagt. Wir brauchen jetzt also einen Neuanfang und nicht technische Überlegungen, wie man tricksen kann, um das Ganze doch irgendwie durchzusetzen. ({4}) Nun ist wahr: Irland hat der Beitritt zur Europäischen Union sehr gutgetan: Aus einer armen Region wurde eines der reichsten Länder in Europa. Heute liegt dort das Pro-Kopf-Einkommen höher als in Deutschland. Das liegt allerdings weniger an Irland und vielmehr an unseren Bundesregierungen, die eine falsche Politik gemacht haben; aber es ist trotzdem ein bemerkenswertes Faktum. ({5}) Auch für Deutschland ist die EU wichtig. Ich sage immer, die Europäische Union garantiert, dass zwischen den Mitgliedsländern keine Kriege mehr stattfinden. Ökonomisch kann man sich so viel besser auf die globalisierte Weltwirtschaft einstellen. Das alles ist wahr. Aber warum gibt es denn dann ein Nein zum Verfassungsvertrag aus der Mehrheit der Bevölkerungen in Frankreich, in den Niederlanden und jetzt in Irland? Sind die irrational? Wollen sie einfach Europa nicht? Sind sie gar europafeindlich? Ich glaube, das ist eine Arroganz, die uns nicht zusteht. Dieses Europa wird falsch organisiert. Es schürt Ängste, und deshalb brauchen wir eine andere Herangehensweise. ({6}) Was hat man denn nach dem Scheitern des Verfassungsentwurfs gemacht? Man hat den Vertrag ein bisschen geändert, um Volksentscheide zu verhindern. Das war das einzige Ziel, ({7}) damit die Bevölkerungen in Frankreich und den Niederlanden nicht mehr darüber entscheiden dürfen, andere Bevölkerungen ohnehin nicht. In Deutschland hat man dafür ja nie den Weg geöffnet, obwohl es höchste Zeit wäre. ({8}) - Selbst in der DDR gab es mal einen Volksentscheid; aber das macht sie auch nicht viel besser. ({9}) - Sie müssen bis zum Ende zuhören! Ich sagte gerade, das macht sie auch nicht viel besser. Die Mehrheit hat Ja gesagt zur Verfassung, trotz aller Fälschung; das ist viel schlimmer. Aber das können wir dahingestellt sein lassen. ({10}) - Wenn Sie es besser können, machen Sie doch eigene Volksentscheide! Warum trauen Sie denn Ihrer Bevölkerung nicht? Das ist doch die entscheidende Frage. ({11}) Der Vertrag von Lissabon erweitert tatsächlich die Parlamentsrechte; das stimmt. Aber er erweitert nicht nur die Parlamentsrechte, sondern er geht auch andere Wege. Er schafft zum Beispiel eine Agentur zur Aufrüstung. ({12}) Er schafft europäische Streitkräfte, die interventionsfähig sein sollen, und zwar ohne wenigstens nationale Streitkräfte abzubauen, sondern einfach obendrauf. Außerdem regelt er keine neuen sozialen Grundrechte und geht sogar noch weiter, indem er die Kapitalfreiheiten über die sozialen Grundrechte stellt, zum Beispiel die Niederlassungsfreiheit, die Dienstleistungsfreiheit und die Kapitalverkehrsfreiheit. Die europäischen Sozialstaaten sollen zerstört werden. Das ist auch die Erfahrung der Menschen. ({13}) Ich nenne Ihnen jetzt drei Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs, um die Sie nicht herumkommen. Der Europäische Gerichtshof hat sich dabei auf europäisches Recht gestützt. Er hat das Streikrecht eingeschränkt. Er hat erstens ganz klar gesagt: Die schwedischen Gewerkschaften dürfen nicht zum Streik aufrufen, wenn ausländische Arbeitnehmer niedrigere Löhne als die in Schweden geltenden bekommen. Zweitens hat der Europäische Gerichtshof gesagt, die Finnen dürfen nicht streiken, wenn ein Schiff ausgeflaggt wird, damit niedrigere Löhne bezahlt werden können. Drittens hat der Europäische Gerichtshof, gestützt auf europäisches Recht, erklärt, das Vergabegesetz in Niedersachsen werde aufgehoben - ein CDU-Vergabegesetz, damit wir uns hier richtig verstehen. Und warum? Weil dort geregelt war, dass öffentliche Aufträge nur Unternehmen erteilt werden dürfen, die die ortsüblichen Tariflöhne bezahlen. Der Gerichtshof hat entschieden, dass auch Angebote zu Billigstlöhnen unterbreitet werden können, um einen öffentlichen Auftrag zu bekommen. Damit wurde klar zum Ausdruck gebracht: Profite sind wichtiger als ein würdiger Lohn. Das kann man sich nicht bieten lassen. ({14}) Die Konsequenz, Frau Bundeskanzlerin, hätte doch darin bestehen müssen, dass Sie Ihre Auffassung ändern und sagen: Wenn der Europäische Gerichtshof so entscheidet, führen wir den flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn ein, damit klar ist, dass in Deutschland die Arbeit, die man leistet, gewürdigt wird. ({15}) Aber diesen Weg sind Sie nicht gegangen. Deshalb mache ich mir Sorgen, denn ich kenne die Ängste. Ich war in Sachsen und in anderen Ländern. Ich plädiere immer für die europäische Integration, ({16}) weil ich weiß, wie wichtig sie ist. Die NPD quatscht immer dagegen, verstehen Sie? Wenn Sie Ihre Politik nicht ändern, dann organisieren Sie deren Erfolge, und die will ich nicht! Das ist das Problem. ({17}) Sie haben ein Europa der Regierungen und nicht der Bevölkerungen und der Völker organisiert. Das ist der Fehler. Ich sage noch einmal: Einen Weg zu gehen, bei dem Volksentscheide verhindert werden, ist falsch. Wir müssen die Mehrheit der Völker in Europa für diesen europäischen Integrationsprozess gewinnen. Dazu brauchen wir einen anderen Vertrag als den von Lissabon. ({18}) Einiges kann man übernehmen, aber anderes müssen wir anders regeln. Wenn Sie mir das Ganze nicht glauben, dann erlauben Sie mir, dass ich Jürgen Habermas zitiere, der am 17. Juni dieses Jahres in der Süddeutschen Zeitung geschrieben hat: Die aufgescheuchten Regierungen wollen nicht ratlos erscheinen, sie suchen nach einer technischen Lösung. Diese läuft auf eine Wiederholung des irischen Referendums hinaus. - Auch Sie, Frau Bundeskanzlerin, waren nicht anders zu verstehen. Das ist der pure Zynismus der Macher gegenüber dem verbal bezeugten Respekt vor dem Wähler und Wasser auf die Mühlen derer, die munter darüber diskutieren, ob nicht die halbautoritären Formen der andernorts praktizierten Fassadendemokratien besser funktionieren. An anderer Stelle schreibt er: Der Ministerrat sollte über seinen Schatten springen und mit der nächsten Europawahl ein Referendum verbinden. ({19}) Das wäre richtig. Was wir brauchen, ist ein Neuanfang und nicht Tricks, um das Alte fortzusetzen. Was wir brauchen, ist ein Europa der Völker. Sie aber wollen nur ein Europa der Regierungen, und das reicht nicht aus. ({20})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Michael Stübgen, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Michael Stübgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002280, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Fakten, über die wir heute diskutieren, sind schnell aufgezählt: In der vergangenen Woche haben 46 Prozent der irischen Bevölkerung beim Referendum zum Lissabon-Vertrag mit Ja und 53,4 Prozent mit Nein gestimmt. Die Wahlbeteiligung lag bei 53 Prozent, was für ein Referendum relativ hoch ist. Die Konsequenzen dieses Ergebnisses sind genauso einfach erklärt: Bleibt es beim irischen Nein, kann der Vertrag von Lissabon nicht in Kraft treten. Die Bundeskanzlerin hat zu Recht darauf hingewiesen, dass es zu einem der unverrückbaren Grundsätze der Europäischen Union gehört, dass gemeinsame Verträge von jedem einzelnen Mitgliedsland nach den dort geltenden verfassungsrechtlichen Bestimmungen ratifiziert werden müssen. Aber kaum jemand kann und will mit diesem Ergebnis leben, nicht einmal Irland selbst. Das muss man deutlich sagen. Von der Linken haben wir gerade gehört, es sei Arroganz gegenüber Irland, wenn wir darüber nachdenken, wie man eine Lösung finden kann und wie aus dem irischen Nein vielleicht ein Ja werden kann. Das ist nicht Arroganz; denn die irische Regierung selber hat nicht ausgeschlossen, dass es einen solchen Weg geben könnte. ({0}) Ist es Arroganz, wenn man auf diejenigen hört, bei denen der Schlüssel zu einer möglichen Lösung liegt? Interessant ist auch die Reaktion der einzigen Partei in Irland, die massiv für ein Nein beim Referendum geworben hat, die Partei Sinn Féin. Sie erging sich in den letzten Tagen nicht in reinem Jubel und blanker Häme, sondern sie machte eher den Eindruck, als sei es ihr etwas mulmig zumute; denn ein solches Ergebnis wollte diese Partei auch nicht. Sie macht jetzt Vorschläge - das ist doch überraschend -, wie der Vertrag aussehen müsste, damit ein neues Referendum in Irland zu einem Ja führt. Was diese Partei fordert und wie in Irland vor dem Referendum von den Gegnern des Lissabon-Vertrages diskutiert wurde, zeigt das Problem. Sinn Féin sagt, dass es mindestens einen irischen Kommissar mit Ewigkeitsgarantie geben muss. Es soll für Irland weitestreichende Vetomöglichkeiten bei allen möglichen politischen Prozessen geben. Hinzu kommt noch eine ganze Reihe von anderen nationalen Interessen, die man aus irischer Sicht durchaus verstehen kann. Das Problem ist aber das Folgende: Eine EU mit 27 und mehr Mitgliedern kann nicht funktionieren, wenn ein Land von den anderen verlangt, das und das zu tun, aber nicht darüber reden will, was die anderen wollen. Das ist das Problem, was sich gerade an der Reaktion von Sinn Féin abzeichnet. ({1}) Ich will ein paar Sätze zu den möglichen Konsequenzen sagen, die aus dem irischen Nein entstehen können. Die erste Konsequenz liegt klar auf der Hand: Wenn wir den Lissabonner Vertrag nicht umsetzen können, dann werden wir weiter mit dem Vertrag von Nizza arbeiten müssen. Ich sage: Das wird nicht dazu führen, dass die Europäische Union untergeht und auseinanderfällt oder was sonst noch für Katastrophenszenarien in die Diskussion gebracht werden. Aber wir alle wissen, dass die vertragliche Grundlage von Nizza der Europäischen Union keine ausreichende institutionelle Grundlage für 27 und mehr Mitgliedsländer gibt. Wir alle wissen, dass die vertragliche Grundlage von Nizza der Europäischen Union nicht die ausreichende demokratische Legitimation und Kontrolle der EU-Gesetzgebung gewährleistet. Wir alle wissen auch, dass der Vertrag von Nizza den Mitgliedstaaten der Europäischen Union nicht genügend Flexibilität bietet. Ich könnte noch eine ganze Reihe von Defiziten dieses Vertrages, auf dessen Grundlage wir jetzt arbeiten, aufzählen. Das Wichtigste und Entscheidende ist: Wenn wir weiter auf der Basis des Vertrages von Nizza arbeiten müssen, wird sich das verstärken, was wir in der Europäischen Union zu Recht beklagen - dies ist bisher von allen Rednern angesprochen worden -, nämlich die Distanz zwischen dem, was in europäisches Recht gesetzt wird, und dem Verständnis der Bürger davon, wie solches Recht eigentlich entsteht, und den Bedenken, ob das auch ausreichend kontrolliert wird, die in weiten Teilen der Bevölkerung zu Recht vorhanden sind. Das wird sich eher verstärken, wenn wir beim Vertrag von Nizza bleiben, dessen Defizite wir mit dem Vertrag von Lissabon beheben wollten. Das heißt, wir haben ein Dilemma. Viele derjenigen, die in Irland, aber auch in anderen Ländern - auch in Deutschland - Nein zum Vertrag von Lissabon sagen, sagen Nein zu einer Situation, die wir gerade mit dem Vertrag von Lissabon verbessern wollen. ({2}) Deshalb gibt es zum Lissabon-Vertrag keine Alternative. Ich möchte eines kurz ansprechen - darüber wird glücklicherweise öffentlich fast nicht debattiert -: Es gibt keine Möglichkeit, dass wir den Lissabon-Vertrag in der Europäischen Union in irgendeiner Weise ohne Irland einführen. Dies wäre nicht nur politisch falsch. Ein hinreichender Grund ist auch: Es geht nicht. Wir sitzen alle in einem Boot. Wir können nur alle gemeinsam eine Lösung finden. Die bisherigen Reaktionen der Regierungen, vieler Parlamentarier, des Europäischen Parlaments und vieler Menschen auf das Referendum in Irland geben mir aber die Hoffnung, dass wir eine Lösung finden werden. Alle haben verstanden, dass wir uns bei der Suche nach einer Lösung auf einem sehr schmalen Grat befinden. Einerseits wäre es völlig falsch, jetzt Frust und Ärger an Irland auszulassen und den Eindruck zu vermitteln: Wenn so ein kleines Land so etwas macht, dann werden wir ohne es weitergehen. Das wäre völlig falsch; das macht auch keiner. Genauso falsch wäre es allerdings, so zu tun, als wäre gar nichts passiert, als hätte dies keine Konsequenzen und als würde nicht in erster Linie die Notwendigkeit bestehen, dass sich Irland Gedanken macht, welches Europa es haben möchte. Denn Irland bzw. die irische Bevölkerung will nicht weiterhin auf der Grundlage des Nizza-Vertrages in der Europäischen Union arbeiten. Zum Weiteren ist sehr wichtig - auch daran halten sich alle, die sich öffentlich äußern -: Es ist völlig fehl am Platz, jetzt wohlfeile und gutgemeinte Ratschläge an die irische Regierung zu geben, was alles sie jetzt schnell tun müsste, um endlich wieder mit uns vernünftig arbeiten zu können. Das weiß die irische Regierung selber. Sie wird es uns auch mitteilen. Wir müssen die Langmut haben, darauf zu warten. Ich glaube, der einzig richtige Weg ist jetzt - in nahezu allen Mitgliedstaaten ist diese Tendenz zu erkennen -, dass wir die Ratifizierungen in denjenigen Mitgliedsländern, in denen sie noch nicht abgeschlossen worden sind, zu Ende führen. Ich bin ausgesprochen erfreut, dass das gestern Abend in Großbritannien geschehen ist. Sie alle wissen, wie kompliziert die innenpolitische Situation in Großbritannien ist. Ich will ausdrücklich darauf hinweisen, dass ich es sehr begrüße - ich denke, wir alle begrüßen dies -, dass das Bundesverfassungsgericht gestern erklärt hat, dass es das Beschwerdeverfahren zum Vertrag von Lissabon zu Ende führen wird, sodass auch wir in Deutschland - das konnten wir beim Verfassungsvertrag nicht - den Ratifizierungsprozess zu Ende führen können. Bisher hat niemand die Tür zugeschlagen. Das war anders nach den Referenden in Frankreich und in den Niederlanden zum Verfassungsvertrag. Wenn wir nachhaltig, aber auch klar vorangehen, werden wir zu einer Lösung kommen. Noch ein letzter Aspekt. Ich habe in der Europapolitik immer wieder folgende Erfahrung gemacht: Die Europäische Union - vorher: Europäische Gemeinschaft - war in den letzten 50 Jahren sehr oft in extrem kritischen Situationen. Sie hat es aber immer wieder geschafft, sie hat immer das Potenzial gehabt, diese kritischen Probleme zu lösen. Dieses Potenzial zeichnet die Europäische Union auch heute aus. Deshalb stehen wir, glaube ich, nicht am Ende einer wichtigen Reform und Entwicklung in der Europäischen Union, sondern am Anfang. Danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Jürgen Trittin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Jürgen Trittin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003246, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Frau Bundeskanzlerin, die Grünen haben Ihnen schon vor zwei Wochen in einem Brief mitgeteilt, dass es sinnvoll wäre, vor dem Europäischen Rat eine Regierungserklärung abzugeben. Ihr Kanzleramtschef, Herr de Maizière, rief bei uns an und fragte: Warum eigentlich? Auf dem Europäischen Rat steht doch gar nichts Entscheidendes an. - Meine Damen und Herren, so kann man sich täuschen. Sie haben nach dem alten kölschen Motto „Et hätt noch immer jot jejange“ agiert. ({0}) Und jetzt stehen Sie - das hat Ihre Regierungserklärung offenbart - ohne Plan B da. ({1}) - Vielleicht auch ohne Plan C. Die Situation ist schwierig. Wir hätten heute gerne eine Antwort auf die Frage bekommen, wie man aus dieser schwierigen Situation wieder herauskommen kann. Schließlich ist im nächsten Juni Europawahl. Wie viele Abgeordnete werden dann gewählt? 736 oder 751? Drei Deutsche mehr oder drei Deutsche weniger? Das sind noch die einfachsten Fragen in diesem Zusammenhang. Ein bisschen mehr als die Aussage, dass man mit dem irischen Ministerpräsidenten über diese Fragen sprechen werde, hätten wir von Ihnen in einer Regierungserklärung vor dem Europäischen Rat schon erwartet, Frau Merkel. ({2}) Dieses eigentümliche Schweigen und diese Hinterzimmerdiplomatie sind Gründe, warum Europa vielfach so wenig populär ist. Lieber Gregor Gysi, ich stimme Ihnen ja zu: Nicht jede Neinstimme in Irland war eine Stimme gegen Europa. Machen wir uns aber nichts vor: Ohne katholische Abtreibungsgegner, ohne eine subventionsgierige Agrarindustrie, ohne die markradikale Murdoch-Presse und ohne die IRA wäre es nicht zu dieser Mehrheit gekommen. Sie sollten mit Ihrem Beifall etwas vorsichtiger sein, gerade wenn Sie es ernst meinen. ({3}) Natürlich muss man das Votum der Iren respektieren und ernst nehmen. Genau das haben doch alle in Europa erklärt. Wir müssen mit den Iren eine Lösung finden. Das, was Sie vorschlagen, ist aber keine Lösung. Sie sagen: 3 Millionen Iren haben mehrheitlich mit Nein gestimmt. Organisieren wir doch einfach einen europaweiten Volksentscheid über diese Frage; denn dann fallen die 3 Millionen Iren nicht mehr so sehr ins Gewicht. Das ist arrogant, lieber Kollege Gysi, und nicht der Vorschlag, auf die Iren zuzugehen. ({4}) Ihr Vorschlag zeugt zudem von massiver Unkenntnis; denn solch ein europaweiter Volksentscheid wäre nur nach einer Vertragsänderung möglich, die der Zustimmung aller Mitgliedstaaten bedürfte. Dieser Vertragsänderung müsste die irische Bevölkerung in einem nationalen Plebiszit zustimmen. Mit Ihrem Vorschlag haben Sie sich selbst ins Knie geschossen. ({5}) Deswegen sage ich: Es gibt keine Alternative zu dem Versuch, diesen Prozess, der vor acht Jahren begonnen hat, erfolgreich zu Ende zu bringen, und zwar mit den Iren. Was waren das für acht Jahre? In diesen acht Jahren haben wir eine US-Administration erlebt, die die Welt nicht sicherer, sondern unsicherer gemacht hat. Wir erleben zurzeit den zweiten globalen Finanzcrash in diesen acht Jahren: Nach der New-Economy-Blase platzt jetzt auch die Immobilienblase. In diesen acht Jahren haben wir einen atemberaubenden Aufstieg von Indien und China erlebt - ökonomisch wie politisch - und die Rückkehr Russlands auf die Bühne der Weltpolitik. Das ist die Welt, in der wir alle in Europa leben. Das ist die Welt, in der wir ein handlungsfähiges und demokratisch stärkeres Europa brauchen, kein Zurück zum Nationalstaat. ({6}) Deswegen dürfen wir nicht noch einmal acht Jahre verlieren. Wir müssen mit offenem Visier für ein demokratisches und handlungsfähigeres Europa streiten. Was hieße es, wenn der Vertrag von Lissabon scheitern sollte? Das hieße keine verbindliche Grundrechtecharta mit individuell einklagbaren Rechten. Das hieße keine Aufwertung der Daseinsvorsorge gegenüber dem Wettbewerbsrecht. - Ihre Beispiele stimmen. Aber Sie kritisieren damit den jetzigen Vertragszustand, dessen Basis der Vertrag von Nizza ist. Dieser muss überwunden werden. ({7}) Ein Scheitern hieße auch, keine Einführung der europäischen Bürgerinitiative, kein Hoher Vertreter für Außen- und Sicherheitspolitik und keine Ausweitung der parlamentarischen und gerichtlichen Kontrolle über die polizeiliche Zusammenarbeit. Das alles hieße es, wenn der Vertrag von Lissabon scheitern sollte. Ich habe hier bewusst zitiert. Diese Sätze stammen nicht von einem Grünen, sondern von Dr. Sylvia-Yvonne Kaufmann. Sie muss es wissen. Sie war nämlich die Vertreterin der Linken in dem Konvent, der diesen Vertrag öffentlich vorbereitet hat. ({8}) Wir müssen mit den fahrlässigen Reden über Europa aufhören. Fahrlässig ist es übrigens, diese Debatte damit zu beginnen, Atomkraft als einen Superbeitrag zum Klimaschutz vorzuschlagen. ({9}) Lieber Herr Westerwelle, diese Position sollten Sie einmal in Irland zur Abstimmung stellen vor dem Hintergrund der Erfahrungen, die dieses Land mit der Wiederaufbereitungsanlage von Sellafield und den britischen Atomkraftwerken gemacht hat. Ich garantiere Ihnen, dass in einem solchen Fall die Zahl der Neinstimmen noch höher ausfallen wird, als es dieses Mal der Fall war. Das ist ein ganz falscher Ratschlag. ({10}) Es muss Schluss sein mit der Doppelzüngigkeit in den Reden über Europa. Man kann nicht auf der einen Seite sagen, Frau Merkel, man sei für Klimaschutz, aber auf der anderen Seite in Europa die Richtlinie über den Emissionshandel im Luftverkehr blockieren. Sie haben mit Herrn Sarkozy Regelungen über den Verbrauch von Autos vereinbart, die sogar hinter die Selbstverpflichtungen der Automobilindustrie zurückfallen. Das ist doppelzüngig. Das beschädigt das Ansehen und die Glaubwürdigkeit von Europa. ({11}) Meine Kritik soll aber nicht einseitig ausfallen. Man kann nicht wie Herr Beck ein soziales Europa fordern und dann von 2005 an zusammen mit Großbritannien die Verabschiedung der Arbeitszeitrichtlinie in Europa blockieren. Was ist am Ende herausgekommen? Herausgekommen ist eine Erhöhung der Mindestarbeitszeit. Es ist jetzt möglich - das feiert die SPD als Erfolg -, 65 Stunden in der Woche zu arbeiten, Ärzte sogar 90 Stunden. Ich sage Ihnen: Wem das Interesse von Krankenhausträgern wichtiger als die Schutzrechte von Krankenschwestern ist, der versündigt sich an Europa. Das ist unser Problem. ({12}) Meine letzte Bemerkung. Man kann mit mir gerne über Bürokratieabbau reden. Aber was macht Deutschland? Wenn die EU-Kommission vorschlägt, die 36 Vorschriften über Obst und Gemüse, darunter die legendäre Vorschrift über die Krümmung der Salatgurke, zu streichen, dann ist Deutschland dagegen. Man kann zwar Herrn Stoiber nach Brüssel schicken, aber in dieser Frage verteidigt man die Bürokratie gegen Bemühungen zur Entbürokratisierung Europas. ({13}) Anschließend erklären Sie hier, Europa sei bürokratisch. Das ist doppelzüngig. Das ist der Grund, warum wir solche Probleme mit mehr Demokratie und mehr Europa haben. ({14})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege Axel Schäfer. ({0})

Axel Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003624, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vieles von dem, was Jürgen Trittin gesagt hat, war richtig; das, was er in Richtung Bundesregierung gesagt hat, war falsch. Das zeigt sich vor allen Dingen daran, dass diese Bundesregierung in der Kontinuität dessen, was unter Rot-Grün begonnen worden ist, innerhalb der EuAxel Schäfer ({0}) ropäischen Union ein hohes Ansehen genießt, vieles vorangebracht hat und mit ihrer Ratspräsidentschaft Wegweisendes für die Zukunft dieses gemeinsamen Europas geschaffen hat. Deshalb sind wir mit dieser Bundesregierung auf einem gemeinsamen europapolitischen Kurs. ({1}) Auf der grünen Insel haben viele ein blaues Wunder erlebt; dennoch sollten wir weder schwarzsehen noch die Ampel auf Rot stellen. Lassen Sie uns die Debatte heute selbstbewusst und selbstkritisch zugleich führen. Wir können das aber nicht machen, lieber Kollege Gysi, indem wir hier alle populistischen Vorurteile bedienen, draufsatteln, übertreiben, manches falsch darstellen, und uns hinterher darüber beklagen, dass es Europaskeptizismus gibt. So geht es eben nicht. ({2}) Wenn wir diese Debatte führen, dann lassen Sie uns in diesem Hause - hier gab es einige Zurufe zum Thema Volksabstimmung - ehrlich über Plebiszite reden. Jawohl, in Irland hat man mit Nein votiert. Beim Referendum davor in Luxemburg hat man mit Ja votiert, beim Referendum in Frankreich mit Nein und beim Referendum in Spanien mit Ja. Wir haben seit 1972 in 19 Ländern in Europa Erfahrungen mit Volksabstimmungen. Ich kann sie Ihnen alle in Ruhe erläutern. Das muss hier jetzt nicht sein; aber Sie können gerne auf das Angebot zurückkommen. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass alle 15 grundlegenden Entscheidungen hinsichtlich eines Ja oder Nein zu diesem Europa positiv verlaufen sind. Hier bildet nur Norwegen die Ausnahme, was wir heute noch bedauern. Aber es gibt Unterschiede: In Irland oder Frankreich stimmt man alle fünf bis zehn Jahre ab, in den Niederlanden nur alle 200 Jahre. Das führt dazu, dass an diesem einen Tag, an dem man so einfach öffentliche Wut erzeugen kann, nun Probleme hochschäumen, die Sachaufklärung in den Hintergrund tritt. Diese Abstimmung geschieht außerhalb der normalen politischen Arbeit in einer repräsentativen oder auch einer direkten Demokratie. Deshalb ist es an der Stelle schiefgelaufen. Wir wissen - ich sage das als ausdrücklicher Befürworter für meine Fraktion - hinsichtlich der direkten Demokratie: Dort, wo die Volksabstimmung eine Ergänzung zur repräsentativen Demokratie ist, zum Beispiel in der Schweiz, wo sie alle drei bis fünf Monate stattfindet, werden auch Sachentscheidungen getroffen und nicht Wut gegen Regierungen, Ausländer oder andere zum Ausdruck gebracht. Da funktioniert es. Wir bemühen uns weiter, unsere geschätzten Koalitionspartnerinnen und -partner, vor allen Dingen die CDU, davon zu überzeugen, das Grundgesetz dahin gehend zu ergänzen. Die FDP war in dieser Hinsicht halbe-halbe. Die Grünen wissen wir an unserer Seite. Mal schauen, wie weit wir mit diesem Vorhaben kommen. Es ist nicht vergessen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht auch um unsere Verantwortung. Lassen Sie mich das ganz offen sagen. Es gibt zuerst eine Verantwortung der Bundesregierung, die sie heute wahrnehmen wird. Das, was die Bundeskanzlerin ausgeführt hat und was der Außenminister repräsentiert, ist die Linie unserer Fraktion und unserer Koalition. Es ist die richtige Linie, und es ist gut, dass wir das heute vor dem Europäischen Rat noch einmal deutlich machen. ({3}) Es gibt auch die Verantwortung des Bundespräsidenten. Ich sage für meine Fraktion: Wir würden uns sehr freuen, wenn Horst Köhler nach der Ratifizierung unterschreibt, sehr wohl respektierend, dass die Urkunden nicht vor der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nach Rom übersandt werden. Wir freuen uns auch, dass das Bundesverfassungsgericht das Verfahren annimmt und nicht wie beim Verfassungsvertrag zuwartet. Es kann nicht sein, dass wir so lange warten, bis überall ratifiziert wird, während an anderer Stelle nicht ratifiziert wird, weil wir es in Deutschland noch nicht getan haben. Sowohl in Richtung der Bundeskanzlerin als auch in Richtung von Herrn Huber, in Richtung von Herrn Westerwelle genauso wie in Richtung von Herrn Kuhn und Frau Künast und natürlich auch in Richtung von Kurt Beck und Frank-Walter Steinmeier - da weiß ich es in guten Händen - sage ich hier ganz bewusst, weil wir uns in unseren Fraktionen im Rahmen des europäischen Verfassungsbogens in Parteifamilien bewegen: Bitte sorgen Sie überall dort, wo Sie es können, in Ihren Parteifamilien in anderen Ländern, in denen jetzt noch die Ratifizierung aussteht - wir sind in der glücklichen Situation, dass Liberale, Christlich-Konservative, Grüne und Sozialdemokraten in Regierungen vertreten sind, die noch ratifizieren müssen; ich denke an Schweden, Zypern, Tschechien und Spanien -, dafür, dass wir als deutsche Europäer im Dialog mit unseren Schwestern und Brüdern in diesen Parteifamilien unseren Beitrag leisten, sodass den Regierungen in diesen Ländern die Ratifizierung gelingt. Dann kann die Ratifizierung in 26 Ländern abgeschlossen werden. Lassen Sie uns das machen. Das ist unsere Verantwortung. Dort, wo wir einbezogen werden, können wir das leisten. Hier sollten wir uns bewusst mit einklinken. Weil man schon am Anfang das Ende bedenken sollte - es geht schließlich darum, erfolgreich abzuschließen -, will ich ganz offen Folgendes ansprechen: Es gibt bereits Erfahrungen mit Referenden. Man kann sie so oder so anlegen. Manche französischen Präsidenten haben zum Beispiel versucht, damit die Opposition zu spalten. Ich erinnere in diesem Zusammenhang nur an die Abstimmung in Frankreich über den Beitritt von Dänemark, Irland und Großbritannien. Ich glaube, der Einzige, der einmal ein hochkontroverses Referendum so angelegt hat, dass es „europagemäß“ war, war Harold Wilson, und er tat dies in einem sehr zerrissenen Land. Es ist klar, dass wir unseren irischen Kolleginnen und Kollegen keine Ratschläge geben - denn Ratschläge sind immer auch Schläge -, aber darauf möchte ich hinweisen. Letztlich müssen Regie17836 Axel Schäfer ({4}) rung und Parlament in Dublin selbst entscheiden, was sie tun. Harold Wilson hat damals angesichts der großen Probleme in Großbritannien nach einer Nachverhandlung in Brüssel entschieden, mit einem Referendum vor das Volk zu treten. Er sagte: Bei der Abstimmung geht es darum, dass nach dem Ergebnis der Verhandlung mit Ja gestimmt wird. Wenn eine Mehrheit ablehnt, dann wird Großbritannien austreten. - Um diese Alternative ging es im Jahre 1975. Im Ergebnis stimmte eine große Mehrheit für die geplanten Veränderungen und für den Verbleib Großbritanniens in der EG. Gerade wir, die wir Irland in der Europäischen Union halten wollen, müssen auch ein bisschen in diese Richtung denken. Für das Europa des 21. Jahrhunderts muss klar sein: Es gibt kein Europa des 20. Jahrhunderts mehr. Die Welt wartet nicht auf uns. Wir haben eine Verantwortung, die wir wahrnehmen müssen. ({5}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, zum Abschluss möchte ich darauf hinweisen: Es kommt nicht nur darauf an, was wir zu Europa sagen, sondern auch darauf, wie wir es sagen. Wir müssen aus Überzeugung handeln und auch das Positive darstellen. Wir dürfen aber nicht so tun, als kämen alle Probleme aus der EU. Leider haben wir es nach der deutschen Einigung nicht geschafft, den Text der Kinderhymne von Bert Brecht zu unserer Nationalhymne zu machen. ({6}) In Abwandlung von Brecht könnte man mit Blick auf die EU sagen: Weil Europa wir verbessern, Lieben und beschirmen wir’s. Und das liebste mag’s uns scheinen So wie andern Völkern ihr’s. Vielen Dank. ({7})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nun hat für die FDP-Fraktion der Kollege Markus Löning das Wort. ({0})

Markus Löning (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003583, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Nachdem die Briten im Hinblick auf die EM ihre Optout-Möglichkeit wahrgenommen haben, finde ich es sehr begrüßenswert, dass das Oberhaus gestern den Vertrag von Lissabon ratifiziert hat. Das sollten wir alle gemeinsam begrüßen. ({0}) Herr Gysi, an Ihrer Rede war bemerkenswert, dass Sie meinen, sich von der NPD abgrenzen zu müssen. Ich muss Ihnen aber sagen: Was diese Frage betrifft, sitzen Sie mit der NPD in einem Boot. ({1}) Ihre Partei fährt nämlich einen europafeindlichen und integrationsfeindlichen Kurs. ({2}) Meine Damen und Herren, wenn wir das Ergebnis der Abstimmung in Irland ernst nehmen, müssen wir uns die Frage stellen: Wie wollen wir in Zukunft weitere Reformschritte innerhalb der EU gehen? Natürlich wollen wir gemeinsam vorgehen, soweit es irgendwie möglich ist. Allerdings müssen wir auch zur Kenntnis nehmen, dass es mit 27 oder womöglich 28 Ländern, wobei ein Partner alle anderen blockieren kann, so gut wie unmöglich sein wird, weiterhin im gleichen Tempo vorzugehen. Es ist legitim, darüber nachzudenken, wie wir weitere Integrationsschritte machen können, wie wir also die Mechanismen und die Zusammenarbeit in der Europäischen Union gegebenenfalls anders gestalten können. Natürlich ist es wünschenswert, auf der Grundlage von Lissabon zu handeln. Denn das heißt, dass wir innerhalb des Rechtsrahmens der Europäischen Union vorgehen, mit parlamentarischer Kontrolle durch uns und mit parlamentarischer Kontrolle durch das Europäische Parlament. Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass wir auch wenn der Vertrag von Nizza gilt, bei der Integration voranschreiten müssen. Es wird dann allerdings wesentlich schwieriger werden, es werden ganz andere Aufgaben auf uns als Bundestag zukommen. Wir werden uns wesentlich mehr in die Debatten einklinken müssen, als wir das in den letzten Jahren getan haben. Lassen Sie mich zum Schluss meiner leider sehr kurzen Redezeit darauf eingehen, wie wir - das ist mehrfach angesprochen worden - bei unseren Bürgerinnen und Bürgern mehr Akzeptanz für die Europäische Union bekommen. Wir müssen uns trauen, offensiv über die Erfolge der Europäischen Union zu reden. Wir tun das bisher nicht; dabei will ich mich persönlich nicht unbedingt ausnehmen. Ich will ein Beispiel nennen, wo die Bundesregierung etwas Gutes tun könnte: Sorgen Sie dafür, dass die volle Freizügigkeit von Arbeitnehmern aus EUStaaten endlich auch in Deutschland gilt! ({3}) Ducken Sie sich an dieser Stelle nicht weg, sondern setzen Sie ein klares politisches Signal für die europäische Integration und für ein „Herzlich willkommen!“ an unsere Nachbarn! Es ist nämlich auch im Sinne unserer Bürger, wenn die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit endlich auch in Deutschland gilt. Danke. ({4})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Gunther Krichbaum für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Gunther Krichbaum (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003573, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Natürlich fragen sich viele Bürgerinnen und Bürger ebenso wie die Kollegen in diesem Haus, wie es nach dem irischen Referendum weitergeht. Herr Trittin, es gibt keinen Plan B; der Vertrag, über den die Iren abgestimmt haben, war gerade dieser Plan B. Es darf auch kaum verwundern, dass bei einem derart komplexen Vertragswerk nicht noch Pläne C, D, E, F, G - bis wir das Alphabet durchhaben - in der Schublade liegen. Es stellt sich die Frage, wie wir mit dieser Situation umgehen und welche Botschaft insbesondere von unserer heutigen Debatte ausgehen kann. Die zentrale Botschaft muss sein - das hat Bundeskanzlerin Angela Merkel betont -, dass die Ratifizierungsverfahren in den Ländern, die den Vertrag noch nicht ratifiziert haben, weitergehen müssen. Das ist eine wichtige Botschaft. Ich kann nur unterstreichen, was Kollege Löning hervorgehoben hat: Es ist gerade in der jetzigen Zeit wichtig, dass gestern Großbritannien den Vertrag von Lissabon ratifiziert hat. Das ist ein positives Signal für den weiteren Prozess. ({0}) Denn was wären die Alternativen? Wir könnten sagen: Wir tun gar nichts. Damit respektieren wir logischerweise das Referendum, das in Irland zustande kam. Aber zu Ende gedacht wissen wir, dass dies keine Alternative sein kann. Das ist das Problem bei den Volksabstimmungen, die immer wieder debattiert werden: Bei einer Volksabstimmung ist es wichtig, dass eine seriöse Alternative vorhanden ist. Wie soll die in diesem Fall aussehen? Man muss den Menschen klipp und klar sagen: Wer den Vertrag von Lissabon nicht will, ist automatisch für den Vertrag von Nizza. Doch dieser Vertrag ist gerade der Grund für die jahrelangen Bemühungen, für die zähen Verhandlungen, für das Verfassungsprojekt gewesen: weil wir diesen Schritt nach vorne gehen wollen, weil wir auch den Staaten des westlichen Balkans eine europäische Perspektive geben möchten, die zu mehr Stabilität in der Region führt. All das geht nicht mit dem Vertrag von Nizza. Die Obergrenze ist in diesem Fall mit 27 Mitgliedstaaten gezogen. Das wissen all diejenigen, die sich hiermit im Detail auseinandersetzen. Deswegen ist es wichtig für das Projekt Europa, dass wir an dieser Stelle vorankommen und das, wofür wir so lange gekämpft haben, zum Erfolg führen. Logischerweise kann ein neuer Vertrag keine Alternative bilden; denn auch für einen neuen Vertrag - das haben Kanzlerin Merkel und Außenminister Steinmeier gesagt - wäre die Einstimmigkeit Voraussetzung. Ebendiese Einstimmigkeit kam aber nicht zustande. Wie kann eine Lösung aussehen? Es ist in der Tat ein schmaler Grat zwischen dem zu respektierenden Referendum und dem Wunsch, weiterzukommen. Hier ist zu allererst das Mitgliedsland Irland gefordert. Irland muss Vorschläge für einen Weg aus dieser Krise vorlegen. Im Falle Dänemark - er wurde jetzt oftmals zitiert - geschah dies nach dem Scheitern des Vertrages von Maastricht durch die Edinburgher Vereinbarung. Ob hier flankierende Erklärungen abgegeben werden können, damit es möglich wird, zu einem späteren Zeitpunkt zuzustimmen, müssen wir sehen. Ich glaube aber, eines muss klar sein - das muss auch die klare Botschaft an Irland sein -: Ein Wiederaufschnüren des Paketes, also ein Wiederaufschnüren des Vertrages von Lissabon, kann es nicht geben; denn sonst müssten wir überall wieder von vorne anfangen. Das heißt: Der Ratifizierungsprozess müsste in allen Mitgliedstaaten von vorne losgehen. Ich glaube, dafür hätten die Bürger am allerwenigsten Verständnis - schon gar nicht in den Ländern, in denen bereits erfolgreich ratifiziert wurde. Ich gebe nur zu bedenken: Gerade in Spanien gab es ein positives Referendum zur europäischen Verfassung. ({1}) Deswegen stellen sich - banal - die Fragen: Wo ist der Schaden? Wo ist der Nutzen? Einen Schaden durch einen nochmaligen Anlauf, also ein neuerliches Referendum, das in Irland zwingend vorgeschrieben ist, sehe ich langfristig nicht. Ich sehe aber einen Nutzen. Deshalb sollte man diesen Weg beschreiten. Wie bereits gesagt: Ansonsten würde der Vertrag von Nizza weiter gelten. Der Vertrag von Nizza ist aber für ein Europa der 15 Mitgliedstaaten gemacht worden. Man kann es sich bildlich so vorstellen, dass das die Kinderschuhe des integrierten Europas waren, die aber längst an allen Ecken und Enden drücken, weil wir ein Europa der 27 Mitgliedstaaten geworden sind. Deswegen brauchen wir ein größeres Schuhwerk, um die nächsten Schritte gehen zu können. Gerade in den letzten Tagen wurde ich häufig auf Kroatien angesprochen. Ich möchte klarstellend sagen: Natürlich kann auf der Grundlage des Vertrages von Nizza vorläufig kein weiterer Erweiterungsschritt folgen. Zunächst sind die Kandidatenländer aber auch ihrerseits gefordert, die Voraussetzungen für eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union zu erfüllen. Hier bleibt auch für Kroatien noch eine Menge zu tun. Wir wissen das aufgrund der Fortschrittsberichte. Deswegen kann an dieser Stelle durchaus eine kleine Entwarnung hinsichtlich der Sorgen gegeben werden, die gerade diese Länder haben. Ich sehe dies langfristig nicht als gefährdet an, weil wir, so denke ich, mit dem Vertrag von Lissabon bis dato weitergekommen sein werden. Im Ergebnis gilt deswegen: Wir brauchen den Vertrag von Lissabon, wenn wir zu einem Mehr an Transparenz kommen möchten, sodass die Bürgerinnen und Bürger in Zukunft sehr gut nachvollziehen können, wofür Europa zuständig ist und wofür die einzelnen Mitgliedstaaten zuständig sind. Genau die Tatsache, dass sie diese klaren Zuständigkeiten und Abgrenzungen nicht kennen, führt bei den Bürgern oft zu einer gewissen Verdrossenheit. Also ist der Vertrag von Lissabon an dieser Stelle die Lösung für die Probleme vieler Bürger und nicht das Problem. Europa wird handlungsfähiger, weil nicht nur die Anzahl der Mitentscheidungsverfahren des Parlamentes, sondern vor allem auch die Anzahl der Mehrheitsentscheidungen zunimmt. Das heißt, wir entblockieren uns selbst an vielen Punkten. Damit ist auch das Ende von vielen zähen Nachtsitzungen in Sicht. Auch dieses Signal können wir hier den Bürgern geben. Daneben wird es auch demokratischer, weil es mehr Mitsprachemöglichkeiten des Europäischen Parlamentes und der nationalen Parlamente - insbesondere des Bundestages - geben wird. Deswegen: In dieser zugegebenermaßen jetzt schwierigen Situation brauchen wir einen Erfolg; denn die Bürger erwarten in der Tat, dass wir Antworten liefern und die politische Nabelschau beenden, in der wir in den letzten Jahren gefangen waren. Das heißt im Klartext: Wir müssen Lösungen für die drängenden Probleme hinsichtlich der Energiesicherheit, der Energieversorgungssicherheit und des internationalen Terrorismus sowie im Bereich des Klima- und Umweltschutzes liefern. Europa ist die beste Antwort auf die Herausforderungen der Globalisierung; denn den Herausforderungen, die uns hier bevorstehen - aus den USA und aus Fernost -, kann kein Mitgliedstaat alleine begegnen, sei er für sich genommen auch noch so groß. Genau hier brauchen wir Europa. Das erkennen auch die Bürger. Erlauben Sie mir eine letzte Bemerkung. Ich glaube, die jetzige Diskussion zeigt auch, dass ein Angebot an jene Staaten notwendig ist - damit kann ich an das anknüpfen, was mein Kollege Löning bereits festgestellt hat -, die den Wunsch haben, stärker voranzugehen, als dies in der Vergangenheit der Fall war. Es ist klar, dass die politische Union der Europäischen Union nur dann handlungsfähig und glaubwürdig ist, wenn wir zusammenstehen. Nur dann können wir gemeinsam die Ziele durchsetzen. Es gibt aber Vorhaben, die wir besser voranbringen können, wenn sich Staaten zusammentun. Ich sehe ein Kerneuropa nicht als negativ an. Wenn es nicht wie ein Kirschkern oder Pfirsichkern bleibt, sondern ein Kern im Sinne eines Magneten wird, der andere mitzieht und dann auch eine vertiefte Integration zulässt, dann haben wir, glaube ich, die Bürger auch wieder stärker auf unserer Seite. Vielen Dank. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Dr. Dieter Dehm ist der nächste Redner für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Jörg Diether Dehm-Desoi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000365, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Vertrag von Lissabon war der Versuch, die gescheiterten Inhalte in einer anderen Form durchzuzwingen. Er ist gescheitert. Laut Umfragen dieser Woche sind in England zwei Drittel der Bevölkerung gegen den Lissabon-Vertrag; die Regierung ist dafür. In Frankreich ist in sämtlichen Umfragen eine stabile Mehrheit dagegen; Sarkozy ist dafür. In Deutschland gibt es, seitdem die Bild-Zeitung von einer 75-prozentigen Mehrheit gegen den EU-Verfassungsvertrag berichtet hat, merkwürdigerweise keine breite Umfrage mehr. ({0}) Kollege Löning, ersparen Sie uns bitte solche Gleichsetzungen, wer mit wem in einem Boot sitzt! Bedenken Sie immer, dass nicht Sie, sondern der Kollege Gysi von Neonazis tätlich angegriffen wird. Ich erspare Ihnen wiederum den Vergleich mit den italienischen Neofaschisten, die für den Lissabon-Vertrag sind. ({1}) Kollege Trittin, Sie haben spekuliert, wer alles an der Mehrheit beim Referendum in Irland schuld sei. Sie werden wohl kaum vermeiden können, zuzugeben, dass in diesem Bundestag eine Mehrheit für den Lissabon-Vertrag nur mit Zustimmung der Kalten Krieger und der Aufrüstungslobby möglich gewesen ist. ({2}) Denn im Lissabon-Vertrag ist von einer „schrittweisen Verbesserung der militärischen Fähigkeiten“ die Rede, und das heißt nichts anderes als Aufrüstung. ({3}) Ich will noch etwas klarstellen: Der Kollege Gysi und die Linke haben für Volksabstimmungen Staat für Staat plädiert, während die FDP im Europaparlament für ein Plebiszit in Gesamteuropa eingetreten ist, mit dem das Ergebnis des Referendums in Irland einkassiert werden könnte. Ihre Befürchtung richtet sich also gegen das, wofür die FDP plädiert hat, nicht gegen uns. Die Bundesregierung reagierte auf die Entscheidung Irlands durch ihren Außenminister. Der Kanzlerkandidat der SPD-Rechten äußerte sich konfus und wenig demokratisch. Erst riet er Irland, das Land solle sich - ich zitiere - „vorübergehend vom Integrationsprozess abkoppeln“ und „für eine Zeitlang den Weg freimachen für einen weiteren Integrationsprozess der 26 übrigen Staaten“. Dann verwies er ähnlich wie die Kanzlerin auf das dänische Modell: Das irische Volk soll so oft abstimmen, bis es der Regierung gefällt. Roland Koch lässt grüßen. Schließlich gestand Herr Steinmeier generös zu - ich zitiere -: „Irland bekommt Zeit für eigene Vorschläge im Laufe des Jahres.“ Was kommt dann, Herr Außenminister und Kanzlerkandidat? Womit wollen Sie dann drohen? Wer jetzt die neoliberalen, militaristischen und wenig demokratischen Inhalte des Verfassungsvertrages um jeden Preis durchsetzen will, der tut dies um den Preis der Einheit der Europäischen Union. Der grüne Europaabgeordnete Cohn-Bendit hat dies dankenswerterweise ganz offen im Spiegel ausgeplaudert: Er will die Spaltung in - ich zitiere - „auf der einen Seite eine europäische Föderation jener Staaten“, „die weitergehen wollen in ihrer Gemeinsamkeit, die ihre … militärische, ökologische und ökonomische Zusammenarbeit vertiefen wollen … Mit Frankreich und Deutschland als Kern …“ Den anderen bleibe „eine Art privilegierte Partnerschaft“. Gegen dieses Abenteurertum und die Steinmeier’sche Gutsherrenart unterstreicht die Linke: Demokratisch gefällte Entscheidungen nach der Verfassungsordnung der 27 Länder müssen respektiert werden. ({4}) Mit dem Grundgesetz, seiner Sozialstaatlichkeit, Rechtsstaatlichkeit und seinem Angriffskriegsverbot müssten Sie keine Angst vor einer Volksabstimmung in Deutschland haben. Wir brauchen einen neuen Anlauf zur Änderung der bestehenden Verträge - auch des Vertrages von Nizza -, aber nur dann, wenn von den Referenden in Frankreich, den Niederlanden und Irland ausgegangen wird und der Inhalt der Verträge von der Bevölkerung der Mitgliedstaaten akzeptiert werden kann. Der Sprecher der französischen Sozialisten, Julien Dray, formulierte vorgestern die vor uns liegenden europapolitischen Aufgaben so: „Europa braucht eine demokratische und soziale Neugründung, die vom Volk ausgehen muss.“ Auch in Deutschland muss ein breiter Diskurs über einen neuen EU-Verfassungsvertrag beginnen, für eine wahre Integration, die nur sozial sein kann, will sie nicht eine bloße seelenlose Addition einer Freihandelszone bleiben, und mit Volksabstimmungen. ({5}) Ohne Anspruch darauf, den richtigen Weg schon jetzt in allen Einzelheiten zu kennen, ist die Linke bereit, sich in ein solches Projekt mit eigenen Vorstellungen und Vorschlägen selbstbewusst einzubringen. Nur Sozialstaatlichkeit schafft Vertrauen bei den Bürgerinnen und Bürgern. Lasst uns mehr Demokratie mit den Völkern und nicht hinter ihrem Rücken wagen! Lasst uns neuen Mut für ein soziales und friedliches Europa machen! Irland gibt uns allen die Chance für einen neuen Anfang. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Rainder Steenblock, Bündnis 90/Die Grünen.

Rainder Steenblock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002806, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was richtig ist und was eine gemeinsame Klammer in diesem Haus sein könnte, ist unser Unbehagen - nicht erst nach dem Referendum in Irland, sondern schon nach den vorangegangenen Referenden - darüber, dass es uns allen nicht gelungen ist, die Menschen in Europa ausreichend zu überzeugen, warum das anstehende Projekt, für das es hier eine große Mehrheit gibt, die einzige mögliche Antwort auf die Herausforderungen der Globalisierung ist; das müssen wir akzeptieren. Das ist der Vorwurf, der in diesem Haus häufig von der Linken gemacht wird. Die Argumente sind zwar falsch, aber der Vorwurf hat einen rationalen Kern. Wir haben die Verpflichtung, uns dem zu stellen. Richtig ist - das ist die populistische Konsequenz dieser Herausforderung -, dass die Menschen kein Vertrauen haben, dass die Europäische Union ihre Schutzmacht bei der Vertretung ihrer sozialen Interessen, der Erzielung notwendiger ökologischer Fortschritte und der Schaffung supranationaler Strukturen ist, die wir brauchen, um auf internationaler Ebene Gewicht zu haben und verhandlungsfähig zu sein. Aber das kann man nicht dadurch gewinnen, dass man jeden Tag den Bürgerinnen und Bürgern Europas die Unfähigkeit der EU vorzugaukeln versucht. Das steht im Gegensatz zur Wirklichkeit. ({0}) Das ist die Kernproblematik, die wir in der Öffentlichkeitsarbeit haben. Meine Damen und Herren von der Linken, hier wende ich mich ganz besonders an Sie. Ich unterstelle niemandem in der Linksfraktion - noch nicht einmal ansatzweise -, dass er gemeinsame Sache mit den Nazis machen will. Ganz im Gegenteil: Hier wissen wir Sie auf unserer Seite. Aber mit Ihrer Argumentation stellen Sie den Verfassungsvertrag als Herrschaftsinstrument - von wem auch immer - dar, mit dessen Hilfe versucht wird, die arbeitenden Menschen in Europa zu knechten und auszubeuten. Sie instrumentalisieren den Vertrag und erreichen damit genau das, was Sie nicht wollen. Objektiv erreichen Sie dadurch eine antieuropäische Stimmung ({1}) und eine politische Koordination mit Nationalisten, die Sie selber gar nicht wollen. Aber das wird das Ergebnis Ihrer Arbeit sein. Die Verantwortung müssen Sie dann übernehmen; denn Sie wissen, wie Politik funktioniert. Deshalb kritisieren wir massiv, was Sie hier treiben. ({2}) Wir Grüne haben das Rüffert-Urteil heftig kritisiert. Die Tendenz in der europäischen Gesetzgebung bzw. ihre Interpretation sind sicherlich kritikwürdig. Wir müssen aber Anstrengungen im Mindestlohnbereich unternehmen und auf nationaler Ebene klarmachen, dass eine solche Interpretation nicht möglich ist. Das ist unsere Verantwortung. ({3}) Dass es in Europa zurzeit eine konservative Mehrheit gibt, die eine Politik macht, die ich in vielen Teilen nicht unterstütze, ist eine Tatsache; trotzdem halte ich dieses Integrationsprojekt für richtig und notwendig. Die Europäische Union ist die einzige Struktur zur Kooperation, die wir erreichen können; dieser Vertrag ist der einzige Vertrag, der zurzeit politisch möglich ist. Ich kann also nicht sagen, dass nur deshalb, weil es eine konservative Mehrheit gibt, dieses Projekt falsch ist. Ich muss bei der Europawahl darum kämpfen, dieses Europa fortschrittlicher zu machen, dieses Europa sozialer zu machen und dieses Europa ökologischer zu machen. Dafür müssen die politischen Parteien im Europawahlkampf streiten. Ich kann aber nicht sagen: Die EU ist nur dann klasse, wenn ich selber die Mehrheit habe. - Diese Form von Demokratie haben wir in Europa abgeschafft. ({4}) Wir sind die vom Volk gewählten Abgeordneten, wir sind die Vertretung des deutschen Volkes. Wir sollten mit Rückgrat, mit Engagement und mit Herzblut für diesen Vertrag streiten. Es gibt keine Alternative, die verantwortungsvoll wäre. Vielen Dank. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Thomas Silberhorn ist der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Thomas Silberhorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003636, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auch ich hätte mir einen anderen Ausgang des Votums in Irland gewünscht. Ich habe mit vielen hier im Haus die letzten Jahre damit verbracht, die Rolle des Bundestages in europäischen Angelegenheiten zu stärken. Wir wollten den Vertrag von Lissabon als Katalysator dafür. Auch deswegen bin ich über dieses Nein in Irland enttäuscht. Ich bin aber genauso über die Kreativität enttäuscht, die manche entwickeln, um dieses Votum in Irland zu umgehen. Wenn erzählt wird, 800 000 Iren könnten doch 500 Millionen Europäer nicht aufhalten, wenn erzählt wird, die Iren sollten sich überlegen, ob sie sich nicht selbst zurückziehen, dann müssen wir sehr aufpassen, dass wir nicht den Eindruck erwecken, die Iren sollten jetzt wegen unbotmäßigen Verhaltens isoliert werden. Wer das tut, setzt ein fatales Signal, gibt Wasser auf die Mühlen derjenigen, die Europa schon immer skeptisch gegenüberstanden, und bestätigt alle diejenigen, die in Irland mit Nein gestimmt haben. ({0}) Wir sind mit dem Lissabon-Vertrag angetreten, um mehr Demokratie, mehr Bürgernähe in der Europäischen Union zu verwirklichen. Wenn jetzt in Irland als dem einzigen Land mit Volksabstimmung ein Nein erfolgt ist, dann können wir nicht so tun, als müssten wir Irland künftig mit zwei „r“ schreiben; wir müssen dieses demokratische Votum vielmehr uneingeschränkt respektieren, auch wenn es schwerfällt. ({1}) Ich halte deswegen nichts davon, eine Strategie des „Weiter so“ zu verfolgen und einfach zur Tagesordnung überzugehen. Im Gegenteil: Wir haben allen Anlass zu einer kritischen Selbstreflexion. ({2}) Dieses Nein in Irland ist nach dem Nein in Frankreich und den Niederlanden zum Verfassungsvertrag bereits das dritte Votum mit einem Nein. Deswegen ist das kein einfacher Ausrutscher, ({3}) sondern offenbar Ausdruck eines tiefsitzenden Misstrauens gegenüber der Europäischen Union. Wir werden im Rahmen der Analyse dieses Votums mit den Iren sprechen müssen. Es fällt auf, dass es erneut diffuse Ängste waren, die in dieser Kampagne in Irland eine große Rolle gespielt haben: die Angst vor der Harmonisierung der Unternehmensteuern, vor einer Liberalisierung von Abtreibungen und anderes mehr. Alles das hat keinerlei Bezug zu dem Vertragstext, aber es ist doch bezeichnend, dass man mit dem Argument, dass das mit dem Vertrag nichts zu tun hat, gar nicht durchgedrungen ist. Ich glaube, wir müssen selbstkritisch darüber nachdenken, wie wir in der Europäischen Union tagtäglich Politik machen. Wenn nämlich die Institutionen der Europäischen Union, von der Kommission über das Parlament bis zu den Ministerräten, Woche für Woche neue Vorschläge erarbeiten, die mit dem Vertragstext nichts zu tun haben, die die Kompetenzordnung nicht achten und die auch das Subsidiaritätsprinzip nicht ernst nehmen, dann brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn wir solchen Ängsten keine Argumente entgegensetzen können. ({4}) Ich kann hundert Beispiele aus der Alltagspolitik der Europäischen Union nennen, wo das der Fall ist: Die Ausweitung der Antidiskriminierungsgesetzgebung, die aktuell in der Kommission und im Europäischen Parlament diskutiert wird, geht weit über die Vertragsgrundlagen hinaus. Die Kommission hat Vorschläge zum Katastrophenschutz unterbreitet, ({5}) obwohl erst mit dem Vertrag von Lissabon die Rechtsgrundlage dafür geschaffen wird. Und hat nicht die Kommission erst vor wenigen Wochen ein Konsultationsverfahren über die Reform der EU-Finanzen beendet, in dem alle Fragen über Steuererhebungen der Europäischen Union aufgeworfen worden sind, für die es keine Rechtsgrundlage gibt und die auch Gegenstand der Debatte in Irland gewesen sind? Meine Damen und Herren, wenn wir so vorgehen, bereiten wir den Nährboden, auf dem Ängste gedeihen können, mit. Dann dürfen wir uns auch nicht wundern, wenn die Befürworter des Lissabon-Vertrags dem nichts mehr entgegenhalten können. ({6}) Die Europäische Union muss die ihr gesetzten Grenzen respektieren. Sie muss sich auf ihre großen Aufgaben konzentrieren, sich wieder in Selbstbeschränkung üben und darf nicht alles und jedes selbst regeln wollen. Das ist die grundlegende Voraussetzung dafür, dass neues Vertrauen in die Europäische Union aufgebaut werden kann. ({7}) Ich verkenne nicht, meine Damen und Herren, dass gerade der Lissabon-Vertrag eine klarere Kompetenzabgrenzung bringen und die Rolle der nationalen Parlamente bei der Kontrolle des Subsidiaritätsprinzips stärken würde. Das gehört ja gerade zur Tragik dieses aktuellen Diskussionsprozesses. Eine erneute Abstimmung in Irland halte ich für ein riskantes Unterfangen. Wenn die politische Botschaft lautet: „Augen zu und durch!“, dann kann das doch ein Gegner des Vertrages nur als eine Missachtung seines Votums auffassen. Ich sehe wohl, dass ein solches Vorgehen bereits mehrfach gelungen ist. Und wir sollten zur Kenntnis nehmen, dass selbst der irische Premierminister eine zweite Abstimmung ausdrücklich nicht ausschließt. Von daher haben wir keinen Grund, uns dieser Möglichkeit zu begeben. Aber es muss klar sein, dass es für eine zweite Abstimmung nur ein sehr schmales Fenster gibt. Das funktioniert nur, wenn man am Vertragstext selbst überhaupt nichts ändert. Jede Änderung würde bedeuten, dass es sich um einen anderen Vertrag handeln würde, der erneut in allen Mitgliedstaaten ratifiziert werden müsste. Ob die irische Regierung das durchsetzen kann, darf man durchaus mit einem Fragezeichen versehen. Denn bei der jetzigen Abstimmung ist es ihr ja gerade nicht gelungen. Deswegen glaube ich, dass wir ums Nachdenken nicht herumkommen werden. Ich halte eine zweite Abstimmung für einen der gangbaren Wege, aber nicht für eine hinreichende Option - zumal ein zweites Nein ein vollendetes Desaster wäre. Dieser Hilflosigkeit sollten wir uns nicht ergeben. Auf der Suche nach Alternativen sind in den letzten Tagen viele theoretische Vorschläge erörtert worden. Mit einer zweiten Abstimmung auch eine Abstimmung über die Mitgliedschaft Irlands in der EU zu verbinden, die Europäische Union ohne Irland umzugründen oder die Aufforderung an Irland, sich zeitweilig zurückzuziehen - ich halte das alles für abwegig. Die Iren haben nicht gegen die Europäische Union gestimmt, sondern sie haben einen bestimmten Vertrag abgelehnt. Deswegen ist eine Isolationshaft oder ein Quasi-Rauswurf Irlands keine Antwort. So lässt sich kein Vertrauen in die Europäische Union aufbauen. ({8}) Wir müssen im Gegenteil als vorrangiges Ziel die Einheit der Europäischen Union bewahren. Denn der pragmatische Weg ist seit Konrad Adenauer und Charles de Gaulle immer der Erfolgsweg der europäischen Integration gewesen. Sie haben auch nicht das große Konzept der Vereinigten Staaten von Europa angestrebt, sondern ganz konkret mit Kohle und Stahl begonnen. Aus dem gemeinsamen Erfolg ist am Ende mehr geworden. Wir haben mit dem Verfassungsvertrag und dem Lissabon-Vertrag ein anderes Konzept erarbeitet. Denn wir haben auf eine Maximallösung gesetzt - auf die allumfassende, fein austarierte Lösung, die alles auf einmal regelt. Wenn das Menü zu groß ist, dann müssen wir umdenken und uns darauf zurückbesinnen, dass wir in der europäischen Integration mit kleineren, verdaulichen Schritten bisher immer vorwärtsgekommen sind. Der Reformbedarf in der Europäischen Union bleibt unbestritten. Die EU der 27 muss anders funktionieren als eine EU der 15 - insoweit bleiben die Inhalte des Lissabon-Vertrages aktuell. Aber wir sollten innehalten, wenn wir darauf zurückgeworfen werden, vorerst mit dem Nizza-Vertrag weitermachen zu müssen. Insoweit halte ich auch nichts davon, dass die Kommission ausgerechnet in dieser Woche die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei nochmals beschleunigt hat. Dafür gibt es keine Grundlage. Die EU ist bis auf Weiteres nicht erweiterungsfähig. ({9}) Es ist aber bezeichnend, dass die Kommission angekündigt hat, dass Kroatien möglicherweise 2009 oder 2010 beitrittsreif sein könnte. Das ist vielleicht ein Ausweg, wenn man gar nicht anders kann und uns die Fortsetzung der Ratifizierung des Lissabon-Vertrages verwehrt sein sollte. Mit dem Beitritt Kroatiens können wenigstens die institutionellen Reformen erneut angegangen werden; denn institutionelle Fragen müssen zwingend mit einem Beitritt in Angriff genommen werden. Wir werden uns weiter Gedanken über differenzierte Formen der Integra17842 tion machen müssen. Offenkundig ist die Integrationsbereitschaft der Mitgliedstaaten unterschiedlich, und wir müssen dem Rechnung tragen, mit dem Ziel, dass die Vielfalt innerhalb der Europäischen Union am Ende der Einheit dient. Das alles steht jetzt freilich nicht im Vordergrund. Es ist auch deutlich zu machen, dass das irische Nein die Europäische Union nicht handlungsunfähig macht, auch wenn es manches erschwert. Doch der schönste Vertrag nützt wenig, wenn er von den Bürgern nicht aus freien Stücken und aus innerer Überzeugung mitgetragen wird. Um genau diese innere Überzeugung müssen wir uns bei jedem Integrationsschritt noch viel stärker bemühen als bisher. Vielen Dank. ({10})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Michael Roth, SPDFraktion. ({0})

Michael Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003213, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Europapolitiker brauchen in diesen Zeiten besonders viel Optimismus. Das fällt nicht immer leicht. Die gegenwärtige Situation erinnert mich manchmal an den Film „Und täglich grüßt das Murmeltier“. Man hat ein Projekt abgeschlossen, geht beruhigt ins Bett, steigt am nächsten Morgen aus dem Bett und stellt fest: Alles fängt noch einmal von vorne an, die gleiche Mühsal, die gleiche Überzeugungsarbeit. Aber wir sind gestählt; wir haben das nun schon über eine ganze Reihe von Jahren gemacht. Vor sechs Jahren hat der Verfassungskonvent seine Arbeit aufgenommen. Leider müssen wir feststellen: Wir sind noch kein richtiges Stück vorangekommen. Daran sind nicht allein die 862 415 Iren schuld, die mit Nein gestimmt haben. Bereits seit Maastricht stockt der Ratifizierungsprozess. Es hat immer wieder Neins gegeben - darauf ist eben schon hingewiesen worden -, und wir haben immer wieder pragmatische Lösungen gefunden. Wir haben Opt-outs erklärt, wir haben Protokollerklärungen auf den Weg gebracht, wir haben Reflexionsphasen ausgerufen. Ich befürchte nur: Mit einem „Weiter so“ und der Suche nach kleinen Lösungen werden wir nicht mehr vorankommen. Es hat sich schließlich Grundlegendes geändert. Der Integrationsprozess war immer reich an Konflikten. Von Beginn an hat es einen Grundkonflikt zwischen den Integrationisten und den Intergouvernementalisten gegeben, also zwischen denjenigen, die eher eine bundesstaatliche, und denjenigen, die eher eine staatenbündische Ordnung wollten. Daraus ist aber immer etwas Konstruktives entstanden, auch maßgeblich auf Initiative von Deutschland und Frankreich. Sie haben Vorschläge gemacht, die für die anderen Partner akzeptabel waren. Ob das aber jetzt - bei einer Europäischen Union mit fast 500 Millionen Bürgerinnen und Bürgern, bei einer Europäischen Union mit 27 Mitgliedstaaten - noch trägt, daran habe ich, offen gestanden, meine Zweifel. Diese Zweifel möchte ich zumindest heute einmal zum Ausdruck bringen. Ich weiß: Viele wünschen sich die EU als eine Volkshochschule. Ich will nichts gegen Volkshochschulen sagen. Sie leisten einen wichtigen Beitrag. Aber sind wir wirklich der Auffassung, dass die Iren möglicherweise für den Vertrag von Lissabon gestimmt hätten, wenn man ihnen den Vertrag nur besser erklärt hätte? Jeder von uns weiß doch, wie schwierig, komplex und kompliziert föderale Strukturen sind. Wer von uns kann denn auf Anhieb das personalisierte Verhältniswahlrecht erklären? Wer von uns kann auf Anhieb die konkurrierende Gesetzgebung erklären? Wer von uns kann auf Anhieb erklären, wann der Bundesrat zuzustimmen hat und wann er eben nicht zuzustimmen hat? ({0}) Trotzdem gibt es in Deutschland, in unserem föderalen Staat, noch ein diffuses Grundvertrauen in die Politik und in diesen Staat. Dieses diffuse Grundvertrauen gibt es in weiten Teilen der Bevölkerung innerhalb der Europäischen Union so offensichtlich nicht mehr. Das ist auch unsere eigene Schuld. Da tragen wir Mitverantwortung. In einem Punkt ist die Europäische Union gelungen; sie ist ein grandioses historisches Erfolgsprojekt - das weiß die ältere Generation in unserem Land sehr genau -: Europa als Friedensmacht. Europa hat Frieden und Sicherheit auf den Weg bringen, garantieren können. Das ist alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Misslungen ist aber, dass sich die Europäische Union als sozialer Gestalter von Globalisierung etablieren konnte. ({1}) Wir haben innerhalb der Europäischen Union - sei es bei Entscheidungen des Rates, sei es bei Urteilen des Europäischen Gerichtshofes, sei es bei Initiativen der Europäischen Kommission - leider ein zu marktradikales Denken: Das verunsichert, das ängstigt die Menschen. Sie haben den Eindruck: Die Europäische Union ist nicht mehr Teil der Lösung, sondern Teil des Problems. - Hier müssen wir ansetzen. Der Vertrag von Lissabon sieht, auch wenn Sie von den Linken etwas anderes behaupten, viele sozialpolitische Bekenntnisse vor. Der Vertrag von Lissabon beinhaltet mehr soziale Grundrechte als das Grundgesetz. ({2}) Das ist gut, aber konkrete Projekte im täglichen Handeln, die den Menschen zeigen: „Es geht voran“, sind besser. Ich mahne uns alle zu ein bisschen mehr Demut in Richtung Irland und auch zu mehr Selbstkritik. Wir alle sehen den Splitter im irischen Auge, aber den Balken im eigenen Auge - das ist auch bei meinem Vorredner ein bisschen deutlich geworden - sehen wir leider nicht. ({3}) Michael Roth ({4}) Das Brüssel-Bashing bringt uns überhaupt nicht weiter. Von Montag bis Freitag zu erklären, dass wir es mit einem Bürokratenmoloch zu tun haben und wir alle hier, seien wir Regierungsvertreter oder Abgeordnete, machtlos seien, dann jedoch am Sonntag die Sonntagsreden für das ach so schöne, solidarische Europa zu halten, ist nicht überzeugend; vor allem: Es stimmt auch nicht. Es findet im Rahmen der europäischen Rechtsetzung kein einziges Gesetzgebungsprojekt statt, ohne dass ein Minister, ein Staats- oder Regierungschef nicht beteiligt ist. Schon jetzt verfügen die nationalen Parlamente über erhebliche Mitwirkungsmöglichkeiten. Wir werden sicherlich nicht alles, was in Brüssel erdacht und ersponnen wird, verhindern können. Aber wir werden alles mitgestalten können, wenn wir es denn wollen. Daran, dass dieser Wille überall vorhanden ist, habe ich manchmal so meine Zweifel. ({5}) Ich weiß, dass der Appell ausgesendet wurde: Wir versuchen jetzt, den Wagen, der feststeckt, wieder flottzumachen. Seid aber mit neuen Ideen zurückhaltend! Dennoch möchte ich dazu einladen, auch einmal etwas Neues zu denken oder die eine oder andere Idee, die schon seit geraumer Zeit in der Schublade liegt, wieder hervorzuholen. Ich sage jetzt meine persönliche Auffassung und vertrete damit nicht die Auffassung meiner Fraktion. Ich weiß natürlich, dass wir das Ratifizierungsverfahren nur einstimmig werden ändern können. Aber vielleicht besteht die Chance, uns zukünftig darauf zu verständigen, dass eine Ratifizierung möglich ist, wenn mindestens vier Fünftel der Mitgliedstaaten zustimmen und gleichzeitig in einem EU-weiten Referendum die Bürgerinnen und Bürger mehrheitlich zustimmen. ({6}) Die Mitgliedstaaten, die mit Nein gestimmt haben, haben dann die Option, aus der Europäischen Union auszutreten. ({7}) Wir brauchen weiterhin kurzfristig pragmatische Lösungen. Ich kann zum Beispiel nicht nachvollziehen, warum man jetzt nicht erklärt: Bestimmte Teile des Vertrages, die uns wichtig sind, können schon jetzt in Kraft treten. Warum sollte sich der Europäische Rat nicht darauf verpflichten, dass das Wahlverfahren für den Kommissionspräsidenten nach den Regeln von Lissabon stattfindet? Warum sollten sich die nationalen Parlamente gemeinsam mit der EU-Kommission nicht darauf verständigen, dass schon jetzt die Mitwirkungs- und Kontrollmöglichkeiten für die nationalen Parlamente gelten? Warum sollten wir uns im Rahmen einer interinstitutionellen Vereinbarung nicht darauf verständigen, dass die Grundpfeiler eines europäischen auswärtigen Dienstes schon jetzt auf den Weg gebracht werden? Diese Fragen sollten zumindest gestellt werden dürfen. Vielleicht finden wir Bündnispartner in der Europäischen Union, und vielleicht können wir eine neue Dynamik entwickeln. Eine weitere Differenzierung, ob sie uns gefällt oder nicht, ist zwangsläufig. Ein Flickenteppich ist nicht schön, aber mit Schengen, Prüm und Euro haben wir ihn schon jetzt. Ich baue immer noch darauf, dass eine große Mehrheit der Mitgliedstaaten nicht nur einen Binnenmarkt will, sondern wirklich eine politische Union, die im sozialen Bereich, bei der ökologischen Nachhaltigkeit, bei der internationalen Solidarität und in der Außen- und Sicherheitspolitik voranschreitet. Dafür werden wir möglicherweise diese bittere Pille einer weiteren Differenzierung schlucken müssen. Für uns stellt sich nur die Frage: Wie können wir demokratische Legitimation und Kontrolle gewährleisten? Wie können wir möglicherweise weitere Komplexität und Intransparenz verhindern? Darauf müssen Antworten gefunden werden. Das ist unser gemeinsamer Auftrag. Ich bin hoffentlich nicht naiv, aber ich bin und bleibe optimistisch. Die Vision eines vereinten, demokratisch und sozial verfassten Europas sollte noch nicht tot sein. Die EU wird sich deshalb neu gründen müssen. Dafür braucht es wahre Europäer. Ich bin mir sicher: Hier bei uns im Bundestag lassen sich einige finden. Vielen Dank. ({8})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Eckart von Klaeden, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Eckart Klaeden (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002698, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es gibt die alte Weisheit, dass in jeder Krise auch eine Chance liegt. Man wird sicherlich nicht sagen können, dass die gegenwärtige Krise der Europäischen Union so klein sei, dass man in ihr nicht auch Chancen finden könne. Es wurde heute darüber gesprochen, dass wir das Modell eines Europas der unterschiedlichen Geschwindigkeiten im Sinne eines Kerneuropas ablehnen. Wir sollten aber doch feststellen, dass es ein Europa der unterschiedlichen Befindlichkeiten gibt: Wir haben zum einen die Gründungsstaaten des gemeinsamen Europas, die aus den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges und des Kalten Krieges Souveränitätsverzicht als eine Voraussetzung für eine dauerhafte Friedensordnung begriffen und im Zuge dessen die Erfahrung gemacht haben, dass wirtschaftliche Kooperation Voraussetzung für Wohlstand ist. Wenn wir in Deutschland über 60 Jahre soziale Marktwirtschaft sprechen, dann sollten wir auch darauf hinweisen, dass die damit verbundenen Erfolge auf drei Säulen ruhten, nämlich zum Ersten auf der Säule der nationalen Entscheidung für die soziale Marktwirtschaft als Wirtschaftsordnung, zum Zweiten auf der Säule des Marshallplans und zum Dritten auf der Säule der europäischen Integration, die mit den Begriffen Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, Europäische Gemeinschaft und schließlich Euro17844 päische Union eng verbunden ist. Ohne die EWG wäre das Wirtschaftswunder in Deutschland nicht möglich gewesen. ({0}) Wir haben zum anderen unter dem Gesichtspunkt der unterschiedlichen Befindlichkeiten die Gruppe der neuen Mitgliedstaaten, die sich noch sehr genau an die Erfahrungen erinnern können, die mit dem erzwungenen Souveränitätsverzicht im Warschauer Pakt verbunden waren, und deswegen der Idee des freiwilligen Souveränitätsverzichts skeptischer gegenüberstehen als wir. Wir haben schließlich die Gruppe der neueren Mitgliedstaaten, zu der auch Irland gehört, die bisher außerordentlich von der europäischen Integration profitiert haben, aber nicht wissen, was sie erwartet. Nirgends wird das mehr deutlich als in dem Wahlkampfslogan, der in Irland für eine Abstimmung mit Nein warb: „If you don’t know, vote no!“ Wir müssen nun diese unterschiedlichen Befindlichkeiten mehr zur Kenntnis nehmen und bei dem Werben für Europa und unseren Begründungen dafür stärker auf diese Bezug nehmen. Ein gemeinsames Ziel teilen jedoch alle drei Befindlichkeiten: Der Integrationsprozess muss weitergehen. Wenn wir auf dem Stand des Vertrages von Nizza verbleiben würden, dann müssten wir mit einem Prozess der schleichenden Desintegration Europas rechnen. Das wäre für alle drei Gruppen schlecht, also für die alten Mitgliedstaaten wie zum Beispiel Deutschland - wir sind ja Exportweltmeister wegen der Europäischen Union -, für die neuen Mitgliedstaaten, die in den Euro-Raum streben und vom gemeinsamen Markt ebenfalls enorm profitieren - das ist zum Beispiel die Tschechische Republik, deren Bruttoinlandsprodukt nämlich zu fast 20 Prozent direkt oder indirekt von Volkswagen abhängt -, und schließlich auch für die exportabhängigen dynamischen Volkswirtschaften wie die in Irland, die nicht nur von den niedrigen Steuersätzen profitieren, sondern gerade auch von den Exportmöglichkeiten in die Europäische Union. Wir müssen also klarmachen, dass die Europäische Union gerade in ihrer Kombination die richtige Antwort auf die Globalisierung ist. Sie ist nämlich der Raum, in dem einerseits das europäische Sozialstaatsmodell weiterentwickelt werden kann und in dem andererseits dafür gesorgt werden kann, dass Europa die Wettbewerbsfähigkeit erhält bzw. gewinnt, die erforderlich ist, um sich im globalen Wettbewerb behaupten zu können. Deswegen sind die Gegner des europäischen Sozialstaatsmodells auch gegen die Europäische Union. Hier ist Großbritannien eine wesentliche Triebfeder. Aber es sind auch diejenigen gegen die Europäische Union, die gegen mehr Wettbewerb sind. Hier ist, wie ich finde, die Gegnerschaft der Linkspartei besonders zu greifen. ({1}) Sie von der Linken sollten sich einmal die Frage stellen, warum neben den verfassungsrechtlichen Ausführungen, die Sie heute gemacht haben, sich die sozialpolitischen Ausführungen, die Sie zur Europäischen Union machen, von den europapolitischen Ausführungen der NPD manchmal nur durch die Quellenangabe unterscheiden lassen. ({2}) Wir brauchen beides: Wir brauchen einerseits die Weiterentwicklung des Sozialstaates. Aber wir brauchen andererseits eben auch die Weiterentwicklung der Wettbewerbsfähigkeit, damit dieser Sozialstaat überhaupt erhalten werden kann. Wir dürfen uns nicht auf den Kategorienfehler einlassen, der häufig gemacht wird, eine Entwicklung innerhalb der Europäischen Union, die man nicht teilt, als Begründung für die grundsätzliche Europagegnerschaft anzuführen. Angesichts der demografischen und der wirtschaftlichen Entwicklung in anderen Weltregionen - in China, Indien, der ASEAN-Gruppe, Russland - haben wir nur dann eine Chance, so weiterleben zu können, wie wir leben, wenn wir die Europäische Union weiterentwickeln. Dafür braucht die Europäische Union, meine ich, gerade nicht eine neue Phase der Selbstreflexion, sondern neue, frische Gedanken, ({3}) die über das hinausgehen, was zurzeit diskutiert wird, zum Beispiel die Frage, wie wir als Europäer stärker mit einer Stimme in der internationalen Finanzwirtschaft sprechen können. Wir müssen auch darauf achten, dass in Zukunft nicht mehr so über Europa gesprochen wird, wie es viele unserer Kolleginnen und Kollegen im Alltag tun. Denn es ist Ausdruck von Denkfaulheit, wenn man für Entscheidungen auf kommunaler, Landes- oder nationaler Ebene, die man nicht zu begründen bereit oder in der Lage ist, immer wieder die wohlfeile Ausrede Europa findet. Wer so argumentiert, darf sich nicht wundern, dass, wenn es darauf ankommt, die Europaskepsis in der Bevölkerung besonders groß ist. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Entschlie- ßungsanträge. Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/9633? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungs- antrag ist mit den Stimmen der Fraktionen Die Linke, SPD und CDU/CSU bei Gegenstimmen von Bündnis 90/ Die Grünen und FDP abgelehnt. Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Frak- tion Die Linke auf Drucksache 16/9634? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke mit den übrigen Stimmen des Hauses abgelehnt. Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Frak- tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/9635? - Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschlie- ßungsantrag ist mit den Stimmen der Fraktionen Die Linke, SPD und CDU/CSU bei Gegenstimmen der Frak- tionen Bündnis 90/Die Grünen und FDP abgelehnt. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b sowie die Zusatzpunkte 1 und 2 auf: 4 a) Beratung der Unterrichtung durch die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration Siebter Bericht über die Lage der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland - Drucksache 16/7600 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({0}) Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Kultur und Medien b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Sevim Dağdelen, Ulla Jelpke, Jan Korte und der Fraktion DIE LINKE Für die zügige Vorlage eines qualifizierten Berichts über die Lage der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland - Drucksachen 16/5788, 16/7246 Berichterstattung: Abgeordnete Ralf Göbel Hartfrid Wolff ({2}) Josef Philip Winkler ZP 1 Beratung des Antrags der Abgeordneten Sibylle Laurischk, Dr. Max Stadler, Gisela Piltz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Integrationskurse qualitativ verbessern und entbürokratisieren - Drucksache 16/9593 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({3}) Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Josef Philip Winkler, Volker Beck ({4}), Monika Lazar, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Das Parlament bei der Ausgestaltung des Einbürgerungstests beteiligen - Drucksache 16/9602 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({5}) Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Staatsministerin Dr. Maria Böhmer.

Not found (Gast)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Soeben haben wir über die Integration Europas debattiert. Jetzt wenden wir den Blick unserem Land zu. Es geht um die Integration der 15 Millionen Menschen, die nach Deutschland zugewandert sind und hier leben. Wir diskutieren jetzt auf der Basis des Lageberichts über die Situation der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland, den ich im Dezember vorgelegt habe. Die Bundesregierung hat mit Beginn dieser Legislaturperiode drei entscheidende integrationspolitische Weichenstellungen vorgenommen: Erstens. Die Integration wird aus dem Kanzleramt heraus gestaltet. Das ist Ausdruck der politischen Bedeutung, die wir diesem Thema beimessen. ({0}) Zweitens. Mit dem Nationalen Integrationsplan haben wir erstmals ein integrationspolitisches Gesamtkonzept vorgelegt. Alle staatlichen Ebenen und die Zivilgesellschaft, aber vor allen Dingen die Migrantinnen und Migranten sind hier einbezogen. Wir gehen den Weg gemeinsam; das ist unsere Maxime. ({1}) Drittens. Der Innenminister hat die Deutsche IslamKonferenz ins Leben gerufen und damit den Dialog mit dem Islam in Deutschland auf eine neue Grundlage gestellt. Mit diesen drei Ansätzen wird deutlich: Wir haben in der Integrationspolitik umgesteuert. Das war dringend notwendig. ({2}) Wir setzen auf echte Partnerschaft und nicht auf falsche Freundschaft, wie es in der Vergangenheit oft der Fall war. Die Zuwanderer haben mehr verdient als wohlmeinende Betreuung und Fürsorge. Wir wollen, dass alle in unserem Land den Weg gleichberechtigt gehen. Unser Ziel heißt deshalb: gleichberechtigte Teilhabe. ({3}) Wir setzen an bei der Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen: bei Bildung, Arbeit, Wohlstand, sozialer Anerkennung und politischer Teilhabe. Auf diese fünf Felder kommt es an. ({4}) Wir sagen mit allem Nachdruck: Integration ist nachhaltig zu fördern, aber Integration ist auch zu fordern auf der Grundlage klarer Regeln und gemeinsamer Werte. Wir gestalten in unserem Land eine werteorientierte Integrationspolitik. ({5}) Wir können mit Fug und Recht sagen: So viel Bewegung war noch nie, um die zugewanderten Menschen in unserem Land zu integrieren. Was mich ganz besonders freut, ist, dass mir die Migrantinnen und Migranten selber das immer wieder bestätigen. Sie ergreifen die Chance und gestalten mit. Wir gehen diesen Weg gemeinsam. Jedes Jahr stellt der Bund für die Schlüsselaufgabe Integration rund drei Viertel Milliarden Euro bereit, allein für die Integrationskurse 155 Millionen Euro. Ich sage Ihnen: Das ist eine gute Investition in die Zukunft unseres Landes und in die Zukunft der hier lebenden Menschen. ({6}) Wir haben es geschafft, dass ein Umdenken stattfindet. Ich möchte allen im Parlament danken, die daran mitwirken. Es ist kein Raum mehr für irgendwelche ideologischen Sichtweisen und für Schönfärbereien in den Bereichen, wo Probleme existieren. Aber es dürfen auch keine Probleme konstruiert werden, die nicht existieren. Wir müssen ehrlich und sachlich sein, auf die Menschen zugehen und ihre Herzen erreichen. Wir müssen die emotionale Seite berücksichtigen. Das heißt, wir müssen auch warmherzig sein. Es geht um das gute Zusammenleben in unserem Land. Wir benennen nicht nur die Defizite, sondern rücken die Chancen in den Blick und machen Mut, um die positiven Entwicklungen in unserem Land zu verstärken. Ich nenne ein Beispiel. Es gibt 600 000 Unternehmerinnen und Unternehmer ausländischer Herkunft in Deutschland. Sie sind wichtige Vorbilder für die vielen Menschen, die zu uns gekommen sind und hier leben. Diese Unternehmerinnen und Unternehmer haben beispielsweise den Gemüseladen der Eltern zu einer Supermarktkette ausgebaut; sie haben Werbeagenturen gegründet; sie führen inzwischen Unternehmen mit Umsätzen in Millionenhöhe; sie haben 2 Millionen Arbeitsplätze in Deutschland geschaffen. Das bedeutet, dass alle davon profitieren. Deshalb sage ich: Erfolgreiche Integration ist ein wirtschaftlicher und sozialer Gewinn für unser ganzes Land. ({7}) Unterlassene Integration kommt uns alle teuer zu stehen. Sie kostet jährlich 16 Milliarden Euro, ({8}) wie eine Studie der Bertelsmann-Stiftung belegt. Das sind 16 Milliarden Euro zu viel. Die Zahlen der Bertelsmann-Studie spiegeln sich auch sehr deutlich im Lagebericht wider. Er ist im Kern ein Bericht zur Lage der Integration. Wir haben bewusst den Schwerpunkt auf Bildung, Ausbildung und Teilhabe am Arbeitsmarkt gesetzt; denn in diesen Bereichen entscheidet sich, ob Integration wirklich gelingt. Die Zahlen im Lagebericht basieren auf dem Mikrozensus des Jahres 2005; das waren die aktuellsten Zahlen, die verfügbar waren. Sie sind - das sage ich in aller Deutlichkeit - alarmierend. 18 Prozent der Schülerinnen und Schüler ausländischer Herkunft brechen die Schulausbildung ab. Wir wissen, dass sie kaum Chancen haben, in unserem Land eine gute Zukunft zu gewinnen. Nur 8 Prozent schaffen das Abitur; das ist viel zu wenig. Das Begabungspotenzial dieser Kinder und Jugendlichen ist deutlich höher. Diese Zahlen provozieren geradezu die Frage: Warum sind die Bildungsressourcen in unserem Land derart verkümmert, warum heben wir sie nicht? Das darf uns nicht ruhen lassen. Als der Bildungsbericht in der vergangenen Woche vorgestellt worden ist, mussten wir erneut feststellen, dass der Bildungserfolg in Deutschland an der ethnischen und sozialen Herkunft hängt. ({9}) Der Bundespräsident hat diese Situation in seiner Rede als beschämend bezeichnet. Das muss uns alle aufrütteln. Wir müssen hier etwas ändern, vor allem im Bildungssystem. Entscheidend ist aber auch, ob zu Hause deutsch gesprochen wird und ob die Eltern ihre Kinder wirklich unterstützen können. Denn diese schlechten Bildungsergebnisse, die wir haben, schlagen auf die Ausbildung und auf die Jobsituation durch. 40 Prozent aller Jugendlichen ohne deutschen Pass bleiben ohne jegliche berufliche Qualifizierung. Ihr Risiko, arbeitslos zu werden, ist doppelt so hoch wie das der Deutschen. Die Schlussfolgerung liegt auf der Hand: Wir müssen alle Kraft in die Bildung stecken. Das muss die Maxime sein. So handeln wir, seit wir den Nationalen Integrationsplan vorgelegt haben. ({10}) Ich will Ihnen drei Punkte nennen, an denen wir mit Hochdruck arbeiten müssen: Der erste Punkt ist: Wir müssen die Elternarbeit stärken; denn wenn wir auf ein gewisses Fundament im Elternhaus aufbauen können - Erziehung und Bildung beginnen im Elternhaus -, dann lässt sich vieles im Kindergarten und in der Schule leichter vollbringen. Deshalb habe ich in dieser Woche ein Gespräch mit der Präsidentin der Kultusministerkonferenz und den Migrantenverbänden darüber geführt, welche weiteren Schritte wir gehen wollen, um zu einer wirklich aktivierenden Elternarbeit zu kommen. Der zweite Punkt ist: alle Kraft in Bildung investieren. Wir brauchen eine stärkere individuelle Förderung der Kinder und Jugendlichen. Deshalb habe ich die Aktion „zusammen wachsen“ auf den Weg gebracht. Das bedeutet, bürgerschaftliches Engagement für bessere Bildung und Integration zu stärken. Alle Kraft in Bildung heißt auch: Der Kindergarten muss zur Bildungseinrichtung werden; denn wenn die Kinder nicht schon im Kindergarten Deutsch lernen, können sie in der Schule nicht vorankommen. Deshalb gehören heute systematische Sprachförderung, Sprachstandstests und das Verständnis anderer Kulturen dazu. Dafür müssen wir die Erzieherinnen qualifizieren. Das unterstützen wir mit der Qualifizierungsinitiative der Bundesregierung. ({11}) Der dritte Punkt ist: Wir müssen die Lehrerinnen und Lehrer besser auf die neue Schulwirklichkeit vorbereiten. Wenn wir in Schulen gehen, dann erleben wir doch heute die Situation, dass nicht nur 30, 40 Prozent der Kinder aus Zuwandererfamilien stammen. Hier in Berlin sind es 80 bzw. über 90 Prozent. Viele, die Kinder unterrichten, sind überhaupt nicht auf diese Situation vorbereitet. Ich erinnere mich noch gut daran, welcher Aufschrei durch Deutschland ging und welche Diskussionen geführt wurden, als die Hoover-Realschule beschlossen hat, dass auf dem Schulhof deutsch gesprochen wird. Ich bin sehr froh, dass wir dieses Thema hinter uns gelassen haben und dass heute alle wissen: Deutsch als gemeinsame Sprache ist unverzichtbar. ({12}) Ich appelliere mit allem Nachdruck an die Länder, dass sie die Selbstverpflichtungen, die sie im Nationalen Integrationsplan eingegangen sind, mit Hochdruck umsetzen; denn wir müssen die Lehrerinnen und Lehrer stärker in die Lage versetzen, Deutsch als Zweitsprache zu unterrichten. Wir brauchen mehr Lehrkräfte aus Zuwandererfamilien; denn sie sind die Brückenbauer. Wir müssen die Zahl der Schulabbrecher dringend halbieren und mehr dafür gewinnen, Abitur zu machen und auf diesem Weg voranzugehen. Wir brauchen mehr Vorbilder. Dafür müssen wir gemeinsam noch besser werden und alle Kräfte anstrengen. ({13}) Zum Schluss will ich einen aktuellen Punkt in das Blickfeld rücken. Bei all dem, was sich entwickelt hat und wo in Deutschland ein Umdenken stattgefunden hat, stoßen wir immer wieder auf eine Situation, die bei mir den Eindruck erweckt, es gehe wieder zurück zum Anfang. Wir treten gemeinsam dafür ein, dass wir Menschen, die zu uns gekommen sind, die volle Teilhabe am politischen Bereich in unserem Land ermöglichen. Das bedeutet auch, sie zu ermutigen, die deutsche Staatsbürgerschaft anzunehmen; denn als deutsche Staatsbürger haben sie die vollen Rechte und Pflichten. Ich werde immer wieder dafür werben: Werde Deutsche, werde Deutscher und nimm deine Rechte wahr! Aber damit die Betroffenen das können, müssen sie Kenntnisse dessen haben, was demokratische Regelungen in unserem Land bedeuten. Sie müssen Kenntnisse von unserer Geschichte und unserer gesellschaftlichen Ordnung haben. Wenn ich jetzt erlebe, wie die Hilfestellung, die wir geben wollen, nämlich Einbürgerungskurse - natürlich gehört ein Einbürgerungstest dazu -, auf Kritik stößt, ({14}) so kann ich, wenn es heißt, selbst Deutsche könnten diese Fragen nicht beantworten, nur sagen: Das ist kein Argument gegen den Einbürgerungstest, sondern ein Argument dafür, dass wir die politische Bildung aller in unserem Land stärken sollten. ({15}) Diejenigen, die davon profitieren werden, sind diejenigen Menschen, die zu uns kommen und die deutsche Staatsbürgerschaft erwerben. Ideologen, Schönredner und Schwarzmaler, die es in der Vergangenheit zur Genüge gab, ({16}) haben nicht verstanden, dass Deutschland ein Integrationsland ist. Wir werden den Weg der nachhaltigen Integration gemeinsam weitergehen; denn es geht um das Wohl der Menschen in unserem Land. Herzlichen Dank. ({17})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Für die FDP-Fraktion gebe ich das Wort dem Kollegen Hartfrid Wolff.

Hartfrid Wolff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003866, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der etwas verspätet vorgelegte Ausländerbericht erfüllt die Erwartungen, die an ihn geknüpft wurden, teilweise gut, teilweise aber nur bedingt. Einige Passagen sind geradezu innovativ, andere hingegen zurückhaltend formuliert. Das Selbstlob der Regierung zum Nationalen Integrationsplan steht zumindest in mancherlei Hinsicht im Widerspruch zur integrationspolitischen Debatte. Man betrachte nur die dürren Ausführungen im Bericht zu den illegalen Ausländern oder die politische Debatte, die Anfang dieses Jahres in Hessen stattgefunden hat; auch das ist Realität. ({0}) Die neue Differenzierung und Definition „Menschen mit Migrationshintergrund“ ist grundsätzlich zu begrüßen. Allerdings wird dadurch deutlich, dass nur ein bestimmter Teil der Migranten zu Integrationsmaßnahmen herangezogen wird. Die FDP begrüßt, dass der Bericht den Wandel der Prioritäten in der migrationspolitischen Debatte konstatiert: hin zu Integration durch Bildung, deutsche Sprachkom17848 Hartfrid Wolff ({1}) petenz und berufliche Qualifikation. Erst der Neuansatz in der Zuwanderungspolitik aufgrund des Zuwanderungsgesetzes hat es Deutschland ermöglicht, sich als Zuwanderungsland zu verstehen und entsprechende Anforderungen an Migranten zu formulieren. Das ist kaum ein Jahrzehnt her. Das Beherrschen der deutschen Sprache, die uneingeschränkte Akzeptanz unserer Rechtsordnung und der hier zugrunde liegenden Wertvorstellungen sowie die Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte und Kultur sind Voraussetzung dafür, hierzulande als Inländer anerkannt zu werden. Die Bundesregierung hat aber noch einiges zu tun, gerade bei der Sprachförderung. Hier müssen wir dringend nachjustieren, zum Beispiel bei den Integrationskursen. Ein entsprechender Antrag liegt vor. ({2}) Ein Verzicht auf Negativsanktionen, wie die Linken es immer wieder fordern, würde die Integration nicht verbessern. ({3}) Die Einhaltung und der Vollzug des Ausländerrechts sind wesentliche Bestandteile unserer demokratischen Rechtsordnung. Integrationsbemühungen sind in großem Maße von der Akzeptanz der Bevölkerung abhängig. ({4}) Wer Aufenthaltsrecht oder Staatsangehörigkeit zu billig macht, entwertet sie. Darin würde sich ein Mangel an Selbstachtung in unserer Gesellschaft ausdrücken, der die Gesellschaft unattraktiv machen würde. Eine unattraktive Gesellschaft aber wird es schwer haben, Zuwanderer zur Integration zu motivieren. Deshalb muss der, der Zuwanderer erfolgreich integrieren will, von der Attraktivität Deutschlands überzeugt sein. Wer unseren Staat, unser Land immer nur kritisch beäugt, kann nicht erwarten, dass Zuwanderer sich mit diesem Land identifizieren. Zuwanderung ist ein Kompliment für Deutschland. Wir sollten dieses Kompliment nicht entwerten, indem wir unsere Erwartungen an Zuwanderer auf ein Maß reduzieren, das den Eindruck erweckt, dass wir diesen Menschen nichts zutrauen. Wir sollten sie nicht als problembeladene Menschen ansehen, denen wir mit Mitleid begegnen müssen. ({5}) Ich meine, wir sollten sie als freie und kluge Köpfe achten, die große Anstrengungen unternehmen, um sich in unsere Gesellschaft einzubringen. ({6}) Zuwanderer haben unsere Gesellschaft in vielerlei Hinsicht bereichert und tun es nach wie vor - wirtschaftlich, kulturell und menschlich. Wir brauchen sie. ({7}) Wir sind auf Zuwanderung angewiesen, gerade auf die Zuwanderung von Hochqualifizierten und Fachkräften. Der Ausländerbericht der Bundesregierung bestätigt in erfreulich deutlichen Worten, Herr Bürsch, dass in der Steuerung der Arbeitsmigration in Deutschland eine beachtliche Lücke besteht. Es ist bemerkenswert, dass der vorliegende Bericht ganz deutlich hervorhebt, dass die Hürden für Fachkräfte viel zu hoch sind. Ich empfehle insbesondere den Kollegen von der CDU/CSU, ihre Aufmerksamkeit auf Seite 120 dieses Berichts zu lenken. ({8}) Der massive Fachkräftemangel, die demografische Entwicklung, die internationale Arbeitsteilung machen eine klare Steuerung der Zuwanderung nach einem Punktesystem geradezu zwingend erforderlich; ({9}) denn das Punktesystem ist ein flexibles, transparentes und modernes System der Zuwanderungssteuerung. ({10}) Die FDP-Fraktion hat hierzu in der letzten Sitzungswoche bereits das entsprechende Konzept vorgelegt. ({11}) Wer sich einer modernen Zuwanderungssteuerung verschließt, verschließt die Augen vor der Realität und übersieht die Wachstumspotenziale der Zuwanderung. Wir brauchen in unserer Gesellschaft, aber auch für die Migranten eine klare Perspektive, klare Kriterien und eine offene Willkommenskultur, die beidseitig akzeptiert werden kann sowie die Rechte und Pflichten definiert. Eine moderne Zuwanderungssteuerung ist überfällig. ({12})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Rüdiger Veit, SPDFraktion. ({0})

Rüdiger Veit (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003249, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren heute mehrere Drucksachen, nämlich den Siebten Bericht der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, den Antrag der Grünen zum Thema Staatsbürgerschaftstests - dazu wird der Kollege Bürsch nachher etwas sagen - und den Antrag der FDP - Herr Kollege Wolff, Sie haben ihn vorgestellt und begründet mit dem Titel „Integrationskurse qualitativ verbessern und entbürokratisieren“. Dazu möchte ich gerne einige wenige Bemerkungen machen. Wenn mich nicht alles täuscht - Herr Kollege Wolff, nehmen Sie es nicht persönlich, biologisch und vom Dienstalter her sind Sie außen vor -, war es die FDP, die nach dem Krieg in rund 40 Jahren Regierungsbeteiligung in der Bundesrepublik das Hauptausmaß an Defiziten in der Integration jedenfalls mitzuverantworten hat. Deswegen bin ich durchaus froh darüber, dass Sie dieses Thema entdecken und versuchen, sich ihm auf der Überholspur widmen. Dabei versuchen Sie uns zu sagen, wie wir die Integrationskurse verbessern können. Sie haben einige zustimmungswürdige Dinge genannt. Sie haben aber auch einige Dinge angesprochen, bei denen wir keine Nachhilfe mehr brauchen. Das BAMF wird - es ist schon im Begriff, das zu tun - die Regelungen zur Fahrtkostenerstattung für Kursteilnehmer entbürokratisieren. Die beteiligten Behörden sind inzwischen gut verzahnt und informieren sich - dazu sind sie verpflichtet - untereinander. Ebenso gibt es - hier sind wir um eine Verbesserung bemüht - eine sozialpädagogische und Kinderbetreuung. Ein Punkt bleibt auch aus meiner Sicht verbesserungswürdig. Sie wollen die Vergütung für die Integrationskurse pro Stunde und Teilnehmer auf 3 Euro hochsetzen. Früher lag der Vergütungssatz bei 2,05 Euro. Die Koalitionsfraktionen waren sich einig, dass das zu wenig ist. Das BAMF hat den Satz bereits auf 2,35 Euro erhöht. Wir könnten uns im Sinne einer noch besseren Qualität der Kurse und im Sinne der Lehrer, die dort unterrichten, einen Betrag von 2,50 Euro oder 2,75 Euro vorstellen. 3 Euro scheinen mir ein bisschen viel zu sein. Aber ich bin guten Mutes, dass das BAMF hier von uns keine Nachhilfe braucht. Lassen Sie mich bei dieser Gelegenheit einmal feststellen, Kollege Wolff: Die Behörde arbeitet auf diesem Gebiet unter der Führung ihres Präsidenten Schmid ganz hervorragend. ({0}) Was noch wichtiger ist: Niemand, der bisher einen Integrationskurs besuchen wollte - von den Verpflichteten ganz zu schweigen -, ist deswegen abgelehnt worden, weil Haushaltsmittel gefehlt hätten. Darauf werden wir auch in der Zukunft achten. ({1}) Noch einmal: Wir begrüßen Sie und Ihre Vorschläge. Herzlich willkommen im Klub! Rot-Grün hat die Integrationskurse mit dem Zuwanderungsgesetz geschaffen nach dem Motto „Learning by Doing“. Ich sage es nicht ironisch, Herr Grindel, sondern durchaus dankbar anerkennend, dass die CDU/CSU nun aktiv mit im Boot ist. Die FDP ist im Begriff, ebenfalls mit ins Boot zu steigen. Ich begrüße das. Frau Böhmer hat im Ergebnis natürlich recht: Unterlassene Integration kostet uns eine Unsumme Geld. Aber: So viel Integration wie heute war noch nie. Ich will zum eigentlichen Bericht kommen und Ihnen anhand von vier Baustellen zeigen, wo ich für diese Legislaturperiode noch Handlungsbedarf sehe. Dabei lasse ich ausdrücklich kritische Bemerkungen außer Acht, was wir in der Koalition beim Thema Zuwanderungsrecht und EU-Richtlinienumsetzungsgesetz gemeinsam getan haben bzw. tun mussten. Ich will keine rückwärtsgewandten Debatten führen; Sie alle kennen das. Ich will mich vor allen Dingen auf vier Punkte konzentrieren, die noch in dieser Legislaturperiode lösbar erscheinen oder im Sinne der Koalitionsvereinbarung der Lösung bedürfen. Ich kann mich hierbei auf den Bericht der Beauftragten stützen. Frau Staatsministerin Professor Böhmer, ich bin Ihnen und Ihren Mitarbeitern für diesen Bericht außerordentlich dankbar und anerkenne umso mehr den Inhalt des Berichtes, als er sich in manchen Passagen, in denen dies in der Sache geboten ist, deutlich von der Mehrheitsmeinung der CDU in einigen Bundesländern, vielleicht sogar in Ihrer eigenen Fraktion, wohltuend abhebt. Ich begrüße das außerordentlich. Ich möchte dies in meinem ersten Punkt am Beispiel des Rückkehrrechtes für von Zwangsverheiratung betroffene junge Frauen und Mädchen festmachen. Sie schreiben hierzu zu Recht in Ihrem Bericht: Die Beauftragte wird sich auch für eine Verbesserung des Rückkehrrechts einsetzen. Aus ihrer Sicht käme es, wenn sich die Problematik der Heiratsverschleppung als quantitativ relevant und als rechtlich oftmals nicht lösbar - das ist sie wohl auch nicht verstetigen würde, vor allem darauf an, die Regelungen des § 51 AufenthG zu modifizieren. Nur der Fortbestand des Aufenthaltstitels garantiert den Opfern von Heiratsverschleppung die Möglichkeit der zügigen Rückkehr nach Deutschland, sobald sie sich aus ihrer Zwangslage befreit haben. In der Tat - das will ich hier in aller Deutlichkeit sagen -: Wer sich die Bekämpfung von Zwangsverheiratungen im In- oder Ausland zum Ziel gesetzt hat, der darf nicht nur an Fragen des Nachzugsalters, des Erwerbs vorheriger Deutschkenntnisse im Ausland oder was auch immer herumdoktern - entschuldigen Sie bitte das etwas abfällige Wort -, sondern muss sich, glaube ich, vor allen Dingen einmal den Opfern widmen ({2}) und sagen: Wenn eine junge Frau unter List, Drohung oder zunächst vielleicht auch freiwillig aus Deutschland ins Ausland verbracht worden ist und dort durch Druck zu einer Verheiratung gezwungen wird, dann können wir als Gesetzgeber, als deutscher Staat nicht zulassen, dass die betroffene Person - das ist die geltende Rechtslage ohne Ausnahme; wir haben keine Härtefallregelung nach sechs Monaten ihr Aufenthaltsrecht verliert mit der misslichen Folge, dass sie gar nicht mehr nach Deutschland zurückkehren kann, um sich so aus ihrer Zwangslage zu befreien. Wer die Bemühungen im Interesse von jungen Frauen und Mädchen, die von Zwangsheirat betroffen sind, ernst meint, der muss als Erstes genau an dieser Stelle ansetzen und sagen: Selbstverständlich können die betroffenen jungen Mädchen und Frauen nach Deutschland zurückkehren. Hier sehe ich Handlungsbedarf. ({3})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Veit, lassen Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Laurischk zu?

Rüdiger Veit (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003249, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gerne.

Sibylle Laurischk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003580, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Veit, die Bekämpfung der Zwangsheirat ist uns ein wichtiges Thema. Insofern möchte ich von Ihnen gern eine Einschätzung hinsichtlich der Bekämpfung der Zwangsheirat im Inland haben. Hier gibt es eine auffällig geringe Anzahl von Verurteilungen. Die Zwangsheirat steht unter Strafe, ({0}) die Verfolgung hier vor Ort erscheint mir aber in zu geringem Maße stattzufinden.

Rüdiger Veit (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003249, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das mag so sein, Frau Kollegin, aber ich bitte um Verständnis dafür, dass ich diese Frage nicht beantworten kann, da sie eigentlich an Staatsanwaltschaften und Polizeien zu richten ist. ({0}) Wir haben seinerzeit mit den erforderlichen Mehrheiten dafür gesorgt, dass es einen entsprechenden Straftatbestand in § 240 des Strafgesetzbuches gibt. Ich finde, es wird zu Recht über die Frage diskutiert, ob wir diesen Straftatbestand unter einer besonderen Überschrift im Strafgesetzbuch hervorheben sollen, damit sich vor allen Dingen potenzielle Täter über das, was sie zu tun beabsichtigen, noch einmal verschärft Gedanken machen. Aber wie gesagt: Die Frage kann ich Ihnen bedauerlicherweise nicht beantworten. Ich bin jetzt hier in beruflicher Funktion im Deutschen Bundestag und nicht bei der Staatsanwaltschaft. Ich will mich einem zweiten Punkt zuwenden. Er betrifft die Frage des Umgangs mit sich hier bei uns in Deutschland illegal Aufhaltenden. Dies ist eine Baustelle, die einige von uns schon seit vielen Jahren beschäftigt. Es ist nach wie vor so, dass Ärzte und andere in sozialen Berufen tätige Personen von Strafe bedroht sind - auch wenn wir da eine gewisse Veränderung vorgenommen haben -, wenn sie aus rein humanitären Gründen sich illegal in Deutschland aufhaltenden Ausländerinnen und Ausländern helfen. Wir haben bei vielen staatlichen Stellen beklagenswerterweise immer noch Übermittlungspflichten, die dazu führen, dass bestimmte soziale Rechte oder auch das Recht auf Bildung von Kindern ausländischer sich illegal in Deutschland aufhaltender Personen nicht wahrgenommen werden können. Sie, Frau Professor Böhmer, schreiben zu Recht in Ihrem Bericht unter anderem auf Seite 120, dass man dann, wenn sich der Gesetzgeber nicht zu einem Handeln entschließen sollte, Veranlassung hätte, im nachgeordneten Bereich, also im Bereich der Verwaltungsvorschriften, zu Veränderungen zu kommen und klar und deutlich zu sagen: Wer sich illegal in Deutschland Aufhaltenden aus humanitären Gründen medizinische Hilfe leistet, macht sich nicht strafbar. Hier sind wir uns doch eigentlich alle einig. Frau Professor Böhmer, Sie haben völlig recht, wenn Sie in Ihrem Bericht auch schreiben, dass Sie es für unerlässlich halten, Übermittlungspflichten im Bereich von Schule und anderen Bildungseinrichtungen zu streichen, weil sich die Kinder sonst veranlasst sehen könnten, diese Möglichkeiten der Bildung nicht in Anspruch zu nehmen; das hätte übrigens auch Konsequenzen für ihre Integration in Deutschland. Ich begrüße außerordentlich, dass sowohl die gesamte SPD-Bundestagsfraktion als auch Teile der CDU/CSUFraktion der Auffassung sind, hier müsse angesetzt und etwas getan werden. Wir haben Ihnen unseren Vorschlag mitgeteilt, dass man die Übermittlungspflichten ausdrücklich auf solche Behörden und Stellen beschränken sollte, die mit der Gewährleistung der Einhaltung von Sicherheit und Ordnung beschäftigt sind, nicht aber auf solche Behörden und Stellen erstrecken sollte, die in den Bereichen der Gewährung sozialer Rechte oder der Bildung tätig sind. Ich wäre froh, wenn wir an dieser Stelle weiterkommen könnten. Um eines klarzustellen: Selbst wenn einige von Ihnen guten Willens sind, ({1}) bin ich mir darüber im Klaren, dass eine Änderung der Rechtslage leider auch deshalb scheitern könnte, ({2}) weil manche Länderinnenminister, auch solche aus meiner Partei, diesem Vorhaben nicht unbedingt positiv gegenüberstehen, ({3}) obwohl sie zugleich sagen: Das alles ist bei uns überhaupt kein Problem; das findet nämlich in der Praxis nicht statt. Dem möchte ich entgegenhalten: Wenn das so ist, dann kann man die geltende Rechtslage endlich mit dem, was man in der Praxis tut, in Übereinstimmung bringen. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn wir an dieser Stelle gemeinsam Fortschritte erzielen könnten. Im Berichterstattergespräch haben wir ja bereits entsprechende Verpflichtungen übernommen. Ich will auf einen weiteren Punkt zu sprechen kommen, der in Ihrem Bericht, Frau Professor Böhmer, wie die elektronische Suche zeigt, nur an einer einzigen Stelle erwähnt wird: auf § 23 a des Aufenthaltsgesetzes, die Härtefallkommissionen. Diese Vorschrift ist bis zum 31. Dezember 2009 befristet. Die FDP hat dieses Problem in einem Antrag, die Koalition in ihren Gesprächen und Verhandlungen thematisiert. Ich glaube, wir sind fast alle der Meinung, dass diese Regelung entfristet werden muss. ({4}) Wie wir wissen, haben mittlerweile alle Bundesländer, zuletzt übrigens Bayern - zwar nicht gerade unter großem Beifall der Landtagsfraktion; diese Maßnahme ist aber durchaus ein Verdienst des damaligen Innenministers Beckstein -, Härtefallkommissionen eingerichtet. Was ihre Zusammensetzung und die Ergebnisse ihrer Arbeit betrifft, muss ich sagen: Sie arbeiten nicht überall nur zu meiner Freude. Im Übrigen bin ich ohnehin der Meinung, dass eine Härtefallregelung im Gesetz, beispielsweise in § 25 Abs. 4 oder Abs. 5 des Aufenthaltsgesetzes, viel besser gewesen wäre als diese dem Gnadenrecht nachgebildete Verfahrensweise. Da es nun allerdings diese Möglichkeit gibt, sollten wir dafür sorgen, dass sie auch weiterhin genutzt werden kann. Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen, ich komme zum letzten Punkt. Frau Böhmer hat in ihrem Bericht zu Recht festgestellt, dass wir es noch nicht geschafft haben, das Problem der Kettenduldungen zu lösen. Übrigens haben wir uns dies auch in unserer Koalitionsvereinbarung vorgenommen. Die Innenminister haben durch Beschluss und wir im Gesetz eine Altfall- und Bleiberechtsregelung geschaffen.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Veit, ich muss Sie daran erinnern, dass Sie von nun an auf Kosten Ihrer Kollegen reden.

Rüdiger Veit (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003249, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich dachte, dass ich mich noch im Zeitfenster zur Beantwortung der Zwischenfrage befinde.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nein. ({0})

Rüdiger Veit (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003249, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wenn dem nicht so ist, werde ich mich kurzfassen und zum Schluss kommen. - Wir alle, die wir hier sitzen, sollten überprüfen, wie sich diese Bleiberechtsregelung bis zum Stichtag 30. Juni 2008 in der Praxis ausgewirkt hat und wie vielen Menschen, die sich bereits sechs oder mehr Jahre in Deutschland aufhalten - vor allen Dingen: wie vielen Kindern, die zum Teil hier aufgewachsen und/oder sogar hier geboren sind -, wir damit haben helfen können. Dann sollten wir gemeinsam überlegen - Frau Staatsministerin, hier haben wir auch Ihre Unterstützung; dafür möchte ich mich nochmals bedanken -, wie wir vielleicht noch in dieser Legislaturperiode dafür sorgen können, dass mehr Menschen begünstigt werden. Das jedenfalls wäre mein Wunsch. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und für die Gewährung der zusätzlichen Redezeit. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich gebe das Wort der Kollegin Sevim Dağdelen, Fraktion Die Linke. ({0})

Sevim Dağdelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003746, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der alarmierende Befund, insbesondere im Hinblick auf die Zukunftsperspektiven von 1 Mio. ausländischer Kinder und Jugendlicher im Bundesgebiet, macht umfassende Anstrengungen dringlich, um größten individuellen und gesamtgesellschaftlichen Schaden abzuwenden. Dieses Zitat stammt nicht etwa aus dem vorliegenden Siebten Bericht über die Lage der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland, ich zitiere den ersten Ausländerbeauftragten, Heinz Kühn, der diesen Appell schon 1979 verfasst hat. Es ist traurig, dass die Kernaussagen noch heute, fast 30 Jahre später, gelten, wobei wir mittlerweile von 3 Millionen Kindern und Jugendlichen sprechen müssen, die von der hässlichen Politik dieser Regierung betroffen sind. ({0}) Obwohl die wesentlichen Handlungsfelder und die Knackpunkte seit Jahrzehnten bekannt sind, hat sich im Leben der Migrantinnen und Migranten nicht viel verändert. Die Zahlen - Frau Staatsministerin Böhmer hat darauf hingewiesen - sprechen eine deutliche Sprache: Über 17 Prozent haben keinen Schulabschluss, über 40 Prozent keine Ausbildung, über 70 Prozent keine Qualifizierung, ihre Arbeitslosenquote ist fast doppelt so hoch wie die von Nichtmigranten. Angesichts dieser Lage müsste die Bundesregierung eigentlich ein umfassendes Sofortprogramm vorlegen. Stattdessen bietet sie einen Bericht, der weder differenziert noch umfassend noch kritisch ist. Das steht im Widerspruch zu dem, was in der Vorbemerkung dieses Berichts angekündigt ist. So setzt sich die weitgehende Unkonkretheit der im Nationalen Integrationsplan der Bundesregierung enthaltenen Maßnahmen im Bericht über die Lage der Ausländerinnen und Ausländer fort. Genau das wollten wir mit dem Antrag, den wir frühzeitig eingereicht haben, verhindern. Wir forderten den Deutschen Bundestag ausdrücklich auf, die beabsichtigte inhaltliche Neukonzeption des Lageberichts abzulehnen. Die Vermischung einer wissenschaftlich fundierten Darstellung mit den Vorhaben der Bundesregierung im Rahmen des Nationalen Integrationsplans haben wir abgelehnt und wollten wir abwenden. Leider sind wir im Innenausschuss, wo wir federführend darüber beraten haben, nur von der FDP unterstützt worden. ({1}) Wir wollten einen Lagebericht, der dem Parlament als Informationsgrundlage dient. Die Bundesregierung versucht eine Integrationspolitik zu gestalten, ohne zu analysieren, warum Migrantinnen und Migranten noch immer stark benachteiligt sind. Keine Analyse der Missstände, keine Auseinandersetzung mit den Ursachen und mit den Folgen der Politik. Da Sie, meine Damen und Herren, nicht in der Lage sind, eine Analyse vorzulegen, will ich Ihnen dabei gerne helfen: Ihre neoliberale Politik ist es, die immer mehr Menschen in Armut treibt, Deutsche wie Ausländer und Menschen mit Migrationshintergrund. Der kürzlich veröffentlichte 3. Armutsbericht der Bundesregierung belegt dies eindrucksvoll. Demnach sind Menschen mit Migrationshintergrund mit 28,2 Prozent deutlich stärker als Deutsche von Armut betroffen. Die Zahl der Niedriglohnbeschäftigten wächst: Mehr als ein Drittel der Beschäftigten, 36,4 Prozent, haben einen Verdienst unterhalb der Niedriglohnschwelle. Hier sind Migranten aufgrund geringerer Qualifikationen überdurchschnittlich vertreten. Viele müssen neben ihrem Hauptberuf einer weiteren Beschäftigung nachgehen. Jeder zehnte Minijobbeschäftigte - 64 Prozent sind Frauen; so viel zu Ihrer Frauenpolitik! - war ein Ausländer. Viele sind, wie ich erleben konnte, als Nokia sein Werk in meinem Wahlkreis in Bochum schließen wollte, Leiharbeiterinnen oder Leiharbeiter. Das heißt, die Armut hat trotz Arbeit zugenommen, und sie nimmt bei Migranten verstärkt zu. Der beklagte Anstieg der Armut trotz Arbeit und auch der Altersarmut sind logische Folgen der Hartz-Gesetze, die dem Motto „Jede Arbeit ist zumutbar“ folgten. Die Armut ist auch eine Folge der Agenda-2010-Politik. Denn der Zeitraum, den der 3. Armutsbericht der Bundesregierung abdeckt, erstreckt sich im Wesentlichen auf die Jahre von 1998 bis 2005. Damit ist dieser Bericht sozusagen ein Armutszeugnis für rot-grüne Politik. ({2}) Sie sagen immer wieder: Bildung entscheidet über Teilhabechancen und über existenzsichernde Erwerbsbeteiligung. Mit Migrationshintergrund ist der Bildungsstand geringer als ohne Migrationshintergrund, das bestätigt der 2. Nationale Bildungsbericht der Bundesregierung. Dies wurde auch im Lagebericht ausgeführt. Statt aber Anregungen zur Überwindung dieser Situation zu geben, finden sich im Lagebericht ähnlich leere Worte wie im Nationalen Integrationsplan. Integration wird zunehmend zu einem individuellen Problem der Menschen mit Migrationshintergrund gemacht: Sie sollen besser Deutsch lernen - mehr fällt Ihnen dazu nicht ein! - und sich mehr bilden. Von den genannten strukturellen Defiziten im Bildungssystem ist hingegen keine Rede. Es ist, wie der Sozialwissenschaftler Christoph Butterwegge gegenüber der Frankfurter Rundschau gesagt hat, eine „pure Heuchelei“, Bildung als Weg aus der Armut zu präsentieren, gleichzeitig aber nichts zu tun, um soziale Gleichheit herzustellen. Viele Themen werden im Lagebericht entweder nur am Rande angesprochen oder in fragwürdiger Weise dargestellt: Es findet sich zum Beispiel kein Wort über das den Angehörigen eines Drittstaates nach wie vor verweigerte Recht, an Kommunalwahlen teilzunehmen. Damit wird meines Erachtens ein zentraler Punkt der politischen Teilhabe verweigert. ({3}) Gerade von dieser wird doch ansonsten immer so wortreich gesprochen. Sie sollen sich engagieren. Die Linke sagt: Wer von Integration redet, der muss den Menschen auch gleiche Rechte geben, damit sie am gesellschaftlichen Leben auch partizipieren können. ({4}) Im Lagebericht steht auch kein Wort über die Verzweiflung und Wut von Tausenden Frauen und Männern, die nicht mit ihrem Ehepartner zusammenleben können, weil sie seit der Novellierung des Zuwanderungsgesetzes im letzten Jahr durch die Anforderungen eines Sprachtests an einer Einreise nach Deutschland gehindert werden. Es steht dort auch kein kritisches Wort zu den Zuständen in der Abschiebehaft und zu den durch das Richtlinienumsetzungsgesetz erweiterten Möglichkeiten, Flüchtlinge zu inhaftieren. Im Lagebericht steht ebenfalls kein kritisches Wort zu den seit dem Jahr 2000 dramatisch gesunkenen Einbürgerungszahlen. Es werden einfach die Durchschnittswerte der Einbürgerungszahlen in den Fünfjahreszeiträumen 1995 bis 1999 bzw. 2002 bis 2006 miteinander verglichen. Schon kommt das passende Ergebnis für die Bundesregierung heraus. Dass die aktuellen Einbürgerungszahlen unter dem Wert von 1999 liegen - also unter dem Wert von vor der sogenannten rot-grünen Reform -, findet keinerlei Erwähnung. Sevim DaðdelenSevim Dağdelen ({5}) - Weil die Bedingungen dadurch schlimmer wurden. Warum sollte die Bundesbeauftragte auch darauf hinweisen, dass die Zahlen seit 2000 kontinuierlich gesunken sind? Hier muss sich besonders auch die Sozialdemokratie fragen lassen, was sie in zehn Jahren Regierungsverantwortung eigentlich getan hat.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, genau einer dieser Sozialdemokraten, nämlich der Kollege Veit, würde gerne eine Zwischenfrage stellen.

Sevim Dağdelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003746, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr gerne.

Rüdiger Veit (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003249, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Frau Kollegin Dağdelen, ich wollte sie fragen, ob Sie bei Ihren Ausführungen berücksichtigen könnten, dass die Änderungen im Aufenthaltsgesetz, die wir mit dem EU-Richtlinienumsetzungsgesetz vorgenommen haben, erst zum August des Jahres 2007 in Kraft getreten sind und dass der Berichtszeitraum des hier und heute zu debattierende Berichts der Beauftragten sich nur bis zum November 2007 erstreckt. Mithin konnten in ihm keine Auswirkungen dieser Gesetzesänderung berücksichtigt werden. ({0})

Sevim Dağdelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003746, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sie sind mir ein bisschen zuvorgekommen. Das ist bereits berücksichtigt worden, lieber Herr Kollege Veit. Deshalb wollte ich auch sagen, dass die in dem Bericht erwähnten Änderungen der Einbürgerungszahlen keine Trendwende hin in Richtung mehr Einbürgerungen bedeuten. Im August des letzten Jahres wurde durch das Richtlinienumsetzungsgesetz - Sie haben das selbst schon gesagt - auch das Staatsangehörigkeitsgesetz geändert, wodurch die vereinfachte bzw. erleichterte Einbürgerung für unter 23-jährige Jugendliche oder Erwachsene - wie Sie wollen - weggefallen ist. Das heißt, in nächster Zeit werden sich weniger Menschen einbürgern lassen können, als das aufgrund der erleichterten Einbürgerung der Fall gewesen ist, die es 2006 noch gab. Deshalb gehe ich davon aus, dass der Trend, dass die Zahlen sinken, weiter anhalten wird. ({0}) Herr Veit, vor allen Dingen an Sie möchte ich appellieren - sofern ich weiß, sind Sie Mitglied der Sozialdemokraten -: Vergessen Sie jetzt, da Sie sich aktuell über die Einbürgerungstests so sehr echauffieren, nicht, dass Sie diese Regelung 2006 bei der Innenministerkonferenz - zum Beispiel durch Ihren Innenminister Stegner oder auch durch Innensenator Körting - mitbeschlossen haben ({1}) und dass Sie sie auch im letzten Jahr bei der Änderung des Staatsangehörigkeitsgesetzes mitbeschlossen haben. ({2}) Es ist im Moment so, wie wir das von der SPD kennen: Sie verhalten sich hinsichtlich der Einbürgerungstests falsch und unaufrichtig. Für wie blöd halten Sie uns oder auch die Menschen außerhalb dieses Parlaments eigentlich? ({3}) Hinsichtlich der Grünen, die einen Antrag vorgelegt haben und meines Erachtens in die Falle der SPD getappt sind, möchte ich anmerken: Vor allen Dingen Sie von den Grünen sollten hier nicht immer den Mund so voll nehmen und versuchen, sich als Gutmenschen zu präsentieren. ({4}) Sie tragen nämlich Mitverantwortung für die schlimme Situation der Migrantinnen und Migranten wie auch der Deutschen in unserem Lande. Sie von den Grünen haben nämlich für alles, was die Situation der betroffenen Menschen verschlimmert hat, genauso die Hand gehoben. ({5}) Nun versuchen Sie hier, den Gutmenschen zu geben, als wenn Sie nicht in der Regierung gewesen wären und nicht diese neoliberale Politik betrieben hätten, die zu mehr Armut und auch zu mehr Bildungsarmut bei Migrantinnen und Migranten geführt hat. Nach wie vor verteidigt die Bundesbeauftragte die Verschlechterung für Flüchtlinge, die in der schwarz-roten Koalition forciert wird. Es scheint sie nicht zu stören, dass Menschen nun statt drei Jahre vier Jahre lang Leistungen beziehen, die zwischen 15 und 35 Prozent unter den vergleichbaren Regelsätzen liegen. Das bedeutet, dass sie vier Jahre lang von 184,07 Euro im Monat leben müssen. Das ist beschämend und muss ein Ende haben. Es ist ein Skandal. Wenn Sie von Teilhabe sprechen, dann müssen Sie den Menschen auch die materiellen Voraussetzungen dafür zur Verfügung stellen. ({6}) Insgesamt ist festzustellen, dass der Bericht eines eindrucksvoll zeigt: Es ging in den letzten Jahrzehnten und auch in den letzten Jahren nie wirklich um Teilhabe und Integration von Migrantinnen und Migranten oder auch von Flüchtlingen in unserer Gesellschaft. Wenn Sie Integration wollen, dann müssen Sie die notwendigen Rahmenbedingungen schaffen. Bekämpfen Sie nicht die Migranten und Flüchtlinge! Schaffen Sie Sevim DaðdelenSevim Dağdelen gleiche Rechte! Betreiben Sie eine gerechte Bildungspolitik, eine wirklich soziale Sozialpolitik und eine gute Arbeitsmarktpolitik und kehren Sie von Ihrem neoliberalen Irrsinn ab! ({7})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Josef Winkler, Bündnis 90/Die Grünen.

Josef Philip Winkler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003660, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Dağdelen, wenn ich Ihnen zuhöre, dann kommt es mir vor, als würden Sie am Nordpol stehen. ({0}) Von dort aus geht es in alle Richtungen nach Süden. Sie müssen ein bisschen zwischen den verschiedenen politischen Positionen der Grünen und der Union in der Integrationspolitik differenzieren. ({1}) Es gibt durchaus einige Unterschiede, die ich jetzt deutlich machen werde. Wie beim Nationalen Integrationsplan werden auch im aktuellen Lagebericht der Integrationsbeauftragten Maßnahmen, die die rechtliche Beteiligung von Ausländerinnen und Ausländern fördern sollen, kategorisch ausgeblendet. Bezeichnend ist zum Beispiel, dass im Bericht trotz des Umfangs von über 300 Seiten das Thema „Einführung des kommunalen Wahlrechts für Ausländer“ in keiner Weise erwähnt wird, obwohl es hierzu aktuelle Gesetzesinitiativen in Bundesrat und Bundestag gibt. Maßnahmen und Vorschläge, wie die Einbürgerung von Ausländerinnen und Ausländern gefördert werden soll, werden ebenso verschwiegen. Das ist nicht gut. „Erfolgreiche Integrationspolitik muss sich an klaren Indikatoren messen lassen“, heißt es im Nationalen Integrationsplan. Die Staatsministerin hat ja in der letzten Woche ihre Vorschläge zu solchen wissenschaftlichen Indikatoren vorgestellt. Aber man muss diese Vorschläge noch einmal genau betrachten. Im Bildungsbereich - das hat die Ministerin eben noch einmal gesagt - will die Regierung in Zukunft messen lassen, wie hoch der Anteil der 20- bis 24-jährigen Bürger mit Migrationshintergrund ist, die nicht über einen Schulabschluss verfügen. Was verrät uns das über die Erfolge von Integrationspolitik? Erst einmal nichts! Richtig verstandene Messindikatoren würden eben nicht nur die Migranten, sondern auch die aufnehmende Gesellschaft in den Blick nehmen. Es dürfte also nicht nur die Zahl der Schulabschlüsse berücksichtigt werden, sondern es müsste auch systematisch und jährlich erfasst werden, welche speziellen Bildungsangebote und Angebote überhaupt zur Förderung dieser Gruppe in den Bundesländern vorhanden sind bzw. ausgebaut werden. ({2}) Im Bereich der Politik wird vorgeschlagen, den Anteil von Mandatsträgerinnen und Mandatsträgern mit Migrationshintergrund im Deutschen Bundestag und in den Landesparlamenten als Indikator zugrunde zu legen. Das ist ein völlig falscher Ansatz. Nicht das Zählen der Köpfe hilft, sondern das Zählen der Angebote, die gezielt für die Förderung des politischen Engagements von Menschen mit Migrationshintergrund vorhanden sind. ({3}) Seien wir ehrlich: Die meisten Abgeordneten mit Migrationshintergrund haben es nicht wegen der guten deutschen Integrationspolitik in die Parlamente geschafft, sondern obwohl es in diesem Land über Jahrzehnte hinweg gar keine Integrationspolitik gab. Die Union war immer dagegen, aber jetzt will sie sich das, wofür Frau Dağdelen, ich und andere eintreten, ans Revers heften. Wir passen da erstens gar nicht hin, und das ist zweitens etwas scheinheilig. Ich komme nun zu einem anderen Punkt, der in dem Bericht angesprochen worden, nämlich das wichtige Thema der Verhinderung von Zwangsverheiratungen. Hier schlägt die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung heute mutig Dinge vor, die sie im letzten Jahr nur geflüstert hat. Im Gesetzgebungsverfahren hätte sie das vortragen müssen. Aber sie hat sich nicht durchgesetzt. In dem Paket, das im letzten Jahr beschlossen wurde, wurden die Hauptforderungen der Frauen- und Migrantinnenverbände - Verbesserungen beim eigenständigen Aufenthaltsrecht und ein Rückkehrrecht für junge Frauen, die ins Ausland verschleppt wurden nicht aufgegriffen. Das muss man hier klar sagen. ({4}) Herr Kollege Veit, Sie haben eben auf die Zwischenfrage von Frau Kollegin Laurischk, warum es so wenige Strafverfolgungen gibt, nicht antworten können. Das liegt nicht nur an den Staatsanwaltschaften, sondern auch daran, dass es zu wenige Anzeigen gibt; denn die Frauen müssen die Abschiebung fürchten, wenn sie Anzeige erstatten und das Scheidungsverfahren einleiten. ({5}) - Wenn das nicht stimmt, sollten Sie einmal mit den betroffenen Frauen reden. Dass Sie, Frau Böhmer, dies erst jetzt im Lagebericht aufgreifen und nicht schon im Gesetzgebungsverfahren, zeigt Ihre Durchschlagskraft. Es hilft nichts, dass Ihr Amt im Kanzleramt angesiedelt ist, wie Sie eingangs bemerkt haben. Offensichtlich wäre es fast besser, wenn Ihr Amt beim Innenministerium angesiedelt wäre; denn dann fänden Sie mit Ihren Vorschlägen dort endlich Gehör. Das neue Gesetz ist auch im Bereich des Ehegattennachzugs, der geändert wurde, sehr fehlerhaft. Frau Sevim DaðdelenSevim Dağdelen Böhmer, viele Beschwerden über die menschlichen Härten, die diese Neuregelung produziert, müssten Ihnen bekannt sein. Hierzu heißt es aber im Kapitel „Nachweis einfacher Deutschkenntnisse vor der Einreise“, dass man eventuell entstehende Härtefälle „genau beobachten muss“. Das ist nun wirklich zu wenig. Das ist ein Armutszeugnis. Sie sind doch die Anwältin der Ausländerinnen und Ausländer. ({6}) Dieses Gesetz gehört nicht genau beobachtet, sondern in die Tonne gekloppt. ({7}) Es produziert am laufenden Band nur Härtefälle. Im Petitionsausschuss, in dem ich Obmann meiner Fraktion bin, stapeln sich die Eingaben aus allen Kontinenten dieses Planeten mit herzerweichenden Bitten von Ehepaaren, die unter dem Schutz von Art. 6 des Grundgesetzes endlich in Deutschland zusammenleben wollen. Hier müssen Sie handeln. Es geht nicht darum, ein paar eventuell entstehende Härtefälle genau zu beobachten. Hier muss nachgearbeitet werden. ({8}) Frau Staatsministerin, Sie reklamieren in Ihrem Lagebericht für sich - genauso wie in Ihrer Rede -, einen Paradigmenwechsel in der Integrationspolitik eingeleitet zu haben. Im aktuellen Bericht liest sich das wie folgt: Der Bund geht dabei neue Wege einer aktivierenden und nachhaltigen Integrationspolitik, die die Potenziale der Zugewanderten erkennt und stärkt und nicht allein auf die Defizite fokussiert. Eben haben Sie von einer falschen Freundschaft gesprochen, die ehemalige Integrationsbeauftragte mit ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern eingegangen seien. Dazu kann ich nur sagen: Das war keine falsche, sondern eine echte Freundschaft. Wir sind stolz auf die Leistungen von Marieluise Beck als Integrationsbeauftragte der Bundesregierung. ({9}) Wenn Sie glauben, die für diese Woche geplanten Treffen mit Migrantenverbänden absagen zu müssen, weil diese Ihnen ein schlechtes Zeugnis ausgestellt haben, dann zeigt das, dass Sie mit Kritik nicht souverän umgehen können. Zum Glück können Sie diesen Termin hier nicht absagen. Im Parlament müssen Sie sich kritisieren lassen. ({10}) Der vorliegende Bericht zeigt, dass die Bundesregierung bislang vor allem festzulegen versucht hat, was Migrantinnen und Migranten in Deutschland lernen, respektieren und befolgen müssen, bevor man bereit ist, ihnen auf gleicher Augenhöhe zu begegnen. Das ist Integrationspolitik mit erhobenem Zeigefinger. Mein Fazit über den Bericht lautet daher: Er ist nicht ungenügend, aber die Versetzung ist stark gefährdet. Die Liste ließe sich weiter fortführen. ({11}) - Herr Kollege Körper, das ist nicht oberlehrerhaft. Dafür wären Sie der geeignetere Kandidat. Zu diesem Schluss komme ich, wenn ich an Ihre Zeit als Staatssekretär im Innenministerium zurückdenke. ({12}) Abgesehen davon, ob es überhaupt sinnvoll ist, den Erwerb gleicher staatsbürgerlicher Rechte von einem Test abhängig zu machen, stellt sich die Frage nach der Gestaltung der Einbürgerungskurse. Es wurde mehrfach angesprochen, dass wir hierzu heute einen Antrag vorgelegt haben. Wir wollen sicherstellen, dass der Deutsche Bundestag und nicht der Beamtenapparat im Innenministerium alleine entscheidet, wie die Einbürgerung in Deutschland zu geschehen hat und welche Wissensgrundlagen vorhanden sein müssen. ({13}) Herr Kollege Körper, da helfen auch die Krokodilstränen aus der SPD-Fraktion überhaupt nichts: Sie haben im letzten Jahr das Gesetz beschlossen, in dem steht, dass die Regierung das mit einer Verordnung regelt. Der Vorsitzende des Innenausschusses, der Kollege Edathy, den ich sonst sehr schätze, kann mich überhaupt nicht beeindrucken, wenn er jetzt sagt, diese Einbürgerungskurse gehörten in den Verantwortungsbereich des Parlaments. Sie als SPD hätten das im letzten Jahr nicht beschließen dürfen. Sie haben es aber gemacht, und das muss man hier auch einmal sagen. ({14}) Der Fragenkatalog wird endgültig erst Ende Juni im Innenministerium vorliegen. Wir sind gespannt, ob es auch deutschen Staatsbürgern gelingen würde, die Einbürgerung nachträglich zu erlangen. Generell sagen wir: Man kann über Einbürgerungskurse reden, man muss aber Härtefallregelungen schaffen, und man darf nicht nur Gebildete, Akademiker und ähnliche Personen einbürgern; auch Menschen aus bildungsfernen Schichten müssen in Deutschland ein Recht auf Einbürgerung haben, wenn sie unbescholten sind, lange hier leben und hier integriert sind. Das muss berücksichtigt werden. Das werden wir uns genau anschauen. Offensichtlich ist es der SPD nicht möglich, innerhalb der Koalition an diesen Dingen teilzunehmen und darauf Einfluss zu nehmen. ({15}) Das haben wir hier gesehen. Herr Kollege Veit hat hier eine Rede gehalten, die eigentlich die Rede eines Oppositionsabgeordneten war. Den Zuschauern will ich es erklären: Er ist Teil der Regierung und SPD-Abgeordneter. ({16}) Herzlichen Dank. ({17})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich gebe das Wort dem Kollegen Hartmut Koschyk, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Hartmut Koschyk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001186, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Bundespräsident hat in seiner jüngsten Berliner Rede zu Recht gesagt: Je mehr wir für Arbeit, für Bildung, für Integration erreichen, desto näher kommen wir allen dreien und desto mehr kann unser Land die ganze Kraft entfalten, die in ihm steckt. ({0}) Der Bericht der Beauftragten für Migration und Integration, den wir heute hier im Parlament diskutieren, macht deutlich: Der Politikwechsel in der Integrationspolitik, den diese Bundesregierung eingeleitet hat, hat sich gelohnt. Deutschland ist auf einem guten Weg, Integrationsland in Europa zu werden. Drei Kerngedanken zeichnen den neuen Weg, den Deutschland in der Integrationspolitik geht: Wir wollen miteinander, auch mit den Migrantinnen und Migranten in unserem Land, über bessere und gelingende Integration reden, nicht übereinander, wir wollen Probleme offen ansprechen und sie nicht tabuisieren, und wir wollen deutlich machen: Integration ist eine Aufgabe von nationaler Bedeutung, die alle angeht. ({1}) Die CDU/CSU-Fraktion hat für diesen Weg wichtige Anstöße gegeben. Wir haben zu einem Zeitpunkt, als das - das muss ich leider so sagen - politisch auch in diesem Hause noch diffamiert worden ist, gesagt: Sprache ist der Schlüssel zu Integration. ({2}) Ohne Beherrschen der deutschen Sprache kann es keine gelingende Integration geben. Das ist heute politisches Allgemeingut, das ist Konsens und dem Streit enthoben, aber es hat lange gedauert, bis wir diesen Konsens in Deutschland erreicht haben. ({3}) Unsere Fraktion hat den nationalen Integrationsgipfel vorgeschlagen, unsere Fraktion hat den Nationalen Integrationsplan vorgeschlagen, und der Nationale Integrationsplan ist eben ein Dokument der Selbstverpflichtungen aller, die wir für gelingende Integration in Deutschland brauchen. Deshalb ist es auch so wichtig und richtig, Frau Staatsministerin, dass die Bundesregierung ein Monitoring für Integration auf den Weg gebracht hat; denn wir dürfen den Nationalen Integrationsplan und die Integration in Deutschland nicht sich selbst überlassen. Wir müssen immer wieder darauf achten, dass wir unsere selbst gesetzten Integrationsziele auch erreichen. Ich will deutlich machen, was uns als CDU/CSUFraktion doch noch von anderen Fraktionen in diesem Hause unterscheidet - das ist ja auch durch die Debattenbeiträge der Linken und der Grünen deutlich geworden -: Wir wollen aufhören, Konflikte und Probleme auf dem Weg zu gelingender Integration in Deutschland zu tabuisieren. Denn diese Probleme und Konflikte mit Gleichgültigkeit und wohlfeilen Toleranzformeln zu überdecken, heißt, sie weiter schwelen zu lassen. Ich will das an den bis in diese Tage hineinreichenden tragischen Fällen wie dem jenes 16-jährigen Mädchens, das vor etwa vier Wochen in Hamburg von seinem Bruder getötet wurde, deutlich machen. ({4}) Dieses Mädchen kämpfte um sein Recht, sein Leben nach eigenen Vorstellungen und nicht nach aufgezwungenen Traditionen zu leben. In unserem Land ist das eine Selbstverständlichkeit. Aber diesem 16-jährigen Mädchen wurde der Wunsch nach einem individuellen Lebensentwurf tragisch verwehrt. Das kann nur heißen: Wir dürfen Themen wie patriarchalische Vorstellungen und Ehrenmorde nicht tabuisieren. Wir müssen auch offen über die dahintersteckenden falschen Traditionsvorstellungen sprechen, sonst lösen wir dieses Problem nicht. ({5})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Winkler?

Hartmut Koschyk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001186, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte, Herr Kollege Winkler.

Josef Philip Winkler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003660, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Werter Kollege Koschyk, ich möchte Ihnen die Frage stellen, ob Sie zuzugestehen bereit sind, dass das, was Sie gerade in Bezug auf Ehrenmorde und das Verbrechen an dieser jungen Frau in Hamburg vorgetragen haben, in diesem Hause allgemeiner Konsens ist und dem politischen Streit nicht nur schon immer enthoben war, sondern auch in Zukunft enthoben bleiben wird? ({0}) Ich will diese Frage mit der Anmerkung verbinden, dass Ihr Unionsminister Laschet einmal formuliert hat, dass es nicht angehen kann, dass man bei Migranten immer von „Ehrenmorden“ und bei Deutschen immer von „Familientragödien“ spricht. Das ist ein Zitat von Herrn Laschet. Insofern meine ich, wir sollten diese Art von Auseinandersetzung gar nicht im Rahmen einer integrationspolitischen Debatte führen. Mord steht in diesem Land unter Strafe - egal, von wem er begangen wird. ({1})

Hartmut Koschyk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001186, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Kollege Winkler, ich möchte noch einmal deutlich machen, worum es mir geht: Mit den Vorstellungen, die hinter einem solchen Ehrenmord stecken, ({0}) ist zum Beispiel auch verbunden, dass die Gleichberechtigung von Mann und Frau in unserem Land oder auch die Wertvorstellungen, die unserem Grundgesetz zugrunde liegen, in bestimmten Kreisen von Zuwanderern in Deutschland nicht akzeptiert werden. Wir müssen darum ringen, dass sich dies ändert. ({1}) Ich glaube, dass die Art und Weise, lieber Kollege Winkler, wie die Grünen manchmal mit religiösen Traditionen in unserem Land umgehen - ich möchte nur die Entscheidung in Ihrem bayrischen Landesverband nennen, von der sich Ihr Spitzenkandidat in Bayern einen Tag später distanziert hat, ({2}) nämlich Kreuze aus öffentlichen Einrichtungen in Bayern zu entfernen -, ({3}) nämlich Indifferenz im Hinblick auf die religiösen Prägungen unseres Landes, so etwas auch ein Stück weit Vorschub leistet. ({4}) Deshalb sollten Sie darüber nachdenken, wie Sie mit der wertgebundenen Integration in unserem Land in Zukunft umgehen wollen. Ich sage das so deutlich, weil mich sehr beeindruckt hat, was Charlotte Knobloch in einer bemerkenswerten Predigt in München den jungen Migrantinnen und Migranten in unserem Land gesagt hat. Sie beklagen ja manchmal - das ist mit ein Grund dafür, dass sie in die Fänge von religiösem Fundamentalismus geraten -, dass in Deutschland christliche Grundwerte nichts mehr gelten. Ich fand es sehr beeindruckend, dass die Präsidentin des Zentralrates der Juden in Deutschland an junge Migrantinnen und Migranten gewandt gesagt hat: Dieses Land bietet auch durch den Gottesbezug im Grundgesetz eine Wertgebundenheit und einen Wertebezug. Bringt euch mit euren religiösen Überzeugungen in diesem Land ein, aber achtet diese Verfassung, achtet die Werte dieses Landes und stellt nicht religiöse Überzeugungen über den demokratischen Grundkonsens, wie er in unserer Verfassung angelegt ist. ({5}) Darum geht es. Auch darüber müssen wir debattieren. Für mich ist all das, was im Nationalen Integrationsplan und im nationalen Integrationspakt angelegt ist, sehr wichtig und entscheidend. Ich will ausdrücklich den wichtigen Dialog würdigen, den der Bundesinnenminister Schäuble mit der Deutschen Islamkonferenz auf den Weg gebracht hat. Es ist ein Dialog, den auch die Kirchen in unserem Land führen. Ich sage sehr deutlich: Es gilt, zu erkennen, dass man diesen Dialog bislang etwas blauäugig geführt hat. Wenn wir nicht die Kernfragen „Wo endet religiöse Toleranz? Wo ist die Achtung unserer Verfassung und der der Verfassung zugrundeliegenden Werte unabdingbar?“ beantworten, werden wir auch diese geistig-politische Auseinandersetzung nicht gewinnen. Ich will etwas zum Thema Bürgerengagement, das im Integrationsbericht angesprochen ist, sagen. Staatsministerin Böhmer verweist in ihrem Bericht sehr eindrucksvoll darauf, dass vieles, was in Deutschland zu gelingender Integration beiträgt, das Verdienst von Bürgerengagement ist. Wir wollen dieses Bürgerengagement weiter stärken. Die nächsten Schritte werden auch darauf ausgerichtet sein. Nur wenn die Bürgerinnen und Bürger begreifen, dass dies eine Aufgabe ist, die nicht „von oben“, also durch die Politik, sondern nur durch das Miteinander aller, also von unten, bewältigt werden kann, werden wir hier weiterkommen. Ich will in diesem Zusammenhang sagen, dass Integration in unserem Land nur gelingen kann, wenn die Bürgerinnen und Bürger das Gefühl haben, dass Zuwanderung nach Deutschland begrenzt und gesteuert wird. Ich bin der festen Überzeugung: Der politische Konsens, den wir im Jahr 2005 durch die neue Zuwanderungsgesetzgebung über Parteigrenzen hinweg erreicht haben, hat es möglich gemacht, über Integration in unserem Land etwas offensiver zu reden, Maßnahmen auf den Weg zu bringen und auch etwas für eine nachholende Integration zu tun. Wichtig ist für den Konsens die Überzeugung der Bürgerinnen und Bürger, dass die Politik in Deutschland Zuwanderung begrenzen und steuern kann. Ich will zum Schluss dieser Debatte deutlich sagen - wir haben heute früh über Europapolitik und den heute beginnenden Europäischen Rat diskutiert -: Die Vorstellungen zur Zuwanderungspolitik, vor allem zur Zuwanderung in den Arbeitsmarkt und zur Möglichkeit, durch Zuwanderung demografische Probleme zu lösen, die die EU-Kommission in einer Mitteilung vom 17. Juni durch den Kommissar Barrot geäußert hat, tragen nicht dazu bei, das Vertrauen der Bürger zu fördern, ({6}) dass Zuwanderung mit Maß und Mitte gesteuert und begrenzt wird. Deshalb werden wir uns als CDU/CSUFraktion ({7}) diesen Bestrebungen der Europäischen Kommission mit aller Entschiedenheit widersetzen. Herzlichen Dank. ({8})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Sibylle Laurischk, FDP-Fraktion. ({0})

Sibylle Laurischk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003580, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Koschyk, um es noch einmal ganz deutlich zu sagen: In diesem Land ist Gewalt gegen Menschen, insbesondere gegen Frauen, bis hin zu ihrer Tötung keine Frage von Ehre; vielmehr ist sie verboten, steht unter Höchststrafe und ist eine Schande. ({0}) Wir beraten heute den „Siebten Bericht über die Lage der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland“ zur Kernzeit, weil es sich um eine zentrale Zukunftsfrage Deutschlands und auch Europas handelt. Warum ist es eine Zukunftsfrage? Deutschland ist eine schrumpfende Nation. Es werden hier immer weniger Kinder geboren, und ganze Landstriche veröden. Bei einer Geburtenziffer von 1,3 Prozent sind wir - wie die anderen europäischen Länder auch - nicht mehr in der Lage, Wachstum zu generieren, was uns zu der Frage führen muss, wie wir wirtschaftliches Wachstum als Grundlage unseres Wohlstands sichern wollen. Ich will Ihr Augenmerk beim vorliegenden Bericht auf zwei Punkte lenken: zum einen auf die Erwerbstätigkeit der Bevölkerung mit Migrationshintergrund und die damit verbundene Integration in den Arbeitsmarkt sowie zum anderen auf die Integrationskurse. Ich halte es für geradezu alarmierend, wenn in diesem Bericht erneut festgestellt wird, dass die Arbeitslosenquote von Migranten doppelt so hoch ist wie in der deutschen Bevölkerung. Dieser Umstand hängt damit zusammen, dass fehlende oder unzureichende Berufsabschlüsse und Qualifikationen den Zugang zum Arbeitsmarkt erschweren. Ich kann dies nur als Skandal bezeichnen. ({1}) Wir sind eine schrumpfende Gesellschaft, wir haben einen wachsenden Fachkräftemangel, und wir leisten es uns, eine ganze Bevölkerungsgruppe, nämlich die der Personen mit Migrationshintergrund, für den Arbeitsmarkt nicht fit zu machen. Es reicht mir nicht, dies mit der Aussage zu kommentieren, da bestehe vielleicht kein Interesse. Eine solche Aussage wäre zu billig. Wenn es im Bericht heißt, die Entwicklung des Erwerbspersonenpotenzials sei dringend, dann kann ich dazu nur sagen, dass die Bundesregierungen seit zehn Jahren, egal ob rot-grün oder schwarz-rot, offensichtlich zu wenig getan haben, um diesen Mangel zu beheben. ({2}) Interessant ist auch die Aussage, dass sich die Beschäftigung von Ausländern und Ausländerinnen nahezu ausschließlich auf den Westen Deutschlands einschließlich Berlins konzentriert und in den ostdeutschen Bundesländern lediglich rund 37 000 ausländische Beschäftigte registriert sind, die damit dort nur 1 Prozent aller Beschäftigten stellen. Ich halte dies für eine bemerkenswerte Feststellung - gerade angesichts der ausländerfeindlichen Parolen, die hinsichtlich der Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt besonders in den östlichen Bundesländern kursieren. Geradezu absurd erscheint mir die mangelhafte Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse. Es werden zum Teil sehr gute Qualifikationen, die Migranten und Migrantinnen aus dem Ausland mitbringen, aufgrund bürokratischer Hemmnisse nicht ausreichend gewürdigt. ({3}) In dem Bericht wird davon ausgegangen, dass rund 500 000 zugewanderte Akademiker und Akademikerinnen keine Anerkennung ihres Abschlusses finden und deshalb keine ausbildungsadäquate Tätigkeit ausüben. Eine Verschleuderung von qualifiziertem Wissen, indem wir es uns nicht nutzbar machen, ist grotesk und widerspricht dem Anspruch einer engagierten Integrationspolitik. ({4}) Akademiker fühlen sich beschämt, wenn sie sich in Deutschland als Taxifahrer, Kellner oder Verkäuferinnen wiederfinden. Hier muss dringend etwas geschehen. ({5}) Ein anderes wichtiges Moment beim Thema Integrationspolitik ist der Erwerb der deutschen Sprache. Zu diesem Zweck wurden mit dem Zuwanderungsgesetz die Integrationskurse geschaffen. Sie müssen verbessert werden. Wir haben zur heutigen Debatte einen Antrag dazu vorgelegt. Herr Veit, wenn Sie sagen, Sie hielten die Vorschläge für durchaus richtig, dann kann ich nur fordern: Mehr Mut! Geben Sie 3 Euro pro Stunde - Sie haben es gerade kommentiert -; dann wäre mit den Integrationskursen tatsächlich etwas zu gewinnen. Das Niveau, das derzeit erreicht werden kann, nämlich B1, genügt nicht wirklich zum Eintritt in den Arbeitsmarkt. Das macht die Leute wieder nicht ausreichend fit, um auf dem Arbeitsmarkt bestehen zu können. ({6}) Wir sind im Übrigen auch der Meinung, dass mit den derzeit 600 Stunden, in bestimmten Fällen auch 900 Stunden nicht hinreichend fortgebildet werden kann und der Spracherwerb nur dann tatsächlich gewährleistet ist, wenn wir zu den 1 200 Stunden Deutschunterricht zurückkehren, die früher üblich waren. ({7}) Das Stichwort, das im Grünen-Antrag aufgegriffen wird, können wir nur unterstreichen. Es ist an der Zeit, im Bundestag gemeinsam, überparteilich Wege aus den Fehlern der Vergangenheit zu suchen. Hierzu eignet sich eine Enquete-Kommission zur Integration in hervorragender Weise. Lassen Sie uns gemeinsam die Integration ins Parlament holen! ({8})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich gebe das Wort dem Kollegen Dr. Michael Bürsch, SPD-Fraktion.

Dr. Michael Bürsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003018, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich stimme der Kollegin Laurischk ausdrücklich zu, wenn sie eingangs sagte: Wir diskutieren heute eine zentrale Zukunftsfrage. Aus meiner Sicht hat das aber eine ganz andere Bedeutung, als Sie es vorgetragen haben, Frau Laurischk. Bei den vielen Debatten, die wir in den letzten Monaten und Jahren über die Fragen Zuwanderung und Integration geführt haben, verstärkte sich immer mehr mein Eindruck, dass wir inzwischen sehr stark zu einer Binnendiskussion neigen, die sich durch Kleinkariertheit, Hickhack, Mäkelei und Kritikasterei auszeichnet, und dabei manchmal aus dem Auge verlieren, welche Auswirkungen das hat, was wir sagen und wie wir uns zu diesem nationalen Zukunftsthema verhalten. Eine aktuelle Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung gibt Anlass dazu, sich das einmal in Erinnerung zu rufen. Sie kommt zu dem Ergebnis - das muss uns, wie ich finde, nachdenklich machen -, das harmonische, tolerante und solidarische Zusammenleben von Deutschen und Menschen mit Migrationshintergrund - manche Betroffene wählen lieber den Begriff „Menschen mit Einwanderungsgeschichte“ ({0}) ist alles andere als selbstverständlich. Diese Studie mit dem schönen Titel „Ein Blick in die Mitte“ wurde gerade herausgegeben, mit aktuellen Daten aus dem Jahre 2006. Angesichts der konkreten Ergebnisse sollten wir uns einmal fragen, wie wir an dieses Thema herangehen und welche Außenwirkungen all das hat, was wir hier machen. So heißt es in der Studie: 37 Prozent der Befragten meinen, Ausländer kämen nur nach Deutschland, um den Sozialstaat auszunutzen. 39 Prozent finden Deutschland „in einem gefährlichen Maß überfremdet“. Die Wissenschaftler ziehen daraus das Fazit - an dieser Stelle muss man spätestens nachdenklich werden -: Zunehmend entwickelt sich in Deutschland eine neue Form des kulturellen Rassismus nach dem Motto: Die passen einfach nicht zu uns. - Ich frage mich nun: Wo nehmen wir die Verantwortung wahr, die wir alle tragen, wenn wir uns mit diesem Thema beschäftigen? Ihnen, verehrte Frau Dağdelen, sage ich: Es ist ja schön und hat hohen Unterhaltungswert, wie Sie hier über diese Themen diskutieren. Wie Sie mit den Fakten umgehen, liegt allerdings schon jenseits des Erlaubten. Auch wenn Sie nicht alle Schlussfolgerungen dieses wirklich umfänglichen Berichtes - er hat 200 Seiten ({1}) unterschreiben können, so kommen Sie doch an den Fakten nicht vorbei. Wenn Sie aber mit dem Faktum der Einbürgerungszahlen so umgehen, wie Sie es eben gemacht haben, dann können wir darüber nicht sachlich diskutieren. Ihr Umgang mit diesen Zahlen ist unseriös und erweckt einen Eindruck, der mit dazu beiträgt, dass in der Bevölkerung solche Haltungen eingenommen werden, wie sie die Friedrich-Ebert-Stiftung nun eruiert hat. Die Fakten lauten: Die Zahl der Einbürgerungen betrug im Jahre 1997, also vor zehn Jahren, 82 000. Im Jahre 2000 gab es mit 186 000 Einbürgerungen einen Höhepunkt. In den letzten Jahren, in den Jahren 2004, 2005 und 2006 stabilisierte sich diese Zahl bei einer Größenordnung von 125 000. Angesichts dieser Zahlen kann man nicht von einem kontinuierlichen Rückgang sprechen. Auch mit manch anderen Fakten, die in diesem Bericht enthalten sind und sorgfältig recherchiert wurden, sind Sie in ähnlicher Weise umgegangen. Das ist, bitte schön, keine Art und Weise, die der Verantwortung gerecht wird, die wir bei diesem Thema tragen. ({2})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Bürsch, die Kollegin Dağdelen würde gerne eine Zwischenfrage stellen.

Dr. Michael Bürsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003018, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Jede Menge. ({0})

Sevim Dağdelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003746, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Bürsch, haben Sie auch zur Kenntnis genommen, dass ich gesagt habe, dass die steigenden Zahlen des Jahres 2006 kein Anzeichen für eine Trendwende sind, weil das Einbürgerungsrecht im letzten Jahr durch die Änderungen im Staatsangehörigkeitsgesetz, also zum Beispiel den Wegfall der erleichterten Einbürgerung, verschärft wurde?

Dr. Michael Bürsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003018, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Verehrte Frau Kollegin, ich bleibe bei dem, was ich eben gesagt habe: Sie drehen und wenden die Zahlen, die in dem Bericht stehen, wie Sie wollen. Zum Teil zitieren Sie sie auch falsch ({0}) und verwenden sie zu einer populistischen Polemik, die den Tatsachen nicht entspricht. Die Zahl der Einbürgerungen hat sich in den letzten Jahren stabilisiert. Die Ursachen dafür, warum die Zahlen so sind, wie sie sich hier widerspiegeln, sind außerordentlich vielfältig. Das hätte eine seriöse Analyse, die Sie an der Stelle einmal hätten vornehmen sollen, sofort ergeben. Natürlich sind gesetzliche Vorschriften eine Ursache, aber daneben gibt es noch viele, viele andere Ursachen. Es ist also absolut billig und populistisch, zu sagen, weil ein Punkt oder ein Komma im Staatsangehörigkeitsrecht verändert worden ist, wird alles schlechter; deswegen muss ich jetzt mit dem Zeigefinger drohen. Nein, meine Erkenntnis aus diesem Bericht ist: 125 000, das ist die Zahl, die sich jetzt offensichtlich stabilisiert. Dann schauen wir weiter. Dann schauen wir bitte auch sehr sorgfältig darauf, was die Ursachen sind. Da würde ich als relativ seriöser Jurist nie wagen, nur eine bestimmte Ursache auszumachen. Es ist ein vielfältiges Bündel von Ursachen. Deshalb appelliere ich, gerade an Ihre Adresse, mit diesem Thema sehr verantwortungsvoll umzugehen, vor allem wenn ich die Erhebung der Ebert-Stiftung lese. Da ist übrigens erschreckenderweise noch etwas anderes, was heute nicht unser Thema ist, festgestellt worden, nämlich eine wachsende Geringschätzung gegenüber unserem politischen System schlechthin, gegenüber der Demokratie. Dort heißt es: Demokratie ist kein Sockel, der … als gesichert gelten kann. Darüber denken wir vielleicht einmal an anderer Stelle nach. Ich wollte zwei Bemerkungen zu dem Bericht machen, zum einen zur Staatsangehörigkeit und dann zu den Einbürgerungen. Vor allem weise ich - besonders mit Blick auf einen Grundkonsens in diesem Hause, bei dem vielleicht wir alle zustimmen können, dass etwas geschehen ist, was uns vorangebracht hat - darauf hin, dass 1999, egal wer die Väter und Mütter dieser Änderung sind, ein Paradigmenwechsel im Staatsangehörigkeitsrecht stattgefunden hat und wir von dem alten Prinzip der Abstammung von 1912 weggekommen sind hin zu dem modernen Prinzip der Anknüpfung an den Geburtsort. Das ist ein Riesensprung nach vorne gewesen. ({1}) An der Stelle können wir einmal verharren und feststellen: Genau das haben wir gewollt, und das hat sich im Sinne einer Modernisierung unseres Landes bewährt. In dem Bericht steht an einer Stelle wunderbar - Frau Böhmer, da schließe ich mich gerne an; das spricht auch für die Offenheit dieses Berichtes - zur Mehrstaatigkeit bei Einbürgerung: Künftig können alle EU-Bürger sowie Schweizer unter Hinnahme von Mehrstaatigkeit eingebürgert werden. Auch das ist ein Fortschritt; das war nicht immer so. ({2}) Wenn das so ist, stelle ich allerdings die Frage an alle Mitglieder dieses Hauses: Wenn wir anerkennen, dass es die Republik nicht infragestellt, wenn EU-Bürger und Schweizer mehrere Pässe haben und insofern auch mehrere Identitäten, die dahinterstecken, warum öffnen wir das dann nicht generell? Dafür hat die SPD sich immer stark gemacht. ({3}) Das ist verunglimpft worden unter dem Stichwort „Doppelpass“. Aber es heißt im Grunde nur, wie in dem Bericht, Mehrstaatigkeit. Das akzeptieren wir; damit können wir leben. Das ist im Zeitalter der Globalisierung, glaube ich, auch nicht unbedingt zuviel verlangt. Jetzt kommen wir zur Frage des Einbürgerungstests. Sie hat ja heute Morgen schon einige Gemüter bewegt. Ich würde sagen: Lassen wir die Kirche im Dorf. Schauen wir uns bitte einmal an - nur das hat die SPD gesagt -, was er enthält. Ehe wir uns wie vor zwei Jahren fürchterlich erregen, dass da Gesinnungstests geplant sind, würde ich jetzt den Blick auf das richten, was tatsächlich in der Pipeline ist. Vor zwei Jahren gehörte ich - manche werden sich erinnern - mit zu den Kritikern dieses Tests, in dem Gesinnungsfragen gestellt wurden wie: Was halten Sie eigentlich von Homosexualität? Können Sie damit leben, dass Ihr Vorgesetzter eine weibliche Person ist? - Das ist Aberwitz und hat nichts mit dem zu tun, was ich mir von einem solchen Einbürgerungstest verspreche, nämlich dass er ein Angebot an diejenigen ist, die bei uns leben wollen. Es ist völlig freiwillig, dass man sich für Deutschland entscheidet. Niemand ist dazu gezwungen. Auf diese Weise kann jeder mit dem vertraut gemacht werden, was es bei uns an Grundsätzen gibt: Verfassung, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit usw. Das ist das Angebot. Da kann ich mich wunderbar jemandem anschließen, der nicht verdächtig ist, in erster Linie unsere deutschen Belange zu vertreten. Es ist der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime. ({4}) Er hat gesagt: Ein feierlicher Akt, mit dem ein Einbürgerungswilliger seinen Beitritt zur Grundordnung der Bundesrepublik bekunde, trage zur Identitätsstiftung bei. Er könne das nur gutheißen. Dieses Einbürgerungsritual sei, wenn es richtig verstanden werde und kein GesinnungsSevim DaðdelenSevim Dağdelen test sei, auch ein Stück Anerkennungskultur. So verstehe ich das, was mit diesem Einbürgerungstest verbunden ist.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege!

Dr. Michael Bürsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003018, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wir erkennen an, wenn jemand die deutsche Staatsangehörigkeit haben möchte. ({0}) Dann soll er, bitte schön, auch diese kleinen Vorgaben erfüllen. Danke schön. ({1})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich gebe das Wort dem Kollegen Reinhard Grindel, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Reinhard Grindel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003539, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Bürsch, ich lade dazu ein, dass wir nichts schönreden, aber auch nicht dramatisieren. Sie haben aus einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung zitiert. In einem Artikel der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung von heute wurde recherchiert, dass dieser Studie Gespräche mit insgesamt 60 Personen zugrunde liegen und dass allein fünf der zwölf Gesprächsrunden in Berlin und Dresden durchgeführt worden sind. Der Journalist weist nach, dass die Orte, an denen die Gespräche stattgefunden haben, praktisch schon die Ergebnisse präjudiziert haben. In den Ländern Bayern und Niedersachsen beispielsweise hat es überhaupt keine Gespräche im Rahmen dieser Studie gegeben. ({0}) Ich warne davor, auf der Grundlage einer so schmalen Datenbasis ein Bild der Gesellschaft zu zeichnen. Das will ich deutlich sagen. ({1}) Wir sollten anlässlich dieser Debatte die Gelegenheit nutzen, die Stimmung der Bevölkerung einmal aufzunehmen. In diesen Tagen ist viel davon die Rede, dass viele Fußballer unserer Nationalmannschaft einen Migrationshintergrund haben. Diese Debatte ist ein guter Anlass, einmal ein herzliches Wort des Dankes an die vielen Trainer und Betreuer in den Sportvereinen zu sagen, die hervorragende Integrationsarbeit leisten und die „stille Stars“ der Integration in Deutschland sind. ({2}) Es muss eben nicht immer der Sozialpädagoge oder der Migrationsforscher sein. Manchmal ist es eben auch ein Trainer, der so unendlich viel für ein friedliches Zusammenleben in unserem Land tut, wenn er einem jungen Migranten zeigt, dass man sein Selbstwertgefühl steigern und zusätzliche Anerkennung erfahren kann, indem man zum Beispiel in der B- oder C-Jugend Tore schießt und damit glänzt, anstatt einen Mitschüler auf dem Schulhof zu verprügeln. Das sind täglich stattfindende Integrationsleistungen in der Praxis. Warum reden wir in diesem Haus nicht öfter darüber? ({3}) Ich will zum Thema Fußball noch Folgendes anführen: Wenn man sich die Alltagssituation auf den Fußballplätzen anschaut, dann stellt man fest, dass sich auch dort kleine Parallelwelten entwickelt haben. Wenn türkische, kurdische oder griechische Mannschaften gegeneinander antreten, dann gibt es sehr viele Auseinandersetzungen auf dem Platz, aber auch außerhalb des Platzes. Wir sollten uns daher überlegen, ob wir nicht den DFB aufrufen sollten, eine Diskussion anzufangen, um zu erreichen, dass in allen Sportvereinen sichergestellt wird, dass Deutsche, Aussiedler und Ausländer gemeinsam miteinander Sport treiben. Wir sollten einmal überprüfen, ob es sein muss, dass es einen Spielbetrieb mit reinen Ausländervereinen gibt. ({4}) Auch diese kleinen Maßnahmen können ganz praktisch zur Integration in unserem Land beitragen. ({5}) Lassen Sie mich ein Wort zu den kritischen Anmerkungen sagen, die von ein paar Kollegen zum Thema verpflichtende Sprachkenntnisse vor dem Familiennachzug gemacht worden sind. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass wir die vom Gesetzgeber beabsichtigten Zwecke auch erreichen. Es ist falsch, wenn hier der Eindruck erweckt wird, dass etwa türkische Frauen die Anforderungen an den Spracherwerb nicht erfüllen. Das Goethe-Institut hat uns in der vergangenen Woche noch einmal bestätigt, dass 80 bis 90 Prozent der Kursteilnehmerinnen die Sprachzertifikate erwerben. Der Rückgang beim Ehegattennachzug beruht darauf, dass deutlich weniger Anträge auf Familienzusammenführung gestellt werden. Das lässt für mich nur eine Bewertung des Vorgangs zu: Es gibt eine gewisse Zahl von Familien, die eben darauf verzichten, Schwiegertöchter auf dem Wege einer Zwangsehe nach Deutschland zu holen, wenn diese Frauen Deutschkenntnisse haben und damit in der Lage wären, sich auch Hilfe im Kampf gegen eine Zwangsehe zu beschaffen. ({6}) Das ist meine Bewertung angesichts der gemachten Beobachtungen. ({7}) Ich sage in aller Deutlichkeit: Wer die Gesetzgebung in der Praxis nicht konsequent anwendet - die betroffenen Frauen haben damit die Möglichkeit, sich durch das Erwerben von Deutschkenntnissen vor dem Familiennachzug ganz praktisch Hilfe zu verschaffen -, der versagt im Kampf gegen Zwangsehen. ({8})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Laurischk?

Reinhard Grindel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003539, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, selbstverständlich.

Sibylle Laurischk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003580, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Grindel, auch an Sie richte ich die Frage, inwieweit Ihnen bekannt ist, ob es bereits Fälle von Frauen mit Sprachkenntnissen gibt, die nach einer Zwangsverheiratung in der Lage waren, eine Strafanzeige in Deutschland zu stellen, und ob es daraus folgend eine Verurteilung gegeben hat. ({0})

Reinhard Grindel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003539, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich muss den Zwischenruf von Herrn Bürsch aufnehmen: Ich habe nicht ganz verstanden, worauf Sie hinauswollen. Fragen Sie mich, warum so wenige Anzeigen getätigt werden oder warum es zu so wenigen Verurteilungen kommt? ({0})

Sibylle Laurischk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003580, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Meine Frage geht dahin, ob Sie die Vorstellung haben, dass die Kenntnis von 300 deutschen Wörtern bei Einreise die zwangsverheiratete Frau tatsächlich in die Lage versetzt, sich in Deutschland zu orientieren, um dann Strafanzeige zu erstatten und daraus folgend eine Verurteilung zu erreichen; denn Zwangsheirat steht unter Strafe. Sind Ihnen solche Fälle bekannt?

Reinhard Grindel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003539, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Liebe Frau Laurischk, wir haben über dieses Thema nun wirklich bei vielen Gelegenheiten diskutiert. Eine Grundvoraussetzung dafür, Hilfe zu holen, ist doch, dass man am Telefon zumindest sagen kann, wo man wohnt und dass die Polizei kommen möge, um einen aus einer bedrohlichen Notlage herauszuholen. ({0}) Dass diese Frauen das können, wenn sie einen Sprachkurs besucht haben und über einfache Deutschkenntnisse verfügen, ist doch ganz offensichtlich. Insofern sage ich Ihnen: Jawohl, die Sprachkenntnisse, die diese Frauen haben, reichen, um Hilfe zu holen und sich zu wehren. ({1}) Vor allen Dingen: Wir stabilisieren diese Frauen mit diesen Kursen. Es werden ja nicht nur Sprachkenntnisse vermittelt. Es wird etwas über unser Land vermittelt. Es wird vermittelt, dass Frauen und Männer gleichberechtigt sind, dass man frei entscheiden kann, wie man leben möchte. In den Goethe-Instituten und in vielen anderen Sprachinstituten sind sehr sensible Kurslehrerinnen und -lehrer am Werk, die natürlich vor Augen haben, dass man die Frauen stärken muss, wenn sie nach Deutschland gehen wollen. ({2}) Ich finde, es ist zumindest ein Fortschritt - vielleicht nicht ganz optimal -, wenn wir diese Gesetzesänderung jetzt in der Praxis erfolgreich umsetzen. Das sollten wir nicht schlechtreden, liebe Frau Kollegin. ({3}) Wir sollten dies schon deshalb nicht schlechtreden, weil es richtig ist, dass wir damit an die in Deutschland lebenden Familien das klare Signal senden: Ohne Deutsch geht es nicht. Es kann doch nicht gut sein - Frau Ministerin Böhmer hat darauf hingewiesen -, dass viele Kinder und Jugendliche die Schule ohne Abschluss verlassen und dass auch die Sprachkenntnisse bei Schulbeginn immer geringer werden. Wir sollten uns nicht damit abfinden, dass es Familien gibt, die in Deutschland 20, 22 Jahre leben und trotzdem nur die Sprache des Herkunftslandes sprechen. Diese Regelung soll ein Signal an die Familien sein: Gebt den Kindern eine Chance auf schulische und berufliche Entwicklung, indem ihr zulasst, dass Deutsch im Leben eurer Familie eine Rolle spielt. ({4}) Denn es macht keinen Sinn, wenn die Kinder noch nicht einmal den Lehrer an der Schultafel verstehen. Angesichts der Kritik, dass wir in der Zuwanderungspolitik einen Paradigmenwechsel vornehmen, möchte ich darauf verweisen, dass wir mittlerweile für viele Länder in Europa Vorbildcharakter haben. Die Regelung, Sprachkenntnisse vor dem Familiennachzug vorzuweisen, ist Teil des Asyl- und Einwanderungspakets, das von der französischen EU-Präsidentschaft vorgelegt worden ist. ({5}) Mittlerweile wird auch in anderen Ländern zu einer konsequenten Steuerung geraten. Die Spanier zum Beispiel haben gerade ein umfassendes Programm zur Rückführung von Ausländern, die illegal in ihrem Land leben, durchgeführt. Wir wirken hier absolut als Vorbild. Ich habe mit dem Fußball begonnen und will damit enden. ({6}) Es sind doch schöne Bilder, wenn wir in diesen Tagen immer wieder erleben, dass Autos durch die Gegend fahren, die nicht nur von deutschen, sondern von deutschen und türkischen Fahnen gemeinsam geziert werden. Ich habe auch schon die Kombination deutsche und kroatische Fahnen erlebt. Ich habe auch schon deutsche und russische Fahnen gesehen. ({7}) Diese Integrationsleistung ist umso höher zu bewerten, als ich die Kombination deutsche und niederländische Fahnen noch bei überhaupt keinem Auto - noch nicht einmal bei einem Wohnwagen - gesehen habe. Herzlichen Dank. ({8})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Dr. Lale Akgün, SPD-Fraktion.

Dr. Lale Akgün (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003492, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man als Letzte redet, dann kommt man nicht darum herum, einige Anmerkungen zu all dem, was zuvor gesagt worden ist, zu machen. Zuerst zu Ihnen, Frau Staatsministerin: Erst einmal vielen Dank für den guten und informativen Bericht. Ich sage das deshalb ausdrücklich, weil in diesem Bericht in der Statistik klar differenziert und eine vernünftige Ursachenanalyse vorgenommen wird. Meine zweite Anmerkung hängt mit Ihrer Rede zusammen. Sie sagten, dass wir 15 Millionen Menschen integrieren müssen. Frau Ministerin, in Deutschland leben zwar 15 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund, aber wir müssen Gott sei Dank nicht 15 Millionen Menschen integrieren. Wo stünde Deutschland, wenn wir 15 Millionen Menschen integrieren müssten? Das müssen wir Gott sei Dank nicht. ({0}) Wir müssen diejenigen integrieren, die unserer Hilfe bedürfen, weil sie sozial benachteiligt sind, ({1}) und nicht automatisch alle, die einen Migrationshintergrund haben. Ich denke, wir sollten die Sache etwas differenzierter sehen. Frau Dağdelen, eine Anmerkung zu Ihrer Rede: Es mag sein, dass die Integrationspolitik dieser Koalition an der einen oder anderen Stelle kritisiert werden kann. In dieser Koalition spricht aber keiner von „Fremdarbeitern“, die den deutschen Arbeitern die Arbeitsplätze wegnehmen, wie es Ihr Parteivorsitzender ab und zu gerne tut. ({2}) Herr Koschyk, auch Ihnen möchte ich etwas sagen. ({3}) Bitte akzeptieren Sie, dass wir in den nächsten Jahren Zuwanderung brauchen. Das ist Realität. Bitte verteufeln Sie die Zuwanderung nicht, sondern helfen Sie uns, sie zu gestalten und zu steuern. ({4}) Das ist wichtig. Wir dürfen uns nicht abschotten; denn wir werden sehr bald in eine Lage kommen, in der wir Zuwanderung brauchen. Wir müssen die Zuwanderung gemeinsam gestalten und gemeinsam steuern. ({5}) - Das ist eine nationale Aufgabe. ({6}) Diese Aufgabe werden wir uns nicht aus der Hand nehmen lassen. ({7}) Meine Redezeit rennt davon. Ich möchte aber noch auf drei Aspekte zu sprechen kommen, die ich im Zusammenhang mit der Integration für substanziell halte: Erstens: politische Partizipation. Ich glaube, nur wer sich an dem politischen Entscheidungsfindungsprozess in unserem Land beteiligen kann, macht sich kundig und informiert sich. Deswegen werbe ich dafür, dass wir, die wir von Integration reden, dafür sorgen, dass Zugewanderte viel stärker an der Politik partizipieren und so in die Gesellschaft hineinwachsen können. ({8}) Die neue Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung mit dem Titel „Ein Blick in die Mitte“ zeigt deutlich, wie schwach das Demokratieverständnis in der Gesellschaft verankert ist, und zwar nicht nur bei Zuwanderern, sondern in der gesamten Gesellschaft. Ich frage Sie: Wenn schon viele Einheimische keine Lust auf demokratische Entscheidungsprozesse haben, wie sollen dann Zuwanderer Feuer und Flamme dafür sein? Es ist an der Zeit, dass wir offensiv um die Mitarbeit und das Engagement von Migrantinnen und Migranten, um ihre Bürgertugenden werben. Zweitens: Chancengleichheit. Ich glaube, es hört keiner mehr hin, wenn man diesen Begriff nennt, weil dieser Begriff zu einer Floskel verkommen ist. Im Kern meint „Chancengleichheit“ die Möglichkeit des Menschen, ein Plätzchen in unserer Gesellschaft zu finden, an dem er leben und zufrieden sein kann. ({9}) - Ich wäre auch mit einem Plätzchen zufrieden. ({10}) Dazu gehören auch Aufstiegschancen. Die wiederum sind ohne Bildung nicht möglich. Der Ausländerbericht sagt glasklar: Migranten haben auch mit steigender Vorbildung schlechtere Chancen als die Menschen in der deutschen Vergleichsgruppe. Das schafft Frust. Ich glaube, wir müssen dafür sorgen, dass wir heute nicht den Frust wachsen lassen, der uns morgen ins Gesicht schlagen könnte. Der Ausländerbericht schlägt die richtigen Instrumente vor. Darauf möchte ich jetzt aber nicht näher eingehen, weil ich auf einen dritten Punkt zu sprechen kommen möchte. Ich meine die Einbürgerung. Wir müssen endlich begreifen, dass Einbürgerung nicht der Schlusspunkt gelungener Integration ist, ({11}) sondern ein Meilenstein mit Belohnungsfaktor auf dem Weg in unsere Gesellschaft. ({12}) - Herr Grindel, dann werden wir nicht zusammenkommen. ({13}) Dann werden wir weiterhin unterschiedliche Positionen haben. Sie haben ja immer noch die Vorstellung, die Staatsangehörigkeit sei so etwas wie ein Doktorhut am Ende der akademischen Ausbildung zum Diplomdeutschen. Diese Meinung teile ich nicht. ({14}) Der Ausländerbericht rechnet uns minutiös vor, dass die Zahlen der Einbürgerungen in den Jahren 2002 bis 2004 und 2005 leicht gesunken sind. Mittlerweile haben wir wieder ein Niveau von ungefähr 124 500 Einbürgerungen erreicht. Wir sollten diese Anzahl unbedingt steigern; denn für einen lebendigen und attraktiven Industrie- und Dienstleistungsstaat reicht diese Zahl im Jahr 2008 nicht aus. In Deutschland gibt es 7,5 Millionen Ausländer. 70 Prozent davon haben die Voraussetzung, heute oder morgen eingebürgert zu werden. Aber sie tun es nicht. Ich frage mich, warum sie es nicht tun. Im Wesentlichen hat es etwas damit zu tun, dass die Politik Einbürgerungen nicht gerade erleichtert. Wir sollten nicht nur Einbürgerungen für Eliten wollen. Wir sollten Einbürgerungen für alle Gruppierungen wollen. ({15}) Ich habe das Gefühl, viele Einwanderer sind nicht daran interessiert, sich einbürgern zu lassen. Ich frage mich schon, warum das so ist. Nehmen wir die Diskussion um die Einbürgerungstests. Darüber ist sehr viel gesprochen worden. Vielleicht macht es uns Spaß und beruhigt unser Gewissen, wenn wir wie Günther Jauch Fragen in Multiple-Choice-Manier stellen. Aber was wollen wir damit erreichen, wenn wir Menschen fragen, wie viele Bundesländer Deutschland hat? Manchmal kommt mir Deutschland wie eine Disco auf dem Land vor. Dieser Disco gehen zwar langsam die Gäste aus, aber sie leistet sich trotzdem einen Türsteher. ({16}) Dieser steht den ganzen Abend an der Tür und sagt den Gästen: Du kannst hinein, du nicht und du nur dann, wenn du mir sagst, wie viele Bundesländer Deutschland hat. ({17}) Natürlich muss man Interesse an einem Land haben. Man muss auch etwas über das Land, in dem man lebt, wissen. ({18}) Ob dieser Multiple-Choice-Test wirklich der richtige Weg ist, Wissen und Interesse abzufragen, möchte ich bezweifeln. Ich finde die Initiative der Integrationsbeauftragen für ein bundesweites Integrationsmonitoring sehr viel sinnvoller. Ein Mensch, der sich zurechtfindet und nach den Gesetzen unseres Landes lebt, ist integriert. Wir müssen doch zusehen, dass wir die Kompetenzen, die jeder in seiner Umwelt und in seinem Umfeld braucht, vermitteln und jedem die Möglichkeit geben, sich einbürgern zu lassen. Ein weiterer Punkt, den ich sehr wichtig finde: Deutschland scheint nicht für alle Menschen attraktiv zu sein. Wo sind die Menschen, die sagen: Das ist mein Land, manchmal verzweifle ich zwar an diesem Land, aber unterm Strich fühle ich mich hier sauwohl; ich bin bereit, für dieses Land einzustehen? ({19}) - Ich kann zwar auf mich selber zeigen, aber ich möchte, dass diese Haltung in der Gesellschaft immer mehr Anhänger findet. Warum blicken so viele Zuwanderer in ihre Heimatländer? Ist das pure Nostalgie? Da kann ich die USA ja nur beneiden.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, ich muss Sie darauf aufmerksam machen, dass Ihre Redezeit abgelaufen ist.

Dr. Lale Akgün (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003492, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich komme sofort zum Schluss. - Ich möchte, dass wir den Ausländerbericht zum Anlass nehmen, über die Attraktivität unseres Landes nachzudenken. Dabei spielen nicht nur Ziffern und Zahlen eine Rolle, sondern die gelebte Attraktivität unseres Landes und die Frage, wie wir das gemeinsam vorleben. Wir müssen den konstruktiven Diskurs miteinander suchen. Darum möchte ich Sie alle bitten, unser Land noch attraktiver zu machen. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Innenaus- schusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Für die zügige Vorlage eines qualifizierten Be- richts über die Lage der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be- schlussempfehlung auf Drucksache 16/7246, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/5788 abzu- lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschluss- empfehlung ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/ Die Grünen und CDU/CSU bei Gegenstimmen der Frak- tion Die Linke und der Fraktion der FDP angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 35 a bis 35 h sowie Zusatzpunkte 3 a bis 3 d auf: 35 a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Rainer Stinner, Birgit Homburger, Elke Hoff, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundesbesoldungsgesetzes - Drucksache 16/9317 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({0}) Verteidigungsausschuss Haushaltsausschuss b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen zwischen den Europäischen Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Republik Albanien andererseits - Drucksache 16/9395 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({1}) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung von Vorschriften über das Deutsche Rote Kreuz - Drucksache 16/9396 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({2}) Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundeskindergeldgesetzes - Drucksache 16/9615 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({3}) Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- kommen vom 12. November 2007 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der De- mokratischen Volksrepublik Algerien zur Ver- meidung der Doppelbesteuerung und zur Ver- hinderung der Steuervermeidung und Steuerhinterziehung auf dem Gebiet der Steu- ern vom Einkommen und vom Vermögen - Drucksache 16/9561 - Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Patrick Döring, Jörg Rohde, Horst Friedrich ({4}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Änderung des § 34 a der Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung - Mobilität von Rollstuhlfahrern verbessern, Sicherheit nicht vernachlässigen - Drucksache 16/8545 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({5}) Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Tourismus g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst Friedrich ({6}), Jan Mücke, Patrick Döring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Keine Sperrung der Inntal-Autobahn für Lkw-Transitverkehre - Drucksache 16/9095 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({7}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Josef Philip Winkler, Volker Beck ({8}), Monika Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Lazar, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Schutz für Flüchtlinge aus Myanmar - Drucksache 16/9444 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({9}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ZP 3 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst Meierhofer, Michael Kauch, Angelika Brunkhorst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Barrieren für die Einführung der CCS-Technologie überwinden - Voraussetzungen für einen praktikablen und zukunftsweisenden Rechtsrahmen schaffen - Drucksache 16/9454 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({10}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst Friedrich ({11}), Patrick Döring, HansMichael Goldmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Masterplan Güterverkehr und Logistik grundlegend überarbeiten - Drucksache 16/9460 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({12}) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte Pothmer, Markus Kurth, Katrin Göring-Eckardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Rechte von Arbeitssuchenden stärken - Kompetentes Fallmanagement sicherstellen - Drucksache 16/9599 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({13}) Haushaltsausschuss d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike Höfken, Cornelia Behm, Nicole Maisch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Rahmenbedingungen für Milchmarkt verbessern - Faire Erzeugerpreise für Milch unterstützen - Drucksache 16/9601 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({14}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Haushaltsausschuss Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 36 a und 36 c bis 36 i sowie Zusatzpunkte 4 a und 4 b auf. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Tagesordnungspunkt 36 a: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der grenzüberschreitenden Forderungsdurchsetzung und Zustellung - Drucksache 16/8839 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({15}) - Drucksache 16/9639 Berichterstattung: Abgeordnete Michael Grosse-Brömer Dirk Manzewski Mechthild Dyckmans Jerzy Montag Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9639, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/8839 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist bei Enthaltung der Fraktion Die Linke mit den Stimmen des Rests des Hauses in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in dritter Beratung mit demselben Stimmenverhältnis wie in zweiter Beratung angenommen. Tagesordnungspunkt 36 c: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({16}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Mitteilung der Kommission Erster Bericht über die Anwendung der Rechtsvorschriften zum einheitlichen Luftraum: Ergebnisse und künftiges Vorgehen KOM ({17}) 845 endg.; Ratsdok. 5078/08 - Drucksachen 16/8135 Nr. 2.17, 16/9322 Berichterstattung: Abgeordneter Christian Carstensen Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition bei Enthaltung der Opposition angenommen. Wir kommen zu Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Tagesordnungspunkt 36 d: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({18}) Sammelübersicht 425 zu Petitionen - Drucksache 16/9434 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 425 ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Tagesordnungspunkt 36 e: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({19}) Sammelübersicht 426 zu Petitionen - Drucksache 16/9435 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 426 ist mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU und FDP bei Enthaltung der Grünen und Gegenstimmen der Linken angenommen. Tagesordnungspunkt 36 f: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({20}) Sammelübersicht 427 zu Petitionen - Drucksache 16/9436 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 427 ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Tagesordnungspunkt 36 g: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({21}) Sammelübersicht 428 zu Petitionen - Drucksache 16/9437 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 428 ist bei Gegenstimmen der Linken mit den Stimmen des Hauses im Übrigen angenommen. Tagesordnungspunkt 36 h: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({22}) Sammelübersicht 429 zu Petitionen - Drucksache 16/9438 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 429 ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und CDU/CSU bei Gegenstimmen von FDP und Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen. Tagesordnungspunkt 36 i: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({23}) Sammelübersicht 430 zu Petitionen - Drucksache 16/9439 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 430 ist mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU und FDP bei Gegenstimmen von Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke angenommen. Zusatzpunkt 4 a: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Güterkraftverkehrsgesetzes und anderer Gesetze - Drucksache 16/9236 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({24}) - Drucksache 16/9600 Berichterstattung: Abgeordneter Horst Friedrich ({25}) Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9600, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/9236 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der FDP und Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen und Linken angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in dritter Beratung mit demselben Stimmergebnis wie in zweiter Beratung angenommen. Zusatzpunkt 4 b: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Kultur und Medien ({26}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Ausschuss der Regionen über kreative OnlineInhalte im Binnenmarkt Ratsdok.-Nr. 8793/08 - Drucksachen 16/9538 A.10, 16/9632 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Günter Krings Christoph Waitz Dr. Lukrezia Jochimsen Undine Kurth ({27}) Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrich- tung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist bei Ent- haltung der Linken mit den Stimmen des Hauses im Übrigen angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Renate Künast, Fritz Kuhn, Birgitt Bender, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Leben am Lebensende - Bessere Rahmenbedingungen für Schwerkranke und Sterbende schaffen - Drucksache 16/9442 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit ({28}) Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung b) Beratung des Zwischenberichts der EnqueteKommission Ethik und Recht der modernen Medizin Verbesserung der Versorgung Schwerstkranker und Sterbender in Deutschland durch Palliativmedizin und Hospizarbeit - Drucksache 15/5858 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit ({29}) Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Birgitt Bender, Bündnis 90/Die Grünen.

Birgitt Bender (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003502, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Antrag, den die Grünen heute zur Diskussion stellen, trägt den Titel „Leben am Lebensende - Bessere Rahmenbedingungen für Schwerkranke und Sterbende schaffen“. Dieses Thema ist viel umfassender als das Thema, das in letzter Zeit große öffentliche Aufmerksamkeit erfahren hat, nämlich die Patientenverfügung. Die Frage der Vorabfestlegung von Patientinnen und Patienten für den Fall, dass sie sich nicht mehr äußern können, ist wichtig. Darüber wird in diesem Hause und auch in unserer Fraktion kontrovers diskutiert, und dieses Thema wird uns in der nächsten Zeit beschäftigen. Heute reden wir darüber, was wir tun können, um die Versorgung Schwerstkranker und Sterbender zu verbessern. Beide Debatten fallen nicht zufällig in eine Zeit, in der der medizinische Fortschritt zunehmend kritischer betrachtet wird. Wir alle profitieren von ihm, weil er uns ermöglicht, länger zu leben. Der medizinische Fortschritt hat aber auch dazu beigetragen, das Sterben zu verdrängen und es nicht mehr als einen natürlichen Bestandteil des Lebens wahrzunehmen. Ich glaube, wir sollten uns darauf verständigen, dass wir einen Bewusstseinswandel brauchen, der eine neue Kultur des Sterbens fördert und zum Abschiednehmen und zur Trauer Raum gibt. Wir müssen das Sterben und den Tod wieder ins Leben zurückholen. ({0}) Wir wissen, dass sich eine Mehrheit der Menschen wünscht, in ihrer gewohnten Umgebung und unterstützt von lieb gewonnenen Menschen zu sterben; das gilt sicherlich auch für die Mehrheit der Mitglieder dieses Hauses. Realität ist jedoch, dass noch immer 70 Prozent der Menschen in Deutschland ihre letzte Lebensphase, oft ohne angemessenen Beistand, in Kliniken und Pflegeheimen verbringen. Das hat vielfältige Gründe. In vielen Fällen scheitert die Umsetzung des Wunsches, die letzten Tage, Wochen oder Monate in der gewohnten Umgebung zu verbringen, am Mangel an pflegerischer und medizinischer Unterstützung vor Ort, die auf diese Situation zugeschnitten ist. Dieser Mangel kann auch zur Folge haben, dass sich Angehörige oder Freundinnen und Freunde, die die Pflege übernehmen wollen, schnell überfordert fühlen. Gleichzeitig führen solche Erfahrungen zu Ängsten und Unsicherheiten. Die Menschen fürchten am Ende ihres Lebens Abhängigkeit, Fremdbestimmung und Einsamkeit. Unsere Aufgabe sollte sein, diese Ängste dort zu entkräften, wo bereits Angebote vor Ort vorhanden sind. Manchmal fehlt es schlicht an der Information, dass bereits entsprechende Möglichkeiten existieren. Ich habe das selbst erlebt, als eine Freundin von mir nach dem Tod ihrer krebskranken Schwester, die eine akutmedizinische Versorgung erfahren und bis zuletzt gekämpft hat, sagte: Wenn ich gewusst hätte, dass es in einem Krankenhaus in der Nähe eine palliativmedizinische Abteilung gibt, dann hätte ich mit meiner Schwester anders gesprochen, und sie hätte ganz anders und aus meiner Sicht viel besser sterben können. An vielen Punkten weisen diese Ängste aber auch auf Probleme hin, die wir als Politiker in Bund und Ländern lösen müssen. Es ist sicherlich unstrittig - das hoffe ich zumindest -, dass wir das Ziel verfolgen, Frauen und Männern, deren Leben in absehbarer Zeit zu Ende geht, zu ermöglichen, dass dies in Würde, selbstbestimmt, mit höchstmöglicher Lebensqualität und an dem von ihnen gewünschten Ort geschieht. ({1}) Das heißt nichts anderes, als dass der Mensch und seine Bezugspersonen konsequent in den Mittelpunkt gestellt werden. Dabei sind psychische, spirituelle, soziale Bedürfnisse und Wertvorstellungen zu berücksichtigen. Wir müssen eine echte Wahl schaffen. Beispielsweise kann es nicht sein, dass, wer sich einmal entschieden hat, in ein Pflegeheim zu gehen, keine andere Möglichkeit mehr hat, als ebendort zu sterben. Es muss mehr Möglichkeiten geben. Wir stoßen bei der Versorgung Schwerstkranker und Sterbender auf das, was wir in der Gesundheitspolitik als Schnittstellenprobleme bezeichnen. In diesem Zusammenhang sei insbesondere die starre Trennung zwischen ambulanter und stationärer Versorgung genannt. Bei der Versorgung Schwerstkranker sehen wir mit besonderer Härte, was diese Strukturprobleme mit sich bringen. Gleichzeitig haben wir die Chance, neue Versorgungswege auszuprobieren. In diesem Sinne ist die vor kurzem eingeführte spezialisierte ambulante Palliativversorgung ein Schritt in die richtige Richtung. Nachdem die entsprechende Vorschrift des Gemeinsamen Bundesausschusses vorliegt, sind Krankenkassen und Anbieter gefordert, Verträge zu schließen, die dem geforderten multiprofessionellen Ansatz der Versorgung gerecht werden. Diesem Schritt müssen weitere folgen. Das, was man die allgemeine ambulante Palliativversorgung nennt, muss gestärkt werden. Hierzu könnte, wie es bereits im Zwischenbericht der Enquete-Kommission „Ethik und Recht der modernen Medizin“ heißt, die integrierte Versorgung gut geeignet sein; mit ihr sollen ja die Grenzen zwischen ambulanter und stationärer Versorgung überwunden und die Pflege in die fachübergreifende Zusammenarbeit einbezogen werden. Dieses Instrument sollte stärker genutzt werden. Es gibt darüber hinaus konkreten Handlungsbedarf. Ich will die Punkte nennen: Es muss möglich werden, dass Schwerstkranke mit hohem Versorgungsbedarf zu Hause versorgt werden. Das setzt eine entsprechende Infrastruktur voraus. Die Schmerztherapie muss ein integraler Bestandteil sein. Auch müssen für Angehörige und Freunde Pflege und Beruf vereinbar sein. An dieser Stelle muss ich sagen, dass die jüngst im Rahmen der Pflegereform geschaffenen Regeln unzureichend sind. Auch wenn man eine Freistellung vom Arbeitgeber bekommt: Niemand kann sich einen völligen Einkommensverzicht erlauben. ({2}) Wir brauchen mehr Beratung und Unterstützung sowohl der Betroffenen als auch der Angehörigen. Insbesondere müssen wir über die Möglichkeit einer Palliativversorgung und über die Hospizdienste bzw. stationären Hospize, die es gibt, aufklären. Die Hospize müssen gestärkt und ausgebaut werden. Ferner muss die Palliativmedizin bei der Ausbildung der Ärztinnen und Ärzte ein Thema sein. Sie müssen lernen, im rechten Moment von der Akutmedizin loszulassen. ({3}) Die Enquete-Kommission hat das schon in der letzten Legislaturperiode thematisiert. Es gibt noch einen ganzen Katalog von Aufgaben, der abzuarbeiten ist. Wir haben die Chance, Neues auszuprobieren und Erprobtes in die Fläche zu bringen. Wir fordern, dass die Regierung jährlich einen Bericht über die Entwicklung der Strukturen für die Versorgung Schwerkranker und Sterbender vorlegt, damit wir aus den Erfahrungen lernen können, wenn wir darüber reden, wie es in diesem Bereich weitergehen soll. Ich hoffe, dass wir in der Frage, wie Menschen in Würde sterben können, einen gemeinsamen Weg gehen können. Danke schön. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Maria Eichhorn von der CDU/CSU-Fraktion.

Maria Eichhorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000449, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Krankheit und Sterben sind Teil des Lebens. Mit steigender Lebenserwartung sowie medizinischem und technischem Fortschritt gewinnt eine menschenwürdige Sterbebegleitung zunehmend an Bedeutung. Auch unter veränderten Bedingungen gilt es, ein Sterben in Würde zu ermöglichen, Sterbenden ein menschenwürdiges Umfeld zu schaffen und dabei deren Wünsche und Bedürfnisse in den Mittelpunkt zu stellen. Viele Menschen haben Angst vor Fremdbestimmung, Einsamkeit und Schmerzen am Ende des Lebens. Aus dieser Angst heraus meinen manche, aktive Sterbehilfe sei eine Antwort. Auch die Diskussion über die Patientenverfügungen wird von dieser Angst bestimmt. Palliativmedizin und Hospizarbeit sind für ein Sterben in Würde unverzichtbar. Es ist für die Menschen beruhigend, zu wissen, dass sie im Sterben nicht allein gelassen werden und dass sie an einem vertrauten Ort und inmitten vertrauter Menschen sterben können. Sie können sich dabei auch sicher sein, dass ihre Schmerzen gelindert werden. Oftmals stellen sich Sterbende die Frage nach dem Sinn des Lebens und dem Danach. Die letzten Dinge regeln zu können und zu wissen, dass man in der letzten Phase des Lebens nicht allein gelassen, sondern begleitet wird, ist von größter Bedeutung. Wer sich am Ende des Lebens gut versorgt weiß, der wird dem Sterben ohne Angst entgegensehen. Mit der Gesundheitsreform sind wesentliche Verbesserungen im Bereich der Palliativversorgung und der Hospizarbeit erfolgt. Die Versicherten in der gesetzlichen Krankenversicherung haben nun einen eigenständigen Rechtsanspruch auf eine spezialisierte ambulante Palliativversorgung - wenn es sein muss, rund um die Uhr. Dieser Leistungsanspruch steht Patienten zu, die nur noch eine begrenzte Lebenserwartung haben, aber zu Hause versorgt werden können. Damit ist es möglich, den größten Wunsch vieler Sterbender zu erfüllen, nämlich bis zum Lebensende zu Hause sein und dort in Ruhe sterben zu können. Die übrigen Palliativpatienten werden in stationären Einrichtungen palliativmedizinisch versorgt. Auch mit dem Pflegeweiterentwicklungsgesetz sind positive Leistungsverbesserungen verbunden. Die langjährige berechtigte Forderung nach Einführung einer Pflegezeit wird jetzt verwirklicht. Auch das ist ein wichtiger Schritt, damit Sterbende zu Hause gepflegt werden können. Viele der im Antrag der Grünen genannten Forderungen, die auch im Zwischenbericht der Enquete-Kommission genannt werden, sind schon verwirklicht. Ich habe mich dazu extra noch einmal bei der ambulanten Palliativstation bei mir vor Ort in Regensburg erkundigt. Frau Bender, bereits heute können Schwerstkranke, die einen hohen Bedarf an technischen Apparaten und Hilfsmitteln haben, wie zum Beispiel Patienten, die nur noch mit künstlicher Beatmung leben können, zu Hause versorgt werden. Strukturen für ethische Fragestellungen im Rahmen der Sterbebegleitung müssen nicht noch neu geschaffen werden. Sie sind bereits Teil der spezialisierten Palliativversorgung, sowohl im stationären als auch im ambulanten Bereich. Auch die Schmerztherapie ist schon integraler Bestandteil der Palliativmedizin und damit der Palliativversorgung. Es gibt bereits heute Beratungsmöglichkeiten, die zu Hause in Anspruch genommen werden können. Bei der Übernahme von Beratung und Pflege durch Palliativ-Care-Teams ist auch die Bezahlung der Beratung gesichert. Für ehrenamtlich tätige Hospizgruppen gilt die Vorschrift, für die Helfer eine Supervision zu organisieren und zu finanzieren. Es gibt auch Hilfsangebote für betreuende Bezugspersonen. Am wichtigsten sind jedoch eine ausreichende Palliativversorgung und die Entlastung durch Hospizbegleiter, damit die Betreuungsperson auch einmal durchatmen und sich erholen kann. Mit der Einführung der Pflegezeit haben wir einen wichtigen Schritt getan. Lassen Sie uns doch zunächst einmal abwarten, wie sich dieses Gesetz bewährt, bevor Sie neue Forderungen stellen! Natürlich hätte die Union bei der Gesundheitsreform den Eigenfinanzierungsanteil aller stationären Hospize gerne auf 5 Prozent begrenzt. Aus Kostengründen konnte dies jedoch nur für die Kinderhospize erfolgen. Ich unterstütze nachhaltig die Forderung, Palliativmedizin und -pflege zu einem expliziten Pflichtlehrfach und Prüfungsfach des Medizinstudiums wie auch bei der Ausbildung der einschlägigen Berufe in der Krankenpflege aufzuwerten. Dazu sind jedoch noch mehr erfahrene Palliativmediziner notwendig, die das weitergeben können. In diesem Punkt besteht noch erheblicher Ausbildungsbedarf. ({0}) In einer zunehmend älter werdenden Gesellschaft ist die Forderung, einen Forschungsschwerpunkt Palliativund Hospizversorgung zu schaffen, richtig. Wir brauchen eine neue Kultur des Umgangs mit Leiden und Tod in unserer Gesellschaft. Darin stimme ich Ihnen ausdrücklich zu, Frau Bender. Der Tod gehört zu unserem Leben und darf kein Tabu sein. Durch eine verstärkte Informations- und Öffentlichkeitsarbeit können Berührungsängste in der Gesellschaft abgebaut werden. Dabei sind auch die Medien aufgerufen, verantwortungsvoll mit dem Thema Tod und Sterben umzugehen. Ein guter Bekannter, dessen Frau mit knapp 50 Jahren an Krebs gestorben ist, sagte mir: Als ich erfuhr, dass meine Frau nicht mehr lange leben wird, ist für mich eine Welt zusammengebrochen. Aber ich wollte wenigstens bis zum Schluss, soweit es ging, ihr ein lebenswürdiges Leben zu Hause ermöglichen. Allein hätte ich das nicht gekonnt. Ich bin so dankbar, dass es bei uns eine ambulante Palliativversorgung gibt, die meiner Frau und mir eine gemeinsame Vorbereitung auf deren Tod ermöglicht hat. Dieser Bekannte engagiert sich seither ehrenamtlich bei Palliamo, einer vorbildlichen Einrichtung der ambulanten Palliativversorgung in meinem Wahlkreis. Er sagt: „Das, was ich an Gutem erfahren habe, möchte ich auch an andere weitergeben.“ Die Union wird weiter daran arbeiten, Menschen ein Sterben in Würde zu ermöglichen. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Michael Kauch von der FDP-Fraktion. ({0})

Michael Kauch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003698, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sterben ist ein Thema, das im täglichen Leben oft verdrängt wird. Wenn Menschen darüber nachdenken, dann ist es mit vielen Ängsten verbunden. Sie haben Angst, lange zu leiden, Schmerzen zu haben oder allein zu sein. Diese Ängste sind nicht völlig unbegründet. Die meisten Menschen wollen zu Hause im Kreis ihrer Familie sterben. Für sie, aber auch für ihre Angehörigen ist das im besten Fall der intensive Abschluss eines erfüllten Lebens. Ich habe selbst erlebt, dass das ein schmerzlicher, aber auch bereichernder Punkt im Leben ist. Doch oft ist das Sterben zu Hause nicht möglich, weil die Familie überfordert ist oder es vielleicht gar keine Familie gibt. Durch den demografischen Wandel werden wir mit dem Problem konfrontiert, dass immer mehr Menschen keine Kinder oder Geschwister haben, die ihnen am Sterbebett zur Seite stehen. Deshalb ist es so wichtig, dass es die Hospizdienste - stationär, aber gerade auch ambulant - gibt und dass diese angemessen von der Gesellschaft und vom Staat unterstützt werden. ({0}) In den Hospizdiensten arbeiten Menschen, die Zeit mitbringen, zuhören oder vielleicht auch nur die Hand halten. Sie verschaffen den Angehörigen eine Atempause, bei der sie sich einmal von ihrer Last befreien können. Es sind Menschen, die viel Leid erfahren, viel Kraft mitbringen müssen und deren Arbeit besonders wichtig ist. Deshalb ist es in einer solchen Debatte an der Zeit, den Menschen, die sich in diesem Bereich ehrenamtlich engagieren, unseren Dank auszusprechen. ({1}) Es geht aber nicht nur um die psychosoziale Betreuung von Schwerstkranken und Sterbenden. Noch immer werden Schmerzen und andere häufige Leiden im Sterbeprozess nicht optimal behandelt. Die Medizin ist an vielen Stellen des Gesundheitssystems immer noch darauf ausgerichtet, auch die letzten Heilungsmöglichkeiten zu probieren, um Leben zu verlängern. Das geht oft zulasten der Lebensqualität. Es wird zu spät vom Versuch, die Krankheit zu heilen, auf das Ziel umgestiegen, Leiden zu mindern und die verbleibende Lebenszeit so angenehm wie möglich zu gestalten. Die Entscheidung darüber, welche Therapie für ihn richtig ist und was ihm wichtig ist, kann letztendlich nur der Patient selbst treffen. Deshalb schließen sich Fürsorge und Selbstbestimmung gerade nicht aus. Im Gegenteil: Beide gehören zusammen, wenn es um ein menschenwürdiges Leben am Lebensende geht. Die Gesellschaft muss eine gute Versorgung durch Palliativmedizin und Hospizdienste sicherstellen. Sie muss in Krankenhäusern und Pflegeheimen, in denen noch immer sehr viele Menschen sterben, die Umstände des Sterbens verbessern und muss das Sterben zu Hause erleichtern. Die Gesellschaft muss aber auch - hier ist der Gesetzgeber gefordert - das Recht der Menschen auf Selbstbestimmung achten, ob sie eine Behandlung wünschen und, wenn ja, welche. Fürsorge in Fremdbestimmung ist genauso schlecht wie Selbstbestimmung ohne Fürsorge. ({2}) Deshalb ist es schade, dass im Vorfeld ein Gegensatz zwischen der heutigen Debatte über die Palliativversorgung und der Debatte über Selbstbestimmung und Patientenverfügungen aufgebaut wurde. Wer zur Palliativmedizin Ja, aber Nein zur Selbstbestimmung der Patienten sagt, wird die Achtung der Menschenwürde am Lebensende nicht erreichen. Bemerkenswert ist, dass Frau Künast - die immer von der Ars moriendi spricht, aber nicht anwesend ist, wenn es im Parlament um ihre Anträge geht - den Antrag ihrer Fraktion zur Palliativmedizin am 25. April 2007 eingebracht hat. Über ein Jahr hat sie darauf verzichtet, diesen Antrag im Bundestag beraten zu lassen, obwohl im Rahmen der Pflegereform über eine Reihe der Punkte in diesem Antrag diskutiert und entschieden wurde. Es ist erstaunlich, dass sie die Debatte über diesen Antrag erst dann auf die Tagesordnung des Bundestages setzen ließ, als geplant war, über die Patientenverfügung zu diskutieren. Offensichtlich diente die Einbringung des Antrags dazu, die Diskussion über die Patientenverfügung von der Tagesordnung zu verdrängen. (Widerspruch der Abg. Birgitt Bender ({3}) Diesen Umgang mit einem bedeutsamen Thema halte ich für nicht angemessen. ({4}) Ich will mich daher gar nicht im Detail mit dem Antrag der Grünen, sondern mit den Forderungen der Enquete-Kommission „Ethik und Recht der modernen Medizin“ befassen, über den wir heute mit beraten. Erfreulich ist, dass es, seit wir den Zwischenbericht der Enquete-Kommission vor drei Jahren verabschiedet haben, zu Verbesserungen, die von allen Fraktionen positiv begleitet wurden, insbesondere in Bezug auf die ambulante palliativmedizinische Versorgung gekommen ist. Es ist ein positives Signal für die Zukunft, dass man fraktionsübergreifend zu Lösungen gekommen ist, auch mit der Arbeitsgruppe „Hospiz“ im Deutschen Bundestag; denn die Arbeit ist noch längst nicht getan. Die Umsetzung der Finanzierungsentscheidung in die Praxis - was wird im Leben der Menschen tatsächlich geschehen? - müssen wir genau beobachten. Der Gemeinsame Bundesausschuss von Ärzten, Krankenkassen und Krankenhausgesellschaft hat die Fristen überzogen und dafür gesorgt, dass das, was der Bundestag beschlossen hat, erst mit Verspätung auf den Weg gebracht werden konnte. Es ist nun Aufgabe der Bundesregierung, dem Bundestag in angemessener Zeit darüber zu berichten, wie sich die Gesetzesänderungen in der Realität ausgewirkt haben und ob und wie die Ziele des Parlaments erreicht wurden. Die Enquete-Kommission hat zudem - ebenso wie der Parteitag der FDP - eine Familienhospizkarenz gefordert, also eine Möglichkeit, sich von der Arbeit für die Pflege sterbender Angehöriger freistellen zu lassen. Die Vorredner haben bereits darauf hingewiesen, dass dieser Aspekt mit der Pflegezeit erfasst wurde. Drei große Themen, die die Enquete-Kommission angesprochen hat, bleiben aber unerledigt: erstens die Ausbildung der Medizin- und Pflegeberufe im Hinblick auf die Palliativmedizin, zweitens die angemessene Finanzierung der Palliativmedizin im stationären Bereich und drittens die notwendigen Veränderungen im Heimrecht, um die Rahmenbedingungen für die stationären Hospize zu verbessern. Beim letzten Punkt hat die Föderalismusreform den Bund leider seiner Kompetenzen beraubt. Deshalb liegt es jetzt an uns, auf unsere Kolleginnen und Kollegen in den Landesparlamenten einzuwirken, in den Landesheimgesetzen die Bedürfnisse der Hospize entsprechend zu berücksichtigen. Die Enquete-Kommission hat beim Heimrecht unter anderem gefordert, dass die Hospize von unangemessenen Regelungen befreit werden. Bei einer durchschnittlichen Aufenthaltszeit von 24 Tagen, die ein Bewohner in einem Hospiz hat, macht es weder Sinn, einen Heimbeirat zu wählen, noch macht es Sinn, bestimmte Ausstattungsmerkmale eines Heims erfüllen zu müssen; denn es soll eine familiäre, häusliche Umgebung in einem Hospiz sein und eben keine Heim- oder Krankenhausatmosphäre. Auch die Finanzierung der Palliativmedizin im Krankenhaus muss überdacht werden. Die DRGs, die Fallpauschalen, sind darauf ausgerichtet, eine Krankheit so schnell wie möglich und so gut wie möglich zu heilen und den Patienten wieder zu entlassen. Das kann und will die Palliativmedizin nicht. Deshalb würde es aus meiner Sicht Sinn machen, der Enquete-Kommission zu folgen und die Palliativmedizin aus dem DRG-System herauszunehmen und auf einer tagesbasierten Regelung zu finanzieren. Last, but not least müssen wir tatsächlich die Ausbildung der Ärzte und der Pflegenden verbessern. Es ist erschreckend, dass es viele Hausärzte gibt - ich weiß das beispielsweise aus einer Umfrage bei Ärzten in meiner Heimatstadt -, die keinen Rezeptblock für Betäubungsmittel haben. Wie kann man eine optimale Schmerztherapie ohne Betäubungsmittel machen? ({5}) In der freiwilligen Fortbildung von Ärzten ist vieles erreicht, aber bei der verpflichtenden Ausbildung der Ärzte sind wir noch nicht so weit. Das sollte man nicht als Überfrachtung von Lehrplänen oder als Zusatzbelastung verstehen, sondern es geht um einen Paradigmenwechsel: weg von einer Medizin, die sich nur als kurativ versteht, die glaubt, alles und jedes regeln zu können, und die es als Versagen empfindet, wenn jemand stirbt, hin zu einer Medizin, die es ermöglicht, dass Menschen an ihrem Lebensende möglichst eine optimale Betreuung bekommen. Vielen Dank. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Christian Kleiminger von der SPD-Fraktion.

Christian Kleiminger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003787, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist jetzt 25 Jahre her, dass der erste Patient in Deutschland in einer Palliativstation behandelt worden ist. In diesen 25 Jahren ist viel geschehen. Gab es 1996 erst 30 stationäre Hospize, 28 Palliativstationen und 450 ambulante Hospizdienste, so zählt der Deutsche Hospiz- und Palliativ-Verband heute 162 stationäre Hospizeinrichtungen, 166 Palliativstationen und immerhin 1 500 ambulante Dienste. Ich meine, diese Zahlen zeigen, dass hier in den letzten Jahren eine bedeutende Entwicklung stattgefunden hat. Nach den wichtigen Weichenstellungen in der Gesundheitspolitik sind wir auf dem Weg zu einer flächendeckenden Palliativversorgung, einem unverzichtbaren Bestandteil unseres Gesundheitswesens. Palliativversorgung bedeutet zweierlei: schwer erkrankte Menschen während ihrer letzten Lebenstage psychosozial zu betreuen und zu unterstützen und körperliche Beschwerden medizinisch zu lindern. Beides ist wichtig. In Hospiz- und Palliativstationen arbeiten Fachkräfte, aber auch der unermüdliche Einsatz vieler Ehrenamtlicher ermöglicht den erkrankten Menschen ein würdevolles Lebensende. Ihnen gelten immer wieder unser Dank und unsere Anerkennung. ({0}) Die Enquete-Kommission „Ethik und Recht in der modernen Medizin“ hat vor annähernd drei Jahren einen Zwischenbericht veröffentlicht. Darin sind verschiedene Empfehlungen für die Hospizarbeit und die Palliativmedizin ausgesprochen worden. Es wurde beispielsweise gefordert, den Anspruch auf Palliativversorgung verbindlich festzuschreiben. Es wurde gefordert, die Versorgung im häuslichen Bereich zu stärken und dafür speziell ausgebildete, multidisziplinäre Palliativ-Care-Teams einzusetzen. Schließlich wurden auch die Vernetzung der vorhandenen Strukturen und ein besserer Wissenstransfer gefordert. Diese Forderungen haben wir in zwei wichtigen Reformen in dieser Legislaturperiode in Angriff genommen. Am 1. April 2007 wurde mit der Gesundheitsreform der Leistungsanspruch auf ambulante Palliativversorgung eingeführt. Ich kann gar nicht sagen, wie wichtig es ist, dass dank § 37 b SGB V jeder Sterbenskranke, ob Kind oder Erwachsener, das Recht auf bestmögliche Hospiz- und Palliativversorgung hat - und das als eine Pflichtleistung der Krankenkassen. Das ist ein großer Fortschritt. ({1}) Zudem haben wir die Rahmenbedingungen für Kinderhospize in Deutschland verbessert. Bislang mussten sie 10 Prozent ihrer Kosten aus eigenen Kräften aufbringen, etwa durch Spenden und das ehrenamtliche Engagement. Am 1. April 2007 wurde dieser Anteil erfreulicherweise auf 5 Prozent abgesenkt. Ich bin mir sicher, dass auch diese Maßnahme dazu beiträgt, dass sich die bestehenden Kinderhospize weiterentwickeln und auch neue Häuser entstehen werden. Einen wichtigen Durchbruch haben wir zur Jahreswende geschafft: In Zusammenarbeit mit dem GemBA und den maßgeblichen Verbänden haben wir die sogenannte SAPV-Richtlinie erarbeitet. Die spezialisierte ambulante Palliativversorgung soll es Menschen ermöglichen, bis zum Tode in der vertrauten häuslichen Umgebung betreut zu werden. Das entspricht dem Wunsch vieler Betroffener, wie Sie ja auch ganz richtig in Ihrem Antrag feststellen. Mit der Richtlinie haben wir jetzt einen Definitionsrahmen für die spezialisierte Versorgung in Deutschland geschaffen. Wir haben die Krankenhausärzte besser eingebunden. Aber vor allem haben wir die Schaffung multiprofessioneller Palliativ-Care-Teams ermöglicht. Ärzte, Pfleger, aber auch Seelsorger, Therapeuten, Psychologen und Ehrenamtliche arbeiten dabei eng zusammen. Denn eine solche ambulante palliative Versorgung verlangt einen Betreuungsansatz, bei dem ganz unterschiedliche, hoch spezialisierte Kompetenzen gefragt sind. Wir haben also noch einmal darauf gedrängt, dass diese Teams wirklich multiprofessionell zusammengestellt sind. Ich bin sehr dankbar, dass das Gesundheitsministerium dieses Kriterium auch ausdrücklich zur Auflage gemacht hat. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, in meinem Bundesland Mecklenburg-Vorpommern wurde diesbezüglich an der Universität Greifswald schon vor einigen Jahren wichtige Pionierarbeit geleistet. In den Gesprächen mit den Aktiven vor Ort ist deutlich geworden, dass wir uns einig sind: Der Ausbau und die Qualitätssicherung unter Berücksichtigung der bereits vorhandenen Strukturen in Deutschland ist unser Ziel. Deswegen ist es zu begrüßen, dass über die Umsetzung der Richtlinie und damit die Ausgestaltung der SAPV jährlich Bericht erstattet werden muss. Das gilt insbesondere hinsichtlich der Belange von Kindern. Denn nur so schaffen wir es, die Auswirkungen solcher Regelungen zu überprüfen und gegebenenfalls, wo es notwendig ist, nachzubessern. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, im März haben wir in diesem Haus die Pflegereform beschlossen. Viele schwerkranke Menschen haben Anspruch auf Leistungen aus der Pflegeversicherung. Ihnen werden die Anhebung der Pflegestufen und die verkürzte Begutachtungszeit in ihrer besonderen Pflegesituation zugutekommen. Vor allem eine Institution wird die Vernetzung von und den Zugang zu palliativpflegerischen Angeboten fördern - ich meine den Pflegestützpunkt. Nach unseren Vorstellungen können sich Angehörige dort informieren und entsprechend ihren Bedürfnissen beraten lassen. Wie Sie wissen, stehen hier jetzt die Bundesländer in besonderer Verantwortung. Ich hoffe, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass eines klar geworden ist: nämlich dass wir die Empfehlungen der Enquete-Kommission in vielen Punkten umgesetzt haben. Doch wir alle wissen: Solche Neuerungen brauchen natürlich Zeit, bis sie umgesetzt werden und erste Wirkungen zeigen. Daher kann ich auf viele Forderungen Ihres Antrages, verehrte Kolleginnen und Kollegen, nur antworten: Leider haben Sie bei der Aktualisierung Ihres Entwurfs von 2007 vieles übersehen, was in diesem Bereich schon gesät wurde und bald auch Früchte tragen wird. Ich will keinesfalls bestreiten, dass es noch einiges zu tun gibt. Denn immer noch ist der gesellschaftliche Diskurs - da stimme ich Ihnen durchaus zu - über das Thema Sterben mit einem Tabu belegt. Wir brauchen dringend eine Auseinandersetzung darüber, wie mit sterbenskranken Menschen in unserer Gesellschaft umgegangen wird, auch um unbegründeten Ängsten zu begegnen. Wir müssen noch breitenwirksamer über die Möglichkeiten und Angebote informieren, die für schwerkranke Menschen heute bestehen, stationär und zunehmend eben auch ambulant. Erlauben Sie mir folgenden Einwurf: In den letzten Monaten mussten wir eine unsägliche und unwürdige Diskussion um die Sterbehilfe ertragen. An dieser Stelle möchte ich ganz klar sagen: Wir brauchen in unserem Land Palliativversorgung auf hohem Niveau und nicht aktive Sterbehilfe. ({3}) Wenn der palliativpflegerische Ansatz in Deutschland Fuß fassen soll, muss eine entsprechende Spezialisierung auch in der Breite etabliert werden. Ein Blick nach Großbritannien reicht, um zu sehen, wie es sein könnte und welchen Stellenwert diesem Fachgebiet dort zugemessen wird. Wir brauchen die bestmögliche Ausbildung für diese Arbeit, und dabei sollten wir einen ganzheitlichen Ansatz verfolgen, der sich an internationalen Standards messen lassen kann. Diesen Appell richte ich insbesondere an unseren Koalitionspartner und an die Landesregierungen. Im Gesundheitsausschuss hat Frau Ministerin Schavan bestätigt, dass in der Hochschullandschaft und in der Forschung große Defizite in diesem Bereich bestehen. Daher fordere ich von allen den Einsatz für einen Lehrstuhl für „Palliative Care“ in Deutschland. ({4}) Zu guter Letzt möchte ich von einem Pilotprojekt berichten, das der Deutsche Hospiz- und Palliativverband gemeinsam mit der Arbeiterwohlfahrt kürzlich ins Leben gerufen hat: Bundesweit werden erstmals Hunderte von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in stationären und ambulanten Pflegediensten für die palliative Pflege geschult. So schaffen wir mehr Hospiz- und Palliativkompetenz in Pflegeheimen. Auch im Interfraktionellen Gesprächskreis Hospiz des Bundestages - er wurde erwähnt - setzen wir alles daran, Hospize und Palliativversorgung in Deutschland weiterzubringen. Meine sehr geehrten Damen und Herren von der Opposition, ich lade Sie herzlich ein, sich dort ebenfalls konstruktiv einzubringen. Wir haben zwar schon einiges erreicht, aber wir haben auch noch viel vor. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Dr. Ilja Seifert von der Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Es war einmal ein Müller. Als er sein Ende nahen fühlte, rief er seine Familie zusammen und sprach: Du, Ältester, bekommst die Mühle. Dir, Mittlerer, hinterlasse ich den Esel, und du, Jüngster, sollst mit dem Kater dein Glück versuchen. - Als er so alles geregelt sah, starb er friedlich im Kreise seiner Lieben. Wie das Märchen weitergeht, ist allgemein bekannt; das brauche ich hier nicht vorzutragen. Seltener steht genau dieser Anfang im Mittelpunkt der Überlegungen. Liegt das vielleicht an der ruhigen Gelassenheit, die diese Szene ausstrahlt, oder an ihrer Märchenhaftigkeit? Sterben im Kreise der Familie; ringsum Wärme; in Ruhe seine Angelegenheiten ein letztes Mal ordnen; die Lieben um sich haben; alles ohne Pathos, ohne sentimentale Rührseligkeit; sich von seinen Lieben verabschieden können; die Würde des Augenblicks genießen. - Traumhaft! Märchenhaft! Wer wollte das - sterben wie im Märchen - nicht? Wir aber leben in der Wirklichkeit, und wir sterben auch wirklich. Das ist eine ernste Angelegenheit, aber wir verdrängen sie, reden kaum darüber, wissen nicht, wie wir uns verhalten sollen, wenn es so weit ist, weder beim eigenen Sterben - das kann man ohnehin nicht „üben“ - noch dann, wenn die Liebsten von uns gehen. Heute geben uns der Antrag vom Bündnis 90/Die Grünen und die Erinnerung an die gute Arbeit der Enquete-Kommission „Ethik und Recht der modernen Medizin“ Gelegenheit, über diese Fragen wieder einmal öffentlich nachzudenken. Ich finde das richtig. Wo und wie wird denn heutzutage gestorben? Was wird dabei getan? Was wird gesagt, oder wie laut wird dabei geschwiegen? Wer wagt es denn überhaupt, auszusprechen, dass es zu Ende geht? Ärzte versuchen, oft in verzweifelter Hilflosigkeit, noch Heilungschancen auszuloten. Oder spielen sie den Betroffenen, den Angehörigen und sich selbst nur etwas vor? Ist es für sie vielleicht zu schwer, die Wahrheit auszusprechen? Dürfen sie es womöglich gar nicht? Jedenfalls sterben viele Menschen im Krankenhaus. Als Letztes sehen sie ihre Ärztin oder ihren Arzt; manchmal ist es auch eine Schwester, die ihnen die Hand hält. Wenn sie die Zeit dazu findet. Kosteneinsparprogramme im Gesundheitswesen verhindern das leider immer häufiger. Im vorliegenden Antrag werden zahlreiche Punkte benannt - meines Erachtens sind es etwas zu viele; aber das ist eine Sache, die wir im Ausschuss klären können -, die neu geregelt werden sollen. Vielem kann die Linke gut zustimmen. Gläubigen Menschen bleibt der Priester. Vielleicht spendet seine Anwesenheit dieser oder jenem Trost? Die Liebe der Angehörigen kann er nicht ersetzen. Den Angehörigen das Abschiednehmen auch nicht. Manche finden Sterbebegleitung im Hospiz; darüber wurde schon sehr viel geredet. Im Hospiz ist das Tabu allgegenwärtig: ein ganz bewusster Umgang mit dem letzten Lebensabschnitt. Fast könnte man meinen, hier seien wir dem Märchentraum am nächsten. Aber Hospize sind noch immer rar. Ich weiß von vielen Menschen, darunter solchen mit sehr unterschiedlichen Beeinträchtigungen, die ihre Familie praktisch nicht kennen. Sie leben in Einrichtungen. Im Zeitregime des Heims ist Sterbebegleitung kein abrechenbarer Faktor. Manchmal gibt es - ähnlich wie in etlichen Krankenhäusern - separate Räume, in die die Betten mit denjenigen geschoben werden, bei denen vermutet wird, dass sie nicht mehr lange leben. Nicht wenige verbrachten so schon mehrere Nächte, manchmal Wochen in diesen Separees. Das ist alles andere als menschenwürdig und alles andere als erstrebenswert. ({0}) Warum versammeln sich nicht die Mitbewohnerinnen und Mitbewohner - ähnlich der Familie im Märchen - um die Sterbenden? Warum wagen die Betroffenen es kaum, sie - analog zum Vater, der sein Ende nahen fühlt - zu sich zu rufen? Wird ihnen diese Möglichkeit überhaupt irgendwann im Leben eröffnet? Wird ihnen überhaupt gesagt, dass es diese Möglichkeit gäbe? Oder lohnt es sich nur nicht, weil eh keine Angelegenheiten zu ordnen sind, sprich: kein Vermögen zu vererben ist? Damit bin ich wieder bei der Familie. Es soll ja auch die noch geben, und wer sie hat, soll glücklich sein. Warum aber wagt selbst in solchen Gemeinschaften, die gemeinhin und sogar von den Beteiligten selbst als gut funktionierend betrachtet werden, kaum jemand, sich ihr oder sein Lebensende als gemeinsame Erfahrung vorzustellen und diesen Wunsch laut zu äußern? Merkwürdigerweise fürchten sich nur wenige Menschen vor dem Tod, aber sehr viele vor dem Sterben. Die Gründe sind hier schon aufgezählt worden. Niemand möchte unter quälenden Schmerzen, sehenden Auges und wachen Geistes die eigene Körperlichkeit dahinsiechen erleben. Mit dem vorliegenden Antrag soll versucht werden, viele damit im Zusammenhang stehende Probleme zu regeln. Es geht um bessere Pflege, um moderne Schmerzund Palliativmedizin, um weniger separierende Heime, um das Leben und Sterben mit Assistenz in der eigenen Wohnung und vieles mehr. Das alles sind wichtige Punkte, die besprochen werden müssen. Ich halte es insgesamt für wichtig - das stellen wir von der Linken heute einmal in den Mittelpunkt -, dass wir überhaupt das Schweige-Tabu des Sterbens brechen. Kaum jemand möchte doch seinen liebsten Angehörigen und besten Freunden zumuten, dem Sterben beizuwohnen. Ja, warum eigentlich nicht? Unsere Kultur, all unsere Erziehung, unsere eigene Angst vor der Begegnung mit dem Tod lassen uns vor Derartigem noch immer zurückscheuen. Ja, wir schämen uns sogar solcher Gedanken und Wünsche - für den Fall, dass sie einmal aufkommen sollten. Warum eigentlich? Viele Märchen, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, spiegeln sehr reale Gesellschaften wider. Indem sie die Wünsche, Sehnsüchte und Träume in Erfüllung gehen lassen, zeigen sie Möglichkeiten auf - Handlungsoptionen! Unsere Wirklichkeit ist nicht unveränderbar: Also lasst uns das Sterben in die Mitte holen, und wir werden besser leben. Danke vielmals. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort als nächster Redner hat der Kollege Hubert Hüppe von der CDU/CSU-Fraktion.

Hubert Hüppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000975, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die meisten Menschen wünschen, dass das medizinisch Notwendige und Sinnvolle getan wird. Kein Mensch möchte unter starken Schmerzen leiden. Niemand möchte abgeschoben werden und einsam sterben. Deswegen ist es gut, dass wir heute nicht über das Thema „Töten auf Verlangen“ oder über Euthanasie reden, sondern darüber, wie wir es schaffen, dass die Menschen am Lebensende pflegerisch, medizinisch und seelsorgerisch so versorgt werden, dass sie keine Angst vor einem unwürdigen Tod haben müssen. Meine Damen und Herren, wir debattieren heute auch über den Zwischenbericht der Enquete-Kommission „Ethik und Recht der modernen Medizin“ aus der letzten Legislaturperiode. Die Enquete-Kommission hat mit ihrem über 80 Seiten umfassenden Bericht wertvolle Arbeit im Bereich Palliativmedizin und Hospizarbeit geleistet. Abgeordnete und externe Sachverständige haben zusammen nicht nur eine Analyse der damaligen Situation geliefert, sondern einen Katalog von konkreten Empfehlungen erarbeitet. Wie gut diese Arbeit und auch die Zusammenarbeit waren, zeigt sich auch daran, dass inzwischen viele Empfehlungen vom Deutschen Bundestag umgesetzt worden sind. Ich bin mir - ich sage das auch ganz offen - nicht sicher, ob es genauso gekommen wäre, wenn wir diesen Rat nur von außen erhalten hätten. ({0}) Wir haben Details umgesetzt, Dinge, die nicht so wichtig erscheinen, die aber für die Praxis wichtig sind, wie zum Beispiel die Änderung der Betäubungsmittelverschreibungsverordnung. Jetzt kann man zum Beispiel nicht verbrauchte Schmerzmittel in stationären Hospizen weiterverwenden. Es gab aber auch grundlegende Verbesserungen - sie wurden schon häufiger erwähnt -: Zum Beispiel wurden die Finanzierung der ambulanten Palliativversorgung, die Einführung von ambulanten Palliative-Care-Teams, die Absenkung des Eigenfinanzierungsanteils beim Aufenthalt zumindest in stationären Kinderhospizen und die Freistellung von Angehörigen für die Pflege und Sterbebegleitung bei der letzten Gesundheitsreform und bei der Pflegereform beschlossen. Darüber hinaus wurden im Rahmen der Pflegereform auch noch weitere Verbesserungen vorgenommen, die auch nicht unwichtig sind, zum Beispiel die Verkürzung der Begutachtungsfrist auf fünf Tage bei Menschen, die sich in einem stationären Hospiz befinden, oder auch die Möglichkeit zum Vertragsabschluss mit Einzelpflegekräften, was die ganze Pflegehilfe für denjenigen angenehmer macht, der nicht dauernd mit wechselndem Personal zu tun haben will. Auch das, meine Damen und Herren, sind wichtige Maßnahmen zugunsten der Betroffenen. Wenn ich sage, dass wir vieles gesetzgeberisch auf den Weg gebracht haben, heißt das leider noch nicht, dass auch alles in der Praxis umgesetzt wurde. Das gilt insbesondere für die ambulante Palliativversorgung. Das ist mir deswegen so wichtig, weil die Menschen - das sagen alle Umfragen - zu Hause sterben wollen und nicht, wie es jetzt leider noch zu 70 Prozent Realität ist, in Einrichtungen. Nachdem der Bundestag die sogenannte spezialisierte ambulante Palliativversorgung in den Leistungskatalog der Krankenkassen aufgenommen hat, ist mit einigen Monaten Verspätung im März dieses Jahres die Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses in Kraft getreten. Nun schaffen die Spitzenverbände entsprechende Rahmenempfehlungen, auf deren Grundlage Verträge mit Leistungserbringern abgeschlossen werden. So kompliziert sich das anhört, so kompliziert ist es auch. Auf diese Weise geht weiter kostbare Zeit verloren, und die Mittel, die zum Teil schon im letzten Jahr für diesen Zweck zur Verfügung gestellt worden sind, sind nicht mehr vorhanden und können nicht mehr im Sinne der betroffenen Menschen abgerufen werden. Deswegen an dieser Stelle meine Bitte an diejenigen, die an diesen Verhandlungen beteiligt sind: Bitte beeilen Sie sich! ({1}) Selbst wenn man Gefahr läuft, den einen oder anderen Fehler zu machen - diese Fehler kann man wieder korrigieren. Es werden Fehler gemacht werden; denn das ist ja eine ganz neue Leistung mit vielen neu beteiligten Leistungserbringern. Aber es ist wichtig, dass man den Menschen zu Hause helfen kann. Meine Bitte an die Länder - ich habe mit Praktikern gesprochen und festgestellt, dass es da, wo in den Ländern bereits gehandelt wird, zum Beispiel in Hamburg und Schleswig-Holstein, gut läuft -: Nehmen Sie sich der Aufgabe an; steuern und koordinieren Sie den Prozess, damit es zu schnellen und vernünftigen Verhandlungen kommt! Zum Schluss noch einige Bitten an die Kassen und Leistungserbringer. Bei den Vertragsverhandlungen scheint zwar die Hospizbegleitung in Altenheimen und Pflegeheimen vorgesehen zu sein, aber nicht - so sagt mir zum Beispiel der ambulante Hospizdienst für Kinder - in Kinderheimen und verschiedenen Behinderteneinrichtungen. Die Begründung der Kassen war bisher, dies sei nicht ausdrücklich im Gesetz geregelt. Das halte ich für falsch. Es ist falsch, wenn man die betroffenen Kinder ausschließen würde. Wenn sie in einem Kinderheim oder Kinderhospiz sind, müssen sie auch die Möglichkeit der Palliativversorgung haben. ({2}) Meine zweite Bitte - es ist verständlich, dass ich dies als Beauftragter meiner Fraktion für die Belange von Menschen mit Behinderungen sage - ist, dass wir auch auf die besonderen Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen eingehen, insbesondere von Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung. Ich denke, es ist wichtig, dass man deren Bedürfnisse wahrnimmt und auf sie eingeht und dass auch die Leistungserbringer sich darauf einstellen, dass das eine andere Gruppe mit speziellen Bedürfnissen ist. Eine letzte Bitte an alle Beteiligten, auch an uns: Eine gute Palliativversorgung sicherzustellen, medizinisch und pflegerisch, muss unser gemeinsames Ziel sein. Aber es darf nicht passieren - darauf lege ich sehr viel Wert -, dass die bezahlte Versorgung die nichtbezahlte ehrenamtliche Bürgerbewegung der Hospizlandschaft mit all ihrem Fachwissen in den Hintergrund drängt. ({3}) Nur wenn es uns gelingt, beides sicherzustellen, werden wir ein Angebot haben, das den Bedürfnissen der sterbenden Menschen gerecht wird. Vielen Dank fürs Zuhören. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Wolfgang Wodarg von der SPD-Fraktion.

Dr. Wolfgang Wodarg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002828, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte zunächst etwas zu der Reihenfolge sagen, in der wir die Themen, die mit Tod und Sterben zu tun haben, in diesem Hause behandeln. Wir sprechen heute über Palliativmedizin, das heißt über das, was getan werden muss, damit die Menschen in der letzten Phase ihres Lebens Hilfe bekommen. In einer zweiten Sitzung werden wir dann über die Patientenverfügung sprechen. Auch die Enquete-Kommission hat festgestellt, dass diese Reihenfolge richtig ist. Wir müssen erst die Hilfe organisieren und dafür sorgen, dass Menschen nicht verzweifelt sind. Denn wenn sie verzweifelt sind, dann bekommen sie Angst. Aus dieser Angst heraus schreiben sie Patientenverfügungen. Davon profitieren Notare und Rechtsanwälte. Dieser Ansatz ist vom Ende her gedacht und daher falsch. Wir wollen eine gute Palliativmedizin. ({0}) Der Gesetzgeber hat vieles möglich gemacht; das haben wir gehört. Wir haben Geld für die Hospizbewegung zur Verfügung gestellt. Wir haben ein Recht auf Palliative Care im Gesetz festgeschrieben. Hubert Hüppe hat eben mehrfach darum gebeten, dass doch etwas geschehe. Dies zeigt, dass noch nicht genug umgesetzt wurde; das muss uns nachdenklich machen. Wir hoffen aber, dass bald konkrete Hilfe zur Verfügung steht. Wenn das nicht der Fall wäre, dann hätten wir die ganze Arbeit umsonst und Politik an den Problemen vorbei gemacht. Dieser Gefahr müssen wir uns stellen. Es muss Anreize für diejenigen geben, die Verantwortung tragen, das Richtige zu tun. Es muss sich für diejenigen, die sich um Sterbenskranke kümmern, lohnen, dass sie Palliative-Care-Strukturen schaffen. Wer ist dafür verantwortlich, wer muss hier noch aktiv werden? Die Zivilgesellschaft tut eine Menge. In den Gemeinden melden sich viele ehrenamtliche Helferinnen und Helfer. Es werden Hospizvereine gegründet, die wir fördern. Auch Krankenhäuser und Ärzte versuchen, entsprechende Hilfe anzubieten und spezielle Angebote weiterzuentwickeln. Es entstehen Palliativstationen und Hospize. Aber es fehlt immer noch an einer flächendeckenden Versorgung in diesem Bereich. Die Strukturverantwortung haben diejenigen, die über das Geld verfügen, um die Versorgung zu gestalten. Bei uns sind in erster Linie die Krankenkassen und die Pflegekassen dafür verantwortlich. Wir haben ein großes Problem, dass hier zwei Versicherungen sozusagen nebeneinander arbeiten: die Krankenversicherung und die Pflegeversicherung. Häufig kommt es vor, dass Menschen beide Versicherungen brauchen und beide in Anspruch nehmen. Die Pflegeversicherung ist eine Teilkaskoversicherung; die Krankenversicherung bezahlt das Notwendige und fragt nicht nach einzelnen definierten Leistungen. Die Pflegeversicherung ist aber die kostengünstigere Lösung. Daher gibt es Verschiebebahnhöfe. Das sehen wir besonders im stationären Bereich in den Pflegeheimen. Wir müssen uns die Situation dort genauer anschauen. Ich denke, es kommt in vielen Pflegeheimen zu Fehl- und Unterversorgungen, wenn es um Palliative Care geht. Diesen Bereich kann man nicht mit wenig Personal abdecken; das geht nicht. Palliative Care ist nicht nur in Krankenhäusern und Hospizen notwendig. Gehen Sie einmal in die vielen stationären Pflegeeinrichtungen, in denen Menschen die letzten Monate ihres Lebens verbringen müssen. Die Pflegeversicherung bezahlt eine Pauschale, und das war es dann. Wo bleibt da Kraft für Palliative Care? Wie soll die Finanzierung aussehen? Wenn wir es ehrlich mit diesem Thema meinen, müssen wir uns diesen Fragen stellen. Jeder weiß, dass die letzten sechs Monate im Leben eines Menschen die teuersten sind. Das ist nichts Neues. Wir wollen, dass die Krankenkassen sich anstrengen und auch dann etwas für ihre Versicherten tun. Stellen Sie sich aber vor, eine Krankenkasse würde Verträge schließen, um eine flächendeckende und vorzügliche Palliativversorgung zu ermöglichen. Wenn sich das bei den Krebskranken herumsprechen würde, dann würden alle in diese Krankenkasse wechseln. Das würde aber bedeuten, dass die Kasse für ihr Engagement finanziell bestraft und möglicherweise pleitegehen würde, wenn andere Kassen nicht auch nachziehen würden. Sie müsste möglicherweise die Beiträge erhöhen, nur weil sie das tut, was eigentlich notwendig ist. Hier wirkt sich der Kassenwettbewerb, der immer noch besteht, negativ aus, weil notwendige Leistungen dann nicht erbracht werden, wenn sie teuer sind. Dieser Wettbewerb ist fehlleitend. Er ist einer der Hauptursachen dafür, warum wir in Deutschland noch keine flächendeckende Palliativversorgung haben. Wir müssen dafür sorgen, dass alle Krankenkassen dieser Verpflichtung nachkommen. Das können wir dadurch tun, dass wir die Morbidität ausgleichen. Das soll durch den morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich geschehen, den wir beschlossen haben. Er dient dazu, die Kasse zu belohnen, die solche Themen in Angriff nimmt. Jetzt höre ich es aber munkeln, dass man einen Rückzieher machen und den Morbi-RSA abschwächen will, der ja an den Gesundheitsfonds geknüpft ist. Er kommt vielleicht gar nicht. Wenn wir diesen morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich nicht verwirklichen, dann wird es sich weiterhin nicht lohnen, sich um teure Kranke zu kümmern. Das müssen wir wissen; ansonsten ist all das, was wir hier machen, Schall und Rauch. Ich weiß, dass diese Aussage wehtut. Ich weiß, dass da viele andere Argumente eine Rolle spielen; aber diese wichtigen Zusammenhänge kann man nicht unerwähnt lassen. Wir haben den Bereich der Pflegeversicherung neu gestaltet und haben vieles möglich gemacht. Wir wollen, dass sich die Gemeinden im Rahmen der Daseinsvorsorge dort, wo die Menschen leben - „Daheim statt Heim“, sagen wir in unserem Zusammenschluss, den wir gegründet haben und den wir fördern; viele von uns nehmen daran teil -, darum kümmern, dass man zu Hause in vertrauter Umgebung alt werden darf, behindert sein kann und trotzdem Hilfe erhält und sterben darf, so wie man möchte. Dazu bedarf es professioneller Unterstützung, und die kostet Geld. Es ist für eine Gemeinde sehr schwierig, die Player aus der Pflegekasse und der gesetzlichen Krankenkassen, die in diesem Zusammenhang eine Rolle spielen und Verantwortung tragen, vor Ort zusammenzubekommen. Die von uns geplanten Pflegestützpunkte, die wir in Deutschland flächendeckend einführen wollen, sollen diese koordinierende Funktion übernehmen. Sie sollen die Stelle sein, bei der man Defizite in der Versorgung benennt, wo die Kostenträger vor Ort zusammenkommen und sich Gedanken darüber machen, wie die Versorgung verbessert werden kann, wo die Ansprüche der Bevölkerung angemeldet werden können und über vernünftige ortsangemessene Lösungen diskutiert werden kann. Das alles haben wir als Gesetzgeber möglich gemacht. Das ist ein großes Verdienst der Pflegeversicherung, die wir neu gestaltet haben. Dies muss jetzt vor Ort umgesetzt werden. Dabei sind die Länder besonders gefragt; denn es liegt in der Hand der Länder, die koordinierende Funktion der Pflegestützpunkte gesetzlich festzulegen oder dies zu verweigern. Ich appelliere also an die Länder, ihre Verantwortung für die Daseinsvorsorge auch hier wahrzunehmen. Wie Sie sehen, ist dies ein Thema, bei dem es vor allem auch ums Geld geht. Ich denke, dass das Modell, über das wir diskutieren - ganz anders, als viele meinen -, sehr viele wirtschaftliche Vorteile bringen kann. Wenn wir Menschen zu Hause lassen, wenn wir eine Krankenhauseinweisung vermeiden, dann sparen wir bei jedem Fall 20 000 bis 30 000 Euro. Davon, also von einem vermiedenen Krankenhausaufenthalt, kann eine Pflegekraft ein ganzes Jahr lang finanziert werden. Dies muss die Krankenkassen und die Pflegekassen doch hellhörig machen. Wie viel Vernünftiges kann man durch Prävention und gute Begleitung tun: Man kann gleichzeitig Leid und Kosten vermeiden. Das ist eine Win-win-Möglichkeit, die wir viel zu wenig ergreifen. Ich glaube, dass wir noch viel zu tun haben und in der Praxis noch viel von dem umzusetzen haben, was wir theoretisch in der Enquete-Kommission erarbeitet und in das Gesetz geschrieben haben. Es reicht nicht, wenn die Dinge im Gesetz stehen. Wir müssen dafür sorgen, dass sie auch geschehen. Das wollen wir gemeinsam in Angriff nehmen! Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat das Wort der Kollege Hermann-Josef Scharf von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Hermann Josef Scharf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003876, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ein Lebensende in Würde verbringen zu können, ist der Wunsch eines jeden Menschen. Ziel der Pflege von Sterbenden ist es, dem schwerkranken Menschen so lange wie möglich ein Gefühl des Wohlbefinden zu verschaffen, damit er, wenn er es will, frei wird, um sich seelisch und geistig auf den Tod vorzubereiten. Die Auseinandersetzung mit dieser Aufgabe führte zu der heutigen Hospizbewegung. Aber die dahinterstehende Idee ist weit umfassender. Das lateinische Wort „hospitium“ in der Bedeutung von „Herberge“ und „Gastfreundschaft“ sagt für den Hospizgedanken das Wesentliche: Hilfe und Schutz für den Kranken in der letzten Phase seines Lebens, der letzten Strecke seines irdischen Daseins. In ebendieser letzten Phase benötigen die häufig schwerkranken Menschen Schmerzlinderung und umfänglichen Beistand. Die Palliativmedizin und die Hospizarbeit leisten hierbei wichtige Dienste. Für uns von der Union war es daher ein großes Anliegen, die Stärkung der Hospizarbeit und der Palliativmedizin im Koalitionsvertrag festzuschreiben. Durch die Aufnahme der integrativen hospizlichen Versorgung in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen mit der Gesundheitsreform haben wir dieses Ziel weitgehend erreicht. Seither haben Versicherte einen Anspruch auf eine spezialisierte ambulante Palliativversorgung, die durch ihre Ausgestaltung den Wunsch vieler Frauen und Männer erfüllt, bis zum Tod in der vertrauten Umgebung betreut zu werden. Durch diese bedarfsgerechte Palliativversorgung wird die ambulante Pflege am Lebensende erheblich verbessert und eine Vernetzung von vorhandenen Strukturen vor Ort erreicht. Krankenhäusern ist es nun möglich, ihre hochspezialisierten Leistungen auch ambulant anzubieten. Das ist ein neues, gutes Angebot. Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass ambulante Hospizdienste ihre Dienste nun nicht mehr nur im privaten Bereich, sondern auch in Alten- und Pflegeheimen, wo sie meines Erachtens dringend benötigt werden, anbieten können. Aber auch durch die Pflegereform sind zahlreiche Leistungsverbesserungen entstanden, die die Situation von Menschen am Lebensende und die ihrer Familien wesentlich verbessern. Ich denke an die Möglichkeit für Angehörige, bis zu sechs Monate Pflegezeit mit Rückkehranspruch an den Arbeitsplatz zu nehmen, um Zeit für den Sterbenden zu haben. Bei einem akut auftretenden Pflegefall ist eine kurzfristige Freistellung von bis zu zehn Werktagen möglich. Die Fristen zur Begutachtung durch den medizinischen Dienst wurden wesentlich verkürzt, um den Betroffenen schnell Sicherheit für die notwendige Hilfe zu geben. So muss bei Menschen, die bereits in einem Hospiz sind oder in häuslicher Umgebung palliative Leistungen erhalten, innerhalb einer Woche die Entscheidung über das Gutachten vorliegen. Auch die Erhöhung des Pflegegeldes wird die Situation der pflegenden Angehörigen verbessern. Wir sollten der aktiven Sterbehilfe diese guten Alternativen entgegensetzen. ({0}) Der Tod, das Sterben gehört zum Leben. In der Hospizbewegung geht es, wie schon gesagt, um die Bedürfnisse unserer Sterbenskranken. Was brauchen wir auf unserem letzten Lebensweg? Bei den Missionarinnen der Nächstenliebe, den Schwestern von Mutter Teresa in Indien, habe ich eine Antwort gefunden: „Hände, die zum Dienen bereit sind, und ein Herz, das lieben will.“ Die bereits heute in vielen Krankenhäusern, Heimen, Hospizen und in häuslicher Umgebung geleistete Sterbebegleitung und die palliativmedizinische Betreuung sind von ganz zentraler Bedeutung. Diese wollen wir als CDU/CSU nachhaltig unterstützen. Herzlichen Dank. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/9442 und 15/5858 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf: Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Tätigkeitsbericht 2005 bis 2007 der Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen und Stellungnahme der Bundesregierung - Drucksache 16/9000 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({0}) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Kultur und Medien Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin das Wort der Parlamentarischen Staatssekretärin Dagmar Wöhrl.

Dagmar G. Wöhrl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002829

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Gerade angesichts der vorherigen Ausführungen ist es jetzt nicht ganz einfach, das Thema zu wechseln. Wir kommen jetzt zum Bericht der Bundesnetzagentur. Wir wissen, dass wir 2005 durch die Neufassung des Energiewirtschaftsgesetzes die Rahmenbedingungen für die leitungsgebundene Energiewirtschaft geschaffen haben. Unser Ziel war die Netzregulierung für einen wirksamen Wettbewerb bei Erzeugung und Vertrieb. Der erste Tätigkeitsbericht liegt uns jetzt vor. Er gibt uns einen guten Überblick darüber, wie weit wir gekommen sind und wo noch weitere Arbeit auf uns wartet. Der Erfahrungszeitraum war relativ kurz. Nichtsdestoweniger zeigt uns der Bericht, dass große Fortschritte gemacht worden sind. Ein Beispiel ist die Kontrolle der Netzentgelte. Die Bundesnetzagentur hat schon bei der ersten bundesweiten Genehmigungsrunde die von den Netzbetreibern beantragten Entgelte teilweise gekürzt. Auch haben wir der Bundesnetzagentur die Möglichkeit an die Hand gegeParl. Staatssekretärin Dagmar Wöhrl ben, Vorschriften zur Entflechtung des Netzbetriebes auf der Basis des neuen Energiewirtschaftsgesetzes von 2005 durchzusetzen. Dazu gibt es schon heute Vorgaben. Wir wissen natürlich, dass die Bundesnetzagentur auf einem schwierigen Feld arbeitet. Es ist nicht immer einfach, bei Entscheidungen die Balance zwischen Preisgünstigkeit und der Versorgungssicherheit zu finden. Sie muss an die Interessen des Wettbewerbs genauso wie an das Interesse an weiteren Investitionen in die Leitungsnetze denken. Ich glaube, das ist ihr bis jetzt sehr gut gelungen. Steigende Energiepreise lösen zurzeit große Unruhen aus. Wir müssen bei diesem Thema sehr aufpassen, als Politiker nicht den Eindruck zu erwecken, dass sich globale Entwicklungen einfach lösen lassen. Einzelaktionen sind die falsche Reaktion, und auch einfache Antworten auf dieses Problem gibt es nicht. ({0}) Günstige Energiepreise sind nicht allein durch Netzregulierung zu erreichen. Netzentgelte machen etwa 30 Prozent der Preise aus. Sie sind also nur eine von mehreren Kostenblöcken. Es gibt viele Ursachen: die Entwicklung der Primärenergiekosten, die staatlich veranlassten Preisbestandteile - das ist ganz klar -, ({1}) die sich auch auf die Preise auswirken, ein noch nicht hinreichender Wettbewerb; auch das ist ein Thema. Wir müssen natürlich sagen, dass die Nachfrage nach Energie weltweit steigt und dass dadurch die Situation auf längere Sicht nicht einfacher wird. Wir sollten auch ganz ehrlich sagen - darin stimme ich der FDP zu -, dass seit der Marktöffnung 1998 sehr viele umweltpolitisch motivierte Entscheidungen getroffen worden sind. Das kann man nicht wegdiskutieren, und das wollen wir in diesem Zusammenhang auch gar nicht machen. Diese Entscheidungen haben weder den Bau neuer Kraftwerke noch die Bereitstellung eines hinreichenden Angebots von Strom erleichtert. ({2}) Die Zahl der staatlich veranlassten Preisbestandteile hat zugenommen, ich erspare mir hier eine Aufzählung. Für uns stellt sich schon die Frage: Wie gehen wir mit diesen Problemen um? ({3}) Der Wettbewerb ist ein wichtiges Thema. Wir brauchen in diesem Bereich mehr Wettbewerb. Aber - das sage ich hier ganz ausdrücklich - wir brauchen keine staatliche Preissetzung. Wir brauchen auch keine staatlich vorgeschriebenen Sozialtarife. ({4}) Dass dieses Thema populär ist, ist klar, aber diese Forderung ist realitätsfremd. Die Idee, dass die Privatwirtschaft zu einem Träger der Sozialpolitik werden soll, ist kein Schritt auf dem Weg, den wir einschlagen sollten. Man kann die Privatwirtschaft nicht dazu zwingen. Was würde es außerdem bedeuten, wenn man sie dazu zwingen würde? Das würde nur bedeuten, dass die übrigen Verbraucher mit höheren Kosten rechnen müssten. Hier macht man es sich zu einfach, weil man dadurch das Problem in die Zukunft verschiebt. Energieeffizienz und Energieeinsparung sind wichtige Themen, derer sich die Regierung angenommen hat. Wir haben jetzt im Bundeskabinett den zweiten Teil des IEKP beschlossen. Ich habe mich sehr gefreut, als ich eine Studie der BP gelesen habe. Denn sie zeigt, dass in Deutschland der Energieverbrauch um 5,6 Prozent gesunken ist; in der Europäischen Union ist er im Durchschnitt um nur 2,2 Prozent gesunken. Weltweit ist der Verbrauch von Primärenergie leider um 2,4 Prozent gestiegen. Das sind Probleme, die uns nicht nur kurzfristig, sondern auch mittelfristig und langfristig beschäftigen werden. Ich glaube, es ist wichtig zu sagen, dass wir uns in den letzten zwei Jahren nicht zurückgelehnt haben. Wir haben viel auf den Weg gebracht, auch um zu mehr Wettbewerb zu kommen. Minister Glos hat schon im Herbst 2006 das erste Maßnahmenpaket auf den Weg gebracht. Wir haben die vier Rechtsverordnungen zu den allgemeinen Geschäftsbedingungen der Energieversorger beschlossen. Damit haben wir die Verbraucherrechte gestärkt und - was wichtig ist - die Möglichkeiten für Lieferantenwechsel verbessert. Die Zahlen zeigen: Der Wettbewerb um die Haushaltskunden, den wir immer wollten, hat an Fahrt gewonnen. Mindestens doppelt so viele Haushalte wie 2006 haben letztes Jahr ihren Lieferanten gewechselt. Wir haben die Kraftwerks-Netzanschlussverordnung auf den Weg gebracht. Die Anreizregulierung gilt ab Januar nächsten Jahres. Sie soll auch eine Motivation für die Netzbetreiber sein, ihre Strom- und Gasnetze effizienter zu betreiben. Im Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen haben wir die kartellrechtliche Preismissbrauchsaufsicht verschärft, sodass strenger gegen Preistreiber vorgegangen werden kann. Wir wissen aufgrund der ersten Fälle in diesem Bereich, dass dieses Gesetz vom Bundeskartellamt auch angewandt wird. Auch das Gesetz zur Öffnung des Messwesens bei Strom und Gas für Wettbewerb will ich hier nicht verschweigen. Dadurch geben wir dem Verbraucher die Möglichkeit, sich für neue Zähler zu entscheiden, die mehr Informationen über den Stromverbrauch geben. Ich glaube, die Beispiele, die ich einzeln aufgezählt habe, zeigen, wie wichtig dieses Thema für uns ist, wie wichtig diese Probleme für uns sind, dass wir uns dieser Probleme schon in der Vergangenheit angenommen haben und uns in Zukunft ihrer weiter annehmen werden. Das heißt, wir haben nicht nur angekündigt, sondern auch geliefert. In dem Sinne vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Gudrun Kopp von der FDP-Fraktion.

Gudrun Kopp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003160, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Herren und Damen! Frau Kollegin Wöhrl hat eben vorgetragen, was die Bundesregierung an kleinteiligen Maßnahmen zur Stärkung des Wettbewerbs an der einen oder anderen Stelle auf den Weg gebracht hat. Davon ist vieles richtig und gut. Aber zur Energiepreisentwicklung haben Sie lediglich festgestellt, dass die Politik, dass der Staat, dass die frühere und die jetzige Bundesregierung einen ganz erheblichen Anteil an der Preisgestaltung haben. Ich sage nur: 40 Prozent des Strompreises und 30 Prozent des Gaspreises beruhen auf Steuern und Abgaben, die durch die vorherige und durch die jetzige Bundesregierung verursacht wurden. Das kneift den Normalverbraucher in ganz besonderer Art und Weise. ({0}) Leider haben Sie überhaupt nicht gesagt, was Sie dagegen unternehmen wollen. ({1}) Einfach nur festzustellen, dass sich die Steuern und Abgaben auf Energie von 2,2 Milliarden Euro im Jahre 1998 auf derzeit über 13,7 Milliarden Euro erhöht haben, reicht nicht. Das ist mehr als eine Versechsfachung der politisch verursachten Lasten auf den Energiepreisen. Auch die Regierungserklärung der Kanzlerin heute Morgen war sehr enttäuschend. Sie zuckt mit den Achseln und sagt, man könne die Preise nicht senken, sie seien weltwirtschaftlich begründet und man könne leider nichts tun. ({2}) Das ist eine Bankrotterklärung vor politischem Handeln, das eigentlich nötig wäre. ({3}) Bei sich selbst anzufangen, wäre angesagt. ({4}) - Was die FDP macht, werde ich gleich gerne sagen. Wir sprechen heute über den Tätigkeitsbericht 2005 bis 2007 der Bundesnetzagentur. Hierzu stellen wir fest: Obwohl Regulierung ein schwieriger Prozess ist, sind bisher schon viele Regulierungsmaßnahmen durchgeführt worden, die recht gut verlaufen sind. Daran waren wir beteiligt. ({5}) Ich füge aber hinzu: Wir hätten uns gewünscht, dass die Regulierung, die in den Monopolbereichen nach dem heutigen Stand der Dinge eine Daueraufgabe bleiben wird, beim politisch unabhängigen Bundeskartellamt angesiedelt wird; denn dort wäre diese Aufgabe besser aufgehoben. ({6}) Es wurde eine andere Entscheidung getroffen. Die Netze werden in Zukunft vom Bundeskartellamt reguliert, und im Netz reguliert die Bundesnetzagentur. Am 1. Januar 2009 beginnt die Anreizregulierung. Hierzu hat die Bundesnetzagentur zeitnah einen sachgerechten Entwurf vorgelegt, der strenge Maßnahmen zur Einführung einer Anreizregulierung enthielt. Leider hat die Bundesregierung diesen Entwurf stark verwässert bzw. politisch Einfluss genommen; das habe ich bereits kritisiert. Nun liegt ein weichgespülter Entwurf zur Anreizregulierung auf dem Tisch. Wir müssen beobachten, ob die Klage der Energieunternehmen über eventuell nicht auskömmliche Renditen tatsächlich berechtigt ist oder ob man darüber hinwegsehen kann. Das wird sich zeigen. Der wichtigste Punkt des vorliegenden Tätigkeitsberichts ist die Aufforderung an die Politik - sie richtet sich an uns alle -, die richtigen Rahmenbedingungen für den dringend notwendigen Netzausbau zu setzen. Wir wollen nicht nur, dass in Leitungen investiert wird und dass Leitungen verlegt werden, sondern auch, dass nach wie vor Wert auf die Qualität der Leitungen gelegt wird. ({7}) Hier besteht folgendes Problem: Es ist ein massiver Ausbau von Offshore-Windkraftanlagen, also von Windkraftanlagen auf hoher See, zu verzeichnen, während im Süden Kernkraftwerke abgeschaltet werden. Jedoch fehlen Leitungen von Norden nach Süden. Wir müssen den Spagat schaffen und diese Leitungen legen. Das wollen auch die Unternehmen sehr gern. Sie sehen sich aber mit dem Problem konfrontiert, dass die Genehmigungsverfahren sehr lange dauern, derzeit rund zehn Jahre. Diese Verfahren müssen beschleunigt werden. Hierfür wurde ein guter Ansatz entwickelt. Die dringend notwendigen Investitionen dürfen aber nicht dadurch konterkariert werden, dass, wie von der Bundesregierung geplant, zumindest teilweise auch eine Erdverkabelung vorgesehen wird. Ich möchte Ihnen ausdrücklich sagen: Das hätte eine enorme Verteuerung der Netzkosten um das Vier- bis Zehnfache zur Folge und wäre kontraproduktiv. ({8}) Was wir zur Stärkung des Wettbewerbs unbedingt brauchen, ist eine strukturelle Trennung von Netz und Produktion im Energiebereich. Insofern ist der Kompromiss, den die Bundesregierung in Brüssel erzielt hat, der sogenannte dritte Weg, aus unserer Sicht eher enttäuschend. ({9}) Denn er wird das, was wir uns erhoffen, nicht schaffen, nämlich mehr Wettbewerb. Das EU-Parlament hat gestern anders entschieden. Es wünscht sich eine Trennung. ({10}) Wir hätten uns gewünscht, dass die Bundesregierung mutiger gewesen wäre. ({11}) Sie hätte unseren Vorschlag einer unabhängigen Netz AG aufgreifen sollen. Diese könnte Investitionen beschließen, ohne dass die vier den Energiemarkt beherrschenden Unternehmen durch direkte Beteiligung darauf Einfluss haben. Leider ist das nicht geschehen. Der gestrige Beschluss des EU-Parlaments wird erneut zu Irritationen führen: Wie geht es jetzt weiter? Das ist nicht gut, weder für die Netzbetreiber, die gerne Netze bauen wollen, noch für das politische Umfeld. ({12}) Insofern kann ich Ihnen nur sagen: Ihre Hausaufgaben haben Sie allenfalls zum Teil erledigt. ({13}) Die Regulierung, über die wir heute diskutieren, ist allerdings auf einem guten Weg. Vielen Dank. ({14})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Rolf Hempelmann von der SPD-Fraktion.

Rolf Hempelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002671, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sprechen heute über den Tätigkeitsbericht der Bundesnetzagentur. Für die vielen Bundestrainer, die heute auf die Tribüne verbannt worden sind, sei gesagt: Das ist die Regulierungsbehörde, die sich um die Infrastruktur, um die Netze kümmert, und zwar nicht nur um die Energienetze, über die wir heute sprechen, sondern auch um die Netze für Telekommunikation, Post und Eisenbahnen. ({0}) Anders als meine Vorrednerin glaube ich, dass es gut ist, dass wir die damalige RegTP, die Regulierungsbehörde für Telekommunikation und Post, die hervorragend gearbeitet hatte, auch mit dem Bereich der leitungsgebundenen Energien - Gas und Strom - betraut haben. Der Tätigkeitsbericht zeigt, dass die Agentur in den letzten Jahren gut vorangekommen ist und erfolgreich gearbeitet hat. Sie hat, gerade bei den Übertragungsnetzen, einen weitgehend diskriminierungsfreien Netzzugang durchgesetzt; das weist sie uns in jeder Beiratssitzung nach. Insofern können wir sagen, dass die bisherige Entflechtung vom Grundsatz her durchaus gegriffen hat. Wir wissen aber gerade mit Blick auf Europa, dass wir in diesem Zusammenhang weitergehen müssen. Deswegen haben wir die Bundesregierung unterstützt bei ihrem Vorschlag - den sie ja nicht allein gemacht hat, sondern zusammen mit acht weiteren Mitgliedstaaten, die in eine ähnliche Richtung denken -, das Modell, das wir kennen und das erfolgreich ist, weiterzuentwickeln. Ich glaube, dass diejenigen, die sich näher mit der eigentumsrechtlichen Entflechtung befasst haben, wissen, dass vieles behauptet wird, aber weniges nachgewiesen ist. So ist zum Beispiel nicht nachgewiesen, dass eine eigentumsrechtliche Entflechtung zu sinkenden Netzentgelten oder zu steigenden Investitionen führt. Beides wäre schön, und das wären starke Argumente für eine eigentumsrechtliche Entflechtung; aber beides trifft nicht zu. Nun ist die Pattsituation zwischen Rat und Parlament entstanden. Es wäre sicherlich sinnvoll, dass, wie wir es im Wirtschaftsausschuss mehrfach angeregt haben, das Bundeswirtschaftsministerium mit den vier Übertragungsnetzbetreibern Kontakt aufnimmt, mit ihnen die Situation bespricht und sondiert, ob das, was unsere nationale Netzagentur macht, ein Modell wäre, das sich die Unternehmen vorstellen können bzw. das bei ihnen auf Gegenliebe stößt. Die Signale, die ich wahrnehme, sind ermutigend. Insofern sollte man das jetzt vorantreiben. Von sinkenden Netzentgelten war die Rede. Ich glaube, dass das gut ist und dass Monopolrenditen, jedenfalls weitgehend, der Vergangenheit angehören. Ich will aber darauf aufmerksam machen, dass wir uns nicht vorstellen sollten, dass die Netzentgelte auf viele Jahre hinaus dauerhaft weiter werden sinken können. Da wird es eine natürliche Grenze geben, ({1}) die einfach dadurch gesetzt ist, dass wir eine hohe Netzqualität haben wollen. Dazu benötigen wir Investitionen in das Netz. Bei der demnächst beginnenden Anreizregulierung ist es eine besondere Herausforderung, diese beiden Ziele - kosteneffizient geführte Netze und eine hohe Versorgungsqualität durch entsprechende Investitionen - miteinander in Einklang zu bringen. Es gibt Signale, dass sich auch die Bundesnetzagentur noch in Lernprozessen befindet. Das ist keine Schande; je mehr sie lernt, desto besser. Signale kommen nicht nur von den großen Unternehmen, sondern gerade auch von den Stadtwerken und von Unternehmen, die - was wir politisch sehr unterstützen - Offshore-Windprojekte ans Netz anbinden wollen. Es wird darauf ankommen, dass sich diese Risikoinvestitionen lohnen, dass eine Rendite dabei herausspringt, die marktüblich ist. Da ist die Bundesnetzagentur aufgefordert, für die entsprechenden Rahmenbedingungen zu sorgen. Die Staatssekretärin hat es schon angedeutet: Wir haben eine Menge getan, um der Bundesnetzagentur die Arbeit zu erleichtern. Wir haben eine Kraftwerks-Netzanschlussverordnung vorbereitet, mit der gerade neue Kraftwerke bevorzugt werden sollen. Wir haben im GWB einige Veränderungen vorgenommen, die es dem Bundeskartellamt erleichtern sollen, die großen Unternehmen zu überprüfen, um zu verhindern, dass sie ihre zugegebenermaßen starke Marktposition missbrauchen können. Schließlich haben wir das Mess- und Zählwesen liberalisiert; gerade in der letzten Woche haben wir das entsprechende Gesetz verabschiedet. Wir versprechen uns davon natürlich auch die Möglichkeit, dass der Verbraucher seine eigenen Verbräuche besser erkennt und steuert. Eben wurde das Stichwort Sozialtarife genannt - auch von der Bundesregierung. Dieses Thema muss uns sicherlich beschäftigen. Zuallererst denken wir daran, Instrumente zu schaffen, mit denen der Verbraucher in die Lage versetzt wird, Energie einzusparen. Es geht nicht nur um Preise, sondern auch um Kosten. Er soll seine Kosten entsprechend senken können. Dazu haben wir beispielsweise die Verpflichtung eingeführt, intelligente Zähler anzubieten. Auf diesem Weg müssen wir aber natürlich weitergehen, und wir müssen insbesondere denen helfen, die es nicht aus dem eigenen Portemonnaie leisten können, ineffiziente Geräte durch moderne, effiziente und stromsparende Geräte zu ersetzen. Ansätze dazu gibt es schon - beispielsweise im Marktanreizprogramm und im CO2-Gebäudesanierungsprogramm. Ich denke aber, dass wir das perfektionieren müssen. Meine Damen und Herren, eine Aufgabe bleibt dennoch, eine Aufgabe, die zu den Kernaufgaben des Gesetzgebers, aber auch der Bundesregierung, des Bundeswirtschaftsministeriums, gehört. Ich meine das angekündigte Gesetz zur Beschleunigung von Netzprojekten, das gestern im Kabinett beraten wurde. Dies wird letztlich dazu dienen, dass die Bundesnetzagentur noch erfolgreicher arbeiten kann. Es ist richtig - das wurde gerade auch von der Opposition angesprochen -, dass wir hier vorankommen müssen. Das bisher gültige Beschleunigungsgesetz hat nicht in dem Umfang gegriffen, wie wir uns das vorgestellt haben. Deswegen ist es eben umso wichtiger, dass wir hier vorankommen. Ich glaube, dass die Lösung beim Problem der Erdverkabelung, die jetzt gefunden worden ist, eine Lösung mit Augenmaß ist: Es handelt sich um eine Verkabelung in Modellregionen. Diese Lösung ist gegenüber den Vorstellungen, die es dazu in der Vergangenheit gab, deutlich eingegrenzt. Die Kostenaspekte wurden im Auge behalten. Insofern glaube ich, dass hier eine Voraussetzung für einen zügigen Netzausbau geschaffen wurde. Es ist klar: Die Erdverkabelung ist teurer. Ich denke aber, so, wie das jetzt angelegt ist, ist es gut begründet, gezielt und auch ausgesprochen restriktiv auf die Notwendigkeiten beschränkt. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Hans-Kurt Hill von der Fraktion Die Linke. ({0})

Hans Kurt Hill (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003767, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit der Einrichtung der Bundesnetzagentur wurde ein wichtiger Schritt zur Regulierung des Strom- und Gasmarktes gemacht; denn ob Schienen-, Gas- oder Stromnetze: Es verleitet zu Missbrauch, wenn sie in privater Hand sind. ({0}) Es ist Aufgabe der Bundesnetzagentur, dies zu kontrollieren. Dass hier viel Arbeit geleistet wurde, wird auch durch den Bericht gezeigt. Was stellen wir fest? Erstens. Die Kontrolle der Netze greift zu kurz. Zweitens. Mit der Einführung der Bundesnetzagentur wurde der öffentliche Einfluss auf die anderen Bereiche abgeschafft. Drittens. Was ist die Folge? Die Strom- und Gaspreise steigen ungebremst. Daneben findet bei der Netznutzung keine Lenkung hin zu Klimaschutz und Energieeffizienz statt. Auf diese Punkte möchte ich jetzt im Einzelnen eingehen. Zur Netzkontrolle am Beispiel des Stroms. Die Bundesnetzagentur hat die Netzkosten zugunsten der Verbraucherinnen und Verbraucher zwar erfolgreich verringert - im Ergebnis zahlte der Durchschnittshaushalt im Jahre 2007 33 Euro weniger für die Netznutzung -, aber der Strom wurde im letzten Jahr gleich mal um 60 Euro teurer. Grund ist die künstliche Verteuerung der Strompreise durch das Energiemonopol. Bei einem Etat der Bundesnetzagentur von 150 Millionen Euro bleibt die Wirkung für die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler eher gering. Damit sind wir beim zweiten Punkt, nämlich bei der Abschaffung der Tarifgenehmigung im Strombereich Mitte 2007. Seit diesem Zeitpunkt steigen die Strompreise schneller und unkontrollierter denn je. Die Linke fordert deshalb die Wiedereinführung der Strom- und Gaspreisaufsicht, die von der Bundesregierung abgeschafft wurde. Des Weiteren brauchen wir Verbraucherbeiräte. Sie garantieren den Stromkundinnen und -kunden Einblick und Mitspracherecht bei der Preisgestaltung. Der Stromsektor - damit komme ich zum dritten Punkt - ist vom fairen Wettbewerb weit entfernt. Grund hierfür ist, dass sich nach wie vor die vier großen Stromkonzerne - Eon, Vattenfall, RWE und EnBW - den Strommarkt in Deutschland untereinander aufteilen. Ein weiteres Mittel des Missbrauchs ist die Strombörse. Durch Manipulation und Spekulation werden die Stromkundinnen und -kunden mit rund 24 Milliarden Euro pro Jahr belastet. Das Phänomen ist neu; denn erst seit kurzem tummeln sich an dieser Börse auch Banken und die Finanzheuschrecken, nämlich die Hedgefonds. Sie wollen keinen Strom für ihre Büros kaufen; vielmehr wollen sie mit 25 bis 30 Prozent Profit ihren Reibach machen. Deshalb müssen wir uns damit befassen, wie die Kontrolle des Marktes und die Aufgaben der Regulierungsbehörde zu verbessern sind. Ich komme zum letzten Punkt. Die Strom- und Gasnetze müssen volkswirtschaftlichen Interessen dienen. Das zeigt auch die Bundesnetzagentur, indem sie beim Netzentgelt Gewinnobergrenzen festlegt. Interessant ist dabei, dass die Besitzer der Stromautobahnen wie Eon und Vattenfall genau dann das Interesse an den Netzen verlieren, wenn man ihnen auf die Finger schaut. Dennoch ist zu kritisieren, dass die Behörde nur das bestehende System verwaltet. Der Präsident der Bundesnetzagentur, Herr Kurth, tut sich manchmal schwer, Vorgaben des Gesetzgebers richtig zu deuten. Ich erinnere nur an die Erdkabelregelung an der Küste. Klimaschutz, erneuerbare Energien und Energieeffizienz haben eine hohe Bedeutung, doch die Bundesnetzagentur richtet ihre Arbeit nicht konsequent daran aus. Bundeswirtschaftsminister Glos als zuständiger Minister muss endlich Farbe bekennen. Notwendig sind die Ausrichtung der Netzgebühren am CO2-Ausstoß, ({1}) die Besserstellung von Kraftwerken, die Regelenergie für erneuerbare Energien liefern, und die Förderung von moderner Netzsteuerung, um mehr Windstrom ins Netz zu bringen. Es ist kein gutes Zeichen, wenn der Netzzugang für erneuerbare Energien zusätzlich über neue Regeln im Erneuerbare-Energien-Gesetz erzwungen werden muss, der Chef der Bundesnetzagentur aber gleichzeitig neue Kohlekraftwerke fordert, weil angeblich Strom fehlt. Ab dem nächsten Jahr soll die Anreizregulierung den Wettbewerb auch auf der Netzebene ermöglichen. Ich sage Ihnen voraus, dass die Regelung das Aus für viele Stadtwerke bedeutet und sie den Energiemonopolisten in die Hände spielt. Am Ende stehen dann höhere Energiepreise und weniger kommunale Selbstversorgung und damit noch weniger Wettbewerb. Die Linke fordert deshalb die Überführung der großen Strom- und Gasnetze in die öffentliche Hand. ({2}) - Ja, Herr Pfeiffer, immer noch. Sie werden es so lange hören, bis es so weit ist. Wir, die Linke, wollen nämlich eine Energieversorgung, die sozial und ökologisch ist. Vielen Dank. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Kerstin Andreae von Bündnis 90/Die Grünen.

Kerstin Andreae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003493, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Bericht zieht nach der Änderung des Energiewirtschaftsgesetzes aus dem Jahr 2005 und den damit verbundenen grundlegenden neuen Rahmenbedingungen zur Schaffung von mehr Wettbewerb Bilanz. Mehr Wettbewerb im Energiebereich ist sinnvoll für die Verbraucher, um die dringend notwendige Wende in der Energiepolitik zu unterstützen. Für den Wettbewerb sind mehr Anbieter, mehr Wettbewerber und eine stärkere Dezentralisierung notwendig. ({0}) Die unterschiedlichen Instrumente zur Sicherung des Wettbewerbs sind bereits angesprochen worden; ich erwähne die Regelung des Netzzugangs. Ich erkenne die Arbeit der Bundesnetzagentur durchaus an, weise aber darauf hin, dass in dem Bericht in vielen Punkten Defizite im Zusammenhang mit dem potenziellen Netzzugang angesprochen werden. Der Bericht ist auch hinsichtlich der zukünftigen Aufgaben und Herausforderungen sehr differenziert. Ein weiterer Punkt ist die Entgeltkontrolle mit ihren preisdämpfenden Effekten. Wie Sie wissen, haben wir Sie im Bereich der Anreizregulierung unterstützt. Wir müssen aber anerkennen, dass die Gewinne der Energieversorgungsunternehmen nach wie vor stetig steigen, genauso wie die Energiekosten. Das ist durchaus ein Signal, dass es uns nicht gelungen ist, für Wettbewerb auf dem Energiemarkt zu sorgen. ({1}) Die Änderungen des Energiewirtschaftsgesetzes waren durchaus sinnvoll. Aber es ist keine Zeit, innezuhalten. Wir müssen in sehr vielen Punkten deutlich weiterkommen, was den Wettbewerb auf dem Energiemarkt angeht. Ich komme nun zu der Frage - das wurde teilweise schon angesprochen -, wie wir mit den großen Übertragungsnetzen umgehen sollen. Nach wie vor verblüfft mich, dass die Bundesregierung den sogenannten dritten Weg, den Kompromissvorschlag, der von Brüssel wieder zurückgewiesen wurde - Frau Kopp hat darauf aufmerksam gemacht -, als Erfolg feiert. Angesichts der Tatsache, dass die Energieversorgungsunternehmen selber sagen: „Wir verkaufen unsere Netze“, ist es eine Herausforderung und eine Zukunftsaufgabe, sich darüber Gedanken zu machen, wer in Zukunft diese Netze verwalten soll. Es ist seltsam, dafür zu kämpfen, dass die Energieversorgungsunternehmen ihre Netze behalten dürfen, vor allem wenn diese Unternehmen ihre Netze verkaufen wollen. Dass Sie sich über die Frage, wer in Zukunft die großen Übertragungsnetze verwalten und organisieren soll, keine Gedanken machen, ist mir angesichts der Tatsache, dass es sich hier um eine der ganz großen Systeminfrastrukturen handelt, ein völliges Rätsel. Sie kommen den Aufgaben, die Sie dringend angehen müssen, nicht nach. ({2}) Natürlich haben Sie recht, wenn Sie auf die enorme soziale Herausforderung bei den Energiepreisen hinweisen. Wie wir wissen, gibt es Haushalte, die angesichts der steigenden Energiepreise, insbesondere angesichts der steigenden Heizkosten, in wirkliche Schwierigkeiten kommen. Darüber müssen wir uns Gedanken machen. Darüber gibt es morgen eine Debatte. Wir Grüne halten nichts von dem Vorschlag, Sozialtarife einzuführen und das Ganze steuerlich kozufinanzieren. ({3}) Wir müssen aber den betroffenen Haushalten in verstärktem Maße helfen und sie in die Lage versetzen, mit weniger Verbrauch, mit Energieeffizienz und Energieeinsparungen klarzukommen. Das ist eine mittelfristige Thematik. Zur Lösung kurzfristiger Probleme ist es aber notwendig, dass wir uns ernsthaft Gedanken - jenseits von einfachen Vorschlägen - darüber machen, wie wir gewährleisten können, dass die Menschen in warmen Wohnungen leben und Mobilität nicht zum Luxusgut wird. Das ist die nächste große Aufgabe. Wir brauchen dringend - das fordern wir Grüne - eine wirklich nachhaltige wettbewerbliche Ausrichtung des Energiemarktes. Im Übrigen wird sich die Frage nach den Netzen auch im Gasbereich stellen. Wir werden uns schon heute nachhaltig darüber Gedanken machen müssen, wie der Gasmarkt zukünftig gestaltet werden soll. Geben Sie Ihren Kampf um den dritten Weg im Bereich der Entflechtung endlich auf! Machen Sie sich Gedanken über die Schaffung einer Netzgesellschaft! Wir wollen eine solche Gesellschaft aber anders ausrichten als die FDP und die öffentliche Hand daran beteiligen. Ich glaube nicht, dass der notwendige Netzausbau ausschließlich mit privaten Investoren möglich ist. Vielmehr brauchen wir eine Gemeinwohlorientierung. Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, ich habe immer die Vorschläge des hessischen Ministers Rhiel unterstützt, wenn es um die potenzielle Zerschlagung von Energieversorgungsunternehmen geht. Wir müssen uns die Frage stellen, was wir mit Unternehmen tun sollen, die in marktbeherrschender Stellung sind. Ich bin enorm enttäuscht darüber, dass man seit dem Tag der hessischen Landtagswahl nie mehr etwas von den Vorschlägen des Ministers Rhiel gehört hat. Ich fordere Sie dringend auf, seinen Vorschlägen zu folgen und sich darüber Gedanken zu machen, wie wir mit Unternehmen in marktbeherrschender Stellung umgehen sollen, und zwar für mehr Wettbewerb im Sinne der Verbraucherinnen und Verbraucher, damit wir eine Wende auf dem Energiemarkt hinbekommen. Vielen Dank. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Dr. Joachim Pfeiffer von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Joachim Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003608, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir sprechen heute über die Energienetze. Ich glaube, wir sind gut beraten, uns auch in der Politik darauf zu konzentrieren, dort zu handeln, wo wir handeln können, und nicht den Eindruck zu erwecken, als könnten wir in der Tat - das wurde auch heute wieder angesprochen - die Energiepreise insgesamt staatlich regulieren. Dieses wollen wir nicht, und dieses können wir nicht. Wir haben vor zehn Jahren genau den anderen Weg beschritten, nämlich den Weg der Marktwirtschaft, den Weg in den Markt und in die Liberalisierung. Das ist der Weg in die richtige Richtung, und wir haben einiges erreicht. Ich will an dieser Stelle einen Punkt darstellen, der etwas untergeht. Durch das natürliche Monopol der Netze wurden in der Vergangenheit Monopolrenditen erzielt. Vor und auch nach 1998 hat der ursprüngliche Ansatz des verhandelten Netzzugangs nicht funktioniert. Wir hatten bis zum Jahr 2005 bei den Netznutzungsentgelten die höchsten Preissteigerungen. Deshalb haben wir im Jahr 2005 diesen Paradigmenwechsel eingeleitet und die Regulierung eingeführt. Das war gerade einmal vor drei Jahren. Ende Juni 2005 ist das letzte Gesetz dazu - noch unter der rot-grünen Regierung - im Vermittlungsausschuss beschlossen worden. In diesen drei Jahren ist doch einiges erreicht worden. Ich möchte die Zahlen, die durchaus beeindruckend sind, nennen. Die Netznutzungsentgelte beim Strom sind im letzten Jahr nicht gleichgeblieben, nicht angestiegen, sondern gesunken. Das heißt: Dort, wo wir bei diesem natürlichen Monopol handeln können, hat die Politik ihre Hausaufgaben gemacht und dazu beigetragen, dass von den Netznutzungsentgelten ein dämpfender, ein senkender Impuls auf die Energiepreise - in dem Fall die Strompreise und auch die Gaspreise - ausgegangen ist. ({0}) Die Netznutzungsentgelte für die Haushaltskunden sind im letzten Jahr von 7,7 Cent auf 6,7 Cent gesunken. Der Anteil an den Stromkosten ist von 38 Prozent auf 32 Prozent zurückgegangen. In Euro ausgedrückt: Der Verbraucher hatte im letzten Jahr wegen der gesunkenen bzw. nicht erhöhten Netznutzungsentgelte 2,5 Milliarden Euro mehr in der Tasche. Das ist der Erfolg dieser Regulierung, über die wir heute sprechen. Wir sprechen heute über den Bericht der Bundesnetzagentur, und diese, Frau Kopp, ist nicht für die Ausführung der GWB-Novelle zuständig; das ist das Kartellamt. Wir sprechen heute nicht über den Erzeugungs- und den Wettbewerbsbereich, sondern über den Monopolbereich der Netze und darüber, was wir in diesem Bereich bisher tun konnten. Wir sind jetzt in der Übergangsphase, in der Ex-ante-Regulierung. Wir kommen jetzt weg von der alten Kostenregulierung und starten im nächsten Jahr mit der Anreizregulierung. Wir simulieren einen Markt in diesen Netzen, wobei Erlösobergrenzen festgelegt werden und diejenigen, die sich dort tummeln - wir wollen, dass sich dort viele tummeln und dass mit neuen Anbietern mehr Wettbewerb entsteht -, mehr Klarheit haben. Der, der sich am meisten anstrengt und unter diesen Erlösobergrenzen liegt, kann einen Gewinn erzielen. Insofern setDr. Joachim Pfeiffer zen wir auch hier die richtigen Anreize, und wir gehen davon aus - was wissenschaftlich untermauert ist -, dass wir immer noch Potenzial bei den Netznutzungsentgelten haben und dass wir in den zwei Perioden, in denen die Anreizregulierung wirkt, die Netznutzungsentgelte von heute 22 Milliarden Euro auf 18 Milliarden Euro reduzieren können. Wir können dem Verbraucher in diesem Bereich also eine dauerhafte Entlastung versprechen. Das ist durchaus realistisch. Insofern sind wir hier auf dem absolut richtigen Weg. Der Verbraucher ist aber auch selber gefordert. Auch das muss man an dieser Stelle sagen. Konsumentensouveränität heißt, dass man - wie in anderen Bereichen auch - einen Anbieterwechsel in Betracht ziehen kann. Wir haben die Rahmenbedingungen so verändert, dass dieser Anbieterwechsel problemlos möglich ist - ähnlich wie bei der Telekommunikation. Dort wird diese Möglichkeit von den Verbrauchern bereits in großem Umfang genutzt, und die entsprechenden Effekte sind eingetreten. Von 1998 bis 2007 haben gerade einmal 2 Millionen Verbraucher den Anbieter gewechselt. Allein in 2007 haben 4,5 Millionen Verbraucher den Anbieter gewechselt. Das heißt also, in 2007 haben mehr Bürger den Anbieter gewechselt als in den neun Jahren zuvor, in denen die Liberalisierung bereits im Gange war. Insofern kommt Dynamik in diesen Bereich, auch durch - Kollege Hempelmann hat das bereits angesprochen - die Marktöffnung beim Zähler- und Messwesen, die wir in der letzten Sitzungswoche in zweiter und dritter Lesung verabschiedet haben. Zukünftig weiß der Verbraucher genau, was er verbraucht: Er kann in jeder Sekunde mithilfe der intelligenten Zähler nachvollziehen, mit welchen Geräten er wie viel Strom verbraucht und was ihn das kostet. Dann kann er entsprechend reagieren. Darauf haben wir hingewirkt; und ab 2010 werden neue, lastabhängige Tarife angeboten werden können.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Pfeiffer, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Koppelin?

Dr. Joachim Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003608, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, selbstverständlich gerne.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön.

Dr. h. c. Jürgen Koppelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001180, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege, ich habe Ihnen ja nun die ganze Zeit zugehört: Sie haben auf der einen Seite von den Entlastungen gesprochen, die angeblich für die Verbraucher eingetreten sind. Auf der anderen Seite haben Sie in Ihrer Rede die Verbraucher aufgefordert, auch etwas zu tun. Sie haben gerade dargestellt, dass in Zukunft jeder Verbraucher nachvollziehen kann, was er verbraucht. Was nutzt aber das ganze Sparen - das sage ich einmal sehr hart -, wenn der Staat ständig abkassiert? Auch Sie haben ja als Abgeordneter der Koalition - ich nenne nur die Mehrwertsteuererhöhung - kräftig abkassiert und beim Verbraucher in die Tasche gegriffen, sodass er mit Sparen teilweise gar nicht mehr dagegen ankommt. Andere Bereiche, die nicht direkt hierher gehören - zum Beispiel die Streichung der Entfernungspauschale -, will ich gar nicht weiter erwähnen. Ich will nur eines feststellen: Wenn Sie so weiterreden, dann schaffen Sie noch mehr Politikverdrossenheit; denn die Leute draußen glauben Ihnen das nicht. ({0})

Dr. Joachim Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003608, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, ich habe Tatsachen genannt, die entlastende Wirkung haben. Aber Sie haben völlig recht - diese Anmerkung fehlt in keiner meiner Reden; das können Sie in jedem Protokoll nachlesen -, dass die staatlich administrierten Preise das Ihrige getan haben. In der Regierungszeit von Rot-Grün wurde der staatlich administrierte Anteil an den Stromkosten von 25 Prozent auf 41 Prozent erhöht. Seither haben wir es nicht geschafft - auch nicht in der Großen Koalition -, diesen staatlich administrierten Anteil zurückzuführen. ({0}) Das ist Realität, das ist richtig. Aber seither wurden keine weiteren Erhöhungen vorgenommen. Die Stromsteuer ist seither nicht erhöht worden. Allerdings sind in diesem Zusammenhang andere Dinge zu erwähnen: In der letzten Woche haben wir mit großer Mehrheit die Gesetze zu erneuerbaren Energien und Kraft-Wärme-Kopplung verabschiedet. Dort heißt es, dass das Umsteuern letztlich, volkswirtschaftlich betrachtet, richtig und sinnvoll ist, aber, betriebswirtschaftlich betrachtet, zunächst über die Umlage mehr kostet. Mittel- und langfristig bringt es uns aber Versorgungssicherheit und auch eine Veränderung der Energieerzeugungsstruktur, über die wir heute ja nicht sprechen. Insofern ist es richtig: Es gibt selbstverständlich auch Komponenten, die den Energie- und den Strompreis beeinflussen, die in die andere Richtung tendieren. Das haben wir staatlich und politisch zu verantworten. Das haben auch Sie mit zu verantworten. ({1}) - Ich bin noch nicht fertig mit der Beantwortung Ihrer Frage. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Die Fragen und Antworten sollen kurz und präzise sein. Bei der Antwort soll nicht eine neue Rede gestaltet werden. ({0})

Dr. Joachim Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003608, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sie sind zufrieden, gut. Ich will das einfach einmal darstellen, das gehört auch dazu: Man darf eben nicht nur pauschal sagen - da würde man das ja über einen Kamm scheren -: Die Energiepreise gehen nur nach oben. - Das ist richtig, die anderen Komponenten, die dieses überlagern, wirken in diese Richtung. Es gibt aber auch konkrete Handlungsmöglichkeiten, die wir nutzen. Wir sind aber noch lange nicht am Ende. Was ist weiter zu tun? Ich nenne wieder einmal das natürliche Monopol der Netze. Heute gibt es noch vier Regelzonen beim Strom. Davon kommen wir auch im Rahmen der Überlegungen auf europäischer Ebene jetzt weg. In diesem Bereich erwarte ich weitere Kostensenkungspotenziale. Wir werden die Marktgebiete beim Gas weiter reduzieren. Die Ursprungsüberlegung der Marktteilnehmer in 2005 war: 29 Marktgebiete. Dann waren es in 2006 19 Marktgebiete. Wir haben heute 14 Marktgebiete. Im Herbst dieses Jahres werden wir 8 Marktgebiete haben. Auch da sehe ich das Ende der Fahnenstange noch nicht erreicht. Es gibt dort also ebenfalls weitere Optimierungspotenziale. Es darf aber nicht nur - das ist bereits angeklungen; ich sage es in aller Deutlichkeit - um den Preis gehen, sondern es muss auch um Versorgungssicherheit, um Netzausbau gehen, auch im Hinblick auf erneuerbare Energien. Dieser Ausbau muss stattfinden; denn wir müssen unsere Versorgungssicherheit - sie ist mit die beste in der Welt - gewährleisten. Das heißt, wir müssen Investitionsrahmenbedingungen schaffen, die Investitionen in die Netze weiterhin möglich machen. Frau Andreae, wir wollen eben nicht, dass der Staat diese Investitionen tätigt. Den VEB „Netz“, den die Kollegen von der SED hier vorschlagen, wollen wir nach wie vor nicht. ({0}) Deshalb wird es privatwirtschaftliche Lösungen geben. Wir begleiten die Suche nach ihnen sehr intensiv; das Ganze kommt jetzt in Bewegung. Wir wollen langfristig privates Kapital mobilisieren und staatliche Rahmenbedingungen im Bereich der Regulierung so organisieren, dass dieses Kapital optimal eingesetzt wird und diesen Netzausbau und diese Versorgungssicherheit gewährleistet. Insofern sind wir auf dem richtigen Weg, was die Netze anbelangt. Wenn unsere Nationalmannschaft ihre Netzaufgaben heute Abend erfüllt und so oft ins richtige Netz schießt, wie wir es bei der Anreizregulierung tun, dann sind wir auf einem guten Wege. Vielen Dank. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat der Kollege Klaus Barthel von der SPDFraktion. ({0})

Klaus Barthel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002622, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben gehört: Die Bedeutung der Netze ist nicht zu unterschätzen. Man muss sich klar werden, worüber wir reden - hier geht nämlich vieles durcheinander -: 80 Prozent der gesamten Netzkosten der deutschen Stromverteiler und Netzbetreiber unterliegen der Regulierung durch die Bundesnetzagentur. Dabei handelt es sich um ein Umsatzvolumen von 20 bis 25 Milliarden Euro pro Jahr. Die Netzkosten machen für die privaten Endverbraucher im Durchschnitt rund ein Drittel des Strompreises aus. Diese Kosten werden reguliert. In Ergänzung - nicht als Widerspruch - zu dem, was Herr Dr. Pfeiffer und Rolf Hempelmann vorhin vorgetragen haben, muss man den Blick noch einmal darauf lenken, dass die Erfolge dieser Regulierung durch die Bundesnetzagentur leider kaum spürbar sind, weil sie durch die Preisexplosion bei den Energierohstoffen und auch durch die Strukturen auf dem Energieerzeugungsmarkt überkompensiert werden. Auch in der Energieproduktion liegt der Verdacht nahe, dass Marktmacht ausgenutzt wird, und zwar nicht von einem Monopol, sondern von einem Oligopol. Schon in den ersten zehn Jahren seit der Liberalisierung, also von 1995 bis 2005, hat der Konzentrationsgrad in der Stromerzeugung stark zugenommen und überschreitet längst alle GWB-Schwellenwerte deutlich. Wenn wir Prognosen glauben, die hier im Umlauf sind, dann müssen wir davon ausgehen, dass von den derzeit noch 1 000 Energieversorgungsunternehmen in Deutschland in ein paar Jahren vielleicht bloß noch 150 übrig sind. Bei aller Liebe zur Regulierung von Netzen dürfen wir den Blick auf diese Zusammenhänge natürlich nicht verlieren, ohne dabei allerdings die Bedeutung der Netze zu unterschätzen. Es kann nicht sein, dass die Bundesnetzagentur jedes Netzentgelt bis auf die zweite Kommastelle prüft und kürzt, dass wir darüber hier stundenlang diskutieren, während sich die Energiekonzerne gleichzeitig an anderer Stelle mehrfache Beträge, die weder etwas mit moderner Energieerzeugung noch mit fairem Wettbewerb noch mit Investitionen zu tun haben, in die Kassen stopfen. Ich muss einfach darauf hinweisen: Zwischen 1998 und 2005, also schon vor der Gewinnexplosion in den letzten beiden Jahren - insbesondere in den letzten Monaten -, haben es die Stromunternehmen geschafft, ihre Nettogewinne zu verdoppeln. Im selben Zeitraum sind die jährlichen Investitionen um ein Viertel gekürzt worden. Gleichzeitig malen die Stromkonzerne jetzt das Gespenst einer Versorgungslücke an die Wand. Ich will hier einfach einmal Zweifel anmelden, ob wirklich der Widerstand aus der Bevölkerung maßgeblich für die angebliche Investitionsblockade beim Bau neuer Kraftwerke ist. Passt es nicht ganz gut ins Konzept der Energieerzeuger, das Angebot knapp zu halten? Mit diesem Knappheitsargument können sie gleich vier Fliegen mit einer Klappe schlagen: Sie können sich erstens aus der Verantwortung für unterbliebene Investitionen stehlen. Sie können zweitens die Preise hochhalten. Sie können drittens alte und abgeschriebene Kraftwerke profitträchtig in Betrieb halten. Sie können viertens für die Option Kernkraft Druck machen. - Ich frage mich nur, ob dieses Zurückweichen vor der geballten Bevölkerungsmacht bei den Energiekonzernen auch dann noch gilt, wenn es darum gehen sollte, neue Standorte für Kernkraftwerke zu suchen. Da lässt die Vergangenheit nichts Gutes ahnen. Ich möchte zum Schluss auf ein Problem hinweisen, über das heute noch nicht gesprochen worden ist, das aber nicht befriedigend gelöst ist. Es geht bei der Anreizregulierung, die jetzt kommt, um die Anerkennung von Lohn- und Lohnnebenkosten. Es scheint zwar klar zu sein, dass vorhandene Lohn- und Lohnnebenkosten sowie Versorgungslasten als unbeeinflussbare Kosten bei der Regulierung anerkannt werden müssen. Aber um die Zukunft von Tarifverträgen und Betriebsvereinbarungen muss man sich große Sorgen machen. Wenn ich im Tätigkeitsbericht der Bundesnetzagentur lese, dass - wörtliches Zitat - „durch Kosteneinsparungen in keinem Fall die wesentlichen Arbeitsbedingungen der regulierten Teilbereiche der Energiewirtschaft erheblich unterschritten werden dürfen“, gehen bei mir die Alarmglocken an. Ich erinnere daran, dass die Bundesnetzagentur sich trotz erheblichen faktischen und politischen Drucks erst nach zehn Jahren in der Lage gesehen hat, im Postbereich, für den sie genauso zuständig ist, die üblichen Arbeitsbedingungen überhaupt erst einmal festzustellen, also festzustellen, welches Ausmaß zum Beispiel das Lohndumping in diesem Bereich hatte. Bis heute warten wir darauf, dass die üblichen Arbeitsbedingungen, wie es das Gesetz vorsieht, von der Bundesnetzagentur durchgesetzt werden. Vor diesem Hintergrund verstehe ich die Sorgen vieler Beschäftigter - und ihrer Gewerkschaften -, dass die Netzregulierung auf die Dauer ihre Arbeitsplätze und ihre Arbeitsbedingungen gefährdet; denn der Faktor Arbeit scheint in der Kostenrechnung bei der Regulierung die letzte Variable in den Unternehmen zu sein, wenn Kapitalverzinsung und Mindestqualität erst einmal festgeschrieben und definiert sind. Wir machen uns da große Sorgen. Wir wollen nicht zulassen, dass über die Regulierung die Tarifautonomie in diesen Industrien ausgehebelt wird. ({0}) Wir werden nicht zusehen, wie auf ganz unterschiedlichen Wegen die Endverbraucher einerseits und die Beschäftigten andererseits die Lasten der Liberalisierung alleine tragen. Es wäre meines Erachtens ein wichtiger Schritt, wenn wir erreichen würden, dass die Bundesnetzagentur von Amts wegen Untersuchungen über die ökonomischen Kennziffern des Energiesektors wie Umsätze, Beschäftigtenzahl, Lohnkostenanteil, Lohnstückkosten, Produktivitäts- und Gewinnentwicklung, Grad der Konzentration sowie über übliche Arbeitsbedingungen schon jetzt anstellen und veröffentlichen würde. Meine Bitte an das Bundeswirtschaftsministerium lautet also, dies von der Bundesnetzagentur einzufordern. Ich hoffe, dass wir beim nächsten Tätigkeitsbericht bzw. bei der nächsten Stellungnahme der Bundesregierung dazu etwas lesen können, weil wir sonst an die Grundprobleme des Energiesektors nicht herankommen.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege!

Klaus Barthel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002622, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Mein letzter Satz, Frau Präsidentin.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Bitte.

Klaus Barthel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002622, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Meine Hoffnung ist, dass die Arbeit der Bundesnetzagentur, auch von den Netzen ausgehend, dazu beitragen kann, dass es mehr Anbietervielfalt, mehr regenerative Energieerzeugung, mehr Investitionen und Innovationen sowie sichere Arbeitsbedingungen und Arbeitsplätze gibt. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/9000 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf: Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN EU-Übersetzungsstrategie überarbeiten - Nationalen Parlamenten die umfassende Mitwirkung in EU-Angelegenheiten ermöglichen - Drucksache 16/9596 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({0}) Finanzausschuss Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Michael Roth, SPD-Fraktion. ({1})

Michael Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003213, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

I will do my very best, dear colleague. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bislang gehören zu den Voraussetzungen für die Wählbarkeit eines Bundestagsabgeordneten zum einen die Volljährigkeit und zum anderen die deutsche Staatsbürgerschaft. Bislang gehört nicht zu unseren Einstellungsvoraussetzungen, dass wir fließend in Wort und Schrift Englisch oder Französisch beherrschen. ({0}) Wenn es nach der bisherigen Übersetzungspraxis der EU-Kommission geht, müsste man dies für alle Bundestagsabgeordneten und für viele andere Abgeordnete in zahlreichen nationalen Parlamenten zur Voraussetzung machen. Es geht uns also, liebe Kolleginnen und Kollegen, mitnichten um Sprachchauvinismus. Es geht uns schlicht und ergreifend darum, dass wir unsere Arbeit machen wollen. ({1}) Wir wollen unserer europapolitischen Verantwortung gerecht werden. Diese Möglichkeit ist momentan nicht gegeben. Der Kollege Thul und ich hatten kürzlich das Vergnügen, gemeinsam mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern nach Brüssel zu fahren und mit dem zuständigen Kommissar Orban und dem stellvertretenden Generalsekretär der EU-Kommission zu sprechen, und zwar nicht nach dem Motto: Außer Spesen nichts gewesen. Wir haben unsere Position sehr deutlich gemacht und auch die Hand zum Dialog ausgestreckt. Aber es gibt bislang keinerlei Bereitschaft vonseiten der EU-Kommission, auf die Bedürfnisse der nationalen Parlamente einzugehen. Es geht ja nicht allein um uns, um die deutsche Sprache. Es geht um alle nationalen Parlamente, die vor dem Hintergrund der neuen Kompetenzen, die der Vertrag von Lissabon eröffnet, ihrer Verantwortung gerecht werden wollen. Es kann eben nicht sein, dass Dokumente, die für unsere parlamentarische Arbeit von herausgehobener Bedeutung sind, mit denen wir uns im Haushaltsoder Wirtschaftsausschuss, im EU-Ausschuss oder wo auch immer beschäftigen, nicht in unserer Sprache vorliegen. Bislang gibt es 47 Dokumente, bei denen eine entsprechende Übersetzung noch aussteht. Auf unsere Bitte an die Adresse von Brüssel, man möge sie doch bitte übersetzen, bekamen wir bezüglich 23 Dokumenten die klare und definitive Antwort: Nein, diese werden nicht in Übersetzung vorgelegt. Die EU-Kommission macht sich in dieser Frage unglaubwürdig. Man kann nicht auf der einen Seite von uns erwarten, dass wir uns umfassend, frühzeitig, verantwortungsbewusst, konstruktiv in das europäische Gesetzgebungsverfahren einbringen, aber uns auf der anderen Seite nicht mit dem notwendigen Rüstzeug versehen. Hier müssen wir nacharbeiten. Deswegen bin ich allen Fraktionen, vor allen Dingen auch den geschätzten Kolleginnen und Kollegen der Oppositionsfraktionen, von den Grünen und der FDP, außerordentlich dankbar, dass sie bereit waren, uns in diesen gemeinsamen Bemühungen zu unterstützen ({2}) und damit deutlich zu machen, dass es hier nicht um irgendeine Fraktionsangelegenheit geht, sondern dass wir als Deutscher Bundestag uns insgesamt in dieser Frage mit einem Problem konfrontiert sehen. Das ist nicht allein eine Aufgabe des Deutschen Bundestages. Hier ist auch die Bundesregierung gefragt. Es hat eine Reihe von Briefen von Bundesaußenminister Steinmeier, der sich in dieser Frage sehr engagiert hat, gegeben. Es hat offensichtlich auch schon ein Gespräch zwischen Kommissionspräsident Barroso und der Bundeskanzlerin gegeben. All dies hat aber noch nicht zu dem Ergebnis geführt, das wir uns wünschen. Deswegen appellieren wir noch einmal an die Bundeskanzlerin, dieses Anliegen zur Chefsache zu machen. Offensichtlich ist der zuständige Kommissar nicht einflussreich genug, um das durchzusetzen, was er möglicherweise selbst eingesehen hat: So geht es nicht weiter. ({3}) Dem Bundestag wurde schon eine Zusicherung gegeben. Kommissar Orban war vor geraumer Zeit im EUAusschuss und hat mit uns das Gespräch gesucht. Damals hat er eine neue Übersetzungsstrategie angekündigt. Auf diese Übersetzungsstrategie warten wir noch heute. Auch bei der Brüssel-Begegnung ist uns nicht in Aussicht gestellt worden, dass es diese Übersetzungsstrategie noch in diesem Jahr gibt. Das ist ein Umgang, der aus unserer Sicht inakzeptabel ist. Was für einen Bundestagsabgeordneten gilt, sollte auch für die EU-Kommission gelten: Versprechen, die man gegeben hat, sollte man nach Möglichkeit auch halten. Wenn man dazu nicht in der Lage ist, sollte man zumindest so fair sein, zu erklären, woran das liegt. Möglicherweise liegt es ja an der irischen Generalsekretärin der EU-Kommission, die sagt: Unsere Lingua franca ist Englisch, und in diesem Sinne sollen sich alle anstrengen. - Das kann ja sein. Aber dann soll man uns das, bitte schön, auch sagen. Ich lade auch alle anderen nationalen Parlamente ein, uns in diesem Bemühen zu unterstützen. Denn es geht hier nicht allein um ein Anliegen der Deutschen; die Kolleginnen und Kollegen in Italien, Slowenien, Polen oder auch Portugal stehen vor ähnlichen Problemen. Wir sollten zumindest am Rande erwähnen, dass Deutsch die meistgesprochene Muttersprache ist, ({4}) Michael Roth ({5}) sich dies gleichwohl nicht in der Sprachenpraxis der EUKommission und erst recht nicht des Ministerrats widerspiegelt. Wir haben einmal nachgefragt, wie es denn nun eigentlich mit den Verfahrenssprachen aussieht. Bei der Kommission sind das neben Englisch immerhin noch Französisch und Deutsch. Aber in welche Sprachen wird übersetzt, und wer spricht in der EU-Kommission eigentlich noch Deutsch? Uns wurde gesagt, dass gerade einmal 3 bis 2,5 Prozent aller Ursprungstexte der Kommission in Deutsch verfasst werden. Circa 70 Prozent der Ursprungstexte sind in Englisch verfasst. Das sollte uns sensibler dafür machen, dass zur kulturellen Vielfalt in Europa auch die sprachliche Vielfalt gehört. Es kann nicht angehen, dass wir zwar in Sonntagsreden über die kulturelle Vielfalt sprechen, dass das aber in der Sprachenpraxis in Brüssel überhaupt keine Rolle spielt. Deshalb gibt es diesen Antrag und unser gemeinsames Bemühen. Vielleicht kann unser gemeinsamer Antrag dazu beitragen, dass zum einen die Bundesregierung und die Bundeskanzlerin in ihren Aktivitäten unterstützt werden, zum anderen vielleicht aber auch ein intensiver Prozess des Nachdenkens bei der EU-Kommission einsetzt. Nochmals ein herzliches Dankeschön an alle. Ich würde mich freuen, wenn wir dies durch eine gemeinsame Beschlussfassung eindrucksvoll dokumentieren könnten. Vielen Dank. ({6})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Für die FDP-Fraktion gebe ich dem Kollegen Michael Link das Wort.

Michael Link (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003802, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Durch das irische Nein zum Vertrag von Lissabon fehlen dem Europaparlament und dem Bundestag all die Instrumente, die uns geholfen hätten, die demokratische Willensbildung in der EU zu verbessern. Umso wichtiger ist jetzt, dass der Bundestag die Mitwirkungsrechte wahrnimmt, die er in EU-Angelegenheiten grundgesetzlich bereits hat. Deshalb brauchen wir, lieber Kollege Roth, lieber Michael, diesen interfraktionellen Antrag. Unsere Parlamentsrechte können wir nur wahrnehmen, wenn wir grundsätzlich alle EU-Dokumente auch in einer verhandelbaren Fassung, also auf Deutsch, erhalten. Was für das EP gilt, wo in alle Amtssprachen übersetzt wird, muss auch für die nationalen Parlamente gelten: EU-Dokumente müssen in der Landessprache vorliegen. ({0}) Wir unterstreichen mit diesem Antrag, dass der Bundestag sich nicht auf den Sankt-Nimmerleins-Tag vertrösten lässt. Der Antrag hat zwei Adressaten: die Kommission, die für die Übersetzungen sorgen muss, und die Bundesregierung, die das endlich in der EU durchsetzen muss. Seien wir ehrlich: Noch keine Bundesregierung der vergangenen Jahrzehnte hat sich bei diesem Thema mit Ruhm bekleckert. Die jetzige muss deshalb erst recht endlich handeln, Herr Staatsminister, und zwar nicht nur durch den ständigen Vertreter in Brüssel oder die Staatssekretäre und Staatsminister, sondern - da hat Michael Roth völlig recht - auf der Chefebene. Sonst bewegt sich die Kommission nicht. Das Kostenargument, das die Kommission ins Feld führt, ist nicht überzeugend; denn das nötige Geld wäre da. Jedes Jahr fließen enorme nicht benutzte Gelder zurück an die Mitgliedstaaten. Auch sonst fielen mir im EU-Haushalt viele Bereiche ein, in denen man Geld umleiten könnte. Dann aber wäre es Sache der Mitgliedstaaten, bei den Haushaltsverhandlungen Druck zu machen, dass das Geld richtig eingesetzt wird. ({1}) Da ist bei der Bundesregierung leider Fehlanzeige. Die Kommission spricht von ihren verstärkten Kommunikationsbemühungen gegenüber der Bevölkerung. Schön; doch wo waren diese im Falle Irlands? Sicher ist es richtig, wenn die Kommission Europas Erfolge öffentlichkeitswirksam darstellen will. Falsch ist es aber, den zweiten Schritt vor dem ersten zu machen. Statt im Nachhinein viel Steuerzahlergeld an Werbeagenturen zu zahlen, um die unverständlichen Gesetzestexte zu vermitteln, wäre es doch viel wichtiger, dass die Kommission frühzeitig ein verständliches Fundament an gut übersetzten relevanten EU-Vorlagen liefert. Die FDP fordert deshalb die Bundesregierung nachdrücklich auf, im kommenden EU-Haushalt 2009 - da sitzen Sie mit am Verhandlungstisch - auf eine Umschichtung von Mitteln zugunsten der Übersetzungsdienste hinzuwirken. ({2}) Daneben müssen wir unsere jeweiligen Partnerfraktionen im Europäischen Parlament in die Pflicht nehmen; denn sie haben schließlich beim Haushalt mitzureden. Die Kollegin Jutta Haug, SPD, ist die Hauptberichterstatterin im Europaparlament für den Haushalt der EU 2009. Der Kollege Reimer Böge, EVP/CDU, ist Vorsitzender des Haushaltsausschusses im Europäischen Parlament. Ermutigen Sie bitte Ihre Kollegen, dass hier endlich die richtigen Prioritäten gesetzt werden. Leider werden deutsche Nichtregierungsorganisationen und deutsche Mittelständler gegenwärtig durch die Kommission regelmäßig benachteiligt, zum Beispiel durch die bevorzugte Verwendung von Englisch/Französisch in Wirtschaftsdatenbanken, bei Ausschreibungen und generell bei Internetauftritten in der EU. So kritisierte kürzlich der Europäische Bürgerbeauftragte, dass einer deutschen Nichtregierungsorganisation, die Hilfe für Folteropfer anbietet, verwehrt wurde, ihre Bewerbung in deutscher Sprache abzugeben. ({3}) Es muss Schluss sein mit solch einer Sprachendiskriminierung. Michael Link ({4}) ({5}) Wenn die Kommission mit der Antidiskriminierung Ernst machen will, dann sollte sie nicht immer neue Richtlinien zur Antidiskriminierung vorlegen, sondern erst einmal vor der eigenen Tür kehren. Immerhin handelt es sich beim Deutschen um die meistgesprochene Muttersprache in der EU. ({6}) Es ist klar, dass wir uns auch an die eigene Nase fassen müssen, zum Beispiel hinsichtlich einer stärkeren Förderung des Beamtenaustausches mit EU-Institutionen - das ist unsere Aufgabe - und beim Personalaustausch mit anderen Mitgliedstaaten. Seien wir realistisch: Da in den internen EU-Arbeitssitzungen - auch darauf ist Michael Roth eingegangen - Englisch längst die Lingua franca, also die Hauptsprache, ist, brauchen wir neben ins Deutsche übersetzten Dokumenten für unsere Arbeitsebene ein größeres Reservoir deutsch sprechender Top-Beamter, die verhandlungssicher englisch sprechen, für die Brüsseler Ebene. ({7}) Bei der Entstehung dieses Antrags hofften wir alle noch auf ein irisches Ja. Nun ist es offen, ob und wann der VvL, der Vertrag von Lissabon, jemals in Kraft tritt. Jetzt, wo das Europäische Parlament in der Agrarpolitik weiterhin keine und in der Innen- und Justizpolitik nur geringe Rechte hat, wird es umso wichtiger, dass der Bundestag seine im Grundgesetz festgelegten Rechte wahrnimmt. Wir im Bundestag sind jetzt die einzigen, die tatsächlich durchgängig parlamentarisch kontrollieren können. An die Kollegen der Regierungsfraktionen gerichtet, frage ich: Was nützen uns die komplettesten und bestübersetzten EU-Vorlagen, wenn Sie hinterher nicht bereit sind, die deutschen Minister vor deren Stimmabgabe im Rat politisch zu binden? ({8}) Wackere Kollegen aus den Fachausschüssen hatten das im Übrigen schon mehrfach versucht, zum Beispiel beim Grünbuch Stadtverkehr, einer aus meiner Sicht klaren Kompetenzanmaßung der Kommission. Aber jedes Mal, wenn es ernst wird, werden sie von ihren Fraktionsführungen zurückgepfiffen. ({9}) Das kann und darf so nicht bleiben; das muss sich ändern. Es ist eine fundamentale Frage für den Parlamentarismus. Die deutsche Haltung zu EU-Vorlagen ist kein Reservat der Exekutive. Der Bundestag muss mehr sein als ein Notar zur Umsetzung europäischen Rechts. ({10}) Er muss sich, gerade nach Irland, stärker einbringen, was die Formulierung der deutschen Verhandlungsposition zu jeder wichtigen neuen EU-Vorlage betrifft. ({11}) Das bedeutet mehr Arbeit für uns alle. Es verlangt aber vor allem mehr Mut, besonders bei den Fraktionen, die gerade die Regierung stellen. Ich danke Ihnen. ({12})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Hans Peter Thul, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Hans Peter Thul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003883, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Werte Kolleginnen und Kollegen! Der vorliegende gemeinsame Antrag von FDP, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen und SPD beschreibt eigentlich eine Selbstverständlichkeit. ({0}) - Lieber Herr Dr. Dehm, Sie waren nicht in der Lage, diesen Antrag mitzuformulieren. ({1}) - Sie haben noch Redezeit; dann können Sie Ihre Haltung begründen. Der vorliegende Antrag beschreibt, wie gesagt, eine Selbstverständlichkeit. Jedenfalls ist es nach unserem demokratischen und parlamentarischen Verständnis eine Selbstverständlichkeit. Wir arbeiten hier gemeinsam auf der Grundlage eines Mandates, das wir von unseren Wählerinnen und Wählern erhalten haben. Wir sind diesem Haus und dieser Aufgabe nur unserem Gewissen folgend und nach bestem Wissen verpflichtet. Dies setzt aber voraus, dass wir Gelegenheit haben müssen, die Grundlagen der Entscheidungen, die wir zu treffen haben, sinnerfassend, das heißt Wort für Wort, zu prüfen und abzuwägen, um dann zu einer Entscheidung zu kommen. Das können wir - seien wir ehrlich - am ehesten in unserer Muttersprache: Das ist die Amtssprache Deutsch. Dies gilt im Übrigen für jede innerhalb der Europäischen Union gesprochene Sprache. Insofern gilt das, was wir hier fordern, im übertragenen Sinne selbstverständlich auch für alle anderen Sprachen. Daher richtet sich unser Antrag weder gegen irgendeinen anderen Mitgliedstaat, noch diskriminieren wir mit diesem Antrag die Verwendung einer anderen innerhalb der Gemeinschaft zukünftig oder jetzt gesprochenen Sprache. Im Übrigen sollten wir alle - insbesondere am Vorabend der kommenden Wahl - daran interessiert sein, die Akzeptanz der EU-Regelungen durch die Bürgerinnen und Bürger zu erhöhen, die Entscheidungen nachvollziehbar zu machen und in dieser Form darüber zu diskutieren. Daneben erwartet und wünscht doch gerade die EU-Kommission eine stärkere Mitwirkung und ein stärkeres Einmischen der nationalen Parlamente. Diese Selbstverständlichkeiten haben wir gemeinsam im vorliegenden Antrag formuliert und in der Zwischenzeit, wie der Kollege Roth schon vorgetragen hat, in Brüssel dem zuständigen EU-Kommissar Leonard Orban und auch dem stellvertretenden Generalsekretär Jouanjean vorgetragen und erläutert. Daneben hatten wir Gelegenheit, außerparlamentarischen Interessenverbänden - etwa dem Goethe-Institut - dieses Anliegen vorzutragen. Ich darf vorwegnehmen: Wir haben in allen Gesprächen über keinen einzigen Einwand diskutieren müssen, der unserem Antrag entgegenstünde. Im Gegenteil, die derzeit geltende Verordnung 1/58 benennt ausdrücklich alle Amtssprachen als gleichrangig. Derzeit werden innerhalb der Gemeinschaft 23 Sprachen gesprochen. Nach unserer Überzeugung gilt das, was wir fordern - ich wiederhole das gerne an dieser Stelle -, für alle zurzeit und zukünftig gesprochenen Sprachen gleichermaßen. ({2}) Des Weiteren sind wir uns einig, dass die Übersetzungsleistungen alle beratungs- und entscheidungsrelevanten Dokumente umfassen müssen, mithin also auch alle Anlagen und alle Anhänge. Nur wir selbst können entscheiden, welche Informationen für unsere Entscheidungen relevant sind und Bedeutung haben. Die Abwägung zwischen der Notwendigkeit und der rechtlichen Verpflichtung zur Übersetzung eines Dokumentes ist Sache des nationalen Parlamentes und eben nicht Sache der Kommission in Brüssel. Unser Eindruck ist vielmehr, dass viele Dokumente schematisch und ohne Ansehen der inhaltlichen Relevanz herabgestuft werden. Zurzeit können - auch das wurde schon vom Kollegen Roth gesagt - nahezu 50 Vorgänge nicht vom deutschen Parlament abschließend bearbeitet werden, weil die entsprechenden Dokumente und Anhänge eben nicht in deutscher Sprache vorliegen. Das ist für unsere Arbeit eher hemmend und führt zu vermeidbaren Verzögerungen bei anstehenden Entscheidungen. Dies ist aufgrund der zunehmenden Dynamik im globalen Wettbewerb nicht hinnehmbar; denn wir brauchen flinke Lösungen und kein langatmiges Zuwarten. Die Kosten der Übersetzungsleistungen fallen für alle Sprachen in etwa gleicher Höhe an. Dies betont Herr Orban gleich an zwei Stellen in seiner schriftlichen Antwort vom 11. Juni 2008 auf eine entsprechende Anfrage des Kollegen Gahler aus dem Europäischen Parlament, wenn er schreibt, dass bei den Übersetzungskosten oder entsprechenden Kosten an anderer Stelle pro Seite kaum ins Gewicht fallende Unterschiede anfallen. Weiter heißt es wörtlich unter der laufenden Nr. 5 in der eben erwähnten Antwort: Die Kommission sieht keine besonderen Schwierigkeiten und speziellen Probleme, was den Bedarf an Übersetzungen ins Deutsche und die fristgerechte Vorlage anbelangt. Wenn dem so ist, dann gibt es meiner Ansicht nach kein ernstzunehmendes Argument, das unserem Antrag widerspricht. ({3}) Die in diesem Zusammenhang immer wieder genannten Finanzierungsmittel lassen sich nach unserer Meinung - auch das wurde schon gesagt - durch Umschichtungen in angemessener Höhe im Haushalt 2009 bereitstellen. Wie man den Protokollen entnehmen kann, haben die Mitglieder unserer Fraktion im Haushaltsausschuss dies wiederholt gefordert. Der deutsche EU-Kommissar Verheugen unterstützt die Hinhaltetaktik - an dieser Stelle muss Kritik erlaubt sein -, indem er seine Reden, wie zuletzt im April dieses Jahres, ausschließlich in Englisch hält, und das, obwohl eine Simultanübersetzung möglich gewesen wäre und die Vorlagen in allen drei Amtssprachen verfügbar waren. Das ist kontraproduktiv und widerspricht dem Gedanken der europäischen Pluralität. ({4}) - Schönen Dank, Herr Dr. Dehm. - Der Gebrauch der deutschen Sprache bei der Amtsausführung muss für Herrn Verheugen so selbstverständlich sein wie die Verwendung der französischen Sprache für den französischen Kollegen Barrot. Alles andere ist nach meiner Überzeugung falsch verstandene Höflichkeit und noch dazu unnötig. Ich komme zum Schluss. Lassen Sie mich die wichtigsten Forderungen unseres Antrages wiederholen: Neufassung der Übersetzungsstrategie noch im laufenden Jahr, eine angemessene parlamentarische Beteiligung bei dieser Ausarbeitung, die vollständige und zeitnahe Bereitstellung aller entscheidungsrelevanten Dokumente, eine angemessene Mittelbereitstellung in den Haushalten sowie eine stärkere Förderung und Verwendung der deutschen Sprache in der kulturellen Präsenz und im Arbeitsgebrauch innerhalb der Institutionen in Brüssel. Herzlichen Dank. ({5})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich gebe das Wort dem Kollegen Dr. Diether Dehm, Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Jörg Diether Dehm-Desoi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000365, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Hochverehrte Kolleginnen und Kollegen! Es handelt sich bei dem vorliegenden Antrag nicht um einen gemeinsamen Antrag aller Fraktionen. Der Ausschluss der Fraktion Die Linke von der Ausarbeitung dieses interfraktionellen Antrages war ein weiteres parteitaktisches Sandkastenspielchen, das mit dem etwas infantilen Unvereinbarkeitsbeschluss der CDU/ CSU-Fraktion, den mittlerweile alle kennen, zusammenhängt. Dabei wissen Sie, die Sie im EU-Ausschuss sitzen, dass dies unser gemeinsames Anliegen ist. ({0}) Da Sie die Linke nicht dabei haben wollten, mussten wir uns eine ganz besondere Begründung einfallen lassen: ({1}) Wir sind für die Demokratisierung der Wirtschaft, für die Vergesellschaftung der Deutschen Bank, der Allianz und von Daimler nach Grundgesetz und für die Kommunalisierung der Stromkonzerne, also für einen demokratischen Machtverlust bestimmter Eliten. Das war der besondere Teil der Begründung. Vor allem sind wir für die Demokratisierung des Wissens. Ich zitiere Martin Luther - das entspricht eher dem Mainstream -, der mit der Übersetzung der Bibel die Deutungshoheit dem Klerus entrissen und für das gemeine Volk geöffnet hat: ({2}) - Herr Eisel, da Sie sich zu einem notorischen Zwischenrufer bei meinen Reden entwickeln, fällt mir - mit Verlaub - ein, was ein früherer Bundesaußenminister mal zu einem früheren Bundestagspräsidenten gesagt hat. Seien Sie lieber etwas vorsichtiger. ({3}) Jetzt zitiere ich Martin Luther: Denn man muß nicht die Buchstaben in der lateinischen Sprache fragen, wie man soll deutsch reden … sondern man muß die Mutter im Hause, die Kinder auf der Gasse, den gemeinen Mann auf dem Markt darum fragen und denselbigen auf das Maul sehen, wie sie reden, und darnach dolmetschen, so verstehen sie es denn und merken, daß man deutsch mit ihnen redet. Die Kommission muss zur Kenntnis nehmen, dass die über 90 Millionen Menschen mit Deutsch als Muttersprache fast 20 Prozent aller Bürgerinnen und Bürger der EU ausmachen. Darüber hinaus sprechen circa 10 Prozent der EU-Bürgerinnen und -Bürger Deutsch als Fremdsprache. Zum Vergleich: Nur 13 Prozent der EUBürgerinnen und -Bürger sprechen Englisch als Muttersprache, obwohl Englisch mit 47 Prozent die meistverwendete Sprache in der EU ist. Französisch liegt mit 23 Prozent Verbreitung sogar hinter Deutsch nur auf Platz drei und ist für 12 Prozent Muttersprache und nur 11 Prozent Fremdsprache. Ich will Stefan Klein zitieren, der in der FAZ vom 6. Juli 2007 ausführte: Ob Deutsch eine Wissenschaftssprache bleibt oder nicht, ist darum keine Frage des Nationalstolzes. Es geht um viel mehr: um die Demokratie. Auch deshalb hält die Linke es für falsch, dass die Übersetzungskosten unter Verwaltungskosten subsumiert werden. Übersetzungskosten sind politische Kosten, sind Kosten der Demokratie. Eine quantitative Untersuchung der EU-Kommission geht davon aus, dass über 18 000 beratungsrelevante Seiten nachübersetzt werden müssen. Demokratische Teilhabe müssen wir uns etwas kosten lassen. Es ist nicht akzeptabel, wenn wir Parlamentarier wichtige Entscheidungen im Deutschen Bundestag anhand von Dokumenten vornehmen sollen, die bestenfalls teilweise übersetzt sind und hochkomplexe fremdsprachliche Fachtermini enthalten. Das nötige Kontrollrecht des Parlaments darf nicht dadurch ausgehöhlt werden, dass Parlamentarier nicht alle Dokumente unmittelbar lesen und verstehen können. Wenn die EU-Kommission den Bitten des Deutschen Bundestags, Nachübersetzungen vorzunehmen, nicht entsprechen will, müssen wir uns gemeinsam überlegen, wie wir sie dazu zwingen. Ansonsten kann es nicht verwundern, wenn sich immer mehr Menschen von den undurchschaubaren Vorgängen in Brüssel abwenden. Selbstherrlichkeit kommt meist vor dem Fall. Auch dies haben die irischen, französischen und niederländischen Volksabstimmungen gezeigt. Es war die Fraktion Die Linke, die stets darauf hingewiesen hat, dass sich die EU den Völkern öffnen muss oder in eine Legitimationskrise gerät. Ich zitiere noch einmal Stefan Klein in der FAZ: „We are dumber in English.“ „Dumb“ heißt hier nicht nur „dumm“, sondern auch „tumb“ und „unsensibel“. Klein schreibt - ich zitiere -: Weder Studenten noch Lehrern ist das Problem gewöhnlich bewusst, weil alle ihre Gewandtheit im Englischen überschätzen. Das Patchworkenglisch an europäischen Hochschulen und Schulen hat sich jedenfalls nicht als nachhaltig-zivilisatorischer Fortschritt erwiesen. Sprache ist nicht phonetisiertes Denken, sondern präzisiert und schärft den Denkvorgang. Wo jemand den genauen Begriff nicht findet, kann er auch nicht genau begreifen. Shakespeare formuliert das so: „Ich habe das Wort vergessen, und körperlos taumelt der Gedanke zurück ins Prunkgemach der Schatten.“ Auch darum sind 53 Prozent der Bevölkerung laut einer Allensbach-Umfrage für eine stärkere Verwendung der deutschen Sprache: für kulturelle Vielfalt und gegen elitäre Deutungshoheiten in europäischen Fragen. Die Fraktion Die Linke teilt das mit dem Antrag verfolgte Anliegen. Wir stimmen diesem, wenn auch etwas elitär zustande gekommenen Antrag zu. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich gebe das Wort dem Kollegen Rainder Steenblock, Bündnis 90/Die Grünen.

Rainder Steenblock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002806, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Natürlich haben die beiden Europadiskussionen, die wir am heutigen Tage führen - heute Morgen über den Vertrag von Lissabon und jetzt über die Übersetzungsstrategie -, etwas miteinander zu tun. Wir haben heute Morgen sehr deutlich gemacht, dass die Menschen in Europa Schwierigkeiten haben, die EU zu verstehen. Die EU muss verständlich sein, muss sich verständlich ausdrücken, um verstanden zu werden. Sie muss den Willen haben, verständlich zu sein. Sprache ist das zentrale Medium, ein Schlüssel für Verständigung und für Verständnis. Deshalb stehen wir vor der ganz zentralen Herausforderung, uns als Deutscher Bundestag dafür einzusetzen, dass die EU in all den Sprachen, die in Europa gesprochen werden, die die Menschen gebrauchen, um sich über Europa auszutauschen und zu verständigen, um Europa zu verstehen, kommuniziert. Das ist die Voraussetzung dafür, dass dieses Projekt gelingt, sonst kann sich keiner mit dem, was wir hier machen, identifizieren. Wenn Europa, was heute Morgen auch gesagt worden ist, nicht nur das Projekt der Eliten, sondern auch das Projekt der Menschen sein will, dann muss es in den Sprachen der Menschen in Europa kommunizieren. Das heißt, diese Übersetzungsstrategie ist die Voraussetzung dafür, dass wir in all den entscheidenden Fragen kommunizieren können. Deshalb haben wir an diesem Antrag gerne mitgearbeitet. Die Opposition, lieber Michael Roth, bedankt sich bei der Regierungskoalition für die Unterstützung bei diesem Antrag. ({0}) Wir haben den Charakter gemeinsam so verändert, dass wir nicht nur über die Förderung der deutschen Sprache diskutieren, sondern dass es bei dem Thema Übersetzungsstrategie um ganz Europa geht, das einen deutschen Kern hat. Wichtig ist uns: Es geht uns hier um ganz Europa. Schauen wir uns die Zielgruppen an, um die es in Europa geht. Viele Kollegen haben auf die parlamentarischen Abläufe hingewiesen: Wenn wir als Bundestag über Entscheidungen diskutieren wollen, die in Europa anstehen, dann muss das auf Deutsch möglich sein und dann muss man sich auf Deutsch dazu äußern können. Dafür sind die Voraussetzungen geschaffen. Wir werfen der EU vor, dass ihr die Sensibilität fehlt, dies als Problem zu erkennen. Natürlich hat Diether Dehm recht, wenn er sagt, dass Übersetzungskosten Demokratiekosten sind. Wenn Europa aus so vielen Ländern mit so vielen kulturellen Hintergründen besteht und wir diese kulturelle Vielfalt in den Sonntagsreden immer loben, dann müssen wir bereit sein, für die Kosten, die dadurch entstehen, dass wir viele Kulturen und Sprachen haben, aufzukommen. Wir müssen das ernst nehmen und dafür Steuermittel aufwenden - keine Frage. ({1}) Wir müssen neben dem Politikbetrieb, für den das wichtig ist, den Wirtschaftsbetrieb betrachten. Er ist eine zentrale tragende Säule und hat von Europa viel profitiert. Es kann nicht sein, dass jeder Betrieb in Deutschland noch zehn Personen für Übersetzungen einstellen muss. Die Ausschreibungen müssen so gestaltet sein, dass sich jeder Betrieb in Deutschland ohne großen zusätzlichen Aufwand beteiligen kann und andere keine Wettbewerbsvorteile durch sprachliche Diversifizierungen haben. Das gehört nicht ins europäische Wettbewerbsrecht; durch den Gebrauch von Sprache darf keine Unterschiedlichkeit entstehen. Auch dieser Bereich ist daher wichtig. Es hat also eine ökonomische Dimension, aber natürlich auch eine bürgerschaftliche Dimension, das heißt die Kommunikation von Menschen untereinander. Dabei geht es zum Beispiel auch um Internetauftritte. Das Internet ist das Medium, durch das man viele Menschen erreicht. Die EU hat Internetauftritte und Beteiligungsverfahren, die aus meiner Sicht vorbildlich sind. Aber wenn sie in einer Sprache stattfinden, die nicht alle Menschen beherrschen, ist das undemokratisch. Das kann nicht sein. Diese Internetauftritte müssen so gestaltet sein, dass sich alle Menschen in Europa an diesem Austausch beteiligen können. Dann werden wir es auch schaffen, dieses gemeinsame Europa zu realisieren. Lassen Sie mich noch eines sagen, weil hier über die deutsche Sprache und ihre Bedeutung in Europa viel gesagt worden ist. Ich finde, wir sollten uns - das sage ich, weil die Bundesregierung hier ein bisschen angegriffen worden ist - der historischen Wahrheit stellen. Ich will die Bundesregierung nicht groß verteidigen. Aber sie hat sich - das sieht man in den Protokollen von Herrn Duckwitz - in den letzten Monaten sehr intensiv und im Interesse unserer Beschlussfassung dafür eingesetzt. Das ist überhaupt keine Frage. Das bestehende Ungleichgewicht, das in Bezug auf die deutsche Sprache in Europa besteht, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP und der CDU/CSU, ist Folge einer bewussten Entscheidung der Regierung Kohl/Genscher. Sie hatte sich nicht dafür eingesetzt, die deutsche Sprache gleichgewichtig in die EU einzubringen. Das hatte politische Gründe, die man akzeptieren kann oder nicht. Aber es war eine historische Entscheidung der Regierung Kohl/Genscher. Wenn man die deutsche Sprache fördern will - auch das sei zum Schluss noch einmal gesagt -, dann muss man darauf hinweisen, dass es eine falsche Entscheidung dieser Regierung war - wir haben sie immer wieder kritisiert -, durch die Einschränkung der Freizügigkeit die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus Polen und anderen mittel- und osteuropäischen Ländern an Deutschland vorbei nach England und Skandinavien zu lenken und so die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Osteuropa und dem Vereinigten Königreich und Skandinavien drastisch zu fördern. ({2}) Dass nun in Osteuropa viele englischsprachige und wenige deutschsprachige Kompetenzen vorhanden sind, hat mit dieser Entscheidung zu tun, die aus meiner Sicht völlig falsch war und nicht im deutschen Interesse lag. Sie hat auch ökonomisch zu verfehlten Entwicklungen geführt.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege.

Rainder Steenblock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002806, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Politisch kann man vielleicht nachvollziehen, warum die Entscheidung getroffen wurde, aber sie war falsch und hat uns auch bezüglich der Sprachenförderung geschadet. Vielen Dank. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich gebe das Wort der Kollegin Dorothee Bär, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Dorothee Mantel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003586, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man die Rede des SED-, pardon, PDS-Kollegen Dehm vorhin gehört hat, ({0}) dann wünscht man sich manchmal, der deutschen Sprache nicht mächtig zu sein. ({1}) In der Europäischen Union kämpfen wir dauernd um Bürgernähe, um mehr Teilhabe und um die Interessen der Bürger. Wenn im nächsten Jahr bei der Europawahl eine Wahlbeteiligung zwischen 30 und 40 Prozent zu verzeichnen sein wird, wird das Erstaunen wieder groß sein. Dann wird der politikverdrossene Bürger wieder ermahnt werden, endlich seine staatsbürgerlichen Pflichten wahrzunehmen und die Politik der EU mitzugestalten. ({2}) Partizipation erfordert Verständnis. Ich meine in diesem Fall nicht das Verständnis der politischen Abläufe, dass man weiß, wie Politik funktioniert. Ich spreche vom Verständnis jedes einzelnen Wortes, vom Verstehen der Sprache. Wir haben heute schon mehrfach gehört, dass für 18 Prozent der Bürger in der Europäischen Union - das sind immerhin 91 Millionen Menschen - Deutsch die Muttersprache ist. Mit der französischen oder der englischen Sprache sind viel weniger Menschen vertraut. Außerdem gibt es sehr viele deutsche EU-Parlamentarier, im Moment 99. Hinzu kommen die Deutsch sprechenden Kollegen aus Österreich, Luxemburg, Belgien und Italien. In diesen Ländern ist Deutsch eine der offiziellen Amtssprachen. ({3}) - An diesem unqualifizierten Zwischenruf wurde deutlich, dass Sie Bayerisch und Fränkisch nicht unterscheiden können. So viel dazu. ({4}) 75 Prozent der EU-Bürger bleibt die Teilhabe an den politischen Prozessen in ihrer Muttersprache verwehrt. Hinzu kommt - auch das hat Kollege Steenblock erwähnt -, dass wir, die Abgeordneten des Deutschen Bundestages, unsere Kontrollaufgaben nur dann vollständig und zufriedenstellend erfüllen können, wenn wir im wahrsten Sinne des Wortes verstehen, was uns die Kollegen aus Brüssel übermitteln. Uns Politikern wird oft vorgeworfen, dass wir über Dinge reden, die wir nicht verstehen; bei diesem Thema trifft das allerdings nur auf die linke Seite dieses Hauses zu. ({5}) In diesem Fall muss man aber fragen: Wie denn auch? Als Mitglied der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ habe ich mich sehr intensiv mit der Frage beschäftigt, ob wir die deutsche Sprache verfassungsrechtlich schützen sollten. Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass unsere Sprache als Bestandteil unserer Kultur den Schutz des Grundgesetzes verdient. Dieser Entschluss unterstreicht die Bedeutung der Landessprache für jeden einzelnen Bürger. Die eigene Muttersprache bedeutet für uns alle auch Heimat. Wenn die EU ihren Bürgern nicht die Möglichkeit bietet, in ihrer jeweiligen Landessprache an der Politik teilzuhaben, dann wird sie sich weiterhin den Vorwurf gefallen lassen müssen, nur für die wenigsten ein Zuhause zu sein. Eigentlich ist unser Antrag eine Selbstverständlichkeit. Denn es geht - in Anführungszeichen - „nur“ um das Deutsche, „nur“ um unsere Muttersprache. Es geht nicht um die einzelnen Dialekte, die es in den verschiedenen Sprachen gibt. Ich denke, die Präsidentin des Deutschen Bundestages gibt mir recht, dass Fränkisch sicherlich noch am leichtesten zu verstehen ist. Schwieriger wären Plattdeutsch, Sächsisch oder Oberbayerisch. Ich hoffe, dass eine große Mehrheit dieses Hauses unserem Antrag zustimmt, und ich bedanke mich bei den vier vernünftigen Fraktionen im Bundestag. Vielen Dank. ({6})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich gebe das Wort dem Kollegen Klaus Hagemann, SPD-Fraktion.

Klaus Hagemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002668, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren im Plenarsaal und auf der Tribüne! Welche Bedeutung die Europapolitik für Deutschland und die anderen europäischen Nationalstaaten hat, hat unsere heutige Tagesordnung bewiesen; denn wir beschäftigen uns heute schon zum zweiten Mal mit diesem Thema. Der Schock über das Ergebnis des Referendums in Irland war allen Debattenbeiträgen zu entnehmen. Ich bin aber davon überzeugt, dass die Menschen in Irland nicht in erster Linie die europäische Einigung abgelehnt haben. Das, was sie bewogen hat, liegt tiefer, und es geht dabei auch um andere Themen. Wenn wir unsere Wahlkreise besuchen, hören wir ständig, wie sich Menschen darüber beklagen, dass „die in Brüssel“ nicht mehr die Sprache des kleinen Mannes bzw. der Mehrheit der Menschen sprechen. Dabei geht es nicht um die Muttersprache. Wir alle sprechen eine technokratische Sprache, und das über die Köpfe der Menschen hinweg. ({0}) Das gilt nicht nur für „die in Brüssel“, sondern zum Teil auch für uns, ({1}) egal welche Muttersprache wir sprechen. Wir erreichen die Herzen der Menschen nicht mehr. ({2}) Das ist das Problem, mit dem sich die Verantwortlichen in Brüssel, mit dem aber auch wir uns auseinandersetzen müssen. ({3}) Kollege Steenblock hat den Internetauftritt der EU angesprochen; er ist sicherlich sehr positiv. Wenn man genauer hinsieht, stellt man aber fest, dass diese Internetseiten noch nicht einmal in die eigene Muttersprache übersetzt worden sind. Das ist ein großes Problem, das man lösen muss. Damit muss sich in erster Linie Brüssel beschäftigen. In diesem Zusammenhang spielen auch die Entscheidungen, die in letzter Zeit in Brüssel getroffen worden sind - von der Kommission, vom Parlament und vom Europäischen Gerichtshof -, eine Rolle. Die soziale Dimension scheint etwas in den Hintergrund getreten zu sein. Das europäische Sozialmodell kommt nicht mehr genug zum Vorschein. ({4}) Auch das hat mit der Muttersprache nichts zu tun. Trotzdem sollten wir diese Entwicklung beobachten. Wir müssen die Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, der Mehrheit der Menschen in den europäischen Staaten, stärker in den Mittelpunkt rücken. Stattdessen stehen die „Technik der Integration“, die Marktmechanismen, die zum Teil sogar ruinösen Marktmechanismen, und die Interessen der Konzerne im Vordergrund - so zumindest kommt es bei den Menschen an. Als Beispiel sei die Richtlinie über die Einsetzung eines Europäischen Betriebsrates genannt, die in der Diskussion ist. Auch da, Kollege Willsch, kommen wir nicht voran. Erwähnt seien auch die langen Diskussionen über die Dienstleistungsrichtlinie und über verschiedene Urteile des Europäischen Gerichtshofs in letzter Zeit. Vor etwa einem Jahr haben wir über die Frage der deutschen Sprache diskutiert und gefordert, dass alle EU-Dokumente ins Deutsche übersetzt werden. Ich will herausstellen: Viel getan hat sich nicht. Es geht bei dieser Forderung nicht nur um eine stärkere Berücksichtigung unserer Sprache, es geht insbesondere - als Haushälter möchte ich das erwähnen - um die Kontrolle der EU-Ausgaben und um eine effiziente Verwaltung der Mittel. Wir legen in unserem Unterausschuss des Haushaltsausschusses Wert darauf, dass wir das alles kontrollieren können. Auch der Entwurf des Vertrages von Lissabon macht deutlich, dass nicht nur das Europäische Parlament, sondern auch die nationalen Parlamente mehr Rechte bekommen sollen. Da braucht man übersetzte Dokumente. Deswegen stehen wir voll und ganz hinter dem Antrag, den wir heute verabschieden. Wir brauchen mehr Transparenz, mehr Durchsichtigkeit. Es geht bei diesem Antrag, um das klar zu sagen, nicht um Deutschtümelei oder gar Neid, dass andere Sprachen stärker verwendet werden, ({5}) es geht vielmehr um die Kontrolle der Kommission, der Exekutive. Wir wollen unsere Kontroll- und Mitwirkungsrechte nützen. Dazu brauchen wir die Dokumente in unserer Sprache. Meine Damen und Herren, ich meine, ganz gut Englisch und Französisch sprechen zu können. Bei Fachsprachen ist bei mir allerdings oft Sendepause. Das wird vielen anderen auch so gehen. Wenn ich Entscheidungen zu treffen habe, möchte ich die Dokumente nach eigener Lektüre bewerten und nicht auf Zusammenfassungen in deutscher Sprache angewiesen sein, bei denen sich immer die Frage stellt, wer überhaupt mit welchem Interesse zusammengefasst hat. Es wurden schon die Kostenfragen angesprochen. Der Haushaltsentwurf 2009 ist von der Kommission vorge17896 legt; wir haben uns im Unterausschuss des Haushaltsausschusses damit auseinandergesetzt. Der Haushalt wächst nach Vorschlag der Kommission im Allgemeinen um 3,1 Prozent, die Verwaltungsausgaben wachsen um 5 Prozent. Man muss fragen, warum gerade die Verwaltungsausgaben so stark wachsen. Es geht schließlich um 7,6 Milliarden Euro. Ich meine, hier ließe sich durch Umschichtung - der Ausdruck ist des Öfteren gefallen mehr erreichen, dass nämlich mehr Mittel für den Sprachendienst zur Verfügung gestellt werden. Auch das haben wir im Unterausschuss bereits intensiv besprochen. Kommende Woche findet auf Einladung des Europäischen Parlaments eine Zusammenkunft der Vorsitzenden der Haushaltsausschüsse statt. Ich darf, wie sich zwischenzeitlich geklärt hat, unseren Haushaltsausschuss dort vertreten. Ich werde den Komplex Sprachendienst zu einem der Themen machen, die behandelt werden müssen. Wenn man alle Beschäftigten der europäischen Kommissionen und Agenturen zusammenrechnet, kommt man auf 36 000 Beschäftigte. Da werden sich doch noch ein paar mehr finden lassen, die Übersetzungsarbeit leisten können. ({6}) Herr Staatsminister, ein herzliches Dankeschön an den Außenminister für die Unterstützung und für die Bemühungen! Auch den Bundestagspräsidenten möchte ich in diesem Zusammenhang erwähnen. Es ist gut, dass alle an einem Strang ziehen. Die Forderungen, meine Damen und Herren, richten sich aber nicht nur an die andere Seite, sie richten sich natürlich auch an uns. So konnte man vor rund einem Jahr in der Süddeutschen Zeitung lesen: Deutsch … spielt eine Nebenrolle, weil es die Hauptrolle nie gewollt hat. Ich komme zum letzten Satz, Frau Präsidentin. - Wir alle in allen Gremien müssen uns bemühen, dass auch Deutsch gesprochen wird. Natürlich müssen wir fremde Sprachen lernen - in diesem Zusammenhang kann ich nur an die vielen Jugendlichen auf den Tribünen appellieren -, damit wir gewappnet sind. Noch einmal: Die Zukunftsfähigkeit Deutschlands liegt in Europa. Lassen Sie uns dafür gemeinsam streiten! Vielen Dank. ({7})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich gebe das Wort dem Kollegen Klaus-Peter Willsch, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Klaus Peter Willsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003264, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen! Ich werde nicht zur Betriebsräterichtlinie sprechen, und mir geht es auch nicht um die Sprachkompetenz der deutschen Abgeordneten. Ich weiß, dass es sehr viele unter uns gibt, die sich fließend in sehr vielen Sprachen verständigen können. Darum geht es aber nicht. Es geht um die Kompetenz des Deutschen Bundestages, also des Verfassungsorgans. Wir haben Mitwirkungsrechte bei EU-Prozessen. Deshalb müssen wir dafür Sorge tragen, dass die EU - wir sind ein nicht unerheblicher Zahler für all das, was dort geschieht - auch die Rechte des Bundestages wahrt. Diese sind nur gewahrt, wenn wir die Vorlagen in unserer Muttersprache beraten können. So einfach ist die Sache. ({0}) Im Haushaltsausschuss gibt es ja den Unterausschuss zu Fragen der Europäischen Union, dem vorzustehen ich die Freude und Ehre habe. Als ich diese Funktion vor drei Jahren übernommen habe, haben wir den Brauch eingeführt, dass wir nicht übersetzte Vorlagen nicht mehr annehmen, sondern zurückweisen, weil wir sie für nicht beratungsfähig erklären. So kann es nämlich nicht gehen. Bevor ich in den Bundestag kam, war ich einmal Bürgermeister. ({1}) Ich kenne die Praxis von Verwaltungen, möglichst viel Papier zu produzieren und irgendwo das hineinzuschreiben, was niemand finden soll. Wenn man dazu noch die Möglichkeit der Camouflage durch die Sprache hat, wird das noch sehr viel leichter. Deshalb dürfen wir uns nicht darauf einlassen; wir als Deutsche müssen ganz selbstverständlich und ohne irgendeine Überheblichkeit darauf bestehen, dass die Sprache, die von den meisten in Europa muttersprachlich gesprochen wird, auch bei der EU verwendet wird und dass uns die Dokumente in dieser Sprache vorgelegt werden. Nicht mehr und nicht weniger fordern wir. Dass wir die Bemühungen, mit denen wir vor drei Jahren im Unterausschuss begonnen haben, jetzt mit einem gemeinsamen Antrag hier im Plenum zu einem Zwischenergebnis führen - das Brett, das wir dort bohren, bleibt nämlich weiter dick -, macht mich froh. ({2}) Es ist ein Punkt angesprochen worden, den ich auch noch einmal unterstreichen will. Ich möchte all diejenigen, die für uns in Europa in irgendeiner Funktion Verantwortung tragen - sei es in der Bürokratie, sei es im Parlament, sei es in der Kommission -, ermuntern, ihre Tätigkeit in ihrer Muttersprache auszuüben; denn es hat natürlich Auswirkungen, wenn sie überall hinkommen und die super Weltläufigen spielen, die sich in anderen Sprachen verständigen können. Dann wird einfach nicht mehr der Bedarf gesehen, dass das alles auf Deutsch übersetzt werden muss. Es ist deutlich geworden - dafür danke ich dem Kollegen Hagemann -, dass wir vor allen Dingen auch an die Bürger in unserem Lande denken müssen, die wir für Europa begeistern wollen. Wir wollen die Begeisterung neu entfachen bzw. erhalten. Die Bürger müssen mitgenommen werden können - auch sprachlich. Wir können nicht einfach voraussetzen, dass jeder die Dokumente lesen kann, die uns in wirklich aberwitzigen Umfängen erreicht haben: 10, 12 Seiten auf Deutsch, 130 Seiten auf Französisch und 80 Seiten auf Englisch. Bei allem guten Willen: So lassen wir nicht mit uns umgehen. Das muss sich ändern. Ich danke der Bundesregierung, dass sie uns dabei unterstützt, und fordere sie nachdrücklich auf, das entsprechend fortzusetzen. Das Ganze hat auch Auswirkungen in anderen Bereichen. Die Homepages sind angesprochen worden. Mir liegt ein Bericht aus der Frankfurter Neuen Presse vor: EU diskriminiert die deutsche Sprache. - Es ging darum, dass sich jemand für ein Rehabilitationsprojekt für Folteropfer bewerben wollte. Dabei war ausdrücklich ausgeschlossen, sich in anderen Sprachen als in Englisch, Französisch oder Spanisch zu bewerben. Wo kommen wir denn da hin? ({3}) - Ja, die Diskriminierungsbeauftragte hat auch gesagt, dass das eine Diskriminierung ist. Die Kommission hat aber erst einmal so gehandelt. - Das dürfen wir nicht durchgehen und mit uns machen lassen. Ich glaube, wenn wir weiter fest genug an dem Thema bleiben, dann wird uns dort auch ein Erfolg gelingen. Ich will der Kommission noch einmal ausdrücklich anbieten: Für den Fall, dass sie das nicht auf einen Schlag hinbekommt, könnten wir für eine Übergangszeit Übersetzer beim Deutschen Bundestag einstellen. Englisch und Französisch sind ja nun keine Mangelfächer. Es ist kein Problem, das in Deutsch zu übersetzen. Die Kosten dafür verrechnen wir dann mit anderen Zahlungen, die die EU von uns erwartet. Dann übersetzen wir uns die Sachen eben selbst. Langfristig ist es aber sicher richtig, dass wir so an das Thema herangehen, wie wir das hier im Antrag niedergelegt haben. Wir müssen darauf achten, dass die Amtssprachen auch in der EU ihren entsprechenden Niederschlag finden, und wir als Deutscher Bundestag müssen besonderen Wert darauf legen, dass uns die Dokumente in Deutsch vorgelegt werden. Ich denke, das wird uns jeder nachsehen. Deshalb bedanke ich mich dafür, dass diese breite Mehrheit hier zustande gekommen ist. Ich bin mir sicher, dass wir noch zwei-, dreimal über dieses Thema debattieren müssen, bis wir es dann endlich abgeschlossen haben. Ich bin mir aber auch sicher, dass wir am Ende am Ziel ankommen werden. Vielen Dank. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/9596 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Gisela Piltz, Hans-Michael Goldmann, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Datenschutz im nicht öffentlichen Bereich verbessern - Drucksache 16/9452 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({0}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Gisela Piltz, FDP-Fraktion. ({1})

Gisela Piltz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003667, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Jeder zweite Haushalt besitzt eine sogenannte Payback-Karte. Knapp zwei Drittel aller Deutschen nutzen das Internet privat und vermutlich auch am Arbeitsplatz, wobei 94 Prozent der Jüngeren von 18 bis 24 Jahren online sind. Die SCHUFA hat Daten über 96 Prozent unserer Bundesbürger gespeichert. Private Datensammlungen stellen damit alle Datensammlungen des Staates weit in den Schatten. Es wird prophylaktisch gesammelt; das Nutzerverhalten wird akribisch festgehalten und anschließend vielfältig ausgewertet. Beobachten, Verkaufen, Bespitzeln: Dieser Dreisatz, der offensichtlich in mehr Unternehmen, als uns lieb sein kann, an der Tagesordnung ist, zeigt uns, dass wir als Politiker dieses Thema dringend im Auge behalten müssen. ({0}) Videoüberwachung, die sogenannte RFID-Technik und Kassensysteme mit der Möglichkeit, im Supermarkt per Fingerabdruck zu bezahlen, sind nur einige Beispiele für den rasanten Technologiewandel, den wir in den letzten Jahren erleben konnten. Im Internet legen vor allem immer mehr junge Menschen einen Daten-Striptease hin, veröffentlichen peinli17898 che Partybilder und ihre Meinung zu Sex, Drugs and Rock ’n’ Roll, und das alles nur, um ein bisschen Öffentlichkeit und Aufmerksamkeit zu ergattern. Die weitreichenden Konsequenzen werden meist nicht bedacht. Meine Warnung an die Generation Internet lautet: Denken Sie gut darüber nach, was Sie ins Internet einstellen! Das Internet vergisst und vergibt Ihnen nichts. ({1}) - Ja, Schäuble sieht alles, aber auch jeder andere, zum Beispiel der Arbeitgeber, wenn er Sie googelt. Kunden werden mit mageren und undurchsichtigen Rabatten angelockt. Wenn Sie glauben, es käme Ihnen zugute, wenn Sie zum Beispiel solche Karten haben, dann kann ich Sie nur darauf aufmerksam machen, dass das nicht der Fall ist; vielmehr verdient jemand anders mit Ihren Daten Geld. Daran sollten Sie immer denken. Wenn Sie Ihre Daten weitergeben, dann werden Sie wie Fliegen in einer Venusfalle zerquetscht, um an Ihre begehrten persönlichen Daten zu kommen. Diese riesigen persönlichen Datenmengen bergen auch sozialen Sprengstoff. Das sehen die meisten gar nicht. Bisher haben nämlich vor allem diejenigen die Nachteile zu spüren bekommen, die ärmeren Schichten angehören, weil sie keine Kredite oder Versicherungen bekommen bzw. schlechtere Vertragskonditionen zum Beispiel bei Krediten in Kauf nehmen müssen. Menschen werden katalogisiert und nach ihren persönlichen Daten eingeteilt, ohne einen blassen Schimmer davon zu haben. Wir dürfen Menschen nicht auf bloße Datensätze oder Nummern reduzieren. Der Mensch ist kein bloßes Objekt. Das widerspricht der Menschenwürde, wie schon das Bundesverfassungsgericht festgestellt hat. ({2}) Wir brauchen ein neues Datenschutzbewusstsein in der Bevölkerung. Das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung und das sozusagen brandneue Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme - oder auch ITGrundrecht - kann man leider nicht anfassen oder sehen. Das ist der Unterschied zu vielen anderen Schutzgütern von Grundrechten. Man kann sie nicht erleben wie den Beruf oder die körperliche Unversehrtheit. Man kann sie auch nicht anfassen oder sehen wie die Kunst oder das Eigentum. Trotzdem sind diese beiden Grundrechte in unserer modernen Kommunikation von herausragender Bedeutung und beeinflussen nicht unerheblich auch den nichtöffentlichen Bereich. Elektronische Datenspeicherungen laufen vorwiegend ohne unser Zutun im Hintergrund ab. Das macht sie so gefährlich. Wir müssen eben nicht nach jedem Telefonat oder nach jeder Internetnutzung einen Bogen ausfüllen und unsere Zustimmung zur Speicherung geben. Wir bekommen meist nicht einmal mit, wenn sogenannte Cookies installiert werden. Dabei geht es nicht um Kuchen; das muss ich vielleicht manchem älteren Kollegen erklären. ({3}) - Wenn Sie sich angesprochen fühlen, Herr Tauss, dann habe ich mein Ziel schon erreicht. ({4}) Cookies werden installiert, damit das Surfverhalten analysiert werden kann und später Werbemails an Sie verschickt werden können. Von der Installation von Cookies merken wir so gut wie nichts. Deshalb wehren wir uns nicht. Konsequenzen hat unser Verhalten im Internet meistens leider noch nicht. Wir sind aber in den letzten Wochen abrupt wachgerüttelt worden. Es erinnert ein wenig an das Märchen „Des Kaisers neue Kleider“. Wir laufen buchstäblich nackt durch die Gegend - keine Sorge, wir sind zwar im Plenarsaal, aber es geht nur um die Daten -; denn die riesigen Datensammlungen gefährden unsere Privatsphäre. Wir sollten schnellstmöglich handeln und den Datenschutz im nichtöffentlichen Bereich verbessern. Wir haben dazu im Bundestag die Chance. Wir sollten es tun. Wir sollten auch alle staatlichen Datensammlungen überprüfen, die diesen Trend erst eingeleitet haben: Fluggastdaten, Vorratsdatenspeicherung, biometrische Daten im Pass und im Personalausweis sowie Kfz-Kennzeichen-Scanning. Die Große Koalition muss sich aus unserer Sicht mäßigen. Unternehmen schauen auf den Staat. Er hat eine Vorbildfunktion. Es kommt noch schlimmer: Viele Unternehmen sammeln im Auftrag des Staates. Datensätze, die einmal da sind, wecken Begehrlichkeiten. Das heißt, der Staat hat die Geister selbst gerufen. Der Gewöhnungseffekt ist - Gott sei Dank - noch nicht vollständig eingetreten. Noch können wir etwas bewegen. 30 000 Menschen haben Klage gegen die Vorratsdatenspeicherung in Karlsruhe eingereicht. Sie wollen nicht überlegen, mit wem sie telefonieren, welche Internetseite sie aufrufen können und welches Verhalten genehm ist oder nicht. Wir brauchen zudem ein Umdenken bei den Unternehmen. Die Position der betrieblichen Datenschutzbeauftragten muss gestärkt werden. Eine unabhängige Prüfungskompetenz muss eine Selbstverständlichkeit sein. Wir brauchen des Weiteren dringend ein Datenschutzauditgesetz. Wir hoffen, dass die Bundesregierung bald einen entsprechenden Entwurf vorlegt und dass dieser endlich in dieser Legislaturperiode verabschiedet werden kann. Wir brauchen außerdem eine Gesamtstrategie zur Förderung datenschutzrechtlicher Techniken; denn Deutschland hat heute einen hohen Datenschutzstandard. Wir müssen das als Standortvorteil begreifen. Die Erde ist keine Scheibe, sondern rund. ({5}) - Ich weiß, dass Sie das überrascht. Aber es muss einmal gesagt werden. Datenschutz ist kein innovationshemmendes Teufelszeug, sondern die Menschenwürde respektierendes Ambrosia. Sie müssen nur den Mut haben. Wir haben ihn. ({6})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Beatrix Philipp, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Beatrix Philipp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002750, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich habe nachgeschaut und festgestellt, dass wir hier keine Grundsatzdebatte über den Datenschutz führen, sondern dass wir uns mit einem FDP-Antrag befassen sollen. Ich will nicht sagen, dass dieser genauso zu bewerten ist wie die letzte Bemerkung der Kollegin Piltz, dass die Erde rund sei. Aber er ist ähnlich zu betrachten. Das werde ich gleich nachweisen. Ich finde Äußerungen und Zwischenrufe aus dem Kreis der FDP wie „Schäuble sieht alles“ überhaupt nicht witzig. Wenn sich ein Innenminister, begleitet durch das Parlament, ernsthaft bemüht, gesetzliche Regelungen zu schaffen, sodass ein größtmöglicher Schutz der Bevölkerung vor den zweifellos vorhandenen Terrorismusgefahren besteht, dann ist er auf dem Weg, das, was sein Vorgänger ohne gesetzliche Regelungen, das heißt ohne Parlament erreichen wollte, nun in geordnete Bahnen zu lenken. Deswegen finde ich die immer wieder geäußerte Bemerkung „Schäuble sieht alles“ - das grenzt an Diffamierung - nicht witzig. Das ist unserem Parlament nicht angemessen. Das will ich ganz deutlich sagen. ({0}) Der vorliegende Antrag ist - das wissen Sie besser als wir alle, Frau Piltz - der Beschluss des FDP-Parteitags, der vom 31. Mai bis 1. Juni stattgefunden hat. Seine Formulierung kann nicht sehr schwierig gewesen sein, weil er im Wesentlichen die Forderungen enthält, die wir Berichterstatter in einer gemeinsamen, mühsam erarbeiteten Entschließung im Zusammenhang mit dem Bericht des Datenschutzbeauftragten erhoben haben. Deswegen bin ich ein bisschen enttäuscht; denn als ich gelesen habe, dass die FDP hierzu einen Antrag einbringt, habe ich gedacht, dass wir dann endlich wissen, wie es im Bereich des Datenschutzes weitergehen soll. Eigentlich, Frau Piltz, bin ich von Ihnen - das meine ich ganz positiv - viel mehr Kreativität gewöhnt, als es in diesem Antrag zum Ausdruck kommt. Wir hätten es eigentlich besser wissen müssen. Sie haben auf aktuelle Ereignisse und Skandale zum Beispiel bei der Telekom und bei Lidl Bezug genommen. Aber alle Kundigen waren sich einig, dass es diesmal nicht zu Überreaktionen und Schnellschüssen kommen darf. Ich kann mich gut daran erinnern, schon von dieser Stelle aus gesagt zu haben, dass das, was wir im Zusammenhang mit dem grausamen Geschehen in Erfurt in Bezug auf das Waffenrecht viel zu schnell und hektisch, fast an Aktionismus grenzend auf den Weg gebracht haben, der Sache nicht sehr gedient hat. Ich war lange genug Mitglied einer Oppositionsfraktion und weiß deshalb - Frau Piltz, auch Sie wissen das -, dass in dieser Lage der Zwang zur Schnelligkeit oft vor Gründlichkeit geht. Dass das auch hier der Fall ist, kann ich an einigen Beispielen zeigen. ({1}) - Herr Tauss, über die Opposition reden wir beide extra. Da gibt es noch eine ganz andere Beziehung. ({2}) Lassen Sie mich zu Anfang gleich sagen, dass natürlich jede Fraktion zu jedem Zeitpunkt und zu jedem Thema Anträge stellen kann. Es mutet aber schon ein bisschen seltsam an, wenn dieselben Themen wortgleich auf verschiedenen Ebenen diskutiert werden und gleichzeitig so der Eindruck erweckt wird, man habe spontan eine Lösung auf den Tisch gelegt, während die anderen Kolleginnen und Kollegen noch nach einem angemessenem Umgang mit der Sache suchen. So ganz toll, fand ich, ist es nicht. Nun zurück zum Antrag. Die erste Feststellung - „Die aktuellen Datenschutzskandale zeigen dringenden Handlungsbedarf für eine Stärkung des Datenschutzes im nicht öffentlichen Bereich“ - ist eher irreführend; denn wir alle haben auch von dieser Stelle darauf hingewiesen, dass wir und auch diejenigen, die bei der Telekom das Sagen haben, noch im Nebel stochern. Keiner weiß - vielleicht weiß es die Staatsanwaltschaft inzwischen -, ob es an der gesetzlichen Grundlage lag oder ob es andere Dinge gewesen sind. Jedenfalls ist die genaue Vorgehensweise der Täter überhaupt nicht bekannt. Wir müssen sehr vorsichtig sein, damit wir nicht wieder das Kind mit dem Bade ausschütten. Es ist natürlich überhaupt nicht falsch, wenn man den Datenschutz im nichtöffentlichen Bereich stärken will. Wer könnte etwas dagegen haben? Ich finde es aber nicht so gut, das an einem Skandal festzumachen, von dem wir wissen, dass es einer längeren Zeit bedarf, bis er aufgeklärt ist. Wir sollten deswegen auch nicht in der Öffentlichkeit den Eindruck erwecken, wir wüssten inzwischen alles und hätten den Stein der Weisen gefunden, wenn nicht einmal die Fakten auf dem Tisch liegen. Ich will auch in Erinnerung rufen, dass selbst der Datenschutzbeauftragte im Innenausschuss und auch in Presseveröffentlichungen gesagt hat, dass er im Rahmen seiner Tätigkeit natürlich bei der Telekom gewesen sei. Er hat auch gesagt - das haben andere im Innenausschuss zum Ausdruck gebracht -, dass selbst eine Erhöhung des Personalbestands, was verständlicherweise vom Datenschutzbeauftragten gefordert wird, überhaupt nicht sichergestellt hätte, dass es nicht zu diesem Skandal gekommen wäre. Diese hundertprozentige Sicherheit gibt es jedenfalls nicht. Wir sollten der Bevölkerung auch nicht vorgaukeln, dass man sie herstellen könnte. In dem Augenblick, in dem kriminelles Handeln stattfindet, sind die Grenzen des Gesetzgebers relativ schnell erreicht. Er kann etwas einmal oder auch zweimal verbieten und unter Strafe stellen, aber er wird dadurch keinen hundertprozentigen Schutz gewährleisten. ({3}) - Es gibt noch andere Bereiche, in denen das ganz genauso ist. - Immer dann, wenn kriminelles Handeln stattfindet, sind die Grenzen der Einflussmöglichkeiten des Gesetzgebers schnell erreicht. Man sollte nicht behaupten, es gebe einen hundertprozentigen Schutz. Ein weiterer Punkt: Schwierig wird die Beratung auch deswegen, weil das, was Sie in Ihrem Antrag ausgeführt haben, sehr einleuchtend klingt, aber bei näherem Hinsehen festzustellen ist, dass es sich dabei um Forderungen handelt, die entweder schon gesetzlich geregelt sind oder die in einem Gesetzentwurf stehen, der bereits Kabinettsreife erreicht hat, oder die so selbstverständlich sind, dass ich mich fast wundere, dass sie überhaupt in einem Antrag formuliert sind. Ich will aus Zeitgründen nur einige Beispiele bringen. In Ziffer 2 Ihres Antrags heißt es: Unternehmen müssen ihre Verantwortung für den Datenschutz ernst nehmen. Ein Blick in das geltende Bundesdatenschutzgesetz zeigt, dass es gerade hier keinen gesetzgeberischen Handlungsbedarf gibt, sondern vielleicht eher ein Vollzugsdefizit herrscht. Letzteres will ich nicht bestreiten. In § 3 Abs. 7 heißt es: Verantwortliche Stelle ist jede Person oder Stelle, die personenbezogene Daten für sich selbst erhebt, verarbeitet oder nutzt oder dies durch andere im Auftrag vornehmen lässt. Das heißt konkret, dass die datenschutzrechtliche Verantwortung bei dem datenverarbeitenden Unternehmen selbst liegt, wie es Ihr Antrag fordert. Weiter heißt es in § 4 f Abs. 3 Satz 2 bis 4 zum betrieblichen Datenschutzbeauftragten: Er - also dieser betriebliche Datenschutzbeauftragte ist in Ausübung seiner Fachkunde auf dem Gebiet des Datenschutzes weisungsfrei. Er darf wegen der Erfüllung seiner Aufgaben nicht benachteiligt werden. Die Bestellung zum Beauftragten für den Datenschutz kann in entsprechender Anwendung von § 626 des Bürgerlichen Gesetzbuches, bei nicht-öffentlichen Stellen auch auf Verlangen der Aufsichtsbehörde, widerrufen werden. Schon der Hinweis bzw. die Bezugnahme auf das Bürgerliche Gesetzbuch bedeutet, dass der betriebliche Datenschutzbeauftragte nur aus zwingendem Grund fristlos gekündigt werden kann. Also genießt er einen besonderen Kündigungsschutz. Auf den arbeitsrechtlichen Aspekt will ich nicht weiter eingehen. Schon an diesem Beispiel - es gibt noch sehr viele mehr, die aber aus Zeitgründen keine Erwähnung finden können - ist klar zu erkennen, dass viele Punkte aus dem Antrag der FDP bereits geregelt sind. Nun zum Grundsatz der Datensparsamkeit. Im Bundesdatenschutzgesetz finden wir auch den Grundsatz der Datenvermeidung und der Datensparsamkeit. Dort heißt es nämlich in § 3 a: Gestaltung und Auswahl von Datenverarbeitungssystemen haben sich an dem Ziel auszurichten, keine oder so wenig personenbezogene Daten wie möglich zu erheben, zu verarbeiten oder zu nutzen. Ich will noch etwas zu RFID und zu dem von Ihnen geforderten Koppelungsverbot sagen, weil Sie das kurz angesprochen haben. Das Koppelungsverbot haben wir, wie Sie sicherlich wissen, bereits im Telekommunikationsgesetz bzw. für die Bereitstellung von Telemedien im Telemediengesetz geregelt. Deswegen ist eine Regelung in anderen Bereichen unserer Meinung nach nicht notwendig. Im Bundesdatenschutzgesetz findet sich das Kopplungsverbot bereits insofern wieder, als die Einwilligung des Betroffenen auf seiner freiwilligen Entscheidung beruhen muss. Nun noch zu RFID: In Ihrem Antrag fordern Sie die Bundesregierung auf, dafür zu sorgen, dass RFID-Chips spätestens beim Verlassen des Ladens automatisch dauerhaft und unwiderruflich deaktiviert werden. Wir sollten, meine ich jedenfalls, erst einmal abwarten - und es stünde auch der FDP-Fraktion gut an, wenn sie das wie meine Fraktion täte -, wie eine Selbstverpflichtungserklärung vonseiten der Wirtschaft aussieht und ob sie sich bewähren wird. ({4}) - Nein, Frau Piltz, Sie sind nicht auf dem neuesten Stand. Ich habe mich gestern noch einmal erkundigt: Das RFID-Forum hat sehr wohl Interesse daran. Das kann ich Ihnen gleich zeigen; das Material habe ich dabei. ({5}) - Nein, es ist nicht gescheitert. - Das Forum hat nach wie vor diese Bereitschaft zur Selbstverpflichtung. Ausgehandelt werden muss, inwieweit den Vorstellungen des Innenministeriums entgegengekommen wird. Darüber wird zweifellos diskutiert; die Diskussion läuft. Ich habe das Gerücht, es sei gescheitert, auch gehört. Deswegen habe ich mich gestern noch einmal kundig gemacht und kann feststellen: Diese Behauptung kann so nicht aufrechterhalten werden. Im Gegenteil: Wir sollten bedenken - denn auch Brüssel ist wieder aktiv, das werden Sie genauso wissen wie ich -, dass jede voreilige Entscheidung im Zusammenhang mit Verfahren bei RFID-Chips einen möglicherweise erheblichen Nachteil für die deutsche Wirtschaft und Industrie bedeuten kann. Deswegen meine ich, man sollte sehr vorsichtig damit umgehen und nicht Türen zuschlagen, ehe man weiß, was sich hinter diesen Türen verbirgt. Die Haltung der Bundesregierung - das wissen Sie - ist der Bundestagsdrucksache 16/7891 von Ende Januar deutlich zu entnehmen. Nun komme ich zum letzten Punkt, den ich gerne ansprechen möchte: Datenmissbrauch bei Kundenkarten. Sie haben eben wieder ein Szenario entwickelt, bei dem ich gedacht habe: Um Gottes willen! Natürlich müssen die Menschen in unserem Land lernen, mit ihren eigenen Daten vorsichtig und sorgfältig umzugehen - das ist überhaupt keine Frage. Aber gerade bei den KundenkarBeatrix Philipp ten - wir haben sehr viele Gespräche geführt; ich nehme an, Sie auch - sind sich die Unternehmen der Tatsache sehr bewusst, dass auch nur ein einziger Fall des Missbrauchs von Kundendaten ihren absoluten Ruin bedeuten würde. Das bringt mich zu dem, was ich hier schon öfter ausgeführt habe: Wenn wir es schaffen, dass die Industrie, dass die Firmen im eigenen Interesse im Bereich des Datenschutzes selber hohe Standards anlegen - denn sie wissen ja, dass sie als Partner überhaupt nicht mehr akzeptabel wären, wenn es auch nur einen einzigen Fall von Datenmissbrauch gäbe; zum Beispiel wäre ein Unternehmen wie Payback dann völlig ruiniert -, dann wäre auch der von uns immer wieder geforderte freiwillige und unbürokratische Datenschutzaudit, Herr Tauss, mehr als nur ein frommer Wunsch, weil er dann auch umsetzbar wäre. Ich will die FDP nicht enttäuschen, was ihre Arbeit angeht, und daher auch ein Lob aussprechen. In Ihrem Antrag heißt es unter Ziffer 1: Eigenverantwortung ist der beste Datenschutz. Dagegen kann man eigentlich überhaupt nicht sein; deswegen stimmen wir dem genauso wie der Überweisung des Antrags in den Ausschuss zu. Ich freue mich auf eine intensive Diskussion. Vielen Dank. ({6})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Petra Pau, Fraktion Die Linke. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben erst zwei Wochen hier im Plenum des Bundestages über die Telekom, über Lidl und über weitere Datenschutzskandale diskutiert. Wir waren uns fraktionsübergreifend einig: Das Datenschutzrecht ist nicht mehr auf der Höhe der Zeit, und das muss geändert werden. Dieser Befund trifft vor allem auf den Bundestag zu; denn hier wird Recht gesetzt oder eben nicht. Wenn nicht, dann haben wir es mit einem Versäumnis zu tun, das sich für die Bürgerinnen und Bürger im wahren Leben negativ auswirken kann. Die Linke bleibt daher dabei: Wir brauchen endlich ein Datenschutzrecht, das dem Internetzeitalter gerecht wird. ({0}) Außerdem brauchen wir Gesetze, die den Datenschutz stärken und nicht schwächen. Meine feste Überzeugung ist: Deshalb muss auch das Gesetz über die Vorratsdatenspeicherung von Telekommunikationsdaten vom Tisch. Soviel ich weiß, ist es übrigens das erste Mal in der Geschichte der Bundesrepublik, dass gleich zwei Vizepräsidenten des Bundestages gegen ein Gesetz, das der Bundestag mit Mehrheit beschlossen hat, klagen. Jetzt ist es so. ({1}) Nun hat die FDP heute einen konkreten Antrag zur Debatte gestellt. Sie will den Datenschutz im nichtöffentlichen Bereich verbessern. Es geht also vor allem um Datenschutz in Unternehmen, um Datenschutz für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, letztlich aber auch für Kundinnen und Kunden. Diesem Anliegen stimmt die Fraktion Die Linke grundsätzlich zu. Die Grenzen zwischen öffentlichen und nichtöffentlichen Bereichen werden aber immer fließender. Das kritisiert die Linke, die FDP befürwortet dies. Das ist unsere grundlegende Differenz. Wir haben in unserer Fraktion in dieser Woche übrigens erneut mit Expertinnen und Experten über die Chancen und Gefahren, die in der geplanten elektronischen Gesundheitskarte schlummern, debattiert. Gerade im Gesundheitssystem gibt es einen aktuellen Trend, den öffentlichen Bereich zu privatisieren. So besteht die Gefahr, dass ganz sensible persönliche Daten zwischen öffentlich und privat hin und her wechseln und dass der Datenschutz letztlich Vermarktungsinteressen geopfert wird. Übrigens hat der Gesetzgeber auch hier im Gesetz die passende Vokabel verankert: Mehrwertleistungen. Ich finde, wir brauchen mehr denn je ganz strenge Datenschutzregeln, wenn es um die elektronische Gesundheitskarte geht. ({2}) Die FDP hat in 14 Punkten aufgelistet, wo sie Handlungsbedarf sieht. Das reicht vom Schutz von erhobenen DNA-Daten über die Transparenz bei RFID-Technologien bis zum Schutz von Kundendaten vor Missbrauch. Über all das können wir in den Ausschüssen sachlich und fachlich beraten. Ich signalisiere schon einmal große Offenheit der Linksfraktion. Dennoch will ich an einen Gemeinplatz erinnern, bei dem sich die FDP und die Linke wahrscheinlich wieder einig sind: Am besten geschützt sind noch immer Daten, die weder preisgegeben noch pflichtgemäß erhoben werden. Deshalb muss das Augenmerk vor allen Dingen auf die Frage gerichtet bleiben: Wie können wir das Errichten von Datenbergen prinzipiell verhindern? Da hätte ich es gern etwas grundsätzlicher, Kollegin Piltz. Das Bundesverfassungsgericht hat den Datenschutz mehrfach gestärkt, indem es das Grundgesetz positiv interpretiert hat. Umso dringender wäre es, das Grundgesetz explizit auf die Höhe der Zeit zu heben. Ich befürchte nur: Das wird noch immer an der Bürgerrechtsblockade der Union scheitern. ({3}) Zurück zum FDP-Antrag: Er enthält ein gutes Dutzend Forderungen an die Bundesregierung. Diese Forderungen teile ich weitgehend. Aber weshalb richten Sie diese Forderungen an die Bundesregierung? Sie ist die falsche Adresse, zumindest in Teilen, weil der Gesetzgeber der Bundestag ist. Nach Lage der Dinge kommt dabei der SPD eine Schlüsselrolle zu. ({4}) Die SPD muss sich entscheiden, ob sie im Unionskorsett verharren will oder nicht. Das ist bei den sozialen Rechten so. Das ist bei den Bürgerrechten nicht anders. Kollege Tauss, das heißt, die SPD muss sich endlich von den Verrungenschaften ihres Exkanzlers Schröder und Exinnenministers Schily emanzipieren. ({5}) Zum Teil gilt das übrigens auch für die Grünen. Weil aber die Dinge in der übergroßen Union/SPDKoalition so sind, wie sie sind, gebe ich dem FDP-Antrag in dieser Legislaturperiode nicht viele Chancen. Das wird uns nicht entmutigen, weiter für den Datenschutz zu streiten; denn Datenschutz ist und bleibt Persönlichkeitsschutz. Das ist die Grundregel und auch die Messlatte für uns alle. ({6})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Für die SPD-Fraktion gebe ich das Wort dem Kollegen Jörg Tauss. ({0})

Jörg Tauss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002813, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Lieber Kollege Wiefelspütz, ich überlege immer noch, inwiefern wir uns von Rechtsanwalt Schröder in Fragen des Datenschutzes emanzipieren müssten. Das können wir vielleicht separat klären. Wir haben heute bereits eine Reihe von sehr interessanten Dingen gehört. Liebe Frau Kollegin Piltz, Sie haben ein bisschen Generationendiskriminierung betrieben, ({0}) indem Sie gesagt haben, dass ein älterer Mensch nicht weiß, was ein Cookie ist. ({1}) Es hat in der Tat doch etwas mit „Keks“ zu tun. Es ist der englische Begriff für Keks. So falsch ist das gar nicht. Die Internetszene ist sehr kreativ. ({2}) Man hat ganz bewusst nach solchen Vergleichen gesucht, Frau Kollegin Philipp. „Cookie“ ist etwas wahnsinnig Sympathisches. Man vermutet nichts dahinter, aber dann sind natürlich elektronische Krümel da - auch insofern passt dieser bildhafte Vergleich -, die es erlauben, auf dem PC des Anwenders Infos zu hinterlegen. Das kann positiv sein, das kann negativ sein. Positiv ist es, wenn man es weiß und bewusst zulässt. Das gilt übrigens für den gesamten Datenschutz. Das gilt auch für Kundenkarten und all diese Dinge. Ich nutze keine Kundenkarte, würde aber auch nicht pauschal davor warnen. Ich will aber - das sage ich ganz bewusst in Richtung unserer Verbraucherschützer -, dass die einzelnen Menschen wissen, was mit ihren Daten geschieht, wenn sie eine Kundenkarte in Anspruch nehmen, ({3}) dass sie nämlich ein Profil in einem Unternehmen hinterlassen. Das muss nicht grundsätzlich von Übel sein. Es gibt Szenarien - das geht schon in den Science-FictionBereich hinein -, dass man im Warenhaus willkommen geheißen wird nach dem Motto: Liebe Frau Gleicke, wir freuen uns, dass Sie wieder da sind. In Ihrer Größe haben wir ein wunderbares Angebot. - Iris Gleicke kann dann sagen: Das ist genau das, worauf ich warte. - Das ist Kundennähe. ({4}) - Sie will es nicht. Ich habe es auch nur als Beispiel genannt. Ich gehe lieber anonym in ein Geschäft und will nicht gleich erkannt werden, ({5}) nicht deshalb, weil ich ich bin, sondern einfach deshalb, weil ich denke, dass es doch noch ein paar Dinge gibt, die ein Warenhaus nicht zu interessieren hat. Wenn man ein Cookie zulässt, wenn solche Krümel hinterlassen werden, hat man also den Vorteil, dass man erkannt wird und möglicherweise ein individuelles Angebot bekommt. Frau Kollegin Philipp, Sie sind die FDP heute etwas heftig angegangen. ({6}) Mein Fraktionsvorsitzender hat mir heute Morgen zu meinen Zwischenrufen bei der Rede von Herrn Westerwelle - sie waren berechtigt - gesagt, ich solle zu unserem künftigen Koalitionspartner ein bisschen netter sein. Ich tue es jetzt. Ich finde den Antrag nicht ganz so schlecht wie Sie, Frau Philipp. Ich halte den Antrag aber für nicht so gut, dass wir zustimmen könnten. Frau Piltz, immerhin unterstelle ich, dass Sie sich Mühe gegeben haben. ({7}) - Wir sind nicht in der Schule. Freuen Sie sich doch, wenn Sie von jemandem, der sich in dem Thema gut auskennt, ein Lob bekommen. ({8}) Das Lob ist noch nicht einmal vergiftet. ({9}) Ich freue mich darüber - das sage ich wirklich in großem Ernst und ganz offen -, dass die FDP diesen Antrag eingebracht hat; denn in letzter Zeit hatte man immer den Eindruck, dass der Datenschutz eigentlich nur noch die Altliberalen interessiert. ({10}) Ich erinnere an unsere früheren Koalitionspartner Hirsch und Baum, die eine ganze Reihe von Prozessen angestrengt haben und die im Datenschutz wirklich Spuren hinterlassen haben. ({11}) Das waren einmal Koalitionspartner. Da konnte man mit der FDP noch koalieren. ({12}) Das war fast so erbaulich wie mit Ihnen, Frau Stokar, aber nur fast. Kommen wir nun zurück zum Thema: Ich teile die Einschätzung der Verfasser des Antrags, also der FDP, dass die Skandale von Lidl bis Telekom natürlich deutlich machen, dass es im privaten Bereich der Datenverarbeitung Probleme gibt. Für den staatlichen Bereich, den Sie in Ihrer Rede heute sehr kritisch betrachtet haben - vielfach haben wir uns damit ja kritisch auseinandergesetzt, auch mit den Vorstellungen des Innenministeriums und anderer -, haben wir zumindest Regeln gesetzt. Welche Hürden haben wir da aufgebaut, bis hinterlegte Telekommunikationsdaten tatsächlich rechtsstaatlich durch Polizeiorgane oder wen auch immer verwendet werden dürfen! Ich erinnere nur an die richterliche Weisung. Nun musste man mit Entsetzen feststellen, dass im Privatbereich der Datenschutz nicht eine so große Rolle gespielt hat. Vielleicht hängt das damit zusammen - ich habe das neulich schon kritisch in Richtung des BMI gesagt -, dass das BMI gemäß der Philosophie gehandelt hat: Wer nichts zu verbergen hat, kann seine Daten auch offenlegen. Ich freue mich aber, dass ich diese Töne in letzter Zeit nicht mehr gehört habe, Herr Kollege Bergner; denn diese Philosophie hat natürlich dazu beigetragen, dass der eine oder andere im privaten Bereich auf die Idee kommt: Wenn meine lieben Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nichts zu verbergen haben, kann ich sie auch bis auf die Toilette überwachen. Das geht natürlich nicht. Das ist keine Frage. Deswegen finde ich es aber gar nicht schlecht, dass wir jetzt darüber diskutieren. Frau Kollegin Philipp, Sie haben angesprochen, dass wir ins Bundesdatenschutzgesetz reingeschrieben haben, dass auch noch ein Datenschutz-Audit-Gesetz kommen soll. Sie wissen, dass das eines meiner Lieblingsthemen ist. In diesem Punkt teile ich in der Tat die Auffassung der FDP. Sie haben nun die Argumente dafür im Grunde genommen geliefert. Ein Datenschutz-Audit-Gesetz bietet tatsächlich die Möglichkeit, im privaten Bereich - ({13}) - Ob Gesetze eingehalten werden, ist eine ganz andere Frage. Sie zäumen ja das Pferd von hinten auf, indem Sie sagen: Wenn ein Skandal beim Umgang mit Daten aufgedeckt wird - das hat das Beispiel Telekom ja bewiesen -, bekommt eine Firma Probleme. Man kann das natürlich auch ins Positive wenden, indem man einer Firma, die den Datenschutz respektieren will, insbesondere den Schutz der Kundendaten - das ist ja bei Kundenkarten ganz wichtig -, und nachweist, dass sie mit den entsprechenden Daten verantwortungsbewusst umgeht und außerdem noch besonders hohen Standards genügt, die Möglichkeit gibt, dieses Einhalten der Standards im Wettbewerb zum eigenen Vorteil einzusetzen. Wenn wir ein entsprechendes Zertifizierungsverfahren schaffen würden, täten wir wirklich etwas für den Datenschutz. ({14}) Ich weiß, Sie sind noch immer ein wenig skeptisch, aber das bekommen wir innerkoalitionär sicherlich in einem guten Sinne hin. Die Frage des Kopplungsverbotes ist angesprochen worden. Ein solches sehe ich nicht ganz so positiv. Natürlich kann man sagen, dass man ein Angebot eben nicht nutzt, wenn man zu viele Daten angeben muss. Das ist zwar Gesetzeslage, aber das kann es ja nun nicht sein. In vielen Geschäftsbedingungen findet man ja die Aussage: Wenn Sie die Daten nicht hinterlegen, können Sie das Geschäft mit uns nicht abwickeln. Man muss sich ja überlegen, ob das in jedem Fall sinnvoll ist. Genau da sind wir in einem Bereich, wo Kopplungsverbote greifen würden. Eventuell ist man ja auf die Nutzung eines Angebotes angewiesen. Somit stellt sich hier in der Tat die Frage, ob im Bereich des Kopplungsverbotes nicht noch die eine oder andere Frage diskutiert werden müsste. RFID-Chips, diese neuen Funkchips, halte ich in der Tat für eine absolut spannende Technologie. Im Logistikbereich liegt darin die Zukunft. Wenn mit der Weiterentwicklung Wettbewerbsvorteile für Deutschland verbunden sind und wir eine führende Position dabei einnehmen können, wäre ich der Letzte, der sich darüber nicht freut. Ich möchte aber in aller Deutlichkeit sagen, dass mich ärgert, dass man vonseiten des RFID-Bündnisses nur zusagt, sich um Datenschutz zu kümmern. Solche Zusagen haben wir schon oft bekommen. In vielen anderen Fällen haben wir ja angeregt, gemeinsam mit den Datenschützern eine Technologie verbraucherfreundlich und datenschutzfreundlich weiterzuentwickeln. Das ist aber bisher nicht erfolgt. Insofern möchte ich dieser Branche nicht generell attestieren, dass bei ihr alles in Ordnung ist. Ich würde ihr einfach empfehlen, bei der Weiterentwicklung der RFID-Technologie von vornherein auf Datenschutzverträglichkeit zu achten. Damit hätte man global einen zusätzlichen Wettbewerbsvorteil. Hier bieten sich also zusätzliche Chancen. Wenn das Ganze dann noch über ein Audit-Verfahren entsprechend zertifiziert würde, wäre das eine ganz interessante Geschichte. In diesem Zusammenhang wäre es übrigens ganz gut, wenn diese Debatte, Herr Staatssekretär Bergner, gemäß dem Motto: Wer nichts zu verbergen hat, kann auch offenlegen, dazu führt, dass der Vertrag zwischen dem Innenministerium und der Bundesdruckerei, was die Herstellung von Personalausweisen und Pässen angeht, offengelegt wird. ({15}) - Wir haben Einsicht nach Informationsfreiheitsgesetz beantragt, Kollege Wiefelspütz. Das ist schon ganz interessant. Wie gesagt, wer nichts zu verbergen hat, kann offenlegen. Was soll dieses Audit haben? Ich denke, es hat einen betriebswirtschaftlichen Mehrwert. Kollege Wiefelspütz, auch Sie sind ja ein Fan vom Datenschutz-Audit-Gesetz. ({16}) - Ein Fan! Ein Vorbereiter, ein Wegbereiter, ein Vorauseilender, wie auch immer. Ich will jetzt nicht allzu euphorisch werden. Es gibt auch im Innenministerium bereits einen Gesetzentwurf. Das finde ich sehr gut. ({17}) - Wir haben den nicht direkt bekommen, nur durch die Verbände, aber nicht offiziell. Die Datenschutzbeauftragten haben diesen Gesetzentwurf, den ich nicht offiziell gesehen habe, aber inoffiziell bekommen habe, ({18}) als etwas lust- und lieblos bezeichnet. Das wäre ein Punkt, bei dem wir als Parlamentarier und sicherlich auch das Haus einen Beitrag leisten können, indem wir sagen: Macht es mit noch mehr Lust und Liebe! Sie wissen ja: Wenn Beamte von ihrem Dienstherrn den Hinweis bekommen, dass sie nicht für den Papierkorb arbeiten, sondern dass ihre Arbeit geschätzt wird, und wenn Herr Schäuble oder Herr Bergner mit Leidenschaft dahinterstehen, machen sie ihre Arbeit mit noch mehr Lust und Liebe. Insofern sollten wir das ins Verfahren mit einziehen. ({19}) - Ich hoffe, Frau Philipp, Sie machen dabei mit, das entsprechend zu transportieren. Ziel des Audits wird also, wie gesagt, die Fortentwicklung des Datenschutzes sein. Lassen Sie mich noch einen Punkt ansprechen, weil Informationsfreiheit nur die eine Seite der Medaille ist. Ich habe es gerade schon angesprochen. ({20}) Die andere Seite ist der Datenschutz. Deswegen ist der Bundesbeauftragte für den Datenschutz auch der Beauftragte für die IT-Sicherheit. Es gibt ein paar Erfahrungen, die wir mit unserem Gesetz schon gemacht haben. Das Verwaltungsgericht Berlin hat jetzt beispielsweise eine Einsicht in den Mautvertrag untersagt, weil da ein Schiedsverfahren tangiert ist. Wir haben, Herr Kollege Wiefelspütz, bewusst gesagt, wir wollen ein staatliches Gerichtsverfahren und nicht die Gleichsetzung. Für die Evaluation bekommen wir also eine ganze Reihe von interessanten Punkten. Frau Kollegin Philipp, das Verwaltungsgericht in Düsseldorf hat jetzt geurteilt, dass eine öffentlich-rechtliche Bank in NRW nach dem dortigen Gesetz, das aber sehr stark mit dem Bundesgesetz korrespondiert, nicht Einsicht gewähren muss, weil der beantragende Journalist im Hintergrund mit einer Rundfunkanstalt verbandelt sei und die Rundfunkanstalten nicht Einsicht nehmen könnten. ({21}) So haben wir es uns allerdings nicht vorgestellt; auch das muss ich in der Deutlichkeit sagen, denn damit hätten wir natürlich unendlich viele Ausschlussgründe. Das heißt, liebe Kolleginnen und Kollegen, in Sachen Datenschutz und Informationsfreiheit gibt es einiges zu tun. Der FDP-Antrag benennt einige Punkte, die übrigens - da hat Frau Philipp recht - bereits auf dem Weg sind. Ich nenne das Stichwort „Scoring“, also die automatisierte Kreditverarbeitung und -bearbeitung. Da wollen wir natürlich schon wissen, welche Kriterien gespeichert werden. Die Formel, nach der das dann berechnet wird, ist mir relativ egal. Aber wenn jemand von vornherein als Kreditnehmer abgelehnt wird, nur weil er als Bundestagsabgeordneter ein unsicheres Arbeitsverhältnis hat, das nach vier Jahren automatisch endet, ist das nicht akzeptabel. Entsprechende Fälle gibt es übrigens; das ist ganz lustig, weil das Verfahren das überhaupt nicht vorgesehen hat. Der Abgeordnete hat - trotz der nicht erfolgten Diätenerhöhung - ein relativ hohes Einkommen, aber ein unsicheres Arbeitsverhältnis. Außerdem hat er wechselnde Wohnorte. Das alles gilt als suspekt. Wir sind im Scoring-Verfahren kreditmäßig ein absolut suspekter Verein. Das automatisiert zu überwachen, wäre etwas, was wir nicht wollen. Hier wird sich etwas tun. Ansonsten muss in aller Klarheit gesagt werden - vor dem Hintergrund dessen, was bei der Telekom, bei Lidl oder wo auch immer passiert ist -: Es ist nicht akzeptabel - ich glaube, da sind wir uns alle hier im Hause einig -, dass in dieser Form mit Daten umgegangen wird, dass Überwachungen stattfinden, dass, wie bei Lidl, der Arbeitnehmerdatenschutz mit Füßen getreten wird. Aber vielleicht gibt es auch etwas Positives zu sagen. Das zeigt auch die heutige Debatte. Wir haben ja oft genug, Frau Stokar, über den Datenschutz zu nächtlicher Stunde im Bundestag diskutiert. An der heutigen DebatJörg Tauss tenzeit kann man erkennen, dass sich Datenschutz zu einem wichtigen Thema entwickelt hat. Vielleicht - das sage ich als Bildungspolitiker - haben wir eine ähnliche Chance wie beim Thema PISA. Der PISA-Schock hat dazu beigetragen, dass wir wieder über Bildung im Lande diskutiert haben, dass es an vielen Stellen im öffentlichen Bildungswesen einen Ruck gegeben hat. Es ist noch nicht ausreichend, aber es hat sich viel getan. Wenn der Telekom-Skandal für den Datenschutz die Bedeutung bekäme, die der PISA-Schock für den Bildungsbereich hat, wenn durch diesen Skandal eine gründliche Diskussion über den Datenschutz, der an vielen Stellen in der Tat in die Jahre gekommen ist, und gesetzgeberisches Handeln ausgelöst würden, dann hätten wir für den Datenschutz schon etwas erreicht. Wir gehen Schritt für Schritt vor. Wir haben das Informationsfreiheitsgesetz verabschiedet, zuvor die Umsetzung der entsprechenden EU-Richtlinie. Jetzt packen wir das Scoring an. Die Gesamtreform des Datenschutzes steht auf der Tagesordnung. Frau Präsidentin, mein Wunsch, den ich abschließend äußern möchte, aber ist, dass wir zunächst ein gutes Gesetz zum Datenschutz-Audit auf den Weg bringen. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({22})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Silke Stokar, Bündnis 90/Die Grünen.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Werter Herr Kollege Tauss, es ist nicht nur so, dass wir hier zu nächtlicher Zeit über den Datenschutz debattiert haben. Ich erinnere mich daran, dass wir zu nächtlicher Zeit über den Datenschutz - dazu gehören die Themen Datenschutz-Audit und Scoring - auch verhandelt haben. ({0}) Es ist leider mit der SPD nicht möglich gewesen, hier zu irgendwelchen Ergebnissen zu kommen. ({1}) Auch das gehört zur Wahrheit. ({2}) Der Datenklau bei der Telekom war mit Sicherheit nicht der letzte große Datenschutzskandal, mit dem wir uns hier auseinandersetzen müssen. Ich habe das Gefühl, das ist ein wenig so wie beim Gammelfleisch: Solange Politik und Wirtschaft nur halbherzig reagieren, folgt ein Skandal auf den anderen. ({3}) Angesichts der letzten Skandale - Telekom und Lidl sind nur die Spitze des Eisbergs - plädiere ich für eine radikale Umkehr in der Datenschutzpolitik. Der Bundestag, die Privatwirtschaft und die Bundesregierung müssen sich hier mehr bewegen. Ich denke, eines hat der Telekom-Skandal gezeigt: Durch Vertrauensverlust, wie er in den beiden genannten Unternehmen entstanden ist, entsteht ein hoher ökonomischer Schaden. Ich kann nur hoffen, dass die Unternehmen aus diesem Schaden klug werden und dass die Privatwirtschaft ihre Widerstände beim Datenschutz-Audit und bei den anderen Themen, die hier angesprochen worden sind, aufgibt. Frau Kollegin Philipp, wir fordern staatliche Regeln und ein Datenschutzgütesiegel, damit die Bürgerinnen und Bürger erkennen können, dass da, wo Datenschutz draufsteht, auch Datenschutz drin ist. Wir wollen ähnliche Standards wie beim Biosiegel. ({4}) Beim Thema Scoring wollen wir sicherstellen, dass es keine soziale Diskriminierung gibt und dass keine Geodaten erhoben werden. Hier erwarten wir, dass sich die Wirtschaft bewegt. Zu beiden Themen liegen seit geraumer Zeit Anträge der Grünen vor. Die Grünen waren die Ersten, die konkrete Vorschläge zur Aufnahme des Datenschutzes ins Grundgesetz gemacht haben. Wir freuen uns hier auf eine kritische Auseinandersetzung. Ich möchte deutlich machen, warum wir diesen Weg gegangen sind. Der Bundestag ist der Verfassungsgeber. Die laxe Haltung, die sich hier teilweise durchgesetzt hat nach dem Motto „Wir gehen mit den Sicherheitsgesetzen bis an die Grenze dessen, was die Verfassung zulässt, und warten dann ab, ob das Bundesverfassungsgericht uns korrigiert“, ist dem Parlament nicht angemessen. Wir haben den Auftrag, zu prüfen, ob wir uns noch im Rahmen der Verfassung bewegen. Wir möchten nicht, dass sich die Bürgerinnen und Bürger ihre Grundrechte aus Urteilen von Karlsruhe der letzten zehn Jahre zusammenklauben müssen. Ein Blick ins Grundgesetz muss ausreichen, um zu wissen, dass das Recht auf Datenschutz und das informationelle Selbstbestimmungsrecht Grundrechte sind. ({5}) Darüber hinaus plädiere ich für eine Organisationsänderung beim Datenschutz. Bundesinnenminister Schäuble will die Befreiung der Sicherheitsbehörden von datenschutzrechtlichen Grenzen. Er fordert in Umkehrung eines berühmten Satzes „Vertrauen statt Kontrolle“ für die Privatwirtschaft. Es ist außerdem ein Fehler im System, dass der Bundesdatenschutzbeauftragte beim BMI angesiedelt ist. Der Bundesdatenschutzbeauftragte gehört zum Parlament. Hier sollte man ihn in völliger Unabhängigkeit ansiedeln. Wir halten zwar den Grundsatz der Haushaltskonsolidierung für wesentlich. Wenn es aber im Rahmen des BKA-Gesetzes möglich ist, einmal kurz zwischendurch 100 zusätzliche Stellen beim BKA auszuweisen, dann sehe ich nicht ein, dass wir nicht zehn zusätzliche Stellen beim Bundesbeauftragten für den Datenschutz einfor17906 dern können, damit er seine Kontrollen durchführen und das Thema Informationsfreiheit bearbeiten kann. ({6}) Wenn wir schon einmal dabei sind, klar und deutlich zu sagen, was die Antwort auf die Datenschutzskandale ist: Ich fordere angesichts dessen den Komplettumzug nach Berlin. Der Bundesdatenschutzbeauftragte gehört dahin, wo das Parlament ist. ({7}) Lassen Sie mich zum Abschluss noch einen Satz zu dem jüngsten Kompromiss der Großen Koalition sagen. ({8}) Ich finde es richtig witzig, dass Sie den Bürgerinnen und Bürgern freistellen, ob ihr Personalausweis ihren Fingerabdruck enthält oder nicht. Es ist das erste Mal in Deutschland, dass hoheitliche Eingriffe freigestellt werden. Wir sollten solche freiwilligen Bürgerentscheide auch in anderen Sicherheitsbereichen zulassen. Ich kann zum Fingerabdruck im Personalausweis nur sagen: Meine Fingerabdrücke gehören mir. Die bekommt Herr Schäuble nicht. Sie sind bei Herrn Schäuble nicht sicher; er schickt sie in die USA und in andere Staaten. ({9}) Ich kann allen Bürgerinnen und Bürgern nur sagen: Behaltet eure Fingerabdrücke! Vertraut sie nicht dem Bundesinnenminister an! Nehmt euer Recht auf eine freiwillige Entscheidung wahr! ({10}) Wir werden den Datenschutz aus dem Parlament heraus nach vorne bringen. Wir sind an fraktionsübergreifenden Lösungen interessiert.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin!

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich freue mich auf die Debatte. Danke schön. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/9452 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Weiterentwicklung der Organisationsstrukturen in der gesetzlichen Krankenversicherung ({0}) - Drucksache 16/9559 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit ({1}) Rechtsausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt. ({2})

Ulla Schmidt (Minister:in)

Politiker ID: 11002019

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei allen unterschiedlichen Auffassungen im Detail waren wir uns in einem immer einig: Zu einem fairen Wettbewerb der Kassen gehören gleiche Bedingungen für alle Kassen. Dem widerspricht, wenn für einige Kassen das Insolvenzrecht gilt, für andere wiederum nicht. Mit dem heutigen Gesetzentwurf werden gerechte und wettbewerbsorientierte Organisationsstrukturen in der gesetzlichen Krankenversicherung geschaffen. Zum 1. Januar 2010 werden alle Krankenkassen insolvenzfähig. Alle Kassen müssen ab diesem Zeitpunkt ihre Bücher nach einheitlichen Vorschriften führen. Das ist ein längst überfälliger Schritt zu mehr Transparenz. Die landesunmittelbaren Krankenkassen - etwa die AOK Bayern oder die AOK Sachsen - sind aufgrund landesrechtlicher Sonderregelungen nicht insolvenzfähig; bundeseinheitliche Kassen sind es aber sehr wohl. Diese uneinheitliche Rechtslage ist ordnungspolitisch unbefriedigend. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird diese Schieflage aufgehoben. Das entspricht einem Wunsch, der von Länderseite an uns herangetragen wurde. Damit verbunden ist die Verpflichtung der Kassen, eingegangene Zusagen zur Altersvorsorge gegenüber ihren Mitarbeitern offenzulegen. Allein die Diskussion um das Insolvenzrecht hat gezeigt, dass in diesem Bereich dringend Handlungsbedarf besteht, da ein Großteil der Zusagen nicht abgesichert ist. ({0}) Die Krankenkassen werden daher verpflichtet, diese Versorgungszusagen abzusichern und im Zeitablauf ein ausreichendes Deckungskapital zu bilden. Um eine Überforderung zu vermeiden und einen Weg finden zu können, der nicht beitragssatzrelevant ist, ist dafür ein Zeitraum von 40 Jahren vorgesehen. Wichtig ist: Jede Krankenkasse und jede Kassenart hat für ihre Pensionsverpflichtungen genauso wie für alle anderen Ansprüche zunächst selbst einzustehen. Auf keinen Fall sollen Pensionslasten auf Krankenkassen anderer Kassenarten oder auf die Steuerzahler abgewälzt werden. Erst im extrem unwahrscheinlichen Fall, dass sämtliche Krankenkassen der jeweiligen Kassenart nicht mehr in der Lage sind, diese Verpflichtungen zu bedienen, wird die gesetzliche Krankenversicherung insgesamt zur Haftung herangezogen. Das entspricht dem Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes. Der Schutz im Krankheitsfall als zentraler Bestandteil unseres Sozialstaates ist ein wichtiges Gut, für das wir alle eine hohe Verantwortung tragen. Im vorliegenden Gesetzentwurf sind deshalb Sonderregelungen vorgesehen. Diese stellen sicher, dass die Ansprüche der Versicherten und der Leistungserbringer auch im Fall der Schließung oder der Insolvenz einer Kasse in vollem Umfang gewährleistet sind. ({1}) Die gleiche Garantie gibt es für die Versorgungsansprüche der Beschäftigten bei den Krankenkassen. ({2}) Dem Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes entspricht auch die Vorgabe - dies hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zum Risikostrukturausgleich ausdrücklich bestätigt -, dass ein gerechter Ausgleich der Risiken zwischen den Krankenkassen organisiert werden muss. Es liegt in der Natur der Sache, dass bei einem solchen Ausgleich Regionen mit wohlhabenderen Versicherten etwas mehr zahlen als Regionen mit ärmeren Versicherten. Gleichwohl steht die Bundesregierung zu ihrer Zusage, dass die Krankenkassen in einem Land nicht mit mehr als 100 Millionen Euro jährlich belastet werden sollen. Da die bisherigen Vorschläge der Länder hierzu sehr schwer umsetzbar sind, werden wir in Kürze einen praxistauglichen Weg vorschlagen, um diese Zusage einhalten zu können. ({3}) Der Gesundheitsfonds ist ein Instrument, mit dem wir dafür sorgen, dass die Beitragsgelder - das ist das gute und hart verdiente Geld der Versicherten - in qualitativ hochstehende Versorgungsangebote fließen. Der Fonds schafft mehr Solidarität zwischen Ost und West, zwischen Nord und Süd. ({4}) Er ist die Voraussetzung dafür, dass das Risiko, mehr Kranke versorgen zu müssen, von der einzelnen Arztpraxis und vom einzelnen Krankenhaus auf die Krankenkassen und damit auf die Versichertengemeinschaft übergehen kann. Er wird insofern zu mehr Gerechtigkeit in der Versorgung führen. ({5}) Der Ausgleich wird dafür sorgen, dass sich alle mit dem gleichen Anteil ihres Einkommens an der Finanzierung beteiligen und das Geld dorthin fließt, wo mehr kranke oder mehr ältere Menschen zu versorgen sind, und weniger Geld dorthin, wo junge und gesunde Menschen versichert sind. Das wird die Versorgung verbessern. Die Einführung des Fonds ist auf gutem Weg. Alles andere - auch das möchte ich hier sagen - wäre unverantwortlich. Wir brauchen jetzt eine bessere Verteilung der Gelder, auch zum Wohle der Versicherten. Wir brauchen jetzt eine gerechtere Honorierung der Ärztinnen und Ärzte. Dieser Gesetzentwurf ist ein Schritt auf dem Weg dorthin. Ich denke, dass sich das in den Beratungen zeigen wird. Vielen Dank. ({6})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Für die FDP-Fraktion gebe ich das Wort dem Kollegen Daniel Bahr. ({0})

Daniel Bahr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesgesundheitsministerin hat gerade gesagt - das hat sie auch in den Reden zur letzten Gesundheitsreform gerne so formuliert -, dass es der Bundesregierung darum geht, faire Wettbewerbsbedingungen zu schaffen. In der Tat wäre es für faire Wettbewerbsbedingungen erforderlich, ein einheitliches Insolvenzrecht für die Krankenkassen zu schaffen. Die Wettbewerbsbedingungen sind nämlich unfair, wenn für die eine Kasse ein Insolvenzrecht gilt und für die andere nicht. Dann brauchen wir aber eine Insolvenzordnung, die wettbewerbsorientiert ist und die nicht das Ziel hat, ein zentralistisches Gesundheitswesen zu schaffen. ({0}) Frau Gesundheitsministerin, mit dem Insolvenzgesetz - in Kombination mit der letzten Gesundheitsreform ebnen Sie den Weg zu einem zentralistischen, immer stärker staatlich organisierten Gesundheitswesen. Das ist letztlich der Abschied von einem gegliederten Krankenversicherungssystem, das auch regional orientiert ist. Das Ziel der schwarz-roten Gesundheitsreform war laut Gesetzestitel, den Wettbewerb zu stärken. Angesichts des Gesundheitsfonds, eines staatlich festgesetzten Einheitsbeitragssatzes und von vielem anderen war schon der Titel ein Hohn. Das hier vorliegende Insolvenzgesetz hat aber mit dem Wettbewerbsgedanken in vielen Bereichen wenig zu tun. ({1}) Der von der Koalition neu geschaffene Spitzenverband Bund der Krankenkassen sollte nach Ihren Aussa17908 Daniel Bahr ({2}) gen ein kleiner, schlanker und vor allem wettbewerbsneutraler Verband sein. Die einzelnen Kassen - das war doch die Idee; ich habe Ihre Reden gelesen - sollten mehr Gestaltungsmöglichkeiten erhalten, um im Wettbewerb miteinander zu bestehen. Mit diesem Gesetz bauen Sie allerdings den Einfluss des Spitzenverbandes Bund deutlich aus; er wird zu einer entscheidenden zentralistischen Kontroll- und Gestaltungsinstanz. Ich möchte einige Beispiele dafür nennen. Der Spitzenverband Bund erhält zukünftig die Vierteljahresrechnungen aller Krankenkassen sowie deren Jahresrechnungen. Damit erhält er Einblick in die Geschäftsdaten. Im Hinblick darauf, dass der Spitzenverband Bund von AOK und Ersatzkassen dominiert wird, kann von einer neutralen Institution im Wettbewerb der Krankenkassen kaum die Rede sein. Der Spitzenverband Bund kann darüber hinaus Fusionsvorschläge machen, wenn bei einer Krankenkasse Zahlungsunfähigkeit droht. Damit gewinnt er Gestaltungskompetenz: Er ist nicht mehr ein neutraler Verband, sondern entscheidet mit, wie das Gesundheitswesen strukturiert sein soll. Im Benehmen mit dem Spitzenverband Bund kann die Aufsichtsbehörde bei gefährdeter Leistungsfähigkeit sogar gegen den Willen der betroffenen Krankenkasse eine Fusion herbeiführen. ({3}) Was hat das bitte schön mit Wettbewerb zu tun? Man möge sich nur einmal vorstellen - ich übertrage das auf einen anderen Bereich -, staatliche Aufsichten zwängen die Commerzbank, mit dem angeschlagenen Konkurrenten, der staatlichen IKB, zu fusionieren. ({4}) Das, was Sie hier vorschlagen, ist staatlicher Dirigismus und hat mit Wettbewerbsorientierung nichts zu tun. ({5}) Der Spitzenverband Bund bestimmt in seiner Satzung zudem über die Gewährung finanzieller Hilfen zur Ermöglichung oder Erleichterung von Fusionen. Die finanziellen Hilfen durch den Spitzenverband Bund werden unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Leistungsfähigkeit der Krankenkassen - wie es heißt - „angemessen“ aufgeteilt. „Angemessen“ ist ein völlig unklarer und unscharfer Begriff, der Manipulationen ermöglicht. Frau Widmann-Mauz, was ist denn angemessen? Wie soll denn die Leistungsfähigkeit bestimmt werden? All das soll der Spitzenverband Bund für sich und seine Mitglieder entscheiden können. Der Spitzenverband Bund, der von Ihnen als schlanker Verband gedacht war, erhält also immer mehr Kompetenzen, auch in die Strukturen der Krankenkassen einzugreifen. Das macht uns sehr viel Sorgen; denn wir haben den Eindruck, dass mit den in diesem Gesetz vorgesehenen Veränderungen beim Spitzenverband Bund eine Einheitsversicherung vorbereitet werden soll. In Kombination mit der Gesundheitsreform wird das für viele Krankenkassen auch zu einer realen Bedrohung: Der Gesundheitsfonds, der die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung nur noch zu 95 Prozent decken muss, in Kombination mit der Begrenzung des Zusatzbeitrages auf 1 Prozent des Bruttoeinkommens versetzt viele Krankenkassen, was die Insolvenzgefahr anbelangt, in allerhöchste Alarmbereitschaft. Der Sachverständigenrat hat darauf hingewiesen, dass die heutigen Regelungen zu Gesundheitsfonds und Zusatzbeitrag viele Krankenkassen, obwohl sie möglicherweise wirtschaftlich gut handeln, in die Gefahr einer Insolvenz bringen, weil sie möglicherweise nicht mit den Geldern auskommen können, die sie nur im engen Rahmen über Zusatzbeiträge generieren dürfen. Ich möchte auf einen anderen Punkt hinweisen: auf die Frage, was demnächst umverteilt werden soll. Demnächst sollen auch die Verwaltungskosten bei der Umverteilung berücksichtigt werden. Das ist aber bisher ganz bewusst nicht über den Risikostrukturausgleich umverteilt worden. Auch in Ländern wie den Niederlanden, wo es schon einen krankheitsbezogenen Risikostrukturausgleich gibt, wurden die Verwaltungskosten übrigens ganz bewusst nicht einbezogen, weil man der Meinung ist, dass die Verwaltungskosten der Krankenkassen ein Wettbewerbsparameter sein sollen. Sie sehen aber vor, dass die Verwaltungskosten nach einem 50 : 50-Schlüssel - 50 Prozent nach Krankheitsbildern, 50 Prozent nach Zahl der Versicherten - umverteilt werden. Ich frage Sie: Warum überlassen wir die Verwaltungskosten nicht dem Wettbewerb? Warum muss das umverteilt werden? Es gab sogar Forderungen - das stand im ursprünglichen Referentenentwurf -, die Kosten im Verhältnis 70 : 30 umzuverteilen. Ich sage Ihnen, warum die Nettoverwaltungskosten pro Mitglied im Jahr 2006 bei der AOK Thüringen nur 122,11 Euro betragen haben, während sie bei der AOK Hessen 179,56 Euro betragen haben: Das liegt vielleicht daran, dass die AOK Thüringen im Wettbewerb entschieden hat, die Verwaltungsprozesse zu verschlanken, um so die Effizienz zu stärken und einen Wettbewerbsvorteil zu erhalten. Sie wollen diesen Wettbewerbsvorteil, den die Kassen haben, über Verwaltungskosten immer weiter negieren. Sie wollen auch das umverteilen. Der vorliegende Gesetzentwurf - Frau Schmidt hat darauf hingewiesen, indem sie von der Konvergenzklausel sprach - wird das Korrekturgesetz für die verkorkste Gesundheitsreform. Ich sage Ihnen voraus, dass Sie dieses Gesetz nutzen werden, um über Änderungsanträge Korrekturen an der Gesundheitsreform vorzunehmen. ({6}) - Frau Ferner, Sie haben doch eben gehört, dass Korrekturen vorgenommen werden müssen, weil die KonverDaniel Bahr ({7}) genzklausel so nicht umsetzbar ist. Das werden Sie natürlich über dieses Insolvenzgesetz machen. ({8}) Vieles von dem, was Sie im Rahmen der Reform beschlossen haben, lässt sich so nicht umsetzen, zum Beispiel die 1-Prozent-Begrenzung beim Zusatzbeitrag, der Wettbewerbsrahmen für Rabattverträge, die Konvergenzklausel und vieles andere mehr. Ich sage Ihnen voraus: Wir werden erleben, wie Sie versuchen, über dieses Gesetz Korrekturen an der Gesundheitsreform vorzunehmen. Das Beste wäre, wenn Sie gleich auf den unsinnigen und völlig überflüssigen Gesundheitsfonds verzichteten. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({9})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Annette WidmannMauz, CDU/CSU-Fraktion.

Annette Widmann-Mauz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003259, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Nachhaltigkeit ist ein vieldiskutierter gesellschaftlicher Grundsatz in diesem Hause bei der Energiepolitik, beim Klimaschutz und bei den Staatsfinanzen. Auch in der Sozialpolitik können wir diesem Postulat nicht ausweichen. Denn auch in der Sozialpolitik gilt es, nachhaltige Antworten auf die Frage der Generationengerechtigkeit zu entwickeln und das Gesundheitssystem so auszurichten, dass wir die Kosten der Sozialsysteme heute nicht regelmäßig auf die Schultern der kommenden Generationen lenken und legen. Unser Ziel muss es also sein, in der gesetzlichen Krankenversicherung den notwendigen Ausgabenanstieg - er ist notwendig, weil die Bevölkerung älter wird und der medizinische Fortschritt vieles mehr möglich macht, das allen zugute kommen soll - so moderat zu gestalten, dass die Lasten auch für künftige Generationen bewältigbar bleiben. Das heißt, Wettbewerb, Transparenz, Effizienz, Kosten- und Verantwortungsbewusstsein sowie das Subsidiaritätsprinzip müssen auch in der gesetzlichen Krankenversicherung gestärkt werden. Mit der Gesundheitsreform des Jahres 2007 haben wir dazu einen wichtigen Schritt getan. Wir sorgen damit für mehr Transparenz und mehr Wettbewerb im System. Die Instrumente fangen an, zu greifen. Wir haben eine Vielzahl von neuen vertraglichen Möglichkeiten, die die Krankenkassen nutzen. Denken Sie an Rabattverträge, an Hausarztverträge und an die einsetzende Straffung der Organisationsstrukturen in den Krankenkassen. ({0}) Zu dieser Transparenz, die wir im Übrigen auch bei den Leistungserbringern einfordern, gehört auch mehr Transparenz in den Krankenkassen. Von einigen Kassen wurde in der Vergangenheit durchaus der Mechanismus praktiziert - und leider Gottes von mancher Aufsicht geduldet -, bei höherem Finanzbedarf lieber Schulden zu machen, als die Beiträge zu erhöhen. ({1}) Die Schulden von gestern sind die höheren Beiträge von heute. Aber wir haben genau dies mit dem Gesundheitsmodernisierungsgesetz unterbunden. Denn die Krankenkassen wurden verpflichtet, bis Ende 2007 ihre Schulden abzubauen. Wir haben diese Frist verlängert. Bis zum Ende des nächsten Jahres werden wir diesen Zustand erreicht haben. Summa summarum ist die Entwicklung der gesetzlichen Krankenversicherung seit 2004 durch eine finanzielle Konsolidierung gekennzeichnet. Aus über 6 Milliarden Euro Schulden netto wurden ein Überschuss in Höhe von 1,8 Milliarden Euro und Reserven in Höhe von 3,2 Milliarden Euro. Das ist wichtig und war vor fünf Jahren so nicht absehbar. Damals waren noch über 300 Kassen verschuldet. Ende dieses Jahres wird es, wenn alles weiter so gut läuft, keine mehr sein. Das ist wichtig. Denn das schafft genau die Wettbewerbsvoraussetzungen und die Gleichheit, die an der Stelle notwendig ist. ({2}) Transparenz und gleiche Wettbewerbsbedingungen sind auch für den Wettbewerb zwischen den gesetzlichen Krankenkassen essenziell. Wir haben als Gesetzgeber die Aufgabe, dafür die Rahmenbedingungen zu schaffen. Derzeit - die Ministerin hat das ausgeführt - gilt die Insolvenzordnung nur für bundesunmittelbare Krankenkassen. Mit dem Gesetz zur Weiterentwicklung der Organisationsstrukturen in der gesetzlichen Krankenversicherung, das heute in erster Lesung beraten wird, wollen wir diesen Ungleichheitszustand beheben und die erforderliche Transparenz hinsichtlich der Finanzen der Kassen erhöhen. Auch das ist ein unabdingbarer Baustein, um unser Gesundheitssystem zukunftssicher zu machen. Im vorliegenden Entwurf eines Insolvenzgesetzes - ich nenne es jetzt einmal so, weil diese Bezeichnung den Schwerpunkt des Gesetzentwurfes am besten widerspiegelt - ist vorgesehen, dass ab dem 1. Januar 2010 alle Krankenkassen der Insolvenzordnung unterliegen. Darüber hinaus soll die implizite Verschuldung durch versteckte Risiken bzw. durch sogenannte DO-Lasten, also durch Altersversorgungslasten, die für die Dienstordnungsangestellten entstanden sind und weiterhin entstehen, beendet werden. Jetzt haben die Kassen den Auftrag, im Hinblick auf die zukünftige Geltendmachung von Versorgungsansprüchen innerhalb von 40 Jahren Kapital aufzubauen. Diese lange Zeitspanne wird vorgesehen, um eine Überforderung einzelner Krankenkassen zu verhindern. Jede Kasse hat für die von ihr begründeten Pensionsverpflichtungen selbst aufzukommen. Das entspricht der gewollten Subsidiarität auch im Gesundheitswesen. Das Schließungsverfahren hat Vorrang vor der Einleitung eines Insolvenzverfahrens. Auch das haben wir ganz bewusst zum Vorteil der Versicherten, der Leistungserbringer und der Beschäftigten in den Kassen so entschieden. Im Laufe der Beratungen innerhalb der Bundesregierung konnte eine ganze Reihe von Verbesserungen erreicht werden. ({3}) Im Vergleich zum ersten Referentenentwurf ist es zum Beispiel gelungen, eine unakzeptable Kompetenzausdehnung des Spitzenverbandes Bund zu vermeiden. ({4}) Es ist inzwischen nicht mehr so, wie Sie es dargestellt haben. Deshalb ist dieser Entwurf eine wirklich gute Grundlage. ({5}) Es gibt keine Zwangsfusionen von Krankenkassen durch den Spitzenverband Bund. ({6}) Dieses Recht kann nur von der Aufsichtsbehörde ausgeübt werden. ({7}) - Lieber Kollege Bahr, wenn Sie ein Beispiel anführen, dann müssen Sie das richtig machen. Sie müssen beachten, was im Gesetzentwurf steht. Sie haben gesagt, die Commerzbank könne nicht gezwungen werden, die IKB zu schlucken. Das ist aber überhaupt nicht Gegenstand dieses Gesetzes. Umgekehrt dürfen die Verantwortlichen bei der IKB doch nicht sagen: Wir möchten nicht von einem leistungsstärkeren Partner übernommen werden, sondern weiterhin in unserer schwierigen Situation verbleiben. ({8}) Das ginge zulasten der Versicherten und der Beitragszahlerinnen und Beitragszahler. Hier müssen wir leistungsfähige Strukturen schaffen. ({9}) - Im Gesetz steht: wenn freiwillige Vereinbarungen in den Systemen nicht notwendig und nicht mehr möglich sind; nicht mehr und nicht weniger. Ihr Beispiel ist falsch. ({10}) Die Möglichkeiten des Spitzenverbandes Bund, auf die Gestaltung der Haushalte der Kassen Einfluss zu nehmen, wurden deutlich eingeschränkt. Statt einer Pflicht der Krankenkassen, den Spitzenverband Bund bei geringfügiger Abweichung von den Einnahmen zu informieren, wird jetzt ein realistisches und praktikables Frühwarnsystem eingeführt. Wir dürfen nicht immer warten, bis das Kind in den Brunnen gefallen ist, sondern wir müssen frühzeitig reagieren, wenn die Mechanismen nicht mehr greifen. Der Spitzenverband Bund ist verpflichtet, die Aufsichtsbehörden zu informieren; das ist auch richtig. So kann die Aufsicht bei einer Unterfinanzierung ihre Verantwortung wahrnehmen. Auch bei etwaigen Finanzhilfen hat sich das Subsidiaritätsprinzip durchgesetzt; das ist gut so. Die Finanzhilfen innerhalb der Kassenart haben jetzt eindeutigen Vorrang vor finanziellen Hilfen des Spitzenverbandes Bund. Diese sind nur noch möglich, wenn freiwillige finanzielle Hilfen der Kassenart entweder schon erfolgt oder nicht mehr möglich sind. Und selbst diese Regelung gilt nur für Leistungszusagen, nicht für sogenannte DO-Lasten. Uns, der Union, war von Anfang an wichtig, dass die wesentlichen Rechnungslegungsvorschriften des Handelsrechts jetzt auch für die Krankenkassen gelten. Es müsste doch gerade im Interesse einer liberalen Partei sein, ({11}) dass wir dafür sorgen wollen, dass hier nicht nach anderen Kriterien gewirtschaftet wird als in den übrigen Unternehmensbereichen, die im Zweifel sogar im Wettbewerb miteinander stehen. ({12}) Dadurch wird die Transparenz hinsichtlich der Finanzen der Kassen erheblich verbessert. Das ist dringend überfällig und notwendig. ({13}) Die Bundesknappschaft muss sich in ihrer Haushaltsführung wie die anderen Kassen an die im Handelsgesetzbuch geregelten Grundsätze einer ordnungsgemäßen Buchführung und Bilanzierung halten. Dies ist ein richtiger Schritt zur Anwendung der Bedingungen, die für geöffnete, im Wettbewerb stehende Krankenkassen gelten. Lieber Kollege Bahr, Sie haben den Schlüssel für die Ermittlung der standardisierten Verwaltungsausgaben angesprochen, die sogenannte 50 : 50-Regelung. Transparenz ist im Gesundheitswesen gerade bei den Verwaltungskosten wichtig. Noch immer gehören die Verwaltungskosten je Versicherten - sie sind in diesem Zusammenhang die aussagekräftigsten Werte - zu den am besten gehüteten Geheimnissen der Krankenkassen. Sich selbst Versorgerkassen nennende Krankenkassen fordern eine Umverteilung, die weit über die vom Gesetzgeber vorgesehene 100-prozentige Finanzkraftangleichung hinausgeht. ({14}) Das würde diejenigen Kassen finanziell bevorzugen, die schon über den morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich deutlich höhere Zuweisungen erhalten. ({15})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Widmann-Mauz, achten Sie bitte auf die Zeit.

Annette Widmann-Mauz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003259, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Eines ist klar - Sie haben es durch Ihre Forderung, nichts auszugleichen, bestätigt -: ({0}) Der im Gesetzentwurf befindliche Aufteilungsschlüssel stellt eine sachgerechte Lösung dar. Ich fasse zusammen und komme zum Schluss: Mit diesem Gesetzentwurf werden das Subsidiaritätsprinzip und der Wettbewerb gestärkt und wird das Verantwortungsbewusstsein der Krankenkassen geschärft. Wir schaffen damit mehr Transparenz im Gesundheitswesen. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Die Linke hat nun der Kollege Frank Spieth das Wort. ({0})

Frank Spieth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003849, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Mit dem Gesetzentwurf, über den wir heute in erster Lesung beraten, wird, wie wir gehört haben, der Versuch unternommen, im Zusammenhang mit dem Start des Gesundheitsfonds im Jahre 2009 die Schließung und/oder die Insolvenz aller gesetzlichen Krankenkassen zu regeln. Damit wird ein Ablasshandel mit den Bundesländern vollzogen: Die Länder werden - das war ihr dringlicher Wunsch - aus der Haftung für die landesunmittelbaren Krankenkassen entlassen. Nur darum geht es bei diesem Gesetzentwurf. Für die Fraktion Die Linke ist ein Insolvenzrecht für die gesetzliche Krankenversicherung sozialstaatlich wie verfassungsrechtlich in hohem Maße bedenklich. Es stellt sich die Frage: Wozu brauchen wir eine Insolvenzfähigkeit gesetzlicher Krankenversicherungen? Sind gesetzliche Krankenkassen tatsächlich mit Privatunternehmen vergleichbar? Treffen sie im Rahmen der Erfüllung ihrer Aufgaben tatsächlich unabhängige unternehmerische Entscheidungen? Und wer zahlt die Zeche, wenn eine Krankenkasse insolvent wird? Die Zeche - das kann man jetzt schon sagen - zahlen allein die Versicherten. Die Einnahmen werden mit der Einführung des Gesundheitsfonds 2009 nicht mehr von den gesetzlichen Krankenkassen verantwortet, sondern von der Bundesregierung. Sie legt die Beiträge der Versicherten und der Arbeitgeber sowie den Steuerzuschuss fest. Die Ausgaben werden im Startjahr 2009 angeblich - wir hoffen, dass es so sein wird - zu 100 Prozent durch den Gesundheitsfonds finanziert. Die Ausgaben basieren allerdings auf Leistungen, die im Wesentlichen durch Gesetz definiert sind. Die Krankenkassen haben einen geringen unternehmerischen Entscheidungsspielraum. Er besteht darin, dass durch den Gesundheitsfonds nicht finanzierte Leistungen über eine zusätzliche Kopfpauschale, die ausschließlich von den Versicherten gezahlt wird, finanziert werden können. Die gesetzliche Krankenversicherung ist nach der ständigen Rechtsprechung Teil der mittelbaren Staatsverwaltung. Das Bundessozialgericht hat aus Art. 20 Abs. 1 des Grundgesetzes immer eine Verpflichtung des Bundes und der Länder, einen funktionsfähigen und sozialen Krankenschutz zu gewährleisten, abgeleitet. Ich frage Sie allen Ernstes: Was macht es dann für einen Sinn, eine Insolvenzfähigkeit der Krankenkassen zu organisieren? Sie schreiben doch selbst in Ihrem Gesetzentwurf, dass die Haftung der Krankenkassen untereinander Vorrang hat und nur, falls unvermeidbar, das komplizierte Schließungsverfahren eingeleitet werden soll. Welchen Sinn macht dann also diese Regelung zur Insolvenzfähigkeit? Die finanziellen Aufwendungen der Krankenkassen für die Insolvenzsicherung, die Alterssicherung und den Haftungsfonds, um das Risiko einer Insolvenz abzudecken, müssen zukünftig zusätzlich zu den bisherigen Leistungen aufgebracht werden. Auch dies zahlen dann alleine die Versicherten einer Kasse. Arbeitgeber zahlen keinen Cent dazu. Das ist aus unserer Sicht ein Skandal. ({0}) Absurd finden wir die Tatsache, dass die Haftung der Bundesländer auf deren Betreiben hin bis zum 1. Januar 2009 entfallen soll, während das Insolvenzrecht mit all seinen Folgen nach Ihren Vorschlägen erst zum 1. Januar 2010 in Kraft tritt. Hier ist wohl eine Deckungslücke entstanden, ({1}) die quasi im großen Loch entschwunden ist. - Ich habe gerade heute noch einmal aktuelle Gutachten zu diesem Thema gelesen. Es wird dort ausdrücklich bestätigt, dass ganz eindeutig eine Haftungslücke vorhanden ist. Unverantwortlich ist aber erst recht - wie Rechtsexperten sagen -, dass vollkommen unklar bleibt, wie die Behandlung der Kranken im Falle der Insolvenz fortgesetzt und die daraus abgeleitete Finanzierung gesichert werden soll. Ebenso unklar bleibt, wie die Ansprüche von Ärzten und Krankenhäusern rechtlich abgesichert und zeitnah befriedigt werden. ({2}) Es bleiben also nicht nur Fragen nach dem Sinn des Gesetzes, sondern auch eine Menge rechtlicher Bedenken. Ich finde, im Interesse der Krankenversicherten haben wir in der Tat allen Anlass, uns darüber aufzuregen, auf welche Art und Weise hier über die Interessen der Versicherten und auch der Leistungserbringer hinweggegangen wird. Im Interesse der Versicherten und im Interesse der Leistungsbringer werden wir diese unsinnige Regelung zur Insolvenzfähigkeit der Krankenkassen im weiteren Verfahren hoffentlich zu Fall bringen. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die Kollegin Birgitt Bender das Wort.

Birgitt Bender (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003502, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die getragenen Reden, die hier vonseiten der Koalitionsfraktionen gehalten werden, ({0}) können nicht darüber hinwegtäuschen, dass der vorliegende Gesetzentwurf nichts anderes als der Ausdruck von Reformversagen in der Gesundheitspolitik ist. Warum? Frau Widmann-Mauz, Sie als gesundheitspolitische Sprecherin der Union versteigen sich ja sogar dazu, Ihre bisherigen sogenannten Reformen als Ausdruck sozialer Nachhaltigkeit zu preisen. Ich sage Ihnen: Das ist genauso wie die Tatsache, dass die CDU die Atomenergie neuerdings als Ökoenergie bezeichnet, nämlich voll daneben. ({1}) In Wirklichkeit ist es doch so: Die gesetzlichen Krankenkassen schreiben rote Zahlen. Im ersten Vierteljahr gab es ein Defizit von über 1 Milliarde Euro. Dazu sagt das Bundesgesundheitsministerium in den üblichen Pressemitteilungen, das sei jahreszeitlich durchaus üblich. Glaubt man der Regierung und der Koalition, dann geht es der GKV richtig gut. Ich frage mich dann aber: Wieso reden wir heute eigentlich über Krankenkasseninsolvenzen, wenn doch alles ganz wunderbar ist? Warum ist es so dringend, das Insolvenzrecht kurz vor der Scharfschaltung des Gesundheitsfonds noch in das Gesetz einzufügen? Ich will Ihnen sagen, weshalb. Es gibt zwei Gründe. Erstens. Sie haben vor den dringendsten Reformaufgaben in der Krankenversicherung kapituliert. Mit Ihrer sogenannten Gesundheitsreform leisten Sie überhaupt nichts dazu, die Finanzierung der Gesundheitsversorgung über den Tag hinaus zu gewährleisten. ({2}) Sie tun eben nichts dafür, die Schere zwischen den steigenden Ausgaben und der schwindenden Finanzierungsbasis zu schließen. Im Gegenteil: Sie öffnet sich weiter. Trotz einer günstigen Arbeitsmarktsituation schreibt die GKV rote Zahlen. ({3}) Man mag sich gar nicht vorstellen, ({4}) wie es wäre, wenn wir uns in einem Konjunkturtief befänden. Das heißt, dadurch, dass Sie hinsichtlich der Nachhaltigkeit in der Gesundheitsversorgung nichts tun, treiben Sie die Kassen geradezu in die Zahlungsunfähigkeit. Zweitens. Es kommt noch etwas hinzu: Das Insolvenzrecht wird auch deshalb so wichtig, weil die Koalition mit dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz ein Gesetz verabschiedet hat, in dem nichts, aber auch gar nichts zusammenpasst. Ab 2010 sollen die Kassen nur noch 95 Prozent ihrer Leistungsausgaben aus dem Gesundheitsfonds finanziert bekommen. Die restlichen 5 Prozent sollen sie über Zusatzbeiträge finanzieren. ({5}) - Das steht in eurem Gesetz. Ihr hättet es ja wenigstens lesen können. ({6}) Der Zusatzbeitrag belastet einseitig die Versicherten - das ist schon schlimm genug -, aber vor allem wird er in der vorgesehenen Fassung zu schweren Verwerfungen im Kassensystem führen. Darauf haben während der Gesetzesberatungen schon etliche Sachverständige hingewiesen, übrigens auch diejenigen, die Sie selber eingeladen haben. Der Zusatzbeitrag ist in der beschlossenen Fassung nicht umsetzbar. Durch die Koppelung von Zusatzbeitrag, einprozentiger Überlastungsgrenze und 8-Euro-Bagatellgrenze wird die Höhe des Zusatzbeitrages nämlich nicht von der Wirtschaftlichkeit einer Kasse, sondern von der Einkommens- und Familienstruktur ihrer Mitglieder abhängig sein. ({7}) Das heißt, je mehr Mitglieder einer Kasse wegen geringen Einkommens unter die Belastungsgrenze fallen und je mehr Kinder diese Kasse mitzuversichern hat, desto höher wird der Zusatzbeitrag sein, den sie verlangen muss. Damit wird sie im Kassenwettbewerb völlig unverschuldet zurückfallen. Es sind sogar Konstellationen denkbar, in denen eine Kasse mit vielen einkommensBirgitt Bender schwachen und kinderreichen Mitgliedern über ihren Zusatzbeitrag gar nicht das Finanzvolumen realisieren kann, das sie zur Versorgung ihrer Versicherten braucht. ({8}) - Diese Kasse müsste dann Insolvenz anmelden, Frau Widmann-Mauz, und zwar nicht, weil sie schlecht wirtschaftet, sondern weil sie im Sinne des von Ihnen verabschiedeten Gesetzes die falschen Mitglieder hat. Ihr Vorhaben ist eine Reise nach Absurdistan. ({9}) Aber statt daraus die Konsequenzen zu ziehen und das Durcheinander zu beheben, das Sie angerichtet haben, machen Sie einfach weiter. Diese Geisterfahrt wird spätestens im Jahr 2010 zu einer Welle von Kasseninsolvenzen führen. Damit wir uns richtig verstehen: Die Grünen sind nicht dagegen, dass die Krankenkassen die Konsequenzen ihres Finanzgebarens tragen müssen. ({10}) Dazu gehört auch das Insolvenzrisiko. ({11}) Wir sind aber entschieden dagegen, dass eine Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen ihrer Arbeit nicht nachkommen und dann ein Gesetzentwurf durch den Bundestag gepeitscht wird, mit dem sie die Folgekosten ihrer Arbeitsverweigerung auf die Beitragszahler abwälzen. Genau das findet hier statt. Das lassen wir aber nicht durchgehen. ({12})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Dr. Carola Reimann das Wort. ({0})

Dr. Carola Reimann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003434, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf werden alle Krankenkassen insolvenzfähig, auch die landesunmittelbaren, für die das bisher nicht galt. Es geht nicht um Insolvenzen, sondern um Insolvenzfähigkeit. ({0}) Das ist ein großer Unterschied. Die allermeisten Kassen sind bereits insolvenzfähig. Die Regelungen stellen aber auch sicher, dass die Altersversorgungsansprüche, die die Beschäftigten der Kassen erworben haben, im Insolvenzfall abgedeckt sind und ausgezahlt werden können. Das sieht das Regelwerk zur Insolvenzfähigkeit vor. Gleichzeitig regelt der Gesetzentwurf auch wichtige Teile des Finanzausgleichs. Auf die unterschiedlichen Versichertenstrukturen der Krankenkassen wurde bereits hingewiesen. Neu ist auch, dass die Verwaltungskosten in den Finanzausgleich einbezogen werden. ({1}) Das ist richtig. Es muss aber auch richtig gewichtet werden. ({2}) Der vom Kabinett vorgelegte Gesetzentwurf setzt hier unserer Meinung nach einen falschen Schwerpunkt. Nebenbei bemerkt - um in Sachen Verwaltungskosten aller platten Polemik über Glaspaläste und große Dienstwagen zuvorzukommen -: Es geht nicht darum, Bürokratie zu fördern oder Verschwendung zu finanzieren. ({3}) Es geht im Gegenteil darum, effizienzfördernden Wettbewerb auch im Bereich der Verwaltung zu etablieren. Bisher waren die Verwaltungskosten nicht Teil des Finanzausgleichs. Deshalb hatten Kassen mit höheren Verwaltungskosten einen Beitragssatznachteil, und zwar unabhängig davon, ob sie besonders unwirtschaftliche Verwaltungsstrukturen hatten oder ob sie sich besonders intensiv um ihre kranken Versicherten vor Ort gekümmert haben. Eine Internetkasse ohne Geschäftsstellen und mit weitgehend gesunden Versicherten braucht nun einmal weniger Verwaltung als eine Versorgerkasse mit Mitgliederservice und Geschäftsstellen vor Ort und einem Versorgungsmanagement für chronisch Kranke. ({4}) Weil wir aber eine bessere Betreuung der Versicherten fördern wollen, dürfen wir nicht zulassen, dass Krankenkassen, die Betreuung anbieten, in Zukunft wirtschaftliche Nachteile erleiden. Die Krankenkassen brauchen also einen angemessenen Ausgleich für ihre Verwaltungskosten. Die entscheidenden Fragen lauten nun: Was ist angemessen? Woran sollen sich die Verwaltungskosten orientieren? Da ist zum einen - unbestritten - die Größe einer Krankenkasse. Je mehr Versicherte, desto mehr Verwaltung ist erforderlich. ({5}) Da ist zum anderen - das ist ebenso unbestritten - der Gesundheitszustand der Versicherten. In den letzten 13 Jahren meiner Mitgliedschaft in der gesetzlichen Krankenversicherung habe ich keine Geschäftsstelle meiner Krankenkasse als Patientin von innen gesehen. Darüber bin ich froh, und dafür bin ich dankbar. ({6}) Chronisch Kranke brauchen dagegen neben medizinischer Versorgung eine intensive und kontinuierliche Betreuung und Beratung durch ihre Krankenkasse. Es liegt deshalb auf der Hand, dass neben der Zahl der Versicherten die Morbidität bei der Höhe der Verwaltungskosten berücksichtigt werden muss, und das in größerem Umfang. ({7}) Das ist im Übrigen auch in der Pflegeversicherung so. Hier haben sich die Krankenkassen darauf verständigt, dass 70 Prozent der Verwaltungskosten nach der Morbidität und 30 Prozent nach der Größe der Krankenkasse bzw. der Zahl der Versicherten bemessen werden. ({8}) Dieses Verhältnis spiegelt die tatsächlichen Kosten wider. Deshalb sollte es unserer Meinung nach im Gesetz verankert werden. ({9}) Die nun vorgeschlagene 50 : 50-Aufteilung benachteiligte dagegen vor allem die Krankenkassen, die nur deshalb höhere Verwaltungskosten haben, weil sie sich intensiver um ihre kranken Versicherten kümmern und dazu zum Beispiel ein flächendeckendes Geschäftsstellennetz vorhalten. Eine 50 : 50-Aufteilung schafft deshalb unserer Meinung nach die falschen Anreize. Für solche Krankenkassen würde es unter diesen Bedingungen lohnend sein, Service und Betreuung für ihre Versicherten einzuschränken und Geschäftsstellen zu schließen. ({10}) Das ist nicht im Sinne der SPD. Wir wollen, dass die Krankenkassen einen Wettbewerb um die beste Versorgung führen und sich besonders um kranke Versicherte, um wirkliche Patienten kümmern und keinen Wettbewerb führen, bei dem es nur darum geht, sich gegenseitig die gesunden Versicherten abzujagen. ({11}) Wir plädieren deshalb für eine stärkere Berücksichtigung der Morbidität bei den Verwaltungskosten. Das in der Pflegeversicherung bewährte Verhältnis von 70 zu 30 ist nach unserer Meinung das richtige Maß. Ich danke fürs Zuhören. ({12})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Max Straubinger das Wort. ({0})

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Eine kleine Vorbemerkung, Frau Bender: Sie haben vorhin versucht, darzulegen, dass man alles aufgrund der vierteljährigen Finanzentwicklung der Krankenkassen auf Insolvenz trimme. Sie sind doch lange genug gesundheitspolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion der Grünen, um zu wissen, dass die gesetzliche Krankenversicherung im ersten Vierteljahr immer ein Defizit zu verzeichnen hat, dass der erste Teil des Bundeszuschusses an die Krankenkassen Mitte des Jahres ausgezahlt wird und dass die gesetzliche Krankenversicherung - zumindest während unserer Regierungszeit - am Ende des Jahres Überschüsse erzielt. ({0}) Das Ganze hat nichts mit der heute in erster Lesung beratenen Insolvenzfähigkeit der Krankenkassen zu tun. ({1}) Frau Kollegin Reimann hat bereits dargelegt, dass es nur um die rechtliche Gleichstellung aller gesetzlichen Krankenversicherungen geht. Das ist Ziel des Gesetzgebungsverfahrens. ({2}) Mit dem Gesetz zur Weiterentwicklung der Organisationsstrukturen in der gesetzlichen Krankenversicherung leiten wir das letzte Gesetzgebungsverfahren im Rahmen der Gesundheitsreform der Bundesregierung ein. Es ist wichtig, auf wesentliche Bestandteile hinzuweisen. ({3}) - Die Frau Bundesministerin hat vorhin angekündigt, dass zeitnah eine praktikable Konvergenzformel gefunden wird. Ich vertraue der Bundesministerin. ({4}) Ich sage aber gerade im Namen der CSU sehr bestimmt: Die Konvergenzklausel muss politisch so umgesetzt werden, wie sie vereinbart wurde. Einzelne Bundesländer dürfen nicht mit mehr als 100 Millionen Euro im Jahr zusätzlich belastet werden. Deshalb, Frau Bundesgesundheitsministerin, wäre es natürlich gut, wenn dies sehr schnell dargelegt würde, um damit manche Diskussion sicherlich positiv zu beeinflussen. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Straubinger, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Bahr? Vizepräsidentin Petra Pau ({0})

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Natürlich.

Daniel Bahr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Straubinger, vielleicht erinnern Sie sich noch an die Sitzung des Gesundheitsausschusses in der vorletzten Sitzungswoche, als wir Professor Wasem eingeladen hatten, der ein Gutachten über die Verteilungswirkung durch den Fonds auf die Länder erstellt hat. Dabei sagte er auf meine Frage, dass man erst Ende des Jahres, wahrscheinlich im Dezember, mit verlässlichen Zahlen operieren und erst dann richtig berechnen kann, wie sich die Fondsverteilung auf die Länder auswirkt. Ist es eigentlich nicht sinnvoller, darauf zu warten, anstatt schon vorher politische Entscheidungen zu treffen? Haben Sie nicht die Sorge, dass Sie hier möglicherweise eine Entscheidung treffen, die Bayern viel härter trifft, als Sie es erwartet hätten? ({0})

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Bahr, ich vertraue voll darauf, dass sich die Bundesregierung und die Bundesministerin nicht nur auf angenommene Zahlen stützen. Herr Professor Wasem hat hier ausdrücklich dargelegt, dass das Gutachten auf Annahmen und nicht auf realen Grundlagen basiert. Ich gehe davon aus, dass die Bundesregierung noch bessere Grundlagen erarbeiten wird, ({0}) um auf dieser Basis einen nachvollziehbaren Vorschlag auch für die Umsetzung der Konvergenz machen zu können. ({1}) Ich glaube, es ist notwendig, dass Klarheit in der Ausgestaltung des Morbi-RSA geschaffen wird. Das ist meines Erachtens sehr wichtig, weil sich die Finanzströme dementsprechend verändern werden.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Straubinger, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage, diesmal von der Kollegin Bender?

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Oh je. Da kann ich natürlich nicht Nein sagen. ({0})

Birgitt Bender (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003502, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Straubinger, ich habe noch Informationsbedarf hinsichtlich der Konvergenzklausel. Können Sie uns denn sagen, wer den Ausgleich, der für Bayern und Baden-Württemberg geschaffen werden soll, bezahlen soll? Sollen das die anderen Länder sein, oder soll der Betrag von dem Steuerzahler oder der Steuerzahlerin kommen? An welche Beträge denken Sie, und wie sollen diese aufgebracht werden?

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich warte zuerst auf den guten Vorschlag der Bundesgesundheitsministerin. ({0}) Dann werden wir dies auf alle Fälle - möglicherweise in einer strittigen Diskussion - zu einem guten Ziel führen. ({1}) Ich glaube, dass es wichtig ist, auch beim morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich Klarheit zu schaffen und auch der Fachöffentlichkeit, die dies begleitet, die Auswirkungen darzulegen. Für uns ist noch ein zweiter Punkt wichtig - die Frau Bundesgesundheitsministerin hat das kurz anklingen lassen -: Es geht natürlich auch um die Bezahlung der Leistungserbringer. Leistungserbringer sind die Ärzte. Wir haben eine neue Honorarordnung. Es gibt im Zusammenhang mit dieser neuen Honorarordnung Befürchtungen, dass unter Umständen Abflüsse aus Ländern erfolgen werden. Dies muss auf alle Fälle so gestaltet werden, dass alle Ärzte in Deutschland gleichmäßig betroffen sind. Die Frau Bundesgesundheitsministerin hat am 21. Mai 2008 in Ulm die berechtigte Forderung der Ärzte nach einer Honorarsteigerung zur Kenntnis genommen und zumindest in Aussicht gestellt, dass 2,5 Milliarden Euro mehr für das Honorar der Ärzte bereitgestellt werden sollen. Dies muss entsprechend untermauert werden und durch Gesetz oder anderweitig erfolgen, sodass sichtbar wird, dass die Honorare der Ärztinnen und Ärzte steigen werden. Das ist meines Erachtens sehr wichtig. Derzeit gibt es in den einzelnen Bundesländern unterschiedliche Honorierungen. Es kann aber nicht angehen, dass die Honorare nur bei einigen Leistungserbringern stark angehoben werden. Auch dort, wo die Honorierung aufgrund der Entwicklungen der vergangenen Jahre und Jahrzehnte derzeit besser gestaltet ist, müssen die Leistungserbringer an einem Einkommensfortschritt teilhaben. Im Bereich der Ärzteschaft wird immer sehr deutlich formuliert - und ich sage das ganz bewusst; das ist auch für uns ganz wichtig -, dass eine Klarstellung in § 87 SGB V notwendig ist. Auch meines Erachtens hat eine gesetzliche Umsetzung zu erfolgen. Ein zweiter Gesichtspunkt, der sicherlich für uns mit entscheidend ist, ist, dass der Stärkung des Verhandlungsmandats für eine große Gruppe von Hausärzten stattgegeben wird und dementsprechend neue Formen gefunden werden. In diesem Sinne nehmen wir die Beratungen auf. Sicherlich werden auch noch manch andere Themen zu diskutieren sein, beispielsweise die Ein-Prozent-Regelung, die wichtig ist, um die Finanzausstattung der Krankenkassen auch zukünftig sicherzustellen. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/9559 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Nešković, Ulla Jelpke, Sevim Dağdelen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Einführung eines verpflichtenden Lobbyistenregisters - Drucksache 16/8453 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({0}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion Die Linke fünf Minuten Redezeit erhalten soll. Ich höre keinen Widerspruch, dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Wolfgang Nešković für die Fraktion Die Linke. ({1})

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! In den 70er-Jahren des vorletzten Jahrhunderts brannte das Weiße Haus. Der damalige amerikanische Präsident zog in ein Hotel um. Dort lebte er sicherlich weiter komfortabel, aber immer weniger abgeschirmt von Besuchern. In der Lobby des Hotels erwarteten ihn nun täglich zahllose Interessenvertreter, um ihn energisch zu für sie günstigen Entscheidungen zu drängen. Der Begriff des Lobbyismus war geboren und beschäftigt seitdem eine kritische Öffentlichkeit. Heute muss kein Interessenvertreter aus Wirtschaft oder Gesellschaft auf einen Brand im Regierungsviertel hoffen. Ein riesiger Dienstleistungsbetrieb arbeitet zwischenzeitlich mit gewaltigen materiellen und personellen Ressourcen, um die Politik zu gewünschten Entscheidungen „hinzuberaten“. Mittlerweile beschränken sich Lobbyisten nicht länger auf Beratung. Sie setzen ihre Ratschläge innerhalb der Exekutive gleich selbst um. Zu Recht rügte der Bundesrechnungshof, dass allein zwischen 2004 und 2006 rund 100 Lobbyisten jährlich in bundesdeutschen Ministerien arbeiteten. Bezahlt von der Crème de la Crème der deutschen Wirtschaft betrieben diese Leute Sacharbeit in ganz eigenem Interesse. Was dieser Einfluss auf die Demokratie für die Demokratie bedeutet, hat Ende 2005 ein namhafter Lobbyist auf den Punkt gebracht. Herr Dieter Schulze van Loon, Präsident eines Dachverbandes von Lobby- und PR-Unternehmen, hat in einem bemerkenswerten Aufsatz hierzu Folgendes ausgeführt: Einerseits bleibt festzuhalten, dass Lobbying den Einsatz großer Mengen an Ressourcen - vor allem Geld und Zeit - voraussetzt, wenn es erfolgreich sein will. Dies allein bedingt schon, dass nur entsprechend wohlhabende Unternehmen oder Organisationen Lobbying betreiben können, was zu einer Selektion der Interessen führt. Wer sich Lobbying nicht leisten kann, hat meist auch keine Lobby. Dieser Selektionsprozess ist aus demokratietheoretischer Sicht in der Tat bedenklich, … Da hat Herr van Loon völlig recht. Aus allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gehen Parlament und dann Regierung hervor. Dann werden aber nur noch zwei der fünf genannten Grundsätze gewahrt. Dann vergehen vier Jahre, in denen der gesellschaftliche Einfluss auf die Politik weder gleich noch allgemein noch sonderlich frei ist. Allerdings ist der Einfluss von Lobbyisten auf die Politik oft unmittelbar und nicht selten geheim. Wir haben Ihnen heute einen Antrag vorgelegt, mit dem wir diesen Missständen begegnen wollen. Es müsste Ihnen bei Durchsicht des Antrags allerdings etwas Überraschendes aufgefallen sein: Die Forderung nach einer Eindämmung von Lobbyismus steht dort nicht im Vordergrund. Der Antrag kennt keine Kategorien von zu viel oder zu wenig Lobbyismus. In dem Antrag wird auch nicht zwischen bösem und gutem Lobbyismus unterschieden. In unserem Antrag wird diese Bewertung einzig und allein dem dazu Berufenen überlassen: dem Souverän, den Wählerinnen und Wählern. ({0}) Durch die Verabschiedung unseres Antrags würde allerdings dafür gesorgt, dass die Menschen erstmals überhaupt in den Stand versetzt werden, Lobbyismus sachlich zu bewerten. Warum es genau darauf ankommt, erläutert Ihnen Herr van Loon in seinem Aufsatz - ich zitiere -: Bedenklich ist auch die meist fehlende Transparenz - von Lobbying -. Entscheidungsprozesse und insbesondere ihr Ergebnis sind für den Bürger nicht mehr nachzuvollziehen und führen zu einem sinkenden Vertrauen in Politik und Politiker. Dieses Misstrauen wird noch verstärkt durch die publik gewordenen Fälle von Vorteilsnahmen durch Politiker, … Durch unseren Antrag wird die völlige Öffentlichmachung jeder Lobbyarbeit auf Bundesebene bezweckt. ({1}) Wenn Sie diesen Antrag annehmen, dann haben Lobbyisten die sanktionsbewehrte Pflicht, sich in ein Internetregister einzutragen. Dann sind in diesem Register die finanziellen Aufwendungen der Lobbyarbeit und ihre Nutznießer offenzulegen. Dann sind Lobbyisten, die an Regierungsstellen ausgeliehen werden, im Register namentlich einzutragen. Dann erhielten die Bürgerinnen und Bürger schließlich zu jeder einzelnen parlamentarischen Initiative Auskunft über die Beteiligung von Lobbyisten an ebendieser Initiative. Wenn Sie unseren Antrag annehmen, dann ermöglichen Sie erstmals eine informierte, gesellschaftliche Debatte zu Nutzen und Schaden von Lobbyarbeit. Dann bedürfte es auch nicht der Intervention des Bundesrechnungshofes. Dann könnte ein öffentlicher Diskurs dafür sorgen, dass Lobbyismus dort verschwindet, wo er der Allgemeinheit schadet. Ein informierter Diskurs könnte zugleich dafür sorgen, dass Lobbyismus erhalten bleibt, wo er der Allgemeinheit nützt. Ein ernstes Demokratiedefizit kann so durch die Demokratie selbst behoben werden. Vielen Dank. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Dr. Ole Schröder das Wort. ({0})

Dr. Ole Schröder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003628, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Demokratie beinhaltet die Möglichkeit eines jeden Bürgers, seine Interessen zu vertreten. Das beginnt bei den Gesprächen von uns Abgeordneten und auch der Kandidaten mit den Bürgern ihres Wahlkreises. Hier werden nicht nur ganz persönliche Belange des Einzelnen besprochen; vielmehr werden schon dort Anliegen einzelner Berufsgruppen an einen Abgeordneten herangetragen. Das Vorbringen eigener Interessen vor Ort setzt sich auf regionaler und Landesebene fort bis hin zur Bundespolitik. Die Organisation dieser Interessenvertretungen nimmt dabei einen wichtigen Teil ein. Dagegen gibt es überhaupt nichts einzuwenden. Im Gegenteil: Interessenvertretung ist ein Kernelement der demokratischen Idee. ({0}) Es ist für den demokratischen Prozess allerdings entscheidend, dass die Abläufe durchschaubar und dass Entscheidungen nachvollziehbar, das heißt transparent sind. ({1}) Das parlamentarische Verfahren ist dabei nicht das vorwiegende Problem. Hier ist - unter anderem durch die öffentlichen Anhörungen, durch die öffentlichen Debatten und Anträge - für Transparenz gesorgt. Systembedingt gibt es geringe Transparenz vor allem dort, wo die öffentliche Debatte fehlt: in den Ministerien. Genau dort werden heute aber die meisten Gesetzentwürfe geschrieben. Die Exekutive ist deshalb natürlich auch die Hauptanlaufstelle für Lobbyisten aller Couleur. Es ist problematisch, wenn zum Beispiel im Gesundheitsministerium Mitarbeiter von Krankenkassen an der Formulierung von Gesetzen mitwirken, von denen die Krankenkassen unmittelbar profitieren, auch wenn es sich dabei nicht um Lobbyismus im klassischen Sinne handelt. Darüber, dass dagegen etwas unternommen werden muss, sind wir uns hier im Hause alle einig. ({2}) Der Haushaltsausschuss des Bundestages hat hierzu einen deutlichen Beschluss gefasst. Er fordert die Bundesregierung auf, klare Verbotsbereiche für externe Personen zu definieren. Das bedeutet zum Beispiel: kein Einsatz von Externen bei der Formulierung von Gesetzesentwürfen, kein Einsatz in Leitungs- und Kontrollbereichen, genaue Angaben zu Dauer, Tätigkeit und Entlohnung der beschäftigten Personen. Die Bundesregierung hat bereits reagiert und will noch vor der Sommerpause eine Verwaltungsvorschrift mit klaren Regelungen für externe Mitarbeiter erlassen. Damit machen wir einen wichtigen Schritt hin zu mehr Transparenz. Solche Regelungen sind wichtig. Eines muss man aber auch deutlich machen: Viele Bereiche, über die die Politik heute entscheidet, sind hochkomplex. Externer Sachverstand ist deshalb gerade in vielen Detailfragen von entscheidender Bedeutung. Andersherum wäre es sogar verantwortungslos, in Detailfragen keinen externen Sachverstand hinzuzuziehen. Wir wollen deshalb das Kind nicht mit dem Bade ausschütten und nicht auf externen Rat verzichten. ({3}) Sich für mehr Transparenz einzusetzen, ist ein richtiges und wichtiges Anliegen. Der Antrag der Linkspartei wird diesem sensiblen Thema allerdings nicht gerecht. ({4}) Mit Klassenkampfparolen bestückt, lässt er sich in die immer wiederkehrende uralte Leier von gierigen Großkapitalisten und bösen Großgrundbesitzern einreihen ({5}) - so steht es wirklich im Antrag -, die durch ihr Geld Einfluss auf die Politik erlangen. Es gehe beim Lobbyismus nur darum, heißt es, die gesellschaftlichen Machtverhältnisse zu verstetigen. ({6}) Wolfgang NeškoviæWolfgang Nešković Das ist wirklich absurd, verlogen und missachtet vor allem den Gleichheitsgrundsatz. ({7}) Vertreter von Gewerkschaften und Sozialverbänden sind genauso Lobbyisten wie Industrievertreter, wenn sie ihrer Lobbyarbeit nachgehen. Das ist für die Vertreter der Linksfraktion offensichtlich nicht so. Interessant finde ich, dass ausgerechnet Sie von den Linken einen Antrag vorlegen, mit dem mehr Transparenz und Offenheit gefordert wird. In Bereichen, die Sie selbst betreffen, ist Ihnen Transparenz allerdings höchst unangenehm. ({8}) Zum Beispiel haben sich bisher insgesamt 141 Mitglieder des Bundestags freiwillig auf eine Stasimitgliedschaft überprüfen lassen. In Ihrer Fraktion war es bisher eine einzige Person. ({9}) Ihr Fraktionsvorsitzender versucht gerichtlich, jegliche Transparenz zu verhindern, wenn es um seine eigene Verstrickung innerhalb der Stasi geht. Dass Sie dann einen Antrag mit dem Ziel von mehr Transparenz vorlegen, ist schon einigermaßen verlogen. ({10}) Transparenz ist in einer Demokratie grundsätzlich wichtig, aber nicht nur dort, wo es einem passt, sondern überall. Es ist nicht nur das, was Ihren Antrag unglaubwürdig macht. Es ist naiv, zu glauben, dass derjenige, der am meisten Geld in Lobbyarbeit investiert, auch den meisten Einfluss hat. ({11}) Wir wissen doch, dass es etwas anderes ist, besonders auch bei uns Abgeordneten, was Einfluss von außen sichert. ({12}) Eine viel wichtigere Rolle spielen persönliche Bindungen und Beziehungen. Selbstverständlich haben zum Beispiel die Gewerkschaften Einfluss auf Ihre Fraktion. ({13}) Ich will das auch gar nicht kritisieren. Es ist das gute Recht eines Gewerkschaftssekretärs, Mitglied des Deutschen Bundestags zu werden. Es ist aber auch das gute Recht eines Geschäftsführers eines Industrieverbandes, Mitglied des Deutschen Bundestags zu werden. ({14}) Wir alle wissen, dass solche persönlichen Bindungen stärkeren Einfluss haben als ein großes und pompöses parlamentarisches Sommerfest, allein schon deshalb, weil die Informationswege kürzer sind. Aber persönliche Bindungen und Gespräche im Privaten kann und soll man eben nicht kontrollieren; denn eine Art Staatssicherheit, die erfasst, wer sich wo mit wem trifft, wollen wir doch wirklich nicht. ({15}) Meine Damen und Herren, dabei zeigt sich auch noch eine andere Schwierigkeit. Wer gilt denn im eigentlichen Sinne als Lobbyist? Ist jede organisierte Interessenvertretung Lobbyismus? Was ist zum Beispiel mit dem Phänomen der Massenschreiben, die wir alle bekommen? Wenn beispielsweise ein Bürger Massenschreiben organisiert und dafür sorgt, dass auch andere dieses Massenschreiben an uns senden, ist das Lobbyismus? Muss sich ein solcher Bürger in das Lobbyistenregister eintragen? Was ist zum Beispiel mit einem Handwerksvertreter, der sich an einen Abgeordneten wendet ({16}) und wiederholt ganz explizit seine Interessen und auch die Interessen seiner Berufskollegen gegenüber einem Abgeordneten vertritt? Wir alle bekommen Schreiben von Rechtsanwälten, die von ihren Erfahrungen berichten. Was ist zum Beispiel mit einem Fachanwalt für Familienrecht, der ganz explizit Stellung nimmt, wie sich Gesetze auf konkrete Fälle in seiner Praxis auswirken. ({17}) Muss sich ein solcher Anwalt für Familienrecht, der auf eine fragwürdige Gesetzesvorschrift hinweist und deshalb für eine ganz bestimmte Klientel aus seiner Praxis etwas erreichen will, in das Lobbyistenregister eintragen? Das alles sind Fragen, die schwierig zu beantworten sind. Somit ist eine verpflichtende Registratur sicherlich nicht das richtige Mittel. Auf den zusätzlichen Bürokratieaufwand möchte ich gar nicht weiter eingehen. Sie brauchen ja Personen, die das Register verwalten, die Sanktionen feststellen usw. Meine Damen und Herren von der Linken, wir haben bereits ein Register - das ist Ihnen vielleicht entgangen -, in das sich Lobbyisten auf freiwilliger Basis eintragen können. ({18}) Wenn Verbände zu Anhörungen eingeladen werden wollen, müssen sie dort sogar eingetragen sein. Wer ein professioneller und seriöser Lobbyist ist, der wird dies auch tun. Ob wir durch ein solches Register die anderen von unseriösen Praktiken abhalten, wage ich zu bezweifeln. Im Übrigen: Wenn Sie ein solches Register für so dringend notwendig halten und das bis auf die kommunale Ebene, dann frage ich mich, warum Sie in Berlin, wo Sie ja mitregieren und wo es meines Erachtens ein solches Register, selbst ein freiwilliges Register, nicht gibt, nicht eine einzige parlamentarische Initiative in diese Richtung gestartet haben. ({19}) Wenn Ihnen dieses ein solches Anliegen ist, dann sollten Sie wenigstens da, wo Sie an der Regierung sind, damit anfangen. ({20})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Schröder, achten Sie bitte auf die Zeit. ({0})

Dr. Ole Schröder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003628, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme zum Schluss. - Interessenvertretung ist in einer Demokratie existenziell. Transparenz und Regeln sind dabei unabdingbar, um Unabhängigkeit zu bewahren. Es ist deshalb richtig, dass wir dieses Thema auf die Tagesordnung gesetzt haben, uns mit ihm beschäftigen und in den Ausschüssen diskutieren. Der Antrag der Linken wird diesem sensiblen Thema allerdings nicht gerecht. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Jörg van Essen das Wort. ({0})

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt eine Rüstungslobby. Es gibt eine Atomlobby. Es gibt eine Raucherlobby, eine Autolobby, eine Industrielobby. Aber haben Sie schon einmal die Begriffe Gewerkschaftslobby oder Umweltlobby gehört? Das Ganze zeigt doch, dass mit dieser Bezeichnung ganz offensichtlich ein Makel verbunden werden soll. Diese Absicht bestimmt die Diskussion bei vielen Themen, die wir hier behandeln. So wie es ganz selbstverständlich ist, dass Gewerkschaftsfunktionäre hier die Interessen der Arbeitnehmer vertreten, so selbstverständlich wird immer wieder, wenn jemand seine praktischen Erfahrungen als Unternehmer einbringt, hinterfragt, ob er damit nicht einseitig Interessen im Deutschen Bundestag vertritt. Für uns Liberale ist die Antwort völlig klar und eindeutig: Jeder Abgeordnete ist selbstverständlich Interessenvertreter. Er wird von den Bürgern seines Wahlkreises hier hingeschickt, um deren Interessen zu vertreten. ({0}) Interessenvertretung ist also überhaupt nichts Negatives, sondern ganz selbstverständlich mit Parlamentarismus verbunden. Deshalb lasse ich es auch nicht zu, dass bestimmte Interessen mit dem Makel „Lobby“ verbunden werden, um damit deutlich zu machen, dass das eigentlich Interessen sind, die es nicht wert sind, im Parlament vertreten zu werden. ({1}) Selbstverständlich darf die Industrie ihre Interessen vertreten, ({2}) so wie es selbstverständlich ist, dass auch die Gewerkschaften das tun dürfen. Herr Nešković, Ihr Antrag - darauf hat der Kollege Schröder zu Recht hingewiesen atmet doch mit jedem Satz, den Sie geschrieben haben, den schlechten Geruch des Klassenkampfes. ({3}) Genau davon ist dieser Antrag geprägt. Ich bin ganz sicher, dass es mir da genauso wie vielen Kollegen hier geht: Ich bin dankbar, dass verschiedene Gruppierungen sich melden und mich auf Dinge, die aus ihrer Sicht problematisch sind, aufmerksam machen. Ich habe immer wieder erlebt, dass mich das nicht überzeugt hat; aber ich konnte mich damit auseinandersetzen. Ich konnte aber auch Anregungen aufnehmen, die mir eingeleuchtet haben, die ich vernünftig gefunden habe. Das gehört doch gerade zum parlamentarischen Prozess mit dazu. Deshalb sollten wir durch die Einführung eines Registers nicht den Eindruck erwecken, dass das, was in dem Zusammenhang getan wird, nämlich Abgeordnete zu beraten, etwas Negatives ist. Allerdings - das sehe ich genauso wie der Kollege Schröder - haben wir ganz offensichtlich in der letzten Zeit eine Fehlentwicklung gehabt, die so nicht zu akzeptieren ist. In einigen Ministerien waren offenbar Vertreter von Interessenverbänden ganz unmittelbar an der Gesetzgebung beteiligt. Dass sie Hinweise für die Gesetzgebung geben, ist klar und selbstverständlich. Aber dass sie unmittelbar an der Formulierung beteiligt waren, ist etwas, was aus meiner Sicht so nicht hingenommen werden kann. Die Bundesregierung hat auch notwendiger17920 weise darauf reagiert. Ich bin dafür dankbar. Wir werden prüfen, ob das ausreichend ist; aber es war dringend notwendig. ({4}) Im Übrigen - auch das sage ich Ihnen, Herr Nešković -: Viele der Begründungen, die Sie vorgetragen haben, tragen doch nicht. Ihnen wird es wahrscheinlich genauso gehen wie mir. Es gibt Bürger, die sich in regelmäßigen Abständen melden und ihre Anregungen vortragen. Darunter sind auch Ehrenamtler, die die Interessen ihres jeweiligen Verbandes vor Ort vortragen. Da steht in Ihrer Begründung: Wenn sich jemand als Bürger an Abgeordnete wendet, soll er nicht in das Lobbyregister, weil er nicht ehrenamtlich tätig ist. Das entspricht doch überhaupt nicht der Wirklichkeit. Auch deswegen ist Ihr Antrag kein Schritt nach vorne. Die FDP-Bundestagsfraktion lehnt deshalb den Antrag der Linken ab. Vielen Dank. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege Peter Friedrich. ({0})

Peter Friedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003754, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die SPD-Fraktion hatte Anfang des Jahres Günter Grass zu Gast. Er hat eine Rede gehalten und unter anderem gesagt, dass der Lobbyismus inzwischen die größte Gefahr für das Ansehen der Demokratie darstelle. Jetzt muss man diese Ansicht nicht per se teilen. Aber man muss doch erhebliche Zweifel daran anmelden, wie Lobbyarbeit in Deutschland stattfindet und funktioniert, und man kann nicht darüber hinwegsehen, dass die Legitimität des Gesetzgebers durch die Art der Lobbyarbeit in der Praxis untergraben wird. Deswegen haben wir eine gemeinsame Verpflichtung, bei diesem Thema voranzukommen. Da nützt es aus meiner Sicht herzlich wenig, wenn wir darin verharren, uns gegenseitig Splitter in den Augen zu diagnostizieren. Ich glaube, alle Fraktionen in diesem Hause sind sich einig, dass es legitim ist, Gespräche zu führen und Interessen zu vertreten. Das ist in einer Demokratie nicht nur legitim, sondern lebensnotwendig. Es ist so lange berechtigt, wie kein unzulässiger Einfluss ausgeübt wird. Wir sind darauf angewiesen, bei der Formulierung von Gesetzen die Anliegen betroffener Gruppen einzuholen und anzuhören. Notwendig ist aber auch - da gebe ich dem Sinn des Antrages durchaus recht -, dass die Qualität und die Stichhaltigkeit von Argumenten nicht davon abhängig sein darf, wie viel finanzielle Macht hinter dem einzelnen Argument gesammelt wird. Deswegen glaube ich, dass wir in der Tat in diesem Bereich besser werden müssen. Ich verstehe allerdings in Ihrer Argumentation nicht so ganz, warum Sie die Bundesregierung beauftragen wollen, einen Gesetzentwurf vorzulegen. ({0}) Ehrlich gesagt ist das ein Kernbestandteil des Parlamentarismus, um den es hier geht. Deswegen ist es Aufgabe dieses Parlaments, zu einer Lösung zu finden, selbst Lösungen zu entwickeln, statt die Bundesregierung zu beauftragen, einen Gesetzentwurf vorzulegen, der regelt, wie Parlamentarismus und Interessenvertretung gegenüber dem Parlament stattzufinden haben. ({1}) Parlamentarische Willensbildung ist Sache des Parlaments selbst und nicht Sache der Regierung. Natürlich gibt es bestimmte Aspekte, was das Regierungshandeln betrifft. Dazu wird mein Kollege Lange noch etwas sagen. Herr Schröder, Sie haben die Verbändeliste erwähnt, die es seit 1972 gibt. Darin werden aber nur die Verbände geführt. Wir bekommen keinerlei Auskunft darüber, wie diese Verbände ihre Mittel beziehen und was sie eigentlich machen. Natürlich wundern wir uns über bestimmte Beispiele aus der täglichen Praxis. Wenn ich mit einem Verband zu tun habe, der sich beispielsweise Patientenverband nennt, dann möchte ich wissen, ob es sich tatsächlich um einen Patientenverband oder um eine Vorfeldorganisation der Pharmaindustrie handelt. Wir alle kennen solche Beispiele aus der Praxis. ({2}) Die SPD-Fraktion möchte das Verbänderegister um die Angabe erweitern, welche Mittel die Verbände erhalten. Die Verbändeliste wird zwar geführt. Aber seit 1979 gibt es einen Auslegungsbeschluss, durch den der Sinn der Liste praktisch ausgehebelt wird. Ich habe mir einmal eine Aufstellung aller Verbände machen lassen, die allein in dieser Legislaturperiode zu Anhörungen des Ausschusses, in dem ich Mitglied bin - das ist der Ausschuss für Gesundheit -, eingeladen worden sind und die nicht auf der Liste stehen. Diese Aufstellung umfasst drei Seiten. Diese Liste ist momentan, so sehr sie gelobt wurde - damals war Deutschland Vorreiter in dieser Angelegenheit -, leider nicht das wert, was wir uns wünschen. Wir möchten wissen: Wie finanzieren sich Verbände? Woher nehmen sie ihre Mittel? Wer beauftragt sie für welchen Zweck? Wir können das innerhalb der Geschäftsordnung regeln. Die SPD-Fraktion wird dazu einen eigenen Vorschlag auf den Tisch legen. Wir haben bereits einen entsprechenden Beschluss gefasst und werden darüber in der Koalition sprechen. Für eine Regelung brauchen wir aber kein Gesetz; wir können unsere Geschäftsordnung entsprechend ändern und die Bundesregierung anhalten, ebenso zu verfahren. Ich wäre froh, wenn wir gemeinsam daran arbeiten würden. Denn es würde zur Stärkung der Glaubwürdigkeit des Parlaments insgesamt beitragen. Es ist nicht die Aufgabe einzelner. ({3}) Ich kann dem Vorschlag, ein Lobbyistenregister einzuführen, durchaus einiges abgewinnen. In Brüssel geschieht genau dies unter Mitwirkung aller Beteiligten. ({4}) Ich habe aber erhebliche Zweifel daran, ob das in der Weise möglich ist, wie es die Linkspartei beschreibt. Für mich ist der Begriff „Erfassung von Lobbyisten“ schwierig zu verstehen. Dazu wurde eben schon etwas gesagt. Es ist auch problematisch, diesen Begriff auf die Kommunen herunterzubrechen. Ist der stellvertretende Vorsitzende eines Fußballvereins schon ein Lobbyist, wenn er mit seinem Gemeinderat nach einem Spiel darüber reden möchte, ob es einen neuen Platz gibt oder nicht. Ihn als Lobbyist zu führen, scheint mir wenig lebensnah zu sein. Wir dürfen an dieser Stelle Politik nicht von den Menschen dadurch entfremden, dass wir sie transparent machen wollen. Das macht aus meiner Sicht keinen Sinn. ({5}) Was können wir schnell tun? Wir können unsere Geschäftsordnung so ändern, dass offengelegt wird, wer mit uns spricht und warum er mit uns spricht. Das sollten wir tun. Dann kommen wir gemeinsam voran. Vielen Dank. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der Kollege Volker Beck das Wort.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir Abgeordnete sind gewählt, um die in unserer Gesellschaft unterschiedlichen Interessen im Parlament in einen nach unserem Verständnis sinnvollen Ausgleich zu bringen und alle berechtigten Interessen zum Tragen kommen zu lassen. Deswegen sollten wir Interessenwahrnehmung und Lobbyismus nicht per se als Unworte in dieser Debatte gebrauchen. Es gehört zur Demokratie dazu, dass die Zivilgesellschaft auf ihre gewählten Körperschaften versucht Einfluss zu nehmen. ({0}) Wenn das offen, transparent und fair abläuft, ist dagegen überhaupt nichts zu sagen. Das muss man angesichts Ihres Redebeitrags zu Beginn der Debatte schon einmal festhalten. ({1}) Die Demokratie nimmt insgesamt Schaden, wenn der Eindruck entsteht, es würden mit Geld bestimmte Interessen im politischen Meinungsstreit verstärkt und es würde illegitimerweise auf Entscheidungen des Gesetzgebers oder der Exekutive Einfluss genommen. Deshalb finde ich es wichtig, dass wir Parlamentarier überlegen, wo wir durch mehr Transparenz dafür sorgen können, dass die politischen Entscheidungen nachvollziehbarer werden und dass es schwieriger wird, auf illegitime Weise auf die Gesetzgebungsorgane und auf die Exekutive Einfluss zu nehmen. Wir haben das unter Rot-Grün bei den Abgeordneten mit der viel gescholtenen Regelung zur Transparenz bei den Nebentätigkeiten begonnen. ({2}) Wir haben der Regierung bei den externen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Dampf gemacht; denn wir haben gesagt: Wir wollen unsere Verwaltung zwar nicht gegen externen Sachverstand abschotten; aber das muss transparent erfolgen und in einer Art und Weise geschehen, dass keine illegitime Einflussnahme auf exekutives Handeln möglich ist, wie es in der Vergangenheit geschehen ist, als Industriemitarbeiter Genehmigungsverfahren durchgeführt und Gesetzentwürfe formuliert haben. Keiner derjenigen hier im Hause, die damit zu tun hatten, hat dies gewusst und konnte dadurch die fremden Interessen ausmachen, sie hinterfragen und womöglich politisch korrigieren. Wir brauchen etwas, was die Europäische Union längst hat: Wir brauchen eine Karenzzeit für ausgeschiedene Regierungsmitglieder. Man hat auf EU-Ebene eine solche Karenzzeit damals wegen Herrn Bangemann eingeführt, der zu einem Telekommunikationsunternehmen gewechselt ist. Ich erinnere nur an Schröder, Clement und andere. ({3}) Es täte der Bundesregierung gut - nicht nur dieser, sondern auch der Vorgängerregierung -, wenn man innerhalb eines bestimmten Zeitraums nicht ohne Genehmigung der Regierung in die Wirtschaft gehen könnte und womöglich eine Dividende in dem Bereich einstreicht, in dem man vorher im Rahmen der Exekutive Verantwortung innegehabt hat. ({4}) - Da war die Karenzzeit sicher erfüllt; denn die beträgt in Brüssel ein Jahr. Wir können gerne eine längere vorsehen. Aber wir wollen nicht, dass jemand, der einmal Mitglied der Regierung oder des Parlaments war, in Zukunft arbeitslos sein muss. Wir müssen vielmehr sehen, dass es keine Interessenkollisionen gibt. Darauf kommt es an. Jetzt zu Ihrem Antrag, Herr Nešković. Ich halte ein Lobbyistenregister für grundsätzlich überlegenswert. Wir müssen darüber nachdenken, ob wir da mehr machen können; denn das, was wir haben, gibt bestenfalls Auskunft über die Adresse des Verbandes, aber über sonst nichts. Ich würde zum Beispiel gerne wissen, wo17922 Volker Beck ({5}) her der Bund der Steuerzahler Deutschland sein Geld hat und welche Einnahmestruktur sich dahinter verbirgt. ({6}) Das würde mich wirklich interessieren. Mich würde das auch bei anderen Verbänden interessieren. Es schadet ja nichts, wenn die Einnahmen hoch sind, wenn es mit rechten Dingen zugeht und nachvollziehbar ist und nicht illegitim ist. Man kann das alles ja auf den Tisch legen. Wenn das für alle gilt, dann wird sich die öffentliche Debatte auch schnell beruhigen. Aber was machen Sie hier? Sie sind Jurist, Herr Nešković. Sie wollen eine sanktionsbewehrte Pflicht einführen, sich in ein Lobbyistenregister einzutragen, wenn man sich ehrenamtlich wiederkehrend, also mindestens zweimal, an Abgeordnete oder die Regierung gewandt hat. Wenn man es gar berufsmäßig tut, reicht auch einmal. Woher nehmen Sie das Recht auf Sanktionen? Das sind doch Grundrechtseingriffe. Sie verlangen von den Leuten, dass sie sich eintragen. Wenn sie es nicht tun, bekommen sie eine Ordnungsstrafe oder womöglich eine Geldstrafe. Was haben Sie sich dabei gedacht? Woher nehmen Sie die verfassungsrechtliche Grundlage für diesen Grundrechtseingriff? ({7}) - Ich hatte eigentlich gehofft, dass Sie dies in Ihrer Rede erklären. Sie hatten ja vorhin die Chance dazu. Sie haben nichts dazu gesagt, woher die Rechtsgrundlage für so etwas kommen soll.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Beck, achten Sie bitte auf die Zeit.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Das tue ich und komme auch gleich zum Ende. Sie wollen jemanden beauftragen, eigenständige Prüfungen durchzuführen. Der darf dann in die Vereinsgeschäftsstellen und in die Unternehmen gehen und Detektiv spielen? Auf welcher Rechtsgrundlage? Woher soll diese Befugnis kommen, bei einem Bürger bzw. in der Zivilgesellschaft Dinge auszuforschen? Die gibt es so nicht. Ich meine, wir sollten für ein gutes Lobbyistenregister sorgen, wobei wir bestimmte Fragen stellen können.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Beck, jetzt geht es nicht mehr um das Achten, sondern um den Schluss.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich bin bei meinem letzten Satz. - Das sagt etwas über die Qualität der Verbände aus. Diejenigen, die sich eintragen, sind besonders vertrauenswürdig. Aber mit Sanktionen, so glaube ich, kommen wir nicht weiter. Deshalb sieht man auf europäischer Ebene Freiwilligkeit vor; denn mit Zwang wird es wohl nicht gehen. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Christian Lange das Wort. ({0})

Christian Lange (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003168, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Am Ende der Debatte können wir eines festhalten: Interessenvertretung nicht dämonisieren, sondern transparent gestalten - das muss das Motto sein. Ich will ausdrücklich einen Bereich herausgreifen, der in den vergangenen Wochen immer wieder ein Geschmäckle, wie wir Schwaben sagen, hatte, nämlich den der externen Personen in der Bundesverwaltung. Wir Abgeordnete sind unabhängig und nur dem Gewissen unterworfen; so steht es im Grundgesetz. Wir sind auf der einen Seite sehr wohl Interessenvertreter; das will ich ausdrücklich zugestehen. Ich verstehe mich zumindest für meinen Wahlkreis so. Wir sind aber auf eine Verwaltung, auf eine Exekutive angewiesen, die ausschließlich Recht und Gesetz verpflichtet ist. Deshalb ist die Frage, wie es bei der Bundesverwaltung mit externen Personen aussieht, eine entscheidende. Um die Dimensionen richtig zu würdigen und der Dämonisierung entgegenzutreten, will ich sagen, dass nach meinen Recherchen rund 100 externe Mitarbeiter pro Jahr in Bundesministerien tätig waren. Zum Vergleich: Wir haben ungefähr 5 270 Planstellen für Beamtinnen und Beamte des höheren Dienstes. Ich will den Einsatz externer Personen nicht bagatellisieren, sondern die Dimensionen deutlich machen. Von denen, die als Externe in der öffentlichen Verwaltung tätig sind, stammen nach meinem Kenntnisstand ungefähr 33 Prozent aus nachgeordneten Behörden und Dienststellen, was sicher niemand beanstanden möchte. Circa 30 Prozent kommen aus Verbänden, aus Interessenvertretungen, von Sozialversicherungsträgern oder gemeinnützigen Organisationen. Ich sage das ganz bewusst - Stichwort: Gut und Böse -, weil hier gerne auf die 16 Prozent, die aus der gewerblichen Wirtschaft stammen, Bezug genommen wird. Wenn wir über Interessenvertretung sprechen, müssen wir auch sagen - auch das gehört zur Wahrheit -, dass gemeinnützige Organisationen Kompetenzen haben, die wir nutzen wollen, sie aber gleichwohl Interessenvertreter sind. Genauso gehört es zur Wahrheit, dass wir zum Beispiel im Diplomatischen Dienst seit vielen Jahren immer wieder gerne die Kompetenz der Verbände nutzen. Erinnern wir uns an die Sozialattachés, die aus dem Bereich der Gewerkschaften kommen, und an die Wirtschaftsattachés, die aus dem BDI kommen. Wir haben also eine Verflechtung. Ich sage dazu: Das ist richtig, solange sie öffentlich und transparent ist; das füge ich ausdrücklich hinzu. Deshalb hat das Kabinett gestern einen entsprechenden Beschluss gefasst. Ich will hier einige Dinge nennen, weil die geneigten Zuhörer Christian Lange ({0}) daran interessiert sind, zu erfahren, was man konkret getan hat, um der Dämonisierung entgegenzutreten: Erstens. Der Einsatz externer Berater und Personen ist vorübergehend und nur zum Zweck des Personalaustauschs zwischen der Verwaltung und der Privatwirtschaft oder zur Nutzung spezifischen Fachinteresses zulässig. Zweitens. Personalmangel rechtfertigt einen Einsatz externer Personen nicht. Drittens. Die Dauer des Einsatzes ist im Regelfall auf sechs Monate beschränkt. Viertens. Das Gehalt der externen Personen kann bis zu sechs Monate, im Falle des Personalaustausches für die Dauer des Austausches, von der entsendenden Stelle getragen werden. Im Übrigen ist der entsendenden Stelle das Gehalt zu erstatten. Fünftens. Externe Personen dürfen grundsätzlich nicht in bestimmenden Funktionen eingesetzt werden. Das betrifft das Argument „Formulierung von Gesetzentwürfen“, was uns Abgeordnete interessiert. Es geht um Leitungsfunktionen und die Vergabe von öffentlichen Aufträgen; Stichwort: Filz. Sechstens. Der Einsatz muss transparent ausgestaltet sein, und der Status als externe Person muss grundsätzlich deutlich gemacht werden. Das heißt, als Gesetzgeber müssen wir wissen, mit wem wir im Ministerium sprechen, wenn wir unsere Gesetzentwürfe abstimmen. Wir müssen wissen, ob es sich um einen Beamten oder eine externe Person handelt. Siebtens. Das Bundesministerium des Innern berichtet dem Haushaltsausschuss regelmäßig und umfassend über die externen Berater. Herr van Essen, Ihr FDP-Kollege Brüderle hat dies gestern in einem Gespräch mit einer Agentur begrüßt. Er hat gesagt, das sei ein guter Entwurf. Er hat auch gesagt, dass er sich bezüglich der Veröffentlichung im Internet mehr vorstellen könne. Ich will das aufgreifen. Auch ich kann mir vorstellen, dass wir an dieser Stelle noch etwas drauflegen. Immerhin haben wir aber einen wichtigen Weg eingeschlagen. ({1}) Ich bin der Auffassung, dass wir dies erst einmal in der Praxis ausprobieren sollten. Wir sollten feststellen, ob der Haushaltsausschuss seiner Kontrollfunktion nachkommen kann. Wenn er das kann, ist das der richtige Weg. Wenn er das nicht kann, werden wir uns hier sicherlich wieder zusammensetzen und uns einen besseren Weg überlegen. Herzlichen Dank. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/8453 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Vorlage federführend beim Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung beraten werden soll. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf: Beratung der Unterrichtung durch den Wehrbeauftragten Jahresbericht 2007 ({0}) - Drucksache 16/8200 Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Bevor ich die Aussprache eröffne, muss ich Sie über eine Nachricht, welche gerade außerhalb des Plenarsaals verbreitet wird, informieren: Heute Mittag ist ein Hubschrauber der EUFOR in der Nähe der Stadt Banja Luka abgestürzt. Alle vier an Bord befindlichen Soldaten, zwei davon Angehörige der Bundeswehr, sind dabei gestorben. Ich spreche im Namen des gesamten Hauses den Angehörigen der getöteten Soldaten unser Beileid aus. Ich eröffne nun die Aussprache zum Bericht des Wehrbeauftragten. Das Wort hat der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages, Reinhold Robbe. Reinhold Robbe, Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages: Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ausnahmsweise darf ich herzlich die Soldatinnen und Soldaten begrüßen, die auf den Zuschauerbänken Platz genommen haben. Auch mir ist es ein aufrichtig gemeintes Anliegen, den Angehörigen der in Bosnien ums Leben gekommenen Soldaten mein aufrichtiges Beileid auszusprechen. Auch dieser Unfall zeigt, dass selbst im Quasi-Friedensbetrieb Dinge passieren können, die wir alle uns nicht vorstellen mögen, die aber allgegenwärtig sind. Wir sehen wieder einmal, mit welchen Risiken der Soldatenberuf verbunden ist. Ich stehe noch sehr unter dem Eindruck meines gerade beendeten Truppenbesuches in Afghanistan. Zehn Tage lang habe ich alle deutschen Einheiten und Einsatzorte besucht und mit Hunderten von Soldatinnen und Soldaten sprechen können. Es verging kaum ein Tag, an dem die Fahnen in unseren Feldlagern und bei den PRTs nicht auf Halbmast gesetzt waren. Immer, wenn der Tod eines Soldaten der ISAF-Mission zu beklagen ist, wird an allen Einsatzstandorten und Stützpunkten des Gefallenen gedacht. Dies war auch bei meinem Truppenbesuch so, und zwar fast jeden Tag. Wehrbeauftragter Reinhold Robbe Das führt uns vor Augen, wie es nicht nur um die Sicherheits-, sondern auch um die Stimmungslage bei den deutschen Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan bestellt ist. Auf der einen Seite haben unsere Soldatinnen und Soldaten trotz der vielen Alltagssorgen, trotz der schwierigen Rahmenbedingungen und trotz der existierenden Sicherheitsrisiken eine bewundernswerte Motivation. Auf der anderen Seite sind sie permanent mit einer komplizierten und manchmal kaum überschaubaren Gesamtlage konfrontiert. Deshalb lautet das Resümee meines Truppenbesuches in aller Kürze: Erstens. Unsere Soldatinnen und Soldaten machen in ihrem Verantwortungsbereich im Norden Afghanistans - von Masar-i-Scharif über Kabul bis Kandahar - einen unglaublich guten Job. ({1}) Zweitens. Bei der Festlegung der Mandatsobergrenze müssen aus meiner Sicht die Erfahrungen und Einsatznotwendigkeiten, wie sie von den Verantwortungsträgern vor Ort erkannt werden, unbedingt Berücksichtigung finden. Drittens. Mit Blick auf die personelle und materielle Ausstattung unserer in Afghanistan eingesetzten Verbände ist es unbedingt notwendig, den Soldatinnen und Soldaten all das zur Verfügung zu stellen, was sie für die Erfüllung ihres schwierigen und oft lebensgefährlichen Auftrags benötigen. ({2}) Seit mehr als zehn Jahren bestimmt die Beteiligung an internationalen Einsätzen den Alltag unserer Bundeswehr. Meine Erkenntnisse dazu stehen deshalb regelmäßig am Anfang eines Jahresberichtes. Das gilt auch für den zur Beratung vorliegenden 49. Bericht. Die Defizite, die ich aufgeführt habe, sind weitgehend die alten. Sie zeigen sich in vielen Bereichen: angefangen von der Einsatzplanung über die Einsatzvorbereitung und Ausbildung bis hin zur persönlichen Ausrüstung und Ausstattung. Auch wenn einiges getan wird, zufriedenstellend ist das leider alles noch nicht. Darüber hinaus beschäftigt die Truppe die wachsende Gefährdungslage und die Frage nach der weiteren Entwicklung in Afghanistan. Die Soldaten stellen Fragen, und die politisch wie militärisch Verantwortlichen sind in der Pflicht, offen und überzeugend Antworten darauf zu geben. Nicht nur die Auslandseinsätze, auch die Situation in den Heimatstandorten gibt Anlass, Defizite deutlich zu benennen. Über den teilweise katastrophalen Zustand vieler Kasernen, insbesondere in den alten Bundesländern, habe ich bereits im vergangenen Jahr berichtet. Das hat Wirkung gezeigt. Ich bin dem gesamten Deutschen Bundestag, insbesondere dem Verteidigungsausschuss und dem Bundesminister der Verteidigung, außerordentlich dankbar, dass sie dieses für die Soldaten so wichtige Thema aufgegriffen haben und inzwischen auch für Abhilfemaßnahmen gesorgt bzw. diese eingeleitet haben. Das inzwischen aufgelegte Sanierungsprogramm ist ein wichtiges Zeichen für die Soldatinnen und Soldaten. Das stelle ich bei jedem Besuch fest. Dennoch werden die bisher zur Verfügung gestellten Mittel leider nicht ausreichen, zumal die 645 Millionen Euro ohnehin nur etwa die Hälfte des Anfang 2007 festgestellten Sanierungsbedarfs abdecken. Mit Blick auf die Unterbringung zeigt sich ein weiteres Problem. Inzwischen geht es nicht nur um den mangelhaften Zustand der Gebäude, es fehlt schlicht und einfach an Platz. Nicht unterkunftspflichtige Soldaten finden in der Kaserne keine Bleibe mehr und werden auf private Unterkünfte verwiesen. Das ist heute Realität. Die Bundeswehr von heute hat sich zu einer Pendlerarmee entwickelt. Diesen veränderten Umständen muss jetzt auch gesetzlich Rechnung getragen werden. Will heißen, die vorrangige Erstattung von Umzugskosten anstelle der Gewährung von Trennungsgeld ist zumindest aus meiner Sicht nicht mehr zeitgemäß. Zu großer Enttäuschung in der Truppe haben in den vergangenen Jahren auch die kontinuierlichen Leistungskürzungen im öffentlichen Dienst geführt. Die wachsende Unzufriedenheit gründet sich aber vor allem auf das Gefühl unzureichender Fürsorge. Dazu gehört neben der Besoldung, der Unterbringung und der sanitätsdienstlichen Versorgung auch die Vereinbarkeit von Familie und Dienst. Die vom Generalinspekteur hierzu erlassene erste Teilkonzeption ist zunächst einmal, wie ich manchmal zu sagen pflege, bedrucktes Papier. Sie hat berechtigte Erwartungen geweckt, denen nun Taten folgen müssen. Aufwendige Studien zur Bedarfsermittlung im Bereich der Kinderbetreuung lösen das Problem leider nicht. Ein Thema, dem ich meine besondere Aufmerksamkeit widme, ist das Führungsverhalten in unseren Streitkräften. Hier habe ich auch 2007 erhebliche Mängel und Defizite feststellen müssen, die aus meiner Sicht Anlass zur Sorge geben. „Führen durch Vorbild“ ist, wie wir alle wissen, eine zentrale Forderung der Inneren Führung. Viele Vorgesetzte aber werden diesem Anspruch heute nicht oder nicht mehr gerecht. Das reicht bis in die höchsten Dienstgradgruppen. Das sind keine Einzelfälle. Wir brauchen an dieser Stelle dringend grundsätzliche, über eine disziplinare Würdigung hinausgehende Maßnahmen. Abschließen möchte ich mit einem Thema des Jahresberichtes, das im engeren, aber auch im weiteren Sinne mit Betreuung und Fürsorge zu tun hat: der physische Zustand unserer Soldatinnen und Soldaten. Dazu nur ganz kurz: Mir geht es hierbei in erster Linie - das ist aus meiner Sicht ganz wesentlich - um die Gesunderhaltung der Truppe, um den Erhalt der körperlichen, aber auch der geistigen Leistungsfähigkeit des Einzelnen und um ein verändertes Bewusstsein in diesem Zusammenhang. Mit den genannten Themen habe ich nur einige Schwerpunkte des Jahresberichtes 2007 aufgeführt. Nicht wenige davon weisen über das Berichtsjahr hinaus. Im Sinne der Soldatinnen und Soldaten würde es mich freuen, wenn der Bericht Anstöße für spürbare und nachhaltige Verbesserungen geben könnte. Wehrbeauftragter Reinhold Robbe Abschließend möchte ich allen Mitgliedern des Verteidigungsausschusses, selbstverständlich aber auch dem Bundesminister der Verteidigung und allen nachgeordneten Stellen des Ministeriums und der Truppe, die mit Personalbearbeitung zu tun haben, meinen ausdrücklichen Dank sagen. Natürlich möchte ich mich auch bei meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ganz herzlich bedanken. Herzlichen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Bevor ich der nächsten Rednerin das Wort erteile, möchte ich dem Wehrbeauftragten und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Namen des Hauses für die Vorlage des Jahresberichts 2007 danken. ({0}) Das Wort hat nun die Kollegin Elke Hoff für die FDPFraktion. ({1})

Elke Hoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003771, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte an dieser Stelle im Namen meiner Fraktion und aller anderen Kolleginnen und Kollegen im Hinblick auf die Todesfälle, die die Bundeswehr erneut zu beklagen hat, unser tiefes Bedauern und unser aufrichtiges Beileid zum Ausdruck bringen. Unsere ganz besondere Anteilnahme gilt den Angehörigen der beiden Soldaten. Sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter, Sie haben aufgrund der Erfahrungen, die Sie in Afghanistan gemacht haben, mit Recht darauf hingewiesen, dass die Fahnen vor Ort häufig auf Halbmast hängen. Ich denke, alle Kollegen, die in Afghanistan waren, haben das Gleiche festgestellt. Trotzdem möchte ich darauf hinweisen, dass davon nicht nur unsere Soldatinnen und Soldaten betroffen sind, sondern dass davon auch die afghanische Zivilbevölkerung betroffen ist. Es ist schrecklich, das jedes Mal, wenn wir dort sind, zu erleben. Ich denke aber, dass es angebracht wäre, auch einmal der vielen zivilen Opfer in Afghanistan zu gedenken. Sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter, ich danke Ihnen auch im Namen meiner Fraktion für den von Ihnen vorgelegten Bericht, insbesondere natürlich Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die wichtige Informationen über die Probleme der Soldatinnen und Soldaten für das Parlament ausgewertet und in diesem sehr wichtigen Bericht zusammengestellt haben. Im Mittelpunkt Ihrer jährlichen Berichte stehen die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr, denen ich an dieser Stelle für ihre Arbeit zu Hause und in internationalen Einsätzen danken möchte. Wir erhalten heute wieder einmal ein umfassendes Bild von ihren Problemen und Nöten. Leider müssen wir auch in diesem Jahr feststellen, dass viele Dauerbrenner dabei sind. Herr Wehrbeauftragter, ich schätze Ihre Arbeit sehr; das wissen Sie. Ich habe Sie in den letzten Jahren für Ihre klaren Schwerpunktsetzungen in Ihren Berichten ausdrücklich gelobt. Mit der Konzentration auf wenige wesentliche Punkte haben Sie die öffentliche Aufmerksamkeit auf diese Probleme gelenkt, die dann auch an manchen, allerdings leider an zu wenigen Stellen zu Verbesserungen geführt haben. In diesem Jahr kann ich Ihre Schwerpunktsetzung aber nicht ganz nachvollziehen. Zwar sind Übergewicht und ungesunde Lebensweise gesamtgesellschaftliche Probleme, die auch vor der Bundeswehr nicht haltmachen. Ich habe aber nicht den Eindruck, dass diese Phänomene unmittelbare Auswirkungen auf die Einsatzfähigkeit der Soldatinnen und Soldaten vor Ort haben. Jedenfalls war die Öffentlichkeit mit Ihren Ausführungen über die „dicken Soldaten“ so sehr beschäftigt, dass die wirklich wichtigen Probleme der Bundeswehr dabei etwas aus dem Blickfeld gerieten. Unsere gemeinsamen Aufgaben sind der Schutz der Grundrechte der Soldatinnen und Soldaten und die Sicherstellung der Ausübung der parlamentarischen Kontrolle. Es sollte jedoch Aufgabe des Dienstherrn Bundeswehr bleiben, sich über den Fitnessgrad seiner Soldaten den Kopf zu zerbrechen und hier für Abhilfe zu sorgen. In einem Interview mit dem Wiesbadener Kurier bestätigte Minister Jung höchstpersönlich, dass das deutsche Rauchverbot auch bei Auslandseinsätzen eingehalten wird und dass nach 19 Uhr nur noch zwei Bier erlaubt sind. Neben Mülltrennung und ASU ist das sicherlich eine gelungene Ergänzung der Meldungen über die aktuellen Einsatzbedingungen unserer Soldatinnen und Soldaten. Ernsthaft: Die schwerwiegendsten Probleme in der Bundeswehr werden durch den Umfang des Beschwerdeaufkommens und die Inhalte der Beschwerden realistisch wiedergegeben. Zu nennen sind hier insbesondere das Fehlen finanzieller Handlungsspielräume, die eklatanten Ausbildungs- und Ausrüstungsdefizite, das Beklagen des Attraktivitätsverlustes im Allgemeinen und der große Unmut im Sanitätsdienst im Speziellen, die Behinderung durch zu viel Bürokratie sowie die Zunahme posttraumatischer Belastungsstörungen. Ich begrüße es sehr, dass Sie sich in Ihrem Bericht umfangreich dem Thema PTBS gewidmet haben. Dieses Thema wird uns in der Zukunft immer stärker beschäftigen. Die Zahl der Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr, die in der Folge eines Auslandseinsatzes an PTBS erkranken, hat in den vergangenen Jahren stetig zugenommen. Meine Fraktion hat einen entsprechenden Antrag in den Deutschen Bundestag eingebracht. Sie unterstützen in Ihrem Bericht unsere Forderung nach einem Kompetenz- und Forschungszentrum zur Behandlung von posttraumatischen Belastungsstörungen. Ich hoffe, dass uns das gemeinsam gelingen wird. Dass der Dienst in der Bundeswehr generell an Attraktivität verloren hat, lässt sich an der deutlich zurück17926 gegangenen Zahl der Bewerber nachweisen, er kann nicht mehr schöngeredet werden. Die Studie des Deutschen Bundeswehrverbandes zur Berufszufriedenheit belegt gerade wegen der hohen Zahl von Teilnehmern eindrucksvoll, was unsere Soldatinnen und Soldaten über ihre Arbeit und über ihren Dienstherrn denken. Insbesondere auf die diesjährigen Haushaltsberatungen zum Verteidigungshaushalt blicke ich sehr gespannt. Es wäre gut gewesen, wenn die Abgeordneten des Deutschen Bundestages noch vor der parlamentarischen Sommerpause erfahren hätten, womit die Bundeswehr im nächsten Jahr rechnen darf. Nicht einmal Eckdaten des Bundeswehreinzelplans 2009 sind bekannt. Wir wissen also nicht, wie sich der Minister die mittelfristige Finanzplanung der Bundeswehr vorstellt. Die Bundeskanzlerin hat schon vor anderthalb Jahren darauf hingewiesen, dass die Bundeswehr mehr Geld braucht. Ich bin gespannt, ob der Minister seine Bundeskanzlerin in die Pflicht nimmt oder ob es wieder einmal umgekehrt sein wird. Bei Ausbildung und Ausrüstungsplanung vermisse ich immer noch eine konsequente Einsatzorientierung. Zu Recht weist der Wehrbeauftragte in seinem Bericht wiederholt auf die zentrale Bedeutung des Einsatzes in Afghanistan hin. Eine konsequente Schwerpunktsetzung für diesen Einsatz findet aber nicht statt. Schon anlässlich des letzten Berichts des Wehrbeauftragten habe ich darauf hingewiesen, dass auf die deutschen Soldaten im Rahmen des ISAF-Einsatzes mit der Quick Reaction Force bei der Ausstattung neue Anforderungen zukommen werden. Ohne weiter ins Detail gehen zu wollen, will ich sagen, dass es bei der QRF offenkundig nach wie vor signifikante Ausrüstungsdefizite gibt. Dafür habe ich kein Verständnis. Das gilt auch für den Verzicht auf eine an die realen Einsatzbedingungen angepasste Taschenkarte, die unseren Soldatinnen und Soldaten in schwierigsten Situationen die nötige Rechtssicherheit bietet. Wir fordern die Bundesregierung auf, hier schnellstmöglich Abhilfe zu schaffen. Es macht wenig Sinn, sicherheitspolitisch Luftschlösser zu bauen, während die Baustelle Bundeswehr weder das nötige Arbeitsgerät noch die notwendigen finanziellen Mittel besitzt. Vielen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat nun der Bundesminister der Verteidigung, Dr. Franz Josef Jung. ({0})

Dr. Franz Josef Jung (Minister:in)

Politiker ID: 11003781

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich will zunächst auch gegenüber dem Parlament deutlich machen, dass ich die Nachricht von dem Absturz des spanischen Hubschraubers in Bosnien-Herzegowina, dessen vier Insassen, zwei davon deutsche Soldaten, die in Zweibrücken stationiert waren, ums Leben gekommen sind, mit Betroffenheit und innerer Anteilnahme aufgenommen habe. Ich möchte den Angehörigen gegenüber unser Mitgefühl zum Ausdruck bringen und unser Beileid aussprechen. Dieser Vorfall zeigt wieder einmal, mit welchem Risiko für Leib und Leben der Einsatz für Frieden und Stabilität und damit für unsere Sicherheit verbunden ist. Ich hoffe und wünsche, dass Sie alle diese innere Anteilnahme teilen. Lassen Sie mich jetzt zum eigentlichen Punkt der Tagesordnung kommen. Der Wehrbeauftragte legt seinen Bericht vor. Ihn haben wir heute zu debattieren. Der Wehrbeauftragte unterstützt die parlamentarische Kontrolle der Streitkräfte, er ist ein Ansprechpartner für alle Soldatinnen und Soldaten. Deshalb ist sein Bericht sowohl für das Parlament als auch für die Bundeswehr von Wert. Herr Wehrbeauftragter, ich möchte Ihnen für Ihre Arbeit, aber auch für die Zusammenarbeit sehr herzlich danken und bitte Sie, diesen Dank auch Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu übermitteln. Meine Damen und Herren, die Auslandseinsätze prägen den Alltag der Bundeswehr ganz entscheidend. In Afghanistan, auf dem Balkan, vor der Küste des Libanon, am Horn von Afrika, im Mittelmeer, im Sudan, in Darfur, in Äthiopien und in Georgien leisten unsere Soldatinnen und Soldaten einen wichtigen Beitrag für Frieden und Stabilität in den betroffenen Regionen. Aber auch im Grundbetrieb in der Heimat sind die Anforderungen unvermindert hoch. Die Vor- und Nachbereitung der Einsätze sowie deren Unterstützung prägen das Bild. Aber auch die Hilfeleistungen der Bundeswehr sind nicht zu vergessen, die sie zum Schutze Deutschlands im Inland durchführt. Ich bin deshalb dem Wehrbeauftragten dankbar, dass er bei all den Punkten, die er hier kritisch vorgetragen hat, doch auch deutlich gemacht hat, wie hervorragend unsere Soldatinnen und Soldaten ihren Auftrag erfüllen. Ich möchte sowohl unseren Soldatinnen und Soldaten im Auslandseinsatz als auch denjenigen, die ihren Dienst zum Schutze Deutschlands tun, auf das Herzlichste für ihren Beitrag danken, den sie für Frieden und Freiheit und für unsere Sicherheit leisten. ({0}) Natürlich ist dazu auch die entsprechende finanzielle Ausstattung notwendig; Frau Kollegin Hoff, Sie haben das gerade angesprochen. Wir haben im letzten Jahr 1 Milliarde Euro mehr zur Verfügung stellen können. Dadurch konnten wir zusätzliche Schutzfunktionen für unsere Soldatinnen und Soldaten und auch eine verbesserte Attraktivität der Streitkräfte erreichen. Insofern bin ich dem Deutschen Bundestag für diese Unterstützung dankbar. Sie haben es bereits angesprochen: Natürlich ist es richtig, dass in einem gesunden Körper auch ein gesunBundesminister Dr. Franz Josef Jung der Geist wohnt. Deshalb konzentrieren wir uns auch auf die Sportausbildung. Aber auch die gesellschaftliche Entwicklung darf nicht an der Bundeswehr vorbeigehen. Daneben stehen wir vor weiteren Herausforderungen. Wir haben die die Innere Führung betreffende Dienstvorschrift neu formuliert und bewusst das Thema „Familie und Dienst“ aufgenommen. Ich glaube nämlich, dass auch das zur Attraktivität der Streitkräfte gehört. 15 000 Soldatinnen tun zurzeit ihren Dienst in der Bundeswehr. Ich glaube, es ist gerade auch für die Soldatinnen und Soldaten im Auslandseinsatz wichtig, dass wir unseren Beitrag für die Familienbetreuung leisten. Ich habe vor zwei Wochen das 17. Einsatzkontingent für Afghanistan verabschiedet. Dabei war übrigens auch der 250 000-ste deutsche Soldat, der in einen Auslandseinsatz ging. Ich glaube, wenn man sich die Familien bei der Verabschiedung anschaut, die Frauen mit drei Monate alten Kindern, die wissen, dass der Vater jetzt vier Monate lang im Auslandseinsatz ist, dann erkennt man, wie wichtig es ist, dass die Familienbetreuung auch bei uns hier eine große Rolle spielt und dass wir hinsichtlich des Themas „Familie und Dienst“ die Teilzeitarbeit und die Telearbeit weiterentwickeln. Der Wehrbeauftragte hat es angesprochen: Wir müssen jetzt auch Modellprojekte zur Unterbringung nicht unterkunftspflichtiger Soldatinnen und Soldaten entwickeln, um auch dafür zu einer Lösung zu kommen; denn je mehr sich die Stationierung konzentriert, umso stärker kommt dieses Problem auf uns zu. Das gilt auch für den gesamten Bereich der Kinderbetreuung. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich denke, mit der Verabschiedung des Einsatzweiterverwendungsgesetzes, für die ich dem Deutschen Bundestag dankbar bin, haben wir gerade zur Stärkung des Vertrauensverhältnisses zwischen den Soldatinnen und Soldaten im Einsatz und dem Dienstherren einen wichtigen Punkt gesetzt. Es entspricht der Aufgabe des Wehrbeauftragten, dass er vor allem die Sorgen unserer Soldatinnen und Soldaten schildert und die Verletzung ihrer Rechte im Blick hat. Ich denke, umso wertvoller ist die Feststellung, dass die Männer und Frauen der Bundeswehr ihre Aufträge im In- und Ausland gut erfüllen. Bei meinen Besuchen bei der Truppe wurde dieser positive Eindruck ebenfalls unterstrichen. Sie sind gut ausgebildet, haben eine gute Ausrüstung und sind hoch motiviert. Wir haben eine leistungsfähige Armee, die über ein hohes Ansehen in der Welt verfügt. Das Engagement unserer Streitkräfte für unser Land und damit für die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger ist vorbildlich. Deshalb nehmen wir auch die in dem Bericht angemerkten Kritikpunkte ernst und bemühen uns, die genannten Defizite zu beseitigen. Denn das Ziel ist klar: Wir brauchen attraktive und moderne Streitkräfte, um auch in der Welt von morgen im Einsatz für den Frieden unseren Dienst leisten zu können. Ich danke Ihnen. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat nun der Kollege Dr. Keskin für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Hakki Keskin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003785, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch ich möchte meine tiefe Anteilnahme für die Angehörigen der verstorbenen Soldaten zum Ausdruck bringen. Der Wehrbeauftragte hat in seinem Jahresbericht eine differenzierte und zugleich recht kritische Situationsbeschreibung präsentiert. Seine Arbeit hat sich in der Vergangenheit sehr bewährt und sollte für uns Anlass sein, ihn zu ermutigen, seine parlamentarische Kontrollfunktion voll auszuschöpfen. Dazu gehört, dass er mit konkreten Eigeninitiativen stärker zur Lösung struktureller Probleme beitragen kann. Dies betrifft beispielweise die Wehrdisziplinarordnung und die Innere Führung. Bevor ich auf weitere Punkte zu sprechen komme, lassen Sie mich bitte Folgendes feststellen: Wenn wir den aktuellen Bericht des Wehrbeauftragten mit dem des Vorjahres vergleichen, dann werden uns viele Kritikpunkte sehr bekannt vorkommen, wie der Wehrbeauftragte bereits unterstrichen hat. Der Wehrbeauftragte kommt deshalb schon in seinem Vorwort zu dem Fazit, dass - ich zitiere - „sich an den grundsätzlichen und strukturellen Problemen der Bundeswehr nur wenig zum Positiven hin geändert“ hat. Alleine diese einleitende Feststellung sollte für die Bundesregierung Grund genug sein, endlich die aufgeführten Missstände zu beseitigen. Grob umrissen betrifft dies vor allem die Ausstattung und Unterbringung der Soldatinnen und Soldaten bei Bundeswehreinsätzen im Ausland. Des Weiteren befinden sich im Inland zahlreiche Bundeswehrkasernen in einem beklagenswerten Zustand. Die Wohnunterkünfte sind zum Teil dramatisch überbelegt und oft dringend sanierungsbedürftig. Auch was die Innere Führung betrifft, macht der Bericht deutlich, dass das Bewusstsein der Soldatinnen und Soldaten für die Menschenwürde weiter gestärkt werden muss. Als zunehmend problematisch wird die Qualität der sanitätsdienstlichen und medizinischen Versorgung beschrieben. Insbesondere gilt dies für den Bereich posttraumatischer Belastungsstörungen von Soldatinnen und Soldaten, die von Auslandseinsätzen zurückkehren. Der Wehrbeauftragte geht von einer vierfach höheren Dunkelziffer von Erkrankungen aus. Diese Entwicklung muss uns Anlass zu großer Sorge geben. Die Schwierigkeiten dürfen nicht auf dem Rücken der Betroffenen abgeladen werden. Die Linke fordert, dass die Erkrankten umgehend die bestmögliche medizinische und psychologische Betreuung erhalten. Fest steht, dass Kampfeinsätze im Ausland oft langfristige psychische Schäden hinterlassen. Laut Jahresbericht des Wehrbeauftragten stellt sich eine größer werdende Zahl von Soldatinnen und Soldaten die Frage nach dem Sinn ihrer Einsätze. Es ist schon auffällig, wie die Bundesregierung gebetsmühlenartig die Not17928 wendigkeit von Auslandseinsätzen betont, wenn gleichzeitig diejenigen, die diese Einsätze durchführen müssen, aufgrund eigener Erfahrungen zunehmend Zweifel äußern. Abgesehen davon, dass für uns Krieg kein Mittel zur Konfliktlösung ist, ({0}) sieht die Linke sich in ihrer grundsätzlichen Kritik an militärischen Kampfeinsätzen der Bundeswehr im Ausland bestätigt und fordert die Bundesregierung auf, von dieser verhängnisvollen Politik abzurücken. Die Linke ruft die Bundesregierung auf, Konflikte im internationalen Staatensystem mithilfe des Völkerrechts und seiner Gremien friedlich zu lösen. Die militärischen Kampfeinsätze im Ausland müssen schnellstmöglich beendet werden. Die Bundesregierung würde damit die Voraussetzung schaffen, dass sich die Bundeswehr wieder um ihre eigentliche Aufgabe kümmern kann. Diese besteht nach dem Verständnis der Linksfraktion in der unmittelbaren Verteidigung der Landesgrenzen der Bundesrepublik Deutschland. Ich danke Ihnen. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat nun die Kollegin Hedi Wegener für die SPD-Fraktion. ({0})

Hedi Wegener (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003254, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Herren und Damen! So schnell werden wir also mit der Gefährlichkeit des Soldatenberufs konfrontiert. Es macht uns sprachlos und immer wieder hilflos, zu sehen, wie schnell so etwas an jedem Tag und an jedem Einsatzort passieren kann. Dabei vermeldet der Bericht des Wehrbeauftragten gleich zu Beginn etwas Positives. Im letzten Jahresbericht 2006 wurde der schlechte Zustand der Kasernen zum Schwerpunkt gemacht. Das Thema war und ist nicht neu und tauchte in jedem Bericht auf. Wenn ich die Kasernen in Munster und Lüneburg in meinem Wahlkreis besuche, werden mir natürlich die renovierungsbedürftigen Liegenschaften gezeigt. Aber durch eine gemeinsame Anstrengung von Parlament, Wehrbeauftragtem und BMVg haben wir erreicht, dass Mittel für ein Sonderprogramm „Sanierung Kasernen West“ bereitgestellt wurden. In den nächsten Jahren sollen die größten Mängel behoben werden; das ist sehr erfreulich. Für den Stein des Anstoßes recht herzlichen Dank, Herr Robbe. ({0}) Die deutsche Gründlichkeit und der Hang zu Bürokratie tragen allerdings dazu bei, dass vom Antrag bis zum Baubeginn wahrscheinlich mit fünf Jahren Planungszeit zu rechnen ist und viel Zeit vergehen wird, bis alles realisiert ist. Eine angemessene Unterbringung gehört jedenfalls zur Steigerung der Attraktivität des Soldatenberufs. Damit bin ich schon beim nächsten Thema. Der demografische Wandel wird zu einem erheblichen Personalmangel führen. Die Bundeswehr muss sich auf dem Markt immer mehr behaupten und zunehmend um die besten Frauen und Männer konkurrieren. Daher ist es von entscheidender Bedeutung, Anreize für die Berufswahl zu geben. Geld ist das eine. Das andere ist: Der Frust in der Truppe wächst. Dem müssen wir entgegenwirken; denn der Frust bleibt nicht in den Kasernen und ist nicht auf interne Gespräche beschränkt. Wie will ich jemanden überzeugen, Berufssoldatin bzw. Berufssoldat zu werden, wenn man immer wieder hört, dass die Belastung durch die Auslandseinsätze steigt, dass die Ausrüstung schlecht ist, dass die Winterkleidung im Sommer kommt und dass gepanzerte Fahrzeuge nicht zur Verfügung stehen? Auf diesem Gebiet haben wir sicherlich schon für Abhilfe gesorgt. Ich halte es für problematisch, wenn es Ausrüstungsmängel gibt, die von der Bundeswehr ebenfalls beklagt werden, gleichzeitig jedoch diese Mängel als subjektiv empfunden abqualifiziert werden und es bei Eigenbeschaffungen durch die Soldaten Schwierigkeiten gibt. Aber nicht alle Probleme der Auslandseinsätze sind mit dem Hinweis auf zu wenig Geld abzutun. Der Bundestag hat finanzielle Verbesserungen erreicht. Was die Bürokratie angeht, die ich schon in meinem letzten Bericht angesprochen habe, so müssen wir wirklich flexibler werden. Der Bericht des Wehrbeauftragten und die Stellungnahmen des BMVg machen aber noch etwas deutlich: Es gibt viele Probleme, die Jahr für Jahr angesprochen werden. Obwohl Jahr für Jahr Besserung bzw. Abhilfe gelobt werden, lesen wir im folgenden Jahr wieder von den gleichen Problemen. Ein Beispiel: Unsere Marine ist im Rahmen von OEF im Einsatz, und zwar, wie wir wissen, nicht in der Nordsee; dennoch ist es, wie wir hören, bis heute nicht möglich, den Klimabedingungen entsprechende Kleidung zu beschaffen. Ich finde aber auch, dass unter den schwierigen Bedingungen des Einsatzes nicht immer der Inlandsstandard aufrechterhalten werden kann. Die Bundeswehr greift viele Anregungen des Wehrbeauftragten auf und versucht, Abhilfe zu schaffen. Manchmal müssen die Beteiligten vielleicht daran erinnert werden, dass ein Einsatz nun einmal ein Einsatz ist und keine Übung auf dem Truppenübungsplatz in Bergen. Die SPD-Bundestagsfraktion hat in ihrem Positionspapier zur Transformation der Bundeswehr eine Reihe von sehr guten Vorschlägen gemacht, wie man die Attraktivität des Soldatenberufes verbessern kann. Wir wollen eine Armee der Zukunft. Da macht auch die Diskussion über die Vereinbarkeit von Beruf und Familie nicht vor der Bundeswehr halt. Es ist nun ein dringendes und, wie man zurzeit merkt, ein wirklich modernes Thema. Es ist in aller Munde, nicht nur bei der Bundeswehr. Die zunehmende Berufstätigkeit der Soldatenfrauen, aber auch der Soldatinnen selber bringt das Thema in den Fokus. Das BMVg hat bereits darauf reHedi Wegener agiert. Es gibt gute Dienstvorschriften, die vieles ermöglichen. Leider hapert es an der Praxis, wie der Bericht des Wehrbeauftragten zeigt. Es gibt Ermessensspielräume zugunsten der Soldatinnen und Soldaten, die auch genutzt werden sollten. Dass Versetzungen unter Einbeziehung der Partner und der Familie besprochen werden müssen, klingt gut und liest sich gut, aber der Wehrbeauftragte sagt, dass Realität und Vorschrift auseinanderklaffen. Ich gehe davon aus, dass es sich bei den geschilderten Fällen nicht um Einzelfälle handelt, sondern dass diese Einzelfälle exemplarisch für einen Missstand stehen. Es ist schon auffällig, dass in den Anmerkungen zum Bericht des Wehrbeauftragten immer wieder steht, in einem bestimmten Falle sei etwas schiefgelaufen, aber generell sei alles in Ordnung. Ich frage mich manchmal, ob nicht zu wenig mit den Vorgesetzten geredet wird. Ich bin der festen Überzeugung - meine Lebenserfahrung hat mich das zumindest gelehrt -, dass man manchen Mangel und manches Defizit beheben könnte, wenn man miteinander reden würde. Wir haben zu allem Erlasse, Befehle und Broschüren. Wenn es an der Umsetzung und Anwendung hapert, dann müssen wir überlegen, wie man Theorie und Praxis besser miteinander in Einklang bringen kann. Aus dem Sachstandsbericht des BMVg zum Pilotprojekt „Kinderbetreuung“ geht hervor, dass die Bundesregierung zwar eine Menge Geld für Kinderbetreuung bereitstellt, die Bundeswehr sich aber auf Hilfe zur Selbsthilfe und Beratung beschränkt. Wir wollen dem im Haushalt 2009 abhelfen. Dazu zitiere ich zum Schluss den Wehrbeauftragten: Was hält die Bundeswehr eigentlich davon ab, auf dem Feld der Familienfreundlichkeit besser zu werden als andere? Dabei reicht es nach meiner Beobachtung nicht aus, mehr Geld bereitzustellen. Mindestens ebenso wichtig wird es sein, kreative und unkonventionelle Problemlösungen zu entwickeln. Dem kann ich nur voll zustimmen. Herr Robbe, ich danke Ihnen und Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern recht herzlich für die geleistete Arbeit. Mein Dank gilt auch den Soldatinnen und Soldaten für ihre geleistete Arbeit und für den schwierigen Einsatz - einen Einsatz unter Lebensgefahr, wie sich heute wieder gezeigt hat. Recht herzlichen Dank und alles Gute für Sie! ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht nun der Kollege Winfried Nachtwei.

Winfried Nachtwei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002743, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als Mitglieder des Verteidigungsausschusses waren wir schon öfter in Bosnien-Herzegowina und haben dort so manche Hubschrauberbesatzung kennen- und schätzen gelernt. Deshalb empfinden wir ein ganz besonderes Mitgefühl für diejenigen, deren Angehörige oder Freunde nicht lebend aus dem Einsatz zurückkommen. Herr Wehrbeauftragter, wir schließen uns gerne dem Dank der anderen Fraktionen und der Präsidentin an Sie und Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an. Mir ist das auch deshalb ein besonderes Anliegen, weil ich die Methodik, mit der Sie Ihr Amt ausführen, sehr schätze. Dazu gehört zum Beispiel, dass Sie bei bestimmten Punkten nicht bei der Benennung von Mängeln stehenbleiben, sondern auch in die Tiefe gehen. In diesem Bericht betrifft das zum Beispiel den Bereich Ausbildung. Sie haben sich die Offiziersausbildung einmal näher angeschaut und haben dann gesehen, woran es mangelt. Ich will allerdings nicht zu dem spektakulären Mangel bzw. eigentlich dem Gegenteil davon kommen, nämlich zu manchen überdimensionierten Soldaten, sondern zu anderen enorm wichtigen Themen. Ich will drei Komplexe ansprechen: erstens den Bereich Fürsorge, zweitens den Bereich Führungsverhalten und drittens den Bereich Rechtsklarheit. Die Politik stellt ganz besondere Anforderungen an Soldatinnen und Soldaten. Das fängt mit dem schnellen Wechsel von Standorten an und hört bei den Auslandseinsätzen auf. Die Soldaten haben deshalb selbstverständlich einen besonderen Anspruch auf verlässliche Fürsorge. Die Brennpunkte dieser Fürsorgeanforderungen sind heute schon mehrfach genannt worden: die Verhältnisse der baulichen Infrastruktur, die Unterbringung in den Kasernen, die Wohnbedingungen und nicht zuletzt die Vereinbarkeit von Familie und Dienst. Schnelle Abhilfen sind unbedingt notwendig, damit nicht erst die nächste Generation davon profitiert. Die Auslandseinsätze sind belastend und riskant. Das zeigt sich ganz besonders und heimtückisch bei posttraumatischen Belastungsstörungen, die noch ziemlich lange nach einem Einsatz auftreten können. Manche von uns haben - so wie ich in den letzten Monaten - einige von den Betroffenen kennengelernt. Dabei haben wir schlimme Krankheitsgeschichten gehört. Es stellte sich heraus, dass hier ein wirklich dringender Handlungsbedarf besteht. Es darf nicht sein, dass Soldaten jahrelang um die Anerkennung einer Wehrdienstbeschädigung kämpfen müssen und dass entlassene Zeitsoldaten auf der Suche nach Heilung und Unterstützung eine regelrechte Odyssee durchmachen müssen. Dies ist zurzeit noch eine organisierte Verantwortungslosigkeit. ({0}) Zum Führungsverhalten - wie im letzten Jahresbericht ist dieses Thema auch jetzt wieder angesprochen worden -: Es ist ausgesprochen beunruhigend, was von manchen Offizieren, von Hauptleuten und darüber hinaus, berichtet wird; beunruhigend ist vielmehr auch die Feststellung des Wehrbeauftragten, dass es sich nicht um Einzelfälle handelt, sondern um einen zum Teil zuneh17930 menden Trend. Darüber haben wir vor allem im Ausschuss noch vertieft zu diskutieren. Schließlich zur Rechtsklarheit. Soldaten der Bundeswehr sind klar und deutlich an Recht und Gesetz, an die Grundrechte und das Völkerrecht gebunden. Umgekehrt erwarten sie natürlich von der politischen Führung, von der Bundesregierung, rechtlich einwandfreie Aufträge und Befehle. Wie sieht das inzwischen beim Auftrag „Enduring Freedom“ aus? Vor sieben Jahren wurde der Verteidigungsfall ausgerufen. Dies ist doch wahrhaftig keine in irgendeiner Weise nachvollziehbare Legitimation mehr. An dieser Stelle endlos weiterzumachen, ist eine Zumutung für jedes Rechtsempfinden. ({1}) Unglaublich für jedes Rechtsempfinden ist, was der Tornadobesatzung des Jagdbombergeschwaders 33 in Büchel zugemutet wurde. In der Taschenkarte „Humanitäres Völkerrecht“ des Verteidigungsministeriums vom August 2006 heißt es unter „Kampfmittel und Kampfmethoden“ - ich zitiere -: Insbesondere der Einsatz folgender Kampfmittel ist deutschen Soldaten bzw. Soldatinnen verboten: Antipersonenminen, chemische und bakteriologische Waffen, atomare Waffen. - Im Rahmen der technischen nuklearen Teilhabe müssen Tornadobesatzungen den Abwurf von Atombomben üben. Zurzeit tun sie das im Inland und im Ausland auch noch. Herr Minister, ich fordere Sie auf, diesen offenkundig rechtswidrigen Auftrag umgehend zu widerrufen. Das ist nicht zuletzt eine Verpflichtung gegenüber den Staatsbürgern in Uniform der Bundeswehr. Danke schön. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Unionsfraktion hat nun die Kollegin Anita Schäfer das Wort. ({0})

Anita Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003216, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Meine Damen und Herren! Meine Kollegin Lydia Westrich von der SPD und ich als Abgeordnete auch für Zweibrücken möchten stellvertretend für unsere Fraktionen, sowohl für die SPD-Fraktion als auch für die CDU/ CSU-Fraktion, den Angehörigen der heute in Bosnien verunglückten Soldaten unser tiefes Mitgefühl aussprechen. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter Robbe! Ich danke Ihnen auch im Namen der CDU/CSU-Fraktion für die prägnante Vorstellung Ihres Jahresberichts 2007. Ich habe bei Ihrer Rede wieder einmal empfunden, mit welch großem Engagement Sie Ihrer Aufgabe nachgehen. Dafür gebührt Ihnen und Ihren Mitarbeitern Dank und Anerkennung. Gegenüber den letzten beiden Berichten hat die Zahl der Beschwerden, wie Ihnen meine Kollegin aus der SPD schon mitgeteilt hat, leicht abgenommen. Das ist natürlich erst einmal eine gute Nachricht. Es bedeutet aber nicht, dass wir uns nun in froher Erwartung eines Trends zum Positiven zurücklehnen können. Denn auch dieser Bericht behandelt wieder Themen, die uns teilweise schon seit Jahren beschäftigen. Ich nenne die Ausstattung und Betreuung im Einsatz und die Vereinbarkeit von Familie und Dienst. Sie gehören zu den Bereichen mit den größten Auswirkungen auf die Attraktivität der Bundeswehr. Wir müssen uns hier also nicht nur um das Wohlergehen der jetzt dienenden Soldaten sorgen, sondern auch um das derjenigen Männer und Frauen, die zukünftig eine Verpflichtung erwägen. Besonders besorgniserregend finde ich, dass sich die Zahl der Eingaben zur Vereinbarkeit von Familie und Dienst gegenüber dem Vorjahr mehr als verdoppelt hat. Spezielle Problemfelder sind weiterhin die Kinderbetreuung und die Trennung von der Familie bei Versetzungen und Kommandierungen. Dies haben mittlerweile alle Beteiligten als wichtige Herausforderung erkannt. Im Unterausschuss „Weiterentwicklung der Inneren Führung“ haben wir darauf gedrängt, das Thema in der neuen Zentralen Dienstvorschrift 10/1 umfassend zu verankern. Ganz aktuell hat das Verteidigungsministerium den Sachstandsbericht zur Vereinbarkeit von Familie und Dienst vorgelegt. Ich hoffe sehr, dass die getroffenen und noch geplanten Maßnahmen die Situation nachhaltig verbessern werden. Denn meiner Einschätzung nach wird die Bedeutung dieses Themas eher noch zunehmen. Einzelne Einrichtungen der Bundeswehr haben mit viel Initiative und mit kooperativen kommunalen Partnern vor Ort bereits individuelle Lösungen zur Kinderbetreuung erzielt. Die bisherigen Ergebnisse des Pilotprojekts „Kinderbetreuung“ zeigen, dass dies der richtige Weg ist. Ein weiteres Problem sind die Unterkünfte für die zunehmende Zahl von Pendlern unter den Soldaten. Hier müssen geeignete Rahmenbedingungen zur Lösung des Problems geschaffen werden. ({0}) Der Wehrbeauftragte hat im letzten Jahr mit Nachdruck auf den schlechten Zustand vieler Kasernen in Westdeutschland hingewiesen. Die Bundesregierung hat darauf rasch reagiert. Dafür möchte ich insbesondere Verteidigungsminister Jung noch einmal ausdrücklich danken. ({1}) Mit dem Sonderprogramm „Sanierung Kaserne West“ sind umfangreiche Mittel zur Sanierung bereitgestellt worden. Damit stehen wir natürlich noch ganz am Anfang. Der aktuelle Bericht liefert noch einmal Beispiele für Mängel bei der Infrastruktur: von brüchigen Deckenteilen über Schimmel- und Legionellenbefall bis hin zu überbelegten Stuben. Ich habe bei der letzten Debatte Anita Schäfer ({2}) hierzu gesagt, dass wir Abgeordneten die Umsetzung des Sanierungsprogramms aufmerksam verfolgen werden. Natürlich freut es besonders, wenn im heimischen Wahlkreis Mittel ankommen, etwa für die seit langem fällige Sanierung der Niederauerbach-Kaserne in Zweibrücken. ({3}) Insofern kann ich berichten: Es tut sich was. Aber wir müssen über den Tellerrand hinaussehen. Damit meine ich sowohl die Grenzen des eigenen Beritts als auch den zeitlichen und finanziellen Rahmen des Sonderprogramms „Sanierung Kaserne West“. Wir müssen langfristig für eine Infrastruktur sorgen, die den Anforderungen an Dienst und Unterbringung unserer Soldaten rundum gerecht wird, und zwar den jeweils aktuellen Anforderungen in Ost wie in West. Das ist natürlich nicht zuletzt eine Frage des Geldes. Die Union hat seit Übernahme der Regierungsverantwortung den Trend zum Abbau des Verteidigungshaushalts umgekehrt. ({4}) Unser Ziel ist, die Bundeswehr dauerhaft auf eine gesunde finanzielle Basis zu stellen. ({5}) Das gilt für die Entwicklung und Beschaffung von Ausstattung sowie für die Infrastruktur. Diesen Kurs werden wir im Rahmen des Möglichen auch weiterhin verfolgen. Alarmierende Aussagen macht der Wehrbeauftragte zum Thema „Sport und Fitness in der Bundeswehr“. Demnach ist der Anteil Übergewichtiger in der Altersgruppe von 18 bis 29 Jahren unter den Soldaten größer als in der Zivilbevölkerung. Das konnte ich im ersten Moment fast nicht glauben. Gesundheit und körperliche Leistungsfähigkeit sollten doch eigentlich eine Grundvoraussetzung für den Dienst in der Bundeswehr sein. Die Klagen über mangelnde Möglichkeiten zum Sport gegenüber dem Wehrbeauftragten lassen vermuten, dass es am Willen dazu nicht fehlt. Das mangelnde Bewusstsein für gesunde Ernährung in der Bevölkerung scheint aber auch vor der Truppe nicht haltzumachen. Der Forderung des Wehrbeauftragten nach umfassender Aufklärung, die nicht erst bei auffällig übergewichtigen Soldaten einsetzt, kann ich nur zustimmen. Die körperliche Verfassung unserer Soldaten muss für uns mindestens dieselbe Bedeutung haben wie ihre Ausstattung, sowohl um ihrer selbst willen, als auch im Interesse der Auftragserfüllung; denn letztlich ist es der Soldat, der den Auftrag erfüllt, nicht seine Ausrüstung. Das gilt auch noch im Zeitalter hochkomplexer Rüstungstechnik. Jeder Soldat muss wissen, dass in den gegenwärtigen Einsätzen jederzeit seine körperliche Leistungsfähigkeit gefragt sein kann, auch wenn sein Posten an einem Computer im Feldlager ist. Über die Forderung nach Sonderprogrammen für kritische Bereiche dürfen wir natürlich nicht die übrigen Problemfelder aus den Augen verlieren. Wo immer Handlungsbedarf besteht, muss er klar benannt werden und muss Abhilfe geschaffen werden. Herr Minister, ich bitte Sie, den eingeschlagenen Kurs der Haushaltskonsolidierung fortzusetzen. Wir als Abgeordnete sind aufgefordert, Sie dabei entsprechend zu begleiten und zu unterstützen - zum Wohle unserer Soldatinnen und Soldaten. Ich bin sicher, dass wir uns in diesem Ziel einig sind. Herzlichen Dank. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Petra Heß, SPD-Fraktion.

Petra Heß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003553, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dem 49. Bericht liegen neben den Auswertungen zahlreicher Standort- und Truppenbesuche mehr als 5 000 Eingaben zugrunde. Unsere Soldatinnen und Soldaten wenden sich mit ihren Anliegen heutzutage sehr selbstbewusst und vor allen Dingen auch mit Selbstverständlichkeit an den Wehrbeauftragten. Sie unterstreichen mit ihrem Eingabeverhalten, dass sie wirklich verantwortungsvolle Staatsbürger in Uniform sind. Ich gebe aber zu: Auch die Umtriebigkeit und das Engagement des Wehrbeauftragten spielen eine entscheidende Rolle. Durch unzählige unangemeldete Truppenbesuche hat der Wehrbeauftragte einen Blick hinter die Kulissen der Truppe werfen können. Herr Wehrbeauftragter, während der Besuche haben Sie sich in hohem Maße offen und ansprechbar gezeigt, sodass sich im Laufe der Zeit ein echtes gegenseitiges Vertrauensverhältnis entwickeln konnte. Dafür unseren herzlichen Dank! ({0}) Der Bericht gibt einen wichtigen, weil authentischen Einblick in das Innenleben der Streitkräfte und hält damit nicht nur der militärischen Führung, sondern auch der Politik den Spiegel vors Gesicht. Ich will zunächst den Fokus auf den Bereich des Sanitätsdienstes richten: Wie schon in den vergangenen Jahren ist die sanitätsdienstliche Lage der Bundeswehr im Inland durch die Bindung von Ärzten und Pflegekräften in Auslandseinsätzen weiterhin angespannt. Der Aufwuchs bei der Zahl der Sanitätsoffiziere verläuft zwar planmäßig, aber noch immer sind 400 von insgesamt 3 100 Dienstposten für Sanitätsoffiziere unbesetzt. Besonders in den Bundeswehrkrankenhäusern führte dies zu problematischen Personalengpässen bei Ärzten und Sanitätern, ein Problem, das nach Auskunft des Bundesministeriums der Verteidigung nur mittelfristig gelöst werden kann. Die Umgliederung der Krankenhäuser auf einsatzorientierte Strukturen erfordert in zunehmendem Maße die Kooperation mit zivilen Gesundheitseinrichtungen. Die Anzahl und Verteilung der regionalen Sanitätseinrichtungen richtet sich nach der Gliederung und Stationierung der Streitkräfte, wobei der Anspruch einer flächendeckenden fachärztlichen Versorgung vor Ort aufgegeben wurde. Entsprechende Leistungen werden, wie bereits erwähnt, nur noch in den fünf Bundeswehrkrankenhäusern sowie in den 18 Sanitätsfachzentren erbracht und müssen ansonsten aus dem zivilen Bereich bezogen werden, was teilweise lange Anfahrtswege mit sich bringt. Hier ist natürlich auch die militärische Führung aufgerufen, die im Rahmen der Transformation notwendigen Maßnahmen und Einschnitte immer wieder zu erklären, gegebenenfalls Mängel und Unzumutbarkeiten klar zu benennen und, wenn möglich, abzustellen. Hier muss die Truppe ganz einfach mehr mitgenommen werden. Etwas entspannt gegenüber dem vorangegangenen Berichtsjahr hat sich die Situation beim Assistenz-, Pflege- und Rettungspersonal. Viele Sanitätsfeldwebel konnten ihre Qualifizierung im Rahmen einer zivilen Aus- und Weiterbildungsmaßnahme im Berichtsjahr erfolgreich abschließen, sodass im Schnitt 80 Prozent der Dienstposten besetzt werden konnten. Nicht unerwähnt lassen will ich an dieser Stelle die Behandlung von Soldatinnen und Soldaten mit posttraumatischen Belastungsstörungen. Ihre Zahl ist zwar im Berichtszeitraum nicht signifikant gestiegen, allerdings lässt die zunehmende Zahl stark belastender Auslandseinsätze erwarten, dass es hier künftig einen starken Anstieg geben wird. Die seitens der Sanität geforderte Errichtung eines Zentrums für solche komplexen Erkrankungen ist daher ausdrücklich zu unterstützen. Dies geschieht übrigens vonseiten des gesamten Parlaments. Nun noch einige Ausführungen zum wichtigen Thema „Führung und Ausbildung“ und insbesondere zur Inneren Führung: Die Innere Führung ist und bleibt das Herzstück der Bundeswehr. Ihre Prinzipien sind für jeden Soldaten und jede Soldatin verbindlich. Ganz besonders gilt das für die Vorgesetzten. Durch die Innere Führung werden die Werte und Normen des Grundgesetzes in der Bundeswehr verwirklicht. Die Innere Führung ist nämlich das Aushängeschild der Bundeswehr bei Auslandseinsätzen. Umso bedauerlicher ist es, dass auch im Berichtsjahr 2007 wieder Mängel und Verstöße im Führungsverhalten von Vorgesetzten gemeldet wurden. Es kam zur Missachtung von Untergebenen durch Geringschätzungen und Beleidigungen, aber auch zu regelrechtem Missbrauch der Befehlsbefugnis, indem zum Beispiel Kollektivbestrafungen vorgenommen wurden. Es liegt auf der Hand, dass solches Verhalten von Vorgesetzten nachhaltig schädlich für den Zusammenhalt in der Truppe ist. Wer Menschen führen will, kann dies nur durch sein Vorbild tun. Er oder sie muss echte Autorität mitbringen, Autorität, die sich eben nicht einfach nur auf Hierarchie gründet, sondern auf einem Mehr an Wissen, einem Mehr an Können und einem Mehr an Erfahrung. Moltke hat einmal gesagt: Gehorsam ist das Prinzip, aber der Mensch steht über dem Prinzip. - Hier müssen wir wachsam bleiben; denn Vorgesetzte aller Ebenen prägen durch ihr Handeln die Streitkräfte, und jeder Soldat und jede Soldatin muss ihrem Vorgesetzten vertrauen können. Das bedeutet auch, dass aus Beschwerden oder Eingaben dem oder der Betroffenen keine Nachteile erwachsen dürfen, und vor allen Dingen, dass die Anliegen, die sie an den Wehrbeauftragten herantragen, zügig bearbeitet werden müssen. Um dem Missbrauch von Autorität gezielt vorzubeugen, müssen die Soldatinnen und Soldaten bereits in ihrer Ausbildung und später selbstverständlich auch in ihrem aktiven Dienst einbezogen werden; sie müssen mitgestalten können. Ein Vorgesetzter, der seine Untergebenen aktiv mit einbezieht, der ihre Stärken und Fähigkeiten fördert und stets den Dialog mit ihnen sucht, kann aus einem Vertrauensverhältnis und aus echter Einsicht heraus führen, wie es das Prinzip der Inneren Führung verlangt. Aber Innere Führung bedeutet natürlich auch in besonderem Maße Verantwortung und Eigenverantwortung. Jeder Soldat und jede Soldatin, besonders in der Funktion eines Ausbilders, ist während, aber auch außerhalb der Dienstzeit zu einem vorbildlichen staatsbürgerlichen Verhalten verpflichtet. Gegen Verstöße muss daher konsequent eingeschritten werden, und das geschieht auch. Gleiches gilt in besonderem Maße für Verstöße mit rechtsextremem Hintergrund, deren Zahl glücklicherweise im Berichtsjahr erneut rückläufig war. Aber jeder Vorfall ist einer zu viel. In der Bundeswehr darf es für keine Form des Extremismus und der Fremdenfeindlichkeit einen Platz geben. Ein letztes Wort zur körperlichen Fitness, auch wenn der Präsident schon aufleuchtet. ({1}) - Der Präsident nicht! - Auch in diesem Punkt spielt die Vorbildfunktion der Vorgesetzten eine wichtige Rolle. Die zunehmende Zahl der Auslandseinsätze verlangt nach körperlich belastbaren Soldatinnen und Soldaten. Eine moderne Armee kann es sich einfach nicht leisten, körperlich unzureichend gebildete Soldatinnen und Soldaten zu haben. Deshalb muss man hier weiter dranbleiben und die entsprechenden Rahmenbedingungen schaffen. Da ist das Bundesverteidigungsministerium durch die Anregungen des Wehrbeauftragten auf dem richtigen Weg. Ich danke dem Wehrbeauftragten und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Ich wünsche mir, dass er an seiner bisherigen Umtriebigkeit festhält. Ich danke vor allen Dingen den Soldatinnen und Soldaten für ihren Dienst, den sie für Frieden und Freiheit unseres Landes leisten. Vielen Dank. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich hoffe, ich habe jetzt genug geleuchtet. Ich schließe die Aussprache. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/8200 an den Verteidigungsausschuss vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Irmingard Schewe-Gerigk, Volker Beck ({0}), Britta Haßelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Durchsetzung der Entgeltgleichheit von Frauen und Männern - Gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit - Drucksache 16/8784 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({1}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.

Irmingard Schewe-Gerigk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jetzt können wieder einige darüber frotzeln, dass wir jetzt, anderthalb Stunden vor dem EM-Viertelfinale Deutschland-Portugal, ({0}) hier im Plenum noch über Frauenlöhne reden und ich nicht bereit war, diese Rede zu Protokoll zu geben, nach dem Motto: typisch Frauenpolitik! Deshalb lassen Sie es mich gleich in aller Deutlichkeit sagen: Der Grund liegt im peinlichen Versagen der Großen Koalition. Sie hatten uns fest zugesagt, einen eigenen Antrag dazu einzubringen, über den wir am nächsten Donnerstagnachmittag diskutieren wollten. Leider sind Sie bei diesem Vorhaben wieder einmal gescheitert. Das ist eine echte Bankrotterklärung. ({1}) Männer und Frauen, so eine aktuelle Umfrage, sehen in der Entgeltungleichheit eine der großen noch bestehenden Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft. Die EU hat sie zum Schwerpunktthema gemacht. Sozialkommissar Spidla hielt der Bundesregierung erst letzte Woche eine Standpauke. Über dieses so wichtige Thema, das die ganze Gesellschaft erregt, reden wir abends zu einer denkbar ungünstigen Zeit. Das macht deutlich, wie wichtig Ihnen dieses Thema ist. Aber am nächsten Equal Pay Day werden Sie alle wieder lauthals Ihre Empörung über die große Lohnungerechtigkeit kundtun. Die restlichen Tage im Jahr schieben sich Wirtschaft, Gewerkschaften und Bundesregierung die Verantwortung dafür dann wieder gegenseitig zu. Die Gewerkschaften sagen, die Wirtschaft muss handeln. Die Wirtschaft schiebt die Verantwortung auf die Politik. Die Politik verweist auf die Tarifparteien. Genau diese Passivität aller Beteiligten lässt sich auch trefflich aus der vor kurzem veröffentlichten 3. Bilanz Chancengleichheit ablesen. Geräuschlos und geradezu das Licht der Öffentlichkeit scheuend hat die Bundesregierung sie am letzten Freitag veröffentlicht. Kein Wunder: Sie belegt eindrucksvoll den kompletten Stillstand in Sachen Gleichstellung in der Privatwirtschaft. Das Lohngefälle sticht hier ganz besonders heraus: 22 Prozent beträgt der Lohnunterschied zwischen Frauen und Männern in Deutschland; 15 Prozent sind es im europäischen Durchschnitt. Nur Zypern, Estland und die Slowakei stehen noch schlechter da. Ich finde, das ist ein Armutszeugnis für unser Land. ({2}) Dieses Lohngefälle ist in den letzten Jahren eher gewachsen als geschrumpft. Je höher das Einkommen, desto größer ist die Differenz. Allein bei einem Drittel dieses Gefälles handelt es sich um direkte Diskriminierungen. Die weibliche Leistung wird in Deutschland immer noch wie eine Minderleistung bezahlt. Gerade das ist für die jungen und gut ausgebildeten Frauen besonders bitter: dass mit der schlechteren Bezahlung auch eine geringere Wertschätzung ihrer Arbeit einhergeht. Vergeblich habe ich in der Bilanz danach gesucht, was Wirtschaft und Bundesregierung dagegen tun werden. Nichts habe ich gefunden, rein gar nichts. Die freiwillige Selbstverpflichtung ist damit gescheitert. Darum brauchen wir ein Gleichstellungsgesetz für die Privatwirtschaft. ({3}) - Ina, ich weiß, dass du es nicht willst. Ohne ein Eingreifen des Staates wird Entgeltgleichheit nicht erreicht werden. - Dieser Satz stammt nicht von mir. Das ist die Meinung der Bevölkerung zur Lohndiskriminierung in Deutschland. Die Bundesregierung hat diese Aussage im Rahmen einer großen Umfrage eingeholt. Aber sie handelt trotzdem nicht. Nehmen Sie das Ergebnis für bare Münze und handeln Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen! Falls Sie nicht wissen, wie, können Sie sich ja schon einmal an unserem Antrag orientieren. Der Bund muss endlich als Vorbild vorangehen und die fortbestehenden Diskriminierungen im öffentlichen Tarifsystem abbauen. Außerdem bedarf es eines echten Verbandsklagerechts. Mindestlöhne sind notwendig; denn gerade die Frauen sind besonders oft im Niedriglohnsektor beschäftigt. Aufgabe der Antidiskriminierungsstelle sollte es nicht länger sein, als Sprachrohr der Bundesregierung gegen eine vernünftige EU-Antidiskriminierungspolitik zu fungieren. Stattdessen muss sie in den Unternehmen für geschlechtergerechte Bezahlung werben. Das wäre die Aufgabe einer Antidiskriminierungsstelle. ({4}) - Beifall nahezu im ganzen Hause. ({5}) Die Ursachen direkter Lohndiskriminierung soll sie mit einer Studie ans Tageslicht bringen. Die Ministerin hat erst kürzlich gefordert, die Unternehmen sollten für Transparenz bei den Gehältern sorgen. Gut so, Frau Ministerin, aber von alleine werden die Unternehmen das nicht umsetzen. Wir waren vor kurzem mit einer Delegation des Frauenausschusses in Kanada. Dort haben wir uns davon überzeugen können, wie durch ein Gesetz Entgeltgleichheit praktiziert wird. Es gibt weitere europäische Länder, die entsprechende Gesetze haben. Es ist also kein Teufelszeug. Deshalb, meine Damen und Herren: Die Politik darf beim Thema Entgeltgleichheit nicht länger nur den Platz auf der Zuschauertribüne einnehmen, wie es heute unser armer Bundestrainer unfreiwillig erleben muss. Lassen Sie uns ins Geschehen eingreifen! Bringen wir den Ball ins Rollen! Eine Anhörung könnte dazu ein erster Schritt sein. ({6}) Da wir gerade bei Lohnungerechtigkeit und Fußball sind: Vielleicht können wir bei dieser Gelegenheit auch klären, warum eigentlich unsere Fußballweltmeisterinnen so viel weniger verdienen als unsere Herren, die es bei der EM nur mit Mühe ins Viertelfinale geschafft haben. ({7}) Ich danke Ihnen. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Eva Möllring, CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Eva Möllring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk, die Große Koalition ist zwar mächtig und kann eine Menge machen, aber die Fußballtermine setzt sie noch nicht fest. ({0}) Ich gebe Ihnen völlig recht: Die enormen Lohn- und Gehaltsunterschiede schreien zum Himmel; das kann uns nicht ruhen lassen. Da sind wir völlig einer Meinung. Es ist in aller Munde - jeder weiß es -, dass die deutschen Frauen 22 Prozent weniger verdienen als die Männer und dass der europäische Durchschnitt bei 15 Prozent liegt. Diese Zahlen machen uns wütend. Wir wollen etwas dagegen tun. Am liebsten würden wir den Schalter umdrehen und die ganze Problematik abstellen. Das versuchen Sie mit Ihrem Antrag. Sie fordern die Einführung eines Mindestlohns. ({1}) Sie beziehen sich auf die Friseurinnen und Floristinnen. Liebe Kolleginnen, das Friseurhandwerk ist einer der wenigen Berufe, in dem nun wirklich überhaupt kein Euro Differenz zwischen dem Verdienst der Frauen und dem der Männer besteht. Das Gleiche gilt für die Kassiererinnen und für Floristinnen: überall genau der gleiche Lohn für Männer wie für Frauen. Im Bäckerfachverkauf verdienen Frauen sogar 30 Euro mehr als Männer. Deswegen hat das Thema Mindestlohn in einem Antrag, in dem gleiche Löhne für Frauen und Männer gefordert werden, nichts zu suchen. Darüber sollten Sie an anderer Stelle diskutieren. Wir von der Koalition haben am 7. März 2007 einen Antrag vorgelegt, in dem wir die Situation umfassend darstellen und die verschiedenen Ursachen aufzählen. ({2}) 21 Maßnahmen haben wir vorgeschlagen und gefordert, um die verschiedenen Stellschrauben deutlich zu machen, wie man dem zwischen Frauen und Männern bestehenden Lohngefälle beikommen kann. ({3}) - Das erkläre ich gleich. ({4}) Die erste Stellschraube ist die Berufswahl junger Frauen; denn trotz eines guten Schulabschlusses ergreifen immer noch zu wenige Frauen technische und naturwissenschaftliche Berufe. Deshalb begrüßen wir die Initiative der Ministerin Schavan und verschiedener Wirtschaftsverbände, den Anteil der Studienanfängerinnen in den MINT-Berufen deutlich zu erhöhen. Der Startschuss war in den letzten Wochen; ich bin dabei gewesen. Es fehlen immer noch 330 000 Akademikerinnen in diesem Bereich, und der Fachkräftemangel wird immer größer. Deshalb ist es gerade für die Wirtschaft so wichtig, dass sich Mädchen schon frühzeitig für Naturwissenschaften und Technik interessieren. Das ist ein politisches Feld und kein Feld der Unternehmen und Gewerkschaften; denn es geht um Bildung, und da können wir eine Menge tun. Dies gilt gerade für die Länder, wo wir die jungen Mädchen in Kindertagesstätten, Grundschulen und im späteren Schulleben über die Pubertät hinaus für diese Fächer interessieren und motivieren müssen, wenn sie Fähigkeiten in diesem Bereich haben. Es ist völlig richtig, die Unternehmen, die fortschrittlich denken, an dieser Stelle mit ins Boot zu nehmen; denn diese haben schon erkannt, dass ihnen das weibliche Potenzial fehlt. Die rechnen hoch und merken, dass sie ihre Leistungen überhaupt nicht mehr erbringen können, wenn es nicht mehr Frauen in diesem Bereich gibt. - Das ist die zweite Stellschraube. Daran muss gedreht werden; denn noch immer sind von den Topmanagern nur 5,5 Prozent weiblich, und diese Zahl ist rückläufig. Das macht mir Sorgen. Deswegen: Die Unternehmensverbände sind gefragt, dieses Thema positiv zu begleiten. Sie sind gefragt, die freiwillige Vereinbarung zur Förderung der Chancengleichheit umzusetzen, und zwar schleunigst. ({5}) Sie sind gefragt, die Erfolge mit ihren Mitgliedsunternehmen zu kommunizieren. Die dritte wichtige Stellschraube in diesem Bereich ist die Balance von Familie und Beruf. Da hat die Bundesregierung einen ganz großen Schritt gemacht und die finanziellen Voraussetzungen für die Betreuung von kleinen Kindern geschaffen. ({6}) Die jungen Frauen werden zukünftig ganz andere Möglichkeiten haben, in den Beruf einzusteigen und die Tätigkeit auch dann fortzusetzen, wenn sie eine Familie gründen. ({7}) Die Inanspruchnahme der Vätermonate zeigt, dass sich auch Väter mehr für die Familie engagieren und sich auch mehr engagieren wollen. Wir wollen die Zahl der Vätermonate ausbauen. ({8}) Damit ist ein wichtiger Teil der Rollentrennung, die wir bisher praktizieren, überwunden; denn so werden die Frauen mehr Chancen im Beruf haben. Abschließend möchte ich eines ganz deutlich sagen: Die Eingruppierung von Berufstätigkeiten von Frauen und Männern ist nicht Sache der Bundesregierung und nicht Sache des Staates. Das ist vielmehr die Angelegenheit der Tarifparteien, und zwar der Arbeitgeber und der Gewerkschaften. Ich würde mir sehr wünschen, dass wir viel mehr Frauen bei den Gewerkschaften hätten, die dafür eintreten, die Erfolg haben und solche Rechte durchsetzen. - Das ist die vierte Stellschraube. Die Politik hat nicht die Möglichkeit, diese Felder direkt zu steuern, aber sie hat die Aufgabe, die Rahmenbedingungen in allen vier Feldern zu setzen. In Kanada haben wir von den Erfahrungen mit einem Gesetz zu Equal Pay gehört. Wir haben auch gehört, dass es keine Erfolge bringt. ({9}) Wir haben von der Gewerkschaftsvertreterin erfahren, dass sie zwar jahrelang versucht hat, in einzelnen Fällen tätig zu werden, dass sie aber - auch im Rahmen der kommunalen Stelle, die extra dafür gegründet wurde keine Erfolge hat. Ich meine, dass wir mit unseren Maßnahmen - auch mit der Antidiskriminierungsrichtlinie; das ist völlig richtig - auf einem guten Weg sind und Erfolg haben werden.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.

Dr. Eva Möllring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Danke schön fürs Zuhören. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Nun hat Kollegin Ina Lenke, FDP-Fraktion, das Wort.

Ina Lenke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003170, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Grünen haben in ihrem Antrag die rechtlichen Voraussetzungen zur Durchsetzung der Entgeltgleichheit von Männern und Frauen richtig dargestellt. Auch ihrer Analyse der Situation in Deutschland stimme ich zu. In unserer Gesellschaft - gerade wir Politikerinnen müssen uns das bewusst machen - werden die traditionellen Geschlechterrollen immer noch als gegeben angesehen. Vor kurzem hat mich die Zuschrift einer Frau erreicht, die die Familienarbeit ausschließlich den Frauen zuordnet. ({0}) Das kann ich überhaupt nicht verstehen. Das zeigt, dass wir viel besser kommunizieren müssen. Diese Einstellung mag bei vielen Frauen noch immer Einfluss auf die Berufswahl haben. Viele junge Frauen wollen natürlich Kinder haben und später Erwerbstätigkeit und Familienarbeit miteinander vereinbaren. Frau Schewe-Gerigk, im Antrag der Grünen kommt meines Erachtens zum Ausdruck, dass die bestehenden Gesetze den Zustand der Entgeltgleichheit für Männer und Frauen nicht verbessert haben. ({1}) Der Irrglaube, dass es nur neuer Gesetze bedarf, um Verhalten zu ändern, hat nun auch die Grünen erreicht. Ich habe Ihren Antrag ganz genau gelesen. Deshalb sage ich: Frau Schewe-Gerigk, Ihr Antrag, mit dem Sie ein Gleichstellungsgesetz für den Bereich der Wirtschaft fordern, zielt in die Leere. Ich erinnere an das Bundesgleichstellungsgesetz, das für die Ministerien und den öffentlichen Dienst insgesamt gilt. Was haben wir in einem Bericht über dieses Gesetz lesen müssen? Die erleichterten Teilzeitregelungen bei gleichzeitiger Arbeitsplatzsicherheit im öffentlichen Dienst haben - darüber haben wir schon diskutiert nicht dazu geführt, dass mehr Väter Teilzeitarbeit beantragen, um Familienarbeit zu leisten. ({2}) Im Gegenteil - Frau Schewe-Gerigk, das können Sie nicht wegreden -: Im ersten Erfahrungsbericht der Bundesregierung heißt es wortwörtlich: Teilzeitbeschäftigung im Bundesdienst war und ist weiterhin Frauensache … Und das zu 91 Prozent. ({3}) Frau Schewe-Gerigk, trotz richtiger Analysen sind die Forderungen in Ihrem Antrag in Teilen verfehlt und für die FDP und mich nicht nachvollziehbar. Die FDP wird Ihrer Forderung nach Mindestlöhnen und der Ausweitung des erst Ende 2006 eingeführten Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes nicht zustimmen. ({4}) Wir müssen erst einmal abwarten, wie das Gesetz wirkt. Ich glaube, Sie werden dafür keine Mehrheit in diesem Haus bekommen. ({5}) Wenn man sich die Vorschläge genau ansieht, stellt man fest, dass sie nicht geeignet sind, das Problem der Entgeltungleichheit zu lösen. Sie haben festgestellt - das müssen wir konzedieren -, dass Deutschland im Vergleich mit allen 27 europäischen Ländern die rote Laterne trägt, hinter der Slowakei, Estland und Zypern. Ich finde, das ist einfach nur peinlich. ({6}) Ich finde es nicht begründbar, dass ein Verkäufer im Durchschnitt 2 050 Euro verdient, eine Verkäuferin aber nur 1 656 Euro. Ein Kellner verdient 1 626 Euro im Monat im Durchschnitt, eine Kellnerin dagegen nur 1 453 Euro. Mich hat sehr nachdenklich gestimmt, dass es sich die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände sehr einfach macht, indem sie, wie einem aktuellen Positionspapier vom März dieses Jahres zu entnehmen ist, die Verantwortung auf den Staat und die Frauen schiebt, ihre Verantwortung und die ihrer Mitgliedsunternehmen aber ausblendet. Wenn der BDA die Verhältnisse wirklich verbessern will, dann sollte er nach meiner Meinung dafür sorgen, dass junge Väter im Betrieb bei Krankheit des Kindes bis zu seinem zwölften Lebensjahr Kinderkrankentage - jährlich zehn Kinderkrankentage pro Vater und pro Mutter - in Anspruch nehmen; er sollte offensiv für eine Elternzeit der jungen Väter eintreten, die nicht im Glauben gelassen werden dürfen, dies schade ihrer Karriere. Zum Schluss möchte ich auf ein weiteres Problem, die Entgeltungerechtigkeit, zu sprechen kommen. Dazu gehört nicht nur ein Vergleich der Bruttolöhne, sondern auch der Vergleich zwischen Brutto- und Nettolohn. Die Steuerklasse V sorgt für eine große Lücke zwischen Brutto- und Nettolohn. Wir haben schon lange gefordert, die Steuerklasse V abzuschaffen und ein Anteilsverfahren einzuführen. Sie sehen vor, über das Jahressteuergesetz 2009 ein Anteilsverfahren einzuführen; eine vorgesehene Regelung im Jahressteuergesetz 2008 haben Sie wieder herausgenommen. Erst 2010 soll das Anteilsverfahren angewendet werden. ({7}) Ich halte es für schlimm, dass Sie die Frauen, deren Einkommen in Steuerklasse V besteuert wird, so alleine lassen. Wir wollen, dass das Anteilsverfahren nicht erst 2010, sondern schon 2009 eingeführt wird. Ich finde, das dauert bei Ihnen zu lange. ({8}) Ich komme jetzt zum Schluss. Wir müssen eine Gesamtstrategie für Frauen vor dem Berufseinstieg, während der Erwerbstätigkeit und während der Familienphase entwickeln. Das Gleiche gilt für Männer, jedoch -

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen.

Ina Lenke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003170, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich komme zum Ende, möchte aber gerne die Männer ansprechen; denn das Gleiche gilt für Männer, jedoch unter anderen Vorzeichen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Sie müssen wirklich zum Ende kommen. Sie haben Ihre Redezeit um 30 Prozent überschritten.

Ina Lenke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003170, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich freue mich auf die Diskussion im Ausschuss. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Renate Gradistanac, SPD-Fraktion. ({0})

Renate Gradistanac (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003134, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Dr. Möllring, am Anfang meiner Rede möchte ich darauf hinweisen, dass Ihre Rede in großen Teilen die Ansichten in der Großen Koalition nicht widergespiegelt hat. ({0}) Vor 50 Jahren trat das Gleichberechtigungsgesetz in Kraft. Ich freue mich, dass wir heute dank der Grünen das Thema „Gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit“ auf der Tagesordnung haben. Damals, vor 50 Jahren, galt die berufliche Arbeitsleistung von Männern als Normalleistung, die von Frauen als Minderleistung. Mit folgenden Argumenten haben die Arbeitsgerichte und die Arbeitgeber Verdienstunterschiede gerechtfertigt: Frauen seien psychisch und physisch weniger belastbar als Männer. ({1}) Es entspreche der Psyche der Frau, dass sie die Hausarbeit bevorzuge und darüber ihre beruflichen Pflichten vernachlässige. ({2}) Es sei die natürliche Bestimmung der Frau, sich der Ehe und Familie zu widmen. Heute argumentieren manche wieder genauso platt, beispielsweise Eva Herman, Bischof Mixa oder Christa Müller. ({3}) Die Mehrheit der Bevölkerung ist da ganz anderer Meinung. ({4}) - Das ist gut so. - Die Mehrheit der Bevölkerung anerkennt die berufliche Arbeitsleistung von Frauen als gleichwertig. Eine überwältigende Mehrheit der Bevölkerung - 92 Prozent - ist der Meinung, dass Frauen und Männer für gleichwertige Arbeit selbstverständlich in gleicher Höhe bezahlt werden sollten. Sie empfinden die geringe Bezahlung für Frauen als unzeitgemäß, ungerecht und diskriminierend. ({5}) Der Verdienstabstand zwischen Frauen und Männern ist über 50 Jahre hinweg kontinuierlich gesunken. ({6}) Dies ist aber nur scheinbar eine gute Nachricht; aktuelle Daten zeigen einen unhaltbaren Zustand auf - wir haben das schon mehrmals gehört, aber trotzdem ist es nicht falsch -: Die Frauen in Europa verdienen im Durchschnitt 15 Prozent weniger als Männer; in Deutschland - das ist ein Skandal - verdienen sie sogar 22 Prozent weniger. Während der Gehaltsunterschied EU-weit seit 1995 um 2 Prozentpunkte gesunken ist, ist er bei uns um 1 Prozentpunkt angestiegen. ({7}) Heutiges Fazit: Deutschland ist in der EU auf einem der letzten Plätze angelangt. Was heißt das nun konkret? Ein Maschinenbauingenieur - jetzt möchte ich einmal diesen Bereich nennen erhält im Monat 4 329 Euro, eine Maschinenbauingenieurin erhält nur 3 557 Euro. Sie hat also brutto 772 Euro weniger in der Tasche als ihr männlicher Kollege. ({8}) Übrigens gibt es zum Thema Lohndiskriminierung einen bemerkenswerten Spot der Bayerischen Staatsregierung mit dem Titel - ich empfehle Ihnen, ihn sich anzusehen „Schluss mit dem Unsinn“. Apropos Schluss mit dem Unsinn: Um als CSU wirklich glaubwürdig zu sein, müsste sich ihr frauenpolitischer Sprecher, mein lieber Kollege Herr Johannes Singhammer, auch hier im Deutschen Bundestag an die Spitze der Antidiskriminierungskampagne stellen, ({9}) mindestens dahin, wo wir Feministinnen seit langem stehen. Beim Stichwort „Feministinnen“ schaue ich Ina Lenke als Partnerin an. ({10}) Der Leitsatz „Gleicher Lohn für gleiche und gleichwertige Arbeit“ ist seit langem in unserem Rechtssystem verankert. Mit dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz haben wir dies noch bekräftigt. Benachteiligte können sich an die Antidiskriminierungsstelle des Bundes wenden. Ich erwarte allerdings, dass sich diese unabhängige Instanz in Zukunft weniger für die Interessen der Wirtschaft, sondern verstärkt für eine diskriminierungsfreie Entlohnung einsetzen wird. ({11}) Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten unterstützen an dieser Stelle die Forderung im Grünenantrag. Es gilt, zu prüfen, ob das Schweizer Modell ein sinnvolles Instrument zur Beseitigung der Lohnunterschiede ist und übernommen werden kann. Dies findet sich übrigens auch im rot-schwarzen Antrag „Chancen von Frauen auf dem Arbeitsmarkt stärken“ wieder. ({12}) Je größer ein Unternehmen, desto geringer ist der Anteil von Frauen in Führungspositionen. Bei den hundert größten deutschen Unternehmen gibt es nur eine Frau im Vorstand. Frauen - das wiederholen wir immer wieder stoßen nach wie vor an die sogenannte gläserne Decke, die es für Männer nicht gibt. Seit 2001 gibt es die Vereinbarung zwischen der Bundesregierung und den Spitzenverbänden der deutschen Wirtschaft zur Förderung der Chancengleichheit von Frauen und Männern in der Privatwirtschaft. Auch die dritte Chancengleichheitsbilanz zeigt, dass freiwillige Maßnahmen nicht zum Ziel führen, um Frauen in Führungspositionen zu bringen. Es ist daher höchste Zeit, verbindliche und wirksame Instrumente zu entwickeln. ({13}) Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten stehen für ein Gleichstellungsgesetz in der Privatwirtschaft. ({14}) Norwegen und Spanien sind Vorbilder. Diese beiden Gesetze sehen unter anderem Quoten für die Besetzung von Führungspositionen in privaten Unternehmen vor. Bei der Durchsetzung von Entgeltgleichheit kommt den Tarifpartnern eine entscheidende Rolle zu. Es ist aber unsere Aufgabe im Parlament, hierfür Rahmenbedingungen zu schaffen. Aus Sicht der Bevölkerung besteht Handlungsbedarf. Die Bevölkerung ist der Meinung, dass Entgeltgleichheit ohne politische Maßnahmen nicht zu erreichen ist. Frauen wollen fair bezahlte und sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse. Sie brauchen sie zur Sicherung ihrer Existenz und zum Aufbau eigenständiger Altersversorgung. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten wollen flächendeckende Mindestlöhne. ({15}) Schließlich sind 70 Prozent der Beschäftigten im Niedriglohnsektor Frauen. Das Steuerrecht in Deutschland, Frau Lenke, muss umgestaltet werden. ({16}) Ehegattensplitting und Steuerklasse V sind überholte Modelle, die die Erwerbstätigkeit für verheiratete Frauen unattraktiv machen. ({17}) Mit den Partnermonaten beim Elterngeld und dem Rechtsanspruch auf Betreuung für alle Kinder ab eins verbessern wir die Rahmenbedingungen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Mit den Partnermonaten beim Elterngeld schaffen wir erfolgreich Anreize für Männer, berufliche Auszeiten für Familien- und Erziehungsarbeit einzuplanen. Dies ist ein wichtiger Beitrag zur Überwindung der Rollenklischees. Solange aber traditionelle Rollenbilder die Arbeitsaufteilung in der Familie bestimmen, ist es gerade für Frauen von großer Bedeutung, dass die Kinderbetreuung ausgebaut wird. Durch die Kinderbetreuung und nicht durch das Betreuungsgeld wird echte Wahlfreiheit geschaffen. ({18}) Die OECD-Studie „Babys und Bosse“ belegt eindrucksvoll, dass dieser Weg der richtige ist. In der OECD haben nämlich die Länder die höchsten Geburtenraten, in denen ein überdurchschnittlich hoher Anteil von Frauen erwerbstätig ist. Die Ursachen für Lohndiskriminierung sind vielfältig. Frauen sind besser ausgebildet. Frauen verfügen aber noch immer über geringere Berufs- und Aufstiegschancen und somit über weniger soziale Absicherung als Männer, und das allen gleichstellungs- und arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen zum Trotz. Das ist ein gesamtgesellschaftlicher Skandal, den wir uns angesichts des demografischen Wandels nicht leisten können. ({19}) Gleichstellungspolitik ist eine Querschnittsaufgabe; ({20}) die Worte „Gender-Mainstreaming“ und „Gender-Budgeting“ - ich betone diese Worte - werden auch die Letzten noch lernen. Sie darf der Familienpolitik weder untergeordnet noch auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf reduziert werden. ({21}) Es ist schade, dass die Bundeskanzlerin nicht hier ist. Herr Staatssekretär Kues, ich bitte Sie, ihr Folgendes auszurichten: ({22}) Wir erwarten, dass die Kanzlerin das Thema Entgeltgleichheit zur Chefsache macht, und zwar im Sinne des Hamburger Grundsatzprogramms der SPD: „Wer die menschliche Gesellschaft will, muss die männliche überwinden.“ Vielen Dank. ({23})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kirsten Tackmann, Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Kirsten Tackmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003853, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Gäste! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Skandalöse 22 Prozent verdienen Frauen in Deutschland weniger als Männer. Damit gehört das reiche Deutschland zu den Schlusslichtern in der EU-27; das wurde schon erwähnt. Dabei ist es für mehr als 90 Prozent aller Menschen in diesem Land selbstverständlich, dass Frauen und Männer gleich viel verdienen sollten. Der Handlungsauftrag an uns ist also eindeutig. Den Anfang könnten wir - das ist schon gesagt worden - mit der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns machen. Im Bundestagswahlkampf 2005 war die Linke mit dieser Forderung noch relativ einsam. Unterdessen gibt es dafür eine parlamentarische Mehrheit. Es fehlen allerdings noch die Konsequenzen. Zum Zusammenhang zwischen Mindestlöhnen und der Bekämpfung der Lohndiskriminierung von Frauen haben wir eine Kleine Anfrage gestellt. Ich zitiere aus der nichtssagenden Antwort der Bundesregierung: Der Einkommensabstand zwischen Frauen und Männern fußt auf vielfältigen, vor allem mittelbaren Ursachen. Lösungsstrategien sollen deshalb gezielt an den Ursachen ansetzen. Genau diese Lösungsstrategien fehlen. Stattdessen lässt die Frauenministerin, die eigentlich eher Familienministerin ist, nur die Einstellungen der Menschen zur Diskriminierung untersuchen. Nicht, dass das uninteressant wäre; aber viel dringender brauchen wir wirksame Handlungsstrategien für die 22 Eurocent, die am Frauen-Euro fehlen. Was tut die Bundesregierung zum Beispiel gegen die systematische Unterbewertung typischer Frauenberufe und -tätigkeiten? Warum findet sie sich damit ab, dass Kfz-Mechaniker besser bezahlt werden als Kindergärtnerinnen und Kassiererinnen schlechter als Lagerarbeiter? Ich weiß, dass es schwierig ist, systematische Lohndiskriminierungen bei gleichwertiger Arbeit zu bekämpfen. Denn sie fußen auf Geschlechterrollen, die in unserer Gesellschaft offensichtlich nach wie vor tief verankert sind. Die US-amerikanischen Sozialpsychologinnen Shepela und Viviano haben es auf den Punkt gebracht - Zitat -: Frauen verdienen weniger, weil sie Frauenarbeiten verrichten, und Frauenarbeiten werden geringer bezahlt, weil sie von Frauen ausgeübt werden. Angeblich sind Frauenberufe weniger produktiv. Die Wahrheit ist: Viele Fähigkeiten und Leistungen fehlen bei der Bewertung ihrer Arbeit und fallen einfach unter den Tisch. ({0}) Ein Beispiel: Einfühlungsvermögen und Sozialkompetenz werden bei Frauen als natürlich gegeben vorausgesetzt und nicht bezahlt. Bei männlichen Managern dagegen werden sie als wertvolle Zusatzqualifikationen geschätzt und zusätzlich vergütet. Das ist absurd. Bei der Ausschussreise nach Kanada haben wir gesehen, dass es durch eine höhere Bewertung von Qualifikation, psychischer Belastung und Verantwortung sehr wohl möglich ist, die Lohnungerechtigkeit schrittweise zu überwinden. Nicht weniger absurd ist die Tatsache, dass Frauen in Unternehmen ohnehin nur die schlechter bezahlten Jobs bekommen. Für die Linke steht fest: Daran kann man nur durch gesetzliche Regelungen etwas ändern. Dazu gehört für uns - diese Forderung fehlt im Antrag der Grünen leider - ein Gesetz zur Gleichstellung von Männern und Frauen in der Privatwirtschaft. ({1}) Ein solches Gesetz brauchen wir dringend. Leider sieht auch diese Bundesregierung keinen Handlungsbedarf. Ich zitiere aus der 2. Bilanz Chancengleichheit: Bundesregierung und Wirtschaft sind sich … einig, dass es … keiner weiteren gesetzlichen Regelungen zur Gleichbehandlung von Frauen und Männern im Erwerbsleben bedarf. Angesichts des Diskriminierungsalltags ist dieser Befund absurd. Es geht uns nicht um Sonderrechte für Frauen, es geht uns um ein Gesetz, mit dem Diskriminierung von Frauen am Arbeitsplatz verhindert wird. ({2}) Eigentlich geht es um mehr: Es geht nicht um die Abwesenheit von Diskriminierung, es geht um wirkliche Gleichstellung; aber der Weg dorthin ist noch viel länger. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Ingrid Fischbach, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Ingrid Fischbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003117, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wer sieben Jahre lang die Möglichkeit hatte, all das, was er hier großmundig einfordert, umzusetzen, das aber nicht geschafft hat, sollte ganz still sein, Frau ScheweGerigk! Ich komme gleich noch zu Ihnen. ({0}) Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Frau Gradistanac, ich bin froh, dass ich sagen kann: Auch Sie haben nicht für die Koalition gesprochen. ({1}) Wir Frauen in der Union können gleichberechtigt sein, ohne Feministinnen sein zu müssen. ({2}) - Ob Sie weiter sind, weiß ich nicht. - Wir schaffen die gleichberechtigte Teilhabe auch anders. ({3}) - Ich habe anscheinend in ein Wespennest gestochen; es muss also etwas dran sein. ({4}) Ich musste mich über Ihren Antrag schon wundern, Frau Schewe-Gerigk. Sie fordern Studien, Kampagnen, alles soll noch einmal erforscht werden. ({5}) All das, was gesagt worden ist - da sind wir uns doch einig -, ({6}) ist lange bekannt. ({7}) Sie wollen weitere Studien. Wo sollen diese Studien gemacht werden? Irgendwann muss es einmal gut sein! Wir brauchen nicht noch mehr Studien. ({8}) Wir müssen in der Tat Lösungen für das Problem entwickeln. Wir wollen, dass Frauen für gleichwertige Arbeit das Gleiche wie ihre männlichen Kollegen verdienen. Punkt! ({9}) In dieser Hinsicht sind wir vollkommen einer Meinung. Das schaffen wir aber nicht mit dem Mindestlohn. Sie beide, Rot und Grün, haben gerade lauthals verkündet, dass es eigentlich darum geht, dass Frauen in höheren Positionen, in den Chefetagen viel weniger verdienen. ({10}) 40 Jahre Mindestlohn von 7,50 Euro bei 40 Wochenstunden Arbeit, ({11}) wissen Sie, was da rauskommt, Frau Schewe-Gerigk? 20 Euro unter Hartz IV; so viel zum Mindestlohn. Der Mindestlohn löst das Problem der Entgeltungleichheit nicht. Er ist absoluter Quatsch; außerdem passt er als Argument nicht. ({12}) Sie tun in Ihrem Antrag so - Frau Gradistanac hat in die gleiche Kerbe geschlagen -, als hätte die Politik die Möglichkeit, diese Ungleichheit mit einem Schlag zu beseitigen. ({13}) Wenn das so einfach ist, Frau Schewe-Gerigk, warum haben Sie die Chance, diese Ungleichheit zu beseitigen, sieben Jahre lang nicht genutzt? ({14}) Frau Gradistanac, warum haben Sie denn eine freiwillige Vereinbarung unterzeichnet, warum haben Sie nicht gleich eine gesetzliche Regelung geschaffen? Ihr Bundeskanzler hätte das doch sicherlich sofort zur Chefsache gemacht, wenn es ihm wichtig gewesen wäre. Man muss sich immer an die eigene Nase fassen! ({15}) Meine Damen und Herren, sehen Sie doch einmal die Ursachen dafür, dass wir diese Entgeltungleichheit haben: ({16}) 9 Prozent des Unterschieds sind darauf zurückzuführen, dass Frauen zu viele Erwerbsunterbrechungen haben. Die Bundesregierung ist mit der Großen Koalition jetzt auf dem richtigen Wege. Wir sagen nämlich, dass wir mit dem Elterngeld Frauen und jungen Familien helfen wollen, schneller wieder in den Beruf zu kommen, um diese Erwerbsunterbrechungen zu verkürzen. Das ist ein guter Weg, der auch angenommen wird, und das ist ein erster Schritt, der dazu beitragen wird, diese Ungleichheit zu beseitigen. ({17}) Frau Schewe-Gerigk, dies steht überhaupt nicht in Ihrem Antrag. Es ist so, als sei es für Sie überhaupt kein Thema, daran zu arbeiten, die Ungleichheit beim Entgelt zu beseitigen. Ich denke, das ist der Punkt. Genauso wichtig ist es, dass wir uns damit beschäftigen, den Wiedereinstieg der Frauen zu ermöglichen, sodass sie nach einer Familienphase die Möglichkeit haben, so schnell wie möglich wieder in den Beruf einzusteigen, wenn sie das wollen. ({18}) - Sie wollen wieder die Hoheit haben, und zwar nicht nur über die Kinderbetten, sondern jetzt auch über die Frauen. Es ist doch gut: Lassen Sie die Familien und die Frauen doch selber entscheiden, wie sie das tun wollen; wir stellen den Rahmen dafür zur Verfügung. ({19}) Ich bin wirklich froh, dass wir an dieser Stelle unterschiedlicher Auffassung darüber sind, wie das Problem zu beheben ist. ({20}) Eines ist sicher - davon können Sie ausgehen -: Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion wird alles in ihrer Macht Stehende dafür tun, diese Ungleichheiten zu bekämpfen, sie aufzuheben und dafür zu sorgen, dass die Frauen für die gleiche Arbeit den gleichen Lohn bekommen. ({21})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/8784 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Bevor ich den nächsten Tagesordnungspunkt aufrufe, möchte ich, wie interfraktionell vereinbart, noch einmal zurück zu Tagesordnungspunkt 4 a sowie zu den Zusatzpunkten 1 und 2 kommen, soweit sie heute Morgen noch nicht erledigt wurden. - Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich um die Überweisungen von drei Vorlagen. Interfraktionell wird Überweisung dieser Vorlagen auf den Drucksachen 16/7600, 16/9593 und 16/9602 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe nun eine ganze Reihe von Tagesordnungspunkten auf, bei denen in unserem gemeinsamen Interesse die Reden zu Protokoll gegeben worden sind. Sie müssen mir jetzt also aufmerksam zuhören. ({0}) Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13 a und 13 b auf: a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Fünften Vermögensbildungsgesetzes - Drucksache 16/9560 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({1}) Finanzausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Priska Hinz ({2}), Dr. Gerhard Schick, Kai Gehring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Bildungssparen als ein Baustein zur Förderung lebenslangen Lernens - Drucksache 16/9349 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({3}) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Die Reden von folgenden Kolleginnen und Kollegen sind, wie interfraktionell vorgeschlagen, zu Protokoll ge- geben worden: Alexander Dobrindt, Ute Berg, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Patrick Meinhardt, Ulrike Flach, Volker Schneider, Priska Hinz und Andreas Storm.1) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/9560 und 16/9349 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst Friedrich ({4}), Patrick Döring, Joachim Günther ({5}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Keine Erhöhung der Lkw-Maut ohne vorherige Harmonisierung der Wettbewerbsbedingungen - Drucksache 16/9344 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({6}) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss Interfraktionell ist vorgeschlagen, dass die Reden der Kollegen Wilhelm Josef Sebastian, Jörg Vogelsänger, Jan Mücke, Lutz Heilmann und Winfried Hermann zu Protokoll gegeben werden.2) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/9344 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 15 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ergänzung der Bekämpfung der Geldwäsche und der Terrorismusfinanzierung ({7}) - Drucksachen 16/9038, 16/9080 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({8}) - Drucksache 16/9631 Berichterstattung: Abgeordnete Helmut Brandt Frank Hofmann ({9}) Ulla Jelpke 1) Anlage 2 2) Anlage 3 Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der FDP vor. Interfraktionell ist vereinbart worden, die Reden zu Protokoll zugeben. Es handelt sich um die Reden folgen- der Kollegin und folgender Kollegen: Helmut Brandt, Frank Hofmann, Frank Schäffler, Ulla Jelpke und Wolfgang Wieland.1) Wir kommen damit zur Abstimmung. Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9631, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 16/9038 und 16/9080 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der Linkspartei bei Stimmenthaltung von FDP und Grünen angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der FDP und der Linken bei Stimmenthaltung der Grünen angenommen. Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/9647. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der FDP bei Stimmenthaltung von Linkspartei und Grünen abgelehnt. Ich rufe Tagesordnungspunkt 16 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Gehrcke, Monika Knoche, HüseyinKenan Aydin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Den Prozess von Annapolis durch eigenständige Initiativen unterstützen - Drucksache 16/9483 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({10}) Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden der Kollegen Holger Haibach, Niels Annen, Harald Leibrecht, Wolfgang Gehrcke und Kerstin Müller zu Protokoll zu geben.2) Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/9483 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- 1) Anlage 4 2) Anlage 5 verstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 17 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({11}) - zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD Das Recht auf Meinungs- und Pressefreiheit weltweit durchsetzen und der Internetzensur entgegentreten - zu dem Antrag der Abgeordneten Volker Beck ({12}), Marieluise Beck ({13}), Grietje Bettin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Pressefreiheit als Fundament für die Demokratie - Drucksachen 16/8871, 16/3613, 16/9587 Berichterstattung: Abgeordnete Holger Haibach Christoph Strässer Michael Leutert Volker Beck ({14}) Interfraktionell ist vorgeschlagen, die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. - Sie sind damit einverstanden. Die Kollegen Holger Haibach, Herta Däubler-Gmelin, Florian Toncar, Michael Leutert und Volker Beck haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.3) Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- schusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe auf Drucksache 16/9587. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen von CDU/CSU und SPD auf Drucksache 16/8871. Wer stimmt für diese Beschluss- empfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP bei Enthaltung der Linkspar- tei und der Grünen angenommen. Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab- lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü- nen auf Drucksache 16/3613. Wer stimmt für diese Be- schlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen von Linkspartei und Grünen bei Stimmenthaltung der FDP angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole Maisch, Peter Hettlich, Rainder Steenblock, wei- 3) Anlage 6 Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse terer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Erarbeitung einer nationalen Strategie für den Erhalt der Gewässerbiodiversität und zur Flankierung der Umsetzung der EG-Wasserrahmenrichtlinie in den Bundesländern - Drucksache 16/9359 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({15}) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Interfraktionell ist vorgeschlagen, die Reden der Kol- legen Ulrich Petzold, Petra Bierwirth, Horst Meierhofer, Eva Bulling-Schröter und Nicole Maisch zu Protokoll zu geben.1) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/9359 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 19 a und 19 b auf: a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({16}) zu dem Antrag der Abgeordneten Jürgen Klimke, Dr. Christian Ruck, Maria Eichhorn, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Sascha Raabe, Gregor Amann, Sabine Bätzing, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Nationale und internationale Maßnahmen für einen verbesserten Kampf gegen Drogenhan- del und -anbau in Entwicklungsländern - Drucksachen 16/8776, 16/9539 - Berichterstattung: Abgeordnete Jürgen Klimke Dr. Sascha Raabe Hellmut Königshaus Hüseyin-Kenan Aydin Ute Koczy b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({17}) zu dem Antrag der Abgeordneten Monika Knoche, Hüseyin-Kenan Aydin, Dr. Diether Dehm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Afghanistan eine Chance für legalen lizenzier- ten Mohnanbau geben - Drogenmafia wirk- sam bekämpfen - Drucksachen 16/7525, 16/9153 - 1) Anlage 7 Berichterstattung: Abgeordnete Bernd Schmidbauer Detlef Dzembritzki Dr. Werner Hoyer Wolfgang Gehrcke Kerstin Müller ({18}) Interfraktionell ist vorgeschlagen, die Reden zu Pro- tokoll zu geben, und zwar von folgenden Kollegen: Jürgen Klimke, Sabine Bätzing, Sascha Raabe, Hellmut Königshaus, Monika Knoche und Ute Koczy.2) Wir kommen zur Abstimmung. Tagesordnungspunkt 19 a. Der Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9539, den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 16/8776 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der Grünen bei Enthaltung von FDP und Linkspartei angenommen. Tagesordnungspunkt 19 b: Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9153, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/7525 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 20 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Paul K. Friedhoff, Dr. Karl Addicks, Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Sozialverträgliche Beendigung des subventionierten Steinkohlebergbaus beschleunigen - Drucksache 16/8772 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({19}) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen, und zwar von den Kollegen Joachim Pfeiffer, Rolf Hempelmann, Paul Friedhoff, Ulla Lötzer und Kerstin Andreae.

Dr. Joachim Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003608, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das starke, durch den Steinkohleabbau verursachte Erdbeben am 23. Februar 2008 im Saarland hat uns alle betroffen gemacht. Die CDU-Landesregierung des Saar- landes hat unmittelbar reagiert und mit der Verfügung des unbefristeten Abbaustopps verdeutlicht, dass die Sicherheit der Bürger an erster Stelle steht. Auch die Bun- desregierung reagierte auf die Vorkommnisse: Ursprüng- lich war für das Bergwerk im Saarland ein Ausstieg im Jahre 2014 vorgesehen. Dieser wird jetzt im Einverneh- men mit dem betroffenen Unternehmen, der RAG Deut- sche Steinkohle AG, RAG, auf 2012 vorverlegt. Nun zu Ihrem Antrag: Ein beschleunigter Ausstieg aus dem Steinkohlebergbau, wie Sie ihn fordern, schießt über 2) Anlage 8 das Ziel hinaus und ist kontraproduktiv. Die Koalition hat erst am 20. Dezember 2007 das Gesetz zur Steinkohlefinanzierung beschlossen und damit eine Grundlage für den Ausstieg aus der staatlichen Dauersubventionierung gelegt. Mir ist es wichtig, hervorzuheben, dass wir die Entscheidung über die Zukunft der deutschen Steinkohle in einem breiten Konsens mit allen Beteiligten - einschließlich der Gewerkschaft - getroffen haben. Die subventionierte Förderung der Steinkohle in Deutschland wird bis spätestens 2018 sozialverträglich beendet. Ziel des Gesetzes ist es, einen sozialverträglichen Ausstieg aus der Steinkohlefinanzierung ohne betriebsbedingte Kündigungen zu erreichen. Es ist ein Fahrplan zur Beendigung der staatlichen Dauersubventionen für den Steinkohlebergbau, der einen vollständigen Ausstieg bis spätestens 2018 vorsieht. Gleichzeitig schaffen wir damit eine Lösung, die die Ewigkeitslasten wie Bergbauschäden, Wasserhaltung etc. dauerhaft und abschließend in Form eines Stiftungsmodells regelt. Das Steinkohlefinanzierungsgesetz ist daher in der Tat ordnungspolitisch eine wichtige Grundsatzentscheidung. Damit wird der größte Subventionsabbau in der Geschichte der Bundesrepublik auf den Weg gebracht. Gleichzeitig ist es uns gelungen, einen sozialverträglichen Rahmen zu vereinbaren. Die Große Koalition hat mit diesem historischen Beschluss einmal mehr ihre Handlungsfähigkeit bewiesen. Die betroffenen Bergbauregionen starten jetzt in einen zukunftsgerichteten Strukturwandel. Die nötigen Mittel sind freigegeben. Die Große Koalition hat ihre Hausaufgaben gemacht und den notwendigen staatlichen Rahmen gesetzt, in dem die Unternehmen frei agieren können. Es ist ihnen unbenommen, den Steinkohleabbau auch früher zu beenden. Es ist weise und eine demokratische Selbstverständlichkeit, dass der Deutsche Bundestag zum festgeschriebenen Zeitpunkt 2012 überprüft, ob die heutigen energiewirtschaftlichen Rahmenbedingungen weiterhin Bestand haben. In den letzten 50 Jahren hat die Subventionspolitik im Steinkohlebereich den Steuerzahler rund 125 Mil-liarden Euro gekostet. Statt weiter Jahr für Jahr mehr als 2 Milliarden Euro in Erhaltungssubventionen zu stecken, setzen wir ein strategisches Signal für die Zukunft. Dies ist eine Entscheidung für den Standort Deutschland. Sie zeigt, dass wir in der Lage sind, moderne und zukunftsgerichtete Strukturen in unserem Land zu schaffen. Für die Union ist von Bedeutung, dass Planungssicherheit bei den Unternehmen geschaffen wurde. Sie können sich jetzt auf die veränderten Bedingungen einstellen und selbst über den Zeitpunkt der Beendigung des Steinkohleabbaus entscheiden. So ist endlich der Weg für die Umstrukturierung des ehemaligen RAG-Konzerns frei geworden. Den Sparten des weißen Bereichs, also alles außer Kohle, wurde in seinem neuen Outfit als Evonik die nötige Perspektive für die weitere Entwicklung gegeben. Der Börsengang ist dabei ein wichtiger Schritt. Damit erhält der Konzern Zugang zum Kapitalmarkt. Gleichzeitig werden über die Stiftung die Mittel für die Finanzierung der Ewigkeitslasten des Bergbaus wie Dauerbergschäden und Wasserhaltung aufgebracht und durch die Revierländer abgesichert. Die deutsche Bergbaumaschinenindustrie und deren Zulieferer sind nicht mehr auf den deutschen Kohlebergbau angewiesen. Die Bergbaumaschinenindustrie hat ihre Referenzen heute überwiegend im Ausland und braucht keinen heimischen Bergbau, um ihre Zukunft abzusichern. Auch die Bergleute gehen mit sicherer Planung in die Zukunft. Sie wissen, dass es keine betriebsbedingten Kündigungen geben wird und sie nicht um ihren Job fürchten müssen. Zusammenfassend halte ich fest: Mir ist es wichtig, dass wir einen Konsens mit allen Beteiligten - Beschäftigten, Unternehmen und der Politik - erreicht und auch ein klares Ziel festgelegt haben. Deutschland steigt aus einem subventionierten Steinkohlebergbau aus. Gleichzeitig haben die Vorkommnisse im Saarland vom 23. Februar 2008, durch die Vorverlegung des Ausstiegsdatums auf 2012, gezeigt, dass das von der Koalition beschlossene Paket auf solche Ereignisse flexibel reagieren kann, ohne das Ziel der Sozialverträglichkeit aus den Augen zu verlieren und die Planungssicherheit zu gefährden. Ein beschleunigter Ausstieg aus der Steinkohlefinanzierung, wie ihn der Antrag der FDP-Fraktion fordert, ist daher nicht notwendig und würde zusätzlich zu Verunsicherung bei den Unternehmen und den Bergleuten führen. Aus diesem Grund lehnt die CDU/CSU-Bundestagsfraktion den Antrag der FDP ab.

Rolf Hempelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002671, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Mit dem uns heute vorliegenden Antrag für eine beschleunigte Beendigung des subventionierten deutschen Steinkohlenbergbaus unternimmt die FDP-Fraktion ein leicht durchschaubares Manöver. Sie versucht, ein im vergangenen Jahr nach schwierigen Verhandlungen erfolgreich geklärtes Streitthema wiederzubeleben und in ihrem Sinne parteitaktisch zu instrumentalisieren. Schon aus diesem Grund macht es Sinn, sich das Ergebnis der kohlepolitischen Verständigung vom Frühjahr 2007 noch einmal ins Gedächtnis zu rufen. Damals ist zwischen dem Bund, den Kohleländern NRW und Saarland, der IG BCE und der RAG AG vereinbart worden, den subventionierten deutschen Steinkohlenbergbau bis zum Jahr 2018 sozialverträglich, das heißt ohne betriebsbedingte Kündigungen, auslaufen zu lassen. Diesem Datum 2018 haben alle Beteiligten, also auch die NRW-Landesregierung, der die FDP ja bekanntlich angehört, ausdrücklich zugestimmt. Heute, also gerade einmal eineinhalb Jahre später, das gemeinsam vereinbarte und in der Zwischenzeit mit dem Steinkohlefinanzierungsgesetz in Rechtsform gegossene Kompromissmodell infrage zu stellen, ist gewiss kein Ausweis besonderer politischer Verlässlichkeit. Auch deshalb werden wir der FDP derartige taktische Spielereien nicht durchgehen lassen. Ein vorgezogenes Ende des deutschen Steinkohlebergbaus, das die gesamte Architektonik des seinerzeitigen Kompromisses durcheinander brächte, ist mit uns nicht zu haben! Ich will vielmehr an den zweiten wesentlichen Einigungspunkt der kohlepolitischen Verständigung erinnern. Bestandteil der Vereinbarung war ja nicht etwa ein unkonditioniertes Ende des subventionierten deutschen Steinkohlenbergbaus frühestens im Jahr 2018, sondern auch eine allgemeine Revisionsklausel. Diese besagt, dass die Entscheidung über ein mögliches Auslaufen des Bergbaus sechs Jahre vor dem festgelegten Auslaufdatum - also 2012 - im Lichte Zu Protokoll gegebene Reden der dann aktuellen energiewirtschaftlichen Erkenntnisse und unter Berücksichtigung des energiepolitischen Ziels der Versorgungssicherheit noch einmal überprüft wird. Auch wenn einige Debattenteilnehmer und zuletzt auch noch einmal der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Jürgen Rüttgers meinen, diese Revisionsklausel sei keine reale Option, sage ich an dieser Stelle ganz deutlich: Die an den Verhandlungen beteiligte SPD-Seite hat diese Klausel - übrigens genauso wie die IG BCE und vor allem die direkt betroffenen Bergleute und ihre Familien - sehr ernst gemeint. Und sie sieht sich durch die Entwicklung der vergangenen zwölf Monate in ihrer Einschätzung durchaus bestätigt. Die weltweit steigenden Preise für fossile Energieträger, die die Menschen gegenwärtig vor allem an den Tankstellen in ihrem Geldbeutel zu spüren bekommen, machen auch vor der Steinkohle nicht halt. Mehr als deutlich wird dies im Blick auf die aktuelle Entwicklung der Preise für Kokskohle. Hier haben sich die Preise innerhalb eines guten Jahres nahezu verdreifacht - auf ein Niveau von aktuell beinahe 300 US-Dollar pro Tonne. Eine solch rasante Entwicklung der Weltmarktpreise hätten noch vor einiger Zeit sicherlich nur die wenigsten - insbesondere bei den selbsternannten Experten von der FDP - für möglich gehalten. Sie ist aber Realität, und sie belegt, dass es energiepolitisch sinnvoll gewesen ist, für den Fall einer zunehmenden Wettbewerbsfähigkeit der heimischen Steinkohleförderung eine echte Revisionsklausel für das Jahr 2012 zu verankern und auch an dieser festzuhalten. Vor diesem Hintergrund begrüße ich ausdrücklich die in der vergangenen Woche vom Aufsichtsrat der RAG beschlossene Bergbauplanung bis zum Jahr 2012. Der Beschluss sieht über die bereits feststehenden Schließungen der Bergwerke Walsum ({0}) und Lippe ({1}) die Schließung des Bergwerks Saar ({2}) vor. Für das Bergwerk Ost in Hamm, das die Förderung ursprünglich bereits Ende 2009 einstellen sollte, ist eine Verlängerung der Laufzeit bis zum 30. September 2010 vereinbart worden. Diese Entscheidung des Aufsichtsrats, mit der die Weichen für eine Förderung von noch 12 Millionen Tonnen deutscher Steinkohle im Jahr 2012 und eine Halbierung der Beschäftigtenzahl auf 15 000 Mitarbeiter gestellt werden, entspricht dem mit dem Steinkohlefinanzierungsgesetz festgelegten Finanzrahmen und folgt auch im übrigen den grundlegenden Leitgedanken des Gesetzes. Sie garantiert zum einen auch weiterhin die Sozialverträglichkeit des Auslaufprozesses und vermeidet gleichzeitig, dass das Tor in Richtung eines eventuellen Sockelbergbaus in Deutschland ohne Not zugeschlagen wird. Dieser vernünftigen Politik sollte sich auch die FDP nicht verschließen und in Zukunft auf Anträge wie den vorliegenden verzichten.

Paul K. Friedhoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000588, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Gestatten Sie mir zunächst eine grundsätzliche Vorbemerkung über die Position der FDP-Bundestagsfraktion zur Diskussion um die deutsche Steinkohle: Die FDP hat nichts gegen den Abbau von Steinkohle in Deutschland solange dieser ohne Subventionen auskommt und keine Gefahren für Menschen und Umwelt schafft. Außerdem müssen die aus der so abgebauten Steinkohle gewonnenen Erträge ausreichen, um für die dauerhaft entstehenden Schäden aufzukommen. Diese Voraussetzungen sind in Deutschland seit mehr als drei Jahrzehnten nicht mehr erfüllt. Deshalb setzt sich die FDP als einzige politische Partei schon seit den 80er-Jahren für eine konsequente Beendigung der Steinkohlesubventionen ein. Wie nötig dieser Einsatz ist, zeigt sich daran, dass der deutsche Steuerzahler insgesamt bereits über 130 Milliarden Euro für die unrentable Steinkohleförderung in Deutschland ausgeben musste und für die Beendigung weitere 39 Milliarden Euro benötigt werden. Wir wissen, dass sich weniger als 1 Prozent der Weltkohlevorräte in Deutschland befinden, die in großer Tiefe und in wenig mächtigen Flözen liegen. Diese Vorräte sind für unsere Versorgungssicherheit wenig relevant; denn auf dem Weltmarkt können wir uns für deutlich niedrigere Kosten mit Kohle versorgen. Das tun wir bereits kräftig; über zwei Drittel des deutschen Kohleverbrauchs decken wir heute aus günstigen Importen. Nun muss der Fahrplan für den beschlossenen Abbau der Steinkohlesubventionen durch die starken Erdbeben an der Saar verändert werden. Durch Beschluss des Saarländischen Landtags ist die Kohleförderung in der Primsmulde frühzeitig zu beenden. Da der Zeitplan für den Abbau der Subventionen modifiziert werden muss, fordern wir erneut, den Auslauf der Subventionen zu beschleunigen - mit dem Ziel, Teile der frei werdenden Mittel für Maßnahmen zum beschleunigten Strukturwandel in den betroffenen Regionen und damit zur Schaffung neuer Arbeitsplätze einzusetzen. Zurzeit träumen insbesondere die Sozialdemokraten in Nordrhein-Westfalen von einer Renaissance des Steinkohlebergbaus in Deutschland. Wenn sich herausstellen sollte, dass die in der Presse behaupteten Kosten für den Abbau und die Erlöse von Kokskohle - zum Beispiel im Bergwerk Ost - richtig sind, dann ließe sich dort gegenwärtig Kokskohle ohne Subventionen abbauen. Hier gilt das zu Beginn genannte: Wir sind gegen Subventionen, nicht gegen einen unsubventionierten Steinkohlebergbau. Dies gilt auch für das vielfach genannte, unsubventionierte neue Bergwerk Donar, für das bisher aber noch keine konkreten Investoren bekannt sind. Da man Geld nur einmal ausgeben kann, sollten wir das Geld so schnell wie möglich nicht für Kohlesubventionen ausgeben, sondern zum Beispiel für Bildung und bessere Strukturen für mehr Arbeitsplätze nutzen.

Ursula Lötzer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003174, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Die FDP nimmt die Probleme im Saarland zum Anlass, ihre alte Leier für einen raschen Ausstieg aus der heimischen Steinkohleförderung abzuspielen. Doch schon die Überschrift des FDP-Antrags ist ein Widerspruch in sich. Denn ein vorzeitiger Ausstieg aus der heimischen Steinkohleförderung ist eben nicht sozialverträglich zu machen. Der Steinkohlebergbau hat für Nordrhein-Westfalen wie auch für das Saarland noch imZu Protokoll gegebene Reden mer eine wichtige wirtschaftliche Bedeutung. Die acht deutschen Zechen und eine Kokerei der Ruhrkohle AG beschäftigen allein noch rund 34 000 Menschen, insgesamt hängen vom Steinkohlenbergbau circa 100 000 Arbeitsplätze ab. Den Ausstieg zu beschleunigen, würde bedeuten, viele Menschen im Ruhrgebiet in die Arbeitslosigkeit zu schicken; und das vor dem Hintergrund, dass der Verkauf von 25,01 Prozent an den britischen PrivateEquity-Fonds CVC zum Verlust von Arbeitsplätzen im sogenannten „weißen“ Bereich führen wird. CVC hat für den Kauf der Anteile Kredite in Höhe von 1,2 Milliarden Euro aufgenommen. Also braucht CVC hohe Dividenden, um die Zinsen und Tilgung des Kredites zu bedienen. Diese hohen Dividenden hat Herr Bonse-Geuking CVC fest zugesagt: 2008 sollen rund 280 Millionen Euro an CVC ausgeschüttet werden, 2009 bereits 320 Millionen Euro und 2010 dann 400 Millionen Euro. Wer wird wohl wieder einmal für diese Dividenden bluten müssen? Natürlich an erster Stelle die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Der ganze „Steinkohlekompromiss“, wie er vor einem Jahr ausgehandelt wurde, die Konstruktion mit der privatrechtlichen RAG-Stiftung und der Veräußerung von Evonik ist nichts anderes als ein riesiges Arbeitsplatzvernichtungsprogramm. Die Klausel, wonach der Ausstieg aus der Steinkohleförderung 2012 noch einmal überprüft werden soll, ist das Papier nicht wert, auf dem sie geschrieben ist. Jeder weiß, dass sie lediglich dazu gedient hat, dass die SPD ihr Gesicht wahren sollte. Die verbindlichen Stilllegungspläne bis 2018 sind doch schon an die EU-Kommission gemeldet worden. Bundes- und Landesregierungen haben die Chance vertan, im Rahmen einer öffentlich-rechtlichen Stiftung Einfluss auf eine positive Entwicklung im Ruhrgebiet zu nehmen. Sie haben sich aus der sozialen und ökologischen Verantwortung gestohlen. Sie haben die Chance vertan, mit der STEAG eine zukunftsweisende Energiepolitik zu betreiben. Bundes- und Landesregierung müssen in Absprache mit der Gewerkschaft ein Konzept entwickeln, das Qualifizierungsmaßnahmen für die Bergleute vorsieht. Noch wichtiger aber ist ein Konzept für alternative Arbeitsplätze im Ruhrgebiet, auch für den „weißen“ Bereich. Die Bergbautechnologie führt zu Innovationen im Anlagenbau. Das Wissen im industriellen Anlagenbau kann in neuen Technologiebereichen, wie der Entwicklung und dem Bau von Systemen und Komponenten für die Offshore-Windenergie, genutzt werden. Dazu braucht es jedoch einer gezielten Ansiedlungsstrategie. Wir treten nach wie vor dafür ein, eine Grundfördermenge an Steinkohle zu erhalten. Nur so kann die damit verbundene Kompetenz erhalten werden. An dieser Kompetenz hängen noch einmal Tausende von Arbeitsplätzen im Ruhrgebiet. Mittelfristig kann die Kohle ein wichtiger Ersatzrohstoff für das zur Neige gehende Erdöl als Grundstoff der petrochemischen Industrie werden. Je nach der Entwicklung auf den Rohstoffmärkten werden wir eines Tages vielleicht noch heilfroh sein, wenn wir heute die heimischen technologischen Kompetenzen im Bergbau nicht völlig vernichten. Eine Beschleunigung der Beendigung des Steinkohlenbergbaus wäre jedenfalls schädlich.

Kerstin Andreae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003493, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Der Steinkohlebergbau scheint zum Dauerthema deutscher Politik zu werden. Leider verbinden wir aber damit in erster Linie eine misslungene Subventionspolitik der Bundesregierung. Wir haben bereits in der Plenumsdebatte am 8. November 2007 deutlich gemacht, dass die deutsche Steinkohle keine Perspektive hat, auch wenn wir aktuell der Presse entnehmen müssen, dass es leider immer noch ein paar Ewiggestrige gibt, die weiterhin das Hohelied auf die Steinkohle singen. So nehmen wir zum Beispiel überraschend zur Kenntnis, dass ein ehemaliger Funktionär der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie und Energie aus Nordrhein-Westfalen den Ausstieg aus dem Ausstieg propagiert, obwohl das Erdbeben in der Region erst wenige Wochen her ist. Und die dortige Landesregierung, wie auch unsere Bundesregierung schweigt dazu. Ich frage die Kolleginnen und Kollegen von Union und SPD: Stehen Sie zu Ihrem Gesetz und damit auch zum endgültigen Kohleausstieg 2018 oder nicht? Ich wünsche mir hier eine klare Aussage, damit dieser Irrsinn ein Ende hat. Dabei sprechen die Fakten für sich: Die Nachfrage nach Steinkohle sank in Deutschland von etwa 106 Millionen Tonnen im Jahr 1973 auf unter 68 Millionen Tonnen im Jahr 2004. Noch stärker verringerte sich die Förderung der Kohle. Sie fiel zwischen 1978 und 2004 in den europäischen OECD-Ländern um etwa 60 Prozent, von 483 auf 187 Millionen Tonnen. Die deutsche Steinkohle deckt heute gerade noch 4 Prozent des gesamten heimischen Primärenergieverbrauchs und ist schon seit Jahrzehnten nicht mehr wettbewerbsfähig. Die wesentliche Ursache hierfür liegt in den Förderkosten. So ist der Preis für eine Tonne deutsche Steinkohle dreimal höher als der Weltmarktpreis für Kraftwerkskohle. Es ist illusorisch, zu glauben, dass sich dieser Wettbewerbsnachteil in der Zukunft aufheben wird. Die geologischen Nachteile in Deutschland bleiben ein dauerhaftes Problem. Wie man angesichts dieser Zahlen von einem Revival heimischer Kohle oder gar einem Rohstoffschatz reden kann, ist mir ein Rätsel. Mit jedem weiteren Jahr der Kohleförderung rücken zunehmend die durch den Bergbau verursachten Umweltund Gebäudeschäden in den Blickpunkt. Durch den heimischen Steinkohleabbau entstehen bedeutende Mengen an Klimagasen wie Kohlendioxid und Methan. Allein die Menge an CO2-Emissionen, die durch den Energieverbrauch des deutschen Steinkohlenbergbaus verursacht werden, belief sich 2002 auf 2,7 Millionen Tonnen. Es ist das erklärte Ziel der Betreiber im Rahmen der freiwilligen Selbstverpflichtung der deutschen Industrie zur Klimaschutzvorsorge, den jährlichen CO2-Ausstoß bis 2012 auf 2,3 Millionen Tonnen zu verringern. Das Rheinwestfälische Institut Essen hat in seiner Stellungnahme vom Oktober 2007 bereits festgestellt, dass durch den Verzicht auf einen heimischen Abbau jährlich beinnahe ein Viertel dieser Emissionsreduktionen erbracht werden könnte. Das müsste doch eigentlich ganz im Sinne unserer Klimaschutzregierung sein. Der Steinkohlebergbau im Saarland ist nicht mehr zu verantworten. Die Gefahr, dass bei einem Weiterbetrieb Menschen und Häuser zu schaden kommen, verbietet, Zu Protokoll gegebene Reden dass weiter Steinkohle abgebaut wird. Die milliardenschwere Subventionierung dieser Branche stellt eine Verschwendung von Steuergeldern dar. Diese können und müssen für den Strukturwandel im Saarland eingesetzt werden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass ein sozialverträglicher Ausstieg aus der deutschen Steinkohleförderung deutlich früher als bislang geplant möglich ist und somit diese öffentlichen Gelder in Zukunftstechnologien und Bildungsinvestitionen gelenkt werden können. Die Förderung jeder weiteren Tonne heimischer Steinkohle ist ökonomisch wie ökologisch schädlich. Wir unterstützen daher den Antrag der FDP. Er deckt sich im Wesentlichen mit unserem eigenen Antrag, Drucksache 16/9099, über den wir in Kürze ebenfalls noch abzustimmen haben.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/8772 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 21auf: Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Masseur- und Physiotherapeutengesetzes und anderer Gesetze zur Regelung von Gesundheitsfachberufen - Drucksache 16/1031 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit ({0}) - Drucksache 16/9577 Berichterstattung: Abgeordnete Maria Michalk Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen, und zwar von den Kollegen Maria Michalk, Margrit Spielmann, Konrad Schily, Frank Spieth, Elisabeth Scharfenberg und Rolf Schwanitz.

Maria Michalk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001501, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Mit dem heutigen Beschluss setzen wir erneut ein Zeichen für den verbesserten Ausbildungs- und Berufseinstieg junger Menschen. In allen Gesundheitseinrichtungen werden gute Fachkräfte gebraucht. Das setzt eine fundierte theoretische und praktische Ausbildung voraus, aber auch die persönliche Eignung für den jeweiligen Beruf. Überall in unserer Arbeitswelt sind Kompetenzen im menschlichen Miteinander gefragt, unbestritten in den sozialen Berufen ganz besonders. Deshalb kommt der Auswahl der Bewerberinnen und Bewerber eine hohe Bedeutung zu. In den zurückliegenden Jahren spielte dabei das Alter der jungen Menschen noch eine dominante Rolle. Ich möchte daran erinnern, dass wir als Bundesgesetzgeber bereits 2003 mit der Novellierung des Krankenpflegegesetzes bewusst auf die Festlegung einer Altersanforderung als Zugangsvoraussetzung zur Ausbildung als Krankenpfleger verzichtet haben. Die Vollendung des 17. Lebensjahres war damals die Vorgabe. Der Möglichkeit, die Ausbildung unmittelbar nach Beendigung der Schule zu beginnen, wurde also der Vorzug vor einer starren Altersgrenze gegeben. Wartezeiten wurden vermieden, und Bewerber sind auch nicht mehr „verlustig gegangen“, da sie sofort nach Beendigung der Schule in die Berufsausbildung einsteigen konnten, wie das in anderen Berufen der Fall ist. Vor allem die Krankenhäuser haben sich sehr gut darauf eingestellt, geeignete Bewerberinnen und Bewerber zu rekrutieren, die dann durch „altersgerechte“ Einsatzplanung, im Rahmen der praktischen Ausbildung, nach und nach an das vorgegebene Ausbildungsziel herangeführt werden. Die Praxis hat gezeigt: Die Abschaffung der Altersvorgabe als Zugangsvoraussetzung zur Ausbildung in den Berufen der Krankenpflege hat sich bewährt. Deshalb haben wir die Initiative des Bundesrates aufgegriffen und das heute zur Abstimmung stehende Gesetz beraten. Es hat die Streichung der Altersvorgabe im Hebammengesetz, im Logopädengesetz, im Masseur- und Physiotherapeutengesetz zum Inhalt. Obwohl es sich hier vor allem um eine verschulte Ausbildung handelt, hat die Anhörung ganz deutlich gezeigt, dass auch die Schulen für die vorgenannten Gesundheitsfachberufe über die notwendigen Instrumente verfügen, um geeignete Bewerberinnen und Bewerber für die jeweilige Ausbildung auszuwählen; denn wie wir wissen, ergeben sich die individuellen Voraussetzungen für die Durchführung einer Ausbildung nicht zwingend aus dem Lebensalter. Dem Berufsbildungsbericht 2008 ist zu entnehmen, das sich im Schuljahr 2006/07 121 391 Schülerinnen und Schüler an 1 848 Schulen des Gesundheitswesens befinden. Neben den Schulen für das Gesundheitswesen werden Ausbildungen in den Gesundheitsfachberufen aufgrund des unterschiedlich strukturierten föderalen Schulsystems auch an Berufsfachschulen und Fachschulen durchgeführt. Nach einem kontinuierlichen Anstieg in den vergangenen 5 Jahren bei der Zahl der Schülerinnen und Schüler der Ausbildungen in der Logopädie, Physiotherapie, Ergotherapie sowie der Rettungsassistenz ist in diesem Jahr erstmals eine Stagnation eingetreten. Auch das ist für uns Anlass, eine lückenlose Ausbildung zu ermöglichen, um interessierte Jugendliche für Gesundheitsberufe nicht zu verlieren. Allein die demografischen Herausforderungen gebieten, Vorsorge für die Zukunft in den Gesundheitsberufen zu treffen. In der Anhörung, die wir zu diesem Gesetz durchgeführt haben, wurde klar herausgestellt, dass die Ausbildungseinrichtungen kein Problem mit der Herabsetzung des Zugangsalters haben, auch aus arbeitsschutzrechtlicher Sicht nicht. Allerdings wurde auch einvernehmlich festgestellt, dass es immer von großem Wert ist, wenn die jungen Leute im Rahmen der vorgeschriebenen schulischen Praktika oder auch freiwillig in den Ferien Erfahrungen in den Gesundheitseinrichtungen sammeln. Sie müssen aus der praktischen Arbeit kennen, auf was sie sich einlassen, wenn sie einen der genannten Gesundheitsberufe erlernen. Hier ist im wahrsten Sinne des Wortes die „Liebe zum Beruf“ gefragt. Bereits in der letzten Legislaturperiode wurde ein Vorstoß unternommen, hier zur Aufhebung der Altersgrenze zu kommen. Dieser Ge17948 setzentwurf war der Diskontinuität anheimgefallen. Deshalb ist es erfreulich, dass wir nunmehr heute diese Regelung verabschieden können - und das im Wissen, dass alle Sachverständigen, die wir gehört haben, und die Vertreter der Berufsverbände diese Gesetzesinitiative begrüßen. Zusätzlich haben wir mit einem Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen die Altersvorgabe „18. Lebensjahr“ für die Beantragung der Erlaubnis zur Berufsausübung als pharmazeutisch-technischer Assistent/pharmazeutische Assistentin im PTA-Gesetz gestrichen. Damit wird vermieden, dass bei PTAs, die ihre Ausbildung beendet haben, unnötige Wartezeiten für den Berufsbeginn entstehen. Eine Verzögerung ist weder fachlich vertretbar und widerspricht den bereits beschriebenen bildungspolitischen Grundsätzen. Mit dieser Änderung haben wir eine Harmonisierung mit der Streichung der Altersvorgaberegelung bei den anderen, genannten Gesundheitsfachberufen erreicht. Hinweisen will ich noch auf die Tatsache, dass wir uns im Rahmen der Anhörung auch dem Thema der Aufhebung der Höchstaltersgrenze für die Zulassung von Vertragszahnärzten gewidmet haben. Die Aufhebung der sogenannten 68er-Regelung wurde vor allem auch aus verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten für notwendig erachtet. Die entsprechende gesetzliche Änderung wird aber nunmehr nicht in diesem Gesetz vorgenommen. Die Koalitionsfraktionen sind sich jedoch einig, dies zeitnah in einem anderen Gesetz aus dem Bereich des SGB V zu regeln. Die gesundheitliche Versorgung in Deutschland erfolgt unbestritten auf einem qualitativ hohen Niveau. Dieses zu stabilisieren und weiter zu verbessern, ist das zentrale Anliegen einer verantwortungsvollen Gesundheitspolitik, die sich an unserer Lebenswirklichkeit ausrichtet und sich an den besonderen Bedürfnissen kranker Menschen orientiert. Am Umgang mit Kranken und Hilfebedürftigen lässt sich sehr deutlich die menschliche und soziale Wärme einer Gesellschaft erkennen. Die Gesundheitspolitik muss sich daran orientieren. Mit dem heutigen Gesetz leisten wir durchaus einen guten Beitrag dazu. Unser Gesetz, das wir heute im Bundestag beschließen - und ich bitte um Ihre Zustimmung - wird im September den Bundesrat passieren. Da es sich um eine Bundesratsinitiative handelt, gehe ich davon aus, dass dies problemlos geschieht, sodass sich Ausbildungseinrichtungen und Berufsanwärter auf die neue Situation einstellen können.

Dr. Margrit Spielmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003238, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Meine Fraktion und ich begrüßen sehr, dass der Zugang zu Ausbildungen in Gesundheitsfachberufen künftig nicht mehr an ein bestimmtes Alter gebunden ist. Bisher wird in sechs bundesgesetzlich geregelten Ausbildungen aus dem Bereich der nichtärztlichen Gesundheitsberufe die Zulassung zur Ausbildung von einem Mindestalter abhängig gemacht: im Hebammengesetz, im Logopädengesetz, im Masseur- und Physiotherapeutengesetz, im Rettungsassistentengesetz und im pharmazeutisch-technischen Assistentengesetz. Die einzige Ausnahme, die im Rettungsassistentengesetz enthaltene Altersgrenze, bleibt unberührt, da die Auszubildenden regelmäßig als Fahrer des Rettungswagens eingesetzt werden. Dafür müssen sie über eine Fahrerlaubnis verfügen. Bewerberinnen und Bewerber, die die schulischen Voraussetzungen erfüllen, aber noch nicht alt genug sind, verlieren zurzeit ein Jahr, weil die Ausbildungen einmal jährlich beginnen. Dieses Jahr muss mit irgendwelchen anderen Maßnahmen überbrückt werden. Das ist nicht zeitgemäß und entspricht bildungspolitisch nicht unseren Grundsätzen! Mit dem Wegfall der Altersgrenze soll deshalb den Schülern und Schülerinnen ein Eintritt in diese Ausbildungen ohne Verzögerungen ermöglicht werden. Für den Wegfall der Altersgrenze sprach sich auch die überwiegende Mehrheit der Sachverständigen in einer öffentlichen Anhörung aus. Die persönliche Eignung hängt nicht zwingend mit dem Lebensalter der Bewerber zusammen. Und eine streng am Lebensalter ausgerichtete Grenze ist keine Gewähr dafür, dass die persönliche Reife für eine Ausbildung vorliegt. Wir wollen hier den Schulen mehr Möglichkeiten und mehr Verantwortung übertragen. Die Berücksichtigung des Alters und der persönlichen Reife hat der Gesetzgeber im Rahmen des Alten- und Krankenpflegegesetzes von 2003 bereits vorgesehen. Und das hat sich bewährt. Die Krankenpflegeschulen berichten über positive Erfahrungen, weil sie mehr Ermessensspielraum erhalten haben. Das heißt aber nicht zwangsläufig, dass jetzt nur noch junge Bewerberinnen und Bewerber aufgenommen werden, wie wir von den Sachverständigen bei der Anhörung erfahren konnten. Auch bei anderen Heilberufen ohne Mindestalter, wie etwa Ergotherapeuten oder medizinisch-technische Assistenten, gibt es keine negativen Erfahrungen. Die Zahl der Schulabgänger sinkt ständig, sodass in den kommenden Jahren bis zu 100 000 Bewerber für Ausbildungen weniger zur Verfügung stehen. Besonders betroffen von diesem Mangel sind die Gesundheitsberufe. Deshalb gibt es dringenden Handlungsbedarf!

Dr. Konrad Schily (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003840, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das Problem ist richtig erkannt und nach Auffassung der Fraktion der FDP sachgerecht gelöst. Die Mindestalterregelung wird aus dem Gesetz herausgenommen. Das Gesetz eröffnet den Schulen die Freiheiten, in eigener Verantwortung ohne Altersvorgabe die Schülerinnen und Schüler in den verschiedenen Berufsgruppen zur Ausbildung aufzunehmen. Die FDP-Fraktion stimmt dem Gesetzentwurf zu.

Frank Spieth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003849, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Der hier vom Bundesrat vorgelegte Gesetzentwurf findet die volle Zustimmung meiner Fraktion. In dem Gesetzentwurf wurde ein erstaunlich lebensnaher Vorschlag gemacht, der mich nach drei Jahren Bundestagspraxis positiv überrascht hat. Zum Sachverhalt: Bisher dürfen Auszubildende bestimmte Heilberufe, wie zum Beispiel Physiotherapeut, Logopäde oder Hebamme erst ab dem 18. Lebensjahr erlernen, weil sie erst dann laut derzeit Zu Protokoll gegebene Reden bestehendem Gesetz die entsprechende Reife für diese Berufe mitbringen. Das Problem dabei ist nur, dass Schüler in den seltensten Fällen bei Abschluss der 10. Klasse schon 18 Jahre alt sind. In der Folge tut sich für die Auszubildenden zwischen Schule und Ausbildung eine Lücke von bis zu zwei Jahren auf, die zu Warteschleifen zwingt. Dies soll jetzt anders werden. Um den Auszubildenden einen nahtlosen Übergang nach Abschluss der 10. Klasse in ihr Berufsleben zu ermöglichen, sind die jetzt vorgelegten Änderungen lange überfällig. Warum soll ein 17-jähriger Auszubildender nicht die nötige Reife für einen Heilberuf besitzen, die dann ein 18-jähriger Auszubildender besitzen soll? Wieso soll eine 16-jährige Schülerin qua Gesetz nicht mit einer Ausbildung zur Hebamme beginnen dürfen? Die jetzt vorgelegten Regelungen, die Reife der Auszubildenden durch die Berufsschulen und nachrangig durch die Ausbildungsbetriebe individuell einschätzen zu lassen, entspricht wesentlich mehr den Realitäten, als diese Eignung durch ein Gesetz festzulegen. Dies wurde auch in der Anhörung von allen Sachverständigen bestätigt. So müssen die jungen Menschen, die den Wunsch verspüren, sich in diesen Heilberufen ausbilden zu lassen, keine Lücken in ihren Lebensläufen mehr fürchten. Schon 2003 wurde im Rahmen des Altenpflegegesetzes und des Krankenpflegegesetzes vorgesehen, dass die Berufsschulen für Bewerber zum Beruf der Alten- und Krankenpflege auf Grund ihrer Fachkompetenz diese Eignung feststellen sollen. Wenn dies jetzt auch auf Physiotherapeuten, Masseure, Logopäden, Hebammen und andere Heilberufe angewandt wird, ist dies nur konsequent und richtig. Schön, dass auch die Union und die FDP im Gesetzgebungsverfahren von der Notwendigkeit der Beurteilung der Reife durch die Schulen überzeugt wurden. Die Linke jedenfalls stimmt dem Gesetzentwurf zu.

Elisabeth Scharfenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003835, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen wird sich in der Abstimmung zum vorliegenden Gesetzentwurf des Bundesrates enthalten. Grundsätzlich sind wir Grünen der Ansicht, dass Altersgrenzen nur bedingt in der Lage sind, zu gewährleisten, dass Auszubildende einen gewissen Reifegrad für das entsprechende Berufsbild vorweisen. Das im Gesetzentwurf angeführte Argument, dass durch die Streichung der Altersgrenze verhindert werden kann, eine zu große zeitliche Lücke zwischen Schulabschluss und Ausbildungsbeginn entstehen zu lassen, ist durchaus plausibel. Insofern spricht rein arbeitsmarktpolitisch einiges für diese Maßnahme. Wir dürfen jedoch nicht vergessen, dass es sich bei all den Berufen, um die es in diesem Gesetz geht, um personennahe und mit hoher Verantwortung einhergehende Tätigkeiten handelt. Dies kommt uns bei der Diskussion um dieses Gesetz etwas zu kurz. Klare Kriterien, wie die Ausbildungsträger in Zukunft die „Reife“ der Schülerinnen und Schüler beurteilen könnten, werden im Gesetz nicht benannt. Zumindest wird das Problembewusstsein dafür nicht deutlich genug. Angesichts der Tatsache, dass sich viele im Wettbewerb stehende Schulen, etwa in der Logopädie-Ausbildung, privat über - oftmals recht hohe - Schulgelder der Azubis bzw. ihrer Eltern finanzieren, ist es nicht garantiert, dass hier wirklich immer die „Reife“ das ausschlaggebende Kriterium für oder gegen eine Einstellung ist. Diese Frage, bei der es letztlich auch um die Versorgungsqualität geht, die bei den Patientinnen und Patienten ankommt, muss hier ebenfalls diskutiert und vor allem auch in Zukunft genau beobachtet werden. Dies leistet der Gesetzentwurf nicht. Er bietet keine geeigneten Instrumente zur Wirkungsbeobachtung an. Aus den Reihen einiger Berufsverbände ist im Rahmen der öffentlichen Anhörung zu dem vorliegenden Gesetzentwurf auch gefordert worden, den Zugang zu einer Ausbildung nicht unbedingt an ein Mindestalter, zumindest aber einen bestimmten Schulabschluss zu binden, um auf diesem Wege eine gewisse kognitive Reife der Schülerinnen und Schüler sicherzustellen. Ohne dass wir uns dieses Argument sofort zueigen machen möchten, so wollen wir doch feststellen, dass wir eine ernsthafte Abwägung solcher Bedenken in dem gesamten Prozess durch die Große Koalition vermisst haben und auch nicht sehen, dass dies in Zukunft geschehen soll. Zudem hat eine Differenzierung der verschiedenen Berufsbilder nicht stattgefunden. Unter Umständen ist es jedoch ein großer Unterschied, ob ich die Altersgrenze in der Physiotherapie- oder in der Hebammenausbildung streiche. In diesem Gesetz aber werden einfach die entsprechenden Berufe über einen Kamm geschert, was nicht gerade für eine differenzierte Wahrnehmung der Gesundheitsberufe in der Großen Koalition spricht. Kurzum: Trotz einiger Vorteile, die wir durchaus sehen, stehen am Ende doch eine deutliche Skepsis und einige unbeantwortete Fragen, die uns eine Zustimmung nicht möglich machen.

Rolf Schwanitz (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002123

Mit dem vorliegenden Gesetz entfällt eine Zugangssperre für die Ausbildungen, die im Masseur- und Physiotherapeutengesetz, Logopäden-, Hebammen- sowie PTAGesetz geregelt sind. Diese Gesetze enthalten noch Vorgaben für ein Mindestzugangsalter, das die Bewerberinnen und Bewerber für die jeweiligen Ausbildungen erreicht haben müssen. Ein nahtloser Übergang von der Schule in die Ausbildung ist damit nicht immer möglich. Das werden wir mit dem vorliegenden Gesetz ändern. Altersvorgaben sind nicht mehr zeitgemäß. Jugendlichen darf zwar auch heute nicht alles zugemutet werden. Sie sind jedoch früher reif. Sie sind damit früher in der Lage, auch mit schwierigen Situationen umzugehen, in die sie durch die Betreuung der Patientinnen und Patienten und die Konfrontation mit den verschiedensten Krankheitsbildern während der Ausbildung kommen können. Hierzu tragen auch die Schulen bei. Sie können die notwendige persönliche Reife der Bewerberinnen und Bewerber durch eine geeignete Auswahlentscheidung siZu Protokoll gegebene Reden cherstellen. Sie können die Ausbildungen so organisieren, dass auch Arbeitsschutzaspekten entsprochen werden kann. Das ist ein geringer Mehraufwand, wenn es darum geht, junge Menschen zeitnah in die von ihnen gewünschte Ausbildung zu lassen. Die Bundesregierung begrüßt und unterstützt daher das mit dem Gesetz beabsichtigte Ziel.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt auf Drucksache 16/9577, den Gesetzentwurf des Bundesrates auf Drucksache 16/1031 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in dieser Fassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen des Hauses bei Enthaltung der Fraktion Die Grünen angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit dem gleichen Mehrheitsverhältnis wie zuvor angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 22 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Werner Dreibus, Dr. Barbara Höll, Ulla Lötzer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Verstöße gegen den Mindestlohn im Baugewerbe wirksam bekämpfen - Drucksache 16/9594 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen, und zwar von den Kollegen Paul Lehrieder, Andreas Steppuhn, Heinrich Kolb, Werner Dreibus und der Kollegin Brigitte Pothmer.

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Heute hat sich die Linkspartei den Mindestlohn im Baugewerbe ausgesucht, um uns den x-ten Aufguss ihrer ewig gleichen Forderungen nach mehr Kontrolle und mehr Staat auf dem Arbeitsmarkt zu servieren. Landauf landab sind immer wieder Forderungen nach weniger Bürokratie und Verwaltungsvereinfachung zu hören. Kommt es aber zu einer Gesetzesübertretung, ziehen Sie sozusagen als Soforttherapie neue und mehr Vorschriften aus dem Ärmel. So kann man vielleicht Meister in der Disziplin „Populismus“ werden, aber keine ernstzunehmende Politik machen. Ich will ja gar nicht in Abrede stellen, dass es die von Ihnen aufgeführten Missstände auf Baustellen gibt, dass insbesondere Mindestlohnbestimmungen wiederholt nicht eingehalten wurden. Insofern kann ich Ihnen folgen, als Sie fordern, dass wirksam kontrolliert werden muss, ob bestehende Gesetze auch befolgt werden. Ihr Forderungskatalog preist zum Teil als Neuheit an, was längst schon auf dem Markt ist, zum Teil verlangt er Verschärfungen, die durch das Ausmaß der Vorfälle kaum gerechtfertigt sind. Die IG Bau hat ausdrücklich klargestellt, dass die überwiegende Mehrheit der Bauarbeiter in Deutschland den Tariflohn bekommt. Es ist demnach schlicht falsch, wenn der Eindruck entsteht, dass 150 000 deutsche Bauarbeiter unter Mindestlohn bezahlt würden. Diese Aussage, wie sie in der „Kölnischen Rundschau“ vom 24. September 2007 zitiert wird, lassen Sie in Ihrer Antragsbegründung bezeichnenderweise unter den Tisch fallen. Der Präsident des Zentralverbandes des Deutschen Baugewerbes, Hans-Hartwig Loewenstein, hat zwar gesagt, dass die Größenordnung „150 000“ realistisch sei, wenn die aus den mittel- und osteuropäischen Ländern auf deutsche Baustellen entsandten Beschäftigten einbezogen würden. Ohne die Lohnuntergrenze würden aber ihm zufolge noch mehr Menschen aus Osteuropa zu sehr niedrigen Löhnen auf deutschen Baustellen arbeiten, was die Wirksamkeit der derzeitigen Rechtslage unterstreicht. Natürlich sind 150 000 Betroffene 150 000 zu viel. Natürlich müssen wir auf die Einhaltung der Gesetze drängen und Verstöße entsprechend sanktionieren, wie wir dies immer schon getan haben. Ein eigentlich naheliegendes „Gegenmittel“ habe ich in Ihrem Antrag aber vergeblich gesucht: Auch und gerade die Tarifpartner, die die Mindestlöhne ja ausgehandelt haben, sind in der Pflicht, wenn es um bessere Kontrollen geht. ZDB-Präsident Loewenstein hat sich im September vergangenen Jahres dafür ausgesprochen und zum Beispiel Berufskleidung mit speziellen Emblemen vorgeschlagen, an denen legal Beschäftigte sofort zu erkennen sein sollen. Selbstverständlich ist auch der Staat gefragt, wenn es darum geht, die Einhaltung von Mindestlöhnen zu überwachen. Zur direkten Bekämpfung von Missbräuchen sind vonseiten der Bundesregierung bereits differenzierte Maßnahmen auf den Weg gebracht worden. Es ist verständlich, dass diese nach ihrer Einführung erst greifen müssen, bevor sie ihre Wirkung entfalten. Mittlerweile haben sie sich als sehr viel effektiver erwiesen, als es Ihr Antrag suggeriert, liebe Kollegen von der Linkspartei. Zoll und Finanzkontrolle Schwarzarbeit haben in den vergangenen Jahren viel geleistet. Natürlich werden wir uns in unserer Gesellschaft immer mit kriminellen Energien auseinandersetzen müssen. Aber ich bin überzeugt: Die Kontrollen des Zolls haben eine nicht zu unterschätzende präventive Wirkung. Unsere gesetzlichen Arbeitsund Sozialstandards sind keine zahnlosen Papiertiger. Die Beamten der Zollverwaltung sind bei der Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten oder Straftaten in unmittelbarem Zusammenhang mit § 2 Abs. 1 SchwarzArbG Ermittlungspersonen der Staatsanwaltschaft. Arbeitgeber, Arbeitnehmer und Dritte, die bei der Prüfung angetroffen werden, haben die Prüfung zu dulden und müssen nach § 3 Abs. 1 SchwarzArbG auf Verlangen Auskunft über relevante Tatsachen geben. Ausländische Arbeitnehmer sind verpflichtet, Pass und Aufenthaltsgenehmigung oder Duldung vorzulegen. Arbeitgeber haben nach § 5 Abs. 1 Satz 4 bis 8 SchwarzArbG in automatisierten DaPaul Lehrieder teien gespeicherte Daten zur Verfügung zu stellen. Das mussten im vergangenen Jahr auch einige Unternehmen aus dem Baugewerbe und aus dem Gebäudereinigerhandwerk erfahren. Bei mehr als 22 000 Kontrollen wurden im vergangenen Jahr bei knapp 12 Prozent - also gut 2 600 - der insgesamt überprüften Unternehmen Ermittlungsverfahren wegen des Tatbestands des Mindestlohnverstoßes eingeleitet. Die bisherigen Ermittlungen zeigen zudem, wie variantenreich Mindestlohnbetrüger vorgehen: Vielfach werden erstens die tatsächlichen Arbeitszeiten in der Buchführung falsch ausgewiesen. Oder Arbeitnehmer - oftmals aus den neuen EU-Mitgliedstaaten - werden zweitens als „Selbstständige Unternehmer“ umetikettiert. Auch erhalten drittens Arbeitnehmer häufig lediglich den Mindestlohn für ungelernte Arbeitskräfte, obwohl sie eigentlich Fachkräfte sind. Je klarer die Strukturen kriminellen Vorgehens zutage treten, desto zielgerichteter kann der Rechtsstaat sanktionieren. Der Antrag der Linken nimmt zwar auf die vorhandenen Sanktionsmöglichkeiten Bezug, gibt davon aber kein umfassendes Bild. Deshalb hier noch einmal das Wichtigste in Kürze: Verstöße gegen das AEntG können als Ordnungswidrigkeit mit Geldbußen bis zu 500 000 Euro geahndet werden. Zusätzlich kann sich unter Umständen eine Strafbarkeit wegen Wuchers sowie wegen Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt, § 266 a StGB, ergeben. Zusätzlich zu einer Geldbuße kann eine Gewinnabschöpfung in unbegrenzter Höhe erfolgen. Ausländischen Arbeitgebern, die ihren Melde- oder Aufzeichnungspflichten nicht vollständig nachkommen, drohen Bußgelder bis 25 000 Euro. Wegen Unzuverlässigkeit können Bewerber um öffentliche Aufträge für eine angemessene Zeit von der Vergabe ausgeschlossen werden, wenn sie wegen eines Verstoßes gegen das AEntG mit einer Geldbuße von wenigstens 2 500 Euro belegt worden sind, § 6 AEntG. Die Dauer des Ausschlusses von Bauaufträgen - auch auf Länderebene - ist unbestimmt: Sie bemisst sich je nach Schwere des Vergehens und kann für mehrere Jahre gelten. Der Nachweis für die Wiedererlangung der „Zuverlässigkeit“ obliegt dem Arbeitgeber. Zuständig für den Ausschluss sind die Vergabestellen, die jederzeit von den Bußgeldbehörden Auskünfte einholen können. Weitere Rechtsgrundlage für einen Ausschluss von öffentlichen Aufträgen ist § 21 SchwarzArbG. Der drohende Ausschluss wird manchen Unternehmer zum Umdenken veranlassen. Ab einer Geldbuße von 100 Euro erfolgt die Eintragung in das Gewerbezentralregister. Die Arbeitsgruppe „Einführung einer Sozialkarte zur Bekämpfung von Schwarzarbeit und illegaler Beschäftigung“ des Bundesfinanz- und des Bundesarbeitsministeriums ist kürzlich zu dem Ergebnis gekommen, dass es völlig genüge, eine Mitführungspflicht für Ausweise in Branchen einzuführen, die wie der Baubereich besonders von Schwarzarbeit betroffen sind. Bauverbände wie der Zentralverband des Deutschen Baugewerbes haben bereits signalisiert, dass diese Lösung anstelle einer sogenannten Bau-Card ausreichend sei. Ich finde es bemerkenswert, dass die Linkspartei dies in ihrer Antragsbegründung erwähnt und somit zur Kenntnis nimmt, sich gleichwohl aber als einzig wahrer Impulsgeber aufspielt. Um klarzustellen: Die Bundesregierung hat schon längst die Tatsachen geschaffen, auf die die Linkspartei nun ihr Etikett kleben möchte. Neben den Mitwirkungsmöglichkeiten der Tarifparteien bei der Mindestlohnkontrolle lässt die Linkspartei in ihrem Antrag übrigens noch einen weiteren Aspekt unter den Tisch fallen: § 8 des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes. Ein Arbeitnehmer, der in den Geltungsbereich dieses Gesetzes entsandt ist oder war, kann demnach eine auf den Zeitraum der Entsendung bezogene Klage auf Gewährung der Arbeitsbedingungen nach den §§ 1, 1 a und 7 auch vor einem deutschen Gericht für Arbeitssachen erheben. Diese Klagemöglichkeit besteht auch für eine gemeinsame Einrichtung der Tarifvertragsparteien nach § 1 Abs. 3 in Bezug auf die ihr zustehenden Beiträge. Wir sind uns der Probleme bewusst, die es im Baubereich noch immer in Bezug auf Mindestlohn und illegale Beschäftigung gibt. Uns stehen verschiedene Sanktionsmechanismen und strafrechtliche Mittel zur Verfügung, um dagegen vorzugehen. Wir werden die Entwicklung auf dem Bausektor sorgfältig beobachten. Gesetzesverschärfungen können nur das letzte Mittel sein. Den Antrag der Linken lehnen wir somit konsequenterweise ab.

Andreas Steppuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003850, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die SPD-Bundestagsfraktion hat dafür gesorgt, dass flächendeckende allgemeinverbindliche Mindestlöhne eingehalten und Verstöße möglichst wirksam bekämpft werden können. Dazu gehört vor allem der Baumindestlohn. Zuständig hierfür ist die Finanzkontrolle Schwarzarbeit, die diese Kontrolltätigkeit zu organisieren hat. Die noch unter der rot-grünen Bundesregierung beschlossenen Strukturveränderungen und damit verbunden die in den zurückliegenden Jahren Schritt für Schritt umgesetzten Organisationsveränderungen bei der Finanzkontrolle Schwarzarbeit haben nicht nur zu stärkeren, sondern auch zu wirksameren Kontrollen geführt. Die Arbeit der Finanzkontrolle Schwarzarbeit ist dadurch deutlich effektiver und erfolgreicher geworden. Unser Ziel war es von Anfang an, bei der Einführung von Mindestlöhnen auch für eine entsprechende Durchsetzung Sorge zu tragen. Deshalb haben wir bereits in der 14. Wahlperiode mit dem Gesetz zur Bekämpfung illegaler Beschäftigung und Schwarzarbeit wichtige Instrumente installiert. Seither besteht zum Beispiel die Möglichkeit, bei Baustellenkontrollen mittels moderner Computertechnik einen Datenabgleich mit anderen Behörden vorzunehmen. Die Bekämpfung von illegaler Beschäftigung und Schwarzarbeit und damit verbunden auch die Kontrolle von Mindestlöhnen ist mittlerweile zum Tagesgeschäft der Finanzkontrolle Schwarzarbeit geworden. Dazu gehört aber nicht nur die Kontrolle der Mindestlöhne im Baugewerbe, sondern auch die Kontrolle im Maler- und Lackiererhandwerk, im Dachdeckerhandwerk, im Abbruchgewerbe, im Gebäudereinigerhandwerk und - nicht Zu Protokoll gegebene Reden zu vergessen - nach der dortigen Einführung auch im Bereich der Briefdienstleister. Und trotz der Vielzahl an Branchen, die in das Aufgabengebiet der Finanzkontrolle Schwarzarbeit fallen: Die Ergebnisse und erkennbaren Erfolge der Finanzkontrolle Schwarzarbeit sprechen für sich. Sicherlich - und das ist an dieser Stelle auch nicht zu verschweigen - stellt ein besonderes Problem die Kontrolle von Mindestlöhnen osteuropäischer Arbeitnehmer dar. Hierbei geht es sicherlich nicht nur um die formale Einhaltung von Mindestlöhnen, sondern auch um die tatsächliche Auszahlung der Löhne selbst. Es bestehen zum Teil kriminelle Strukturen. Hier handelt es sich nicht um Kavaliersdelikte, sondern um organisierte Kriminalität, die nicht einfach zu bekämpfen ist. Auch hier kann die Bekämpfungsbehörde beachtliche Erfolge verbuchen. Hieran anknüpfend hat die Bundesregierung das kürzlich vom Bundeskabinett verabschiedete Aktionsprogramm Recht und Ordnung auf dem Arbeitsmarkt auf den Weg gebracht. Wir begrüßen ausdrücklich eine ergänzende Gesetzesinitiative zur Bekämpfung von illegaler Beschäftigung und Schwarzarbeit. Es ist erfreulich, dass Sie, meine Damen und Herren von der Linksfraktion, die Punkte des Aktionsprogramms nochmals benennen und in Ihrem Antrag aufschreiben. Es wäre schön, wenn Sie dann später auch Ihren Forderungen tatsächlich zustimmen. Beispielhaft gehe ich an dieser Stelle auf zwei Punkte Ihres Antrages ein. Sie fordern zum einen die Meldung zur Sozialversicherung bei Beginn eines neuen Beschäftigungsverhältnisses. Das am 4. Juni 2008 vom Bundeskabinett verabschiedete Aktionsprogramm sieht genau dies vor: die Einführung einer Sofortmeldung, das heißt der Personendaten des Beschäftigten, der Angabe des Arbeitgebers sowie das Datum der Beschäftigungsaufnahme. Ein zweiter Punkt Ihres Antrages will die Mitführungspflicht von Personaldokumenten. Auch dieser Punkt, die Pflicht zur Mitführung der Personaldokumente, ist bereits im Aktionsprogramm der Bundesregierung enthalten. An dieser Stelle möchte ich aber noch einen weiteren für uns wichtigen Punkt erwähnen. Gerade im Baugewerbe, aber auch im Bauausbaugewerbe und somit in den klassischen Handwerksbereichen zeigt sich, dass Mindestlöhne zu einem faireren Wettbewerb bei den Unternehmen untereinander führen. Genau dies haben wir auch mit der Einführung der Mindestlöhne in den genannten Bereichen gewollt. Wenn sich Unternehmen jedoch nicht an die im Arbeitnehmer-Entsendegesetz für allgemeinverbindlich erklärten Mindestlöhne halten - und das muss man an dieser Stelle so deutlich sagen -, betreiben sie schlicht und ergreifend Lohndumping und einen Gesetzesverstoß. Das ist einerseits für die Sozialversicherungssysteme schädlich und verhindert andererseits legale Beschäftigung. Um es kurz zu sagen: Dumpinglöhne und Steuer- und Abgabenhinterziehung schädigen ehrliche Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Dafür haben wir gerade mit Blick auf die Menschen und in Bezug auf unsere Sozialversicherungssysteme kein Verständnis. Solches Verhalten ist schlicht Gewinnmaximierung von Unternehmen auf Kosten anderer. Ein weiterer Punkt: Die IG Bau-Agrar-Umwelt, der Hauptverband der Deutschen Bauindustrie, der Zentralverband des Deutschen Baugewerbes, die Tarifvertragsparteien im Bau- und Ausbaugewerbe und die Sozialkassen der Tarifvertragsparteien arbeiten sehr eng mit der Finanzkontrolle Schwarzarbeit zusammen; und dies nicht erst seit gestern. Richtig ist sicherlich die Situation, dass sich die Vollstreckung der von den Behörden der Zollverwaltung festgesetzten rechtskräftigen Geldbußen gegen ausländische Unternehmen, das heißt also im Herkunftsland, aufgrund von bilateraler Anerkennung und Rechtsprechungsabkommen als schwierig darstellt. Im Ausland fehlt es derzeit an einer tragfähigen völkerrechtlichen Grundlage, auf die entsprechende Beitreibungsersuchen der Vollstreckungsstellen gestützt werden könnten. Aber auch hier gibt es bereits Erfolge. Mit der vom BMF und BMAS eingerichteten Task Force werden bereits bilaterale Abkommen vereinbart, und ein Erfolg ihrer Arbeit ist der elektronische Datenaustausch mit einzelnen verschiedenen EU-Staaten. Daher müssen wir hier ansetzen und auf der europäischen Ebene entsprechende Regelungen und Vereinbarungen treffen und forcieren, die eine bessere Vollstreckung ermöglichen. Ein weiterer Ansatz könnte der Rahmenbeschluss des Europäischen Rates vom 24. Februar 2005 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung von Geldstrafen und Geldbußen sein. Danach sollen in einem EU-Mitgliedstaat verhängte Geldstrafen und Geldbußen europaweit gegenseitig anerkannt und vollstreckt werden. Hier sind nun die Mitgliedstaaten gefordert, diesen Rahmenbeschluss in nationales Recht umzusetzen. In Deutschland wird bereits an einem entsprechenden Gesetzentwurf gearbeitet. Das ist jedoch nur die eine Seite. Sorgen machen wir uns insbesondere um den zum Teil mafiös organisierten Menschenhandel, der ebenfalls dahintersteckt. Deshalb ist es gut und richtig, dass wir alles daransetzen, die Arbeit der Finanzkontrolle Schwarzarbeit weiterzuentwickeln. Daher ist es auch in Zukunft erforderlich, die Finanzkontrolle Schwarzarbeit personell entsprechend auszustatten. Derzeit scheint der Personalbestand der Finanzkontrolle Schwarzarbeit mit knapp 700 Stellen noch als ausreichend. Wann und ob es angesichts der Aufnahme weiterer Branchen in das Arbeitnehmer-Entsendegesetz zukünftig zu einer verbesserten Personalausstattung kommen wird, dafür werden Bund und Länder sicherlich Sorge tragen. Die Bundesregierung und die aus SPD und CDU/CSU bestehende Koalitionsfraktion haben ein großes Interesse daran - wie eingangs bereits erwähnt -, Mindestlöhne wirksam im Interesse der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu kontrollieren und umzusetzen. Diese Aufgabe wird auch von der Finanzkontrolle Schwarzarbeit immer besser erfüllt. Das heißt jedoch nicht, dass es nicht noch besser und effektiver erfolgen kann. Sie können sich sicher sein: Hieran haben wir ein großes Interesse. Wichtig ist dabei: Je einfacher Rechtsansprüche formuliert sind, desto einfacher ist die Kontrolle. Daher werden wir auch hieran arbeiten. Zu Protokoll gegebene Reden Weiter ist wichtig, dass Arbeitgeber, die Subunternehmer beauftragen, in Haftung genommen werden können. Die präventive Wirkung beim Mindestlohn Bau wird beispielsweise auch durch die bestehende Generalunternehmerhaftung nicht zu unterschätzen sein. Lohndumping ist kein Kavaliersdelikt. Lohndumping gehört nicht nur wirksam kontrolliert. Lohndumping und Wettbewerbsverstöße gehören bestraft.

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Lassen Sie mich zunächst feststellen: Ich finde es schon bemerkenswert, wie Die Linke die Spitzenverbände der Bauwirtschaft für ihre Zwecke vereinnahmt und sich diejenigen Positionen des Arbeitgeberverbandes herauspickt, die ihr gerade ins Konzept passen. Sonst schlägt die Linke gegenüber den Arbeitgebern ja doch eher andere Töne an. Das ist nicht nur opportunistisch, das ist auch ein Stück weit unglaubwürdig. Für die FDP sage ich: Schwarzarbeit, illegale Beschäftigung und Dumpinglöhne sind nicht hinnehmbar und müssen bekämpft werden. Ich sage für die FDPFraktion aber genauso klar: Die im Antrag der Linken vorgeschlagenen Maßnahmen taugen dazu nicht. Die Maßnahmen sind ineffektiv, zu bürokratisch, zu teuer und für mich der entscheidende Punkt: Sie sind zum Teil sogar schädlich und dazu angetan, reguläre Arbeitsplätze zu vernichten. Es ist nicht zielführend, den ehrlichen Unternehmen zusätzliche bürokratische Belastungen aufzuerlegen, um die schwarzen Schafe zu bekämpfen. Dadurch werden die seriösen Firmen mit zusätzlichen Kosten belastet. Wir brauchen effektive und unbürokratische Maßnahmen, um illegale Beschäftigung, Schwarzarbeit und Lohndumping zu bekämpfen. Eine wirksame Bekämpfung der erkannten Missstände beginnt mit der Suche nach den Ursachen und Gründen. Ich stelle fest, und hier beziehe ich mich auf den Präsidenten des Zentralverbandes des Deutschen Baugewerbes, Dr. Loewenstein, dass im Wesentlichen zwei Gruppen von Lohndumping betroffen sind: Zum einen sind es die illegal beschäftigten Arbeitnehmer, die zum Großteil von ausländischen Subunternehmern kommen. Zum anderen sind es diejenigen, die formal als selbstständig firmieren, aber nur scheinbar legal arbeiten. Auch sie kommen zum überwiegenden Teil aus dem europäischen Ausland. Darüber hinaus und ganz generell ist als ein weiterer Grund natürlich noch die zu hohe Steuer- und Abgabenlast zu nennen, die mit dafür verantwortlich ist, dass Schwarzarbeit und illegale Beschäftigung nicht zurückgehen, sondern eher noch zunehmen. Legale Arbeit ist in Größenordnung teurer als illegale Arbeit. Ich betone das, weil die Fraktion Die Linke sich ja dadurch auszeichnet, dass sie regelmäßig mit obskuren Vorschlägen die Steuerund Abgabenbelastung von Unternehmen und Bürgern in der Tendenz noch weiter erhöhen will. Ein wirksames Mittel zur Beseitigung der Missstände ist, ein Unterlaufen der gesetzlichen Vorschriften weniger attraktiv zu machen. Doch in das Denken der Linken passt ein solcher Lösungsvorschlag natürlich nicht. Viel lieber wird mit Drohungen und Sanktionen hantiert, auch wenn dabei das Kind mit dem Bade ausgeschüttet wird. Allein Ihre Forderung, Unternehmen umgehend von der Bauleistung auszuschließen, wenn Verstöße gegen Mindestlohnvorschriften, illegale Beschäftigung oder Schwarzarbeit festgestellt werden, offenbart Ihr wirtschaftspolitisches Verständnis. Da nehmen Sie den Verlust von regulären Arbeitsplätzen in Kauf, ohne in Betracht zu ziehen, wie hoch bzw. in welchem Umfang der Schaden eines Verstoßes zu beziffern ist. Das ist Ideologie pur und zeigt, wie es um Ihr Verhältnis zu den Unternehmen in der Bauwirtschaft wirklich bestellt ist. Ihr Vorschlag, die Generalunternehmerhaftung auszuweiten und die Generalunternehmerhaftung für die Zahlung der Mindestentgelte mit der für Sozialversicherungsbeiträge zu harmonisieren, ist ebenfalls abzulehnen. In einem sechs Seiten langen Bericht der Bundesregierung wurde bereits Anfang 2007 festgestellt, dass sich diese Regelungen nicht bewährt haben und zudem ein Bürokratieaufwand in Höhe von 53 Millionen Euro einer Haftungssumme von circa 13 000 Euro gegenüber stehe. Angesichts dieser inakzeptablen Kosten-Nutzen-Rechnung verwundert Ihr Vorschlag doch sehr. Es zeigt sich wieder einmal, dass die Kreativität der Fraktion der Linken sich darauf beschränkt, zusätzliche bürokratische Regelungen zu erfinden, die die Unternehmen fesseln sollen. Noch einmal ganz klar: Die FDP tritt für eine wirksame Bekämpfung der Schwarzarbeit ein. Dies ist allein mit den bereits bestehenden gesetzlichen Maßnahmen wie dem Schwarzarbeitbekämpfungsgesetz sowie den Vorschriften über den Sozialversicherungsausweis anscheinend noch nicht in ausreichendem Maße gelungen. Schwarzarbeit schädigt den Staat, schädigt die sozialen Sicherungssysteme und schadet den Betrieben in der Baubranche, die regulär sozialversicherungspflichtige Arbeitnehmer beschäftigen. Als ein geeignetes Mittel zur Bekämpfung der Schwarzarbeit sieht die FDP zum Beispiel die Einführung einer elektronisch lesbaren Chipkarte für den Baubereich. Diese stellt einen relativ schnell realisierbaren Hebel zur Bekämpfung der Schwarzarbeit dar. Das Unterlaufen der Zahlung der tariflichen Mindestlöhne im Baubereich wird vor allem durch Schwarzarbeit ermöglicht. Mit der Einführung der elektronisch lesbaren Chipkarte könnte auf Baustellen schnell, unbürokratisch und ohne großen Kostenaufwand festgestellt werden, wer sich dort legal und wer sich dort illegal aufhält. Doch trotz vollmundiger Ankündigungen seitens der Großen Koalition ist hier nach fast drei Jahren schwarzroter Regierungsverantwortung immer noch nichts geschehen. Lassen Sie mich zum Schluss noch Folgendes bemerken: Die Senkung der Lohnzusatzkosten ist mit Sicherheit das wirksamste Mittel bei der Bekämpfung von Schwarzarbeit, illegaler Beschäftigung und Dumpinglöhnen. Wir brauchen darüber hinaus ein flexibles Tarifrecht, damit sich die Löhne wieder stärker an der Produktivität orientieren können. In einem flexiblen Arbeitsmarkt können sich die Unternehmen den veränderten Wettbewerbsbedingungen anpassen. Dies hilft letztlich den ArbeitnehZu Protokoll gegebene Reden mern am besten. Der Antrag der Fraktion Die Linken ist dazu mehr als untauglich.

Werner Dreibus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003749, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Der Mindestlohn im Baugewerbe ist ein Erfolg. Nach den übereinstimmenden Einschätzungen der IG BauenAgrar-Umwelt, IG BAU, und der Spitzenverbände der Bauwirtschaft wurden durch den Mindestlohn Zehntausende Arbeitsplätze erhalten. Und ich füge hinzu: Der Mindestlohn sorgt für ein auskömmliches Einkommen für alle Beschäftigten im Baugewerbe, eine Situation, von der die Beschäftigten vieler anderer Branchen nur träumen. Diese Vorbildfunktion des Baumindestlohns müssen wir erhalten. Dazu müssen Verstöße wirksam bekämpft werden. Wir brauchen ausreichende Kontrollen und eine strikte Ahndung von Verletzungen des Mindestlohngebots. Das BMAS hat kürzlich eingeräumt, dass es hier Nachbesserungsbedarf gibt. Diese Sicht teilen auch die IG BAU, die Bau-Arbeitgeberverbände und die für die Kontrolle und Ahndung zuständige Finanzkontrolle Schwarzarbeit, FKS, des Zolls. Wir fordern die Bundesregierung deshalb dringend dazu auf, es nicht bei der Feststellung von Defiziten zu belassen und unverzüglich die entsprechenden gesetzlichen Grundlagen vorzubereiten. Bereits im März hatte das BMF dem zuständigen Bundestagsausschuss die Ergebnisse einer Evaluation der Bekämpfung von Schwarzarbeit und illegaler Beschäftigung für das Jahr 2007 mitgeteilt. Danach gibt es Verstöße, aber es gibt auch konkrete Vorstellungen zu wirksamen Gegenmaßnahmen. Jeder weitere Tag, den die Bundesregierung verstreichen lässt, ohne aktiv zu werden, ist ein Tag, an dem Beschäftigte auf dem Bau die ihnen zustehenden Löhne nicht erhalten. Meine Fraktion hat in Gesprächen mit Vertretern der Arbeitgeber und der Gewerkschaften eine Reihe praktikabler und wirksamer Maßnahmen für den Schutz des Mindestlohns in der Baubranche identifiziert. Diese sind in unserem Antrag aufgelistet und begründet. Ich hebe zwei Dinge hervor. Zum ersten gilt es, die Mitführung eines amtlichen Personaldokuments auf Baustellen oder an anderen Arbeitsstätten zur Pflicht zu machen. Beim heutigen Stand der Technik könnten die Kontrollbehörden an Ort und Stelle anhand der personenbezogenen Daten auf alle relevanten Datenbanken zugreifen. Die Frage „Illegal oder legal beschäftigt?“ würde sofort geklärt. Die Vertreter der Arbeitgeber, die zuständige Gewerkschaft, das Wirtschafts- und das Arbeitsministerium gehen übereinstimmend von einer hohen Wirksamkeit einer solchen Mitführungspflicht aus. Notwendig ist zum Zweiten, das Schlupfloch der nachträglichen Meldung eines neuen Beschäftigungsverhältnisses durch den Arbeitgeber zu schließen. Heute ist es zulässig, ein neues Beschäftigungsverhältnis bis zu sechs Wochen nach dem eigentlichen Beginn der Beschäftigung bei der Sozialversicherung zu melden. Die Baufirma etwa, die illegal beschäftigt, kann sich bei Kontrollen so immer darauf hinausreden, dass ein noch nicht gemeldeter Beschäftigter gerade erst eingestellt worden sei und die Meldung selbstverständlich noch erfolge. Das ist nicht hinnehmbar und dieser Missstand ist leicht abzustellen. Dass bestehende gesetzliche Bestimmungen auch durchgesetzt und vor Verletzungen bewahrt werden müssen, versteht sich von selbst. Ich erwarte daher eine konstruktive Diskussion unserer Vorschläge.

Brigitte Pothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003823, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die Baubranche ist eine der wenigen Branchen in Deutschland, die mit einem allgemeinverbindlichen Mindestlohn vor Lohndumping geschützt ist. Gleichzeitig wissen wir, dass es immer schwarze Schafe gibt, die diese Regelungen unterlaufen und ihre Beschäftigten mit weniger als dem Mindestlohn abspeisen wollen. „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“, dieser Satz gilt deshalb auch für die Baubranche. Um es deutlich zu sagen: Ja, wir Grünen wollen Mindestlöhne, und wenn es sie gibt, dann müssen sich selbstverständlich auch alle daran halten. Auch die Schwarzarbeit ist aus grüner Sicht inakzeptabel; sie muss ebenso energisch bekämpft werden wie der Lohnraub. Und Sie alle werden mir zustimmen, dass solche Ansagen umso wirkungsvoller sind, je besser sie mit einem entsprechenden Instrumentarium unterlegt sind. Aber - wie so oft - auch in diesem Aktionsfeld muss man die Bundesregierung zum Jagen tragen. Dafür ist der vorliegende Antrag genauso ein Indiz wie die vor wenigen Wochen hier im Parlament geführte Debatte um die Einführung einer Chipkarte im Baubereich. Vor einem halben Jahr hat der Bundesrechnungshof dem Arbeits- und dem Finanzminister ein umfangreiches Aufgabenpaket in Sachen Schwarzarbeit geschnürt. Zu Beginn dieses Monats haben das BMAS und das BMF ihr Aktionsprogramm für Recht und Ordnung auf dem Arbeitsmarkt vorgelegt. So weit, so gut. Wenn wir uns aber das Programm genauer angucken, dann kann ich hier sicherlich feststellen, dass es Schwarzarbeitern und Lohnräubern nicht das Fürchten lehren wird. Ich kann Ihnen auch sagen, warum das nicht passieren wird. In Ihrem Aktionsprogramm verkaufen Sie uns überwiegend „Prüfungen“, „Erwägungen“ und „Appelle“ als Maßnahmen. Erst gestern wurde Ihrem Programm im Finanzausschuss attestiert, dass darin lediglich ein Vorschlag des Bundesrechnungshofs aufgegriffen wird, und auch dieser - wen wundert‘s - wird lediglich geprüft. Meine Damen und Herren von der Regierung, so geht es nicht, wenn wir wirklich etwas gegen Mindestlohnbetrug und Schwarzarbeit nicht nur im Baubereich tun wollen. Immerhin, im Bereich „Sofortmeldung und Ausweispflicht“ hat die Bundesregierung Verbesserungen angekündigt. Aber Letzteres wird nur dann Wirkung zeigen, wenn die Kontrollen vor Ort verbessert werden. Der Bundesrechnungshof hat in seinem Bericht die mangelnde Präsenz der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Finanzkontrolle Schwarzarbeit moniert. Die sollen eigentlich mindestens 50 Prozent ihrer Arbeitszeit im Außendienst verbringen. Diese Quote wird aber überhaupt nicht erreicht; nur knapp ein Drittel ihrer Arbeitszeit verbringen die Mitarbeiter an den Orten des Geschehens. Und was schlägt die Regierung vor? Ein PilotZu Protokoll gegebene Reden projekt mit dauerhaften Prüfstützpunkten auf einigen Großbaustellen. Das heißt im Klartext, dass weitere Jahre vergehen werden, bis Betrüger auf Baustellen und anderswo damit rechnen müssen, kontrolliert zu werden. Probleme anpacken - das geht anders! Wir sehen den Handlungsbedarf, und wir werden die im Antrag vorgelegten Vorschläge prüfen. Zwar sind wir im Einzelfall skeptisch; wir lassen uns aber durch gute Argumente gerne überzeugen. Insofern sehe ich den Ausschussberatungen mit Interesse entgegen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/9594 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 23 auf: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 31. August 2006 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Sozialistischen Republik Vietnam über die Zusammenarbeit bei der Bekämpfung von schwerwiegenden Straftaten und der Organisierten Kriminalität - Drucksache 16/9277 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({0}) - Drucksache 16/9614 Berichterstattung: Abgeordnete Clemens Binninger Frank Hofmann ({1}) Ulla Jelpke Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen, und zwar von folgenden Kolleginnen und Kollegen: Frank Hofmann, Gisela Piltz, Ulla Jelpke, Wolfgang Wieland und Peter Altmaier.

Frank Hofmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002682, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Mit dem vorliegenden Geldwäschebekämpfungsergänzungsgesetz setzen wir, wie so oft im Bereich der Innenpolitik, eine EG-Richtlinie um. So sollen die Vorgaben der sogenannten Dritten EG-Geldwäscherichtline, Richtlinie 2005/60/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Oktober 2005 zur Verhinderung der Nutzung des Finanzsystems zum Zwecke der Geldwäsche und der Terrorismusfinanzierung, und eine hierzu von der EG-Kommission erlassene Durchführungsrichtlinie, Richtlinie 2006/70/EG der Kommission vom 1. August 2006, in nationales Recht umgesetzt werden. Durch die Dritte EG-Geldwäscherichtlinie sind die EU-rechtlichen Vorgaben für die nationalen Geldwäschegesetzgebungen grundlegend umstrukturiert und erweitert worden. Deshalb ist es nötig gewesen, mit diesem Gesetz auch das deutsche Geldwäscherecht vollständig neu zu fassen. Es beschränkt sich zu über 90 Prozent darauf, die europarechtlichen Vorgaben eins zu eins umzusetzen. In dieser europarechtlichen Überlagerung besteht ein wesentlicher Kritikpunkt allgemeiner Natur: Es ist sehr unbefriedigend, wenn der nationale Gesetzgeber, also der Deutsche Bundestag, keinen eigenen Entscheidungsspielraum hat, sondern auf die Rolle eines Notars herabsinkt, der die Vorgaben aus Brüssel in nationales Recht umsetzen soll. Dies ist eine prinzipielle Durchbrechung der Gewaltenteilung. Es erfolgt keine materielle, parlamentarische Gesetzgebung, weder durch das Europaparlament noch durch den Deutschen Bundestag, sondern nur durch die nationalen Regierungen im Europäischen Rat. Die mittelbare Legitimation durch die Umsetzung in nationales Recht halte ich, insbesondere in sensiblen, grundrechtsintensiven Regelungsbereichen, für problematisch. Soweit zur Kritik an dieser Verfahrensart. Nun zum Gesetzentwurf selbst. Das Gesetz ist wichtig, um das Netz gegen Einschleusen von illegal erworbenen Vermögenswerten, zum Beispiel aus organisierter Kriminalität, in den legalen Finanz- und Wirtschaftskreislauf europaweit noch enger zu flechten. Geldwäsche und die Finanzströme des internationalen Terrorismus werden in Deutschland in Zukunft mit dem neuen Gesetz noch effektiver bekämpft. Das zur Geldwäschebekämpfung entwickelte Instrumentarium wird nun auch auf die Bekämpfung der Terrorismusfinanzierung ausgeweitet. In Zeiten des deutschen Terrorismus der 70er-Jahre hätte die Geldwäschebekämpfung nicht gezogen. Die RAF hat sich in erster Linie finanziert durch Überfälle auf Banken und Geldboten und durch Geiselnahmen. Der islamistische Terrorismus dagegen nutzt die gesamte Bandbreite der bekannten Finanzierungsmöglichkeiten. Bis 2005 wurden weltweit mehr als 150 Millionen Dollar, die als Terroristengelder identifiziert wurden, aus dem Geldverkehr gezogen. Völlig neu ist die industrielle Geschäftsbasis bei der Finanzierung, wie sie für den Multimillionär Osama Bin Laden nachweisbar ist, ebenso wie das „Sponsoring“ aus Drogengeldern. Deshalb macht die Erweiterung auf die Terrorismusfinanzierung Sinn. Bei der Prüfung, ob ein Geldwäscheverdacht vorliegt, wird grundsätzlich ein risikoorientierter Ansatz verfolgt. Dieser verdeutlicht, dass die Gefahr der Geldwäsche und der Terrorismusfinanzierung nicht bei allen Transaktionen oder Geschäften gleich hoch ist. Zentrales Anliegen des Gesetzentwurfes ist daher die Ausbalancierung von vereinfachten und verstärkten Sorgfaltspflichten unter Berücksichtigung des Umstands, dass die Verpflichteten den ihnen obliegenden Anforderungen risikoadäquat und praxisgerecht unter vernünftigem Aufwand nachkommen können. Weiterhin steht die flexiblere Normierung der den Verpflichteten auferlegten Sorgfaltspflichten gegenüber Kunden im Vordergrund. Grundlage soll dabei insbesondere die Risikoträchtigkeit der jeweiligen Transaktion oder Geschäftbeziehung sein, nach der jeweils allgemeine, vereinfachte oder verstärkte Sorgfaltspflichten gegenüber Vertragspartnern, Kunden und Mandanten zu beachten sind. Wo die Richtlinie es zuließ, erfolgte die Ausgestaltung des Gesetzes so, dass überflüssige Bürokratiekosten vermieden wurden. Die häufige Kritik aus der Kreditwirt17956 Frank Hofmann ({0}) schaft an der übermäßigen Bürokratie des Gesetzes, zum Beispiel an § 1 Abs. 6 des Geldwäschegesetzes, wonach bei Gesellschaften der wirtschaftliche Eigentümer identifiziert werden muss, ist nicht gerechtfertigt. Außerdem würde man, sollte man auf die entsprechende Verpflichtung verzichten, die Richtlinie nicht vollständig umsetzen und ein Vertragsverletzungsverfahren riskieren. Im Gesetzentwurf hat die Bundesregierung Verbesserungsvorschläge des Bundesrates aufgegriffen und so die Anwendung des Gesetzes praktikabler gemacht. Die Aufzeichnungspflicht zur Identifizierung von juristischen Personen als Vertragspartner kann nun durch eine Kopie des Handelsregisterauszugs erfolgen und muss nicht manuell erfasst werden. Wird über Internet auf ein elektronisch geführtes Register zugegriffen, reicht die Anfertigung eines Ausdrucks aus, sodass ebenfalls auf eine manuelle Erfassung der Daten verzichtet werden kann. Die Einführung einer Bagatellgrenze von 2 500 Euro für die Identifikation bei Sorten-Bar-Geschäften, also beim Umtausch von Bargeld gegen Devisen, wurde eingeführt. Damit wird eine übermäßige Belastung von Banken in Grenzregionen verhindert. Zur dritten Beratung des Gesetzentwurfs hat die FDP kurzfristig einen Entschließungsantrag vorgelegt, der abzulehnen ist. Die Kritik am Gesetzentwurf der Bundesregierung kann ich nicht teilen. Die Regelung zur Bestimmung des wirtschaftlich Berechtigten stellt die Banken keineswegs vor unlösbare Probleme. Auch gibt es keinen Generalverdacht gegen die sogenannten politisch exponierten Personen. Die FDP hat sich mit ihrem Antrag insbesondere die Kritik der Bankenverbände zu eigen gemacht, die uns nicht überzeugt. Insgesamt ist der vorliegende Gesetzentwurf kaum kritikwürdig, weil er sich ganz eng an die Richtlinie anlehnt, also dem Prinzip der Eins-zu-eins-Umsetzung folgt. Die Bekämpfung der Geldwäsche selbst hat sich grundsätzlich bewährt. Wenn es auch sicher schwer ist, im Einzelnen die Effizienz und die Wirksamkeit zu messen, so kann man dennoch sagen, dass die Geldwäschevorschriften die Geldwäsche erschweren und somit auch die Terrorismusfinanzierung und so einen Beitrag zur Bekämpfung von Kriminalität und Terrorismus leisten.

Gisela Piltz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003667, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Wieder einmal beraten wir im Deutschen Bundestag über die Ratifizierung eines „Sicherheitsabkommens“ der Bundesregierung, über einen Vertrag, der ohne vorherige Befassung und Information des Parlaments unterzeichnet wurde. Wieder einmal spotten die Regelungen dem Datenschutz. Die Bundesregierung macht es sich leicht: einfach „Copy and Paste“. Egal ob es sich um die Vereinigten Arabischen Emirate oder, wie heute, um Vietnam handelt: Wie man derart verantwortungslos mit dem Datenschutz und auch der Sicherheit der Bundesrepublik - die Abkommen dienen ja immer der Bekämpfung von schwerwiegenden Straftaten und der organisierten Kriminalität - umgehen kann, wird wohl niemand verstehen. Nach dem Abkommen ist vorgesehen, dass die übermittelten Daten auch „zur Verhütung und Verfolgung von Straftaten von erheblicher Bedeutung sowie zum Zweck der Abwehr von erheblichen Gefahren für die öffentliche Sicherheit“ verwendet werden können. Wann besteht denn aber wohl eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit nach vietnamesischem Recht? Wenn jemand ohne Führerschein Motorrad fährt? Oder nur dann, wenn er einen Sprengstoffgürtel umhat? Das können wir alle nicht beantworten. Vor allen Dingen: Auch das Abkommen gibt uns dazu keine Antwort. Wieso verzichtet die Bundesregierung darauf, in den „Sicherheitsabkommen“ festzulegen, für welche Taten die übermittelten Daten verwendet werden dürfen? Dies ist für die Rechtssicherheit der deutschen Bürgerinnen und Bürger dringend geboten. Stattdessen wird es der Rechtsinterpretation vietnamesischer Behörden überlassen. Erneut ist es die Bedrohung durch den internationalen Terrorismus, die einen weiteren Eingriff in die Freiheitsrechte der Bürgerinnen und Bürger rechtfertigen soll. Insbesondere seit der letzten Bundestagswahl und dem damit verbundenen Amtsantritt Wolfgangs Schäubles als Bundesinnenminister dient die Terrorgefahr als Vorwand für diverse Gesetze, die staatliche Überwachung ermöglichen sollen, oder, wie hier, über datenschutzrechtliche Bestimmungen schlicht hinweggehen. Aus unserer Sicht ist die internationale Zusammenarbeit, gerade im Bereich der Inneren Sicherheit, angesichts der grenzüberschreitenden Kriminalität und des internationalen Terrorismus unabdingbar. Wir sind davon überzeugt, dass die Probleme in einer globalisierten Welt nicht durch nationale Alleingänge gelöst werden können. Aus diesem Grund sind vertrauensvolle Beziehungen mit internationalen Partnern von herausragender Bedeutung. Gleichwohl können wir bilateralen Abkommen dann nicht zustimmen, wenn Regelungen enthalten sind, die wir auch auf nationaler Ebene seit jeher ablehnen. Mit diesem Abkommen werden der missbräuchlichen Verwendung personenbezogener Daten Tür und Tor geöffnet. Daher lehnen wir das Abkommen ab.

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Das vorliegende Abkommen steht in einer langen Reihe fast gleichlautender Abkommen mit Staaten, in denen es anhaltende Probleme mit Menschenrechten, gewerkschaftlichen und politischen Freiheiten oder der Justiz gibt. Nun möchte ich Vietnam nicht mit den mittelalterlich verfassten Vereinigten Arabischen Emiraten gleichsetzen, über die vor wenigen Tagen als Kooperationspartner in der Verbrechensbekämpfung diskutiert wurden. Aber auch in Vietnam ist die Menschenrechtssituation noch keineswegs in allen Bereichen befriedigend. Weiterhin wird beispielsweise die Bildung freier Gewerkschaften verhindert. Weiterhin werden kritische Journalisten, die sich zum Beispiel mit der verbreiteten Korruption befassen, inhaftiert. Auch politische Freiheiten oder Minderheitenrechte sind nicht gewährleistet. Gerade zum Zeitpunkt des Abkommens vor zwei Jahren wurden zahlreiche Angehörige der sogenannten Bergvölker so drangsaliert, dass sie massenhaft ins benachbarte Kambodscha fliehen mussten. Schließlich existiert in Zu Protokoll gegebene Reden Vietnam weiterhin die Todesstrafe, und diese wird auch verhängt und vollstreckt. Zwar heißt es in diesem Abkommen, dass in Fällen, in denen die Todesstrafe droht, die Unterstützung verweigert werden kann. Allerdings wird hier nur die butterweiche Formulierung gebraucht: - ich zitiere -: sofern nicht die ersuchende Vertragspartei eine von der ersuchten Vertragspartei als ausreichend erachtete Zusicherung abgibt, dass die Todesstrafe nicht mehr verhängt oder, falls sie verhängt wird, nicht mehr vollstreckt wird. Das ist uns zu wenig. Hier müsste weiterhin die Regel gelten, dass generell keine Personen an Staaten ausgeliefert werden dürfen, in denen ihnen die Todesstrafe droht. Vage Zusicherungen der Regierung oder Justiz des Partnerlandes reichen uns nicht aus. Niemand hier wird bestreiten, dass Länder wie Vietnam gerade im Bereich des Datenschutzes noch erhebliche Defizite aufweisen. Nun soll sich die Zusammenarbeit bei der Kriminalitätsbekämpfung aber gerade auch auf den Bereich des Datenaustausches erstrecken. Was mit diesen Daten geschieht, ist weitgehend unkontrollierbar. Die praktische Kooperation mit solchen Staaten ist der Öffentlichkeit entzogen. Waren schon die Formulierungen zur organisierten Kriminalität problematisch und wenig eingegrenzt, so verschärft sich dies durch die Ausrichtung auf den noch viel weniger eindeutig definierten Terrorismus. Die offizielle Begründung für den Abschluss solcher Abkommen ist regelmäßig die Behauptung, dass sich dadurch auch die Rechtsstaatsprobleme in diesen Ländern verbessern ließe. Dies ist in meinen Augen unehrlich; denn in Wirklichkeit stehen eigene Interessen nach Migrationskontrolle oder Informationserlangung aus dem - unklar definierten - Terrorismusbereich im Vordergrund des deutschen Interesses. Die Bundesregierung müsste hier sehr viel deutlicher belegen, dass diese Abkommen tatsächlich einen Beitrag zur Verbesserung der rechtsstaatlichen Situation in den jeweiligen Partnerländern leisten. Da dies nicht glaubwürdig geschieht, wird die Fraktion Die Linke den vorliegenden Gesetzentwurf ablehnen.

Wolfgang Wieland (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003863, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Zum dritten Mal in wenigen Wochen diskutieren wir heute ein Abkommen über die Zusammenarbeit im Bereich schwerwiegende und organisierte Kriminalität mit einem anderen Staat. Den Anfang machte das katastrophale Abkommen mit den USA: Der Datenschutz wird dort fast vollkommen ignoriert, die Tatbestände sind schwammig definiert, und Absurditäten wie Daten zur Gewerkschaftszugehörigkeit oder zum Sexualleben setzen den Unzulänglichkeiten dieses Vertrages die Krone auf. Das Abkommen mit den Vereinigten Arabischen Emiraten sah gerade in puncto Rechtsweg und Datenschutz deutlich besser aus, ließ viel mehr Spielraum, Daten nur im Einzelfall weiterzugeben, und bedeutete keinen Weitergabeautomatismus. Aber auch hier musste man sich fragen, welche schwerwiegenden Verbrechen gemeint sind und was unter Terrorismus zu verstehen ist. Das ist bei einem Land, in dem Demokratiebestrebungen und Terrorismus von den Machthabern vielleicht nicht immer in unserem Sinne unterschieden werden, ein Problem ganz abgesehen von der Tatsache, dass Terrorismus ein schnell geäußerter Verdacht ist, der selten sicher belegt wird und gravierende Konsequenzen für die Betroffenen hat. Nun aber zum heute vorliegenden Text des Abkommens mit Vietnam. Hier geht es nicht - wie im Abkommen mit den USA - um die Übermittlung von Fingerabdruck und DNA-Daten, sondern um das Teilen polizeilicher Erkenntnisse. Das ist schon einmal erfreulich, zumal die Weitergabe strikt nach deutschem Recht erfolgt und in jedem Einzelfall geprüft werden soll. Auch ausgetauscht werden sollen methodische Kenntnisse und Forschungsergebnisse. Das ist sicher ganz sinnvoll; man fragt sich aber, ob ein Datenaustauschabkommen der richtige Ort ist, um eine Ausbildungszusammenarbeit zu vereinbaren. Da wäre ein Abkommen im Rahmen des Rechtsstaatsdialogs oder ein Programm zur Unterstützung der Polizeiausbildung und -reform sicher angemessener. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip ist im Abkommen spezifisch erwähnt, ebenso die Einhaltung von Speicherfristen und das Verbot der Weitergabe übermittelter Daten. Das ist löblich, aber eben nicht zu kontrollieren. Man muss sich schon fragen, ob man sensible Daten verantwortlich exportieren kann und wohin. Das Recht auf Auskunft und Einsicht und sogar auf Schadenersatz hilft wenig, wenn es in einem Land eingeklagt werden muss, dessen Rechtssystem doch einige Wünsche offen lässt. Ganz problematisch ist der Katalog der Straftaten, für den dieses Abkommen gelten soll. Terroristische Taten sind notorisch schwer zu definieren, Terrorismus liegt gewissermaßen im Auge des Betrachters. In so einem Abkommen haben auch sehr allgemeine Straftatbestände bzw. Kategorien wie „Eigentumsdelikte“ oder „Schmuggel von Waren“ nichts verloren. Denn unter diese Überschriften fallen doch allzu viele Delikte. Verschlimmert wird das alles durch das Wörtchen „insbesondere“ - es wird also bei allen Straftaten zusammengearbeitet, der Katalog ist mehr Augenwischerei als Einschränkung. Denn das bedeutet: Bei schwerwiegenden Straftaten wird immer zusammengearbeitet. Aber eben auch bei nicht schwerwiegenden, sobald „organisierte kriminelle Strukturen“ erkennbar sind. Das ist für den wie gesagt kaum kontrollierbaren Austausch von Daten eine viel zu weitgehende Fassung; denn es muss beispielsweise nicht belegt werden, dass organisierte Strukturen existieren, nicht einmal ein erhärteter Verdacht ist gefordert. Das ist eine zu weiche Grundlage für den Datenexport. Und es wird im ganzen Abkommen nicht deutlich, welche Fälle hier abgedeckt werden, die im Rahmen der Rechtshilfe bei der Strafverfolgung nicht erfasst sind. Da ist zu befürchten, dass umfassend Daten getauscht werden, gerade weil noch nichts konkret und erhärtet ist und deshalb die Rechtshilfe nicht greift. Zu Protokoll gegebene Reden Es bleibt also bei den gleichen Mängeln: unklare Definition und viel zu weite Fassung der Gründe für den Austausch von Daten, keine Möglichkeit, die Weiterverwendung der Daten zu kontrollieren, ein Versprechen auf Rechtsweg und individuellen Schutz, das mangels eines funktionierenden Rechtssystems aber kaum eingelöst werden kann. Aus diesen Gründen können wir dem Abkommen nicht zustimmen.

Peter Altmaier (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002617

Der Kampf gegen die organisierte Kriminalität und den internationalen Terrorismus ist die vorrangige sicherheitspolitische Herausforderung unserer Zeit. Dieser Herausforderung können wir - das liegt klar auf der Hand - allein im nationalstaatlichen Rahmen nicht gerecht werden. Die Tätergruppierungen sind häufig international zusammengesetzt. Sie agieren über die nationalen Grenzen hinweg. Sie machen sich zunutze, dass im Zuge der Globalisierung die Möglichkeiten zu weltweiten Kommunikations-, Transport- und Kapitalbewegungen rasant zunehmen. Globalisierung eröffnet Menschen und Unternehmen große Chancen. Sie eröffnet auch einige Risiken, die nach politischer Gestaltung rufen. Um mit der Entwicklung Schritt zu halten, bedarf es enger, vertrauensvoller und rechtlich geordneter internationaler Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden, Hierin liegt die zeitgemäße, die unabdingbare Antwort auf die Internationalisierung krimineller Strukturen. Ohne sie würden wir unserer Verantwortung für die Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger unter den Bedingungen der Globalisierung nicht gerecht werden können. Die Bürgerinnen und Bürger erwarten von uns zu Recht, dass wir sie auch gegen solche Gefahren schützen, die ihren Ursprung außerhalb unserer Grenzen haben. Unsere nationale Verantwortung gebietet internationales Handeln. Sie wissen, dass die Bundesregierung einen Schwerpunkt ihrer internationalen Sicherheitspolitik auf Ebene der Europäischen Union setzt. Wir engagieren uns gemeinsam mit unseren europäischen Partnern dafür, dass im Europa der offenen Grenzen fortlaufend die grenzüberschreitende Zusammenarbeit in den Bereichen der Strafverfolgung und Gefahrenabwehr verbessert wird. Wir können hierbei - auch dies ist bekannt - auf beachtliche Erfolge zurückblicken, gerade aus der Zeit der deutschen EU-Präsidentschaft. Wir ruhen uns auf diesen Erfolgen nicht aus, sondern setzen uns entschlossen für den weiteren Ausbau der europäischen Sicherheitsarchitektur ein. Die Bundesregierung engagiert sich darüber hinaus aber auch - sie muss dies tun - bei der Fortentwicklung der sicherheitspolitischen Zusammenarbeit mit Drittstaaten außerhalb der Europäischen Union. Die internationale Kriminalität macht bekanntlich an den Grenzen Europas nicht halt. Internationale Sicherheitspolitik muss dementsprechend über die Union hinausgreifen; dieser Einsicht folgen übrigens auch unsere europäischen Partner. Ein wichtiger Eckstein ist hierbei die bilaterale Vertragspolitik, die sich in den 90er-Jahren noch auf mittelund osteuropäische Staaten konzentrierte und die seit einigen Jahren den Nahen Osten und auch Asien einbezieht. In diesen Rahmen fügt sich das Regierungsabkommen mit Vietnam über die Zusammenarbeit bei der Bekämpfung von schwerwiegenden Straftaten und der organisierten Kriminalität ein. Es liegt im deutschen Interesse, mit Vietnam - einem Land mit einer der weltweit am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften - nicht nur gute Handelsbeziehungen zu pflegen, sondern auch bei der Kriminalitätsbekämpfung zusammenzuarbeiten. Das Abkommen schafft konkrete Instrumente, um die Zusammenarbeit mit Leben zu erfüllen. Es legt die zuständigen Behörden fest. Es regelt präzise die Verfahrenswege. Es definiert die einzelnen Felder der Zusammenarbeit. Den beteiligten Behörden wird so ein Bestand an Regelungen an die Hand gegeben, mit denen sie praktisch arbeiten können. Das Abkommen regelt darüber hinaus - auch dies ist nötig - die inhaltlichen Maßgaben, an denen sich die Zusammenarbeit zu orientieren hat. Das Abkommen folgt hierbei selbstverständlich den rechtsstaatlichen Grundsätzen, die für unsere politische und rechtliche Ordnung konstitutiv sind und die wir auch im Angesicht weltweiter terroristischer und krimineller Gefährdungen nicht preisgeben dürfen. Ich darf in diesem Zusammenhang beispielhaft darauf verweisen, dass das Abkommen ein eigenes Datenschutzregime installiert und so sicherstellt, dass die diejenigen grundrechtlichen Standards umgesetzt werden und Beachtung finden, die das Grundgesetz vorgibt. Durch die Inkraftsetzung des Abkommens mit der Sozialistischen Republik Vietnam leisten wir einen praktischen Beitrag zum Ausbau der internationalen Kooperation im Sicherheitsbereich und damit letztlich zur Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger. Ich bitte daher um Ihre Zustimmung zu dem Entwurf des Vertragsgesetzes.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Wir kommen zur Abstimmung. Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9614, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/9277 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der drei Oppositionsfraktionen angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 18 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Brigitte Pothmer, Katrin Göring-Eckardt, Kerstin Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Neue Sicherheit für flexible Arbeitsverhältnisse - Drucksachen 16/6436, 16/8191 Berichterstattung: Abgeordneter Peter Rauen Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen, und zwar von den Kolleginnen und Kollegen Gitta Connemann, Angelika Krüger-Leißner, Dirk Niebel, Kornelia Möller und Brigitte Pothmer.

Gitta Connemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003514, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

1930 warnte der Reichsbund Deutscher Kunsthochschüler vor den Risiken, den Beruf des Künstlers ergreifen zu wollen: „Der Künstlerberuf hat für den Fernstehenden etwas Verlockendes. … Doch abgesehen von seltenen Ausnahmen gestaltet er sich in Wahrheit anders: Mühevolles Aneignen des handwerklichen Könnens, Ringen mit der eigenen Begabung, Kampf gegen starke Konkurrenz, …, Verkennung und Verständnislosigkeit beim Publikum, Schwierigkeiten und Entbehrungen aller Art, allmähliches Herabsinken ins Künstlerelend, Berufswechsel oder Übernahme von minderwertiger Arbeit, nur um das Leben zu fristen: solche Wirklichkeit bietet nichts Verlockendes.“ An diesem Befund hat sich - relativ gesehen - bis heute leider nicht alles geändert. Zwar gibt es inzwischen mit der Künstlersozialversicherung eine weltweit einmalige soziale Sicherung für selbstständige Künstler und Publizisten. Aber der Abschlussbericht der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ zeigt auch, dass die Einkommenssituation von Künstlerinnen und Künstlern nach wie vor besorgniserregend ist. Dennoch ließen und lassen sich Künstlerinnen und Künstler nicht schrecken. Denn sie fühlen sich berufen zu schauspielern, zu musizieren, zu tanzen. Glücklicherweise! Künstlerinnen und Künstler sind nämlich das Fundament unseres einzigartigen kulturellen Lebens in Deutschland. Ohne ihre Werke, ohne ihre Ausübung gäbe es dieses nicht oder würde sich nur noch auf die Vergangenheit beziehen. Es ist deshalb unverzichtbar, für ihre ausreichende soziale Sicherung zu sorgen - auch im Fall der Arbeitslosigkeit von abhängig Beschäftigten in Kulturberufen. Schon vor der Agenda 2010 hatten viele von diesen keine Chance, Arbeitslosengeld I zu beziehen. Denn die Anspruchsvoraussetzung, in drei Jahren zwölf Monate sozialversicherungspflichtig gearbeitet zu haben, wurde nicht erfüllt. Diese Situation hat sich durch die 2003 beschlossene Verkürzung der Rahmenfrist verschärft. Seit 2006 muss jeder Arbeitnehmer nun in zwei Jahren diese sogenannte Anwartschaftszeit erfüllen. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen nimmt diese besondere Situation der Versicherten in Kulturberufen zum Anlass, den vorliegenden Antrag vorzulegen. Danach sollen künftig geringere Beitragszeiten für alle, ich betone, alle Arbeitnehmer zu einem Arbeitslosengeldanspruch führen. Zudem soll ein Anspruch auf eine Vermittlungspause eingeführt werden, während die Leistungsempfänger ausschließlich selbst für ihre Integration verantwortlich sein sollen. Diesen Antrag lehnen wir, die Mitglieder der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, ab. Denn er setzt zum einen für alle Arbeitnehmer den fehlerhaften Anreiz, Arbeitsverhältnisse zulasten der Beitragszahler möglichst kurz zu halten. Zum anderen widerspricht die Forderung nach Einführung einer Vermittlungspause dem Grundgedanken, Arbeitslosigkeit durch intensive Vermittlungsbemühungen möglichst zu vermeiden oder zu verkürzen. Schließlich steht der vorliegende Antrag in klarem Widerspruch zu einer Empfehlung, die von allen Fraktionen des Deutschen Bundestages, also auch mit den Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen, in der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ verabschiedet worden ist: nämlich eine spezifische gesetzliche Ausnahmeregelung für Versicherte in Kulturberufen zu schaffen. Denn bei den Versicherten in Kulturberufen handelt es sich um eine Berufsgruppe, die wegen der Ausgestaltung der Beschäftigungsverhältnisse mit keiner anderen zu vergleichen ist. Es handelt sich hier um ein spezifisches Problem, das spezifisch gelöst werden muss, und nicht als Anlass für eine grundsätzliche Änderung des Arbeitslosenversicherungsrechts zulasten der Beitragsgemeinschaft missbraucht werden darf. Künstler und Kulturschaffende insbesondere im Film- und Fernsehbereich stehen regelmäßig nur in kurz befristeten Engagements bei ständig wechselnden Arbeitgebern. Kennzeichnend ist die Zweck-, nicht die Zeitbefristung: angestellt für eine Produktion, egal wie lange diese dauert. Diese Versicherten sind vielfältigen Unwägbarkeiten ausgesetzt, die das Fristende bestimmen - für sie unplanbar. Ein Filmschaffender beschreibt diese Arbeitswelt in einer E-Mail, die ich vor einer Woche erhielt, wie folgt: Genau genommen werden wir jeweils nur solange angestellt, wie das Projekt gerade dauert, das heißt, von wenigen Tagen bis zu einigen Wochen. Nach der letzten Klappe ist die Produktion beendet und wir stehen alle wieder auf der Straße. Dann wird es für viele von uns wieder eine Zitterpartie geben, ob und wann ein weiteres Filmprojekt hereinkommt. Dabei gibt es viele Unsicherheitsfaktoren: Probleme bei der Filmfinanzierung, Abhängigkeit von der Sendeplanung, Protagonistensuche, Witterungsbedingungen usw. Diese besondere Ausgestaltung der Beschäftigungsverhältnisse hat schon in der Vergangenheit dazu geführt, dass Versicherte in Kulturberufen an vielen sozialen Errungenschaften kaum Anteil hatten und haben. Ich möchte dies am Beispiel der Situation von Film- und Fernsehschaffenden deutlich machen. Filmschaffende haben faktisch keine Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, da kranke Filmschaffende angesichts der kurzen Anstellungsphase gar nicht erst angestellt werden. Extrem kurze Beschäftigungszeiten lassen so die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall für die meisten ebenso zu einer theoretischen Erscheinung werden wie Leistungen in Gestalt des Mutterschafts- oder Elterngeldes. Denn auch Schwangere werden in der Praxis nicht angestellt. Glei17960 ches gilt für Rehabilitationsmaßnahmen etc. Von einer betrieblichen Altersversorgung können Filmschaffende nur träumen. Auch gesetzliche Ansprüche auf Teilzeitarbeit oder gleitende Übergänge in den Ruhestand durch Modelle der Altersteilzeit bleiben ihnen versperrt. Die Versicherung gegen Arbeitslosigkeit war in der Vergangenheit nahezu die einzige soziale Sicherung, die Halt zu versprechen schien, und Sicherheit gegen eine stete Existenzangst, geprägt von Fragen wie: Was kommt nach der nächsten Produktion? Wird das Telefon klingeln? Tatsächlich ist dies übrigens ein Schein. Denn Künstler und Kulturschaffende, die regelmäßig in nur kurz befristeten Engagements bei ständig wechselnden Arbeitgebern stehen, ist es nahezu unmöglich, die Anwartschaftszeit von zwölf Monaten zu erfüllen. Dazu muss zum Beispiel ein Schauspieler entweder acht Hauptrollen in einer Filmproduktion oder aber zwei Hauptrollen in einer Serienproduktion spielen. Dies ist schon faktisch in zwei Jahren, aber auch in drei Jahren ausgeschlossen. Auch das tariflich abgesicherte Zeitkontenmodell reicht nicht aus, um die erforderlichen Pflichtversicherungszeiten zu erreichen. Künstlerisch Tätige geraten damit in die Situation, zwar Beiträge in die Arbeitslosenversicherung einzuzahlen, aber häufig keine Leistungen aus dieser Versicherung zu erhalten. Die von der zentralen Bühne-, Film- und Fernsehvermittlung sowie von den Künstleragenturen erbrachten Leistungen für Unterstützung, Beratung und Vermittlung sowie für Mobilitätskosten entfallen dadurch ebenfalls. Wir sehen die Not vieler Künstler. Deshalb setzt sich die CDU/CSU-Bundestagsfraktion beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales seit geraumer Zeit dafür ein, eine spezifische gesetzliche Ausnahmeregelung für die Versicherten der Kulturberufe zu schaffen. Eine solche wurde von der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ schon 2005 angemahnt. Die Kommission hat auch in ihrem Abschlussbericht im Dezember 2007 einstimmig, mit den Stimmen aller Fraktionen, empfohlen, eine Sonderregelung für Kulturberufe mit wechselnden und befristeten Anstellungen entsprechend des sogenannten Schweizer Modells zu schaffen. Dieser Abschlussbericht ist von den Mitgliedern des Deutschen Bundestages fraktionsübergreifend angenommen worden. Denn bei den Versicherten in Kulturberufen handelt es sich um eine Berufsgruppe, die wegen der Ausgestaltung der Beschäftigungsverhältnisse mit keiner anderen zu vergleichen ist. Es handelt sich hier um ein spezifisches Problem, das spezifisch gelöst werden muss. Hier bietet sich die Regelung in der Schweiz an, die sich dort seit vier Jahren praxiserprobt bewährt hat. Danach wäre die ermittelte Beitragszeit für die ersten 30 Kalendertage eines befristeten Arbeitsverhältnisses zu verdoppeln - übrigens nur die Beitragszeit, nicht die Beitragsbemessungsgrenze. Diese Regelung wäre für viele Künstler und Kulturschaffende weitaus günstiger als die alte Rahmenfristregelung, und es würden mit wirklich geringen finanziellen Auswirkungen für die Beitragsgemeinschaft die schlimmsten Verwerfungen beseitigt. Lassen Sie uns diesen Weg gemeinsam gehen.

Angelika Krüger-Leißner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003164, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Der Antrag der Fraktion der Grünen hat ein Problem benannt, dessen Lösung auch meiner Fraktion ganz besonders wichtig ist. Hier wird ein Vorschlag unterbreitet, der bei den problematischen Auswirkungen durch die verkürzte Rahmenfrist Abhilfe schaffen soll. Betroffen davon ist die Gruppe der Beschäftigten, die in unsteten Verhältnissen arbeiten, also befristet, kurzfristig und mit wechselnden Arbeitgebern. Typischerweise findet sich dies im Kulturbereich, insbesondere bei Film und Fernsehen und beim Theater. Aber auch darüber hinaus überall dort, wo projektbezogen bzw. produktionsgebunden gearbeitet wird. Die meisten Beschäftigten, auf die diese Merkmale zutreffen, haben im Falle der Arbeitslosigkeit trotz erbrachter Beitragszahlungen keine realistische Chance auf Arbeitslosengeld. Das ist nach meiner Auffassung nicht hinnehmbar. Ich kann der Zielstellung des vorliegenden Antrags, eine Änderung für alle betroffenen Beschäftigten herbeizuführen, zustimmen. Wir brauchen endlich eine Lösung für diese besonderen Arbeitsverhältnisse. Seit langem arbeite ich dafür. Und so hat sich auch bei mir nach unzähligen Gesprächen und Beratungen die Auffassung herauskristallisiert, dass das nicht mit einer spezifischen Einzellösung sondern nur auf dem Wege einer Regelung für alle betroffenen Versicherten machbar ist. Aber auch hier gibt es unterschiedliche Lösungswege, auch bessere als den hier vorgeschlagenen. Im vergangenen November haben wir an dieser Stelle bereits über diesen Antrag beraten. Und seitdem hat sich einiges getan. Im Dezember hat die Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ ihren Schlussbericht vorgelegt. Ein Schwerpunkt widmet sich der wirtschaftlichen und sozialen Lage der Künstlerinnen und Künstler. In der entsprechenden Handlungsempfehlung wird eine Lösung für die Kulturberufe gefordert. Seit Anfang des Jahres hat das Ministerium für Arbeit und Soziales, BMAS, intensiv geprüft, wie dieses Ziel gesetzlich umgesetzt werden kann. Im Mittelpunkt stand dabei auch der Vorschlag der Enquete-Kommission. Dem Prüfergebnis können wir uns nicht verschließen. Wir müssen zur Kenntnis nehmen: Die sozialversicherungsrechtlichen, verfassungsrechtlichen und verwaltungspraktischen Prüfungen haben ergeben, dass wir von der ursprünglich ins Auge gefassten Sonderlösung für den Kulturbereich - ich selbst hatte diesen Weg verfolgt Abstand nehmen müssen. Eine praktikable, umsetzbare und vor allem rechtssichere Lösung des Problems können wir nur erreichen, indem wir es generell anpacken. Die verschiedenen Modelle für Sonderlösungen mögen sich auf dem Papier gut lesen, entscheidend aber ist, was konkret umsetzbar ist. Hier muss man auch den Mut haben, sich eines Besseren belehren zu lassen. Das BMAS hat dazu inzwischen einen konkreten Vorschlag unterbreitet: Wir schaffen den Stein des Anstoßes aus der Welt, indem wir die Verkürzung der Rahmenfrist von drei auf zwei Jahre wieder rückgängig machen. Alle maßgeblichen Verbände der ganz besonders betroffenen Filmschaffenden haben das ebenso wie die Produzentenverbände begrüßt. Nur ein Schauspielerverband steht Zu Protokoll gegebene Reden dem Vorschlag reserviert gegenüber. Berufsgruppenspezifische Lösungen stellen in unserem historisch gewachsenen Sozialversicherungssystem ein grundsätzliches Problem dar. Sonderlösungen anderer Länder lassen sich deshalb nicht einfach übertragen. So unkompliziert sie auf den ersten Blick erscheinen, so wichtig ist es doch, sich mit den Einwänden im Einzelnen auseinanderzusetzen: Erstens. Die Gruppe der betroffenen Kultur- und Medienschaffenden lässt sich nicht sauber abgrenzen. Es wird immer Grenzfälle geben, die Anlass für Rechtsstreitigkeiten bieten. Zweitens. Indem wir eine Sonderlösung für eine Berufsgruppe schaffen, rufen wir die anderen Branchen auf den Plan, die auch ihre Probleme mit der Rahmenfrist haben. Das gilt für den gesamten Bereich der Saisonbeschäftigten im Tourismus, in der Gastronomie, in der Land- und Forstwirtschaft. Drittens. Nach Auskunft der Arbeitsagentur wäre der Verwaltungsaufwand für eine Sonderregelung zum Beispiel nach dem Schweizer Modell in unserem Versicherungssystem immens. Dagegen könnten wir bei der generellen dreijährigen Rahmenfrist auf sowieso schon vorgehaltene Daten zurückgreifen - der verwaltungstechnische Aufwand wäre vergleichsweise minimal. Das wäre auch im Interesse des Bürokratieabbaus nur zu begrüßen. Viertens. Eine Sonderlösung bietet keine Rechtssicherheit. Sie kann jederzeit beklagt werden. Dabei wird es von Verfassungsjuristen als sehr fraglich eingeschätzt, ob sie unter dem Aspekt der Gleichbehandlung Bestand hätte. Diese Rechtsunsicherheit möchte ich keinem Kulturschaffenden zumuten. Von diesen Argumenten musste ich mich überzeugen lassen und ich komme zu dem Ergebnis: Angesichts der mit einer Sonderlösung verbundenen Probleme und Unsicherheiten, die man nicht wegdiskutieren kann, ist eine generelle Lösung die pragmatischere, bessere Lösung. Dies gilt um so mehr, als es inzwischen zusätzliche gewichtige Argumente für eine generelle Lösung im Sinne einer Rückkehr zur dreijährigen Rahmenfrist gibt: Vonseiten der Bayerischen Staatsregierung und der Hessischen Landesregierung ist an den Bund das Problem einer weiteren Betroffenengruppe herangetragen worden. Eltern mit Mehrlingsgeburten und Eltern, deren Kinder in kurzem Abstand zur Welt kommen, und die im Rahmen der Familienförderung Erziehungszeiten in Anspruch nehmen und dann arbeitslos werden, können trotz Beitragszahlungen keine Arbeitslosengeldansprüche geltend machen, weil ihnen genau ein Jahr bei der Rahmenfrist fehlt. Ein ähnliches Problem zeigt sich bei der Meisterausbildung. Hier müssen wir einfach reagieren und dürfen nicht die Augen verschließen oder alten Lösungsvorstellungen nachlaufen. Die Gespräche mit unserem Koalitionspartner sind noch nicht abgeschlossen. Seit Wochen ringen wir um eine Lösung. Ich hoffe, dass wir zu einem Ergebnis kommen, das wir gemeinsam tragen können. Als filmpolitische Sprecherin meiner Fraktion ist mir dies vor allem im Sinne der ganz besonders betroffenen Film- und Fernsehschaffenden wichtig. Lassen Sie mich noch einmal zurückkommen zum vorliegenden Antrag der Grünen. Den hier vorgeschlagenen Weg einer Verkürzung der Anwartschaftszeit von zwölf auf vier Monate lehne ich aus den folgenden Gründen ab: Erstens. Damit würden wir einen ganz falschen Anreiz setzen. Das wäre zum Beispiel eine Aufforderung an die Filmproduzenten, die Drehzeiten weiter zu verkürzen. Das wäre nicht im Interesse der Arbeitnehmer in der Film- und Fernsehbranche. Zweitens. Außerdem entfiele damit der Druck auf die Tarifpartner, zur Lösung dieses berufsspezifischen Problems auch durch tarifvertragliche Vereinbarungen selber beizutragen; denn mitnichten wird eine Rückkehr zu drei Jahren Rahmenfrist alle Probleme dieser Arbeitsverhältnisse lösen können. Da muss noch viel mehr getan werden. Drittens. Wichtig ist mir auch der Hinweis, dass der Vorschlag der Grünen die Versichertengemeinschaft unzumutbar belasten würde; denn aufgrund der Beitragsbemessungsgrenzen würden die Betroffenen unverhältnismäßig profitieren. Hohe Arbeitslosengeldleistungen stünden relativ niedrigen Beitragszahlungen gegenüber. Die Differenz müsste die Solidargemeinschaft tragen. Das können wir nicht ernsthaft wollen. Vor diesem Hintergrund und angesichts des vorliegenden Lösungsvorschlags, den auch das BMAS empfiehlt, lehne ich den Antrag der Grünen ab. Wir haben einen praktikablen, rechtssicheren und - nicht zu vergessen - finanzierbaren Vorschlag auf dem Tisch, der nur noch umgesetzt werden muss. Anlässlich der ersten Beratung hier im Plenum sagte der Kollege Bisky im Interesse einer schnellen Lösung für die Betroffenen: Alle Vorschläge, die Sie machen, um die soziale Lage der Kreativschaffenden zu verbessern, werden wir nach Kräften unterstützen. Auch ich versteife mich nicht auf einen Weg. Mir ist jede Regelung recht, die weiterhilft. Sie muss nur umsetzbar und sicher sein. Ich bin überzeugt, auch die Grünen werden dem nicht widersprechen.

Dr. h. c. Dirk Niebel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003198, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Die FDP-Bundestagsfraktion lehnt den vorliegenden Antrag ab. Mit dem Antrag der Grünen sollen auch diejenigen, die nur wenige Monate im Jahr sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind, einen Anspruch auf Leistungen der Arbeitslosenversicherung haben. Dazu sollen neue, kürzere Bezugszeiten eingeführt und die Dauer des Arbeitslosengeldbezugs an die Beitragszeiten gekoppelt werden. Weiterhin soll ein Anspruch auf eine befristete Vermittlungspause im SGB III und SGB II eingeführt werden, in der keine Teilnahme- oder Nachweispflichten bestehen. Wir lehnen eine Ausweitung der Leistungen der Arbeitslosenversicherung ab. Eine Koppelung der BezugsZu Protokoll gegebene Reden zeiten für das Arbeitslosengeld an die Zeiten der Beitragszahlung ist schon im Ansatz verfehlt. Bei der Arbeitslosenversicherung handelt es sich um eine Risikoversicherung, nicht um eine Ansparversicherung. Das bedeutet, dass man bei der Arbeitslosenversicherung nicht aufrechnen kann, was man eingezahlt hat und was man herausbekommt. Wir brauchen für die Leistungsbezieher nicht noch mehr Tatbestände für noch mehr Leistungen. Sie brauchen eine Perspektive, die zu Beschäftigung führt. Und wir brauchen auch für diejenigen, die die finanzielle Grundlage des Leistungsbezuges ermöglichen, eine andere Perspektive. Das sind die Menschen in der Mitte der Gesellschaft. Die fragen sich nämlich zu Recht, warum der Aufschwung bei ihnen nicht angekommen ist, wo der Abschwung schon in Sichtweite ist. Sie müssen entlastet statt immer weiter belastet werden. Dazu müssen alle Spielräume genutzt werden. Gerade wird wieder über die Senkung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung diskutiert. Hier gibt es schon lange weiteren Absenkungsspielraum, aber die schwarzrote Koalition will erst im Herbst entscheiden. Die Entlastung durch die letzte Beitragssenkung ist schon längst aufgefressen. Höhere Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung sind bereits angekündigt. Die Sozialversicherungsbeiträge, die die schwarz-rote Koalition dauerhaft unter 40 Prozent senken wollte, bleiben folglich weiterhin auf einem zu hohem Niveau. Arbeitslose sollten aktiviert und vermittelt statt möglichst lange alimentiert werden. Fördern und Fordern war als Begriffspaar in aller Munde. Diese Ziele wurden bisher nicht erreicht, weil die notwendigen Rahmenbedingungen nicht gesetzt wurden. Um mehr Arbeitsplätze zu schaffen, müssen Steuern und Abgaben gesenkt, Bürokratie abgebaut und arbeits- und tarifrechtliche Vorschriften gelockert werden. Wir fordern seit langem die Auflösung der Bundesagentur für Arbeit in ihrer jetzigen Form und die Neuordnung ihrer Aufgaben. Mit den Mitteln der Beitrags- und Steuerzahler soll verantwortlich umgegangen und das Angebot an die Bedürfnisse der Arbeitslosen, Arbeitgeber und Arbeitsuchenden angepasst werden. Das Zuständigkeitschaos, das die rot-grüne Koalition mit Arbeitsagenturen, Kommunen und Arbeitsgemeinschaften angerichtet hat, wird auch durch die freiwillige Zusammenarbeit in den kooperativen Jobcentern von Arbeitsminister Olaf Scholz nicht beseitigt. Die Bundesregierung hat drei Jahre Zeit, um nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts für eine neue Ordnung zu sorgen. Wir wollen, dass alle Arbeitslosen in kommunalen Jobcentern aus einer Hand betreut und beraten werden, weil die Kommunen besser auf individuelle Problemlagen und den regionalen Arbeitsmarkt reagieren können. In diesem Rahmen haben wir bei der Arbeitslosenversicherung neben Pflichtleistungen auch Wahltarife vorgesehen, mit denen die Bedürfnisse der Betroffenen und einzelner Branchen individuell berücksichtigt werden können.

Kornelia Möller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003811, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ja, ich stimme dem vorliegenden Antrag insoweit zu, dass heute insbesondere befristet Beschäftigte oftmals ohne Absicherung in der Arbeitslosenversicherung bleiben, obwohl sie Versicherungsbeiträge abführen. Insbesondere Künstler, Kulturschaffende und Projektarbeitende mit kurzfristigen, unterbrochenen und befristeten Projektbeschäftigungen sind deshalb im Falle von Arbeitslosigkeit in der Regel sofort auf Grundsicherungsleistungen des SGB II angewiesen. Für diese Beschäftigtengruppe muss deshalb eine faire Lösung gefunden werden. Eine solche faire Lösung hat unsere Fraktion bereits mit unserem Antrag „Anpassung der Sozialgesetzgebung für Kultur- Medien- und Filmschaffende“ vom 6. Juli 2007 vorgeschlagen. Eine Anwartschaft von fünf Monaten hatten wir zur Diskussion gestellt. In der Analyse zur gegenwärtigen Situation, speziell zur Erosion des Normalarbeitsverhältnisses, möchte die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen augenscheinlich den Anschein erwecken, als ob der sich vollziehende Prozess einer Ausdifferenzierung und eines Wandels der Arbeitswelt mit Patchwork-Karrieren, unterschiedlichsten atypischen Beschäftigungsverhältnissen, „moderater und extremer Flexibilisierung“, ursachenlos sei. Das lasse ich Ihnen so nicht durchgehen! Denn spätestens hier wird Ihr Antrag unglaubwürdig, meine Damen und Herren von den Grünen: Weil Sie zu den Ursachen dieser Entwicklung während ihrer „Mitregierungszeit“ von 1994 bis 2005 selbst beigetragen haben. Die Ursachen liegen nicht schlechthin im Prozess der kapitalistischen Globalisierung und Produktivkraftentwicklung. Sie liegen darin, in welcher Art und Weise die Gesellschaft, die gesellschaftlichen Institutionen und die verantwortlichen politischen Eliten, also Schwarz-Rot und zuvor Rot-Grün, auf diese Entwicklungen reagieren. Und da gibt es deutliche Unterschiede in Europa! In Deutschland haben Sie, die Abgeordneten von Bündnis 90/Die Grünen, zusammen mit der SPD auf die neoliberale Karte der Arbeitsmarktpolitik gesetzt - ganz anders als zum Beispiel in einigen skandinavischen Ländern. Mit Ihrem gemeinsam mit der SPD begonnenen und von der Großen Koalition fortgesetzten Weg der Agenda 2010 und insbesondere den Hartz-Gesetzen - als angeblich alternativlose Lösung - haben Sie nicht nur die Situation der betroffenen Beschäftigten unzumutbar und existenzbedrohend verschärft. Sie haben atypischen und prekären Arbeitsverhältnissen auf der ganzen Linie zum Durchbruch verholfen. Sie haben alle Schranken bezüglich der Ausdehnung von Leiharbeit niedergerissen, Sie haben die Umverteilung von unten nach oben in bisher nicht gekanntem Tempo fortgesetzt, was der Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung mit erschreckenden Zahlen belegt, Sie haben die Zahl derer, die trotz Vollzeitarbeit nicht ohne Alimentierung ihre Existenz fristen können, über die Millionengrenze getrieben, Sie haben die Zahl derer, die trotz Vollzeitarbeit Hartz IV beantragen müssen, über die Millionengrenze getrieben und Sie haben mit Hartz IV ein Angstinstrument von gigantischem AusZu Protokoll gegebene Reden maß geschaffen, sodass die Kolleginnen, die noch Arbeit haben, bereit sind, jede Arbeit anzunehmen, ist sie auch noch so prekär. Wenn Sie wirklich etwas für Gerechtigkeit und Fairness tun wollen, dann helfen Sie mit, den verhängisvollen Weg der Hartz-Gesetze zu verlassen. Sie verändern damit auch die Situation der Beschäftigtengruppe der Künstler, Kulturschaffenden und Projektarbeitenden, um die es in Ihrem Antrag geht. Dringend notwendig ist eine einheitliche Arbeitsmarktpolitik, mit der die Trennung der beiden Regelkreise von SGB II und SGB III aufgehoben und die diskriminierende Einteilung in zwei Gruppen von Arbeitslosen mit unterschiedlichen Rechten und Pflichten beendet wird. Ich zitiere aus dem Evaluationsbericht zur Hartz I bis II Gesetzgebung von 2006: Die Trennung der Trägerschaft arbeitsmarktpolitischer Leistungen nach den Rechtskreisen SGB II und SGB III stellt aus Sicht der Wissenschaftler/-innen eine der größten Achillesfersen der deutschen Arbeitsmarktpolitik dar. Bei den anvisierten politischen Korrekturen der Arbeitsmarktpolitik solle daher die Notwendigkeit einer einheitlichen, rechtskreisübergreifenden Arbeitsmarktpolitik und einer entsprechenden Steuerung durch die Bundesagentur für Arbeit in den Mittelpunkt gerückt werden. Angemahnt wird ein breiter öffentlicher Diskurs darüber, wie aus gesamtgesellschaftlicher Sicht die Zielsetzung der Bundesagentur für Arbeit im Bereich des SGB III aussehen sollte. Politisch entschieden und auch gesetzgeberisch stärker verankert werden müsse, ob die Bundesagentur für Arbeit in der Arbeitsmarktpolitik eine sozialpolitische und umverteilende Aufgabe wahrzunehmen habe oder ob sie als eine rein nach betriebswirtschaftlichen Prinzipien handelnde Versicherungsanstalt agieren solle. Sie, meine Damen und Herren von den Grünen, wollen eine gerechtere Lösung für eine kleine Gruppe Hartz-IVBetroffener. Wie die bisherigen parlamentarischen Beratungen zeigten, will die Große Koalition nicht mal das akzeptieren. Sie könnten mit gutem Beispiel vorangehen. Haben Sie etwas mehr Mut und gestehen Sie sich und uns allen ein, dass die Hartz-Gesetze der falsche Weg waren. Unsere Unterstützung haben Sie dabei! Wir als Die Linke wollen eine gerechtere Lösung für alle Erwerbslosen und alle von Erwerbslosigkeit Bedrohten. Wir, die Abgeordneten der Fraktion Die Linke, wollen eine Arbeitsmarktpolitik ohne Hartz IV.

Brigitte Pothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003823, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die Große Koalition ist nicht in der Lage, vernünftige Lösungen für die neuen arbeitsmarktpolitischen Probleme und Herausforderungen zu entwickeln und umzusetzen. Der Union geht es in der Arbeitsmarktpolitik nur noch um Ideologie und Einsparungen, die SPD ist auf Vergangenheitskurs. Während der Niedriglohnsektor in Deutschland boomt und immer mehr Menschen trotz Arbeit arm sind, ergehen sich Union und SPD in endlosen Koalitionsrunden und Streitereien. Die Einführung von Mindestlöhnen in Deutschland wird verschleppt bis zum St. Nimmerleinstag. Auch auf die Frage der sozialen Absicherung bei zunehmend flexibleren Arbeitsverhältnissen hat die Koalition keine Antwort. Vor diesem Hintergrund ist es umso beschämender, wenn Sie nicht einmal in der Lage sind Lösungen, die auf den Tisch gelegt werden, zuzustimmen. Das ist auch beim vorliegenden Antrag der Fall. Worum geht es? Immer mehr Arbeitnehmer sind atypisch beschäftigt. Sie haben befristete Verträge, arbeiten Teilzeit oder wechseln als Zeitarbeitnehmer häufig ihren Arbeitsplatz. Betroffen sind zunehmend junge Menschen in den verschiedensten Berufen. 53 Prozent der jungen Beschäftigten hatten bereits in den ersten Jahren ihrer relativ kurzen Erwerbsbiografie mindestens einen befristeten Arbeitsvertrag - so das Ergebnis der Sonderauswertung des DGB-Index Gute Arbeit 2007 für unter 30-Jährige. Hinzu kommt die wachsende Gruppe der Solo-Selbstständigen und die Gruppe derjenigen, die diese Formen kombiniert oder im steten Wechsel mal auf der einen, mal auf der anderen Basis arbeitet. Von ihnen wird ein hohes Maß an Flexibilität verlangt. Ihr Erwerbsleben ist häufiger von Phasen der Arbeitslosigkeit unterbrochen. Dieser großen Unsicherheit und Diskontinuität steht aber auf der anderen Seite kein genauso hohes Maß an Sicherheit gegenüber. Denn unsere sozialen Sicherungssysteme orientieren sich immer noch am Normalarbeitsverhältnis. Die Situation der Kulturschaffenden ist exemplarisch für diese Entwicklung. Schauspielerinnen und Schauspieler werden häufig zwischen ihren verschiedenen Engagements arbeitslos. Ihre Einzahlzeiten in die Arbeitslosenversicherung sind oft zu kurz, um daraus einen Anspruch auf Arbeitslosengeld zu erzielen. Denn wer nicht innerhalb von zwei Jahren zwölf Monate einzahlt, erhält nach der derzeitigen Gesetzeslage kein Arbeitslosengeld, mit all den damit verbundenen Konsequenzen. Für Künstlerinnen und Künstler, aber auch für all die anderen Erwerbstätigen, von denen ein hohes Maß an Flexibilität gefordert wird und deren Jobs mit dem guten alten Normalarbeitsverhältnis kaum noch etwas zu tun haben, müssen neue Instrumente der sozialen Sicherheit entwickelt werden. Im Bereich der Arbeitslosenversicherung schlagen wir mit unserem Antrag eine neue Staffelung von Beitragsund Bezugszeiten vor. Wir wollen eine bessere Absicherung für all die Beschäftigten ermöglichen, deren Erwerbsleben zu häufig von Phasen der Arbeitslosigkeit unterbrochen ist, um nach den derzeitigen Regelungen Arbeitslosengeld beziehen zu können. Alle, die vier Monate innerhalb von zwei Jahren in die Versicherung eingezahlt haben, sollen zukünftig einen Anspruch auf zwei Monate Arbeitslosengeldbezug haben. Dieser Anspruch steigt dann mit steigenden Beitragszeiten gestuft an. Wenn zwölf Monate Beitragszahlungszeit erreicht sind, greift die heute gültige Regelung. Mit unserem Antrag wollen wir aber auch - über die Neuregelung der Beitrags- und Bezugszeiten im Rahmen des Arbeitslosengeldes hinaus - Freiräume schaffen, damit Menschen in Eigenregie so schnell wie möglich im Falle von Arbeitslosigkeit einen neuen Arbeitsplatz finden. InsbeZu Protokoll gegebene Reden sondere im Kreativ- und Projektbereich ist dies notwendig, damit qualifizierte neue Arbeitsgelegenheiten, Projekte und Aufträge akquiriert werden können. Jenseits der straffen Regelungen der Arbeitsvermittlung setzen wir - im Rahmen einer befristeten Vermittlungspause stärker auf Eigenverantwortung. Die Ausschussberatung hat gezeigt, dass die Probleme, die für viele der flexibel Beschäftigten bei den derzeitigen Regelungen bestehen, von allen Fraktionen gesehen werden. Aber: Weder gibt es bei Union und SPD die Bereitschaft, unsere Vorschläge zu einer neuen sozialen Absicherung für flexible Arbeitsverhältnisse zu unterstützen, noch machen die Regierungsfraktionen eigene Vorschläge zur Lösung der arbeitsmarktpolitischen Herausforderungen. Heinrich Schafmeister, Vorstandsmitglied des Bundesverbandes der Film- und Fernsehschauspieler hat kürzlich gegenüber der Presse erklärt: „Die Politik redet ständig über Flexibilität, hat aber vergessen, adäquate Regeln nicht nur für uns, sondern für alle Berufstätige zu schaffen, die nur zeitweise festangestellt sind.“ Das gilt zwar nicht für die gesamte Politik, wohl aber für Schwarz-Rot.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/8191, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/6436 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der Grünen bei Stimmenthaltung der Linken angenommen. Ich rufe Zusatzpunkt 6 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Maria Flachsbarth, Marie-Luise Dött, Michael Brand, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU und der Abgeordneten Dr. Hermann Scheer, Ulrich Kelber, Dirk Becker, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn, Winfried Hermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gründung einer Internationalen Agentur für Erneuerbare Energien ({0}) - Drucksache 16/9597 - Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu die- sem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. - Sie sind damit einverstanden. Also verfahren wir so. Die Kollegen Maria Flachsbarth, Hermann Scheer, Michael Kauch, Hans-Kurt Hill und Hans-Josef Fell haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.1) 1) Anlage 9 Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 16/9597. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Der Antrag ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD, Linken und Grünen bei Stimmenthaltung der FDP angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst Friedrich ({1}), Patrick Döring, Joachim Günther ({2}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Wettbewerb zwischen Bahn und Bus zulassen Parallelverkehr als Ablehnungsgrund im Personenbeförderungsgesetz abschaffen - Drucksache 16/6435 Überweisungsvorschlag: Ausschuss Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({3}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Tourismus Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, sind die Reden der Kollegen Klaus Hofbauer, Heinz Paula, Patrick Döring, Dorothée Menzner und Anton Hofreiter zu Protokoll genommen.

Klaus Hofbauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003149, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Der Antrag der FDP-Fraktion, mit dem sie mehr Wettbewerb zwischen Bus und Bahn fordert, kommt mir sehr bekannt vor. Einen inhaltsgleichen, in weiten Teilen sogar wortgleichen Antrag hat die FDP-Fraktion bereits vor zwei Jahren gestellt. Die CDU/CSU hat den Antrag seinerzeit abgelehnt und zwar aus gutem Grund. Erstens. Unser Ziel ist, mehr Verkehr auf die Schiene zu bringen. Dieses Ziel haben wir mit der Bahnreform 1993/94 verfolgt. Dieses Ziel findet sich im Koalitionsvertrag. Dort heißt es ausdrücklich: „Deutschland braucht leistungsstarke Schienenverkehrsunternehmen.“ Und dieses Ziel stand auch hinter der vor einem Monat beschlossenen Bahnprivatisierung - ein Schritt, den Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, tendenziell begrüßt haben. Zweitens. Die Auswirkungen des Vorschlags auf die Bahn sind: Schwächung der Bahn, Streckenstilllegung und höhere Preise. Die Bahn ist aufgrund der Angebote von Billigfliegern bereits heute einem starken Konkurrenzdruck ausgesetzt. Die uneingeschränkte Zulassung von Buslinien auf Strecken, die bereits von der Bahn hinreichend bedient werden, würde die Wirtschaftlichkeit des Schienenverkehrs erheblich schwächen. Vor allem auf den lukrativen Strecken würden der Bahn Fahrgäste entzogen. Die Folgen wären: Stilllegungen der unrentablen Strecken sowie höhere Preise für die Kunden. Aus diesen Gründen hat auch die gemeinsame Konferenz der für Verkehr und Straßenbau zuständigen Abteilungsleiter des Bundes und der Länder beschlossen, den Konkurrenzschutz zugunsten der Eisenbahn beizubehalten. Des Weiteren steht der Antrag der FDP im Widerspruch zu unseren oben genannten Zielen. Durch zusätzlichen, parallelen Busverkehr würde der Verkehr weg von der Schiene und auf die Straße verlagert. Das Zeichen, das wir mit einer solchen Regelung setzen würde, wäre: „Mehr Verkehr auf die Straße“. Das steht unseren Zielen diametral entgegen und kann auch nicht ernsthaft vonseiten der FDP-Fraktion gewollt sein. Eine Folge dieser Verlagerung des Fernverkehrs von der Bahn auf die Straße wäre, dass zur starken Belastung auf den Autobahnen aufgrund des Lkw-Verkehrs eine Belastung durch den Busverkehr hinzukäme. Das würde zu noch mehr Staus führen und das Unfallrisiko deutlich erhöhen. Im Übrigen bemühen wir uns nach Kräften, die CO2Belastung in Deutschland zu reduzieren. Einen wichtigen Beitrag hierzu leistet die verstärkte Verlagerung des Verkehrs auf die Schiene. Wenn diese Verlagerung nun durch zusätzlichen Buslinienverkehr wieder rückgängig gemacht wird, konterkarieren wir unsere Bemühungen zur CO2-Reduzierung in beispielloser Weise. Drittens. Zu den Auswirkungen des Vorschlags auf das Busgewerbe. Wenn die FDP-Fraktion meint, sie würde mit ihrem Vorschlag den Busunternehmen einen Gefallen tun, so irrt sie gewaltig. Zunächst muss bedacht werden, dass die uneingeschränkte Zulassung paralleler Buslinienverkehre aus Gründen der Wettbewerbsgleichheit auch die Einführung einer Mautpflicht für Busse erfordert. Die Bahn muss für ihre Verkehre Wegekosten zahlen, die Lkw müssen Mautgebühren zahlen, und demnach dürften auch die Busse aus Gründen der Gleichbehandlung nicht länger privilegiert werden. Die Konsequenz aus dem Vorschlag der FDP wäre damit eine zusätzliche Belastung für das Busgewerbe. Das ist mit uns nicht zu machen. Darüber hinaus erklären uns die Busunternehmen immer wieder, dass der Buslinienfernverkehr wirtschaftlich nicht sehr sinnvoll ist. Das Marktsegment ist aufgrund attraktiver Flug- und Bahnangebote nicht sehr groß. Man erhofft sich keine wesentlichen Steigerungsraten durch eine Ausdehnung des Buslinienverkehrs vom Nah- auf den Fernverkehr. Eine Änderung der derzeitigen Rechtslage ist daher überhaupt nicht notwendig. Außerdem sollte einmal klargestellt werden, dass Parallelverkehr nach der derzeitigen Regelung im PBefG durchaus möglich ist, zum Beispiel durch andere Taktfrequenzen. Auch macht die Regelung im Personenbeförderungsgesetz keinen Unterschied zwischen Nah- und Fernverkehr, und im Nahverkehr findet Parallelverkehr statt. Das zeigt, dass eine Änderung der derzeitigen Rechtslage nicht notwendig ist. Sie birgt, im Gegenteil, nur die Gefahr, dass große ausländische Busunternehmen den Markt besetzen, dann auch in den Regionalverkehr vorstoßen und letztlich die kleinen deutschen Busunternehmen verdrängen. Die Position der CDU/CSU zum wiederholten Antrag der FDP-Fraktion hat sich nicht geändert. Für uns ist klar: Wir wollen mehr Verkehr auf die Schiene und keine Schwächung dieses Verkehrsträgers, wir wollen weniger CO2-Ausstoß, und wir wollen das deutsche Busgewerbe nicht gefährden. Den Antrag der FDP-Fraktion lehnen wir aus diesen Gründen ab.

Heinz Paula (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003606, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Zum wiederholten Male kommen wir heute hier zusammen, um einen immer wieder leicht abgeänderten Antrag der FDP-Fraktion zu diskutieren. Zum vierten Mal wird an dieser Stelle der Antrag der FDP an die Ausschüsse überwiesen werden, wo er zum wiederholten Male abgelehnt werden wird. Dieser Antrag fordert, einen Gesetzentwurf vorzulegen, in dem die Genehmigungspflicht nach § 13 Abs. 2 PBefG so verändert wird, dass die Wahrnehmung von Verkehrsaufgaben durch bereits vorhandene Verkehrsunternehmen - hier die Bahn - kein Versagungsgrund mehr ist, Omnibuslinienfernverkehr auf Parallelstrecken zuzulassen. Immerhin verlangen Sie nicht mehr die komplette Streichung der Genehmigungspflicht nach § 13 Abs. 2, wie Sie es noch im Januar 2006 getan haben. Ihre Argumentation jedoch bleibt die gleiche, verehrte Kolleginnen und Kollegen der FDP. Der Wettbewerb im öffentlichen Personenfernverkehr werde Ihrer Meinung nach ausgeschlossen. Sie wollen konkurrierende Busdienste zulassen, und zwar auch parallel zu bestehenden Bahnverbindungen. Sie glauben, wenn ein Kunde nicht zig Alternativen hat, dass die Leistungen immer teurer und schlechter sein müssten. Sie argumentieren mit dem Einbruch im Personenfernverkehr der Bahn 2003, als wegen des unglücklichen neuen Preissystems - da gebe ich Ihnen recht - das Fahrgastaufkommen um rund 10 Prozent zurückgegangen ist. Nun, die Bahn hat das „neue“ Preissystem ziemlich schnell zurückgenommen. Zwischenzeitlich erfährt die Bahn auch im Personenfernverkehr - nicht zuletzt wegen der anziehenden Spritpreise - eine rasant steigende Nachfrage. Im gesamten Personenverkehr ist die Anzahl der beförderten Personen von 2002 bis 2005 um 32 Prozent gestiegen. Seit 2005 verzeichnet die DB AG jährlich einen Anstieg um die 4 Prozent. Die Bahn hat sich in den vergangenen Jahren zu einem sehr erfolgreichen Unternehmen entwickelt. Von schlechten Leistungen - wie Sie sagen - kann keine Rede sein. Die Bahn ist nach wie vor eines der umweltfreundlichsten, zuverlässigsten, sichersten und beliebtesten Verkehrsmittel überhaupt und wird von den Bürgerinnen und Bürgern gut angenommen. Somit kann Ihre Argumentation für mich nicht gelten. Aber auch der Omnibusverkehr hat in unserem Land eine wichtige Funktion. Da gebe ich Ihnen recht. Der Bus ist und bleibt ein ökologisch sinnvoller und sicherer Verkehrsträger, den es zu fördern gilt. Der Bus benötigt weniger als ein Drittel an Kraftstoff und emittiert proportional weniger CO2 als ein Pkw bei gleicher Auslastung und ist damit umweltfreundlicher. Der Flächenbedarf ist geringer. Wie die Bahn ist auch der Bus ein sicheres Verkehrsmittel. Auch aufgrund schärferer Kontrollen gab es 2006 im Busverkehr keinen einzigen getöteten Insassen. Im Zu Protokoll gegebene Reden motorisierten Individualverkehr dagegen sind 5 091 Todesopfer zu verzeichnen. Der Omnibusverkehr bedient Reisegruppen und Touristikunternehmen. Er bietet als Alternative zum Flugzeug und zur Bahn Mehrtagestouren an. Dies ist eine Leistung, die weder das Flugzeug noch die Bahn erbringen können. Der Omnibusverkehr ist zudem eine preiswerte Reisealternative für Menschen, die sich keinen ausgedehnten Urlaub auf den Malediven oder auf den Kanaren leisten können. Auch im öffentlichen Personenfernverkehr hat der Omnibusverkehr eine wichtige Bedeutung, die oftmals unterschätzt wird. Dort, wo die Bahn aus ökonomischen Gründen kein attraktives oder befriedigendes Angebot leisten kann, sind nach § 13 PBefG Parallelverkehre zugelassen. Das heißt, Konkurrenz ist nicht völlig ausgeschlossen. Ein neuer Buslinienfernverkehr kann dann genehmigt werden, wenn der Zielort nicht mit der Bahn erreichbar ist, oder mehrere Umstiege die Reisedauer beträchtlich erhöhen. Mit dieser Regelung ist ein gut funktionierender öffentlicher Personenfernverkehr gewährleistet - die Bürgerinnen und Bürger im öffentlichen Personenfernverkehr werden gut bedient. Nicht zuletzt leistet der Omnibus im ÖPNV und im Schulbusverkehr hervorragende und wertvolle Dienste. Ein funktionierender öffentlicher Personennahverkehr ist ohne private Busunternehmen nicht vorstellbar. Insbesondere in Mittelstädten und ländlichen Regionen bilden die Busunternehmen das Rückgrat des ÖPNV. Trotz wirtschaftlich schwieriger Zeiten in jüngster Vergangenheit konnten die privaten Busunternehmen nach Angaben des bdo ihre Passagierzahlen auf 551,7 Millionen Personen steigern. Sie setzen sich nun für eine Änderung des § 13 Abs. 2 PBefG ein. Dahin gehend, dass auch parallel zu bestehenden und gut funktionierenden sowie ausgelasteten Bahnstrecken Omnibusverkehre zugelassen werden dürfen. Sie wollen die bedingungslose Öffnung des intermodalen Wettbewerbes im Personenfernverkehr. Der von Ihnen kritisierte § 13 Abs. 2 PBefG hat jedoch durchaus seine Berechtigung. Er trägt der verkehrspolitischen Bedeutung des Schienenverkehrs Rechnung. Denn durch diese Regelung wird verhindert, dass dem Schienenverkehr durch entsprechende Parallelangebote im Straßenverkehr Fahrgäste in erheblichem Umfang entzogen werden. Durch diese Regelung wird verhindert, dass die Wirtschaftlichkeit des Schienenverkehrs geschwächt wird. Wir haben - und das dürfen auch Sie nicht vergessen - die Gemeinwohlverpflichtung für einen funktionierenden öffentlichen Personenverkehr. Auf der Grundlage des Grundgesetzes stecken wir sehr hohe Summen in das Schienennetz und in eine funktionierende Infrastruktur. Alleine das Investitionsrahmenprogramm der Bundesregierung sieht zwischen 2006 und 2010 25,2 Milliarden Euro für den Neu- und Ausbau von Schienenwegen vor. Das sind jährlich circa 5 Milliarden Euro. Was aber würde passieren, wenn man den Paragrafen abschaffen bzw. ändern würde, wie Sie es verlangen? Zumindest auf Strecken mit hohem Fahrgastaufkommen ist zu erwarten, dass zahlreiche parallele Busverkehre zu bestehenden Strecken angeboten werden. Der so entstehende Wettbewerb könnte die Eisenbahnen dazu verleiten, den Betrieb auf den dadurch unrentablen Strecken einzuschränken oder nur auf Bestellung mit Zuschüssen durch die öffentliche Hand durchzuführen. Unser ehemaliger Kollege Ali Schmidt nannte dieses Phänomen einst Kannibalisierungseffekt zwischen Bus und Bahn - ich gebe ihm da durchaus recht. Letztlich ginge dieser Effekt zulasten der Allgemeinheit. Streckenstilllegungen wären die Folge. Es entstünde eine ähnliche Situation wie derzeit bei den Billigfliegern - eine Entwicklung, die nicht nur in unserer Partei auf Bedenken stößt. Mittlerweile ist man sich wohl parteiübergreifend einig, dass aus ökologischen Gesichtspunkten Billigfliegerei keine langfristige Zukunft haben wird. Die Gefahr verstopfter Straßen würde weiter anwachsen. Durch das hohe Verkehrsaufkommen stößt unsere Verkehrsinfrastruktur schon jetzt an ihre Grenzen. Wir haben soeben den Masterplan Güterverkehr aufgelegt, um des stetig steigenden Güterverkehrsaufkommens Herr zu werden. Zusätzlichen Verkehr auf der Straße können wir uns nicht leisten. Eine Aufhebung des Konkurrenzschutzes hätte zudem negative Auswirkungen auf den Nahverkehr. Einige Nahverkehrsbeziehungen werden durch Fernverkehrszüge mit abgedeckt. Fallen diese weg, wird auch der Nahverkehr nicht mehr entsprechend bedient. Es müssten im öffentlichen Personennahverkehr neue Zugverbindungen geschaffen werden - oder wollen Sie allen Ernstes erhebliche Angebotsverschlechterungen herbeiführen? Zusätzlich bestünde bei Wegfall des Konkurrenzschutzes die so häufig zitierte Gefahr des „Rosinenpickens“. Unternehmen von Fernbuslinien werden sich auf wenige Angebote nur zu attraktiven Zeiten beschränken. Die unattraktiven Zeiten blieben der Bahn vorbehalten, die so kaum konkurrenzfähig bleiben kann. Auch hier verweise ich wieder auf die hohen Investitionen, die der Bund jährlich in eine funktionierende Eisenbahninfrastruktur steckt. Unserem Auftrag zur Gemeinwohlverpflichtung werden wir so nicht gerecht. Wir wollen, dass der Schienenverkehr leistungsstark und attraktiv bleibt - wie bisher. Wir wollen eine Überlastung des Straßennetzes - nicht zuletzt aus ökologischen Gründen - vermeiden. Deshalb wollen wir den Verkehrsträger Schiene stärken. So haben wir es im Koalitionsvertrag vereinbart. Dort ist zu lesen, dass „der Schienenverkehr unverzichtbar ist, um das Verkehrswachstum der Zukunft ökonomisch effizient und ökologisch verträglich zu bewältigen. Wir werden Wettbewerbsfähigkeit und Leistungsvermögen der Schiene weiter stärken. Für den Erhalt und den Ausbau der Schienenwege müssen die Mittel deutlich erhöht und dauerhaft auf dem erhöhten Niveau verstetigt werden.“ Dazu stehen wir. Und § 13 Abs. 2 PBefG dient diesen Zielen. Wie das in Verkehrsfragen häufig so ist, hat die EU auch bei nationalen Entscheidungen immer ein Wörtchen mitzureden. So auch in diesem Fall. Im März 2005 hatte ich in meiner Rede zu einem ähnlichen Antrag der FDP darauf hingewiesen, dass der fortschreitende OmnibusliZu Protokoll gegebene Reden nienverkehr innerhalb der Europäischen Gemeinschaft Veranlassung gibt, auch den nationalen Rechtsrahmen zu überprüfen. Damals war die Überarbeitung der EG-Verordnungen 684/92 und 12/98 noch nicht begonnen - inzwischen werden sie im Rahmen des „Road Package“ neu gefasst und sollen zukünftig als „Verordnung über gemeinsame Regeln für den Zugang zum Personenkraftverkehrsmarkt“ fortgelten. Nach derzeitigem Stand ist es wahrscheinlich, dass künftig - mehr noch als heute - die Möglichkeit der Beschränkung von Kabotageverkehren von den jeweiligen nationalen Vorschriften - wie eben auch unseren § 13 Abs. 2 PBefG - abhängen wird. Denn solche nationalen Vorschriften zur Beschränkung von Parallelverkehren zu existierenden Fernverkehrslinien - ob Bahn oder Bus dürften auch künftig diskriminierungsfrei auf ausländische Unternehmen Anwendung finden können, die im Rahmen einer grenzüberschreitenden Buslinie zwischen Haltestellen in Deutschland die Personenbeförderung - Kabotage anbieten wollen. Dies kann sowohl für bestehende Eisenbahnlinien wie für bestehende innerdeutsche Busfernlinien von besonderer Bedeutung sein, weil Verkehrsunternehmen mit ausländischem Sitz und ausländischem Fahrpersonal zum Teil erhebliche Kostenvorteile gegenüber in Deutschland ansässigen Eisenbahn- und Busunternehmen mit in Deutschland ansässigem Fahrpersonal haben. Dieser Ansicht sind im Übrigen auch die Länder. Die Gemeinsame Konferenz der Verkehrs- und Straßenbauabteilungsleiter der Länder, die GKVS, hat sich bereits mehrfach mit der Frage auseinandergesetzt, ob an dem Konkurrenzschutz im Busfernverkehr festgehalten werden soll. Bisher tendierten die Länder im zweiten BundLänder-Fachausschuss Straßenpersonenverkehr - der BLFA - dazu, den Konkurrenzschutz im Verhältnis BusBus aufzuheben und im Verhältnis Bus-Bahn beizubehalten. Die GKVS hat diesen Bericht zur Kenntnis genommen. Im März wurde zuletzt der Arbeitskreis „Bahnpolitik“ gebeten, gemeinsam mit den Betroffenen und dem BLFA den Konkurrenzschutz nach § 13 Abs. 2 PBefG vertieft weiterzubehandeln. Im Frühjahr 2009 können wir mit Ergebnissen rechnen. Bei den Vorbereitungen zu meiner Rede habe ich festgestellt, dass Ihre Forderungen von Antrag zu Antrag kleiner wurden. Ich will nicht sagen, Sie sind bescheidener geworden. Vielleicht besteht ja die Hoffnung, dass wir im kommenden Jahr auf einen Antrag zum gleichen Thema verzichten können.

Patrick Döring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003748, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Stellen Sie sich bitte einmal folgende Regelung vor: „Radwege sind nicht zu bauen, wenn es auf derselben Strecke bereits eine Straße gibt.“ - Das ist unvorstellbar, geradezu absurd! Da werden wir uns hier im Hause einig sein. Ebenso absurd ist aber die Regelung des § 13 Abs. 2 Nr. 2 Buchstabe a Personenbeförderungsgesetz, der die Genehmigung von neuen Linienverkehrsverbindungen im Fernverkehr unter den Vorbehalt stellt, dass der Verkehr nicht schon durch bestehende Verkehrsmittel bedient werden kann. Besonders deutlich durften wir alle die Auswirkungen dieser Vorschrift im Verlauf des letzten Jahres erleben, als die Eisenbahnen streikbedingt nicht fuhren und jegliche Ausweichmöglichkeit im öffentlichen Personenfernverkehr - mit Ausnahme des Flugzeuges - fehlte. Und - das muss hier berücksichtigt werden - nicht überall gibt es einen Flughafen. Und nicht auf allen Strecken ist Fliegen sinnvoll. Gerade in dem stark frequentierten Bereich der kurzen Fernverkehre bis zu einer Entfernung von 200 Kilometern macht Fliegen schon aus zeitlichen Gründen in der Regel wenig Sinn. Dass viele Menschen im letzten Sommer nicht von A nach B gekommen sind, lag nicht nur am Streik der Lokomotivführer. Vielmehr ist es die aktuelle Fassung des Personenbeförderungsgesetzes, die verhindert, dass es in solchen Fällen Ausweichangebote gibt. Diesen Missstand für die Zukunft zu beheben, ist der eine wichtige Grund für den vorliegenden Antrag. Ich komme gleich zum zweiten. Das Verbot von Parallelverkehren im öffentlichen Personenfernverkehr ist ein protektionistischer Schutzwall für die Deutsche Bahn AG. Der schienengebundene Fernverkehr liegt fast allein in der Hand der DB. Wettbewerb auf der Schiene gibt es bei diesen Verkehren so gut wie nicht. Schon 1994 hatte sich unter dem Eindruck der Qualität der Leistungen von Bundesbahn und Reichsbahn aber die Ansicht durchgesetzt, dass Wettbewerb den Schienenverkehr voranbringen würde. Wettbewerb führt zu höherer Qualität und niedrigeren Preisen; auch da wird sich kaum Widerspruch regen. Im Schienennahverkehr und im Güterverkehr keimt der Wettbewerb. Auch andere Branchen haben vorgemacht, wie sich der Wettbewerb positiv für die Menschen auswirkt. Das große Ziel der Bahnreform von 1994 war es deshalb ja, die Grundlage für echte Wettbewerbsbedingungen auf der Schiene zu schaffen. Auch wenn bei der Bahnprivatisierung für manche in den letzten Monaten fiskalische Aspekte in den Vordergrund gerückt zu sein scheinen - für die FDP-Fraktion gilt: Ziel der Bahnprivatisierung ist die Förderung von Wettbewerb, und wir freuen uns über alle, die dieses Ziel auch weiter im Blick haben und die Wege zu diesem Ziel in der Zukunft mitgehen. Aus diesem Grund wollen wir das Netz vom Verkehrsbetrieb trennen. Aus demselben Grund soll die Netzverantwortung komplett in staatlicher Hand bleiben. Ziel all dieser Überlegungen - das sei noch einmal gesagt ist die Gewährleistung des fairen Wettbewerbs auf der Schiene. Wettbewerb darf es aber nicht nur innerhalb eines Verkehrsträgers geben. Wettbewerb muss auch zwischen den Verkehrsträgern möglich sein. Und genau das verhindert derzeit das Verbot für parallele Linienfernverkehre. Denn Linienbusverkehre werden nicht neu genehmigt. Die wenigen noch existierenden Fernbuslinien fahren aufgrund alter Genehmigungen. Dabei ist festzustellen: Die Ökobilanz der Fernbuslinien ist sehr gut. Nach Berechnungen des Heidelberger IFEU-Instituts aus dem Jahr 2003 verursacht die Busreise einer Person auf der circa 500 Kilometer langen Strecke von Mannheim nach Prag einen Kohlendioxidausstoß von gut 20 kg. Die Zugfahrt im EC oder IC - noch nicht einmal im IGE - schlägt bereits mit Zu Protokoll gegebene Reden mehr als 40 kg zu Buche. Ein ähnliches Verhältnis ergibt sich beim Primärenergieverbrauch. Auch der Preis für eine Fahrt im Linienfernbus ist häufig erheblich geringer als der Normalpreis für eine Zugfahrt in der zweiten Klasse. Die Gründe, die für die Zulassung dieses Wettbewerbs sprechen, springen einen geradezu an. Um es noch einmal deutlich zu sagen: Der Genehmigungsvorbehalt zugunsten bereits existierender Linienfernverkehre ist genau das Gegenteil dessen, was wir in der Verkehrspolitik seit Jahren zu erreichen versuchen, wofür wir - überwiegend gemeinsam - seit Jahren kämpfen. Deshalb appelliere ich an Sie, insbesondere auch aus den Reihen der Großen Koalition: Beenden Sie mit uns dieses absurde Wettbewerbshindernis, und freuen Sie sich mit uns über einen weiteren Schritt hin zu mehr Wettbewerb im Personenfernverkehr!

Dorothee Menzner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003808, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Der Fleiß, mit dem die FDP vermeintliche Entbürokratisierungslücken entdeckt, ist zuweilen beeindruckend. Denn einmal mehr beglücken uns die Liberalen hier mit einem sogenannten Entbürokratisierungsvorschlag und haben sich dieses Mal das Personenbeförderungsgesetz vorgenommen. Angestrebt wird die Liberalisierung des Busfernlinienverkehrs. Dieser ist derzeit nach den Vorschriften des Personenbeförderungsgesetzes ausgeschlossen, sofern er parallel zu Fernstrecken der Bahn angeboten wird. Angesichts der Tatsache, dass die Deutsche Bahn immer mehr Fernzüge und vor allem -strecken einstellt, klingt es eigentlich verlockend, parallele Ersatzverkehre durch Busse anzubieten. Selbst Sie, werte Kolleginnen und Kollegen von der Fraktion der Grünen, hatten schon im März 2006 einen entsprechenden Antrag in den Bundestag eingebracht, dass PbfG dahin gehend zu novellieren, Fernlinienbusverkehr zu ermöglichen. Doch die Krux des Fernverkehrs in Deutschland liegt nicht in der nicht vorhandenen Konkurrenz, sondern darin, wie wir mehr Verkehrsanteile für den öffentlichen Verkehr generieren können. Die Konkurrenz bewegt sich in der Tat auf der Straße; allerdings in privaten Pkw. Leider entspricht der Antrag der Bündnisgrünen ebensowenig den Vorstellungen meiner Fraktion wie der FDP-Antrag. Eine Anmerkung dazu möchte ich mir an dieser Stelle jedoch erlauben, nämlich dass der öffentliche Personenverkehr bis zu den massiven Spritpreiserhöhungen der letzen Wochen ständig Marktanteile an den Pkw verloren hat. Die Ursache dafür liegt jedoch nicht in der mangelnden Konkurrenz der verschiedenen öffentlichen Verkehrsträger bzw. -mittel, sondern eher in den Kürzungen der Finanzmittel für Verkehrsleistungen im öffentlichen Nahund Fernverkehr. Gerade weil die Deutsche Bahn AG die Auflage hat, Fernverkehre eigenwirtschaftlich zu erbringen, was weltweit ohnehin kaum irgendwo gelingt, kann sie aus betriebswirtschaftlicher Sicht durchaus gezwungen sein, wenn es an Unterstützung durch öffentliche Mittel fehlt, Züge einzustellen. Das muss ich auch als linke Abgeordnete eindeutig feststellen. Also sollten wir schauen, wie wir den bundesweiten Fernverkehr ins richtige Gleis bringen; mit einem Schienen-Fernverkehrsgesetz, über das noch im Bundestag zu reden sein wird. Gehen wir von dieser Prämisse aus, dann erübrigen sich im Prinzip Gesetzentwürfe zur Einführung von mehr Konkurrenz zur Bahn. Daraus kann ich nur eine Schlussfolgerung ziehen: Nicht die Konkurrenz der verschiedenen öffentlichen Verkehrsmittel und -träger muss in den Fokus unserer Überlegung gerückt werden, sondern die Frage, wie wir den öffentlichen Personenverkehr insgesamt stärken können. Wir haben also zu überlegen, wie wir, zum Beispiel auf dem Wege von Ausschreibungen auch im Fernverkehr, zu einem insgesamt besseren Angebot kommen. Ob dies zuweilen auch von Bussen erbracht werden könnte, sei hier einmal dahingestellt. Doch davon steht weder etwas im Antrag der FDP noch in dem der Bündnisgrünen. Beiden Fraktionen geht es in ihren Anträgen nur um eine Öffnung des Marktes zuungunsten der Bahn. Das können und wollen wir als Linke nicht mittragen. Durch mehr künstliche Konkurrenz auf der Straße bringen wir den Fernverkehr nicht weiter. Sie ist eher kontraproduktiv. Daher lehnt die Fraktion Die Linke auch die Vorschläge der Grünen zur Novellierung des Personenbeförderungsgesetzes ab. Trotzdem wollen wir uns der Tatsache nicht verschließen, dass der Bus Lücken füllen kann, die die Bahn auf dem von der Regierungspolitik gewollten Weg zur Börsenfähigkeit aufreißen musste. Schließlich fährt die Bahn heute bereits gemeinsam mit privaten Unternehmen im Berlin-Linienbusverkehr, zum Beispiel nach Hamburg, und zwar in Konkurrenz zum eigenen ICE- und IC-Verkehr. Nur dort, wo der Fernverkehr Angebotsbrachen hinterlassen hat, zum Beispiel in vielen ostdeutschen Regionen, sollten wir das Einrichten von Fernbuslinien temporär zulassen, um die Lücken zu schließen; dann aber bitte nicht in einem deregulierten Wettbewerb. Das lehren die negativen Erfahrungen aus Großbritannien. Wenn die Vorschläge zu einer Änderung des Personenbeförderungsgesetzes in diese Richtung gegangen wären, hätte die Linke ihnen gern zugestimmt. So bleibt es bei unserem Nein zum vorliegenden Antrag der FDP.

Dr. Anton Hofreiter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003772, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die FDP hat unter Drucksache 16/6435 einen Antrag eingebracht, der vorsieht, dass Parallelverkehr zur Bahn als Ablehnungsgrund im Personenbeförderungsgesetz abzuschaffen sei. Der geltende Rechtsrahmen sieht nach dem Personenbeförderungsgesetz die Genehmigungspflicht für Buslinienverkehre vor. Die Genehmigung ist zu versagen, wenn der Verkehr mit den vorhandenen Verkehrsmitteln Zu Protokoll gegebene Reden befriedigend bedient werden kann oder der beantragte Verkehr ohne eine wesentliche Verbesserung der Verkehrsbedienung Verkehrsaufgaben übernehmen soll, die vorhandene Unternehmer oder Eisenbahnen bereits wahrnehmen. Im liniengebundenen Personenfernverkehr verhindert die gesetzliche Regelung Parallelverkehre bzw. Konkurrenz zwischen Bahn und Omnibus. Innerhalb Deutschlands gibt es bis auf Ausnahmen wie den Verkehr von und nach Berlin, der in der Zeit der Insellage Berlins entstand, oder Zubringerverkehre zu Flughäfen keinen Linienfernverkehr mit Omnibussen. Da die Deutsche Bahn AG bis auf nicht ins Gewicht fallende Ausnahmen alleiniger Anbieter von Fernverkehrsleistungen auf der Schiene ist, schützt diese Regelung de facto die DB vor Konkurrenz auf der Straße. Betrachtet man den gesamten Fernverkehrsmarkt, schützt die Regelung aber auch andere Verkehrsleistungsanbieter wie Mitfahrzentralen oder Billigflieger. Die DB muss sich heute schon der Konkurrenz des Flugzeugs, des Autos und des Reisebusses stellen. Ob und wie sie das bewerkstelligt, ist eine andere Frage. Der Schutz vor einem bestimmten Konkurrenten ist zumindest unsystematisch. Im Nahverkehr verhindert die gesetzliche Regelung Parallelverkehre zwischen unterschiedlichen öffentlichen Verkehrsmitteln, die alle mehr oder weniger staatlich direkt mitfinanziert werden. Die Regelung verhindert die Konkurrenz um Betriebskostenzuschüsse. Die Kannibalisierung des Schienenpersonennahverkehrs durch den bahneigenen Busverkehr hat sie nicht verhindert. Beim Fernverkehr stellt sich die Situation anders dar. Der DBFernverkehr soll eigenwirtschaftlich erbracht werden. Vom Bund gibt es keinen Betriebskostenzuschuss. Im Fernbusverkehr gibt es auch keine direkten Zuschüsse. Wenn im Schienenpersonenfernverkehr durch Entwicklungen auf europäischer Ebene Wettbewerb durch den Markteintritt anderer Bahnen stattfindet, verändert das die Konkurrenzsituation wesentlich stärker als die Zulassung des Linienbusfernverkehrs. Wettbewerb auf der Schiene im Nah- und Fernverkehr ist möglich, wenn auch bisher in unterschiedlicher Intensität. Die Angebotsqualität zumindest im Nahverkehr hat sich verbessert. Dies hat nicht nur damit zu tun, dass mehr Geld für den SPNV seit Beginn der Bahnreform zur Verfügung steht, sondern dass es neue Anbieter gibt. Wettbewerb mit dem Fernlinienbus könnte ansatzweise ebenfalls positive Effekte haben. Dass die Konkurrenz des Fernlinienbusses der Bahn derart zusetzen kann, dass die Bahn ihr Angebot zurücknehmen muss, ist nicht zwingend. Die Bahn hat auch ohne Buskonkurrenz Marktsegmente im Fernverkehr zurückgefahren, zum Beispiel InterRegio und Tagesrandlagen. Wenn zukünftig der DB-Fernverkehr auch eigentumsrechtlich privatisiert wird, würde der Staat bei Aufrechterhaltung des faktischen Verbots des Fernbuslinienverkehrs sogar einen privaten Anbieter vor Konkurrenz schützen. Für liniengebundenen Fernbusverkehr gibt es wahrscheinlich einen Markt. Der DB-Fernverkehr bedient selbst Städte mit mehr als 100 000 Einwohnern nicht. Viele Mittelstädte werden nicht vom DB-Fernverkehr bedient. Viele Fernverkehrshalte werden nicht umsteigefrei miteinander verbunden. Flughäfen und Flugverkehrsangebote weisen eine noch geringere Flächendeckung auf als der Bahnfernverkehr. Auch in preislicher Hinsicht sind andere Angebote zu erwarten. Bei der Betrachtung des DB-Fernverkehrsangebots könnte man vermuten, dass die Angebotsqualität fehlendem Wettbewerb geschuldet ist. Die Ermöglichung von Konkurrenz zwischen Bus und Bahn im Bereich des Personenfernverkehrs ist aus unserer Sicht an die Aufstellung fairer Wettbewerbsregeln zu binden. Das beinhaltet im Bereich der Wegekostenentgelte, dafür zu sorgen, dass nicht nur die Bahn Trassenentgelte bezahlen muss, sondern dass für den Bus auch Maut zu entrichten ist. Nach dem geltenden Autobahnmautgesetz ist der Bus von der Autobahnmaut befreit. In Österreich zahlt der Bus Maut. Eine negative Auswirkung auf die Busunternehmen und den Busreiseverkehr ist mir nicht bekannt. Im Berlinverkehr macht sich die Deutsche Bahn mit der eigenen Busflotte Konkurrenz. Mit der Konkurrenz im eigenen Haus hat die Bahn ja reichlich Erfahrung, wie der Güterverkehrsbereich mit Schenker und Railion schön zeigt. Aus Reihen der Bahn dürfte also nicht mit qualifizierter Kritik an der Ermöglichung des bundesweiten Fernlinienbusverkehrs zu rechnen sein. Zumindest im Bereich des Fernlinienbusses, der keine staatlichen Zuschüsse bekommt, ist eine Änderung der Versagungsgründe sinnvoll. Im Bereich des Nahverkehrs erscheint eine Aufweichung des Versagungsgrundes Parallelverkehr zwar nicht sinnvoll. In der Vergangenheit hat dieser Versagungsgrund aber nicht verhindert, dass die DB sich selbst mit Bussen im Nahverkehr keine Konkurrenz gemacht hat. Sie hat trotz des Versagungsgrundes Möglichkeiten gefunden, stilllegungsbedrohte Strecken durch Konkurrenz auf der Straße bei gleichzeitiger Verringerung des Zugangebotes noch schneller stillzulegen. Intelligente ÖPNV-Aufgabenträger brauchen diesen Versagungsgrund auch nicht.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/6435 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe die Zusatzpunkte 7 und 8 auf: ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Andreas Jung ({0}), Marie-Luise Dött, Michael Brand, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU und der Abgeordneten Frank Schwabe, Marco Bülow, Dirk Becker, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD und der Abgeordneten Michael Kauch, Angelika Brunkhorst, Horst Meierhofer, Dr. Guido Westerwelle und der Fraktion der FDP sowie der Abgeordneten Bärbel Höhn, Hans-Josef Fell, Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse Cornelia Behm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Internationalen Klimaschutz sichern - Integri- tät und Wirksamkeit der CDM-Projekte wei- ter verbessern - Drucksache 16/9598 - ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Eva Bulling-Schröter, Dr. Gesine Lötzsch, Monika Knoche, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Unterlaufen von Klimaschutzzielen durch CDM-Projekte beenden - Drucksache 16/7752 - Interfraktionell ist vereinbart, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/7752 mit dem Titel „Un- terlaufen von Klimaschutzzielen durch CDM-Projekte beenden“ heute abschließend zu beraten und insoweit die in der 136. Sitzung am 17. Januar 2008 beschlossene Überweisung an die Ausschüsse rückgängig zu machen. - Sie sind damit einverstanden. Dann verfahren wir so. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu die- sen Tagesordnungspunkten zu Protokoll zu geben. - Sie sind damit einverstanden. Dann verfahren wir so. Andreas Jung, Frank Schwabe,1) Michael Kauch, Eva Bulling-Schröter und Bärbel Höhn haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.2) Wir kommen zunächst zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/9598. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen des Hauses bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen. Zusatzpunkt 8: Abstimmung über den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/7752. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen von CDU/ CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung der Grünen abgelehnt. Ich rufe Tagesordnungspunkt 24 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia Behm, Undine Kurth ({1}), Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Das Bundeswaldgesetz novellieren und ökologische Mindeststandards für die Waldbewirtschaftung einführen - Drucksache 16/9450 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({2}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss 1) Der Redebeitrag wird im nächsten Plenarbericht abgedruckt. 2) Anlage 10 Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, sind die Reden der Kollegen Hans-Heinrich Jordan, Gerhard Botz, Christel Happach-Kasan, Kirsten Tackmann und Cornelia Behm zu Protokoll genommen.

Dr. Hans Heinrich Jordan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003778, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Deutschland gehört zu den waldreichsten Ländern in der Europäischen Union. Mit circa 11 Millionen Hektar ist nahezu ein Drittel der Fläche unseres Landes mit Wald bedeckt. Dabei ist unser Land zugleich einer der am dichtesten besiedelten Flächenstaaten auf der Welt. Der Wald ist heute mehr denn je auch ein Wirtschaftsfaktor. Fast 2 Millionen Waldbesitzer, circa 185 000 Betriebe mit 1 Million Beschäftigten und einem Umsatz von über 100 Milliarden Euro sprechen für sich. Der Schutz des Waldes bedarf aber auch einer wirtschaftlich ertragreichen Forstwirtschaft. Sie steigert zudem die Attraktivität der ländlichen Räume, zu der auch der Erhalt der kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Funktion des Waldes gehört. Er steht maßgeblich für viele natürliche Funktionen wie Klimaschutz, Schutz des Wasserhaushaltes, Hochwasserschutz und Schutz der ökologischen Vielfalt. Die Waldbesitzer haben ein ureigenes Interesse daran, den Wald nachhaltig zu bewirtschaften. Die deutschen Forstwirte pflanzen deshalb überwiegend Baumarten der natürlichen Waldgesellschaft. Die Ergebnisse der Bundeswaldinventur aus dem Jahr 2002 sind ein Beleg der erfolgreichen Arbeit. Seit 1970 ist der Laubbaumbestand von 29 Prozent auf 39 Prozent gestiegen. Deutschland hat mit einem Holzvorrat von mehr als 2 Milliarden Quadratmeter den größten Bestand in der Europäischen Union. Die vorliegenden Studien zum Waldbestand und zur Waldgesundheit deuten darauf hin, dass die deutschen Waldbauern nach wie vor große Aktivitäten darauf richten müssen, die „Waldgesundheit“ zu erhöhen. Trotz aller meist ideologisch motivierten Chaostheorien gibt es in Deutschland auch weiterhin gute Voraussetzungen für einen gesunden, wirtschaftlich wertvollen Waldbestand. Entscheidend ist dafür die ordnungsgemäß betriebene Forstwirtschaft, die als gute fachliche Praxis ausgeübt wird. Der vorliegende Antrag der Grünen spiegelt in keiner Weise die reale Situation in der deutschen Forstwirtschaft wieder. Die Forstwirte nutzen seit Jahrhunderten wissenschaftliche Erkenntnisse zur ordnungsgemäßen Forstwirtschaft. Der Ausbildungsstand unserer Forstwirte basiert auf einem hohen Niveau. Die Betreuung der Waldbesitzer bzw. des deutschen Waldbestandes wird auf vielfältige Weise durch staatliche und private Fachinstitutionen betrieben. Dazu gibt es ein umfangreiches länderspezifisches Organisationssystem. In hervorragender Weise haben die Forstwirte stets auf die sich veränderten Einflüsse dynamisch reagiert und insbesondere die Vorgaben des Bundeswaldgesetzes und die der Ländergesetze in die Praxis umgesetzt. Das Bundeswaldgesetz hat sich insgesamt bewährt, es bietet ausreichend Raum, um auch auf die neuen gesellschaftlichen, klimatischen, ökologischen und vor allem wirtschaftlichen Veränderungen reagieren zu können. Die im Grünen-Antrag geforderten massiven Einschnitte stellen durch bürokratische Vorgaben die fachliche Qualität und Handlungsfähigkeit der deutschen Forstwirte infrage, aber insbesondere auch die eigentumsrechtlich geschützten Werte. Teilweise blitzen in den Forderungen enteignungsgleiche Akte gegen die Waldbesitzer bzw. den Waldbesitz durch. Der vorliegende Antrag übersteigt bei weitem die in § 5 Bundesnaturschutzgesetz vorgesehenen Ziele und Praktiken einer ordnungsgemäßen Forstwirtschaft. Bundeswaldgesetz und Naturschutzgesetz ergänzen sich schon heute in praxisrelevanter Weise und bieten Handlungsspielraum zur Entwicklung der im Bundeswaldgesetz beschriebenen Aufgaben. Mit diesem Antrag soll die Bundesregierung aufgefordert werden, die Forstwirtschaft in ein enggezurrtes, starres, handlungsunfähiges Korsett zu zwängen. Ich vertraue gerne den Experten, insbesondere den gelernten und studierten Forstwirten, die mit ihrem Berufsethos, ihren fundierten Erfahrungen einen kompetenten und korrekten Umgang mit dem Kulturgut Wald garantieren. Der Wald an sich und dessen Bewirtschaftung sind nicht die entscheidende Ursache für Schäden und Kalamitäten, sondern von außen einwirkende Faktoren wie Umweltverschmutzung, Zersiedlung usw. haben zu Ausnahmesituationen und Problemen geführt. Der deutsche Wald und dessen Bewirtschafter bzw. dessen Eigentümer sind auf wissenschaftlich begründete wirtschaftliche Maßnahmen angewiesen. Dies gilt auch für die vielfältigen Nutzungsmöglichkeiten der Holzproduktion. Sie steht nicht im Widerspruch zur ordnungsgemäß betriebenen Forstwirtschaft, sondern ist notwendige Voraussetzung für finanzielle Rentabilität in den Forstbetrieben. Daher muss es bei nachhaltiger Nutzung standortgerechte Entscheidungen zur Bewirtschaftung und Nutzung geben. Mit der Föderalismusreform I wurden bewusst den Ländern mehr Gestaltungsräume und mehr Kompetenzen bei der Waldgesetzgebung zugesprochen. In allen Ländern ist ihre Eigenverantwortung an die gute forstwirtschaftliche Praxis zukunftsorientiert festgelegt. Eine Novellierung des Bundeswaldgesetzes würde in die Kompetenzen der Länder restriktiv eingreifen und deren Verantwortung konterkarieren. Unausweichlich führt dies zum Wachsen von Bürokratie, staatlicher Überwachung und gezielter Planwirtschaft. Ein Kernziel unserer Regierungsarbeit ist die Reduzierung der Bürokratie. Verbotsstrategien, wie hier vorgeschlagen, bewirken das Gegenteil. Natürlich bedingt vor allem die gesellschaftliche Entwicklung Eingriffe und Veränderung in der Rechtsetzung. Daher unterstütze ich aufgrund der sachlichen Notwendigkeit, dass im Rahmen eines Artikelgesetzes wichtige Sachzusammenhänge klargestellt bzw. neu geordnet werden. Dies betrifft insbesondere die Zuordnung von Kurzumtriebsplantagen und Agroforsten als Form landwirtschaftlicher Bodennutzung, die nichts mit nachhaltiger Waldbewirtschaftung zu tun haben. Im Weiteren sind die Beschränkungen zur Tätigkeit forstwirtschaftlicher Vereinigungen aufzuheben. In Angleichung an die Vorschriften der Forstbetriebsgemeinschaften sind neue Aufgabenkataloge zu bestimmen. Zugleich ist aufgrund der Neuorganisation der Bundes- und Landesforstverwaltungen in andere Rechtsformen eine neue Bestimmung der Stellung des Staatswaldes notwendig. Des Weiteren erfordern internationale Berichtspflichten zu Waldinventuren, dass neue Rechtsnormen zu statistischen Erhebungen gesetzt werden. Im Bundeswaldgesetz sollte die Forderung nach einer qualifizierten Betreuung durch Fachkräfte in Staatsforsten und kommunalen Forsten festgeschrieben werden. Abschließend möchte ich noch einmal feststellen, dass der vorliegende Antrag weit an der grundgesetzlich gesicherten Unabhängigkeit der Länder und Waldbesitzer und an den Erfordernissen der Waldbewirtschaftung vorbeigeht.

Dr. Gerhard Botz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000238, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Zahlreiche Diskussionen zur Nutzung regenerativer Energieformen rücken auch den Wald und den damit verbundenen Rohstoff Holz ins Licht der Öffentlichkeit. Die Fraktion der Grünen springt hier mit Leichtigkeit auf den bereits rollenden Zug auf. Eine Novelle des Bundeswaldgesetzes ist keine große Neuigkeit, sondern bereits schon seit längerer Zeit in der Diskussion und wird auch bereits auf verschiedenen Ebenen bearbeitet. Zentrale Punkte finden sich auch im vorliegenden Antrag wieder. Völlig unstrittig - und das sogar fraktionsübergreifend - sind die Forderungen zu den Aufgaben der forstbetrieblichen Gemeinschaften. Hier stimme ich mit dem Antrag überein. Gerade im Kleinprivatwald können noch bisher völlig ungenutzte Holzvorräte erschlossen werden. Wichtig ist hier eine Ergänzung des Aufgabenkataloges zur Erleichterung des Holzverkaufes. Auch die klare fachliche Abgrenzung der Begriffe Agroforstsystem und Kurzumtriebsplantage aus dem Waldbegriff sind nicht nur in der Großen Koalition völlig unstrittig. Dies haben auch die Erfahrungen der Ausschussreise nach Frankreich und Großbritannien gezeigt. Allerdings schießen Sie, liebe Grüne, in Ihrem Antrag auch deutlich über das Ziel hinaus. Wir müssen uns die Frage stellen, was kann und was sollte ein Bundeswaldgesetz regeln. Ich denke, die benannten Mindestanforderungen für eine nachhaltige Waldwirtschaft im Sinne einer guten fachlichen Praxis für den Wald sind viel zu eng gefasst und tragen der Vielfalt von Wald und dessen Erscheinungsbild nur ungenügend Rechnung. Mit festgelegter Waldrandstruktur beispielsweise oder vorgeschriebenen Mischbeständen werden hier zwangsweise Waldbestände zementiert, die auch gewünschte monotone natürliche Waldbestände, wie schützenswerte KalkBuchenwälder ausschließen, die von Natur aus sehr artenarm sind. Ich denke, hier dürfen einige, wenn auch gut gemeinte Formulierungen nicht so eng gefasst werden. Im Übrigen darf man den Ländern und ihren meist hervorragend qualifizierten Forstfachleuten ruhig zutrauen, dass sie eine geeignete Rahmengesetzgebung des Bundes, angepasst an die jeweiligen standortlichen Bedingungen in den unterschiedlichsten Bundesländern, kompetent Zu Protokoll gegebene Reden landesrechtlich ausfüllen. Bereits jetzt sind einige Landeswaldgesetze sehr zukunftsorientiert und ökologischwirtschaftlich nachhaltig formuliert. Da wird es Zeit, dass der Bund endlich nachzieht. An dieser Stelle möchte ich meine Worte direkt an die Union als unseren Koalitionspartner richten. Eine entsprechende Formulierung zur guten fachlichen Praxis und nachhaltigen Waldbewirtschaftung ist längst überfällig in der Fachgesetzgebung des Bundes. Das war eben auch der Grund, weshalb diese Zielstellung im Koalitionsvertrag klar festgelegt wurde. Lassen Sie daran bitte keine, wenn auch noch so kleine Novelle des Bundeswaldgesetzes scheitern. Es rückt nur endlich gerade, was in vielen, meiner Meinung sogar der Mehrzahl der Bundesländer längst gängige Praxis ist und fester Bestandteil der Landeswaldgesetze. Sehr geehrte Damen und Herren der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, ich muss mich schon sehr wundern, wenn ich Ihren Antrag lese, ob Sie sich so sehr von den Menschen dort draußen entfernt haben. Die Menschen haben von je her eine enge Bindung an den Wald, und das ändert auch kein Gesetz von 1975 und wird auch keine Novelle ändern. Sie leben mit ihm, sie leben von ihm, sie regenerieren sich dort; und nicht nur Menschen aus dem ländlichen Raum. Stellen Sie das doch nicht so als Nebensächlichkeit hin! Wald und Mensch gehören in Mitteleuropa von Anfang an zusammen. Die Verbundenheit der Bevölkerung mit ihrem Wald ist wesentlich stärker, als es hier zum Ausdruck kommt. Diejenigen, die draußen in diesem Sinne handeln, warten eh nicht auf das nächste kluge Papier. Ihre Zielstellungen für eine Waldpolitik scheinen mir etwas konfus zu sein. Einerseits formulieren Sie den Wunsch nach arten- und strukturreichen, naturnahen, gesunden Wäldern, wogegen generell ja niemand - wirklich niemand - etwas einzuwenden hat, aber dann lassen Sie - überspitzt gesagt - möglichst viel Totholz für den Käfer übrig, mobilisieren ganz groß die heimische Holznutzung, retten mit dem Bundesgesetz den Regenwald, fordern gleichzeitig in Deutschland die Extensivierung der Waldbewirtschaftung und legen dann möglichst viele Waldflächen still, das heißt Sie wollen Totalreservate. Liebe Grünen, spätestens an diesem Punkt haben Sie die Menschen da draußen verloren und sollten sich erst einmal darüber klar werden, was Sie wirklich wollen. Verstärkte Holznutzung und Totalreservat schließen sich einfach aus. Wir sind der Auffassung, dass Ökologie und Ökonomie unter einen Hut zu bringen sind, nur mit schöner Ideologie ist da nichts zu machen. Und noch ein kleiner Hinweis! Kahlschläge möchte sicher niemand mehr, und auch das ist in vielen Landesgesetzgebungen bereits verankert. Darüber brauchen wir hier im Hause wohl nicht mehr zu streiten. Aber Sie unterliegen einer Fehlinformation, wenn Sie meinen, mit höheren Holzvorräten retten wir unser Klima. Nein, ein stehender Holzvorrat kann natürlich auch nicht mehr viel an CO2 akkumulieren. Übrigens wird derzeit in Deutschland immer noch weniger an Holz aus dem Wald gewonnen als jährlich nachwächst. Auch das liest sich in Ihrem Antrag etwas anders. So könnte ich noch einige Dinge aufzählen, schlage aber vor, Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren von Bündnis 90/Die Grünen, überarbeiten erstmal Ihren Antrag, damit der Leser erfährt, was Sie denn eigentlich wollen!

Dr. Christel Happach-Kasan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003669, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Die FDP-Bundestagsfraktion hält eine vollständige Novellierung des Bundeswaldgesetzes zum jetzigen Zeitpunkt nicht für erforderlich. Das Bundeswaldgesetz hat sich in den vergangenen Jahrzehnten in Deutschland bewährt. Die Ergebnisse der letzten Bundeswaldinventur haben gezeigt, dass eine sinnvolle Bewirtschaftung der Wälder im Rahmen des jetzigen Bundeswaldgesetzes gegeben ist. In klar definierten Einzelpunkten gibt es allerdings Änderungsbedarf. Die FDP-Bundestagsfraktion fordert, dass das Bundeswaldgesetz geändert wird, um die Produktion von Holz zur energetischen Verwertung in Kurzumtriebsplantagen zu ermöglichen. Die Begriffe „Agroforstsysteme“ und „Wald“ müssen klar voneinander abgegrenzt sein. Agroforstsysteme sind kein Wald. Sie sind eine besondere Form landwirtschaftlicher Nutzung. Das muss im Bundeswaldgesetz entsprechend klar formuliert werden, damit für diejenigen, die sich in diesem Bereich engagieren wollen, klare rechtliche Rahmenbedingungen gelten. Insbesondere nach Vorlage des Gutachtens des Wissenschaftlichen Beirats beim Ministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ist eine solche Gesetzesänderung überfällig. Das Gutachten hat klar herausgestellt, dass hinsichtlich der CO2-Vermeidungskosten und der Flächeneffizienz die Nutzung von Hackschnitzeln, die aus Holz aus Kurzumtriebsplantagen erzeugt wurden, die günstigsten Werte aufweist. Es ist völlig unerklärlich, warum das Ministerium noch immer keinen Gesetzentwurf vorgelegt hat, um die Anlage von Agroforstsystemen zu erleichtern. Ein weiterer Punkt ist die Verkehrssicherungspflicht, die zurzeit unbefriedigend geregelt ist. Die Verurteilung von Forstleuten, die sich nichts haben zu Schulden kommen lassen, muss das Ministerium aufschrecken und Anlass sein, nach Lösungen zu suchen. Das ist bis jetzt nicht geschehen. Allerdings sind auch die Lösungsvorschläge im vorliegenden Antrag noch unbefriedigend. Besonders im deutschen Kleinprivatwald können noch große Holzvorräte erschlossen werden, um die Nutzung des nachwachsenden Rohstoffs Holz zu intensivieren. Dies wäre im Sinne der Charta für den Wald. Die FDP schließt sich der Forderung an, dass hierfür künftig die Holzvermarktung durch forstwirtschaftliche Vereinigungen von Kleinwaldbesitzern erleichtert wird. Alle Anstrengungen, den Mobilisierungsgrad von Holz aus dem Kleinprivatwald zu erhöhen, sind hierbei ausdrücklich zu unterstützen. Im Übrigen enthält der vorliegende Antrag von Bündnis 90/Die Grünen neben wenigen bedenkenswerten AnZu Protokoll gegebene Reden sätzen, die wir unterstützen, viele Forderungspunkte, die nicht einmal nachvollziehbar sind und nicht der derzeitigen Ausrichtung einer modernen und nachhaltig betriebenen Waldbewirtschaftung entsprechen. Der Antrag ist von Misstrauen gegenüber Waldbesitzern und Forstleuten geprägt, einem Misstrauen, das weitgehend unberechtigt ist; denn die Bundeswaldinventur hat die hohe Qualität unserer Waldbewirtschaftung eindeutig bestätigt. Der Gesetzgeber kann nicht hinter jedem Förster stehen, sondern muss seinem Sachverstand und seiner guten Ausbildung vertrauen. Das hat bis jetzt gut funktioniert. Eine Fläche von 1 000 Quadratmetern als Wald definieren zu wollen, wenn darauf Waldbäume stehen, wie der Antrag dies vorschlägt, ist ein Beispiel für PepitaDenken. Demnächst werden dann 100 Quadratmetern Vorgartenrasen mit Gänseblümchen als Wildblumenwiese definiert und unter Schutz gestellt. Wer so kleinteilig denkt, verliert die große Linie aus den Augen. Das ist Bürokratismus pur. Die Forderung im Antrag der Grünen, das Verbot von Kahlschlägen in einem neuen Waldgesetz zu verstärken, ist überflüssig. Kahlschläge im Wald sind bereits im bestehenden Bundeswaldgesetz verboten. Nach Naturereignissen, wie zum Beispiel dem verheerenden Orkan „Kyrill“ im Januar 2007 sind sie nach behördlicher Genehmigung zulässig und notwendig, um eine nachhaltige Wiederaufforstung der betroffenen Flächen rasch zu ermöglichen. Aufforstungen erst nach fünf Jahren erlauben zu wollen, verkennt, dass unter bestimmten standörtlichen Bedingungen dies zu starker Bodenerosion führen kann. Viele der minutiös aufgelisteten Kleinstpunkte gehören nicht in ein Gesetz. Dass Bodenverdichtungen vermieden werden sollten, weiß jeder, der in der Land- oder Forstwirtschaft tätig ist. Auch die Tatsache, dass Bodenschutzkalkungen nach den standörtlichen Bedingungen zu orientieren sind, ist bekannt. Für diese und viele weitere Punkte ist keine Novellierung des Bundeswaldgesetzes erforderlich. Die Wälder in Mitteleuropa liefern den nachwachsenden Rohstoff Holz. Holz ist der für die rohstoffliche und energetische Nutzung wichtigste nachwachsende Rohstoff in Deutschland. Wälder sind Erholungsraum für viele Menschen, sie empfinden Wälder als Natur pur. Die natürliche Vegetation in Deutschland ist Wald. Deshalb sind Wälder für den Artenschutz von besonderer Bedeutung. Die Wälder bieten zahlreichen Menschen einen Arbeitsplatz und ein gesichertes Einkommen, insbesondere im strukturschwachen ländlichen Raum. Wir müssen unsere Wälder nachhaltig bewirtschaften, ihre Artenvielfalt erhalten und durch Nutzen schützen. Ein neues Bundeswaldgesetz mit vielen kleinteiligen Regelungen und viel Bürokratie brauchen wir dafür nicht. Deshalb lehnen wir den Antrag ab.

Dr. Kirsten Tackmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003853, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Seit Beginn der 16. Wahlperiode wird immer wieder eine Überarbeitung des Bundeswaldgesetzes angekündigt. Es stammt aus dem Jahr 1974, und eine Novellierung ist überfällig. Schon Rot-Grün hatte sie im Koalitionsvertrag festgeschrieben. Aber über einen Entwurf sind auch sie nicht hinausgekommen. Unterdessen hat sich weiterer Änderungs- und Konkretisierungsbedarf ergeben, der nun dringend eingearbeitet werden muss. Die Linke fordert endlich Taten statt folgenlose Ankündigungen. Wir sehen vor allem in drei Aspekten Änderungsbedarf: Erstens ist eine Neudefinition des Waldbegriffes dringend nötig. Dazu brauchen wir im § 2 BWaldG eine Regelung, die die Anlage und Nutzung von Agroforstflächen unterstützt und nicht verhindert. Zweitens brauchen wir eine konkretere Festlegung, was unter der „guten fachlichen Praxis“ in der Fortwirtschaft zu verstehen ist. Drittens werden dringend Regelungen benötigt, die in den Kleinprivatwäldern die Mobilisierung der Holzreserven bzw. den Waldumbau hin zu naturnahen Mischwäldern besser unterstützen. Aber selbst bei diesen Minimalforderungen blockiert sich die Koalition - wie bei so vielen politischen Erfordernissen - gegenseitig. Auf eine mündliche Frage, wann denn mit einem Gesetzentwurf zur Novellierung des Bundeswaldgesetzes zu rechnen sei, antwortetet mir die Parlamentarische Staatssekretärin Ursula Heinen im Januar 2008, „mit der Zuleitung einer entsprechenden Gesetzesvorlage an den Deutschen Bundestag ist für das erste Halbjahr 2008 zu rechnen“. Gut, bis zum Ende des ersten Halbjahres haben Sie ja noch elf Tage Zeit! Ich bin sehr gespannt, ob Sie bis dahin doch noch schaffen, wovon Sie schon seit zwei Jahren reden. Natürlich ist der Wald kein Ökosystem, das kurzfristig reagiert. Da gibt es erstaunliche Parallelen zum Agieren der Regierung. Aber gerade weil dieses System träge, also zeitverzögert, reagiert, ist richtiges Handeln zum richtigen Zeitpunkt umso notwendiger. Und da sind wir aus dem Zeitfenster schon fast raus. Hinsichtlich des Handlungsbedarfs ist sich die Opposition dieses Mal einig: nach Linken und FDP haben nun mit den Grünen alle drei Oppositionsfraktionen ihre Forderungen auf den Tisch des Hohen Hauses gelegt. Die Linke hat in ihrem Antrag - Drucksache 16/9075 - gefordert, die Bedingungen für eine naturnahe Waldbewirtschaftung zu definieren. Die Grünen greifen dieses Thema auf, was wir natürlich begrüßen. Ziel muss es sein, die bestehenden Waldfunktionen - nutzen, schützen und erholen - zu stärken und gleichzeitig mit wichtigen neuen Herausforderungen wie Naturschutz, Klimawandel, Artenvielfalt und Umweltbildung zu verknüpfen. Das geht nicht in standortfremden Monokulturen, sondern in naturnahen Mischwäldern mit zum Standort passenden Arten - was für uns sowohl aus ökologischem als auch aus ökonomischem Blickwinkel zu definieren ist. Standortheimische Arten haben dabei für uns Vorrang. Wir wenden uns aber gegen eine Instrumentalisierung dieser Diskussion, die darauf hinausläuft, dass sich Regionen forstwirtschaftlich abschotten. Deutschland hat dabei eine besondere Verantwortung für die Buchenwälder. Zwar würde die Buche ohne forstwirtschaftliche Eingriffe in ganz Mitteleuropa vorkommen, aber ausgedehnte Buchenwälder sind heute selten geworden. Daher gilt es besonders im Herzen des Zu Protokoll gegebene Reden natürlichen Verbreitungsgebietes - und das ist Deutschland - Buchenwälder wieder emporwachsen zu lassen und nachhaltig zu nutzen. Für die Linke hat bei der Überarbeitung des Gesetzes der dauerhafte Erhalt des Ökosystems Wald Vorrang, weil das im Interesse der gesamten Gesellschaft ist und weil nur das auch die Option der Nutzung der natürlichen Ressource Holz sichert. Das ist sowohl sozial als auch ökonomisch sinnvoll und daher von großer Bedeutung. Um dieses Ziel zu erreichen, sind die gesetzlichen Regelungen an folgende Kriterien zu binden: Gebraucht wird eine Orientierung am Dauerwaldprinzip und am Mischwaldprinzip. Damit werden dauerhafte Kahlschläge ausgeschlossen und standortheimische Bestände bevorzugt. Die Naturverjüngung muss gegenüber waldbaulichen Maßnahmen Vorrang haben. Dazu ist es aber auch notwendig, die Wilddichten anzupassen. Gegebenenfalls muss das Bundesjagdgesetz überarbeitet werden. Die forsttechnischen Arbeitsschritte müssen sich an der Reduzierung des Einsatzes von Chemie, einer bodenschonenden Bearbeitung sowie der Gentechnikfreiheit im Wald orientieren. Um kein Missverständnis hervorzurufen: Die angeführten Kriterien schließen die Bewirtschaftung der Wälder nicht aus. Im Gegenteil. Die Linke bekennt sich ganz klar zu einer nachhaltigen Nutzung durch die einheimische Forstwirtschaft. Sie sichert Leben und Arbeit in den ländlichen Regionen, versorgt uns mit hochwertigem Holz zur stofflichen Nutzung und bietet damit eine sinnvolle Alternative zu Holzimporten aus Raubbau. Selbst die energetische Nutzung des Holzes ist angesichts der dramatisch gestiegenen Energiepreise für viele wieder eine sinnvolle Alternative geworden. Aber der Wald kann seine vielen Funktionen nur erfüllen, wenn er nachhaltig genutzt wird. Noch viel mehr als in der Landwirtschaft muss in der Forstwirtschaft langfristig gedacht werden, denn das Handeln unserer Generation im Wald bestimmt über die Bedingungen für die nächste Generation Forstleute. Wir benötigen für die Überarbeitung des Bundeswaldgesetzes einen breiten gesellschaftlichen Dialog, auch über die Leistungen, die wir vom Wald und vom Förster - oder der Försterin - erwarten. Dieser Dialog sollte nicht nur im Ausschuss, sondern auch in einer öffentlichen Anhörung stattfinden. Die Linke sieht sich in der Verantwortung, die naturorientierte Waldwirtschaft durch die Novellierung des Bundeswaldgesetzes zu stärken. Die „gute forstfachliche Praxis“ muss so definiert werden, dass sie den Herausforderungen der Zukunft gerecht wird.

Cornelia Behm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003500, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Waldpolitik findet bei Schwarz-Rot nicht statt. Das muss man nach zweidreiviertel Jahren Großer Koalition nüchtern feststellen. Und zwar gilt das nicht nur für die von der Großen Koalition angekündigte Änderung des Bundeswaldgesetzes, auf die wir bis heute vergeblich warten. Nein, es gilt auch für andere gestalterische Initiativen rund um den Wald und die Holzwirtschaft. Einzige Ausnahme bildet die Holzbeschaffungsrichtlinie. Allerdings schloss die Große Koalition damit auch nur ein Vorhaben ab, das Rot-Grün bereits begonnen hatte. Auch wenn wir uns damals vor Überraschung die Augen rieben: Es ist Tatsache, dass die Große Koalition im Koalitionsvertrag vereinbarte, das Bundeswaldgesetz zu novellieren. Wörtlich heißt es dort, die große Koalition wolle „die Inhalte einer nachhaltigen Waldbewirtschaftung im Bundeswaldgesetz klarer fassen.“ Ja, wir haben uns vor Überraschung die Augen gerieben; denn aus Kreisen der Union wurde bis dahin immer nur gebetsmühlenartig wiederholt, das Bundeswaldgesetz habe sich bewährt und bedürfe keiner Änderung. Die Union lehnte insbesondere die Festlegung einer guten fachlichen Praxis ab, welche die Inhalte einer nachhaltigen Waldbewirtschaftung definiert. Nun ja, ein Entwurf zur Änderung des Bundeswaldgesetzes liegt bisher - man muss sagen: erwartungsgemäß - noch nicht vor, obwohl die Zeit bis zum Ende der Legislaturperiode langsam knapp wird. Anfang des Jahres wurde uns mitgeteilt, ein Entwurf zur Änderung des Bundeswaldgesetzes werde in der ersten Hälfte dieses Jahres vorgelegt. Das halbe Jahr ist fast um, und nichts ist passiert. Mittlerweile ist zu befürchten, dass die Koalition die Novelle doch nicht mehr anpacken wird. Das hieße dann, die Gegner einer Novellierung des Bundeswaldgesetzes im Agrarministerium hätten dieses Thema dann eine weitere Legislaturperiode erfolgreich ausgesessen. Vor diesem Hintergrund hat die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen jetzt die Initiative für eine Novellierung des Bundeswaldgesetzes ergriffen. Damit wollen wir Druck machen, damit die dringend notwendige Anpassung der Rechtsgrundlage der Waldwirtschaft an die aktuellen Herausforderungen endlich auf den Weg gebracht wird. Dabei gibt es durchaus Änderungen, über die wir uns parteiübergreifend einig sind. Dazu gehören die Abgrenzung von Agroforstsystemen und Kurzumtriebsplantagen gegenüber Wald, die Begrenzung und klarere Regelung der Verkehrssicherungspflicht sowie die Erleichterung des wirtschaftlichen Betriebes in forstwirtschaftlichen Zusammenschlüssen. Auf diese Änderungen wartet die Branche seit Jahren, und es ist völlig unverständlich, warum hier nichts passiert. Kern unseres Antrages ist jedoch die Einführung ökologischer Mindeststandards für die Waldbewirtschaftung in das Bundeswaldgesetz. Dies ist deshalb dringend erforderlich, weil laut Bundeswaldinventur 65 Prozent der Wälder in Deutschland nicht naturnah sind. Das heißt, es besteht ein großer Nachholbedarf in Sachen naturnaher Bewirtschaftung. Hinzu kommt der zunehmende Nutzungsdruck auf unsere Wälder durch die Holz- und Bioenergienutzung. Hier bedarf es klarer Grenzen, um die Übernutzung unserer Wälder zukünftig ausschließen zu können. Leider ist Übernutzung kein Horrorszenario, sondern in Teilen deutscher Wälder bereits Realität. Durchschnittszahlen über wachsende Holzvorräte verschleiern dieses Bild. Denn jeder in der Branche weiß, dass die meisten Landesforstverwaltungen und großen Privatforstbetriebe bereits am Limit ihres Einschlagspotenzials arbeiten, während es im Kleinprivatwald große Holzmobilisierungsreserven gibt. Und genauso bekannt ist, dass es mittlerweile einzelne Waldbesitzer gibt, die auf Kosten der Nachhaltigkeit schnell Kasse machen wollen und dies Zu Protokoll gegebene Reden auch tun. Aber es geht uns nicht allein darum, die Wälder vor einer übermäßigen Nutzung zu schützen. Es geht uns auch darum, welche Art von Waldbau auf der gesamten Fläche betrieben wird und welche Art von Beständen aufgebaut wird. Ziel unseres Antrages ist es, arten- und strukturreiche, naturnahe und gesunde Dauerwälder zu schaffen und die biologische Vielfalt der Waldökosysteme zu erhalten bzw. zu verbessern. Schließlich sind artenreiche Wälder stabiler und bieten einen höheren Schutz vor den Unbilden des Klimawandels. Wir Grüne sind deshalb fest davon überzeugt, dass gerade in Zeiten des Klimawandels der Aufbau naturnaher Dauermischwälder grundsätzlich der richtige Weg ist, um auch in Zukunft sichere Holzerträge zu gewährleisten. Der Anbau standortfremder Baumarten und von großflächigen Monokulturen mit dem - trügerischen - Ziel der Holzertragsmaximierung muss jedoch beendet werden. Obwohl wir Grüne uns mit diesen Forderungen auf einer Linie mit einer Vielzahl moderner Forst- und Umweltwissenschaftler befinden, gibt es noch immer viele Befürworter der alten Schule der Altersklassenwälder. Deswegen ist es alles andere als müßig, die konkreten Vorgaben einer naturnahen und nachhaltigen Waldwirtschaft in das Bundeswaldgesetz aufzunehmen. Sicher ist es nötig, über jede einzelne Vorgabe gründlich zu diskutieren und nachzudenken und die Erfahrungen der Praktiker in diese Debatte einfließen zu lassen. Genau dies würde ich mir wünschen. Es wäre mir zu wenig, wenn die Diskussion nur darum gehen würde, ob es richtig und nötig ist, ökologische Mindeststandards in das Waldgesetz aufzunehmen oder nicht. Auf den Inhalt kommt es an. Der Wald wird es danken.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/9450 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 26 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Florian Toncar, Harald Leibrecht, Burkhardt MüllerSönksen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Das Verhalten von Birmas Junta muss Konsequenzen haben - Drucksache 16/9340 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({0}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden der Kollegen Holger Haibach, Johannes Pflug, Florian Toncar, Norman Paech und Kerstin Müller zu Protokoll genommen.

Holger Haibach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003546, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das Thema Birma bleibt leider auch weiterhin auf unserer Agenda. Zum zweiten Mal innerhalb eines halben Jahres müssen wir uns mit einem Land beschäftigen, das nicht aus den negativen Schlagzeilen herauskommt. Im vergangenen Jahr sprachen wir hier an gleicher Stelle über Birma, als sich die buddhistischen Mönche erhoben und gegen die katastrophale menschenrechtliche und humanitäre Situation in ihrer Heimat protestierten. Wir alle wissen, mit welcher Brutalität das Regime zurückgeschlagen und die Demonstrationen gewaltsam aufgelöst hat. Die Welt stand damals unter dem Schock des Eindrucks der Ereignisse, und es hat einen Moment gedauert, bis wir die geeigneten Reaktionen gefunden haben. Wir haben es in Birma mit einem Regime zu tun, das sich wie viele andere Unrechtsdiktaturen auf die Waffen seiner Armee stützt. Die Armee, die Militärjunta ist das beherrschende Element des Staates, der keine echte Opposition duldet und derartige Bestrebungen sofort unterdrückt. Die birmanische Junta ist offensichtlich ein menschenverachtendes Regime, das schnellstens abtreten sollte. Nicht zuletzt die zynische Reaktion der Junta auf den Zyklon im Mai dieses Jahres bestätigt dies. Nach Angaben der Vereinten Nationen sind rund 130 000 Tote zu beklagen, rund 2,4 Millionen Menschen sind durch den Wirbelsturm obdachlos geworden. Angesichts der Trauer über die Opfer und dem Mitgefühl mit ihnen dürfen wir jedoch nicht die Augen verschließen. Statt die angebotene internationale Hilfe schnell und kompromisslos anzunehmen, hat das Regime zuerst jegliche ausländische Hilfe abgelehnt und damit den Tod von vielen Menschen billigend in Kauf genommen. Tagelang ließen die Militärs keine ausländischen Helfer ins Land, was für die Menschen die eigentliche Katastrophe nach der Katastrophe bedeutete. Statt sich um die Opfer des Zyklons zu kümmern, hat die Regierung am 10. Mai das geplante Verfassungsreferendum durchführen lassen, das das erwartete, offensichtlich manipulierte Ergebnis von über 92 Prozent Zustimmung brachte. Dadurch wurden natürlich notwendige finanzielle und personelle Ressourcen gebunden, die nicht zur Bekämpfung der Katastrophe zur Verfügung standen. Die Regierung hat damit wichtige Zeit vergeudet und weitere Tote verschuldet. Umso mehr gilt unser Dank heute den Vertretern des Auswärtigen Amtes, insbesondere Staatsminister Erler, dass sie die Geberkonferenz genutzt haben, um auf die Regierung in Rangun einzuwirken. Erst danach konnten ausländische Hilfslieferungen ins Land und zu den Menschen gelangen. Den deutschen Helfern, die unter schlimmsten Zuständen vor Ort tätig sind, möchte ich daher heute ebenfalls meinen Dank und die Wertschätzung für ihre Arbeit aussprechen. Die Probleme in Birma bleiben aber weiterhin virulent. Die Regierung klammert sich an die Macht und geht weiter mit Gewalt und Unterdrückung gegen die kleine Opposition vor. Friedensnobelpreisträgerin und Oppositionsführerin Aung San Suu Kyi ist trotz internationaler Proteste noch immer unter Hausarrest gestellt. Erst in der vergangenen Woche wurde Zarganar, Birmas populärster Komiker, Schauspieler und Filmemacher, der dem Regime den Spiegel vorhielt, mit der Begründung festgenommen, dass er das Ansehen der Regierung schädige. Von einer politischen Entspannung sind wir also noch weit entfernt. Doch was bleibt zu tun? Die FDP hat in diesen Tagen ihren neuen Birma-Antrag eingebracht, in dem sie ausführlich darlegt, wie sich die Situation momentan in dem Land darstellt. Das ist gut und richtig und vermittelt ein schmerzliches Bild eines zerrissenen Landes. Die FDP stellt die richtigen Forderungen, auch wenn sie nicht wirklich neu sind. So haben erst jüngst die Außenminister der Europäischen Union über eine Verschärfung der Sanktionen gegenüber Birma nachgedacht. Die Haltungen dazu sind durchaus unterschiedlich. Zwar mag ein Exportverbot für Luxusgüter nach Birma sicherlich „unschädlich“ für die einfachen Menschen sein. Wir brauchen jedoch wirksamere Mittel, um Druck auszuüben. Wir sollten vielmehr versuchen, zusammen mit unseren internationalen Partnern die Finanzströme des Landes, natürlich vor allem die des Regimes, einzuschränken. Dazu müssen Auslandskonten gesperrt und Transaktionen verhindert werden. Aber auch hier ist darauf zu achten, dass sich alle Länder, auch die in der unmittelbaren Umgebung - wie etwa China -, an solchen Maßnahmen beteiligen. Ich will noch auf einen anderen Punkt zu sprechen kommen, der sich auch in dem Antrag der FDP wiederfindet. Sie fordern ein stärkeres Engagement der asiatischen Länder, vor allem der ASEAN-Staaten. Dies sehe ich genauso. Hier müssen wir den Schlüssel für den Durchbruch von Demokratie und Menschenrechten in Birma suchen. Europa und die westlichen Staaten können diesen Prozess unterstützen. Der eigentliche Anstoß für Veränderungen muss jedoch von den asiatischen Ländern ausgehen. Die ASEAN-Staaten haben sich im vergangenen Dezember eine Charta gegeben und sich zur Demokratie bekannt. Dies ist der Ansatzpunkt, den wir unterstützen sollten. Nicht wir sollten Birma den erhobenen Zeigefinger vorhalten, sondern ASEAN sollte sein Mitglied Birma an seine Verpflichtungen zu Demokratie und Menschenrechten erinnern. Europa kann hier Hilfestellung leisten, der Antrieb muss jedoch aus dem Land selbst bzw. von seinen asiatischen Nachbarn kommen. Dies bedeutet: Besonders China muss Druck ausüben und den Machthabern deutlich machen, dass ihre Politik inakzeptabel ist. China muss sich auch an möglichen Sanktionen und Ähnlichem beteiligen, um diesen Druck zu erhöhen. Ähnliches gilt für die ASEAN-Staaten, die sich nicht hinter das Prinzip der Nichteinmischung zurückziehen dürfen. Wir sind uns, so glaube ich, darüber einig, dass wir nicht den Eindruck erwecken dürfen, wir als Europäer oder gar allein als Deutsche seien in der Lage, entscheidend Einfluss auf die Situation in Birma auszuüben. Dafür braucht es einen weiteren Ansatz. Dass wir dies fraktionsübergreifend so sehen, beweist nicht zuletzt der Antrag „Menschenrechte und Demokratie in Birma durchsetzen“ vom Oktober 2007. Darüber hinaus greift die FDP viele Punkte des Antrages „Menschenrechte in der ASEAN-Staatengemeinschaft“ der Koalition auf. Darauf aufbauend, dass wir in vielen Punkten übereinstimmen, sollten wir sehen, welchen Beitrag wir zur Verbesserung der Situation in Birma leisten können.

Johannes Pflug (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003207, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Zunächst möchte ich feststellen, dass die späte Stunde zur Behandlung dieses Tagesordnungspunktes dem Thema nicht gerecht wird. Da unsere Reden auch nicht gehalten, sondern zu Protokoll gegeben werden, verzichte ich auf weitere Ausführungen. Der menschenverachtende Umgang der Militärjunta mit den Menschen bei der schlimmen humanitären Katastrophe im Mai dieses Jahres unterstreicht noch einmal besonders deutlich den brutalen Charakter dieses Unterdrückungsregimes und ist durch nichts zu entschuldigen. Weil die Koalitionsvereinbarungen keine wechselnden Mehrheiten bei Abstimmungen vorsehen, lehnen wir den Antrag der FDPBundestagsfraktion ab. Natürlich hat dies keinerlei praktische Auswirkungen für die Menschen in Birma. Außerdem fordert der Antrag Dinge und Maßnahmen, die die Bundesregierung bereits weitestgehend leistet. Der Antrag ist von einem Geist getragen, der die Sanktionierung und Bestrafung des Regimes vorsieht, aber auch keine praktischen Verbesserungen für die betroffenen Menschen bringt. Natürlich habe auch ich das Gefühl ohnmächtiger Wut auf das Regime in Birma, aber Rachegedanken sollten kein Leitfaden für internationale Beziehungen sein. Aber wir sind uns alle darin einig, dass dieser Militärjunta keinerlei Vertrauen geschenkt werden darf. Als der, durch die totale Abschottung der birmesischen Junta bedingte, spärliche und viel zu späte Fluss von Hilfsgütern stattfand, nahm der Staatsekretär im Auswärtigen Amt, Gernot Erler, an der Geberkonferenz für Birma teil, die endlich auf Druck der internationalen Öffentlichkeit und den Vereinten Nationen zustande kam. Und auch nur die internationale Staatengemeinschaft kann zusammen mit China den entsprechenden Druck aufbauen, um Veränderungen zu bewirken. Wie sich bei der Lieferung der Hilfsgüter zeigte, hat noch am ehesten die Einflussnahme des UNO-Generalsekretärs Ban Ki Moon eine Wirkung gehabt. Zu glauben, dass die sprachliche Verschärfung der Sanktionen aus Deutschland, die außerdem schwer zu kontrollieren sind, bei dieser menschenverachtenden Junta eine Wirkung zeigen, ist unrealistisch. Nur ein Regimewechsel kann zu einer Verbesserung der Situation für die Menschen führen. Wie dieser Wechsel jedoch erfolgen könnte, kann im Augenblick niemand sagen. Die internationale Staatengemeinschaft muss deshalb Birma im Auge behalten und immer da, wo sie es wirksam kann, auch reagieren. Sanktionen auf Ebene der EU oder ASEAN sind in den entsprechenden Gremien bereits Thema. Für uns gilt, dass ein entsprechend überarbeiteter, interfraktioneller Antrag gerne noch einmal in den entsprechenden Ausschüssen veranlasst werden kann.

Dr. Florian Toncar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003856, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Die Bilder von den verheerenden Naturkatastrophen in Asien haben uns tief bewegt. Wirbelsturm „Nargis“ in Birma am 2. Mai 2008 sowie das Erdbeben in China am 13. Mai 2008 kamen beide plötzlich und forderten ZehnFlorian Toncar tausende Menschenleben. Der Umgang mit den Katastrophen könnte unterschiedlicher nicht sein. Während China sich erstmals nach einer Naturkatastrophe für ausländische Hilfe öffnete, stellt das Verhalten der birmanischen Militärregierung das krasse Gegenteil dar. Sie schottete das Land in größter Not in den ersten drei Wochen nach der Katastrophe ab. Das Verhalten der birmanischen Generäle angesichts der Wirbelsturmkatastrophe ist so schockierend, dass die EU reagieren muss. Lassen Sie mich eingangs die wesentlichen Ereignisse kurz skizzieren: Nachdem die Junta frühzeitige Warnungen vor dem herannahenden Sturm ignorierte, schlug der Zyklon mit aller Härte zu. „Nargis“, die schlimmste Naturkatastrophe seit dem Tsunami 2004, forderte 130 000 Menschenleben. 2,4 Millionen Bürger wurden obdachlos. Angesichts dieser Ausmaße galt es, rasch effektive humanitäre Hilfe für die Betroffenen zu leisten. Dazu mussten die Opfer mit Lebensmitteln, Trinkwasser, Decken und Medikamenten versorgt werden. Für die Durchführung komplizierter Hilfsmaßnahmen nach einer Naturkatastrophe ist es grundsätzlich entscheidend, unverzüglich professionelles Hilfspersonal in das Krisengebiet zu verlegen. Die internationale Staatengemeinschaft einschließlich der Vereinten Nationen bot der Regierung von Birma umfangreiche Unterstützung an. Diese lehnte die Hilfsangebote zunächst jedoch ab. Für die Junta kam die Katastrophe zur Unzeit. Sie wollte ein Referendum über eine neue Verfassung abhalten, um ihre Macht zu festigen. Trotz der Krise hielt die Junta an ihrem Vorhaben fest. Um das Land vor und während des Referendums abzuschotten, verweigerte die Junta ausländischen Katastrophenhelfern und Journalisten die Einreise. Einzig Finanztransfers und Hilfsgüter wurden ins Land gelassen. Erst am 23. Mai 2008 lenkte der birmanische Junta-Chef Than Shwe gegenüber VNGeneralsekretär Ban Ki-moon ein und gestattete die Einreise westlicher Katastrophenhelfer. Dennoch werden weiterhin Meldungen über massive Behinderungen bekannt, da Helfer in Rangun festsitzen und nicht ins Katastrophengebiet vorgelassen werden. Die Bevölkerung im Irrawady-Delta unterliegt Einschränkungen ihrer Bewegungsfreiheit, Flüchtlinge werden gegen ihren Willen aus Flüchtlingslagern zurück in ihre zerstörten Häuser geschickt. Sechs Wochen nach der Katastrophe hat überhaupt erst ein kleiner Teil der Betroffenen Zugang zu humanitärer Hilfe erhalten. Die Junta gibt deren Anteil offiziell mit 40 Prozent an. Vertreter birmanischer Nichtregierungsorganisationen, mit denen ich in Kontakt stehe, halten selbst diese Zahl für zu optimistisch. Malaria und andere Krankheiten breiten sich aus. Zudem wurde ein Großteil der landwirtschaftlichen Nutzfläche zerstört, sodass in absehbarer Zukunft Ernteausfälle und Hungersnot drohen. Dessen ungeachtet exportiert die Junta dringend benötigte Reisreserven aus dem Norden des Landes nach Sri Lanka, um Devisen zu erhalten. So weit die aktuelle insgesamt schockierende Lage. Das Vorgehen von Birmas Generälen hat für die Bevölkerung fatale Konsequenzen. Es ist zu befürchten, dass die gezielte Verhinderung professioneller humanitärer Hilfe unzählige Menschenleben gekostet hat. Dies geschah nur acht Monate nach der gewaltsamen Niederschlagung friedlicher Proteste buddhistischer Mönche in Birma im September 2007. Diese Eskalation muss Konsequenzen für die Junta haben. Die Europäische Union verfolgt eine zweigleisige Strategie, die einerseits die Bereitschaft zum Dialog sowie zur Unterstützung für demokratische Reformen zusichert. Andererseits erließ die EU bereits 1996 gezielte Sanktionen gegen die Militärführung in Birma. Angesichts der jüngsten Ereignisse müssen diese weiter verschärft werden. Der vorliegende Antrag umfasst eine Reihe von Maßnahmen, die ganz gezielt die Militärführung treffen. Die birmanische Bevölkerung soll davon nicht in Mitleidenschaft gezogen werden. Beispielsweise sollten zukünftig nur Luxusgüter vom Export an die Junta in Birma ausgeschlossen werden. Die gegen die Junta bestehenden Finanz- und Reisesanktionen müssen verschärft werden. Ferner ist es notwendig, die Wirksamkeit der Sanktionen aufmerksam zu beobachten und bei Mängeln rasch nachzujustieren. Die EU muss ihre Sanktionen mit denen anderer Länder wie den USA und Australien abstimmen. Es muss verhindert werden, dass die Junta Lücken zwischen den unterschiedlichen Sanktionsregimen ausnutzt. Langfristig kann die Junta jedoch nur zu einer Verhaltensänderung bewegt werden, wenn auch Birmas Nachbarn klar Position beziehen. Daher müssen insbesondere die asiatischen Nachbarstaaten der ASEAN-Gruppe ihren Einfluss geltend machen. Vor allem China darf nicht länger seine schützende Hand über Birmas Generäle halten. China muss im UN-Sicherheitsrat ein Waffenembargo gegen die Militärregierung Birmas unterstützen. Deutschland gemeinsam mit den europäischen Partnern muss auch auf Ebene der UNO für gezielte Sanktionen gegen die Militärs in Birma eintreten. Die Forderung der FDP nach einer Verschärfung der Sanktionen gegen die Junta soll nicht zulasten der Zivilbevölkerung in Birma gehen. Dies ist ausdrücklich nicht beabsichtigt. Insofern hat der im Herbst 2007 von CDU/ CSU, SPD, FDP und Grünen gemeinsam getragene Antrag zur Durchsetzung von Menschenrechten und Demokratie in Birma weiter seine Gültigkeit. Ich möchte unterstreichen: Die Verschärfung der Sanktionen gegen die verantwortlichen Individuen der Junta einerseits und die Gewährung humanitärer Hilfe für die Bevölkerung andererseits schließen sich nicht aus. Wer sich mit dem Forderungskatalog auseinandersetzt, wird erkennen, dass die Maßnahmen nicht die Zivilbevölkerung betreffen. Skeptiker mögen befürchten, dass Sanktionen die politischen Hardliner in der Junta stärken und zu Solidarisierungseffekten mit der Junta führen könnten. Dem entgegne ich: Nur wenn das jüngste Verhalten der Militärführung in Birma eine klare Reaktion der EU hervorruft, werden die Hardliner spüren, dass ihr Verhalten nicht wortlos hingenommen wird. Negatives Verhalten der Junta muss umgehend beantwortet werden. Diese Reaktionsschnelle gilt umgekehrt auch für positives Verhalten. Die EU hat stets deutlich gemacht, dass sie rechtsstaatliche Reformen im Land unterstützen wird. Wenn die Militärs bereit sind, Schritte zu einer Liberali17978 sierung zu unternehmen, wird die EU rasch reagieren. Anreize dazu sind seit langem vorhanden. Jetzt liegt es an den führenden Mitgliedern der Militärclique, ihre Handlungen der letzten Monate zu reflektieren und endlich umzudenken. Wenn die Junta ernsthaft den Weg der Reformen beschreitet, wird die EU ihr selbstverständlich helfend die Hand anbieten.

Dr. Norman Paech (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003822, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Dass wir es bei der birmanischen Regierung nicht mit einem Kaffeekränzchen netter älterer Herren zu tun haben, ist seit langem bekannt. Seit der blutigen Niederschlagung der Demokratiebewegung 1988 beherrscht ein Militärregime das Land, das jede demokratische Opposition brutal unterdrückt. Der jüngste Report von Amnesty International zur weltweiten Lage der Menschenrechte stellt fest, das sich die Menschenrechtslage in Birma weiter verschlechtert, das Recht auf freie Meinungsäußerung weiterhin massiv unterdrückt wird, die Militärs mit exzessiver Gewalt gegen die Bevölkerung vorgehen und damit systematisch gegen das Völkerrecht verstoßen. Bereits im letzten Herbst hat sich der Bundestag mit Myanmar befasst. Damals ging es um das brutale Vorgehen der birmanischen Militärs gegen friedliche Demonstrantinnen und Demonstranten, bei dem es zu zahlreiche Toten und Verletzten kam. Anlass für die heutige Debatte ist das Verhalten der birmanischen Regierung, die nach der verheerenden Verwüstung durch den Zyklon „Nargis“ Anfang Mai die dringend benötigte internationale Hilfe wochenlang blockierte und damit den Tod Tausender Menschen in Kauf nahm. Der vorliegende Antrag der FDP fordert Konsequenzen und konzentriert sich hierbei vor allem auf die Umsetzung und Verschärfung der bestehenden EU-Sanktionen. Meine Fraktion ist äußerst skeptisch, ob dies der richtige Weg ist. Die bestehenden Sanktionen haben in der Vergangenheit nichts gebracht, und ich bin mir sicher, dass sie auch in Zukunft nichts bringen werden. Sie haben vor allem symbolischen Charakter, um zu zeigen, dass die EU etwas unternimmt. Doch die birmanische Bevölkerung hat wenig davon. Mit dieser Symbolpolitik sollte sich die Bundesregierung nicht begnügen. Sie muss sich vielmehr darum bemühen, gemeinsam mit China, Indien und den ASEANStaaten den Dialog mit Myanmar zu suchen. Denn sie sind als wichtigste Kooperationspartner Myanmars der Schlüssel zu einer Öffnung des Landes für eine demokratische Entwicklung. Auf keinen Fall sollte die Bundesregierung sich jenen anschließen, die einer militärischen Intervention das Wort reden. Ginge es nach den USA, so wäre jetzt ein günstiger Zeitpunkt, den lang ersehnten Regime Change militärisch herbeizuführen. Die USA machen keinen Hehl daraus, dass sie den Verbündeten Chinas lieber heute als morgen ausschalten wollen, und haben mehrfach Drohungen gegen das Land ausgesprochen. Unterstützung bekamen sie jüngst von Frankreichs Außenminister Kouchner. Er forderte mit Verweis auf das Konzept der internationalen Schutzverantwortung Responsibility to Protect, mit militärischen Mitteln die humanitäre Hilfe für Myanmar zu erzwingen - im Zweifelsfall auch ohne UN-Mandat. Gleichzeitig kündigte Frankreich an, Hilfsgüter per Kriegsschiff nach Myanmar zu entsenden, und die USA schickten einen hochgerüsteten Zerstörer und drei amphibische Kriegsschiffe in die Region. Das sind nicht gerade vertrauensbildende Maßnahmen und sicher nicht hilfreich für das Angebot, Hilfe für die Bevölkerung ins Land zu bringen wollen. Auch wenn eine militärische Intervention abgewendet werden konnte und die internationale Geberkonferenz unter Federführung Ban Ki-moons und des ASEAN-Generalsekretärs Pitsuwan endlich den Zugang internationaler Hilfsorganisationen erwirkte, deutet einiges darauf hin, dass die Befürworter der Responsibility to Protect auch weiterhin auf eine völkerrechtswidrige militärische Intervention in Myanmar drängen könnten. Damit wäre den Menschen in Myanmar nicht geholfen. Umso wichtiger ist es, dass sich die Bundesregierung eindeutig gegen eine militärische Intervention ausspricht. Vielmehr muss sie auf den Dialog setzen, in dem die Kooperationspartner Myanmars eine zentrale Rolle einnehmen müssen.

Kerstin Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002741, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Es gibt keinen vergleichbaren Fall, bei dem eine Regierung nach einer Naturkatastrophe ein derart rücksichtsloses Verhalten gegenüber der eigenen Bevölkerung an den Tag gelegt hat, wie es die Regierung Birmas getan hat und weiterhin tut. Bis heute verweigert sie der internationalen Gemeinschaft umfassenden Zugang, um der betroffenen Bevölkerung zu helfen. Sogar Hilfslieferungen der Vereinten Nationen beschlagnahmte sie. Umfassende Hilfe wurde und wird bis heute bewusst nicht zugelassen, obwohl diese vor der Tür steht. Anders als China, das bei der jüngsten Erdbebenkatastrophe einen vergleichsweise revolutionären Lernprozess bewiesen hat, führte die Politik der Junta zu einer Katastrophe nach der Katastrophe. Diese hat nochmals tausende Menschen das Leben gekostet! Laut VN-Angaben sind 102 000 Menschen ums Leben gekommen, 220 000 Menschen gelten als vermisst und etwa 2,4 Millionen sind entweder obdachlos oder von Nahrungsmittelknappheit und Seuchen direkt betroffen. Im Delta des Irrawaddys lebt die Hälfte der rund 54 Millionen Einwohner Myanmars/Birma. Da die Ernte in großen Teilen zerstört ist und die Versalzung der Böden sich auch in naher Zukunft negativ auswirken dürfte, ist die Bevölkerung auf internationale Unterstützung weiterhin angewiesen. Die wiederholten Ankündigungen der Junta wie auf der internationalen Geberkonferenz am 25. Mai in Rangun, jetzt umfassende Hilfe ins Land zu lassen, werden nicht im notwendigen Maße umgesetzt. Noch immer wird berichtet, dass Hilfsorganisationen in ihrer Arbeit erheblich beeinträchtigt sind. Die Vereinten Nationen selbst brauchten Wochen um die Erlaubnis zu erhalten, Hilfsgüter auch mit Helikoptern in entfernte Orte zu bringen. Die berechtigte internationale Debatte über den unterbundenen Zugang von Schiffen und Helikoptern mit HilfsKerstin Müller ({0}) lieferungen aus den USA, Frankreich und Großbritannien, hat vorübergehend verschleiert, wie eindrucksvoll die Bürger des Landes, vor allem aber auch die Mönche Hilfe selbst organisiert haben. Sie sind in den Worten einer britischen Diplomatin die „eigentlichen Helden“ der Hilfsbemühungen. Einen genaueren Einblick werden wir erhalten, wenn ein Bericht von rund 250 offiziellen Helfern aus verschiedenen ASEAN-Staaten in der kommenden Woche veröffentlicht wird. Es war ein absurdes Schauspiel, mit welcher Entschlossenheit die Junta just zum Höhepunkt der Katastrophe ein Verfassungsreferendum durchführte, anstatt alle Kräfte für die Hilfe der notleidenden Menschen zu mobilisieren. Trotz der anhaltenden Katastrophe konzentrierte sich die Junta weiterhin auf die Unterdrückung der Opposition. Das Handeln der Junta folgt nur einer Logik: der des absoluten Machterhalts. Die Militärs sahen und sehen ihre Macht durch die massive Präsenz internationaler Hilfsorganisationen oder gar ausländischer Soldaten gefährdet. Unter allen Umständen soll der Eindruck vermieden werden, dass die eigene Regierung nicht in der Lage ist, die Nothilfe der Bevölkerung sicherzustellen, geschweige denn den Wiederaufbau aus eigener Kraft zu stemmen. Deshalb werden die Militärs auch weiterhin alles tun, um die humanitäre Hilfe und den Wiederaufbau systematisch zu kontrollieren. Angesichts des Ausmaßes der real existierenden Verwüstung des Landes ist davon auszugehen, dass der Zyklon die Junta mittelfristig aber geschwächt hat. Allein den Wiederaufbau beziffert die Militärregierung mit über 11 Milliarden Dollar, wobei klar ist, dass anders als bei der Nothilfe Hilfe zum Wideraufbau an strikte Bedingungen geknüpft werden muss. All diese Entwicklungen bringen politische Fragen auf zwei Ebenen mit sich. Erstens: Wie kann in den kommenden Monaten sichergestellt werden, dass möglichst alle Menschen die Hilfe erhalten, die sie brauchen, um die kritische Zeit bis Ende des Jahres zu überstehen? Zweitens und dies thematisiert ihr Antrag - die Frage, mit welchen Mitteln auf das Verhalten der Junta reagiert werden kann gerade jetzt, wenn die Junta mit dem Rücken an der Wand steht. Wie kann der internationale Druck erhöht werden, um der Opposition die Möglichkeit zu geben, sich politisch zu artikulieren? Um es klar zu sagen: Ich unterstütze die Forderung nach einer gezielten Ausweitung von Sanktionen, wie es der FDP-Antrag vorsieht. Bestehende EU-Sanktionen wie das Waffenembargo, die Handels- und Investitionsbeschränkungen, die eingeschränkten Visavergaben usw. sollten angemessen ergänzt werden. Im Finanzsektor können Sanktionen in Kooperation mit den USA besser abgestimmt und erweitert werden, um eine Umgehung über Drittländer zu verhindern. Ziel muss es sein, Investitionen von Finanzinstituten, die mit der Junta zusammenarbeiten, in Europa und den USA zu erschweren und im besten Fall zu untersagen. All dies entledigt uns jedoch nicht davon, darüber nachzudenken, welche Reichweite europäische und amerikanische Sanktionen haben. Wenn diese beispielsweise zu weiteren Repressalien gegenüber der eigenen Bevölkerung führen und die humanitäre Hilfe verhindern, zahlen den entscheidenden Preis die leidenden Menschen in Birma. Das kann durchaus zur Gradwanderung werden. Eine „lückenlose Effektivität der gezielten Sanktionsinstrumente“, von der der Antrag spricht, würde eine Beteiligung der ASEAN-Staaten und Chinas voraussetzen. Diese erfolgen bisher nicht. Vor allem über den Finanzstandort Singapur wickelt Birma viele seiner FinanzTransaktionen ab. China, Singapur und die übrigen ASEAN-Staaten müssen mit ins Boot geholt werden, wenn die Sanktionen wirken sollen. Daher erwarte ich von der Bundesregierung, dass sie China und den ASEAN-Staaten deutlich macht, dass diese ihre Verantwortung gegenüber den Menschen in Birma wahrnehmen müssen. China und die ASEANStaaten müssen ihren Einfluss auf Birma geltend machen, um so zumindest einen Zugang der Helfer zu erreichen. Chinas eigene Öffnung im Zusammenhang mit der Erdbebenkatastrophe kann da der Anknüpfungspunkt sein. Und noch etwas hat sich im Falle Birmas gezeigt: Obwohl die Anerkennung der Responsibility to Protect durch die internationale Staatengemeinschaft in 2005 einen historischen Durchbruch in den Vereinten Nationen markierte, sind sich die Staaten keineswegs einig, wann diese greift. Dadurch, dass China, Indien und einige andere ASEAN-Staaten bisher diplomatisch eine Strategie der Nichteinmischung verfolgen, lief der Vorstoß des französischen Außenministers Kouchner ins Leere. Allein sein Versuch einer diplomatischen Intervention des VNSicherheitsrates scheiterte am Veto Chinas. Birma zeigt: Die Diskussion darüber, wann die Internationale Gemeinschaft aufgrund der Responsibility to Protect verpflichtet wäre, einzugreifen, hat gerade erst begonnen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/9340 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 20. Juni 2008, 9 Uhr, ein. Ich wünsche unserer, der deutschen Mannschaft Erfolg und uns Anlass zum Jubeln. Einen schönen Abend. Die Sitzung ist geschlossen. ({0})