Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alle
herzlich und möchte vor Eintritt in unsere Tagesordnung
den Kollegen Rolf Hempelmann und Wolfgang
Nešković zu ihren 60. Geburtstagen gratulieren und im
Namen des Hauses noch einmal alle guten Wünsche
übermitteln.
({0})
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Vereinbarte Debatte
Bespitzelungsaffäre bei der Deutschen Telekom und Konsequenzen
({1})
ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
({2})
a)Beratung des Antrags der Abgeordneten Christian Ahrendt, Carl-Ludwig Thiele, Hans-Michael Goldmann, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der FDP
Optimaler Darlehensnehmerschutz bei Kreditverkäufen an Finanzinvestoren
- Drucksache 16/8548 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({3})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
b)Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus Löning, Michael Link ({4}), Florian
Toncar, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Europäisches Parlament stärken - Sitzfrage
durch Europaparlamentarier entscheiden
lassen
- Drucksache 16/9427 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({5})
Haushaltsausschuss
c)Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried Hermann, Dr. Anton Hofreiter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Vertrag über die Beteiligung von Kapitalanlegern an den Verkehrs-, Logistik- und zugehörigen Dienstleistungsgesellschaften der
Deutsche Bahn AG durch externen Sachverstand prüfen lassen
- Drucksache 16/9474 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({6})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Burkhardt
Müller-Sönksen, Harald Leibrecht, Florian Toncar,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Präsident Medwedew beim Wort nehmen
- Drucksache 16/9423 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({7})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
ZP 4 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({8}) zu dem Antrag der Abgeordneten Marina
Schuster, Dr. Werner Hoyer, Jens Ackermann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Die Beziehungen zu Lateinamerika und den
Staaten der Karibik stärken und den EU-Lateinamerika/Karibik-Gipfel zu einer ehrlichen Bestandsaufnahme nutzen
- Drucksachen 16/9056, 16/9475 Redetext
Abgeordnete Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg
Niels Annen
Wolfgang Gehrcke
Kerstin Müller ({0})
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Bärbel
Höhn, Hans-Josef Fell, Sylvia Kotting-Uhl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Handeln statt Reden - Klimaschutz jetzt
- Drucksache 16/9426 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({1})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
ZP 6 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({2}) zu dem
Antrag der Abgeordneten Michael Kauch, Angelika
Brunkhorst, Horst Meierhofer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Perspektiven für eine sektorale Ausweitung
des Emissionshandels sowie für die Nutzung
erneuerbarer Energien im Wärmesektor
- Drucksachen 16/5610, 16/7387 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Maria Flachsbarth
Dirk Becker
Michael Kauch
Eva Bulling-Schröter
Bärbel Höhn
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael
Kauch, Gudrun Kopp, Angelika Brunkhorst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Differenzierte Mengensteuerung zur Förderung erneuerbarer Energien im Stromsektor
- Drucksache 16/8408 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({3})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll - so-
weit erforderlich - abgewichen werden.
Die Tagesordnungspunkte 35 a, 36 b und 37 c werden
abgesetzt.
Sind Sie mit diesen Änderungsvorschlägen einver-
standen? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist das so
beschlossen
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Sportausschusses ({4}) zu der
Unterrichtung durch die Bundesregierung
11. Sportbericht der Bundesregierung
- Drucksachen 16/3750, 16/7584 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Klaus Riegert
Detlef Parr
Winfried Hermann
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Sportausschusses ({5}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Katrin Kunert,
Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Schutz und Förderung des Sports ernst nehmen - Sportförderungsgesetz des Bundes
schaffen
- Drucksachen 16/7744, 16/9455 Berichterstattung:
Abgeordnete Klaus Riegert
Detlef Parr
Winfried Hermann
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache insgesamt eineinhalb Stunden vorgesehen. - Auch dazu höre ich keinen Widerspruch.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
der Bundessportminister Wolfgang Schäuble.
({6})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Beratung des Sportberichts gibt Anlass, zunächst einmal zu
sagen, dass wir in diesem Haus ein Stück weit Gemeinsamkeit hinsichtlich der Unterstützung des Sports und
der Förderung des Leistungssports haben und dass wir
über die Legislaturperioden hinweg kontinuierlich Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass unsere Sportler
auch in der internationalen Spitze mithalten können.
In dem Sportbericht geht es ja im Wesentlichen um
die Sportförderung in der vergangenen Legislaturperiode. Wir haben die in den zurückliegenden Legislaturperioden auf hohem Niveau geleistete Förderung in dieser
Legislaturperiode fortgeführt. Wir haben in den Haushaltsberatungen durch die Bemühungen des Bundestages
deutlich erhöhte Ansätze für das Jahr 2008 erreicht. Ich
hoffe, dass wir das im Jahre 2009 fortschreiben können,
wir befinden uns ja im Augenblick in den Haushaltsberatungen. Ich bedanke mich im Voraus für die Unterstützung.
Vielleicht ist es interessant, die Zahlen zu hören: In
den Jahren 2002 bis 2005 hat die Sportförderung des
Bundes insgesamt 920 Millionen Euro für den Sport zur
Verfügung gestellt, davon entfielen allein 700 Millionen
Euro auf die Förderung des Spitzensports im Haushalt
des Bundesministeriums des Innern. Wie gesagt: Wir
werden das fortsetzen.
Auch das will ich an dieser Stelle sagen: Wir haben
kontinuierlich und zunehmend auch die Förderung des
Behindertensports in die Sportförderung einbezogen.
Das ist richtig und notwendig, was man auch an dem
Stellenwert erkennt, den die Paralympischen Spiele und
auch die Weltspiele für Behinderte national und international gewonnen haben.
Bei der Gelegenheit möchte ich auch darauf hinweisen, dass sich die Bundesregierung - auch ich persönlich sehr dafür einsetzt, dass die Rahmenbedingungen - auch
hinsichtlich der beruflichen Möglichkeiten - für Behindertensportler verbessert werden. Deswegen bemühen
wir uns, in der Bundesverwaltung, auch in den Ministerien der Bundesregierung, für behinderte Sportler Beschäftigungs- und Ausbildungschancen zu schaffen. Auch
das ist richtig.
({0})
In diesem Zusammenhang weise ich darauf hin, dass
es neben der Sportförderung generell wichtig ist, mit der
Stiftung Deutsche Sporthilfe, aber auch sonst die Bemühungen um das, was man als duale Karriere bezeichnet,
fortzusetzen und zu intensivieren und für junge Menschen, die sich einen wesentlichen Teil ihrer Jugend- und
jüngeren Erwachsenenzeit darauf konzentrieren, Spitzensport zu treiben, zugleich Ausbildungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten für das Leben nach der Konzentration auf Leistungssport zu schaffen. Dies kann der Staat
allein nicht leisten. In einer freiheitlichen Gesellschaft
soll er dies auch nicht. Umso wichtiger ist es, dass wir
die Gesellschaft und die Wirtschaft immer wieder daran
erinnern. Im Übrigen bin ich ganz sicher, dass es für vielerlei Arten von Tätigkeiten kaum qualifiziertere Menschen gibt als die Männer und Frauen, die sich Jahre ihres Lebens darauf konzentriert haben, neben Ausbildung
und Beruf Spitzenleistungen im Sport zustande zu bringen. Dies erfordert ein Maß an Konzentrationsfähigkeit
und an Disziplin, das man in jedem Lebensbereich dringend gebrauchen kann.
({1})
In diesem Zusammenhang: Die finanzielle Ausstattung der Stiftung Deutsche Sporthilfe wird uns in den
kommenden Jahren zunehmend beschäftigen. Ich werbe
dafür, dass wir bei dem Grundgedanken bleiben, dass die
Stiftung Deutsche Sporthilfe ein Sozialwerk unserer freiheitlich verfassten Gesellschaft und nicht etwas ist, das
der Steuerzahler zu finanzieren hat. Aber es ist wichtig,
was die Stiftung Deutsche Sporthilfe für die soziale Absicherung und die Herstellung gleicher Wettbewerbschancen von Leistungssportlern auf internationalem Niveau leistet; das ist unersetzbar und muss auch unter veränderten Rahmenbedingungen fortgesetzt werden. Dieses Thema wird uns in den kommenden Jahren
zunehmend beschäftigen.
Zu dem Großartigen unseres Sports und seiner gesellschaftlichen Bedeutung - das ist bereits oft gesagt worden, und ich will dies nochmal unterstreichen - gehört
die Freiheit: Die Freiheit für Sportler, die Freiheit unserer Sportorganisationen und das ehrenamtliche Engagement sind entscheidende Rahmenbedingungen dafür,
dass unser Spitzensport mit seiner Vorbildwirkung für
den Breitensport und der Sport insgesamt in allen gesellschaftlichen Bereichen so Großartiges leisten können.
Deswegen müssen wir diese freiheitliche Sportorganisation auch unter dem Aspekt der Subsidiarität immer wieder verteidigen. Selbst wenn wir es als Politiker gut
meinen, sollten wir die vorrangige Entscheidungszuständigkeit des Sports und ihrer gewählten Repräsentanten
respektieren und akzeptieren. Das ist die Voraussetzung
für eine freiheitliche Sportorganisation.
({2})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, dies bedeutet,
dass wir uns - übrigens zunehmend auch auf europäischer Ebene - darum bemühen müssen, dem freiheitlichen Sport in den Rahmenbedingungen den notwendigen
Freiraum zu verschaffen. Sobald der Lissabon-Vertrag in
Kraft getreten sein wird, wird der Art. 165 des EU-Vertrags, der die gesellschaftspolitische Bedeutung des
Sports anerkennt, auf europäischer Ebene eine Grundlage dafür schaffen, dass man die Autonomie und die besondere gesellschaftliche Eigenart des Sports stärker berücksichtigt und in Europa nicht mehr alles nur unter den
Regeln der wirtschaftlichen Grundfreiheiten des Binnenmarkts betrachtet. Deswegen setze ich mich dafür ein,
dass wir das im Weißbuch der EU für den Sport auf europäischer Ebene stärker berücksichtigen und dass wir bei
Fragen, die die Selbstorganisation des Sports betreffen,
uns auf europäischer Ebene einsetzen und bei allen europäischen Institutionen um Verständnis werben, dass wir
das Großartige im Sport erhalten, wozu auch seine Selbstorganisation gehört.
Ähnliches gilt im Hinblick auf das nationale und europäische Wettbewerbsrecht für die Rahmenbedingungen des professionell organisierten Sports und seiner
Vermarktung. Sie kennen die aktuelle Debatte, die nicht
einfach ist. Aber wem die Freiheit und die gesellschaftspolitische Bedeutung einer freien Sportorganisation am
Herzen liegen, der muss wissen, dass nicht alles über einen Leisten geschlagen werden darf. In diesem Falle gefährdeten wir zu viel von dem Großartigen des Sports
und seiner Selbstorganisation. Deswegen nutze ich die
Gelegenheit, dafür zu werben.
({3})
Wir haben im Übrigen auch in der Steuerpolitik der
Bundesregierung in dieser Legislaturperiode die Rahmenbedingungen für ehrenamtliches Engagement im
Sport weiter verbessert. Das heißt, wir reden nicht nur
bei Sportdebatten über die Grundsätze, sondern wir han17486
deln auch in den konkreten Schritten nach diesen Prinzipien. Das ist entscheidend wichtig.
Ich habe von den Rahmenbedingungen für den Leistungssport auf internationaler Ebene gesprochen. In diesem Zusammenhang möchte ich festhalten: Wenn wir
jungen Menschen die Chance bieten, im internationalen
Wettbewerb mitzuhalten, und wenn wir uns auch für die
soziale Absicherung und für die duale Karriere einsetzen, dann ist dies das Beste, was wir tun können, um den
Missbrauch von Doping zu bekämpfen. Denn wer gute
Trainingsbedingungen hat und über eine hinreichende
soziale, berufliche Absicherung verfügt, ist weniger anfällig für die Versuchung, durch den Missbrauch leistungssteigernder Mittel die Fairness im Sport zu untergraben. Die schlimmste Gefahr für den Sport ist, dass die
Regeln nicht mehr beachtet werden. Wir müssen für Fair
Play eintreten, sonst würde der Sport das verlieren, was
ihn so großartig macht.
({4})
Wir haben in diesem Bundestag das Gesetz zur Verbesserung der Bekämpfung des Dopings im Sport verabschiedet. Wir haben die rechtlichen Grundlagen geschaffen. Wir
haben die finanziellen Mittel der Dopingbekämpfungsagentur erhöht. Auch dieser Weg muss fortgesetzt werden. Aber allein mit gesetzlichen Maßnahmen und Kontrollen ist das nicht zu schaffen.
Gestatten Sie mir eine Bemerkung zu den Olympischen Spielen, die dieses Jahr in Peking stattfinden werden. Wir haben in den vergangenen Wochen viele und
auch nicht gerade einfache Debatten zu diesem Thema
geführt. Ich habe bei meinem Besuch in Peking mit meinem chinesischen Kollegen sehr ausführlich und intensiv
über dieses Thema gesprochen. Wir haben Vereinbarungen über die Zusammenarbeit in der Sportwissenschaft
- übrigens insbesondere im Bereich der Dopingbekämpfung - geschlossen. China hat in den letzten Jahren in
der Dopingbekämpfung beachtliche Anstrengungen unternommen. Ich glaube, wir haben nicht nur national,
sondern auch international eine Chance, im Kampf für
faire Bedingungen und für das Verbot von Doping erfolgreicher zu sein, als wir es in den vergangenen Jahren
waren. Ich bin alles andere als naiv; es wird weiter Verstöße geben. Wir müssen den Kampf gegen Doping weiterhin ernst nehmen, aber ich glaube, dann besteht eine
gute Chance, dass wir Spiele miterleben dürfen, bei denen wir Freude an den Leistungen der Athleten haben
können.
Ich hoffe, dass die chinesische Führung besser versteht, dass die Olympischen Spiele vor allem Spiele der
Freude sein sollen, ein Fest und eine Begegnung der
Völker - etwas, was China von den Olympischen Spielen genauso erwartet, wie wir es uns in Deutschland von
der Fußballweltmeisterschaft erwartet und auch erreicht
haben. Das gibt einem Land die Chance, sich stärker zu
öffnen. Das muss man nicht fürchten; dem muss man
sich vielmehr anvertrauen.
Die Vorbereitungen, die China getroffen hat, sind respekterheischend. Dass es Probleme gibt, ist wahr. Darüber haben wir bereits gesprochen. Man darf dem nicht
ausweichen. Das liegt auch im Interesse Chinas selbst.
Ich glaube, dass wir insgesamt bei allen schwierigen
Diskussionen auf einem zuversichtlich stimmenden Weg
sind.
Die Fußballeuropameisterschaft liegt unmittelbar vor
uns. Manche sind sicherlich in Gedanken schon bei dem
Spiel in Klagenfurt am Sonntagabend. Wir müssen aber
in einer Debatte über die Bedeutung des Sports immer
daran erinnern, dass wir alles tun müssen, um Gewalt im
Sport - insbesondere in Fußballstadien - mit aller Entschiedenheit zu bekämpfen, um den Sport nicht den Gewalttätern, den Radikalen und den Krawallmachern zu
überlassen.
Ich habe großen Respekt und Dankbarkeit gegenüber
dem Engagement und der Verantwortung der zuständigen Verbände, insbesondere des Deutschen FußballBundes. Die Polizeien in Bund und Ländern unterstützen
sie nach Kräften.
Wie Sie wissen, haben wir bei der Fußballweltmeisterschaft die Unterstützung von Polizisten aus allen europäischen Ländern bekommen. Bei der Fußballeuropameisterschaft in der Schweiz und in Österreich
werden insgesamt 1 700 Polizisten Deutschlands aus
Bund und Ländern im Einsatz sein. Eine vergleichbare
Größenordnung hat es zuvor nie gegeben.
Das zeigt erstens, dass wir in der internationalen polizeilichen Zusammenarbeit wirklich vorankommen, und
zweitens, dass alle Länder - auch unsere Nachbarstaaten sehr froh sind, dass wir in Deutschland in Bund und Ländern eine so gute Polizei haben. Es zeigt drittens, dass
die Polizei, wie alle Sicherheitsorgane - das sage ich
auch im Hinblick auf andere Debatten, die wir diese Woche geführt haben -, Freiheit und Friedlichkeit schützt
und dafür notwendig ist.
Die Anstrengungen, die wir in der Politik - Gesetzgeber, Parlament, Regierung und Verwaltung - unternehmen, ist etwas, was sich nicht nur auf die Fußballeuropameisterschaft, sondern auch auf viele andere nationale
und internationale Wettbewerbe in der Vergangenheit
oder in der Zukunft wie die Hockeyweltmeisterschaft und
die Handballweltmeisterschaft in den vergangenen Jahren oder die Leichtathletikweltmeisterschaft im nächsten
Jahr, auf die wir uns freuen, bezieht. Es dient dem Ansehen unseres Landes und der Steigerung der Lebensfreude
in unserem Land.
Sport ist etwas von dem Schönsten, was wir haben.
Die Qualität, die Leistungen und die Attraktivität der
Wettbewerbe auf höchstem internationalen Niveau motivieren zugleich viele Menschen, selber Sport zu treiben
und damit ein Stück weit glücklicher zu werden und bessere Chancen auf ein erfülltes Leben zu haben. Deswegen bin ich sicher, dass die Bemühungen, die wir gemeinsam - auch in der Verantwortung für Steuergelder in der Sportpolitik unternehmen, mit das Beste sind, was
wir für die Nachhaltigkeit unserer freiheitlichen Ordnung tun können.
Herzlichen Dank.
({5})
Nächster Redner ist der Kollege Detlef Parr, FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Minister, herzlichen Dank für Ihr leidenschaftliches Plädoyer für die Freiheit und die Schönheit des Sports. Damit sprechen Sie uns Liberalen aus dem Herzen. Hier haben wir viele Gemeinsamkeiten.
Der Auslöser für die heutige Grundsatzdebatte war
allerdings ein anderer. Monatelang bestimmten Schlagzeilen über Medikamentenmissbrauch, Gewalt und Rassismus, Betrug, Leistungsmanipulationen, Verdächtigungen, Boykottdrohungen und Maulkörbe für Athleten das
öffentliche Bild des Sports, zum Teil sogar aus diesem
Hohen Hause befördert. Durch diese Dominanz der Katastrophenmeldungen entstand der Eindruck, der Sport
bewege sich am Abgrund, ein Zerrbild, das aber ein Gutes hat: Wir denken über die gesellschaftliche Bedeutung des Sports neu nach und stellen seine Strukturen
auf den Prüfstand. Wir erkennen, dass der Sport Teil eines gesamtgesellschaftlichen Netzes, gleichsam ein
Spiegel des Zustands unserer Gesellschaft ist.
Missstände sind vor dem Hintergrund von 27 Millionen Menschen in 90 000 Vereinen plus unzähliger nicht
organisierter Sporttreibender nicht die Regel, wie manche Berichterstattung glauben machen will. Sie sind
vielmehr das unbeabsichtigte Ergebnis des Zusammenwirkens unterschiedlicher Interessen aus Leistungssport, Wirtschaft, Wissenschaft, Politik, Massenmedien
und Publikum. Daraus ergibt sich folgende, etwas plakativ dargestellte Handlungskette: Das Publikum will Rekorde, Spannung, Unterhaltung, Brot und Spiele. Die
Medien greifen dieses Bedürfnis auf und berichten vorzugsweise über die Erfolgreichen. Diese wecken das Interesse der Wirtschaft, die über Sponsoring den Sport als
attraktives Werbemedium unterstützt. Die Wissenschaft
entwickelt - teilweise am Rande des Erlaubten - innovative Methoden, um die Athleten zu Höchstleistungen zu
animieren. Die Politik subventioniert den Spitzensport
- wenn wir ehrlich sind - auch, um Begleitaufmerksamkeit herzustellen und Profil zu gewinnen. Wir müssen
zugeben: All diese Akteure - auch wir - haben ihren Anteil an der Entstehung der Probleme, an denen ein Teil
des Sports heute leidet. Deshalb müssen wir den Sport
neu denken, müssen wir auch Verantwortung neu und
anders einfordern und uns von den strukturellen Zwängen so weit wie möglich lösen. Wir dürfen nicht bei jedem Kritikpunkt gleich „Skandal“ rufen. Ein bisschen
mehr Gelassenheit und Sachlichkeit tun auch dem Sport
gut.
({0})
Willi Weyer, der unvergessene Präsident des ehemaligen Deutschen Sportbundes, hat vor vielen Jahren in seiner burschikosen Art gesagt: „Sport ohne Leistung ist
Kappes!“ Recht hat er. Aber darf Leistung angesichts der
Entwicklung der Ergebnisse etwa in der Leichtathletik
oder beim Schwimmen immer nur absolut gesehen werden, mit dem manischen Blick auf die Anzeigentafel und
der Gier nach neuen, absoluten Höchstleistungen? So
können und dürfen wir nicht länger das olympische
Motto „schneller, höher, stärker“ auslegen. Wir müssen vielmehr Zuschauern, Medien, der Wirtschaft, der
Wissenschaft und auch uns selbst als verantwortlichen
Sportpolitikern klarmachen: Die wachsende Nachfrage
nach immer hochkarätigeren Leistungen hat in vielen
Disziplinen längst ihre Grenzen an den körperlichen und
psychischen Möglichkeiten des Einzelnen erreicht. Wir
alle dürfen keine Beiträge mehr leisten, die dazu führen,
dass Körper und Psyche unserer Athletinnen und Athleten überfordert werden und zu hohe Erwartungen entstehen. Die Bedeutung des Wettkampfes muss über dem
Rekordgedanken stehen. Anreize wie Rekordprämien
oder der Einsatz von sogenannten Hasen als Tempomacher müssen der Vergangenheit angehören. Das gilt
auch für die Einblendungen von Rekordzeiten im Fernsehen oder ihrer Veröffentlichung in Programmheften.
Wir müssen einen neuen Anfang wagen. Wir müssen uns
auf Werte des Sports zurückbesinnen, die verschüttet
wurden.
({1})
Nun zur Sportförderung. Wir als Bundestag sind der
größte Geldgeber des Spitzensports. Im engen Schulterschluss mit dem DOSB und den Fachverbänden werden
die Mittel leistungsorientiert eingesetzt. Bundeswehr,
Bundespolizei und Zoll geben unseren Hochleistungssportlern den erforderlichen Rückhalt. Darüber dürfen
wir aber die zweite wesentliche Säule nicht vergessen,
die Herr Minister Schäuble auch angesprochen hat, nämlich die Sponsoren aus der Wirtschaft. Die herausragende Bedeutung der Stiftung Deutsche Sporthilfe ist
uns erneut am vergangenen Wochenende bei der Verleihung der Goldenen Sportpyramide vor Augen geführt
worden. Das Sponsoring muss weiter wachsen. Nicht
nur für den Spitzensport, sondern auch für die kleinen
Vereine ist in Zeiten knapper Kassen die Beteiligung der
privaten Wirtschaft unabdingbar geworden. Die FDP beobachtet allerdings mit Sorge, dass die Bundesregierung
mit ihrem fatalen Hang zum Aufbau einer Verbotsrepublik
({2})
Deutschland die Rahmenbedingungen für eine gute
Sportförderung durch die Wirtschaft deutlich verschlechtern will. Staatliche Überreglementierung, neue
Werbeverbote in den Medien oder im Internet, Verkaufsverbote und Konsumverbote prägen die aktuelle
Situation, zum Beispiel die Diskussion über Tabak- und
Alkoholprävention oder Ernährungsfragen. Bei allem
Verständnis für einen fürsorgenden Staat: Er darf die
Menschen in ihrem privaten Bereich nicht übermäßig
bevormunden. Aufklärung und Information im Zusam17488
menwirken mit der Industrie, auch Selbstverpflichtungen im Bereich des Kinder- und Jugendschutzes führen
zu besseren Ergebnissen und sichern zugleich die Möglichkeiten des Sponsorings auch als soziale Leistung.
Auch darauf hat der Sportminister hingewiesen.
({3})
An die Substanz der Sportförderung geht der neue
Glücksspielstaatsvertrag. Viele Millionen Euro aus
den Erlösen flossen bisher über die Länder in die Vereine
und Verbände. Die Antworten auf erste Anfragen meiner
Landtagskollegen nach Inkrafttreten des Vertrages sind
alarmierend. In Schleswig-Holstein gingen die Einnahmen aus der Oddset-Sportwette in den ersten vier Monaten bei der Kombiwette um 40 Prozent und bei der Topwette um 50 Prozent zurück, in Sachsen um 52 Prozent.
Zusammengerechnet sind das 4,5 Millionen Euro. Im
Lottobereich verzeichnen wir in beiden Ländern insgesamt 12,5 Millionen Euro Mindereinnahmen, unter anderem wegen der Restriktionen für gewerbliche Spielvermittler. Das geschieht in einem Glücksspielbereich,
in dem das Suchtverhalten am unproblematischsten ist,
wie die Drogenbeauftragte der Bundesregierung gestern
noch im Gesundheitsausschuss bestätigt hat.
Wir sind auf dem falschen Weg. Bereits im Februar
2006 hatte eine Kommission „Sportwetten der Bundesländer“ erstaunliche Erkenntnisse, die die FDP in zwei
Anträgen hier in das Haus eingebracht hat. Sie weist bei
einer möglichen Neuordnung des Rechts der Sportwetten auf die Erschließung von bislang dem Sport nicht zugänglicher Wertschöpfung hin. Sie zieht eine Konzessionierung gewerblicher Anbieter in Erwägung und fordert
- ich zitiere - „bei der Zulassung gleiche Bedingungen
für alle Bewerber, auch für die bisherigen staatlichen
Sportwettanbieter, die sich gegebenenfalls zusammenschließen könnten, um ein konkurrenzfähiges Angebot
abgeben zu können.“ Ich fordere die Regierungen in
Bund und Ländern auf: Schluss mit dieser Vogel-StraußPolitik! Nehmen Sie die Realitäten wahr! Ordnen Sie
europarechtskonform die Sportwetten neu, wie es Großbritannien, Österreich und Spanien vorgemacht haben
und Frankreich es künftig tun wird.
({4})
Dann könnten wir auch anderen wichtigen Bereichen des
Sports, die bisher eher stiefmütterlich behandelt wurden,
wie dem Deutschen Behindertensportverband oder
Special Olympics, der Vereinigung, die für die geistig
Behinderten und ihre Sportmöglichkeiten eintritt, neue
Quellen eröffnen und für eine gesichertere Zukunft sorgen.
Ich danke Ihnen fürs Zuhören.
({5})
Das Wort erhält nun die Kollegin Dagmar Freitag,
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und
Kollegen! Die heutige Debatte über den Sportbericht ist
mit einer Debatte über einen Antrag der Linksfraktion
verbunden. Frau Kollegin Kunert, zu Beginn eine positive Bemerkung hierzu: Wir freuen uns, dass Sie sich der
Forderung meiner Fraktion nach Aufnahme des Sports
ins Grundgesetz angeschlossen haben.
({0})
Damit endet aber auch bereits die Übereinstimmung.
Ihrem propagierten Anliegen, den Sport in Bund, Ländern und Gemeinden auf eine solidere Basis zu stellen,
erweisen Sie mit dem vorliegenden Antrag jedenfalls
keinen guten Dienst. Jeder Verfassungsrechtler hätte Ihnen erklären können, dass der Bund keine hinreichende
Gesetzgebungskompetenz hinsichtlich Ihrer Forderungen hat.
Andere Bestandteile hat die Regierungskoalition
längst abgearbeitet - ich nenne nur die Stärkung des
Ehrenamtes -, und das im Übrigen weit über den Sport
hinaus. Auch da unterscheiden wir uns von Ihnen. Sie
hätten unserem Gesetzentwurf einfach nur zustimmen
müssen.
({1})
Wie auch immer, der vorliegende Antrag ist jedenfalls
nicht dazu angetan, die Sportförderung in Deutschland
zu verbessern. Die verfassungsrechtlichen Probleme tun
ein Übriges. Deshalb werden wir diesen Antrag ablehnen.
({2})
Die rot-grüne Koalition war diejenige, die die Dopingbekämpfung auf die Tagesordnung gehoben hat - nach
langen Jahren beschwichtigender Untätigkeit der Vorgängerregierung. Wir haben eine teilweise heftig geführte öffentliche Debatte angestoßen. Massive Widerstände, insbesondere vonseiten des organisierten Sports,
haben damals verhindert, dass es schon in der rot-grünen
Zeit zu einer schärferen gesetzlichen Regelung kam. Das
hat die Große Koalition mittlerweile nachholen können.
Ich bleibe bei meiner damaligen Einschätzung: Die Verweigerungshaltung war nicht zum Nutzen, sondern zum
Schaden des deutschen Sports.
({3})
Eine konsequente Dopingbekämpfung war und bleibt
von existenzieller Bedeutung für die Zukunft des Spitzensports. Das haben aber noch immer nicht alle verstanden. So hat der Deutsche Eishockey-Bund noch im
März dieses Jahres geglaubt, man könne Dopingvergehen getrost abseits geltender Regularien sanktionieren.
Er hat gegen einen Dopingprobenverweigerer statt einer
obligatorischen Sperre eine Ministrafe verhängt. Das
war ein Schlag ins Gesicht der Verbände, die ihren AthDagmar Freitag
leten in vergleichbaren Fällen eine solch zweifelhafte
Unterstützung nicht gewähren.
({4})
In diesem Zusammenhang möchte ich ausdrücklich die
konsequente Haltung von NADA und Bundesinnenministerium hervorheben. Gemeinsam haben wir erreichen
können, dass der Deutsche Eishockey-Bund eingelenkt
hat und die Angelegenheit vor einem unabhängigen
Schiedsgericht nachverhandeln lässt, leider - auch das
sollte gesagt werden - erst nach langem Zögern und Taktieren.
Machen wir uns nichts vor: Ohne unsere konsequente
Haltung wäre es hierzu nicht gekommen. Deshalb erneuere ich an dieser Stelle die ausdrückliche Forderung
meiner Fraktion an die deutschen Spitzenverbände: Unterwerfen Sie sich dem nationalen unabhängigen
Schiedsgericht! Einige Verbände - allerdings viel zu wenige - haben das bislang getan.
({5})
Dieses Signal sollte nun wirklich endgültig verstanden
worden sein. Für Verbände, die die Dopingbekämpfung
nicht ernst nehmen, kann es keine staatliche Förderung
geben.
({6})
Sportpolitik ist vor allem, doch nicht nur eine Sache
des Sportministeriums. Ein Beispiel: Für meine Fraktion
hat der Sport in der auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik einen ausgesprochen hohen Stellenwert.
Allein an der Trainerschule in Mainz sind bislang rund
330 Leichtathletiktrainer aus 80 Ländern ausgebildet
worden. Eine Besonderheit dabei ist: Diese Kurse werden auf Deutsch gehalten. Deutschland, unsere Menschen, unsere Kultur, wird den angehenden Trainern dadurch vertraut.
Interessant ist: Viele der Absolventen sind heute in
Führungspositionen in Sport und Politik in ihren Heimatländern. Wann und wo auch immer man diese Menschen trifft: Die Zeit in Deutschland wird von ihnen als
Highlight in der persönlichen und beruflichen Entwicklung geschildert. Daher wird es niemanden verwundern,
dass Außenminister Steinmeier unsere ausdrückliche
Unterstützung für diese und andere Maßnahmen hat,
({7})
seien es die Kurz- und Langzeitprojekte in Afrika oder
Maßnahmen zum Wiederaufbau der Sportstrukturen in
Afghanistan.
({8})
Das Auswärtige Amt leistet an dieser Stelle einen unverzichtbaren Beitrag zum Aufbau zivilgesellschaftlicher
Strukturen in vielen Ländern.
Sportförderung durch Bund, Länder und Kommunen
erreicht einen großen Teil der Menschen in unserem
Land. Der in den Vereinen und Verbänden organisierte
Sport und seine Mitglieder erfahren ein hohes Maß an
Förderung, auch im finanziellen Bereich. Aber wichtig
ist an dieser Stelle der Hinweis: Der Sport gibt der Gesellschaft ein Vielfaches davon zurück. Das belegt im
Übrigen auch der vorliegende Bericht.
Spannende Monate liegen, sportlich gesehen, vor uns.
Fußballeuropameisterschaft und Olympische Spiele warten auf ihre Sieger.
Da Rückblick und Ausblick immer zusammengehören, stellt sich natürlich auch die Frage, welchen Weg
der Sport und die Sportförderung zukünftig gehen werden. Die Antwort kann nicht allein im Zählen von Medaillen und Meistertiteln liegen. Möglichst viele Medaillen und saubere Sportler - diese Gleichung wird in
Zeiten des Hightechdopings nicht aufgehen können. Daher muss eines der wichtigsten Ziele deutscher Sportpolitik sein, eine strikte Anti-Doping-Politik auch auf internationaler Ebene einzufordern.
({9})
Ich erinnere hier an das unter großem Beifall der Athleten gegebene Versprechen der Bundeskanzlerin vor der
deutschen Leichtathletik-Nationalmannschaft in Osaka,
sich auf internationaler Ebene entschieden dafür einzusetzen.
Erwartungen auf ein realistisches Maß zurückzuschrauben, ist keine Abkehr vom Leistungsprinzip. Eine
Stärkung der Sportwissenschaft ist ein Baustein für eine
leistungsorientierte Sportförderung. Daher befürworten
wir ausdrücklich eine stärkere Einbeziehung der Sportwissenschaft, allerdings unter der selbstverständlichen
Voraussetzung ethischer Grundprinzipien.
({10})
Ich sage ganz deutlich: Freiburg darf sich nicht wiederholen!
({11})
Die Sportförderung in unserem Land ist von einer exzellenten Qualität. Dennoch haben wir sie weiterzuentwickeln. Damit entwickeln wir auch unsere Gesellschaft
weiter. Das ist nicht voneinander zu trennen. Die SPDBundestagsfraktion stand und steht an der Seite des
Sports.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({12})
Für die Fraktion Die Linke hat Katrin Kunert das
Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! 64 Tage vor Beginn der Olympischen Spiele
- später folgen noch die Paralympics - in Peking
wünscht die Linke allen Sportlerinnen und Sportlern
eine optimale Vorbereitung - verletzungsfrei -, das Erreichen der hochgesteckten Normen, viel Erfolg und
schöne Spiele.
({0})
Fest steht: Deutschland wird mit einer starken Mannschaft nach Peking fahren. Die Erwartungen sind sehr
hoch. Fest steht auch, dass die weitere Förderung durch
den Bund maßgeblich vom Abschneiden der Mannschaft
abhängen wird. Aber die Förderung des Spitzensports ist
nur die eine Seite der Medaille. Die andere Seite der Medaille ist die Förderung des Breitensports. Von daher ist
es gut, dass wir vor Olympia den 11. Sportbericht der
Bundesregierung und den Antrag der Fraktion Die Linke
für ein Sportförderungsgesetz des Bundes beraten. Für
die Linke ist klar: Ohne eine bessere Unterstützung des
Breitensports wird der Spitzensport in Zukunft auf der
Strecke bleiben.
({1})
Daher muss die Sportförderung im weiten Sinn im
frühkindlichen Alter beginnen und bis ins hohe Alter erfolgen. In einer modernen Gesellschaft muss der Sport
mehr sein als nur Wettlauf um höhere Leistungen. Durch
Sport werden Werte vermittelt und wird die Gesundheit
gefördert. Bei großen internationalen Wettkämpfen wie
in Peking trägt der Sport zur Völkerverständigung und
zum friedlichen Zusammenleben der verschiedensten
Nationen bei.
Aber nun zum Bericht. Darin heißt es - ich zitiere -:
Auch der Spitzensport leistet einen wichtigen Beitrag für die Gesellschaft insgesamt. Erfolgreiche
Sportler haben insbesondere für Kinder und Jugendliche oftmals Vorbildfunktion und stehen für
Leistungswillen, Ausdauer, Fairness und Teamgeist. Die Förderung des Leistungssports ist deshalb zugleich ein Beitrag zur gesellschaftlichen
Wertedebatte.
Dem stimmen wir zu. Nur: Über welche Werte reden
wir? Welche Werte erfahren die Menschen im Leben?
Die zunehmende Spaltung der Gesellschaft in Arm
und Reich ermöglicht vielen Menschen die Teilnahme an
Sportkursen oder Veranstaltungen erst gar nicht, weil ihnen schlicht und einfach das Geld fehlt, und sie haben
auch andere Sorgen. Der Sport hätte das Potenzial, die
Gesellschaft zusammenzuhalten, aber das Potenzial wird
nicht ausgeschöpft.
Deshalb sagt die Linke:
Erstens. Alle Kinder und Jugendlichen sowie Erwachsenen bis hin zu den Seniorinnen und Senioren, egal ob
mit oder ohne Behinderung, müssen freien Zugang zum
Sport haben.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will Ihnen von
Bianca erzählen. Sie besucht seit zwei Jahren die Landessportschule in Halle. Sie ist mit Leib und Seele Basketballerin. Ihr großes Vorbild ist Dirk Nowitzki. Sie
wurde 2007 deutsche Meisterin, 2008 Landesmeisterin
in Sachsen-Anhalt, mitteldeutsche Meisterin, ostdeutsche
Meisterin, norddeutsche Meisterin, und vor zwei Wochen
wurde sie mit ihrer Mannschaft, den Halle Lions, deutsche Vizemeisterin. Wenn sie so weitermacht, wird sie
eines Tages in der Nationalmannschaft für Deutschland
spielen. Man könnte meinen, das sei eine steile Karriere.
Aber ihr Besuch der Sportschule konnte nur durch private Förderer gesichert werden, da beide Elternteile
Arbeitslosengeld II beziehen.
({3})
In dem Regelsatz von 347 Euro sind nun einmal keine
Internatskosten enthalten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, stellen Sie sich einmal vor: Bürgerinnen und Bürger in diesem Land geben
ihr privates Geld, damit ein Kind eine weiterführende
Schule besuchen kann, und zum Dank streicht der Staat
der Bedarfsgemeinschaft die Leistung für das Kind. Der
Staat spart auf Kosten der Bürgerinnen und Bürger. Das
ist ein Skandal. Das sage ich Ihnen ganz deutlich.
({4})
Dass der Staat diese Schulen nicht kostenlos zur Verfügung stellt, ist schon ein Armutszeugnis. Aber dass man
es den Familien auch noch schwerer macht, wenn sie
sich selbst darum kümmern, dass die Kinder solche
Schulen besuchen können, ist ein Punkt, über den Sie,
wie ich denke, nachdenken sollten. Das ist auch ein Beispiel dafür, dass die Bundesgesetzgebung in die Tiefen
des Breitensportes und bis hin zur Basis wirkt.
({5})
Über diesen Punkt sollten wir wirklich reden.
An Talenten mangelt es in Deutschland nicht. Aber es
ist nur einem Teil der Kinder und Jugendlichen möglich,
sich sportlich weiterzuentwickeln. Genau wie in der
schulischen Bildung hängen die Chancen der Kinder in
erster Linie vom Geldbeutel der Eltern ab. Schon die
Mitgliedschaft in manchen Sportvereinen stellt für viele
Kinder eine finanzielle Hürde dar.
Zweitens. Im Schulsport liegt vieles im Argen, und
das seit Jahren: Sportstunden werden gestrichen; es gibt
nicht genügend Sportlehrerinnen und Sportlehrer; die
Aus- und Weiterbildung ist absolut unzureichend, und
der Schwimmunterricht wird privatisiert.
({6})
Dabei ist gerade der Schulsport ein wichtiges Bindeglied zwischen gesunder Lebensweise, Bewegung und
Lernfähigkeit. Wir können punktgenau sagen, wie hoch
die Gesundheitskosten später sein werden, weil Kinder
zu dick sind, sich falsch ernähren oder sich nicht ausreichend bewegen und damit krankheitsanfälliger sind.
Eine gute Sportpolitik ersetzt jede Gesundheitsreform.
({7})
In den Kindertagesstätten und Schulen müssen gesunde Ernährung und Bewegung als Ganzes vermittelt
werden. Wir fordern bundeseinheitliche Qualitätsstandards zur Weiterentwicklung des Schulsports. Die dritte
Sportstunde muss überall, also in jedem Bundesland und
in jeder Schule, zur Pflicht werden.
({8})
Nur so kommen wir aus dem Dilemma der Streiterei um
die Zuständigkeiten zwischen Bund und Ländern heraus.
Gleiche Bildungsstandards, liebe Kolleginnen und Kollegen, tragen ja auch zur Angleichung der Lebensverhältnisse in Deutschland bei - ein Ziel, das wir uns einmal gestellt haben.
({9})
Drittens. Der Zustand vieler Sportstätten ist mangelhaft. Im Sportbericht wird die stolze Zahl von
63 Millionen Euro genannt, die im Rahmen des Bundesprogramms „Goldener Plan Ost“ von 1999 bis 2005 zur
Sanierung und zum Neubau von Sportstätten ausgegeben
worden sind.
({10})
Aber im eigentlichen Berichtszeitraum, also von 2002
bis 2005, waren es nur noch 26 Millionen Euro, und im
Haushalt für 2008 stehen ganze 2 Millionen Euro. Das
bezeichne ich als einen Witz. In der letzten Debatte über
den Haushalt haben Sie unseren Antrag, diesen Betrag
wenigstens auf 10 Millionen Euro anzuheben, abgelehnt.
({11})
Die Grünen haben leider sogar signalisiert, dass sie diese
Förderung am liebsten ganz abschaffen wollen. Kluge
Sportpolitik sieht aber anders aus, meine Damen und
Herren.
({12})
Fest steht: 70 Prozent der Sportanlagen im Osten und
40 Prozent der Sportanlagen im Westen sind sanierungsbedürftig. Für die Sanierung werden nach Auskunft von
Fachleuten 40 Milliarden Euro benötigt, davon entfallen
20 Milliarden Euro auf die öffentlichen Träger, also in
erster Linie auf die Kommunen. Auch wenn wir heute
über Sport reden, stelle ich fest: Die Finanzausstattung
der Kommunen steht unter keinem guten Stern. Es gibt
bei den Kommunen große Unterschiede zwischen Arm
und Reich. Das sieht man auch am Zustand der Sportstätten.
({13})
Die Linke fordert, auch die Sportstätten am Aufschwung
in Deutschland teilhaben zu lassen.
({14})
Das heißt im Klartext: Mindestens 20 Millionen Euro in
das Programm „Goldener Plan“ einstellen und dieses auf
die alten Bundesländer ausdehnen.
Im gleichen Kontext sage ich auch: Die Finanzausstattung der Kommunen muss vom Kopf auf die Füße
gestellt werden, damit die Sportinfrastruktur auch nachhaltig verbessert werden kann. Vielleicht, liebe Kolleginnen und Kollegen, gelingt es Ihnen auch noch, in der
Föderalismusreform II die Entschuldung der Kommunen
unterzubringen. Das ist nämlich genauso wichtig.
({15})
Viertens. Der Sport braucht insgesamt noch mehr Anerkennung und Verbindlichkeit. Die Linke unterstützt
deshalb den Vorschlag des DOSB, Sport als Staatsziel in
das Grundgesetz aufzunehmen. Mit einem Sportfördergesetz des Bundes muss die derzeitige Förderung des
Spitzensportes mit der des Breitensportes zusammengeführt werden.
Sport als aktives Gesundheitsprogramm und als Instrument zur Integration und Chancengleichheit für
Frauen und Menschen mit Behinderungen muss in einem
Sportfördergesetz festgeschrieben werden. Ihre föderalen Hinderungsgründe und Ihr Hinweis, dafür seien wir
nicht zuständig, greifen eben nicht immer. In den Haushalten des Innenministeriums, des Verteidigungsministeriums, des Gesundheitsministeriums, des Familienministeriums oder des Auswärtigen Amtes sind entsprechende
Gelder eingestellt und werden zum Teil als Bundesprogramme bis in die Kommunen und Einrichtungen ausgereicht. Ein Sportfördergesetz bietet die Chance, alle
Maßnahmen, die den Sport betreffen, zu bündeln und
aufeinander abzustimmen.
Fünftens. Das bürgerschaftliche Engagement muss
weiter gestärkt werden. Die Anhebung der Übungsleiterpauschale und steuerrechtliche Vergünstigungen können
nur ein erster Schritt sein. Viele Studentinnen und Studenten, Rentnerinnen und Rentner, Arbeitslose und
Menschen mit einem geringen Einkommen leisten wertvolle ehrenamtliche Arbeit. Diese haben aber nichts von
Steuervergünstigungen.
({16})
Die Linke fordert daher nach wie vor, dass diese Ehrenamtlichen finanzielle Anerkennung bekommen müssen.
Tatsächliche Kosten müssen erstattet werden.
({17})
In diesem Zusammenhang will ich noch auf ein Problem hinweisen. Vor kurzem ist das Einkommensteuerrecht geändert worden. Für die Beschaffung von geringwertigen Wirtschaftsgütern ist die Grenze von 400 Euro
auf 150 Euro gesenkt worden. Das stellt sich in den
Sportvereinen jetzt als Problem dar.
({18})
Wir sollten überlegen, ob wir hier nicht nachjustieren
sollten, damit diese Beeinträchtigung der Sportvereine
nicht fortbesteht.
Sechstens. Öffentlich geförderte Beschäftigung
bringt den Sport und den Arbeitsmarkt in Schwung. Frau
Freitag, eine öffentlich geförderte Beschäftigung lehnen
Sie mit dem Hinweis ab, es würde gegen die Autonomie
der Sportorganisationen verstoßen.
({19})
- Gestern haben Sie zu diesem Thema gesprochen. - Ich
muss Sie fragen, ob Sie überhaupt die Realität in den
Sportvereinen kennen. Derzeit haben viele Menschen
dank ABM in Sportvereinen Arbeitsgelegenheiten. Im
Landkreis Stendal sind es allein 80 Menschen.
Wir fordern, diese Beschäftigung in versicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse mit Mindestlöhnen umzuwandeln. Den gemeinnützigen Sport zum öffentlich geförderten Beschäftigungssektor auszubauen, ist eine
lohnenswerte und notwendige Aufgabe für den Sport
und für die Betroffenen.
({20})
Sie heben immer darauf ab, dass es fraktionsübergreifend einen großen Konsens gibt, was die Sportförderung
angeht. Das ist punktuell richtig. Wir aber sagen: Mit einem generell festgeschriebenen Sportfördergesetz kann
man viele Ungerechtigkeiten und Ungereimtheiten ausräumen. Man kann bestimmte Aktivitäten vom Bund aus
bündeln.
({21})
Es gibt nach wie vor große Unterschiede in der Förderung des Frauen- und Männersports. Ich nenne als Beispiel den Fußball. Es gibt auch nach wie vor große Unterschiede bei der Förderung des Spitzensports von
Menschen mit und ohne Behinderung; dazwischen liegen Welten. Diese Punkte müssen auf den Prüfstand und
müssen in einem Sportfördergesetz neu geregelt werden.
({22})
Ausgehend von der gestrigen Sitzung des Ausschusses sage ich: Wir wollen nicht Freibier für alle.
({23})
Wir wollen sehr viele Menschen in diesem Land glücklich machen. Das ist richtig. Aber in erster Linie wollen
wir dieses Land gerechter gestalten, und das beginnt mit
dem Sport.
Schönen Dank.
({24})
Um jedem möglichen Missverständnis vorzubeugen:
„Freibier für alle“ müsste außerhalb des Plenarsaals angeboten werden; hier drinnen ist es sicherlich nicht zulässig.
({0})
Nun hat der Kollege Winfried Hermann das Wort für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Sportausschuss, so pflegen wir zu sagen, gibt es viele Gemeinsamkeiten. Die Sportpolitikerinnen und Sportpolitiker haben Spaß und Freude am Sport. Deswegen gibt es
auch viele gemeinsame Vorstöße. Obwohl es viele Gemeinsamkeiten gibt, gibt es auch Differenzen und Unterschiede. Das ist auch gut so. Auch der Sport braucht eine
politische Debatte.
({0})
Im Sportbericht, der Anlass unserer Debatte ist, findet
man ganz am Anfang beschrieben, welche unglaublich
vielfältige Dimensionen der Sport hat. Er hat eine soziale, eine integrative und eine leistungsfördernde Funktion. Er spielt inzwischen auch in großen Bereichen der
Wirtschaft eine wichtige Rolle. Ich nenne beispielsweise
den Tourismus. Der gesamte Bericht spiegelt wider, wie
großartig und wie vielfältig Sport ist, wie er in dieser
Gesellschaft wahrgenommen wird und was er für sie bedeutet. Darin sind wir uns einig.
Die Frage ist jetzt nur, ob die Politik selber diese Vielfalt, die der Sport bietet, auch in ihren Akzenten, in dem,
was sie tut, widerspiegelt. In diesem Zusammenhang
möchte ich ein paar kritische Dinge ansprechen. Herr
Minister, Sie sagen, das Prä der Sportpolitik liege natürlich beim Sport. Da besteht kein Dissens. Aber wenn
man sich nur an dem orientiert, was die Sportorganisationen machen, dann läuft die Politik Gefahr, dass sie
nur darauf antwortet und keine selbstständigen Initiativen in Gang setzt. Wir Grüne meinen, Sportpolitik muss
auch eigenständige Akzente setzen und dafür sorgen,
dass alles in den richtigen Bahnen läuft.
({1})
Ein Beispiel. Es muss skeptisch stimmen, wenn zum
Beispiel beim Landessporttag in Baden-Württemberg
der Tenor der Debatte ist: „Der DOSB nimmt den Breitensport nicht wahr, nicht ernst“ oder wenn, wie im
Sportausschuss, die nichtolympischen Sportverbände sagen: Wir bekommen kaum Fördermittel; alles konzentriert sich auf den olympischen Sport. - Dazu sage ich:
Hoppla, es könnte sein, dass falsche Zeichen gesetzt
werden, dass wir bei der Konzentration auf den Spitzensport, dessen Bedeutung durchaus nicht bestritten wird,
vergessen, dass es auch Breitensport und Sport auf LanWinfried Hermann
desebene und in den Kommunen gibt. Auch dies müssen
wir in unsere sportpolitischen Überlegungen mit einbeziehen. Unsere Forderung ist, sich mehr in diese Bereiche hineinzudenken.
({2})
Herr Minister, meine Kolleginnen und Kollegen von
der Koalition, Sie haben die Mittel für den Spitzensport
zu Recht erhöht;
({3})
denn sie waren über Jahre gedeckelt. Aber die Mittel für
Breitensportaktivitäten, für Modelle, die dort möglich
sind, sind nicht in gleicher Weise erhöht worden.
({4})
Wir sagen eindeutig: Wir wollen auch in diesem Bereich
mehr tun.
({5})
Der Breitensport braucht eine Lobby - so der Landessportverband Baden-Württemberg; auch andere
könnte man zitieren. Nun sagen Sie: Da haben wir doch
keine verfassungsgemäße Zuständigkeit.
({6})
Die ist in der Tat beschränkt. Aber Sie sollten in Ihrer
Argumentation konsequent sein: Die meisten von Ihnen
vertreten die Auffassung, dass Sport als Staatsziel in das
Grundgesetz aufgenommen werden soll.
({7})
Warum? Weil Sie sagen: Breitensport, Gesundheitssport,
soziale Funktionen des Sports, all das ist wichtig. Wir
wollen das im Grundgesetz verankert sehen. - Wenn
man das für richtig hält, dann muss man diese breitensportliche Dimension aber auch in seine politischen
Überlegungen, in seine Konzeption mit einbeziehen.
({8})
Das zum Ersten.
Zum Zweiten hat der Bund natürlich in den Bereichen Gesundheit, Prävention und Altersvorsorge jede
Menge Kompetenzen, sodass er zumindest modellhaft
Dinge anstoßen kann, damit sich sportliche Organisationen und die Sportförderung weiterentwickeln können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition,
überlegen Sie sich einmal, welche Initiativen, Gedanken,
Ideen und Modelle Sie zum Bereich des Breitensports in
den letzten zwei Jahren eingebracht haben. Dazu fällt Ihnen nichts ein.
({9})
Ich bin die Sache extra noch einmal durchgegangen. Es
ist nichts geschehen. Ich meine, moderne Sportpolitik
müsste da mehr zu bieten haben.
({10})
Ich war vor zwei Wochen mit einer kleinen Gruppe
des Parlamentarischen Beirats für Nachhaltige Entwicklung in Norwegen. Wir haben uns um Nachhaltigkeit bemüht. Da ist mir etwas Interessantes begegnet: Bei jedem
Besuch eines Ministeriums fand man an der Eingangstür
ein Plakat vor: Benutze deine Beine zur Arbeit!
({11})
Durch diese Kampagne in Norwegen werden die Leute
aufgefordert, sich zu bewegen und schon morgens zur
Arbeit zu laufen oder mit dem Rad zu fahren.
({12})
- Das ist eine gute Idee. - Aber wo ist die Initiative der
Bundesregierung, auch einmal so ein Konzept vorzulegen, dass die Politik, die Verwaltung vorbildlich zeigen:
„Wir wollen uns bewegen; wir fahren Fahrrad. Fahren
Sie mit!“?
({13})
- Ich merke, einige sind erregt.
({14})
Kollege Gienger, der nur eine Radlrutsch hat, tut sich
schwer mit dem Radfahren; ich weiß.
Es gibt übrigens ein Ministerium, das so eine Kampagne fördert: Das ist das Verkehrsministerium, das dafür
wirbt, mit dem Fahrrad zur Arbeit zu fahren. Wenn man
für Bewegung in der Gesellschaft mehr tun will, dann
müsste so eine Kampagne breiter gefasst werden, dann
müssten alle mitmachen. Dann müsste das Innenministerium ganz vorne dabei sein.
({15})
Jetzt komme ich zum Thema „Vorbereitung auf die
Olympischen Spiele in Peking“. Wir haben darüber
schon viel gesprochen. Ich will nicht in aller Breite darüber sprechen, aber auf zwei Punkte eingehen: erstens auf
die Bekämpfung von Doping und die Voraussetzungen dafür in China. Der Herr Minister hat gestern im Ausschuss und auch heute gesagt, dass sich in China in letzter Zeit einiges getan hat. Das will ich nicht bestreiten,
das ist wahr. Aber gemessen an der Zahl der Menschen
in China, die Leistungssport treiben, sind 8 000 Proben
pro Jahr - das sind etwa doppelt so viele wie in Deutschland - eine sehr bescheidene Maßnahme und viel zu wenig. Wir wissen, dass es in China viele Labors und jede
Menge Eliteschulen und Fördereinrichtungen gibt, die in
dieses Kontrollsystem noch nicht eingebunden sind. Es
ist unsere Aufgabe, über die internationalen Sportorganisationen darauf hinzuwirken, dass auch in China mehr
gegen Doping getan wird.
({16})
Zweitens: das Thema Menschenrechte. Herr Minister, ich habe Sie gestern bewusst gefragt: Was halten Sie
von diesem blau-grünen Bändchen mit der Aufschrift
„Sports for Human Rights“, das ich am Arm trage?
({17})
- Der Kollege Parr nennt das Symbolpolitik. Für mich
ist die Frage, ob es möglich ist, sich bei den Olympischen Spielen zu den Menschenrechten zu bekennen,
und zwar nicht propagandistisch, sondern aus persönlicher Überzeugung heraus.
({18})
Kann man so etwas tragen, um sich zu den Menschenrechten zu bekennen, oder ist das Propaganda, die verboten ist? Das IOC tut so, als sei so etwas verboten. Der
DOSB übernimmt diese Haltung. Der Minister erklärt,
das sei so im Sport und das müsse man so akzeptieren. Wir meinen, das ist inakzeptabel. Ein Bekenntnis zu
Menschenrechten muss erlaubt sein. Das ist keine Propaganda, sondern eine pure Selbstverständlichkeit.
({19})
Lassen Sie mich noch etwas zur Aufarbeitung des
Dopingproblems im deutschen Sport sagen. Über die
Anti-Doping-Kommission des Ministeriums, die sich
mit der Aufarbeitung beschäftigt, über den Einsatz der
Mittel wacht und prüft, ob die Verbände die Auflagen
umsetzen, haben wir Einblick in das bekommen, was wir
in Deutschland noch tun müssen. Tatsächlich hat diese
Kommission dazu beigetragen, dass in den Verbänden
aufgeräumt wurde
({20})
und dass man sich an bestimmte Regeln hält. Das ist gut
so. Aber jetzt müssen wir dranbleiben und konsequent
sein: Dort, wo Verbände diese Auflagen verletzen, darf
es keine staatliche Förderung für den Sport geben.
({21})
Das passiert schon beim Deutschen Eishockey-Bund;
das ist gut so. Aber jeder andere Sportverband muss wissen: Diese Auflagen müssen erfüllt werden. Angesichts
der Kriterien, die deutlich machen, was alles zu machen
ist, wird klar, dass viele Verbände noch etwas tun müssen. Denen muss man signalisieren: Tut es, und zwar
schnell und sorgfältig!
({22})
Ich komme zum Fall der Universität Freiburg. Inzwischen arbeitet die Untersuchungskommission in BadenWürttemberg die Verstrickungen und Finanzierungen
von Doping an der Universität in Freiburg auf. Aber
diese Aufarbeitung betrifft auch den Bund, weil auch
Bundestrainer im Einsatz waren und Bundesmittel geflossen sind. Deswegen sind wir vonseiten des Bundes in
der Pflicht, nachzuschauen, was schiefgelaufen ist und
welche Konsequenz zu ziehen ist. Dabei werden wir Sie
unterstützen.
({23})
Ich komme zum Schluss. Was der Sport braucht, ist
nicht nur Unterstützung durch die Politik; vielmehr
braucht er auch Anregungen und Denkanstöße. Das gilt
insbesondere dann, wenn man den Eindruck hat, dass der
Sport selbst zu sehr auf den Spitzen- und Hochleistungssport konzentriert ist. Das ist die Aufgabe der Politik.
Wir stehen für eine breite Sportpolitik, nicht nur für eine
Breitensportpolitik. Wir wollen eine Politik, die Bewegung und Sport in der Gesellschaft und in den Sportverbänden fördert: an der Spitze wie in der Breite.
Vielen Dank.
({24})
Das Wort erhält nun der Kollege Eberhard Gienger,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
möchte zunächst einmal auf Frau Kunert eingehen, die
ein Sportförderungsgesetz gefordert hat. Ich darf Ihnen
sagen, Frau Kunert: Das, was Sie zu Papier gebracht haben, erinnert mich sehr an den Staatssport der DDR. Ich
darf hinzufügen: Die Gerechtigkeit, die Sie gefordert haben, wurde in der DDR in ganz geringem Maße umgesetzt.
({0})
Dabei ging es darum, Leistung zu erbringen, und um
nichts anderes.
Ein Wort zu dir, Wini Hermann. Der Bund unterstützt
den Sport mit relativ geringen Mitteln. Im Jahr 2003 betrugen die Ausgaben für den Sport 3,9 Milliarden Euro.
Davon haben die Kommunen 80 Prozent getragen, also
ungefähr 3,1 oder 3,2 Milliarden Euro, die Länder etwa
650 Millionen Euro. Der Bund hat sich mit bescheidenen 108 Millionen Euro beteiligt. Das war ein ganz geringer Anteil für den Spitzensport. Ich glaube, dass diese
Gewichtung richtig ist.
Sport spielt in der Bundesrepublik Deutschland eine
herausragende Rolle. Das gilt insbesondere für die Bereiche Gesundheit, Kinder, Integration, Umwelt und Naturschutz, aber auch für die Behindertenarbeit. Hochleistungssport ist wichtig, weil er, wenn Sie so wollen, ein
Lehrmeister für Athletinnen und Athleten ist. Was kann
man im Spitzensport alles lernen? Man kann lernen, erfolgreich sein zu wollen. Man lernt Disziplin und Flexibilität. Man lernt, seine Leistung morgens um acht oder,
wenn es sein muss, auch einmal um Mitternacht zu erbringen. Man lernt, mit Sieg und Niederlage umzugehen.
Man lernt, aus Talsohlen herauszufinden und nach Siegen nicht abzuheben. Man lernt, dem Trainer, dem WeiEberhard Gienger
seren, zuzuhören und seine Vorgaben umzusetzen. Man
lernt Teamfähigkeit. All das sind Erfahrungen, die man
auf das private und berufliche Leben - das gilt zum Beispiel für die Ausbildung -, aber auch auf das politische
Leben übertragen kann.
Aus diesem Grund und wegen der Repräsentationsund Vorbildwirkung des Sports hat sich der Bund entschlossen, die Sportler stärker zu unterstützen. Die internationale Konkurrenz wird immer größer. Die Bundesrepublik Deutschland steht in Konkurrenz zu vielen
anderen Nationen, die bei Olympischen Spielen ebenfalls erfolgreich sein wollen, die sich dafür vorbereitet
haben. In Korea, Großbritannien - die Olympischen
Spiele finden 2012 in London statt -, Frankreich, Japan
und vor allem in Australien wird erfolgreich Geld in den
Spitzensport investiert. Dieses Parlament hat im vergangenen Jahr dankenswerterweise die bis dahin gedeckelten Beträge um immerhin etwas mehr als 17,1 Millionen Euro aufgestockt, was dem Sport guttut. Seit 1992
hat sich die Anzahl der Disziplinen bei Olympischen
Spielen um 30 Prozent erhöht. Auch die Zahl der teilnehmenden Nationen ist angewachsen. Im kommenden
Jahr rechnet man in Athen mit 205 teilnehmenden Nationen, also mit mehr Nationen, als die UN Mitglieder hat.
Es sind also gute Rahmenbedingungen geschaffen
worden. Allerdings ist auch klar, dass der Spitzensport
wegen des Dopings - dieses Thema ist schon angesprochen worden - in einer seiner größten, vielleicht sogar
der größten Krise überhaupt steckt. Durch Gesetzesänderungen ist es gelungen, Veränderungen herbeizuführen. Das Wirken der NADA - Präventions- und Aufklärungsmaßnahmen sowie unangemeldete Trainings- und
Wettkampfkontrollen - hat zumindest bei den Betroffenen ein gewisses Maß an Sensibilität bewirkt.
Ich möchte an dieser Stelle eines sagen: Die Athletinnen und Athleten müssen berücksichtigen, dass sich die
Zeiten geändert haben, dass sie in einer neuen Zeit leben.
Genauso wie sich die Flugreisenden heutzutage auf allen
Flughäfen kontrollieren lassen müssen, weil ein paar wenige Terroristen das Gemeinwohl bedrohen, müssen
auch die Athletinnen und Athleten davon ausgehen, dass
zu ihrem Sport - beim Training und Wettkampf - eine
Dopingkontrolle gehört.
({1})
Das mag zwar lästig sein, gehört in Zukunft aber zum
Training und zum Wettkampf. Frau Kollegin Freitag,
Ihre Bemühungen um eine ordentliche Gesetzgebung im
Rahmen des DIS - Deutsches Institut für Sportgerichtsbarkeit - hierzu kann ich nur begrüßen. Ich werde das
natürlich forcieren.
Ich möchte einen weiteren Punkt ansprechen: Sport
ins Grundgesetz. Der Deutsche Olympische Sportbund
hat im Oktober 2006 für die Aufnahme des Sports ins
Grundgesetz plädiert und ein entsprechendes Papier vorgelegt. Wie Sie wissen, hat sich die CDU/CSU mit diesem Thema beschäftigt, sich aber nicht für eine Aufnahme des Sports als Staatsziel ins Grundgesetz
ausgesprochen. Als ehemaliger Leistungssportler und
Mitglied des Präsidiums des Deutschen Olympischen
Sportbundes einerseits und Abgeordneter der CDU/
CSU-Fraktion andererseits schlagen zwei Herzen, ach,
in meiner Brust: Auf der einen Seite würde mit der Verankerung des Sports als Staatsziel im Grundgesetz die
besondere Bedeutung des Sports für unsere Gesellschaft
gewürdigt.
({2})
Auf der anderen Seite muss man allerdings anerkennen,
dass es gute Argumente für eine andere Einstellung zu
diesem Thema gibt. Es gibt nämlich sehr wohl Interessenten, die auch andere Staatsziele, wie Kinderrecht
oder Nachhaltigkeit verankert wissen möchten.
({3})
Wir müssen uns die Frage stellen: Brächte das Staatsziel
Sport dem Sport das, was er sich erhofft, brächte es den
Sport weiter? Diese Frage sollte Auslöser dafür sein,
neue Gespräche darüber zu führen. Was meine Person
anbetrifft, so würde ich gerne den Sport im Grundgesetz
sehen. Ich habe aber auch Verständnis für die Argumentation der anderen.
({4})
Ich möchte noch einige Anmerkungen zur Sinnhaftigkeit der Fusion von Deutschem Sportbund und NOK
zum Deutschen Olympischen Sportbund machen. Ich
gebe zu, dass auch ich damals kein großer Freund der
Fusion war. Ich habe aber zugestimmt, nachdem das Argument vorgebracht wurde, dass der Sport dann mit einer Stimme sprechen könnte. Dadurch sind wir jetzt in
einer anderen Situation. 1980, als es um einen Boykott
der Olympischen Spiele in Moskau ging, hat sich der
Sport gegenseitig zerfleischt: NOK gegen DSB, dazwischen die Deutsche Sporthilfe. Jetzt hat man erreicht,
dass der deutsche Sport mit einer Stimme spricht. Aus
diesem Grunde wundere ich mich, weshalb dem Deutschen Olympischen Sportbund so viel Kritik entgegenschlägt, er habe als Interessenvertreter seiner Athleten
seine Meinung, an den Olympischen Spielen in Peking
teilzunehmen, sehr früh bekannt gegeben.
({5})
Dies hat er in erster Linie getan, weil sich der DalaiLama selbst gegen einen Boykott ausgesprochen hat.
({6})
Winfried Hermann, vielleicht noch eines zu den
Bändchen.
Das muss jetzt aber ganz knapp erfolgen.
Ich komme zum Schluss, nur noch einen Satz. - Das
IOC hat in Regel 51 Abs. 3 der Olympischen Charta
ganz klar festgelegt, dass es nicht erlaubt ist, politische
oder religiöse Demonstrationen durchzuführen, dass die
Athletinnen und Athleten aber das Recht haben, sich bei
Pressekonferenzen, in öffentlichen Gesprächen und in
der Mixed Zone zu äußern. Ich denke, dies ist eine gute
Lösung. Somit können auch die Athletinnen und Athleten ihr Scherflein zu den Menschenrechten in China beitragen.
Vielen Dank.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Joachim Günther für
die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der Sportbericht der Bundesregierung und Sie,
Herr Minister, haben einen Überblick über die Vielfältigkeit dieses Bereichs in unserem Lande gegeben. Deshalb
kann jeder von uns nur ein Segment herausgreifen, zu
dem er hier seine Gedanken darstellt. Ich möchte auf die
Themen Doping und Sportstätten eingehen.
Das Gesetz zur Verbesserung der Bekämpfung des
Dopings im Sport hat einen langen Weg hinter sich.
({0})
Frau Kollegin Freitag, ich kann mich sehr gut daran erinnern, dass vieles, das auch von Ihnen angekündigt
wurde, sich am Ende leider nicht im Gesetz wiedergefunden hat.
({1})
Deshalb ist es interessant, zu sehen, wie wir mit diesem
Gesetz umgehen, vor allem, wie wir mit Personen umgehen, die bereit sind, über die Dopingpraxis öffentlich
auszusagen.
Der Bayerische Rundfunk hat in seiner Sendung
Report München am 2. Juni dieses Jahres Jörg Jaksche
interviewt. Ich weiß nicht, wer von Ihnen die Sendung
gesehen hat. Die Überschrift sagt eigentlich schon alles:
Alle lieben den Verrat, keiner liebt den Verräter.
Jaksche, ein Radprofi, hat reinen Tisch gemacht. Er hat
das flächendeckende Doping angesprochen und die Namen der Hintermänner genannt. Er hat damit einen Tabubruch begangen: Er hat die Mauer des Schweigens
durchbrochen. Aber was ist jetzt? Er steht ohne Vertrag
da. Niemand will ihn in seinem Rennstall haben.
Lassen Sie mich ein Zitat von Jörg Jaksche vortragen,
das meines Erachtens alles sagt:
Es ist eine Zweitwelt, in der man lebt im Radsport,
die komplett abgeschottet ist vom normalen Leben.
Also, das heißt, man erzählt, man lügt den Journalisten, der Familie und so weiter eigentlich offenen
Auges ins Gesicht und sagt: „Nein, das ist alles im
Radsport nicht so.“ Natürlich ist das im Radsport
so.
Meine lieben Freunde, es ist schon bedrückend, wenn
man so etwas hört. Der Bayerische Rundfunk hatte
Rückfragen an sportliche Leiter anderer Mannschaften
gestellt. Diese hatten überhaupt kein Interesse daran, auf
dieses Thema einzugehen. Da muss man sich doch fragen: Wie weit sind wir bei der Austrocknung des Dopingsumpfes? Wir sollten deshalb mit Blick auf die
Olympiade vorsichtig sein, wenn wir mit dem Dopingfinger auf gewisse aufsteigende Nationen - ich möchte
das einmal vorsichtig umschreiben - zeigen.
Wir alle im Haus sind uns darin einig, dass wir die internationale Zusammenarbeit auf diesem Gebiet deutlich
erweitern und verbessern müssen.
({2})
Herr Minister, Sie haben recht. Wir müssen die finanzielle Grundlage, die bei uns durch die NADA schon
verbessert wurde, aus meiner Sicht auf ganz andere Füße
stellen. Man muss den Mut haben, über neue Dinge
nachzudenken. Ich gebe nur einen Anstoß: Vielleicht
könnte man einen gewissen Teil aller Spenden und aller
Sponsorings im Sport für den Dopingbereich verwenden; ich denke hier an 0,3 bis 0,5 Prozent.
({3})
Die NADA leistet gute Arbeit. Wir müssen sie so stärken, dass sie auch international gut ankommt.
({4})
Einige kurze Bemerkungen zum Thema „Sportstätten in Deutschland“. Der DOSB hat vor zwei oder drei
Jahren einen Sanierungsbedarf in Höhe von rund
40 Milliarden Euro angegeben; diese Zahl wurde heute
schon genannt. Das ist eine gigantische Summe, die niemand auf einmal schultern kann. Das erwartet auch niemand. Wir sollten die Sanierungsfälle jedoch zum Anlass nehmen, die Chance zu nutzen, zukunftsorientierte
Konzepte zu erarbeiten. Dabei ist die Berücksichtigung
der demografischen Entwicklung in diesem Land unerlässlich. In den letzten Jahren haben wir mit dem Goldenen Plan zusätzlich 2 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Damit wurden vorrangig im Osten Sportstätten
gefördert. Ich glaube, es ist auch im Westen dringend
notwendig, dass auf diesem Gebiet etwas geschieht.
({5})
Wir sollten uns Gedanken darüber machen, wie wir in
diesem Sinne einen gesamtdeutschen Plan auf den Weg
bringen. Ich glaube, wir alle aus dem Sportbereich sind
dazu bereit. Gehen wir diese Aufgabe konsequent an,
vielleicht auch über Parteischranken hinweg. Dann haben wir die Chance, dass die Sportstätten und der Sport,
das Hauptargument für eine gesunde Entwicklung in unserem Land, erhalten bleiben.
Herzlichen Dank.
({6})
Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Volker
Beck das Wort.
Herr Kollege Gienger, dies ist eine zentrale Debatte
im Rahmen der Debatten über die in Peking stattfindenden Olympischen Spiele. Es geht um die Frage, was
Sportler dort tun dürfen, um deutlich zu machen, dass sie
einerseits am sportlichen Wettkampf der Olympischen
Spiele teilnehmen wollen, sich andererseits aber trotzdem zu den Menschenrechten bekennen und auch ein
deutliches Signal an die chinesische Regierung senden
wollen. Wir als Deutscher Bundestag sollten klarmachen, dass ein Bekenntnis zu den Menschenrechten kein
Widerspruch zur Olympischen Charta sein kann.
({0})
Wenn Sportler das Bändchen mit der Aufschrift
„Sports for Human Rights“ tragen oder wenn sie in den
Sportstätten ein T-Shirt tragen, wie ich es in der Debatte
zu Tibet gezeigt habe, auf dem „Human Rights“ auf Chinesisch und auf Englisch steht, dann kann das keine Verletzung der Olympischen Charta sein. Das darf keine
Verletzung der Olympischen Charta sein.
({1})
Wir müssen die Zivilcourage der Sportlerinnen und
Sportler, der Olympioniken, unterstützen. Wir müssen
ihnen den Rücken stärken, statt zu sagen: So etwas muss
außen vor bleiben. Niemand käme auf die Idee, sich daran zu stören, wenn Sportlerinnen und Sportler zu ihrer
nationalen Mannschaftstracht noch ein Kreuz am Hals
trügen. Nach der Olympischen Charta würde man ein
Bekenntnis zur eigenen Religion nicht ahnden. Genauso
wenig kann ein Bekenntnis zu den Menschenrechten geahndet werden. Das ist etwas anderes als der Ausspruch
„Freiheit für Tibet“ oder ein Bekenntnis gegen Atomkraft.
Die Menschenrechte und die Völkerverständigung
sind Grundlagen der olympischen Idee. Ich finde, wir als
Deutscher Bundestag sollten deutlich machen, dass wir
an der Seite derjenigen stehen, die das auch in Peking
zum Ausdruck bringen werden.
({2})
Zur Erwiderung erhält der Kollege Gienger das Wort.
Kollege Beck, die Aussagen, die Sie getroffen haben,
sind nicht neu. Es gibt im Sport Regeln. Regel 51 Abs. 3
der Olympischen Charta besagt eindeutig, dass politische
({0})
und religiöse Demonstrationen nicht erlaubt sind. Das
bedeutet, ein solches Bändchen ist ähnlich zu werten wie
der Handschuh, den die Sprinter bei der Siegerehrung
der Olympischen Spiele im Jahre 1968 in die Höhe gehalten haben. Es ist so zu werten, als ob ein Teilnehmer
mit dem Foto seines Staatspräsidenten einmarschiert.
Sie haben als Beispiel das Tragen eines Kreuzes erwähnt. Im Fußball ist es nicht erlaubt, solche Schmuckstücke zu tragen. Es gibt Regeln, die in Leichtathletikstadien gelten, es gibt Regeln, die in Fußballstadien gelten,
und es gibt Regeln, die im Deutschen Bundestag gelten.
Den Zuschauern und Gästen ist es beispielsweise nicht
erlaubt, auf der Tribüne zu demonstrieren. Diese Regel
ist eine sehr gute Regel.
Allerdings muss man auch die Sportler schützen, die
ihre politische Meinung nicht in Form einer Demonstration zum Ausdruck bringen wollen. Ich habe gerade gesagt: Auf Pressekonferenzen, in Interviews und in Gesprächen ist es erlaubt, seine persönliche Meinung zu
artikulieren. In diesem Rahmen hat jeder Sportler, jeder
Funktionär und jeder Teilnehmer einer Olympiamannschaft die Möglichkeit und das Recht, sich zu artikulieren und seine politische Meinung kundzutun. Ob das
letztlich zu einer Veränderung der Menschenrechtslage
in China beiträgt oder nicht, sei dahingestellt; aber es
gibt diese Möglichkeit. Ich glaube, das ist eine gute Lösung.
({1})
Das Wort erhält nun der Kollege Martin Gerster für
die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Minister Schäuble! Wenn man
die 124 Seiten des 11. Sportberichts der Bundesregierung - ein gutes Pfund Papier - liest und feststellt, was
sich hinter den Ergebnissen und Tabellen, die Tag für
Tag in Sportzeitungen abgedruckt sind, verbirgt, dann
stellt man sehr schnell fest, dass der Sport wesentlich
mehr ist als körperliche Ertüchtigung. Der Sport leistet
einen Beitrag dazu, dass verschiedene Generationen zusammenkommen und dass zwischen Menschen, die sich
ohne den Sport vielleicht nie kennengelernt hätten, ein
Zusammenhalt entsteht, unabhängig von ihrer Herkunft,
ihrer sozialen Zugehörigkeit und ihrer Hautfarbe. Sport
ist sozialer Kitt in unserer Gesellschaft. Ich denke, das
ist die eigentliche Botschaft, die vom Sport und auch
vom 11. Sportbericht der Bundesregierung, den wir
heute diskutieren, ausgeht.
({0})
Umso schlimmer ist es, dass einige Gruppen den
Sport missbrauchen wollen, um Gewalt zu provozieren
und Rechtsextremismus in unsere Gesellschaft zu tragen. Es ist wichtig, dass von uns, der Politik, das klare
Signal ausgeht: Wir wollen nicht, dass der Sport für
Ziele, die nichts mit Sport zu tun haben, missbraucht
wird.
({1})
Deshalb ist es notwendig, dass die Bundespolitik die
Fanprojekte im Sport, insbesondere im Fußball, unterstützt.
({2})
Ich finde es gut, dass die Bundesregierung und wir, das
Parlament, die Koordinierungsstelle für Fanprojekte in
Frankfurt mit Mitteln in Höhe von 165 000 Euro unterstützen. Allerdings ist dieser Betrag das untere Limit
dessen, was wir hierfür bereitstellen könnten. Eigentlich
müssten wir diese Mittel aufstocken.
({3})
Außerdem müssen wir endlich eine gemeinsame Initiative auf den Weg bringen, um dafür zu sorgen, dass auch
das einzige Bundesland, das sich bisher nicht beteiligt,
nämlich Baden-Württemberg,
({4})
einen Beitrag dazu leistet, dass beim VfB Stuttgart ein
Fanprojekt zur Bekämpfung von Gewalt und Extremismus im Fußball unterstützt wird.
({5})
Ob eine Gesellschaft solidarisch ist oder nicht, lässt
sich daran messen, wie sie mit Menschen, die ein Handicap haben, die also benachteiligt oder behindert sind,
umgeht.
({6})
Wir müssen deutlich machen, dass der Bund den Deutschen Behindertensportverband und die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Paralympics unterstützt.
({7})
65 Prozent der Ausgaben im Bereich des Behindertensports, des Leistungssports, des Breitensports und der
Rehabilitation, werden vom Bund getragen. Wir müssen
zum Ausdruck bringen, dass wir in diesem Bereich eine
gesamtgesellschaftliche Aufgabe erfüllen, die sonst womöglich niemand wahrnehmen würde. Das ist auch ein
Kennzeichen dafür, dass wir in Deutschland eine solidarische Gesellschaft aufgebaut haben, dass uns diese
Menschen wichtig sind. Ich glaube, die behinderten
Sportlerinnen und Sportler sind wahre Vorbilder für unsere Gesellschaft.
({8})
An dieser Stelle möchte ich den Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern des Verteidigungsministeriums meinen
Dank aussprechen, die unkompliziert gehandelt haben,
als Verena Bentele, eines unserer Aushängeschilder, einen Begleitläufer suchte - sie ist von Geburt an blind und zu klären war, wo dieser Begleitläufer arbeiten
kann, wenn er gleichzeitig mit Verena Bentele trainieren
soll. Es ist gelungen, den Begleitläufer in einer Fördergruppe der Bundeswehr unterzubringen. Herzlichen
Dank noch einmal, auch im Namen von Verena Bentele,
an das Verteidigungsministerium! Dass das geklappt hat,
ist ein Zeichen dafür, dass wir den Behindertensport unterstützen.
({9})
Ich war dabei, als Minister Schäuble letzte Woche im
Hilton zahlreichen Sportlerinnen und Sportlern das Silberne Lorbeerblatt verliehen hat. Es wurde deutlich,
welche Vielfalt es im deutschen Sport gibt: Er besteht
nicht nur aus Fußball, Handball, Basketball, nein, 4 Millionen Menschen, organisiert in 27 Spitzenverbänden,
engagieren sich in den sogenannten nichtolympischen
Sportarten. Auch von diesen Menschen wurden letzte
Woche viele für ihre Leistung ausgezeichnet.
Wir müssen darüber nachdenken, ob es richtig ist,
dass bei Treffen des DOSB die nichtolympischen Verbände - sie erhalten gerade einmal 2,5 bis 4 Prozent Förderung - als „die Skontoverbände“ abgetan werden;
diese Förderung geht nicht zulasten der olympischen
Verbände. Wir müssen darüber diskutieren, wie eine entsprechende Würdigung dieser Sportarten erfolgen kann,
auch im Hinblick darauf, dass Deutschland, Düsseldorf
2013 Gastgeber der World Games sein wird. Herr Minister Schäuble, ich hoffe, dass es in Zusammenarbeit mit
Ihrem Hause gelingt, die Finanzierungsgrundlagen hierfür zu schaffen. Es heißt, dass die olympischen Sportarten vorrangig zu bedienen sind. Daran gibt es keinen
Zweifel. Das heißt aber nicht, dass die anderen nachrangig sind und nur noch das bekommen, was als Rest übrig
bleibt.
({10})
Ich will den Bogen zum Ehrenamt schlagen. Es wird
ja oft kritisiert, der Spitzensport werde gefördert, der
Breitensport aber vernachlässigt. Eine Säule aller Aktivitäten im Sport ist das Ehrenamt. Vom Spitzensport gehen hier wichtige Signale aus. In meiner Heimatstadt
Biberach fand letztes Jahr zum ersten Mal ein großes
Leichtathletikmeeting statt, und in wenigen Wochen
wird das zweite stattfinden. Der Sportkreis Biberach und
die zahlreichen Sportvereine mit ihren Ehrenamtlichen
machen jetzt einen Fackellauf durch die ganze Region,
an dem sich Tausende von Freizeitsportlern beteiligen.
Das ist das, was wir wollen: dass der Spitzensport Anreize gibt, Motivation gibt, sich sportlich zu betätigen,
um weitere Aktivitäten und Aktionen entfalten zu könMartin Gerster
nen. Deswegen ist es gut, dass wir auf Initiative der Bundesregierung das Gesetz zur weiteren Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements auf den Weg gebracht
haben. Wir würdigen durch die Erhöhung des Steuerfreibetrags die Leistung der vielen Ehrenamtlichen und
wertschätzen die Vereine.
Lieber Detlef Parr, du hast vorhin auf die Thematik
der Sportwetten hingewiesen. Ich war am Samstag bei
einer Veranstaltung des Württembergischen Landessportbundes. Auf dieser Veranstaltung hat auch FDPMinister Goll ausdrücklich gelobt, dass wir uns auf den
Staatsvertrag geeinigt haben.
({11})
Bei all dem, was ich höre, kann ich nur die Frage stellen:
Warum macht die FDP in den Ländern das Gegenteil
von dem, was die FDP-Bundestagsfraktion fordert?
Herzlichen Dank.
({12})
Nächster Redner ist der Kollege Stephan Mayer,
CDU/CSU.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Ich möchte mich
mit einem Ereignis beschäftigen, das angesichts der
Jahreszeit und angesichts des Zeitpunktes, zu dem es
stattfinden wird, noch nicht im Fokus der öffentlichen
Wahrnehmung steht, das aber insbesondere aufgrund des
gedrängten Zeitplans voller Konzentration bedarf. Wir
haben die herausragende Chance, im Jahr 2018 erstmals
seit 1972 auf deutschem Boden wieder die Olympischen
Spiele auszurichten, und zwar in München.
({0})
Die Bewerbung Münchens birgt enorme Chancen in
sich. Es wäre ein Novum in der olympischen Geschichte,
wenn in einer Stadt sowohl Olympische Sommerspiele
als auch Olympische Winterspiele stattfänden. Die Bewerbung Münchens ist aber nicht nur eine Bewerbung
Bayerns, sondern eine deutsche Bewerbung. Gerade deshalb bin ich dem Deutschen Olympischen Sportbund
sehr dankbar dafür, dass er sich auf seiner Mitgliederversammlung am 8. Dezember letzten Jahres einstimmig
- wohlgemerkt einstimmig - hinter die Bewerbung
Münchens gestellt hat. Ich weiß, es war nicht einfach.
Letztendlich aber haben sich alle bereit erklärt, die Bewerbung zu unterstützen.
({1})
Bayern ist Wintersportland. Es hat schon vielfach gezeigt, dass es ein hervorragender Austragungsort für
sportliche Großwettkämpfe ist. Letztmals war dies im
Jahr 2005 der Fall, als dort die Nordische Ski-WM in
Oberstdorf stattgefunden hat. Im Jahr 2011 wird die Alpine Ski-WM in Garmisch-Partenkirchen stattfinden. Ich
denke, dass wir auch gut daran täten, die Bewerbungen
von Inzell für die Eisschnelllauf-WM 2011 und von
Ruhpolding für die Biathlon-WM 2012 zu unterstützen.
Die Olympiabewerbung Münchens für das Jahr
2018 birgt hervorragende Vorteile in sich. Ein ganz entscheidendes Kriterium - meines Erachtens sogar das wesentliche Kriterium - ist: Die Bevölkerung in München
und im übrigen Bayern steht hinter dieser Bewerbung.
Über 80 Prozent der Bevölkerung unterstützen die Bewerbung Münchens für die Olympischen Winterspiele.
Über 90 Prozent der gesamten Bevölkerung Bayerns
wissen bereits von der Bewerbung Münchens.
({2})
Dies ist ein enormer Vorteil. Erinnern Sie sich nur einmal an die Bewerbung Salzburgs für die Winterolympiade 2014. Nach den Bekundungen des IOC war die
Bewerbung Salzburgs zum Scheitern verurteilt, weil die
österreichische Bevölkerung - insbesondere die Salzburger - leider Gottes nicht hinter der Bewerbung stand. Ich
glaube, ganz Deutschland wäre gut beraten, hinter der
Bewerbung Münchens bzw. Bayerns für die Winterolympiade 2018 zu stehen.
({3})
Ein weiteres wesentliches positives Kriterium ist,
dass Bayern, das Alpenvorland, über professionelle und
weltweit anerkannte Wettkampfstätten verfügt.
({4})
Wir werden ein ökologisches, ein nachhaltiges Nutzungskonzept aufstellen. Der größtmögliche Anteil der
Wettkampfstätten wird nach den Olympischen Winterspielen weiter genutzt werden können. Sehr verehrter
Kollege Hermann, mit einer Austragung der Olympischen Winterspiele würden wir ganz neue Maßstäbe hinsichtlich des Themas „Sport und Klimaschutz“ setzen.
Gerade deshalb glaube ich, dass es sehr schön wäre,
wenn die Bewerbung Münchens erfolgreich wäre.
({5})
Ein weiterer wesentlicher Vorteil ist, dass die Bewerbungskosten von ungefähr 30 Millionen Euro, die zunächst anfallen, größtenteils von der Privatwirtschaft getragen werden. Die öffentliche Hand - sowohl der
Freistaat Bayern als auch der Bund - wird also zunächst
nicht zur Kasse gebeten. Weiterhin verfügt das Alpenvorland über eine hervorragende Verkehrsinfrastruktur,
die hier und da natürlich noch ausgebaut und verbessert
werden muss. Die erforderliche Verkehrsinfrastruktur,
sowohl im Bereich Straße als auch im Bereich Schiene,
ist aber bereits vorhanden.
({6})
Die Bewerbung Münchens birgt auch enorme Chancen für Bayern - und natürlich auch für Deutschland als Tourismusland, weil die Besucherinnen und Besucher, die Gäste der Olympischen Winterspiele nicht nur
in München bleiben, sich nicht nur in Bayern bewegen,
Stephan Mayer ({7})
sondern natürlich ganz Deutschland erkunden und besichtigen werden.
Die nächsten Schritte stehen an. Zunächst einmal gilt
es, dass München Candidate City wird, also in den engeren Bewerberkreis kommt. Dies wird im Juli 2010 der
Fall sein. Der entscheidende Punkt ist, dann bei der Vergabe im Juli 2011 zum Zuge zu kommen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, im Jahr
2006 hatten wir mit der Fußballweltmeisterschaft ein
Sommermärchen.
Herr Kollege!
Wir haben nun die hervorragende Möglichkeit, ein
Wintermärchen im Jahr 2018 anzuschließen.
({0})
In der olympischen Hymne heißt es:
Herr Kollege, die können Sie jetzt aber nicht mehr
komplett vortragen.
Ebenen, Berge und Meere leuchten von dir
Wie ein weißer und purpurfarbener großartiger Tempel …
Sehr geehrter Herr Präsident, Sie werden mir mit Sicherheit recht geben: Mit diesem Zitat kann nur Bayern gemeint sein. Lassen Sie uns die Bewerbung Münchens
deshalb mit viel Leidenschaft, aber auch mit viel Kraft
und Elan unterstützen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({0})
Herr Kollege Mayer, ich gebe Ihnen ausdrücklich
recht, dass sich dieses Zitat vorzüglich als Einstieg in die
Rede geeignet hätte. Aber es ist immer hochgradig riskant, es für einen Zeitpunkt zurückzustellen, der schon
jenseits der gewährten Redezeit liegt.
({0})
Nun erhält die Kollegin Petra Heß das Wort.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Herr Kollege
Mayer, wir haben jetzt fast Glück gehabt, dass Sie die
olympische Hymne nicht noch gesungen haben.
({0})
Im Übrigen ist auch Thüringen ein hervorragendes Wintersportland.
Deutschland ist eine sportbegeisterte Nation. Die steigende Zahl der Übergewichtigen in unserem Land zeigt
aber auch, dass diese Begeisterung oftmals passiv gelebt
wird. Man schaut halt gern zu, wenn sich andere schinden. Dabei stellt der deutsche Schriftsteller Martin
Kessel fest:
Der Sport ist eine Tätigkeitsform des Glücks.
Ich freue mich, dass ich dem 11. Sportbericht der
Bundesregierung viel Positives entnehmen konnte, so
bei Spitzensport und Bundeswehr. Beides ist untrennbar
miteinander verbunden. Es ist mir daher ein besonders
Anliegen, auf den Bereich Sportförderung innerhalb der
Bundeswehr und der Bundespolizei einzugehen.
Der 11. Sportbericht stellt fest, dass Sport und Sportausbildung einen hohen Stellenwert bei Bundeswehr
und Bundespolizei genießen. Das stimmt. Für die Einsatzfähigkeit der Streitkräfte und der Bundespolizei ist
die körperliche Leistungsfähigkeit der Soldaten und
Bundespolizisten unerlässlich. Eigens ausgebildete
Sportausbilder bzw. Sportleiter stehen den Soldaten und
Bundespolizisten hierbei zur Seite. Bundeswehr und
Bundespolizei verfügen über gute materielle Voraussetzungen, wobei ich aber an dieser Stelle nicht unerwähnt
lassen möchte, dass gerade bei der Bundeswehr in den
alten Bundesländern Nachholbedarf besteht. Im Rahmen
des Sonderprogramms „Sanierung Kasernen West“ werden in den nächsten Jahren 645 Millionen Euro aufgewendet, die natürlich auch zu einer Verbesserung der
Sportinfrastruktur beitragen werden.
Dies allein wird aber nicht genügen und ist sicher
auch nicht der alleinige Grund dafür, dass es um die
Fitness unserer Soldaten nicht ganz so gut bestellt ist.
Ursächlich sind nach Meinung des Wehrbeauftragten zu
wenig Zeit für den Sport im Dienst sowie zu wenige
Sportlehrer und Übungsleiter. Hier muss die Bundeswehr als Dienstherr gegensteuern und dafür sorgen, dass
die eigens geschaffene Zentrale Dienstvorschrift „Sport
in der Bundeswehr“ an allen Standorten gelebt wird.
({1})
Hier sind insbesondere die Vorgesetzten gefordert.
So getrübt das Bild bei der allgemeinen Fitness unserer Soldaten ist, umso besser stellt sich die Bundeswehr
bei der Spitzensportförderung dar. Als Partner des
Deutschen Olympischen Sportbundes nimmt die Bundeswehr eine herausragende Stellung ein. Über 700 Sportsoldaten leisten in derzeit 18 Sportfördergruppen ihren
Dienst, die grundsätzlich in der Nähe von Olympiastützpunkten bzw. deren Außenstellen und Bundesleistungszentren eingerichtet sind. Durch diese räumliche Nähe
findet ein ständiger Austausch zwischen den verschiedenen Leistungsträgern statt.
Die Sportsoldaten tragen mit beachtlichen Ergebnissen bei Olympischen Spielen sowie Welt- und Europameisterschaften zu einem hohen Ansehen Deutschlands
bei. Bei der Winterolympiade 2006 in Turin stellte die
Bundeswehr 45 Prozent der Sportler, die wiederum
66 Prozent der Medaillen erkämpften. Ein ähnlich gutes
Bild gab es bei der Sommerolympiade 2004 in Athen. In
wenigen Wochen werden in Peking die Olympischen
Sommerspiele 2008 beginnen. Die Bundeswehr wird
auch diesmal wieder stark vertreten sein und circa ein
Drittel der Athleten stellen.
Doch zurück zum aktuellen Sportbericht: Hier wird
noch von einer Reduzierung der Plätze für Spitzensportler bei der Bundeswehr von 744 im Jahr 2006 auf 664 im
Jahr 2010 ausgegangen. Diese Absenkung der Stellen
wird nicht erfolgen, und das ist gut so.
({2})
Im Gegenteil: Die Plätze für Spitzensportler werden auf
784 angehoben. Hierfür gebührt dem Verteidigungsminister mein ausdrücklicher Dank. Lieber Kollege Kossendey,
geben Sie es bitte weiter.
Durch die Förderung von Spitzensportlern der Bundeswehr ist es auch möglich, mit leistungsstarken Mannschaften an Sportwettkämpfen mit Streitkräften anderer
Nationen teilzunehmen. Auch hier werden beachtliche
Erfolge erzielt.
Aber nicht nur die Bundeswehr, sondern auch die
Bundespolizei betreibt eine erfolgreiche Spitzensportförderung. So werden bei der Bundespolizeisportschule in
Bad Endorf 81 Beamtinnen und Beamte in elf olympischen Wintersportarten und im Bundespolizeileistungssportprojekt Cottbus beim Olympiastützpunkt Cottbus/
Frankfurt an der Oder 53 Beamtinnen und Beamte in
drei Sommersportarten trainiert.
Auch diese Ergebnisse können sich sehen lassen. Es
konnten zum Beispiel im Zeitraum 2002 bis 2005 bei
Olympischen Spielen 17 und bei Weltmeisterschaften 41
Medaillen erkämpft werden. Da ist ebenfalls eine eindrucksvolle Bilanz.
({3})
Gestatten Sie mir noch einige Worte zur beruflichen
Ausbildung unserer Sportlerinnen und Sportler. Hier
gibt es derzeit noch sehr unterschiedliche Modelle. Während die Polizei im Regelfall auf Wunsch nach dem aktiven sportlichen Dienst die Übernahme in den Polizeidienst anbietet und parallel zur sportlichen auch die
bundespolizeiliche Ausbildung gewährleistet, findet dies
in dieser Form in der Bundeswehr nicht statt. Nun hinkt
zwar der Vergleich, Herr Minister Schäuble, da bei der
Bundeswehr der Anteil der Sportler ungleich höher ist;
({4})
trotzdem muss die Bundeswehr nach praktikableren oder
flexibleren Verfahrensweisen suchen, die einen besseren,
einen gleitenderen Einstieg in das künftige Berufsleben
möglich machen.
({5})
Hierbei sollten die verschiedenen staatlichen Institutionen ähnliche Verfahrensweisen anbieten. Dazu wird es
noch Gespräche geben müssen. Auch die Dienstzeitverlängerung für die Sportsoldaten der Bundeswehr um jeweils immer nur ein Jahr sollte noch einmal auf den
Prüfstand.
Gestatten Sie mir, dass ich zum Abschluss noch eine
Forderung an die Verbände loswerde. Sie wissen, die
Bundesrepublik ist der größte Sponsor des Spitzensports. Allein die Bundeswehr gibt Jahr für Jahr circa
25 Millionen Euro für den Spitzensport aus.
({6})
Was die Verhandlungen zwischen Verbänden und Sponsoren angeht, bitte ich Sie, geeignete Möglichkeiten zu
finden, um die Sportlerinnen und Sportler in die Lage zu
versetzen, zum Ausdruck zu bringen, wer ihr Dienstherr
ist, der ihnen diese sportlichen Voraussetzungen erst ermöglicht. Die geförderten Sportler sind nun einmal unsere Multiplikatoren, die Sympathieträger der Polizei,
des Zolls und der Bundeswehr. So sollte es auch möglich
sein, dass sie das mit einem gewissen Stolz in die Welt
tragen.
({7})
Ein kleines Logo bei Wettkämpfen - Herr Kollege Gienger, das könnten Sie auch an den DOSB weiterleiten tut nicht weh. Diese Leistungssportler demonstrieren
nämlich, wie schön Sport und vor allen Dingen sauberer
Sport sein kann.
Ich wünsche unseren Teilnehmern bei den Olympischen Spielen in Peking faire Wettkämpfe und vor allen
Dingen tolle Ergebnisse für unser schönes Land.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Klaus Riegert ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In einer
außerordentlichen Hauptversammlung im Jahre 1912
wurde im Protokoll verzeichnet: Georg Rau verkündet
Freibier für alle. - Warum, weiß ich nicht, aber es wurde
einstimmig beschlossen.
({0})
Auf den Antrag der Linken möchte ich nicht näher
eingehen, sondern nur feststellen: Eine Verstaatlichung
des Sports ist mit uns nicht zu machen. Die in Ihrem Antrag erhobenen Forderungen nach „Schaffung von öffentlich finanzierter Beschäftigung im Bereich des gemeinnützigen Sports“ und einer „Einführung einer
zweckgebundenen Abgabe auf Umsätze aus Sportwerbung für die Sportförderung“ sowie die übrigen zehn
Punkte lesen sich wie ein Verstaatlichungsprogramm für
Sport. Das ist mit unserem Gesellschaftsverständnis und
der Autonomie des Sports unvereinbar.
({1})
Lassen Sie mich einige Sätze zum Sportbericht sagen.
Wir haben gemeinsam beschlossen, dass der nächste Bericht auch einen Ausblick auf die zukünftige Sportpolitik
gewähren soll. Der Kollege Mayer hat uns den weitesten
Ausblick bereits gegeben. Auch Stuttgart und BadenWürttemberg freuen sich auf München 2018.
({2})
Herr Kollege Riegert, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Bunge?
Gerne.
Bitte schön.
Kollege Riegert, Sie setzen das Sportfördergesetz
mit der Verstaatlichung des Sportes gleich. Ist Ihnen bekannt, dass es in Mecklenburg-Vorpommern - also auf
Landesebene - seit acht Jahren ein Sportfördergesetz
gibt, das viele Regelungen enthält, die zur Verstetigung
des Sports beitragen? Meinen Sie, dass dort jetzt der
Kommunismus ausgebrochen ist?
({0})
Liebe Frau Kollegin, mir ist sehr wohl bekannt, dass
es in einigen Bundesländern - nicht nur in den neuen,
sondern auch in den alten - Sportfördergesetze gibt.
({0})
Aber Sie sollten die zwölf Punkte in Ihrem Antrag genau
lesen. Ihr Antrag trieft regelrecht vor Verstaatlichung des
Sports. Es geht nicht um Autonomie und Selbstbestimmung. Sie wollen offensichtlich starken staatlichen Einfluss haben. Das lehnen wir deutlich ab.
({1})
Herr Kollege Hermann, ich komme nun auf Sie zu
sprechen. Wenn ich Reden und Taten vergleiche, stelle
ich fest: Viele schöne Reden wurden gehalten. Aber es
gibt offensichtlich nur wenig zu kritisieren. Ich erinnere
Sie aber daran, dass Sie in sieben Jahren Regierungszeit
nicht einen Gesetzentwurf in diesem Bereich vorgelegt
haben. Sie haben zwar sieben Jahre ein Antidopinggesetz gefordert, aber nicht eine Zeile zu Papier gebracht.
Da war völlige Fehlanzeige!
({2})
Ähnlich sieht es in der auswärtigen Kulturpolitik aus. Ihr
Außenminister Joschka Fischer hat Jahr für Jahr die Ansätze nach unten gefahren. Wir haben das jetzt korrigiert
und sie erhöht. Sie sollten Reden und Taten stärker vergleichen. Wir, Bund und Länder gemeinsam, haben immerhin 490 Millionen Euro in die Hand genommen. Ich
nenne als Stichworte nur „Hilfen für Helfer“, das Gemeinnützigkeitsrecht und das Stiftungsrecht. Wir haben
sehr viel für den Breitensport getan.
Sport eint, im Gegensatz zur Sportpolitik. Sport integriert. Sport hält gesund. Sport bildet. Sport aktiviert.
Menschen, die Sport treiben, tun das oft in Vereinen. So
unterstützt der Sport etwas, was für unsere Gesellschaft
in den vor uns liegenden Jahrzehnten von grundlegender,
entscheidender Bedeutung sein wird: den Zusammenschluss und das Zusammenwirken von Menschen. Die
Gesellschaft muss noch stärker als bisher auf den Individuen, den Bürgern, und den von ihnen gebildeten Vereinigungen, Verbänden und Stiftungen ruhen. Die Autonomie des Sports darf nicht angetastet werden.
({3})
- Danke schön, Herr Gienger.
Breitensport und Spitzensport sind kein Gegensatz,
keine Konkurrenz. Sie stehen in einem komplementären
Verhältnis zueinander. Beide brauchen einander. Ich
nenne fünf Punkte, die zeigen, dass wir auch in Berlin
Politik für den Breitensport machen.
Erster Bereich: Vereine und Ehrenamt. Der deutsche Sport mit seinen über 87 000 Vereinen und den sie
tragenden Organisationen ist Spiegelbild unserer Gesellschaft. Die über 2,5 Millionen ehrenamtlich Tätigen
übernehmen gesellschaftliche Aufgaben, die der Staat in
dieser Komplexität und Qualität nicht leisten könnte und
nach unserem Verständnis auch nicht leisten sollte. Ehrenamtliche Tätigkeit ist Teil des Lebens, gibt Lebenssinn und steigert die Lebensqualität. Der Sport und seine
Vereine sind gesellschaftliche Selbstorganisationen, in
denen sich bürgerschaftliches Engagement als Teil einer
freiheitlich-demokratischen Gesellschaft entwickelt. Mit
diesen gewachsenen Strukturen leisten Sportvereine einen bedeutenden Beitrag auf dem Weg in eine Bürgergesellschaft. Für dieses Engagement gebührt den ehrenamtlich Tätigen besonderer Dank, Anerkennung und
Unterstützung.
({4})
Zweiter Bereich: Bewegungserziehung und Schulsport. Der vorschulischen Bewegungserziehung und dem
Schulsport kommen eine hohe Bedeutung zu. Wir sagen
Ja zu täglichen Bewegungszeiten in der vorschulischen
Erziehung und in der Grundschule. Wir wollen Qualität
und ein Mindestmaß an Bewegung. Lieber Detlef Parr,
der Sportausschuss wird auch in Zukunft - obwohl er
hierfür nicht zuständig ist - immer wieder den Finger in
die Wunde legen.
({5})
Dritter Bereich: Gesundheit und Prävention. Ich begrüße das Engagement des Sports, seiner Organisationen
und Vereine bei Gesundheitserziehung, Gesunderhaltung
und Prävention. Sie leisten damit einen wichtigen Beitrag zur Erhaltung der Gesundheit.
Vierter Bereich: Senioren. Die steigende Zahl älterer
Menschen in Sportvereinen ist erfreulich. Immer mehr
älter werdende Menschen beugen Alterungsprozessen,
chronischen Erkrankungen und Behinderungen durch
Sport und Bewegung vor. Vereine, Verbände und Einrichtungen der Seniorenarbeit und Altenpflege sind aufgefordert, entsprechende Angebote zu entwickeln.
Fünfter Bereich: Sportstättenbau/Sportinfrastruktur. Es bleibt eine vorrangige Aufgabe der Länder und
Kommunen, den Sportstättenbau und die Sportinfrastruktur zu verbessern und in ganz Deutschland den Sanierungsstau abzubauen, aber bitte mit eigenem Geld,
das wir durch eine gute Haushalts- und Finanzpolitik
und durch die Schaffung guter Rahmenbedingungen den
Ländern und Kommunen zur Verfügung stellen.
Meine Damen und Herren, es ist schon mehrfach angesprochen worden: Es steht uns ein großer Sportsommer bevor: die Fußballeuropameisterschaft in Österreich
und der Schweiz und die Olympischen Spiele in Peking.
Wir wünschen allen Teams und allen Athletinnen und
Athleten viel Erfolg!
({6})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Peter Danckert, SPD-Fraktion.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident! Ich versuche, nach § 33
Satz 1 der Geschäftsordnung zu verfahren.
Wir diskutieren heute den 11. Sportbericht und einen
Antrag der Fraktion Die Linke. Zunächst zu dem Antrag
und der Sprecherin der Linken, Katrin Kunert. Gegen
den Feststellungsteil im Antrag ist wenig zu sagen. Darüber findet sich hier sicherlich breiter Konsens. Was die
Forderungen an die Bundesregierung angeht, so fehlt es
schlicht an der verfassungsrechtlichen Grundlage. Man
kann vieles fordern, aber solange wir die nicht haben,
geht der Antrag leider ins Leere. Deshalb müssen wir ihn
ablehnen.
Jetzt zu dem Sportbericht, der eigentlich im Zentrum
steht. Ich möchte zunächst einmal den Geschäftsführern
unserer Fraktionen danken, dass sie uns in der Kernzeit
die Gelegenheit geben, das Thema Sport breit zu diskutieren, und das ist gelungen; sonst sind wir immer erst
am späten Nachmittag an der Reihe.
({0})
Der zweite Dank gilt dem Sportminister und seinem
Hause. Das will ich ausdrücklich sagen; denn Sie, Herr
Minister, haben mit dem Sportbericht die Grundlage für
unsere Diskussion heute gelegt, obwohl - ich komme
darauf noch zurück - davon wenig Gebrauch gemacht
worden ist. Nur vereinzelt ist er angesprochen worden,
obwohl er eigentlich heute im Zentrum stehen sollte. Die
Mitarbeiter Ihres Hauses haben wirklich sehr viel Interessantes und Lesenswertes zusammengetragen. Ich möchte
diese Gelegenheit nutzen, mich bei einem Mann zu bedanken, der über viele Jahre für den Sport in Ihrem
Hause zuständig war: Klaus Pöhle.
({1})
Klaus Pöhle hat sich um den Sport verdient gemacht und
uns die Zusammenarbeit erleichtert. Er ist jetzt nach vielen Jahren, die er in diesem Amt war, ausgeschieden.
Richten Sie ihm den Gruß bitte noch aus.
({2})
Es ist wirklich sehr erfreulich, wenn man auf der Arbeitsebene - da sind häufig die Ansprechpartner - mit
Menschen zu tun hat, bei denen man spürt, dass sie nicht
nur eine Funktion wahrnehmen, sondern dass es ihnen
wichtig ist, etwas für den Sport zu tun. Soweit der Dank
an die Berichtsverfasser.
Ich glaube, wir haben heute hin und wieder etwas zu
diesem Thema gehört. Ich finde es interessant, wie man
den 11. Sportbericht diskutieren kann. Am besten hat
mir die Rede von Stephan Mayer zur Bewerbung
Münchens 2018 gefallen.
({3})
Es war wirklich genial, wie du die Kurve gekriegt hast.
In Bayern werden sie dich ewig dafür loben, dass du eine
solche Parlamentsdebatte nur dafür genutzt hast, dich für
die Bewerbung einzusetzen.
({4})
Ich empfehle, dass dieser Beitrag an alle IOC-Mitglieder
versandt wird. Das wird sich sicherlich lohnen. Wir haben hier nicht zu entscheiden, aber wir unterstützen die
Bewerbung. Die IOC-Mitglieder sind die eigentlichen
Personen, die das wissen müssen.
({5})
- Ja, die Stimmung in Bayern ist so, dass 90 Prozent
- du hast es uns gesagt - dafür sind. Ich bin davon überzeugt, nach der Rede sind es 99 Prozent. Das wird sich
vermutlich auch auf das Ergebnis deiner Partei bei den
Landtagswahlen positiv auswirken. Da bin ich ganz sicher.
({6})
Ich muss allerdings ein kritisches Wort zu dem sagen,
was mein Freund Eberhard Gienger gesagt hat. Das kann
ich mir nicht ersparen. Ich meine das Thema Menschenrechte. Ich hatte gehofft, dass wir es heute nicht berühren müssen. Das Thema Menschenrechte steht über allem, was wir tun - hier im Parlament, im Land und in
der Welt. Ich finde es sehr merkwürdig, dass das IOC
und einzelne Repräsentanten des IOC versuchen, dieses
Thema so tief wie möglich zu hängen. Wir können doch
nicht übersehen, was in Tibet geschehen ist. Wenn die
Weltgemeinschaft davor die Augen verschließt, dann hat
sie ihre Aufgabe nicht erfüllt.
({7})
Um es klar zu sagen: Ich erwarte vom Sport nicht, dass
durch ihn diejenigen Probleme gelöst werden, die die
Politik und die Wirtschaft nicht lösen können. An dieser
Stelle zu schweigen, ist aber völlig verkehrt.
({8})
Nun komme ich zu etwas ganz besonders Kritischem.
Der Fraktionskollege Winfried Hermann von den Grünen hat ein bestimmtes Band um den Arm. Um die Aufschrift darauf lesen zu können, muss man dicht herangehen, oder man kennt sie. Liebe Freunde, dieses Band ist
keine Demonstration politischer Art, sondern ein Bekenntnis zu Menschenrechten.
({9})
Wenn der DOSB oder das IOC das Tragen eines solchen
Bandes mit Sanktionen versehen sollte, dann sitzen wir
an dieser Stelle nicht mehr in einem Boot. Dafür habe
ich überhaupt kein Verständnis.
Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Riegert beantworten?
Sehr gerne.
Bitte sehr.
Herr Kollege Danckert, stimmen Sie mir zu, dass für
die IOC-Regeln das IOC und nicht der Deutsche Bundestag zuständig ist?
Stimmen Sie mir zum Zweiten zu, dass es schwierig
ist, Regeln moralisch auszulegen? Denn man ist sehr
schnell in dieser Gefahr, wenn man zu dieser Regel und
dem Bändchen sagt: „Da steht etwas völlig Harmloses
drauf; das ist doch gut; das ist moralisch okay“, damit
aber die Regeln aushöhlt, weil ein anderer auf seinem
Bändchen draufstehen haben könnte: „Ich liebe Jesus“
oder „Ich liebe meinen Präsidenten Soundso“ -
Die Anregung ist angekommen. Ich bedanke mich.
({0})
Die Kernfrage: Glauben Sie als Jurist nicht auch, dass
es sehr schwierig ist, Regeln moralisch auszulegen?
Zu dem ersten Teil dieser interessanten Zwischenfrage sage ich: Natürlich sind wir als Deutscher Bundestag und damit als Gesetzgeber nicht für die Regeln des
IOC zuständig. Das ist doch gar keine Frage; das hat
auch niemand behauptet.
Ich lasse mir an dieser Stelle als Parlamentarier allerdings nicht das Recht nehmen, mich dazu zu äußern,
welche Bedeutung die Menschenrechte haben und auch
für das IOC haben müssten.
({0})
Ich verstehe das an dieser Stelle nicht. Es geht doch gar
nicht um die Frage einer moralischen Interpretation.
({1})
Das ist überhaupt nicht das Thema. Das hat mit juristischen Spitzfindigkeiten überhaupt nichts zu tun.
({2})
Von dem IOC gibt es ein Bekenntnis zu den Menschenrechten; das ist eigentlich lobenswert. Ich will,
dass das an jeder Stelle deutlich wird. Jemand, der ein
solches Bändchen um den Arm trägt und sich damit zu
Menschenrechten bekennt,
({3})
macht etwas ganz Selbstverständliches, was eigentlich
über allem schwebt. Wenn das kritisiert wird und wenn
das zu Sanktionen wie Ausschlüssen führen würde, dann
hätte ich dafür überhaupt kein Verständnis. Das IOC
würde sich damit diskreditieren und seinen Anspruch,
etwas Gutes zu tun, verwirken.
({4})
An dieser Stelle kann es also eigentlich gar keine Meinungsverschiedenheiten geben.
({5})
Ich verstehe nicht, dass das sowohl der Freund Detlef
Parr als auch der Freund Eberhard Gienger als auch viele
andere infrage stellen.
({6})
Die Diskussion darüber ist sehr interessant. Es muss
deutlich sein, dass das Bekenntnis - nicht die Demonstration - zu Menschenrechten jederzeit und jedem erlaubt sein muss, auch den Sportlern.
Ich erwarte von keinem Sportler, dass er sich ausdrücklich dazu bekennt. Diejenigen, die es nicht tun wollen, sind mir genauso lieb. Ich stelle mich nur vor diejenigen, die bereit sind, ihre Meinung an dieser Stelle zu
äußern. Das muss erlaubt sein. Das darf nicht verboten
sein.
({7})
Jetzt noch zu der Frage, ob der Sport als Staatsziel
ins Grundgesetz aufgenommen werden soll. Das ist
schon mehrfach angesprochen worden, und das hängt
auch ein bisschen mit dem Sportförderungsgesetz zusammen. Ich finde, das ist eine ganz wichtige Aufgabe.
Wir alle anerkennen die große Bedeutung des Sports in
unserer Gesellschaft im Hinblick auf Gesundheit, Integration und Ernährung; niemand zieht diese Funktion
des Sports in Zweifel. Dann aber wird gesagt: Den Sport
als Staatsziel ins Grundgesetz aufzunehmen, das stimmt
mit unserer prinzipiellen Auffassung zur Reinheit des
Grundgesetzes nicht überein. Was sollen wir denn noch
alles ins Grundgesetz aufnehmen? - Diese Worte kenne
ich.
Wir haben uns für den Tierschutz ausgesprochen;
({8})
daran habe ich sogar mitgewirkt. Wenn man das im Verhältnis zur Bedeutung des Sports in unserer Gesellschaft
sieht, dann ist es überfällig, dieser Forderung nachzukommen; dann muss das geschehen. Ich bitte Sie, liebe
Freunde von der Union - sonst besteht ja ein parteiübergreifender Konsens -: Bedenken Sie doch noch einmal,
ob das nicht doch notwendig, machbar und überfällig ist!
Die Väter unseres Grundgesetzes hatten 1948/49 ganz
andere Probleme, und deshalb haben sie nicht daran gedacht. Wenn sie damals geahnt oder gewusst hätten, welche Bedeutung dem Sport in unserer Gesellschaft eines
Tages zukommen würde, dann hätten sie ihn mit Sicherheit als Grundrecht oder als Staatsziel in die Verfassung
aufgenommen.
Wenn man sich das genau ansieht, dann stellt man
fest: Die Verfassung gibt nur über den Art. 2 und möglicherweise über den Art. 9 des Grundgesetzes eine
Grundlage für die Sportförderung - darin besteht ein Teil
unserer Probleme -; die gesamtstaatliche Bedeutung des
Sports rechtfertigt unsere Sportförderung. Ich finde, das
ist keine ausreichende verfassungsrechtliche Grundlage.
Wir sollten uns dazu durchringen, dieses Generalthema,
das heute das Haus beschäftigt hat, mit weitgehender Einigkeit über die Parteigrenzen hinweg, aufzunehmen
und das Ganze auf eine neue verfassungsrechtliche
Grundlage zu stellen, um so dem Sport insgesamt Hilfe
zu geben.
Es ist unverkennbar, dass wegen der unterschiedlichen Zuständigkeiten der Kommunen, der Länder und
des Bundes ein ziemliches Durcheinander besteht. Das
sollten wir ordnen. Ich wünsche mir, dass es eines Tages
nicht nur einen Innenminister gibt, der für den Sport zuständig ist, sondern einen Sportminister. Damit würde
endgültig deutlich, welche Bedeutung der Sport in unserer Gesellschaft hat.
Vielen Dank Ihnen, Herr Schäuble, und Ihnen, meine
Kolleginnen und Kollegen.
({9})
Nun hat die Kollegin Kunert um das Wort zu einer
Kurzintervention gebeten. Bitte schön.
Ich denke, Sie sollten es sich trotzdem anhören, Herr
Kollege.
Herr Kollege Danckert, Sie haben gesagt, aufgrund
der föderalen Strukturen in der Bundesrepublik sei es gar
nicht möglich, dem Antrag der Linken zuzustimmen und
ein Sportförderungsgesetz zu verabschieden. Dazu
muss ich festhalten: Der Bund hat in der Vergangenheit
immer mehr Kompetenzen an die Länder abgegeben.
Deshalb darf er sich heute nicht darüber beschweren,
dass wir über Themen wie den Schulsport zwar debattieren, aber nicht mehr entscheiden können.
({0})
Ich will ein paar Beispiele dafür nennen, dass man
trotz der föderalen Strukturen bestimmte Regelungen beschlossen und dann auch einfach praktiziert hat. Ich
denke an das Programm zum Ausbau der Kindertagesstätten gerade im Westen, um einen Versorgungsstand zu
schaffen, wie wir ihn im Osten seit Jahren haben. Man
hat festgestellt, dass die Arbeitsstrukturen im Bereich
SGB II/SGB XII, die der Bundestag beschlossen hat, eigentlich gegen das Grundgesetz verstoßen.
Vonseiten der SPD wurde gegen unseren Antrag vorgebracht, die öffentlich geförderte Beschäftigung gebe
es bereits, nämlich die 1-Euro-Jobs und die ABM. Wir
sagen aber: Es soll eine öffentlich geförderte Beschäftigung sein, bei der Mindestlöhne gezahlt werden, sodass
die Menschen von dieser Arbeit leben können.
({1})
Dann habe ich noch eine Bitte, lieber Kollege Danckert: Wenn Sie mit unseren Ansätzen ein inhaltliches
Problem haben, dann sagen Sie es, aber verstecken Sie
sich nicht hinter den föderalen Strukturen.
({2})
Ich habe ja in der Rede deutlich gemacht, dass aus
meiner persönlichen Sicht der Feststellungsteil in Ihrem
Antrag weitgehend okay ist. Ich habe allerdings auch
deutlich gemacht, dass man, bevor man ein Sportförderungsgesetz wie Sie in Ihrem Antrag fordern kann, zunächst einmal die verfassungsrechtlichen Grundlagen
schaffen muss. All das, was Sie fordern, ist in einem
Sportförderungsgesetz nicht unterzubringen. Dafür haben wir leider keine verfassungsrechtliche Kompetenz.
Das ergibt sich aus Art. 30 unseres Grundgesetzes.
({0})
Insofern müssen wir erst dafür sorgen - für diesen
Schritt setze ich mich ja gemeinsam mit vielen anderen
ein -, dass Sport als Staatsziel ins Grundgesetz aufge-
nommen wird. Dann müssen wir die Kompetenz des
Bundes für bestimmte Sportmaßnahmen festschreiben.
Dann ist auch ein Sportförderungsgesetz möglich. Das
ist die richtige Reihenfolge.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Sportaus-
schusses zur Unterrichtung durch die Bundesregierung
über ihren 11. Sportbericht. Es handelt sich um die
Drucksachen 16/3750 und 16/7584. Der Ausschuss emp-
fiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung
anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? - Wer stimmt dagegen? - Wer möchte sich der
Stimme enthalten? - Dann ist, einem möglichen gegen-
teiligen Eindruck der Debatte zum Trotz, diese Be-
schlussempfehlung vom Deutschen Bundestag einstim-
mig angenommen.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 3 b: Hier geht
es um die Beschlussempfehlung des Sportausschusses zu
dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel:
„Schutz und Förderung des Sports ernst nehmen - Sport-
förderungsgesetz des Bundes schaffen“. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 16/9455, diesen Antrag der Fraktion Die Linke ab-
zulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? -
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist die
Beschlussempfehlung mit Mehrheit angenommen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 c auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Miriam
Gruß, Sibylle Laurischk, Ina Lenke, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion der FDP
Existenz von Kindern sichern - Familien stär-
ken
- Drucksache 16/9433 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ekin Deligöz, Markus Kurth, Brigitte Pothmer, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Kein Kind zurücklassen - Programm gegen
Kinderarmut auf den Weg bringen
- Drucksache 16/9028 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
c) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Jörn Wunderlich, Klaus Ernst, Dr. Martina
Bunge, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Unterhaltsvorschussgesetzes
- Drucksache 16/7889 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
({1})
- Drucksache 16/9440 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Eva Möllring
Ina Lenke
Ekin Deligöz
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind auch
für diese Aussprache 90 Minuten vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
die Kollegin Miriam Gruß für die FDP-Fraktion.
({2})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Es gibt eine gute Nachricht und eine
schlechte Nachricht. Die gute Nachricht vorneweg: Wir
unterhalten uns heute, an diesem Donnerstag, hier im
Deutschen Bundestag zur Kernzeit über das Thema Kinderarmut. Das ist die gute Nachricht. Es gibt aber auch
eine schlechte Nachricht: Die Tatsache, dass wir uns in
Deutschland überhaupt über das Thema Kinderarmut unterhalten müssen, ist die schlechte Nachricht. Reiches
Deutschland - arme Kinder!
({0})
Kommen wir zu den Fakten. Der Kinderschutzbund
hat uns die Zahlen genannt: 2,4 Millionen Kinder in
Deutschland leben in Armut. Danach lebt inzwischen jedes sechste Kind in Deutschland in Armut. Es gibt aber
auch noch andere Zahlen. Damit komme ich zum ersten
wunderlichen Aspekt dieser Debatte. Es gibt nämlich anderslautende Zahlen des Bundesarbeitsministers Scholz,
und es gibt anderslautende Zahlen der Bundesfamilienministerin von der Leyen. Wer weiß schon, welche Zahlen die richtigen sind? Die Frage ist auch, ob mit den
Aussagen gewisser Studien nicht politische Schlussfolgerungen herbeigerufen werden sollen. Wie auch immer,
in diese Debatte will ich jetzt nicht einsteigen. Ich gehöre zur Opposition und kann die Zahlen nicht nachprüfen. Ich weiß allerdings: Jedes arme Kind in Deutschland ist ein Kind zu viel.
({1})
Neben der materiellen Armut gehen mit Armut nämlich auch schlechtere Gesundheit, größerer emotionaler
Stress, der sich sogar auf die Bildungschancen von Kindern auswirkt, und schlechtere Teilhabechancen von
Kindern in Deutschland einher. Schauen wir uns die
Antworten der Bundesregierung an. Damit kommen wir,
meine Damen und Herren, zu einem zweiten wunderlichen Aspekt: Meines Erachtens findet hier nämlich ein
ganz wunderliches „Rechte Tasche, linke Tasche“-Spiel
statt. Auf der einen Seite wird uns im Ausschuss gesagt,
der Kinderzuschlag wurde erhöht. Das hat man aber
nicht gescheit gemacht; denn ansonsten wäre auch der
bürokratische Aufwand vermindert worden. Nun profitieren die, die tatsächlich den Kinderzuschlag erhalten,
nur so marginal und minimal, dass es der Rede gar nicht
wert ist.
({2})
Außerdem wird auf die uns vorgelegten Konzepte zur
Vereinbarkeit von Beruf und Familie verwiesen. Wir
wissen allerdings heute noch nicht, ob nicht durch Einführung des Betreuungsgeldes all die guten Dinge, die
hierdurch auf den Weg gebracht werden, entsprechend
konterkariert werden. Damit würde den Kindern wiederum die Möglichkeit geraubt, von Anfang an Bildungschancen wahrzunehmen.
Auf der anderen Seite - das zu „Rechte Tasche, linke
Tasche“ - zieht die Bundesregierung den Eltern durch
die größte Steuererhöhung der Bundesrepublik Deutschland das Geld aus der Tasche.
({3})
Von den 19 Steuererhöhungen sind vor allem die Eltern
betroffen, die das Geld am dringendsten brauchen. Familien sind diejenigen, die am schnellsten in die Bedürftigkeit abrutschen. Die Antwort der Bundesregierung sind
immer weitere Steuererhöhungen, von denen die Familien am meisten betroffen sind. Ich nenne beispielsweise
die Erhöhung der Mehrwertsteuer, die Reduzierung bei
der Pendlerpauschale und Abschaffung der Eigenheimzulage.
({4})
Unsere Antworten sehen anders aus. Wir wollen
keine Verteilungspolitik, sondern Hilfe für die wirklich
Bedürftigen, die zielgenau und bedarfsgerecht sein
muss. Wir schauen nicht nur auf die Erwachsenen, sondern auch auf die Kinder. Wir müssen nämlich beide
Gruppen im Blick haben.
Was tun wir für die Kinder? Wenn wir im Bundestag
über Kinder reden, dann müssen wir beachten, dass natürlich auch die Länder beteiligt sind. An dieser Stelle
würde ich mich freuen, wenn die Länder sich mehr an
den Investitionen in die frühkindliche Bildung beteiligen würden.
({5})
Chance auf Teilhabe heißt Chancengleichheit von Beginn an. Es ist ein Faktum, welches nicht wegzureden
ist, dass das am Besten über die frühkindliche Bildung
geht.
Wir kümmern uns um die Teilhabe, um die Beteiligung von Kindern in Deutschland. An dieser Stelle
möchte ich den Jugendverbänden ein großes Lob und
Dankeschön aussprechen, die tagtäglich viel ehrenamtliche Arbeit leisten und sich dafür einsetzen, dass alle
Kinder in Deutschland Beteiligung erfahren dürfen.
({6})
Mit Blick auf die Erwachsenen sind meines Erachtens
drei Dinge ganz wichtig. Der wichtigste Punkt ist ein
Arbeitsplatz. Denn ein Arbeitsplatz schützt vor Armut.
Deswegen müssen wir alle Anstrengungen unternehmen,
die Arbeitslosigkeit weiter zu reduzieren.
({7})
Des Weiteren ist es wichtig, die Aufnahme einer Arbeit durch eine verbesserte Vereinbarkeit von Beruf und
Familie überhaupt zu ermöglichen.
({8})
Es ist zwar richtig, in Richtung des Ausbaus der Betreuungsplätze für unter Dreijährige zu gehen, aber die Anstrengungen dürfen an dieser Stelle nicht aufhören. Auch
hier müssen die Länder mit ins Boot geholt werden.
Kinderbetreuung wird nicht überflüssig, wenn die
Kinder älter als drei Jahre sind. Wir müssen für alle Altersgruppen Betreuung gewährleisten, und zwar eine
qualitativ hochwertige Betreuung. Bis jetzt habe ich in
diesem Hause viel über den quantitativen Ausbau gehört, aber leider noch viel zu wenig über den qualitativen
Ausbau der Betreuung von Kindern aller Altersstufen.
({9})
Natürlich müssen wir - das ist der dritte Punkt - die
Steuern und Abgaben für die Familien senken. Die
FDP-Bundestagsfraktion hat das familienfreundlichste
Steuerkonzept von allen Fraktionen im Deutschen Bundestag:
({10})
Steuersätze von 10, 25 und 35 Prozent, ein höheres Kindergeld von 200 Euro, eine verbesserte steuerliche Absetzbarkeit von Kinderbetreuungskosten in Höhe von
12 000 Euro und ein Bürgergeld, das den wirklich Bedürftigen zugute kommt. Wir haben die Antworten auf
die Kinderarmut in Deutschland.
({11})
Fakt ist: Der Nutzen von Kindern wird in Deutschland gerne generalisiert; die Kosten werden nach wie vor
individualisiert. Das darf nicht sein. Ich bin gespannt auf
Ihre Antworten.
({12})
Das Wort hat jetzt der Kollege Johannes Singhammer
von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Kollegin Gruß, es gibt eine gute Nachricht:
1 600 000 neue Arbeitsplätze für Mütter und Väter seit
2005 sind effektiver für die Bekämpfung der Kinderarmut als jeder Antrag, egal ob er einen Umfang von
12, 13 oder 16 Seiten hat.
({0})
Es ist richtig: Wer Kinderarmut bekämpfen will, muss
den Eltern mehr Netto in die Hand geben. Wer die Existenz von Kindern nachhaltig sichern will, muss die Eltern stark machen. Kinder wollen und brauchen liebevolle und starke Eltern. Eltern sind vor allem dann stark,
wenn die ökonomische Existenz ihrer Familie gesichert
ist.
({1})
Wir haben in der Großen Koalition das Elterngeld aus
der Taufe gehoben, damit junge Eltern nach der Geburt
eines Kindes nicht deutlich ärmer sind als vor der Geburt. Wir haben die Verdreifachung der Kindertagesbetreuung angepackt; denn viele Familien können nur als
Doppelverdiener überleben.
({2})
Deshalb werden wir den Kinderzuschlag zum 1. Oktober
dieses Jahres erhöhen, um weitere 150 000 Kinder aus
dem statistischen Armutsbereich zu befreien.
({3})
Deshalb haben wir den Rechtsanspruch auf eine Kindertagesbetreuung und das Betreuungsgeld beschlossen.
Wir haben in der Familienförderung einen Turbo angeworfen. Wir wissen genau: Ein täglicher finanzieller
Kleinkrieg in den Familien ist mit das Schlimmste und
Belastendste, was Familien treffen kann. Deshalb warne
ich vor jedem Stillstand - mit uns wird es den auch nicht
geben - in der Familienförderung.
Herr Kollege Singhammer, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Deligöz?
Gerne.
Bitte schön.
Herr Singhammer, eigentlich hatte ich einen Zuruf
gemacht; aber der war wahrscheinlich zu leise. Deshalb
stelle ich jetzt eine Zwischenfrage. Ich bin schon etwas
überrascht darüber, dass ausgerechnet Sie von Doppelverdienern reden. Denn soweit ich weiß, ist das Betreuungsgeld aus Ihrer Feder, weil Sie nicht wollen, dass
Mütter und Väter gleichzeitig arbeiten. Ihr präferiertes
Modell ist doch, dass Mütter zu Hause bleiben.
({0})
Liebe Frau Kollegin Deligöz, Ihre Frage zeigt, dass
Sie sich im Irrtum über das befinden, was wir wollen
und welche Pläne wir haben.
({0})
Ich darf es Ihnen nochmals erklären:
({1})
Wir sind für Wahlfreiheit. Wahlfreiheit bedeutet, dass
diejenigen Eltern, diejenigen Mütter und Väter, die
verdienen müssen, die arbeiten und entsprechend ihrer
Ausbildung tätig sein wollen, dies können und dass diejenigen Eltern, die sich anders entscheiden, weil ein Elternteil für eine bestimmte Zeit oder dauerhaft zu Hause
bleiben will, im Rahmen des Betreuungsgeldes genauso
eine Förderung erhalten. Das ist Wahlfreiheit.
({2})
In den nächsten Wochen wird der Existenzminimumsbericht des Bundesfinanzministers erscheinen. Weil in
den vergangenen sieben Jahren eine Vielzahl von Dingen - von den Lebensmitteln bis hin zur Energie - teurer
geworden ist, würde es jeden wundern, wenn dabei keine
Steigerung herauskäme. Eine Erhöhung des Existenzminimums bedingt aber - das stelle ich hier fest - eine
Erhöhung des Kindergelds. Alles andere wäre höchst ungerecht. Deshalb sage ich an dieser Stelle: Wir wollen
eine Erhöhung des Kindergelds im kommenden Jahr.
({3})
Das ist auch eine Förderung der Mittelschicht, derjenigen, die arbeiten, die etwas leisten und für die es immer
enger wird.
Es wäre ungerecht, es nicht zu tun. Warum? Weil diejenigen, die über das Existenzminimum eine Steuerrückzahlung bekommen, im Regelfall einen Gegenwert von
203 Euro im Monat erhalten. Diejenigen, die Hartz IV
erhalten, bekommen über das Sozialgeld im Regelfall einen Gegenwert, der ebenfalls über 200 Euro liegt. Diejenigen, die Kindergeld bekommen, erhalten bis zum dritten Kind jetzt 154 Euro und ab dem vierten 179 Euro.
Um hier Symmetrie zu schaffen, ist eine Kindergelderhöhung notwendig.
Welche Familien brauchen besonders nötig eine solche Kindergelderhöhung? Es sind die Alleinerziehenden,
und es sind die Familien mit mehr Kindern. Es gibt nämlich noch Mehrkinderfamilien.
({4})
Angesichts der Diskussion über Energiepreis- und Spritpreiserhöhungen erinnere ich mich an ein Gespräch, das
ich vor kurzem mit einer Mutter geführt habe, die neun
Kinder hat.
({5})
- Auch mit dem Vater, Frau Künast, keine Angst. - Als
die Frage aufkam: „Können Sie denn die Spritpreise
noch zahlen?“, hat die Mutter - in diesem Fall nicht der
Vater, sondern die Mutter, Frau Künast - geantwortet:
Für uns sind weniger die Spritpreise von Bedeutung
- wir haben gar kein Auto -, aber umso mehr die Milchpreise. Denn ich brauche nicht 95 Liter Sprit im Monat,
sondern 95 Liter Milch für die Großfamilie. - Deshalb
beschweren mich, so hat sie erklärt, besonders die
Milchpreise.
({6})
In der Familienpolitik brauchen wir nicht nur einen
finanziellen Ausgleich, sondern auch die Anerkennung
einer solchen Leistung. Deshalb - das sage ich auch an
dieser Stelle - habe ich kein Verständnis dafür, wenn Familien mit Misstrauen begegnet wird, so als seien sie
nicht in der Lage, eine Transferleistung des Staates richtig und dem Wohl ihrer Kinder entsprechend einzusetzen. Nein, die Familien wissen am besten, was ihre Kinder brauchen.
({7})
Die meisten Mütter und Väter legen sich krumm, um etwas für ihre Kinder zu tun. Diese Familien wollen wir
unterstützen.
Natürlich wollen wir auch - das ist ganz wichtig -,
dass Misshandlung und Verwahrlosung von Kindern mit
allen Möglichkeiten nicht nur geahndet, sondern vor allem von vornherein vermieden werden.
Herr Kollege Singhammer, erlauben Sie auch eine
Zwischenfrage der Kollegin Gruß?
Ja, gerne.
Bitte schön, Frau Gruß.
Es tut mir leid, dass ich Sie an dieser Stelle der Rede
unterbrechen muss, ich hatte mich schon vorher gemeldet. Ich möchte Sie etwas fragen. Gerade haben Sie davon gesprochen, wie wichtig es Ihnen ist, dass Familienarbeit anerkannt wird. Glauben Sie ernsthaft, Herr
Singhammer, dass Sie mit 150 Euro Betreuungsgeld im
Monat die Familienarbeit anerkennen, also den Job einer
Mutter oder eines Vaters, die oder der sieben Tage die
Woche arbeitet und für die Kinder 365 Tage im Jahr da
ist? Noch einmal: Glauben Sie, dass Sie mit 150 Euro im
Monat diese Familienarbeit anerkennen?
({0})
Frau Kollegin Gruß, zunächst sage ich ganz klar: Sie
haben recht. Die Leistung, die Mütter und Väter für ihre
Kinder erbringen, kann gar nicht genug anerkannt werden. Sie liegt außerhalb einer ökonomisch bewertbaren
Anerkennung. Aber die allermeisten Eltern empfinden
es sehr wohl als ein Zeichen der Anerkennung und des
Respekts ihrer Leistung, wenn sie zumindest 150 Euro
Betreuungsgeld im Monat bekommen;
({0})
denn sie brauchen dieses Geld. Deshalb sind wir parallel
zum Rechtsanspruch auf Kindertagesbetreuung klipp
und klar für die Einführung eines Betreuungsgelds. Ich
weiß aus vielen Gesprächen, dass die allermeisten Familien darauf warten.
({1})
Erlauben Sie eine weitere Zwischenfrage der Kollegin Gruß?
Ich möchte jetzt gern den Gedanken, den ich begonnen habe, fortführen, Frau Kollegin Gruß. - Weil wir
dem Bereich Elternbildung neben allen finanziellen
und ökonomischen Absicherungen der Familien einen so
hohen Stellenwert zumessen, ist es wichtig, dass wir uns
um die wenigen Familien kümmern, die offensichtlich
selber nicht mehr in der Lage sind, Werte und Bildung
weiterzugeben,
({0})
weil sie ihnen vielleicht von ihren Eltern nicht mehr in
ausreichendem Umfang vermittelt wurden. Deshalb wird
es unser Hauptanliegen sein, diesen Teufelskreis bei den
wenigen Eltern ohne Orientierung - ich warne davor, das
Regel-Ausnahme-Verhältnis auf den Kopf zu stellen - zu
durchbrechen.
Lassen Sie mich zu einer Fraktion hier im Deutschen
Bundestag kommen, die in Bezug auf Versprechungen
nicht zu überbieten ist, die so genannte Linkspartei. Das
Kindergeld soll auf einen Schlag um die Gesamtsumme
von 19 Milliarden Euro im Jahr erhöht werden. Der von
der Linkspartei geforderte Zuschuss für die Förderung
von Studenten würde 17 Milliarden Euro im Jahr kosten.
Die familienpolitische Sprecherin der Linken, mit der Sie
sich offensichtlich nicht ganz einig sind, Christa Müller,
fordert ein Betreuungsgeld von immerhin 116 Milliarden
Euro im Jahr. Man gönnt sich ja sonst nichts.
Wenn ich allein diese drei Leistungen zusammenzähle, komme ich auf 152 Milliarden Euro im Jahr. Über
die Finanzierung schweigt man sich aus. Selbstverständlich sollen die Reichen diese Summe aufbringen. Ich
sage Ihnen, was bei Ihren utopischen Forderungen herauskommen wird: Die Reichen, die in Monaco ihren
Steuersitz haben, werden Sie nicht erwischen. Aber einer
derjenigen, der unter der dann entstehenden Steuererhöhungsorgie leiden wird, wird der Facharbeiter mit zwei
Kindern sein, der sich ein kleines Häuschen geleistet hat.
Ihm werden Sie das Geld aus der Tasche ziehen müssen,
sonst werden Sie diese Riesensumme nicht hereinbekommen. Damit wird aber nicht die Kinderarmut bekämpft; vielmehr wird die Kinderarmut bei diesen Familien noch größer.
Ich wäre Ihnen sehr dankbar für eine Antwort auf die
folgende Frage: Was ist der Grund dafür, dass die Kinderarmut in der Stadt, in der Sie mitregieren, wo sicherlich schwierige Verhältnisse herrschen, in Berlin, in den
letzten Jahren um 32 Prozent gestiegen ist?
({1})
Wie hängt das zusammen? Was ist der Grund dafür? Sie
sind in Berlin an der Regierung beteiligt. Sagen Sie doch
einmal etwas dazu.
Ich sage an dieser Stelle: Wir brauchen keine Familienpolitik der ungedeckten Schecks, sondern
({2})
eine Familienpolitik des klaren Kurses.
({3})
Wir müssen die Politik, die unsere Familienministerin,
Frau von der Leyen, begonnen hat, fortsetzen. Wir werden sie unterstützen, damit sie weitere Schritte unternehmen kann.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Elke Reinke von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Werte Gäste! Immer mehr Kinder haben immer weniger.
Mit der Agenda 2010 und Hartz IV wurden Armut und
Ausgrenzung per Gesetz beschlossen. Die Zahl der armen Kinder hat sich seit Einführung von Hartz IV auf
über 2,5 Millionen verdoppelt. Dass die Kinderarmut in
den letzten Jahren dramatisch gestiegen ist, belegen
zahlreiche Studien und Berichte: der Kinderreport 2007,
der Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung,
der UNICEF-Bericht „Lage von Kindern in Deutschland“, die Prognos-Studie „Armutsrisiken von Kindern
und Jugendlichen in Deutschland“ und viele weitere wissenschaftliche Erhebungen. Besonders stark von Armut
betroffen sind Kinder von Alleinerziehenden, Kinder in
Hartz-IV-Familien und Kinder mit Migrationshintergrund.
Trotz der vorliegenden, alarmierenden Zahlen dreht
die Bundesregierung Däumchen und wartet auf den
nächsten Bericht. Der Existenzminimumbericht soll im
Herbst 2008 erscheinen. Erst danach soll darüber beraten
werden, ob die Kinderregelsätze erhöht werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Betroffenheit,
die viele von Ihnen hier an den Tag legen, die ich den
meisten sogar abnehme, reicht nicht.
({0})
Ebenso wenig hilfreich sind Ihre in Hochglanzbroschüren bejubelten Maßnahmen. Das Warten muss endlich
aufhören. Es müssen sofort Taten folgen.
({1})
Sorgen Sie dafür, dass der Kinderzuschlag mehr Betroffenen hilft. Erhöhen Sie ihn für unter 14-Jährige auf
200 Euro und für über 14-Jährige auf 270 Euro.
({2})
Die Höhe des Kinderzuschlags muss vom Alter der Kinder abhängen. Über 14-Jährige dürfen nicht in Armut
rutschen, nur weil sie eigene, altersbedingte Bedarfe haben.
In der Anhörung zum Kinderzuschlag am vergangenen Montag waren sich fast alle Expertinnen und Experten einig: Kinder von Alleinerziehenden werden weiterhin deutlich benachteiligt und ausgegrenzt. Nehmen Sie
die Meinungen der Expertinnen und Experten bitte endlich ernst.
({3})
Wir brauchen einen eigenständigen Kinderregelsatz,
der die Bedarfe realitätsnah abbildet. Deshalb fordert
meine Fraktion eine Anhebung des Kinderregelsatzes im
ersten Schritt auf mindestens 300 Euro. Ebenso notwendig ist es, das Kindergeld auf mindestens 200 Euro zu erhöhen. Zur Erinnerung: Das Kindergeld wurde das letzte
Mal 2002 erhöht.
({4})
Besser wäre natürlich gleich eine bedarfsgerechte, eigenständige Kindergrundsicherung; auch das kam in
der Anhörung zur Sprache. Unsere Vorstellung kennen
Sie: 420 Euro für jedes Kind.
Eines sollte klar sein: Um Kinderarmut ernsthaft bekämpfen zu können, muss man zusätzliches Geld ausgeben. Das Geld ist da; das sage ich Ihnen nicht zum ersten
Mal. Mit einem gerechten Steuer- und Sozialsystem
kann all dies finanziert werden. Diese Meinung vertreten
auch viele Sozialverbände und Gewerkschaften.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, in
Ihrem Antrag findet man erfreulicherweise viele unserer
Forderungen.
({6})
Man sieht: Die Linke wirkt auch hier. Auf den neun Seiten des Feststellungsteils ist aber leider nicht zu lesen,
dass auch während der sieben Jahre grüner Regierungsverantwortung die Kinderarmut enorm angestiegen ist.
({7})
Vieles, was Sie kritisieren - niedriger Kinderregelsatz,
fehlende Schulbedarfe oder spezielle Bedarfe für Jugendliche -, haben Sie selbst mitbeschlossen. Sie sind
sehr vergesslich, wie ich feststellen muss.
({8})
Auf den Antrag der FDP möchte ich gar nicht näher
eingehen.
({9})
Nur so viel: Neben vielen anderen Bereichen wollen Sie
auch die Kinderbetreuung stärker privatisieren. In das
gleiche Horn bläst die Bundesregierung mit ihrem Kinderförderungsgesetz. Das ist mit der Linken nicht zu machen.
({10})
Meine Damen und Herren der Koalition, Sie stehen
sich immer mehr selbst im Weg. Die SPD fordert einen
Mindestlohn, will aber keine Erhöhung des Hartz-IVSatzes für Kinder und kein höheres Kindergeld. Die
Union ruft nach mehr Kindergeld, will aber keinen gesetzlichen Mindestlohn. Doch gerade das zusammen
brauchen wir.
({11})
Das geht übrigens auch ganz deutlich aus dem aktuellen
Positionspapier des DGB hervor. Das kann man nachlesen. Es ist ebenfalls notwendig, die Einkommensarmut
der Eltern zu bekämpfen. Ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn darf nicht nur gefordert, sondern
muss auch beschlossen und umgehend eingeführt werden.
({12})
Noch einmal in Richtung Regierungsbank. Sie
schmücken sich mit Armutsberichten, ohne zu bemerken, dass genau diese Studien Ihnen ein Armutszeugnis
ausstellen. Da alle Medien brav mitspielen, sagt keiner,
dass der Kaiser bzw. in diesem Fall die Kaiserin eigentlich nackt ist.
({13})
Frau Kollegin Reinke, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Fischbach?
Ich bin bei meinem letzten Satz. Ich würde gern in
meiner Rede fortfahren.
Auf den Punkt gebracht heißt das: Unsere Kinder haben das Recht - dafür muss ein Sozialstaat sorgen -, gesund aufzuwachsen, freien Zugang zu guter Bildung zu
haben und gleichberechtigt am täglichen Leben teilzuhaben.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Wolfgang Spanier von
der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine erste Rede als Bundestagsabgeordneter vor etwa
13 Jahren war zum Thema Armut. Damals hat die SPDBundestagsfraktion in der Opposition einen Armuts- und
Reichtumsbericht gefordert. Das wurde von der damaligen Koalitionsmehrheit im Deutschen Bundestag mit
folgender Begründung abgelehnt: Wir haben die Sozialhilfe, das sei bekämpfte Armut. Darüber hinaus gebe es
keine Armut. Also sei so ein Bericht überflüssig.
Ich kann erfreut feststellen, dass sich - auch in den
Köpfen - vieles geändert hat. Wir in diesem Haus sind
uns mittlerweile einig, dass es Armut gibt. Wir nehmen
die Wirklichkeit wahr; wir sind angekommen. Wir nehmen ebenfalls wahr, dass es nicht nur um materielle Armut geht, sondern auch um Ausgrenzung, um Lebenslagen, Gesundheit, Wohnen und Bildung. Auch da sind
wir uns einig. Wir sind uns ebenso einig, dass Kinderarmut im Grunde genommen Elternarmut ist. Das hört
sich banal an, ist aber, wenn man die Konsequenzen betrachtet, durchaus wichtig festzuhalten.
Es ist, glaube ich, richtig, dass wir uns hier nicht in
Debatten über Zahlen und Statistiken verlieren; da gebe
ich Frau Gruß recht. Manchmal sollte man auf die eine
oder andere Pressekonferenz verzichten, um nicht - vielleicht ungewollt - zusätzliche Verwirrung zu stiften.
({0})
Wir sind uns auch einig - vielleicht sollte ich vorsichtig sagen: weitgehend einig - hinsichtlich der Ursachen
von Armut und speziell Kinderarmut. Diese sind nun
einmal die Arbeitslosigkeit, die besondere Situation der
Alleinerziehenden sowie die besondere Situation der Migrantinnen und Migranten. Ursache ist auch - da sind
wir uns vor allen Dingen bezüglich der Konsequenzen
noch nicht einig - der stetig und immer schneller wachsende Niedriglohnsektor. Das müssen wir zur Kenntnis
nehmen.
({1})
Es hat ein bisschen lange bedauert, bis die eine oder andere Fraktion in diesem Hause erkannt hat, dass wir ein
Zuwanderungsland sind und dass die Integration eine der
großen gesellschaftlichen Aufgaben in Deutschland ist.
({2})
In beiden vorliegenden Anträgen - es gibt entsprechende Programme und Entwürfe aller Fraktionen in
diesem Haus - geht es um ein Gesamtkonzept. Sie wissen, dass ich da immer ein bisschen misstrauisch bin.
Aber in diesem Fall ist es in der Tat richtig, dass wir
nicht nur versuchen, mit punktuellen Maßnahmen gegen
Kinderarmut vorzugehen, sondern dass wir dies auch in
einen größeren Zusammenhang stellen.
Es geht um die Bekämpfung materieller Armut und
vor allen Dingen um die Teilhabe an Bildung. Dies ist
nicht nur Aufgabe des Staates. Staat und Gesellschaft
müssen sich dieser zentralen gesellschaftspolitischen
Aufgabe widmen. Diese Aufgabe muss auf allen staatlichen Ebenen - Bund, Länder und Kommunen - angepackt werden. Das macht die Sache nicht einfacher. Hier
geht es nicht darum, sich Zuständigkeiten zuzuschieben,
sondern darum, dass man abgestimmt mit einem gemeinsamen Maßnahmenpaket vorgeht.
Es gibt Beispiele. Ich greife einmal das Land Schleswig-Holstein heraus. Dort hat man gerade ein Handlungskonzept zur Bekämpfung der Kinderarmut vorgelegt. Ein erster konkreter Schritt ist die Aktion „Kein
Kind ohne Mahlzeit“.
({3})
Ich denke, das ist ein richtiger Ansatz. Entscheidend ist
aber das Zusammenwirken aller staatlichen Ebenen.
Ein weiterer Punkt: Das ist eine Querschnittsaufgabe. Das ist nicht die Aufgabe eines Ressorts; das ist
nicht nur eine familienpolitische Aufgabe. Hier muss
vielmehr vieles zusammenkommen. Frau Ministerin, wir
müssen zum Beispiel aufpassen, dass wir das Thema des
Niedriglohnsektors und der Mindestlöhne nicht ausklammern. Dieses Thema hat mindestens den gleichen
Stellenwert wie familienpolitische Aufgaben. Da gebe
ich dem DGB mit seiner Kritik durchaus recht.
({4})
Im Antrag der Grünen heißt es, wir hätten untätig zugeschaut. Nein, das ist nicht richtig. Wir sind vorangekommen. Ob ich das als Turbo bezeichnen würde, weiß
ich nicht. Bei einem Turbo gibt es auch immer ein Turboloch. Das ist aber nicht so wichtig. Wir sind entscheidend vorangekommen, zumindest ein großes Stück. Die
Arbeitsmarktpolitik wurde genannt. Gleiches gilt für die
Förderung von sozial Benachteiligten.
Gleich, im Anschluss an diese Debatte, werden wir in
diesem Haus ein solches Förderprogramm beschließen.
Dabei geht es um die Ausbildung der jungen Leute, die
sich schon seit zwei, drei Jahren in Warteschleifen befinden, die keinen Hauptschulabschluss haben usw. Das ist
vernünftig.
({5})
- Frau Reinke, das ist nun einmal so.
Wir diskutieren heftig über die Einführung der Mindestlöhne. Ich hoffe und erwarte, dass wir das, was wir
vereinbart haben, auch möglichst bald umsetzen. Wir
wissen, dass der Schlüssel zur Prävention von Armut in
erster Linie Bildung ist. Ich glaube, wir sind uns einig,
dass wir mit dem Rechtsanspruch auf die Betreuung der
unter Dreijährigen ein ehrgeiziges Programm beschlossen haben. Es ist in der Tat wichtig, dass wir das auch
umsetzen. Entscheidend ist: Wir als Sozialdemokraten
bekennen uns zur öffentlichen Verantwortung für Bildung und frühkindliche Förderung.
({6})
Hier gibt es immer noch konservative Positionen - ich
drücke mich vorsichtig aus -, die das ein Stück weit anders sehen.
Im Herbst dieses Jahres werden wir den Existenzminimumbericht erhalten. Für die materiellen Leistungen
ist in erster Linie der Bund zuständig. Ich räume gern
ein, dass wir den Mix aus Steuerfreibeträgen, Elterngeld
und Leistungen nach SGB II noch einmal im Zusammenhang betrachten müssen. Es ist richtig: Hier gibt es
Verwerfungen. Wir sind fest davon überzeugt, dass wir
uns noch einmal mit den Regelsätzen auseinandersetzen
müssen. Das Ganze ist so, wie es jetzt ist, nicht befriedigend; das räume ich hier gern ein. Wir haben aber auch
Verwerfungen bei der Vielzahl der familienpolitischen
Leistungen. Frau Ministerin, bei aller Anerkennung der
guten Zusammenarbeit und dem, was wir gemeinsam in
dieser Großen Koalition geleistet haben, möchte ich
doch anmerken, dass wir darüber enttäuscht sind, dass
das, was Sie angekündigt haben, nämlich eine Bestandsaufnahme aller familienpolitischen Leistungen sowie
eine Bewertung und Gewichtung, bisher nicht vorliegt.
Das brauchen wir dringend.
({7})
Wir brauchen dies dringend, wenn wir zielgerichtet
an die materiellen und finanziellen Leistungen herangehen wollen. Hier muss ich der FDP schlicht und einfach
zustimmen.
({8})
Meine Damen und Herren, beide Anträge - sowohl
der von den Grünen als auch der von der FDP - bringen
sicherlich eine ganze Menge an Anregungen für die
wichtige Diskussion im Herbst; ich habe heute meinen
versöhnlichen Tag.
Eine kritische Anmerkung muss ich aber in die Richtung der Fraktion Die Linke machen: Das ist ein Mix aus
Betroffenheitsrhetorik, moralisierenden Anklagen und
völlig nebulösen und fantastischen finanziellen Versprechungen, der langsam die Grenze des für mich persönlich Erträglichen überschreitet.
({9})
Ich unterstelle Ihnen nicht, keine ehrenwerten Absichten
zu haben; das sage ich ausdrücklich. So aber, wie Sie die
Themen angehen, ist das, glaube ich, verantwortungslos.
({10})
Wenn Sie in der Verantwortung wären, dann würden
Sie so etwas nicht zu Papier bringen.
({11})
Das muss ich Ihnen sagen, obwohl ich wiederhole, dass
ich das Anliegen, das Sie vertreten, durchaus ernst
nehme und im Grundsatz in dieser Frage mit Ihnen übereinstimme. So geht es nicht.
Wir Sozialdemokraten werden dieses Problem ganz
nüchtern lösen. Wir werden in den nächsten Wochen einen Kindergipfel starten, um deutlich zu machen, dass
die sozialdemokratisch regierten Bundesländer und
Kommunen
Herr Kollege.
- und die SPD-Bundestagsfraktion an einem Strang
ziehen.
Herzlichen Dank und Entschuldigung für die Überziehung der Redezeit.
({0})
Das Wort hat jetzt die Bundesministerin Ursula von
der Leyen.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Diese Debatte zeigt zunächst einmal: Kinderarmut treibt uns um.
Diese Debatte zeigt - Herr Spanier, Sie haben das gerade
sehr schön dargelegt -: Kinderarmut hat sehr viele Gesichter. Diese Debatte zeigt natürlich auch, dass die Kinderarmut nicht in einer einzigen Statistik zu erfassen ist.
Dennoch müssen wir uns mit Statistiken beschäftigen.
({0})
Ich möchte meinen Blick zunächst einmal auf den
internationalen Vergleich richten. Denn es ist wichtig,
immer auch zu überprüfen, wo wir im Vergleich zu anderen Ländern, insbesondere im Vergleich zu anderen
europäischen Ländern stehen. Im internationalen Vergleich zeigt sich, dass es Deutschland ganz gut gelingt,
die Kinderarmut zu bekämpfen. Wir liegen im oberen
Drittel. Bedürftige Kinder werden in Deutschland finanziell besonders stark gefördert. Sie erhalten um ein Drittel höhere Leistungen als Kinder, die oberhalb der Armutsgrenze aufwachsen. Damit verfügt Deutschland von
allen Mitgliedsländern der EU-15, also der alten Mitgliedstaaten, über die am stärksten an armen Kindern
ausgerichteten Förderungen.
({1})
Dennoch gibt es in Schweden, Dänemark und Finnland
deutlich weniger Kinderarmut als in Deutschland. Unser
Ziel ist, die Kinderarmut nachhaltig zu senken.
Warum sind andere Länder noch erfolgreicher als
wir?
({2})
Es gibt nicht nur ein einziges Erfolgsrezept, sondern es
kommt auf einen klugen Mix von Maßnahmen an. Zusätzlich zur notwendigen finanziellen Unterstützung, die
absolut unbestritten ist, investieren die erfolgreicheren
Länder auch in Maßnahmen, die dazu beitragen, dass
beide Elternteile erwerbstätig sein können. Wir dürfen
beim Kampf gegen Kinderarmut also nicht nur die Kinder im Blick haben - das wurde in der heutigen Debatte
sehr deutlich -, sondern wir müssen auch die Situation
der Eltern berücksichtigen.
Aus diesem Grunde möchte ich meinen Blick jetzt
nach innen, auf die Situation in unserem Land, richten.
Wenn wir die Frage stellen, wie sich Kinderarmut zusammensetzt und welche Grundmuster sie hat, stellen
wir fest, dass alle statistischen Erhebungen dieselben
Grundmuster aufweisen. Erstens leben Kinder dann in
Armut, wenn ihre Eltern keine Arbeit haben. Es ist also
nicht etwa so, dass Kinder arm machen. Vielmehr leben
Kinder dann in Armut, wenn ihre Eltern keine Arbeit haben.
({3})
Zweitens - das ist ein sehr wichtiger und meiner Meinung nach besonders bedrückender Punkt - leben Kinder
dann in Armut, wenn sie in kinderreichen Familien aufwachsen, in denen die Eltern Mühe haben, für die vielen
Köpfe genug Einkommen zu verdienen; in diesen Fällen
sind staatliche Leistungen von existenzieller Bedeutung.
Hinzu kommt: Kinder bleiben in Armut, nämlich in
Teilhabearmut, wenn sie keine Chance auf Bildung und
Entfaltung ihrer eigenen Fähigkeiten bekommen.
Das wird auch an den vorliegenden Zahlen deutlich.
Es gibt drei Hauptgruppen, die wir im Hinblick auf Kinderarmut zu berücksichtigen haben: erstens die Kinder
von Alleinerziehenden, 800 000 Kinder, zweitens die
Kinder aus kinderreichen Familien, 400 000 Kinder, und
drittens die Kinder mit Migrationshintergrund, rund
520 000 Kinder. Auf diese drei Gruppen müssen wir unseren Fokus vor allen Dingen richten. Hier setzt das
Konzept der Bundesregierung an.
Eltern brauchen Arbeit. Das heißt, sie brauchen Arbeitsplätze. Eine gute Konjunktur schafft Arbeitsplätze.
Wie wir sehen, ist die Zahl der unter 15-jährigen Kinder
in den Bedarfsgemeinschaften der Grundsicherung für
Arbeitsuchende seit Anfang 2007 rückläufig. Das ist
zwar nur ein erster Teilerfolg, aber ein wichtiger Erfolg.
Inzwischen sind 1,6 Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen worden. Das wirkt sich unmittelbar auf die Situation in den Familien aus.
Wir dürfen uns aber nicht nur auf die Konjunktur
verlassen, sondern wir brauchen auch eine gezielte Familienpolitik. Wie Sie wissen, haben wir gemeinsam ein
stimmiges Grundkonzept entwickelt. Dazu gehört erstens das Elterngeld. Es ist vor allem für Alleinerziehende ein wichtiger Baustein, der sicherstellt, dass sie
mit der Geburt eines Kindes nicht in die Armut rutschen.
Der zweite wichtige Aspekt ist der verbesserte Kinderzuschlag. Wir haben an der kritischen Grenze zur Armut, an der Empfänger von Transferleistungen leben,
angesetzt. Diese staatliche Leistung, der Kinderzuschlag, ist genau das richtige Instrument, um Familien,
in denen die Eltern ihr eigenes Einkommen verdienen, in
denen das Geld aber nicht für alle Kinder ausreicht, zu
unterstützen. Wegen der Kinder sollen diese Familien
nicht in Hartz IV sein. Durch den Kinderzuschlag sollen
sie in die Lage versetzt werden, auf eigenen Beinen zu
stehen. Mit dem neuen Kinderzuschlag, den wir entwickelt haben, erreichen wir im Zusammenspiel mit der
Wohngeldreform 250 000 Kinder; vorher waren es nur
100 000 Kinder. Insofern sind wir auch hier einen Schritt
vorangekommen.
Berechtigterweise wird immer wieder eine Wirkungsanalyse gefordert. Wir sind mitten dabei, die Wirkung
der verschiedenen Leistungen zu analysieren. Das geht
aber nicht über Nacht. Wenn die Wirkungsanalysen vorliegen, werden wir - davon müssen wir ausgehen - neue
Erkenntnisse haben.
Die entscheidende Frage ist: Wie gehen wir um mit
Familien, die in der Mitte der Gesellschaft sind, die
kleine Einkommen haben, die keine Steuern zahlen und
damit von einer Erhöhung der Freibeträge nicht profitieren, die keine staatlichen Transferleistungen beziehen?
Wie helfen wir diesen Familien, wenn ein weiteres Kind
geboren wird? Für diese Familien ist das Kindergeld
entscheidend.
Wir haben das Kindergeld lange vernachlässigt,
({4})
wir haben die Bedeutung dieser Leistung unterschätzt.
Das Kindergeld hat - das zeigt sich insbesondere im internationalen Vergleich - einen hohen armutspräventiven Charakter.
({5})
Wir dürfen das Kindergeld nicht kleinreden.
Wenn es im Herbst zu einem höheren Existenzminimum für Kinder kommt und die Freibeträge erhöht werden, werden wir auch über eine Erhöhung des Kindergeldes sprechen müssen. Ich werbe dafür, den Blick
dann darauf zu richten, wer diese Erhöhung vor allem
braucht.
({6})
Das sind die kinderreichen Familien, und das sind die
Alleinerziehenden mit mehreren Kindern, insbesondere
wenn das dritte Kind kommt. Seit 1995 ist das Kindergeld für das dritte Kind nicht mehr erhöht worden. Wir
haben das dritte Kind in der öffentlichen Debatte fast
vergessen.
({7})
Deshalb werbe ich nachdrücklich dafür, das Kindergeld
zu staffeln, auch im Lichte der Erkenntnisse der Wissenschaftler, die uns gesagt haben, dass wir hier nicht lockerlassen dürfen.
({8})
Wir wollen mit der Kaskade Elterngeld, Kinderzuschlag, Kindergeld die Familien in der Mitte der Gesellschaft halten, wollen verhindern, dass Familien in Armut
abrutschen. Natürlich sind auch Bildung und Förderung
entscheidende Bausteine.
Den vierten Baustein haben wir letzte Woche mit dem
Kinderfördergesetz beraten. Ich bin stolz darauf und
danke von Herzen, dass es gelungen ist, in außergewöhnlich kurzer Zeit - Februar 2007 Beginn der Diskussion über den Ausbau der Betreuung von unter Dreijährigen, April 2008 Gesetzentwurf im Kabinett, Mai 2008
Gesetzentwurf im Parlament - einen Konsens von Bund,
Ländern, Kommunen und Parteien herzustellen. Wir diskutieren jetzt nicht mehr darüber, ob wir einen Ausbau
der Betreuung brauchen, wir diskutieren nur noch darüber, wie wir es am besten machen. Es ist Konsens,
konsequent nachzuholen, besser zu werden, die Infrastruktur auszubauen.
Entscheidend ist für Eltern, dass sie arbeiten können,
dass sie ein Einkommen haben. Für Kinder, gerade für
Kinder aus benachteiligten Familien, ist der Zugang zu
Förderung, zu Bildung von Anfang an die beste Prävention gegen Armut. Danke an das Parlament, danke an
alle, die daran mitgearbeitet haben!
({9})
Kinderarmut hat viele Gesichter. Es gibt nicht das Rezept, die Leistung, um Kinderarmut zu bekämpfen. Noch
einmal: Wir sind im internationalen Vergleich nicht
schlecht; uns darf aber nicht ruhen lassen, dass wir innerhalb des Landes im Vergleich dazu, wie wir anderen
Gruppen helfen, bei der Bekämpfung der Kinderarmut
besser werden können. In den letzten 30, 40 Jahren ist
viel versäumt worden; die Kinderarmut ist schließlich
nicht über Nacht entstanden. Ich nenne als Stichworte
nur die mangelnde Vereinbarkeit von Beruf und Familie
und das Vergessen der kinderreichen Familie, also des
dritten Kindes. Lange wurde nicht wahrgenommen, dass
frühe Bildung für Kinder mit Migrationshintergrund, für
Kinder aus Familien, in denen Bildung wenig zählt, die
Chance ist, aus der Armut herauszukommen. Wir haben
Jahre gebraucht, um hier auf den internationalen StanBundesministerin Dr. Ursula von der Leyen
dard zu kommen. Jetzt haben wir gemeinsam die
Chance, zu handeln. Die Fakten in den Berichten rütteln
uns wach; in den Berichten werden uns aber auch Möglichkeiten aufgezeigt, zu handeln.
Deshalb noch einmal meine Bitte: Bleiben wir bei
diesem Thema bei der guten Tradition, die sich in unserem Ausschuss, aber auch hier im Parlament entwickelt
hat, nämlich gemeinsam konsequent für dieses Thema
zu streiten.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Renate Künast von
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Ministerin, Sie mögen sich einiges zugutehalten - ich will
das der Fairness halber ja gar nicht ganz abstreiten -,
({0})
aber zu sagen, dass Kinder- und Bildungspolitik und der
Kampf gegen die Kinderarmut vorher vernachlässigt und
unter Ihrer Ägide quasi zu einer Lichtgestalt wurden,
muss ich nun wirklich zurückweisen.
({1})
Wir haben kein Kurzzeitgedächtnis, sondern wissen,
dass das Kindergeld vor Ihrer Regierungszeit durch eine
rot-grüne Koalition und gegen den Widerstand der CDU/
CSU zweimal um insgesamt 37 Prozent erhöht wurde.
Das ist die Wahrheit.
({2})
Wir wissen auch, dass wir uns viel Mühe gegeben haben - gegen den erbitterten Widerstand zumindest der
CDU/CSU-Ministerpräsidenten -, als es darum ging,
den Ländern Geld für den Ausbau der Tagesbetreuung
und von Ganztagsschulen zu geben. Auch dadurch wird
Armut bekämpft. Die nächtlichen Auftritte von Herrn
Koch vergesse ich nicht.
({3})
Die Frage ist doch, wonach wir unser Handeln ausrichten. Auf dieser Basis will ich einmal Ihren Redebeitrag und Ihre Politik betrachten. Wir sagen: Jedes Kind
- ich könnte jetzt einfach ein Ausrufezeichen machen
und damit aufhören - in diesem Land hat unabhängig
von irgendwelchen internationalen Vergleichen, die
mich in dieser Sache gar nicht interessieren, das Recht
auf Entwicklung, die Entfaltung seiner Persönlichkeit,
kindgerechte Lebensbedingungen, Schutz und die Sorge
der Gemeinschaft, also des ganzen Bundestages und aller Mitglieder dieser Gesellschaft, ob sie Kinder haben
oder nicht. Das muss der Faden unserer Politik für Kinder sein.
({4})
Wir wissen: Die armen Kinder befinden sich in einer
Verstrickung von materieller Armut, kultureller Armut
und sozialer Armut, aus der sie nicht herauskommen.
Wir haben ein Betreuungs- und Bildungssystem, bei dem
es den Mittelschichtlern und den reicheren Eltern immer
noch möglich ist, Defizite auszugleichen. Andere können das aber nicht.
Frau Ministerin, Sie haben Zahlen vorgelegt. Ich prophezeie Ihnen, dass die Lage noch schlimmer und
schwieriger wird. In Berlin haben 50 Prozent der Nullbis Zweijährigen einen Migrationshintergrund. Dabei
sind die Kinder aus den bildungsfernen Schichten noch
nicht mitgerechnet. Hinsichtlich der Zukunft des Landes
und der Kinder wird die Luft in jeder Hinsicht brennen,
wenn wir nicht jedem Kind eine Chance geben. Darum
muss es gehen.
({5})
Deshalb reicht es einfach nicht, nur hier und da ein
bisschen zu reagieren. Frau von der Leyen, Sie sagten,
Sie wollten die familienpolitischen Leistungen ein Jahr
lang von einer Kommission überprüfen lassen. Auch das
reicht nicht. Jetzt ist Mut gefragt, das irgendwann auch
einmal auf den Tisch zu legen und zu sagen: Wir stellen
fest, dass sich das, was hier passiert, zwar familienpolitisch nennt, aber bei der Erziehung von Kindern und zur
Verbesserung der Erziehungssituation in Wahrheit nicht
weiterhilft.
({6})
Wir sagen ganz klar: Das gestaffelte Kindergeld ist
keine vernünftige Antwort. Frau von der Leyen, Ihre eigenen Zahlen - sie stammen aus Ihrem Hause - besagen
ja, dass die ärmsten Familien die Ein-Kind-Familien von
Alleinerziehenden sind. Wenn Sie ein gestaffeltes Kindergeld einführen, dann bedeutet das, dass ungefähr
94 Prozent der Kinder von Alleinerziehenden null Euro
davon haben.
({7})
Das sind nach Ihrer eigenen Darstellung aber die ärmsten Kinder.
({8})
Warum wollen Sie ein gestaffeltes Kindergeld einführen? Wollen Sie einer Ideologie folgen - insbesondere
der der CSU - oder wollen Sie wirklich Armut bekämpfen? Dann müssten Sie eine andere Entscheidung treffen.
({9})
- Wenn wir systematisch vorgehen wollen, dann sollten
wir doch da anfangen, wo die meisten Probleme bestehen.
({10})
Wir als Grüne wollen Kinderregelsätze für die armen
Kinder und mehr als das gesetzlich zwingend Notwendige tun. Wir wollen, dass Kinder Geld haben, um ein
Leben in Würde zu führen. Das schließt das Mittagessen,
die Mitgliedschaft im Sportverein, um kulturell im Dorf
bzw. in der Stadt verankert zu sein, und den Unterricht
an der Musikschule ein. Dafür brauchen wir etwas; da
reichen 60 Prozent vom Regelsatz nicht. Wir bräuchten
also eher eine Kommission, die das soziokulturelle Existenzminimum von Kindern berechnet.
({11})
- Diese FDP-Zurufe liebe ich. Sie waren auch einmal in
der Regierung. Ich weiß nicht, welchem Mutterbild Sie
damals gefrönt haben.
Wir wollen endlich die Sachleistung. Herr Müntefering von der SPD hat im November 2007 gesagt, es solle
schnell darüber entschieden werden. Ich hatte eigentlich
gehofft, er habe gemeint, es werde im November 2007
schnell entschieden.
Frau Kollegin Künast, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Thiele?
Nein, danke.
({0})
- Ich möchte jetzt die letzte Minute dazu nutzen, meine
Rede zum Abschluss zu bringen.
Meine Damen und Herren, wir wollen einen Betreuungsausbau und eine frühkindliche Bildung. Sollte
dies erst 2013 kommen, wären viele derjenigen, die
heute klein sind, wieder einmal mit Defiziten in die
Schule gekommen. An dieser Stelle folgen wir Ihnen,
Frau von der Leyen, bei dem Satz, das Betreuungsgeld
sei eine bildungspolitische Katastrophe. Damit haben
Sie mir aus dem Herzen gesprochen.
({1})
Wir sehen nicht nur, dass 150 Euro zu wenig sind. In
Thüringen erleben wir, dass die falschen Eltern sagen,
sie bekämen Betreuungsgeld und sparten die Kitagebühren und hätten dadurch 200 Euro mehr. Wir sind aber
darauf angewiesen, dass die Kinder nicht auf das falsche
Gleis kommen, sondern sozialisiert werden.
({2})
Wir brauchen endlich ein Qualitätssiegel für die Kinderbetreuung. Heute gibt es noch Kindergartengruppen
mit 25 Kindern und einer Erzieherin und einer Hilfskraft. Das sind die Kinderverwahranstalten, vor denen
Sie uns mit Ihrem alten Familienbild immer warnen
wollten. Wir brauchen den guten und gesunden Kindergarten, und dazu brauchen wir ein Qualitätssiegel.
Frau Kollegin Künast, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Fischbach?
Jetzt habe ich zu Herrn Thiele Nein gesagt.
({0})
- Nein, das hat nichts mit Feigheit zu tun. Ich möchte
versuchen, meine Rede jetzt geschlossen zu Ende zu
bringen. Ansonsten lasse ich gern Zwischenfragen zu.
Meine Damen und Herren, als letzten Gedanken
bringe ich noch Folgendes in diese Debatte ein: So, wie
wir den Aufbau Ost gemeinsam finanziert und umgesetzt
haben, müssen wir jetzt das Thema Bildung als gesamtstaatliche und gesamtgesellschaftliche Aufgabe begreifen. Wir brauchen Geld für Kreativität, Personalausstattung und eine gute Personaleingruppierung. Ab 2010
werden die Zahlungen aus dem Solidaritätszuschlag an
die neuen Länder abgeschmolzen. Jetzt sollten wir die
Entscheidung treffen, das, was wir beim Aufbau Ost
konnten, für Kinder zu tun. Dieses Land muss den Solizuschlag nehmen und aus ihm für jedes Kind in diesem
Land einen Bildungssoli machen. Das wäre sinnvoll.
({1})
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen
Carl-Ludwig Thiele das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Frau Künast, Sie haben
die Frage in den Raum gestellt, was denn seinerzeit von
der FDP gekommen sei. Ich weise darauf hin, dass auf
Initiative der FDP im Jahr 1996 Kindergeld als negative
Einkommensteuer eingeführt wurde.
({0})
Wir hatten bis dahin für das erste Kind ein Kindergeld
von 70 DM, danach ein Kindergeld von 200 DM. So
stellen wir uns das Bürgergeld auch vor. Das Kindergeld
ist keine Gnadenleistung des Staates an die Bürger, sondern die Bürger haben das Recht darauf, den Lebensunterhalt ihrer Kinder aus unversteuertem Einkommen
bestreiten zu können.
({1})
Dieser Systemwechsel war nicht einfach zu erreichen.
Ich bin der SPD, die damals in der Opposition war, nach
wie vor dankbar, dass sie diesem Systemwechsel im
Deutschen Bundestag zustimmte; denn dieser Systemwechsel war die Voraussetzung dafür, dass das KinderCarl-Ludwig Thiele
geld auf 220, 250 und 300 DM weiterentwickelt und
dann auch in dieser Höhe in Euro umgerechnet werden
konnte. Die zentrale Frage ist hier: Gibt der Staat eine
Gnadenleistung an die Familien, oder haben die Familien nicht ein Recht darauf, den Unterhalt ihrer eigenen
Kinder aus unversteuertem Einkommen zu bestreiten?
Sofern das Kindergeld darüber hinausgeht - so haben
wir es gesetzlich festgelegt; so ist es im Einkommensteuergesetz geregelt -, dient es der zusätzlichen Förderung
der Familie. Wir stehen zu diesem Weg und wollen ihn
weiter ausbauen. Ich glaube, dies war die Schnittstelle
dafür, dass für die Familien in unserem Lande viel mehr
geschehen ist, als es vorher der Fall war.
({2})
Zu einer weiteren Kurzintervention erteile ich der
Kollegin Fischbach das Wort. Frau Künast, Sie können
dann bitte auf beide Kurzinterventionen zusammen eingehen.
Frau Künast, ich habe eine kurze Zwischenfrage, die
Sie schnell beantworten können. Da Sie mir während Ihrer Rede nicht die Möglichkeit gegeben haben, diese
Frage zu stellen, mache ich es auf diesem Weg.
Ihre Feststellung, dass die falschen Eltern das Betreuungsgeld - zu dem man stehen kann, wie man will - bekommen, war sehr interessant. Das drückt indirekt aus,
dass die richtigen Eltern es durchaus bekommen sollten.
({0})
Unsere Fraktion und auch die Eltern vor den Fernsehgeräten haben ein Anrecht darauf, von Ihnen zu erfahren,
wen Sie für die falschen Eltern halten. Dann wüssten wir
auch, wer die richtigen sind.
({1})
Frau Künast zur Erwiderung.
Ich fange mit der zweiten Frage an. Es gibt in diesem
Zusammenhang keine falschen oder richtigen Eltern;
({0})
vielmehr sind es die Falschen, die das Betreuungsgeld
nutzen. Wie ist das zu begründen? Wir gehen davon aus,
dass durch Bildung die Armut bekämpft werden kann
und dass Bildung jedem Kind Chancen bietet, sich in
seinem Leben weiterzuentwickeln und seine Potenziale
zu entfalten.
Ich bin davon überzeugt, dass die Falschen das Betreuungsgeld nutzen - das zeigt auch das Beispiel Thüringen -, weil gerade Eltern aus bildungsfernen und
finanziell schwachen Schichten ihr Kind nicht im ersten,
zweiten oder dritten Lebensjahr in den Kindergarten
bringen, sondern das Betreuungsgeld lieber sparen wollen.
({1})
- Das glaube ich nicht nur, sondern das belegen auch die
Zahlen aus Thüringen. Ich kann sie Ihnen gerne heraussuchen.
({2})
Es geht mir beim Betreuungsgeld nicht um die Frage,
was wir den Eltern zukommen lassen. Für mich geht es
vielmehr darum, dass die Kinder in diesem Land einen
Anspruch haben, sich entwickeln zu können. Diese Entwicklung soll nicht daran scheitern, dass die Eltern an
der Stelle Geld sparen wollen. Jedes Kind soll sich entwickeln können.
Die Hälfte der Kinder kommen aus Migrantenfamilien; in manchen Stadtteilen Berlins zum Beispiel ist der
Anteil noch höher. Viele von ihnen können zum Zeitpunkt ihrer Einschulung weder richtig Türkisch noch
Deutsch. Es wäre eine bildungspolitische Katastrophe,
wenn wir gerade diesen Eltern Geld dafür geben, dass
sie ihren Kindern faktisch keine Chance bieten. Dafür
sollten keine Steuergelder eingesetzt werden.
({3})
Jetzt komme ich zu Ihrer Kurzintervention, Herr
Thiele. Ihre Variante der negativen Einkommensteuer
würde nur Eltern betreffen, die auch Steuerzahler sind.
({4})
Den ärmeren Eltern würden Sie damit keine Hilfestellung geben. Ich muss leider auch daran erinnern, dass die
FDP in der Vergangenheit die Erhöhung des Kindergeldes und der Regelsätze für die ärmsten Kinder abgelehnt
hat.
In Ihrem Redebeitrag gab es durchaus gute Ansätze.
Es gibt auch hier und da Gemeinsamkeiten. Ich
wünschte mir aber, dass Sie auch den Mut haben, festzustellen, dass das Ehegattensplitting abgeschmolzen werden muss. Denn es ist falsch, zum Beispiel die kinderlose Ehe weiter steuerlich zu privilegieren, statt das Geld
gezielt zugunsten jedes einzelnen Kindes einzusetzen.
({5})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Sybille Laurischk von
der FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist bemerkenswert, dass die Bundesfamilienministerin in einer
solchen Debatte bereits den Saal verlassen hat, gerade
weil sie offensichtlich sehr kontrovers verläuft.
({0})
Damit komme ich zu Ihnen, Frau Künast. Wenn Sie
meinen, dass Migrantenkinder zu geringe Bildungschancen haben, dann frage ich mich, welche Maßnahmen
während der rot-grünen Regierungszeit wirkungsvoll
waren.
({1})
Ich glaube, dass die Defizite auch in dieser Zeit zu finden sind. Zum Beispiel sind auch der Spracherwerb und
die Kenntnis der deutschen Sprache nicht ausreichend
behandelt worden. Wir haben dieses Thema auf die
Agenda gesetzt
({2})
und verlangen von Ihnen entsprechende Anstrengungen
im Rahmen des Integrationsprozesses.
({3})
Frau Kollegin Laurischk, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Singhammer?
Ich möchte in meiner Rede fortfahren. Herr Singhammer hatte schon Gelegenheit, seine Vorstellungen darzulegen.
Die FDP hat auf ihrem Bundesparteitag am vergangenen
Wochenende klare familienpolitische Beschlüsse getroffen.
Wir wollen einen Freibetrag in Höhe von 8 000 Euro für jedes Familienmitglied und ein Kindergeld in Höhe von
200 Euro für jedes Kind.
({0})
Wir haben uns darüber hinaus mit familienpolitischen
Fragen befasst, über die in der Bundesregierung noch
immer kontrovers diskutiert wird. Die FDP lehnt ein Betreuungsgeld ab.
Wenn man sich die Überschriften der Anträge anschaut, dann stellt man fest, dass es noch um einen anderen Aspekt des Familienrechts und der Familienpolitik
geht, nämlich um den Unterhaltsvorschuss. Wir schreiben das Jahr eins nach der Unterhaltsrechtsreform. Diese
Reform hat die FDP gefordert, um Kindern den Vorrang
bei der Unterhaltsberechtigung zu geben, und zwar vor
dem Unterhalt des betreuenden Elternteils, meistens der
Mütter. Damit haben wir alle im Deutschen Bundestag
ein sehr klares Signal gesetzt, dass Kinder in der Fürsorge ihrer Eltern - auch in der finanziellen - unbedingten Vorrang haben.
Wer im Familienrecht tätig ist, weiß, dass die unsägliche Berechnung sogenannter Mangelfälle damit endlich
ein Ende haben soll; denn sie dokumentieren nur, was
den Kindern letztlich nichts nutzt, nämlich die Verteilung des Mangels. Immer dort, wo die Einkommenssituation der Eltern nicht ausreicht, soll zumindest die
Sicherung der Existenz der Kinder Vorrang haben. Wir
haben uns zudem dafür ausgesprochen, dass die Unterhaltsberechtigung der Erwachsenen, also der Eltern, hier
zurückstehen muss. Damit wollen wir die Bereitschaft
der Unterhaltsverpflichteten, meistens der Väter, fördern, den Kindesunterhalt tatsächlich zu zahlen.
({1})
Dies ist nach wie vor ein großes Problem. In vielen Fällen ist der Unterhalt zwar durch ein Urteil festgestellt,
wird aber nicht gezahlt.
Neben der Zwangsvollstreckung gibt es verschiedene
Lösungsmöglichkeiten. Eine ist der breiten Öffentlichkeit
so gut wie nicht bekannt, obwohl sie recht gravierend ist.
Das Nichtzahlen des Kindesunterhalts und das Belassen
der Kinder in Armut durch die Eltern sind ein Straftatbestand nach § 170 StGB. Im Rahmen einer Kleinen Anfrage hat sich die FDP-Bundestagsfraktion mit der Auswirkung dieser Vorschrift auseinandergesetzt. Wir mussten
feststellen, dass im Jahr circa 20 000 Fälle angezeigt und
ermittelt werden, dass allerdings nur in 5 000 Fällen ein
Urteil ergeht. Meistens wird dann gezahlt. Die Strafanzeige kann also ein wirkungsvolles Instrument sein.
Das ist aber familienpolitisch sicherlich unbefriedigend. Deswegen gibt es noch eine andere Problemlösungsmöglichkeit, nämlich das Unterhaltsvorschussrecht. Jährlich haben rund 500 000 Kinder in der ganzen
Bundesrepublik Anspruch auf Unterhaltsvorschussleistungen. Diese Möglichkeit der staatlichen Hilfe im Fall
des Nichtzahlens des Kindesunterhalts wird also breit in
Anspruch genommen. Es handelt sich um eine Überbrückung, um gerade bei durch Trennung der Eltern eintretender Unterhaltsbedürftigkeit einen Puffer zu haben. So
war das Gesetz mit einer Anspruchsberechtigung von
maximal 36 Monaten ursprünglich konzipiert. Mittlerweile ist die Anspruchsdauer auf 72 Monate angehoben
worden.
Völlig unverständlich ist aber die Tatsache, dass dieser Anspruch nur für Kinder bis zwölf Jahren und nicht
bis zum 18. Lebensjahr gilt. Das Familienkompetenzzentrum attestiert - wir sind auf die Lösungen gespannt älteren Kindern und Jugendlichen alleinerziehender Eltern ein höheres Armutsrisiko als jüngeren Kindern. Kinder und Jugendliche im Alter zwischen 15 und 18 Jahren
stellen fast 30 Prozent der von Armut betroffenen Kinder. Das Familienkompetenzzentrum liefert die Begründung gleich mit: Es liege unter anderem daran, dass der
Unterhaltsvorschuss nur bis zur Vollendung des zwölften
Lebensjahrs geleistet wird, ohne dass im Anschluss eine
vergleichbare Leistung verfügbar sei. Hier ist dringend
Abhilfe zu schaffen.
({2})
Wir verlangen, dass die Leistungsberechtigung auch
auf Kinder bis zum 18. Lebensjahr ausgedehnt wird. Wer
Bedenken wegen der Finanzierung hat, kann unseren
Vorschlag aufgreifen, die ursprüngliche Berechtigungsdauer von 36 Monaten wieder einzuführen, sodass ein
haushaltstechnisches Problem gelöst wäre. Die Hilfestellung würde dann alle unterhaltsbedürftigen Kinder erreichen, zumindest für die Übergangszeit, also bis ihr Unterhaltsanspruch geklärt ist.
Insgesamt brauchen wir ein Umdenken in dieser Gesellschaft dahin gehend, dass das Leisten von Kindesunterhalt so selbstverständlich ist wie das Versorgen von
Kindern.
({3})
Es geht nicht an, dass es von Fall zu Fall geradezu mit einem Achselzucken kommentiert wird, wenn Väter - diese
sind es in der Mehrzahl der Fälle - ihr Nichtzahlen von
Unterhalt damit kommentieren, dass die Mutter gar keinen Pfennig mehr bekommen soll. Es geht uns um die
Kinder. Erst wenn wir dies in den anstehenden Reformen
umsetzen, können wir eine Stimmung in Deutschland
wecken, die es möglich macht, Kinder als den eigentlichen Reichtum unserer Gesellschaft zu begreifen, die
vor Armut geschützt werden müssen.
({4})
Zu einer Kurzintervention erteile ich zunächst dem
Kollegen Johannes Singhammer und anschließend dem
Kollegen Beck das Wort.
Frau Kollegin Laurischk, Sie haben den Eindruck zu
erwecken versucht, als sei die Ministerin aus Interesselosigkeit nicht mehr hier im Plenum des Deutschen Bundestags anwesend. Ich möchte diese völlig falsche Unterstellung zurückweisen. Die Ministerin ist derzeit bei
der Festveranstaltung „Generationsübergreifende Freiwilligendienste“. Das war bekannt, und das wussten alle
anderen.
({0})
Deshalb empfinde ich es nicht nur als unsachlich, sondern auch als falsch, wenn Sie mit dieser Art von Unterstellung arbeiten. Im Übrigen ist die Bundesregierung
durch den Staatssekretär bestens vertreten.
({1})
Jetzt hat zu einer Kurzintervention der Kollege Volker
Beck das Wort.
Sie wussten nicht, was wir unter Rot-Grün für Migrantenkinder gemacht haben. Dazu kann ich Ihnen sagen: Wir haben im Zuwanderungsgesetz unter Rot-Grün
erstmals die Integration überhaupt bundesrechtlich geregelt. Hätten Sie das in den 16 Jahren vorher während der
Kohl/Genscher-Ära gemacht, hätten wir viele Probleme
heute nicht zu lösen, die wir dadurch, dass die Integrationspolitik während Ihrer Regierungsära verschlafen
wurde, auf dem Tisch haben.
({0})
Aber das war nicht das Einzige, was wir gemacht haben: Wir haben das Ganztagsschulprogramm aufgelegt.
Das hilft gerade Kindern aus Migrantenfamilien, um soziale Benachteiligungen auszugleichen. Wir haben das
U-3-Programm gemacht, und wir haben ein Programm
- das kennen Sie vielleicht nicht, weil Sie damals im
Rechtsausschuss gewesen sind - „Entwicklung und
Chancen“ aufgelegt, das besonders Jugendhilfeprojekte
für Migranten fördert. Das zeigt, dass wir eine ganze
Menge gemacht haben. Das alles reicht nicht aus, und
darauf kann man sich nicht ausruhen, aber dass Sie diesen ganzen Politikbereich offensichtlich vier Jahre im
Parlament verschlafen haben, zeigt, wie wichtig Ihnen
die Integrationspolitik für Migrantenkinder ist. Das sieht
man Ihren steuerpolitischen Vorschlägen ja auch an.
({1})
Zur Erwiderung Frau Laurischk.
Herr Beck, für mich war im Zuge der integrationspolitischen Debatte besonders eindrucksvoll, dass ich zu
dem Thema „Deutsch auf den Schulhöfen Berlins“ von
grünen Abgeordneten die Mitteilung bekam, das sei eine
Zumutung. Mittlerweile hat sich glücklicherweise die
Einsicht breit gemacht, dass Deutsch als Verständigungsmöglichkeit in Schulen selbstverständlich ist.
({0})
Ich glaube, dass die Grünen damals zu Beginn dieser
Debatte noch gar nicht begriffen haben, welche bildungspolitische Bedeutung der Erwerb der deutschen
Sprache hat.
({1})
Im Übrigen möchte ich Herrn Singhammer antworten: Ich habe die Mitteilung bekommen, dass sich die
Ministerin nicht die ganze Debatte hier aufhalten wird,
aber noch zu Beginn meiner Rede da sein wird. Sie war
es nicht. Ich stelle fest, dass jetzt auch schon Frau Künast gegangen ist. So viel zur Aufmerksamkeit hinsichtlich der Debatte zur Familienpolitik, die wir angeregt haben.
({2})
Das Wort hat der Kollege Dieter Steinecke von der
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Gäste! Kinder sollen mutig, neugierig und
fröhlich ins Leben gehen. Arme Kinder können das
nicht. Kinderarmut bedeutet gesellschaftliche Ausgrenzung. Es ist eine Grundaufgabe der Gesellschaft, allen
unseren Kindern ein anständiges Leben zu ermöglichen
und ihnen Perspektiven für ihre Zukunft zu eröffnen.
Wir Politiker müssen dafür sorgen, dass die Rahmenbedingungen stimmen. Wir Sozialdemokraten sind überzeugt, dass dies in einer insgesamt wohlhabenden Gesellschaft weiß Gott nicht zu viel verlangt ist.
({0})
Eines muss uns allen klar sein: Wer glaubt, dass sich
Armut von Kindern allein durch direkte Transferleistungen wirksam bekämpfen lässt, der springt zu kurz.
({1})
Sicherlich muss den Kindern und Jugendlichen, die von
Armut jetzt unmittelbar betroffen sind, geholfen werden
- das ist überhaupt keine Frage -;
({2})
doch struktureller Armut kann man nur mit strukturellen Maßnahmen begegnen.
Es ist schon vielfach gesagt worden: Es gibt verschiedene Gründe für Armut und Ausgrenzung. Deshalb muss
an verschiedenen Stellen angesetzt werden, um die Ursachen zu bekämpfen. Drei dieser Stellen ragen heraus - in
dieser Reihenfolge -: Erstens: Bildung. Zweitens: Ausbildung. Drittens: Sozialtransfers.
Arbeit zu haben, ist - das klingt banal - die beste
Hilfe zur Selbsthilfe. Darum geht es im Wesentlichen
bei der Bekämpfung der Armut. Am Arbeitsmarkt geht
es momentan bergauf. Es gilt eben, diese Erfolge zu verstetigen und strukturell zu sichern.
Doch Arbeit schützt nicht immer vor Armut. In unserem Land gibt es etliche Menschen, die arbeiten gehen,
und zwar Vollzeit, und davon doch nicht anständig leben
können. Das wird von manchen Parteien sehenden Auges hingenommen. Umso energischer müssen wir unsere
Forderung vertreten: gutes Geld für gute Arbeit; gesetzlicher Mindestlohn in allen Branchen.
({3})
Auch auf einem sich bessernden Arbeitsmarkt haben
nur Menschen Chancen, die über eine anständige Bildung und Ausbildung verfügen. Durch einen ungerechten Zugang zur Bildung verfestigt sich Armut, und das
darf nicht sein.
Was die Bildung anbelangt, stehen vor allem auch die
Länder in der Pflicht. Man mag es begrüßen oder auch
bedauern: Bildung ist Ländersache. Doch obwohl wir es
nicht müssten, eigentlich nicht einmal dürften, haben wir
beträchtliche Bundesmittel in die Hand genommen, um
Bildung und Ausbildung in diesem Land auszubauen.
Weil Bildung nicht erst am Tag der Einschulung beginnt, haben wir eine Offensive für frühkindliche Betreuungs- und Lernangebote gestartet. Erst vor kurzem
wurde ein umfangreiches Sondervermögen zum Ausbau
der Tagesbetreuung für unter Dreijährige errichtet. Ohne
dies wären die Bundesländer sicherlich nicht in dem
Maße tätig geworden, ohne dies blieben die Ausbauziele
vielfach reine Utopie.
Dem essenziell wichtigen Bereich der frühkindlichen
Bildung droht meiner Meinung nach übrigens eine Katastrophe: Einige Landesregierungen und einige Köpfe in
diesem Hause plädieren für ein sogenanntes Betreuungsgeld; darüber ist schon vielfach gesprochen worden.
Dies hätte eine verheerende Konsequenz. Gerade jene
Kinder, die wir erreichen wollen und müssen, würden
aus einer entscheidenden Entwicklungs- und Lernerfahrung gewissermaßen herausgekauft.
({4})
Ein Blick nach Thüringen sollte reichen, um solche
Pläne schnell und nachhaltig zu verwerfen.
({5})
Auch das schulische Angebot kann verbessert werden. Wie Frau Ministerin von der Leyen bin ich ein großer Anhänger der echten Ganztagsschule, flächendeckend, sofort. Ich bin froh, dass ich die Ministerin an
meiner Seite habe. Auch hier hat der Bund den Ländern
mit einem milliardenschweren Programm auf die
Sprünge geholfen - oder dies zumindest versucht.
({6})
- Darüber können wir nachher gern diskutieren. Ich will
keine Ganztagsschule light, sondern eine echte, Herr
Goldmann.
({7})
Von einem pädagogisch sinnvollen Ganztagsschulkonzept sind die meisten Länder weit entfernt. Das ist
schade für unsere Kinder, weil in den Ländern vielfach
nur in Beton investiert worden ist und nicht in eine vernünftige Ausstattung, beispielsweise mit Lehrerstunden.
Auch sonst ist die autonome Bildungspolitik der Länder
oft alles andere als glanzvoll. Die Bandbreite der weiteren Sünden reicht von Abschaffung der Lernmittelfreiheit bis hin zur Einführung von Studiengebühren für das
Erststudium. Auch dies sind Maßnahmen, die gerade
diejenigen treffen, über deren Belange wir heute sprechen. Es sind Maßnahmen, die die Bildungsschere weiter und weiter öffnen und strukturelle Armut verfestigen.
Auch wer sich um die berechtigten Anliegen und
Bedürfnisse Benachteiligter einen Dreck schert - entschuldigen Sie diesen harten Ausdruck -, kann diese
Entwicklung nicht wollen: Unzureichende Bildung und
Ausbildung bedeuten nicht nur Chancenungerechtigkeit;
sie sind auch volkswirtschaftlicher Wahnsinn. Zum einen können wir es uns als Wissensgesellschaft nicht leisten, Potenziale brachliegen zu lassen, und zum anderen
kosten uns Transferleistungen und Flickschusterei an
Folgeschäden ein Vielfaches von dem, was wir investieren müssten, um ein leistungsfähiges und gerechtes Bildungssystem für alle Kinder und Jugendlichen in unserem Land zu schaffen.
Zur Leistungsfähigkeit Folgendes: Die wirklich allergeringste Anforderung an Schule muss sein: Wer in die
Schule geht, kann Deutsch; wer rauskommt, hat einen
Abschluss.
({8})
Das ist die Minimalanforderung. Wenn wir das erreichen
würden, hätten wir schon eine ganze Menge geschafft.
Wie dem auch sei: Alle Anstrengungen zum Ausbau
und zur Verbesserung von Betreuung, Bildung und Ausbildung, wie gut sie auch sein mögen, tragen erst in ferner Zukunft Früchte. Die Erfolge unseres bisherigen Regierungshandelns, von denen ich überzeugt bin, werden
erst in Jahren zu sehen sein. Bis dahin - ich sagte dies müssen wir mit Sozialtransfers, über deren Form und
Höhe man sicherlich diskutieren muss, die Not lindern
und den betroffenen Menschen jetzt helfen. Und es ist ja
beileibe nicht so, dass wir in dieser Hinsicht bislang untätig waren. Meine Vorredner haben dies ja allzu deutlich gemacht: Unser Sozialstaat trägt wesentlich dazu
bei, dass Armut vermindert wird.
Wir Sozialdemokraten werden unseren Weg weiter
beschreiten - unseren Weg zu mehr Beschäftigung, zu
fairen Bildungschancen und zu sozialem Ausgleich.
Schönen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Das Wort hat jetzt der Kollege Jörn Wunderlich von
der Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich finde das toll: Alle reden von Kinderarmut
und darüber, wie sie bekämpft werden kann/sollte/
müsste und was man früher alles gemacht hat; aber wenn
es um etwas Konkretes geht, dann kneifen alle. Anders
kann ich mir nicht erklären, dass über den Gesetzentwurf
der Linken, der auch auf der Tagesordnung steht, nämlich zur Änderung des Unterhaltsvorschussgesetzes, bislang so gut wie kein Wort verloren worden ist; bei der
FDP war das nur ansatzweise der Fall.
({0})
Unterhaltsvorschuss bekommt ein Kind, wenn es bei
einem Elternteil lebt und der andere Elternteil keinen
Unterhalt zahlt. Ich will Ihnen einmal einen Fall aus dem
Leben schildern, der die Linke zur Vorlage dieses Gesetzentwurfs bewegt hat:
Ein Kind lebt bei seiner Mutter; der Vater zahlt keinen
Unterhalt; das Jugendamt leistet Unterhaltsvorschuss.
Die Mutter hat einen Verkehrsunfall und stirbt; denkbar
wäre auch: Sie wird psychisch krank, hat eine Depression und wird in eine Einrichtung eingewiesen. Zum Vater kann das Kind nicht. Das Kind soll ins Heim kommen, wird aber von der Großmutter aufgenommen: Es
ist ja schließlich ihr Enkelkind. Und wozu ist Familie
da? - Was macht das Jugendamt daraufhin? Es stellt die
Zahlung des Unterhaltsvorschusses ein.
Ich weiß - wir haben es im Ausschuss erörtert -, so
ein Fall ist für die CDU nicht vorstellbar.
({1})
Frau Möllring kennt aus Ihrer Erfahrung nicht einmal einen Fall, bei dem ein Kind nicht bei einem Elternteil
lebt.
Dieses Kind lebt nicht mehr bei einem Elternteil, sondern bei einem Großelternteil. Deshalb gibt es per Gesetz, so wie es gegenwärtig ist, kein Geld mehr. Gerade
das soll mit unserem Gesetzentwurf geändert werden.
({2})
- Nein, Marlene, heute nicht.
Was kann die Großmutter sonst machen? Für die
Doppelbelastung anderer Personen als des Elternteils
stehen die allgemeinen Jugendhilfeleistungen zur Verfügung. Diese Argumentation - das ist auch die Argumentation des Ministeriums - trägt aber nur teilweise.
Herr Kollege Wunderlich, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Rupprecht?
Das besprechen wir im Ausschuss.
Wollen Sie die Zwischenfrage jetzt zulassen oder
nicht?
Nein. - Pflegeltern beispielsweise erhalten nach § 39
SGB VIII sogenanntes Pflegegeld, sodass kein Bedarf
hinsichtlich eines Unterhaltsvorschusses entstehen kann.
({0})
- Zu Ihnen, Herr Singhammer, komme ich noch. - Zu
diesem Personenkreis gehört die Großmutter aber in aller
Regel nicht, weil sie ihr Enkelkind aus innerfamiliärer
Hilfsbereitschaft - es ist ja schließlich ihr Enkelkind aufnimmt.
({1})
Ich weiß, solche innerfamiliäre Hilfsbereitschaft geht
der SPD ab. Sie ist der Meinung, § 39 SGB VIII greife
immer. Aber selbst wenn dieser Paragraf greift, kann das
Pflegegeld aufgrund bestehender Unterhaltsverpflichtungen seitens der Großmutter nach § 1601 BGB - da
steht: „Verwandte in gerader Linie sind verpflichtet,
einander Unterhalt zu gewähren“ - angemessen gekürzt
werden. In jedem Fall bleibt die Tatsache, dass das Kind
seinen Anspruch auf Gewährung von Unterhaltsvorschuss verliert, wenn ein Großelternteil an die Stelle der
Mutter tritt. Insoweit stellt sich schon die Frage, ob die
alleinstehende Großmutter der belastenden Situation
ausgesetzt werden soll, die das Unterhaltsvorschussgesetz eben vermeiden will.
({2})
Nun kann bei Bedürftigkeit Sozialhilfe in Anspruch
genommen werden. Anspruchsinhaber auf den Unterhaltsvorschuss ist aber das Kind. Insoweit ist eine Bedürftigkeit der Großmutter nicht von Bedeutung.
({3})
Da sich weder der juristischen Literatur noch der Rechtsprechung Argumente entnehmen lassen, die einer Ausweitung des Berechtigtenkreises des § 1 Abs. 1 Unterhaltsvorschussgesetz entgegenstehen, sollte die Koalition
ihre Meinung zu den Voraussetzungen, um zum Berechtigtenkreis nach § 1 Abs. 1 Unterhaltsvorschussgesetz zu
gehören, in diesem begrenzten Sinne, wie es der Gesetzentwurf, vorsieht, einmal überdenken.
({4})
Die Linke will den in solchen Fällen betroffenen Kindern helfen. Helfen Sie mit! Da spreche ich jetzt insbesondere die SPD an.
({5})
Stimmen Sie dem Gesetz zu und lassen Sie diese Hilfe
nicht wieder an der Kinderfeindlichkeit der Großen
Koalition und Ihrer Hörigkeit in dieser Koalition scheitern! Hören Sie doch endlich einmal auf, der CDU/CSU
immer hinterherzuhecheln!
({6})
Nun noch ganz kurz zum Antrag der FDP, die Altersgrenzen anzuheben. Das wird ja von der Linken schon
seit eh und je gefordert. Insoweit ist das gut.
({7})
- Tun Sie nicht so erstaunt. Wir haben das schon oft im
Ausschuss gefordert. Es gab dazu sogar einen Antrag
von uns, der abgelehnt worden ist. Frau Laurischk, wo
waren Sie bei diesen Ausschusssitzungen?
({8})
Die entsprechenden Anträge sind also bisher immer
abgelehnt worden. Die FDP versucht jetzt das Gleiche
noch einmal, aber gleichzeitig unter Kürzung der
Bezugsdauer. Dazu kann ich nur sagen: Nicht mit uns!
({9})
Wenn bei Ihnen schon im Feststellungsteil der Kinderzuschlag erwähnt und bemängelt wird, frage ich mich, warum im Forderungskatalog keine entsprechenden Forderungen auftauchen. Ich kann dazu nur wieder feststellen:
Auch hier hat die FDP wieder einmal kein eigenes Konzept. Eigentlich schade; denn es geht ja um die Kinder.
Nun zu Ihren Ausführungen, Herr Singhammer, zum
Erziehungsgehalt: Kommen Sie einmal in der Realität
an!
({10})
Es gibt einen Bundesparteitagsbeschluss der Linken vom
25. Mai, der ein solches Erziehungsgehalt eindeutig ablehnt,
({11})
auch wenn das Ihren Wünschen und Vorstellungen - es
ist ja eine alte Zielvorstellung der CSU: Frauen an den
Herd und sie dafür ordentlich bezahlen - nicht entspricht.
({12})
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({13})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort der
Kollegin Marlene Rupprecht.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
hätte dieses Problem eigentlich gerne durch eine Zwischenfrage gelöst. Herr Kollege Wunderlich, wir arbeiten sonst eigentlich sehr kollegial zusammen, wenn es
um Kinder geht. Man sollte aber zumindest die Rechtslage kennen. Ich lese Ihnen einmal § 27 Abs. 2 a des
SGB VIII - Kinder- und Jugendhilfe - vor:
Ist eine Erziehung des Kindes oder Jugendlichen
außerhalb des Elternhauses erforderlich, so entfällt
der Anspruch auf Hilfe zur Erziehung nicht dadurch, dass eine andere unterhaltspflichtige Person
- unterhaltspflichtige Personen gibt es nur in direkter Linie, also Eltern und Großeltern, mehr nicht bereit ist, diese Aufgabe zu übernehmen; die Gewährung von Hilfe zur Erziehung setzt in diesem
Fall voraus, dass diese Person bereit und geeignet
ist, den Hilfebedarf in Zusammenarbeit mit dem
Marlene Rupprecht ({0})
Träger der öffentlichen Jugendhilfe nach Maßgabe
der §§ 36 und 37 zu decken.
Weitere Paragrafen, die hier zutreffen, sind die §§ 33,
36 und 39. Unterhaltspflichtige, die für ein Kind aufkommen müssten, werden also vom Jugendamt gefordert, wobei das Jugendamt die Fremdunterbringung bezahlen muss. Wenn hier irgendjemand etwas anderes
sagt, dann ist klar, dass er die entsprechenden Gesetze
zur Jugendhilfe und das Unterhaltsvorschussgesetz nicht
kennt.
({1})
Der Unterhaltsvorschuss ist keine Ersatzleistung bei
außerhäusiger Unterbringung. Für den Fall, dass ein
Kind außerhäusig bei Großeltern untergebracht wird, haben wir mit der letzten Reform der Jugendhilfe im § 27
SGB VIII den Abs. 2 a eingeführt, um damit die Verwandtenpflege abzusichern, also um dafür zu sorgen,
dass Großeltern, die dazu bereit sind, nicht bestraft werden. Dabei kann dann die Unterhaltspflicht der Großeltern anteilig mitberücksichtigt werden, aber mehr
nicht. Das Kind bekommt einen nach dem Alter abgestuften Barbetrag darüber hinaus. Ich bitte, dies einmal
zur Kenntnis zu nehmen.
({2})
Es ist schon wichtig, dass man Gesetze liest, bevor man
im Bundestag entsprechende Anträge stellt.
({3})
Herr Kollege Wunderlich zur Erwiderung.
Frau Kollegin Rupprecht, der Anspruch auf Unterhaltsvorschuss entfällt in dem Falle; es ist halt so. Die
übrigen Leistungen werden ersetzt.
Am Ende ist von Ihnen in einem konzilianten Nebensatz erwähnt worden, dass die Unterhaltsverpflichtungen
der Großeltern bestehen und dass sie angerechnet werden können. Sie werden auch angerechnet. So sind die
Fälle in der Praxis, und gerade um diese Fälle geht es in
unserem Gesetzentwurf.
Es soll ein minimaler Punkt angepasst werden, um
diese kleine Regelungslücke zu schließen. Trotzdem
sträuben Sie sich ohne Ende. Jedes Mal, wenn es eine
konkrete Problemlösung gibt - es handelt sich um Fälle
aus der Praxis -, dann zieht diese Koalition nicht mit.
Große Worte, keine Taten, das kennzeichnet die Kinderund Familienpolitik dieser Regierung im Hinblick auf
Kinderarmut.
({0})
Frau Rupprecht, Sie können darauf nicht erwidern.
Andere Redner Ihrer Fraktion können darauf noch eingehen.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Elisabeth Winkelmeier-Becker von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Überschriften der Anträge von Grünen und
FDP lassen eigentlich einiges erhoffen. Aber leider
kommt beim Weiterlesen schnell die Ernüchterung. Von
einem Gesamtkonzept zur Vermeidung von Kinderarmut
kann hier nicht die Rede sein.
Im Antrag der Grünen steht unter Punkt 2 - von der
Linken wurde es gerade wiederholt -:
Das Ausmaß der Kinderarmut wächst und die Regierung schaut untätig zu.
Da kann ich nur sagen: Sie haben einige Dinge einfach
nicht mitbekommen.
Werfen Sie doch einmal einen Blick in den neuen
Armuts- und Reichtumsbericht von Minister Scholz.
Er zeichnet das Bild der Armut anhand der Daten von
2004 und 2005.
({0})
Das ist der Zeitraum nach sieben Jahren grüner Regierungsmitverantwortung.
({1})
Ich finde es aber für diese Debatte nicht erhellend,
wenn wir uns mit gegenseitigen Schuldzuweisungen beglücken. Ich finde es auch nicht gut, wenn mit dem
Gestus der Empörung die Folgen von privaten Entscheidungen komplett der Regierung vor die Hütte gekippt
werden.
({2})
Wenn es beispielsweise auf privaten Entscheidungen
beruht, dass die Familien der türkischen Community
eine höhere Geburtenrate haben,
({3})
dann bedeutet das zwar, dass wir uns besonders darum
kümmern müssen, aber die Folgen sind der Regierung
nicht von vornherein anzulasten. Deshalb finde ich es
falsch, wenn dieses Thema mit dem Gestus großer Aufregung vorgetragen wird.
({4})
- Nein, das ist nicht die Konsequenz. Es hat vor allem
nicht die Konsequenz - das dürfen Sie nicht falsch verstehen -, dass wir uns diesem Problem nicht widmen
wollen. Aber dass bestimmte private Entscheidungen zu
bestimmten Problemen führen, darf nicht von vornherein
der Politik angelastet werden.
({5})
Seit 2005 haben sich die maßgeblichen Parameter für
die Erwerbstätigkeit von Eltern durchweg verbessert.
Wir haben die Vereinbarkeit von Familie und Beruf verbessert,
({6})
das Elterngeld eingeführt, die Absetzbarkeit von Kinderbetreuungskosten verbessert sowie den massiven Ausbau der Kinderbetreuung beschlossen und finanziert.
Wir stellen endlich auch die richtigen Weichen bei der
Fortentwicklung des Kinderzuschlags, vor allem mit einer geringeren Transferentzugsrate, was dazu führt, dass
von zusätzlichem Einkommen auch tatsächlich mehr
übrig bleibt.
Wir kümmern uns verstärkt um den Wiedereinstieg
von Frauen in den Arbeitsmarkt. Dank der guten Konjunktur - das zeigen die Zahlen - gibt es eine höhere
Chance, dass mehr Menschen eine bezahlte Arbeit finden. Das ist das Maßnahmenpaket, mit dem wir Eltern
zu mehr Einkommen verhelfen und damit Kinder aus der
Kinderarmut herausholen können.
({7})
Ihnen fällt dazu nur ein, noch mehr Ausbau der Kinderbetreuung und mehr Rechtsansprüche zu fordern.
Finanziert werden soll das durch Einsparungen beim
Ehegattensplitting in Höhe von 5 Milliarden Euro. Sie
möchten also Familien mit Kindern, die nachweislich
am meisten vom Ehegattensplitting profitieren, das Geld
wegnehmen,
({8})
und zwar unter der Überschrift: Vermeidung von Kinderarmut.
({9})
Das ist doch nicht logisch.
({10})
Als zweiten Punkt wollen Sie den Regelsatz für Erwachsene auf 420 Euro erhöhen. Gleichzeitig sollen
diese Familien aber kein Betreuungsgeld erhalten; denn
das würde den Anreiz setzen, Mütter vom Arbeitsmarkt
fernzuhalten. So ist Ihre Argumentation, die gerade noch
einmal vorgetragen wurde. Aber in der Argumentation
ist doch ein klarer Bruch. Wenn Sie in Bezug auf das Betreuungsgeld kritisieren, dass es gerade für die Falschen
lukrativ sei und den Anreiz zur Arbeit abschwäche
- auch beim Ehegattensplitting wird häufig so argumentiert -,
({11})
dann erzielen Sie doch genau den gleichen Effekt, wenn
die Transferleistungen erhöht werden, die es ohne eigene Erwerbstätigkeit und Anstrengung gibt. Wenn wir
diese baren Transferleistungen einfach nur deutlich erhöhen, dann schwächt das die eigene Initiative, finanziell wieder selbstständig zu werden.
Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Kurth von den Grünen?
Ja, bitte.
Bitte schön.
Vielen Dank. - Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass die Erhöhung des Regelsatzes dazu dient,
das Existenzminimum zu sichern, und wie bewerten Sie
den einstimmig gefassten Beschluss des Bundesrates
vom 23. Mai 2008, in dem die Bundesländer feststellen:
Der Bundesrat fordert die Bundesregierung auf, die
Regelleistung für Kinder nach dem SGB II sowie
die Regelsätze nach dem SGB XII unverzüglich
neu zu bemessen und als Grundlage dafür eine spezielle Erfassung des Kinderbedarfes vorzusehen.
Dabei ist auch sicherzustellen, dass die besonderen
Bedarfe der Kinder im Hinblick auf die Mittagsverpflegung in Ganztagsschulen oder Schulen mit
einem Bildungs- und Betreuungsangebot am Nachmittag … sowie bei der Beschaffung von besonderen Lernmitteln für Schülerinnen und Schüler …
abgedeckt werden.
Die Verhandlungsführung hatte - Sie kommen ja aus
Nordrhein-Westfalen - Herr Laumann.
Hätten Sie mich in meiner Rede fortfahren lassen,
wäre ich genau darauf zu sprechen gekommen, dass dies
alles für die Kinder durchaus anders bewertet werden
kann. Der Punkt, den ich gerade ausgeführt hatte, betraf
zunächst den für die Erwachsenen vorgesehenen Regelsatz. Wenn sich aus dem Existenzminimumbericht, dessen Vorlage wir im Herbst erwarten, Handlungsbedarf
ergibt, dann haben wir eine andere Faktenlage und dann
wird daraus eine Konsequenz zu ziehen sein. Lassen Sie
mich am besten einfach in meiner Rede fortfahren und
damit auf die Regelsätze für Kinder zu sprechen kommen!
({0})
Ich stimme Ihnen nämlich ausdrücklich darin zu, dass
wir darüber nachdenken müssen, ob die sehr schematische Bedarfsberechnung mit 60 Prozent und 80 Prozent
richtig ist. Denn als Mutter weiß ich, wie viel Kinder
verputzen können und was das bei den ansteigenden
Preisen bedeutet.
Weitergehende Barhilfen halte ich aber für kontraproduktiv; denn sie würden genau das subventionieren, was
politisch nicht gewollt ist: das dauerhafte Verharren in
der Arbeitslosigkeit und das Vererben von Armut. Da
wären Sachleistungen und Gutscheine im Prinzip die
bessere Alternative. Ich könnte mir da übrigens auch einen Anwendungsfall für das Betreuungsgeld vorstellen,
der Ihre Bedenken aufgreifen könnte.
Darüber hinaus kostet das alles aber Geld, und zwar
für Aufgaben, für die primär die Länder zuständig sind.
Auf Bundesebene gibt es im Moment wenig Spielraum.
Der Charme dieses Instruments wird aber auch in den
Reihen der Union gesehen.
Noch einen Bruch in Ihrer Argumentation muss ich
aufgreifen. - Ich sehe gerade, dass es hier blinkt.
Ich blinke, weil die Redezeit zu Ende ist.
In Deutschland sprechen wir allgemein bei einem
Einkommen von unter 50 Prozent des Medianeinkommens von Armut. Sie aber beschreiben Kinderarmut anhand der Zahlen von Leistungsbeziehern. Das impliziert,
dass das Beziehen von Leistungen mit Armut gleichzusetzen ist. Aber umgekehrt wird doch ein Schuh daraus:
Der Sozialstaat funktioniert. Gerade mit diesen Leistungen holen wir die Leute aus der Armut heraus.
({0})
Jetzt müssen Sie aber zum Schluss kommen.
Schade. So kann ich auf die positiven Vorschläge der
FDP zum UVG leider nicht mehr eingehen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Ekin Deligöz vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Winkelmeier-Becker, ich will direkt mit Ihrer
Kritik anfangen. Das Problem der jetzigen Koalition ist,
dass Sie im Moment Kinderarmut gar nicht vernünftig
konzeptionell angehen.
({0})
Ihnen liegen ein Bericht von Herrn Scholz und ein
Bericht von Frau von der Leyen vor. Frau von der Leyen
bezweifelt die Zahlen von Herrn Scholz, Herr Scholz die
von Frau von der Leyen, und Herr Glos bezweifelt einfach alle Zahlen. Sie führen eine reine Zahlendebatte.
Das hat aber überhaupt nichts damit zu tun, wie man
Kinderarmut konkret bekämpft.
({1})
Anstatt diese Zahlendebatte zu führen, sollten Sie sich
mit den Instrumenten beschäftigen. Das müssen Sie sich
vorwerfen lassen.
({2})
Wir brauchen ein Gesamtkonzept. Dieses Gesamtkonzept wird von zwei Säulen getragen. Das eine ist die
Kinderbetreuung zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie und damit zum Schutz gegen Kinderarmut. Das andere sind die materiellen Leistungen. Die Vereinbarkeit
von Beruf und Familie ist wichtig. Ja, Herr Singhammer,
auch wir sind für Wahlfreiheit. Aber Kinderbetreuung
dient nicht nur der Vereinbarkeit von Familie und Beruf.
Kinderbetreuung ist auch die frühe Förderung von Kindern, sei es in der Sprache, sei es in weiteren Kernkompetenzen. Vor allem für benachteiligte Kinder ist frühe
Förderung wichtig.
Wenn das Geld zu Hause knapp ist und die Eltern
dann vor der Entscheidung stehen, dann entscheiden sie
sich lieber für das Geld als für die frühe Förderung ihres
Kindes.
({3})
Das ist das Manko Ihres Betreuungsgelds. Sie können
das noch so sehr verneinen: Die Einführung des Betreuungsgelds wird dazu führen, dass Kinder eben nicht früh
gefördert werden, weil ihnen diese Förderungsinstrumente vorenthalten werden. Das ist nichts anderes als
eine reine Ideologiepolitik, die Sie hier durchzusetzen
versuchen.
({4})
Kommen wir zu dem anderen Instrument, das Sie vorschlagen, dem Kinderzuschlag. Wir hatten dazu im
Ausschuss eine Anhörung. Wissen Sie, was ich von dieser Anhörung mitgenommen habe? Dass der Kinderzuschlag nichts anderes als eine Mogelpackung ist.
({5})
Er ist Symbolpolitik, weil Sie nicht dazu bereit sind, ausreichend Geld in die Hand zu nehmen, um in diesem
Land wirklich etwas zu verändern. In diesem Fall sollten
Sie es lieber ganz lassen. Machen Sie keine Versprechungen, die Sie mit Ihren Taten nicht einhalten können.
({6})
Ich komme nun zu dem, was Sie gesagt haben, Herr
Wunderlich. Sie tun so, als ob Sie mit einer minimalen
Änderung im Unterhaltsvorschussgesetz Armut in
Deutschland bekämpfen könnten. Der Bezug des Unterhaltsvorschusses ist in Deutschland auf sechs Jahre begrenzt. Unser Problem ist aber nicht das Unterhaltsvorschussgesetz. Unser Problem ist, dass zwei Drittel
derjenigen, die unterhaltspflichtig sind, unterhaltssäumig
sind und das Geld erst gar nicht zahlen. Da müssen wir
sehen, wie wir die Menschen dazu bringen, den Unterhalt zu finanzieren und zu bezahlen.
({7})
Die komischen Vorschläge, die Sie machen, gehen
komplett an der Realität vorbei.
({8})
Mit dem Instrument des Unterhaltsvorschusses können
Sie die Armut nicht bekämpfen; das wissen Sie. Dieser
Vorschlag macht sich vielleicht in Ihren Wahlkreisbüros
gut, um sich in ein positives Licht zu rücken, aber mit
Armutsbekämpfung hat er rein gar nichts zu tun.
({9})
Ich komme zum Vorschlag der FDP. Sie schlagen vor,
die Freibeträge zu erhöhen. Wer profitiert davon? Davon profitieren doch nur diejenigen, die Steuern zahlen,
um die Freibeträge nutzen zu können.
({10})
Das sind aber nicht die Menschen, die von Armut betroffen sind oder das ALG II beziehen. Wer profitiert davon,
wenn das Kindergeld, wie Sie es fordern, auf 200 Euro
erhöht wird? Schließlich ist auch Ihnen aufgefallen, dass
die Freibeträge nur von einem Bruchteil der Menschen
in Anspruch genommen werden können.
({11})
Wie finanzieren Sie das? Woher nehmen Sie das
Geld? Wissen Sie überhaupt, was das kostet? Sie haben
gerade der Linken und auch uns vorgeworfen, wir wüssten nie, wie wir unsere Forderungen finanzieren.
({12})
Wie Sie Ihre „Träume“ finanzieren, sagen Sie uns aber
nicht.
({13})
Ich komme zu einem weiteren Punkt, der immer wieder angesprochen wird, das Ehegattensplitting. Über
dieses Thema werden wir noch lange diskutieren. In allen Fraktionen gibt es dazu verschiedene Positionen.
Aber eines müssen wir festhalten: Das Ehegattensplitting fördert nicht die Familie, sondern das Ehegattensplitting fördert die Ehe.
({14})
60 Prozent der Familien haben nichts, aber auch gar
nichts vom Ehegattensplitting. Es gibt nun einmal verschiedene Lebensformen in Deutschland, nehmen Sie
das zur Kenntnis. Es gibt nun einmal Verheiratete und
Unverheiratete mit Familie.
({15})
Es gibt Doppelverdiener, die aber nicht viel verdienen.
Sie profitieren überhaupt nicht vom Ehegattensplitting.
({16})
Dafür gibt es aber Menschen, die hervorragend verdienen und vom Ehegattensplitting maximal profitieren.
({17})
Dass diese Menschen dann bis zu 8 000 Euro mehr als
Nichtverheiratete bekommen, liegt daran, dass sie sich
für ein bestimmtes Lebensmodell entschieden haben. Es
darf uns aber nicht darum gehen, bestimmte Lebensmodelle zu bevorzugen, sondern wir müssen Kinder und
das Leben mit Kindern fördern. Dafür ist das Ehegattensplitting das falsche Instrument. Daran gibt es nichts zu
zweifeln.
({18})
Zusammengefasst sage ich Folgendes: Der Kampf gegen Kinderarmut beruht auf zwei Säulen. Wir brauchen
die Infrastruktur, wie den Ausbau der Kinderbetreuung für
die unter Dreijährigen, qualitativ hochwertige Angebote
und eine bessere Qualifizierung unserer Erzieherinnen.
Wir brauchen die Ganztagsschulen, deren Förderung aber
2009 ausläuft und die dank der Föderalismusstrukturreform nicht fortgesetzt werden kann. Wenn es um die
Fortführung der Ganztagsschulförderung geht, ist auch
die FDP gefordert.
Wir brauchen all dies, darüber hinaus brauchen wir
aber auch eine materielle Sicherung, vor allem auf der
untersten Ebene: Die ALG-II-Leistungen für Kinder
müssen neu berechnet werden. Vor allem müssen wir
aber eine Neustrukturierung der Leistungen ins Visier
nehmen; denn die gegenwärtige Leistungsstruktur dient
vor allem den Gut- und Besserverdienenden.
Dafür steht der Antrag der Grünen. Uns geht es nicht
darum, ein bestimmtes Familienmodell zu unterstützen,
sondern darum, Kinder direkt und effizient zu unterstützen.
({19})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Helga Lopez von der
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lassen Sie mich zu Beginn meiner Rede das Wort an
Herrn Wunderlich richten. Ich konnte vorhin leider keine
Zwischenfrage stellen; da ich jetzt rede, kann ich diesen
Punkt aber jetzt anbringen. Eines ist noch nicht gesagt
worden - Marlene Rupprecht hat es vorhin angedeutet -:
Das Pflegegeld beträgt in der untersten Stufe roundabout
650 Euro. Sie können doch nicht erwarten, dass zusätzlich Unterhaltsvorschuss gezahlt wird. Das ist nun wirklich nicht notwendig und deswegen auch nicht vorgesehen.
({0})
- Ich weiß nicht, wo der Fall, den Sie skizziert haben,
aufgetreten ist. Ich würde Ihnen empfehlen - schließlich
sind Sie Bundestagsabgeordneter -, zur Behörde zu gehen. Ich kenne einen solchen Fall nicht.
({1})
- Nein. Ich kann Ihnen schon jetzt sagen: Da stimmt etwas nicht. Gehen Sie zur Behörde und klären Sie das.
Dahinten sitzt Rolf Stöckel. Er kennt die Rechtslage aus
dem Effeff und kann Ihnen nachher bestätigen, dass auch
er einen solchen Fall noch nicht erlebt hat.
Zur Debatte über die vorliegenden Anträge: Den Antrag der FDP haben wir erst gestern erhalten, vor ziemlich exakt 24 Stunden. Wir hatten aber genug Zeit, um
ihn aufmerksam zu lesen. Eine Stelle in Ihrem Antrag
hat mir besonders gut gefallen. Im Antrag der Grünen
gibt es eine ähnliche Formulierung. Ich lese die beiden
Stellen einmal vor, weil sie eine Herzensangelegenheit
von mir betreffen; das gilt nicht erst seit heute. Im Antrag der Grünen heißt es:
So sind Kinder auch nicht per se arm, sondern die
Familien, in denen sie leben.
Im Antrag der FDP heißt es:
Kinder und Jugendliche sind arm, weil die Familien, in denen sie leben, arm sind.
Das kann ich unterschreiben. Das trifft den Kern. Deswegen sollten wir aufhören, von Kinderarmut zu sprechen. Familienarmut ist der treffendere Begriff.
({2})
Der Begriff Kinderarmut suggeriert leider - das will
ich deutlich sagen -, dass Eltern ihren Kindern nicht das
geben, was ihnen zusteht bzw. das Geld unverantwortlich ausgegeben wird. Das gilt für die weitaus größte
Zahl aller Fälle mitnichten.
({3})
Ich komme aus einem rein ländlichen Gebiet. Dort
sind viele Leute arbeitslos geworden, weil Firmen abgewandert oder in Konkurs gegangen sind. Die Zahl der
Arbeitslosen nimmt zwar auch dort inzwischen ab, aber
- und das ist der eigentliche Skandal in diesem Land innerhalb von zwei Jahren ist die Zahl der Bedarfsgemeinschaften - das sind Familien, die Zuzahlungen benötigen, obwohl die Eltern arbeiten gehen - von 1 200
auf über 3 000 gestiegen. Ich sage es noch einmal: Das
ist ein Skandal.
Dort, wo ich lebe, schämen sich arbeitslose, insbesondere langzeitarbeitslose, Menschen für ihre unverschuldete Situation. Sie tun alles, wirklich alles, damit wenigstens ihre Kinder nicht auf alles verzichten müssen.
Für sie bedeuten 5 Euro Kindergelderhöhung nicht eine
Packung Zigaretten, sondern ein paar Liter Milch. Aber
- auch das will ich sagen - sie bedeuten hier und da auch
die Möglichkeit, auf dem Flohmarkt eine gebrauchte
Markenklamotte, vielleicht sogar einen gebrauchten
Nintendo Gameboy zu kaufen. Denn Teilhabe bedeutet
in dieser Gesellschaft nicht nur die wichtige Teilhabe am
gesellschaftlichen Leben, sondern leider auch Teilhabe
an Statussymbolen. Diese Eltern wollen nicht, dass ihre
Kinder gehänselt und stigmatisiert werden, dass sie
„Assi“ genannt werden; so ist der Sprachgebrauch unter
Jugendlichen. Das ist schlimm und bleibt für diese Kinder leider nicht folgenlos.
Wenn man sich also anschaut, woher Armut in
Deutschland kommt, ist man unweigerlich und sofort bei
den prekären Beschäftigungsverhältnissen.
({4})
- Nicht bei der schlechten Politik, die wir machen. Sie
können das tausendmal wiederholen. Ich sage Ihnen:
Schauen Sie sich Berlin an. Dort sind Sie an der Regierung beteiligt. Verbessern Sie die Situation dort.
({5})
Wenn ich schon dabei bin, möchte ich noch sagen: Die
ersten privatgewerblichen Kindergärten gibt es in Berlin.
({6})
Sie sind also mitverantwortlich; Sie können sich nicht
rausreden.
Ich war gerade bei prekären Beschäftigungsverhältnissen, bei Dumpinglöhnen und bei den allgemein
schlechteren Bedingungen für Alleinerziehende. Ich
frage mich, Kolleginnen und Kollegen von der FPD: Wo
ist bei Ihnen die Forderung nach einem Mindestlohn?
({7})
Sie fordern die Einführung von Bürgergeld. Mir ist nie
klar geworden - ich habe viel dazu gelesen -, wem Bürgergeld nutzt. Ich habe den Eindruck, es nutzt nicht den
Bürgern, sondern den Unternehmen, die dann noch einfacher Dumpinglöhne zahlen können.
({8})
Sie sagen auch nicht, wie Sie das finanzieren wollen.
({9})
Wenn Sie den Umsatzsteuersatz auf 40 Prozent erhöhen
wollen, dann fordern Sie weiterhin ein Bürgergeld! Ich
weiß nicht, wie Ihre Forderungen finanziert werden sollen. Wir sollen den Staat entschulden, fordern Sie; das ist
eine vernünftige Forderung. Zeitgleich legen Sie jetzt
das größte Steuersenkungspaket auf, das ich bisher gesehen habe.
({10})
Frau Kollegin Lopez, kommen Sie bitte zum Schluss.
Einen Satz noch.
Ja, bitte.
Wer den höchsten Steuersatz auf 35 Prozent senkt - das
fordern Sie -, hat kein Geld, um die Familien ernsthaft
zu fördern. Das ist Fakt.
({0})
Jetzt hat das Wort die Kollegin Katharina Landgraf
von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Anträge bzw. der Gesetzentwurf der drei Parteien sehen, zumindest wenn man die Überschriften betrachtet, eigentlich gut aus. Man muss dafür sein. Denn
die Existenz von Kindern zu sichern und Familien zu
stärken, ist auf jeden Fall gut. Ich habe mir jetzt vor allen
Dingen die Anträge der Grünen und der FDP angeschaut. Ich stelle zum Beispiel fest, dass im Grünen-Antrag ein Mischmasch von Zuständigkeiten vorherrscht.
Die Verantwortung der Eltern fehlt. Darüber steht dort
überhaupt nichts.
({0})
Am meisten ärgere ich mich darüber, dass unter Punkt 2
im Antrag der Grünen steht, die Regierung schaue untätig zu.
({1})
Ich muss fragen: Haben Sie nichts erkannt? Haben Sie
nichts gemerkt? Waren Sie nie anwesend, oder wollen Sie
das aus strategischen Gründen verschweigen? Die Behauptung ist falsch, und wir können nachweisen - meine
Vorredner haben das schon gesagt -, was alles getan
wird und was wir weiterhin vorhaben.
({2})
Es wird zum Beispiel von zentralen Barrieren gesprochen, ohne das Wort zu erklären. Ich frage mich,
was Sie damit meinen. Meinen Sie eine bundespolitische
Barriere? Mir ist so etwas nicht bekannt.
Beim Antrag der FDP sieht es schon besser aus. Sie
haben einen besseren Bezug zu den Kompetenzebenen
der Länder und der Kommunen gefunden. Ebenso wie
bei den Grünen fehlt aber auch bei Ihnen die direkte Ansprache der Eltern. Haben diese eine Verantwortung?
({3})
- Das steht aber nicht definitiv im Antrag.
({4})
Auf Seite 2 steht ein interessanter Satz:
Die soziale Lage der Eltern darf nicht über den Bildungsweg der Kinder und Jugendlichen entscheiden.
Das stimmt.
({5})
Wir kommen jedoch nicht darum herum, zuzugeben,
dass die soziale Lage der Eltern letztlich doch entscheidet. Unsere Aufgabe ist es, die Eltern zu stärken und ihnen Kompetenzen an die Hand zu geben, damit die Kinder einen besseren Zugang zur Bildung erhalten.
({6})
Nun komme ich zu Aspekten, von denen ich hoffe,
dass andere sie noch nicht in dem Sinne angesprochen
haben. Ich denke aber ähnlich wie Sie, Frau Lopez. Wir
müssen mehr für die Eltern tun. Wir müssen die Kompetenz der Eltern erhöhen, denn wir dürfen nicht nur an
den Symptomen der viel beklagten Kinderarmut herumdoktern. Eltern brauchen Deutschland als ein familienfreundliches und kindergerechtes Land. Sie brauchen
ebenfalls familienfreundliche Gemeinden, Landkreise
und Bundesländer. Wir müssen hier klar äußern: Betreuungsangebote sind Ländersache. Die Kommunen haben
ebenso viele Kompetenzen. Durch unseren Gesetzentwurf zur Förderung von Kindern unter drei Jahren eröffnen wir die Möglichkeit, gemeinsam mit den Kommunen und den Ländern etwas für die Eltern zu tun. Auf
diesem Wege haben wir die Möglichkeit, den Kindern
die frühkindliche Bildung zuteil werden zu lassen, die
uns vorschwebt.
Eltern brauchen das Angebot einer hochkarätigen
frühkindlichen Bildung. In meinem Heimatland Sachsen
wurden in diesem Bereich schon erste Schritte getan.
Wie ich gehört habe, gilt das auch für andere Bundesländer, die auch die Mittel für die Weiterbildung von Erzieherinnen und Erziehern, die schon in Arbeit sind, erhöht
haben. Es wurde ebenfalls ein neues Programm für die
Ausbildung von Erzieherinnen aufgelegt. Ich finde es
toll, dass im FDP-Antrag auch von Erziehern die Rede
ist. Ich finde es super, dass man auch die Männer in diesem anspruchsvollen Beruf anspricht. Es tut unseren
Kindern gut, wenn sich auch Männer an ihrer Ausbildung und Betreuung beteiligen. Das soll auch ein Signal
unserer heutigen Debatte sein.
({7})
In Sachsen wird übrigens auch das Ganztagesschulprogramm weiter gefördert. Dort steht nicht nur das
Bundesprogramm im Blickfeld. Wir haben ein Landesprogramm, und Schulen werden mit Mitteln für Honorare ausgestattet und können entscheiden, welche
ehrenamtlich Tätigen und welche Experten weitere
Nachmittagsangebote an Ganztagsschulen anbieten. Ich
finde das gut.
({8})
- Lehrer auch, aber auch andere von außen, zum Beispiel aus den Vereinen.
({9})
Eltern brauchen eine familienfreundliche Arbeitswelt. Sie brauchen familienfreundliche Arbeitsplätze
und familienfreundliche Arbeitszeiten. Es gilt kein Anwesenheitsmythos. Vielmehr muss die Arbeitszeit vereinbart werden. Dann ist die Motivation junger Eltern
am größten. Auch die Unternehmer haben Vorteile, das
müssten diese erkannt haben. Wir brauchen auch eine
Arbeitsagentur, die auch Mütter mit mehreren Kindern
vermitteln kann und will. Wir brauchen Netze, die zum
Beispiel durch Mehrgenerationenhäuser, Nachbarn,
Freunde, Paten, Großeltern und ehrenamtlich Tätige gebildet werden.
({10})
- Nein, das ist nicht ein Wegschieben von Verantwortung. Liebe Frau Reinke, alle müssen sich dazu bekennen. Vielleicht haben Sie es selbst nicht erlebt, aber wir
praktizieren es und tragen dazu bei, dass Umfeld und
Netz funktionieren. Die Grünen haben in ihrem Antrag
von Eltern-Kind-Zentren gesprochen. Unser Mehrgenerationengedanke geht noch einen Schritt weiter, denn er
umfasst eine Generation mehr. Das müssen wir in unserer modernen Zeit mit ihrer mobilen Arbeitswelt fördern.
({11})
Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf wird es den
Eltern ermöglichen, ihren Kindern eine verantwortliche
Erziehung angedeihen zu lassen und ihnen aus der Familie heraus Selbstbewusstsein zu vermitteln. Die Familie
pflanzt das ein, was ein Kind braucht, nämlich die Neugier auf die Welt und einen Wissensdurst, der zuerst in
der Familie akzeptiert werden muss, um dann später von
uns, von der Öffentlichkeit, weiter gefördert zu werden.
Vielen Dank.
({12})
Das Wort hat jetzt der Kollege Rolf Stöckel von der
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als einer
der letzten Redner in dieser Debatte möchte ich hervorheben, dass heute wohltuend viele Gemeinsamkeiten
deutlich geworden sind. Wir teilen die Erkenntnisse,
dass das Thema Kinderarmut auf der Tagesordnung bleiben muss und dass wir alle - das gilt nicht nur für die
Mitglieder dieses Hauses, sondern auch für alle staatlichen Ebenen und gesellschaftlichen Institutionen sowie
für die Menschen im Lande - Verantwortung dafür tragen, die Kinderarmut in diesem reichen Land konsequent zu bekämpfen.
({0})
Es darf nicht immer nur darum gehen, welche Armutsrisiken in 20, 30 Jahren auf die Rentner zukommen, weil
wir unsere Hausaufgaben nicht gemacht und versäumt
haben, heute die notwendigen Investitionen in die zukünftigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu tätigen.
Es gibt Übereinstimmung, was die strukturellen
Veränderungen betrifft. Uns ist klar, dass wir die Kinderarmut nicht nur durch materielle Transferleistungen
bekämpfen können. Mit Ausnahme der Linken haben
wir deutlich gemacht, dass die Länder bei Bildung, Frühförderung, Elementarerziehung und Kinderbetreuung
Zuständigkeiten haben, dass wir aber gewillt sind, ihnen
zu helfen. Vor allen Dingen die alten Bundesländer sind
noch weit von der Erfüllung der Standards in diesem Bereich entfernt. Deshalb müssen unsere Anstrengungen
verstärkt werden.
Zur materiellen Existenzsicherung. Wir haben zugesichert, dass wir im Herbst dieses Jahres auf der Grundlage der Existenzminimumberichte über die Neufestlegung der Steuerfreibeträge für Kinder und damit auch
über die Höhe des steuerfreien Existenzminimums und
der Regelsätze der Grundsicherung, über die Pfändungsfreigrenzen usw. diskutieren. All dies muss dann angepasst werden.
Man kann sich darüber streiten, ob die Art und Weise,
wie die Transferleistungen erbracht werden, optimal ist.
Im Rahmen der Arbeitsmarktmaßnahmen und des
Grundsicherungssystems für Arbeitsuchende wird allerdings evaluiert, wie diese Maßnahmen wirken. Daher ist
es folgerichtig, auch dies zu überprüfen.
Ich möchte davor warnen, all die Maßnahmen, die im
Hinblick auf den Bürokratieabbau und die Herstellung
von Leistungsgerechtigkeit durch Pauschalierungen zu
Fortschritten geführt haben - das ist damals von allen
Seiten gefordert worden -, jetzt aus populistischen
Gründen zurückzunehmen. Ich bin der Meinung, dass es
Öffnungsklauseln für individuelle Hilfen und für Sachleistungen geben sollte. Diese sollten denjenigen zugute
kommen, die darauf angewiesen sind. Allgemeine
Rechtsansprüche nach dem Gießkannenprinzip einzuführen, lehne ich allerdings ab.
Ich denke, dass es nicht hilft, in einen Wettbewerb
über die Höhe der Transferleistungen einzutreten.
({1})
Mir ist kein Vorschlag bekannt, weder von den Linken
noch von den Wohlfahrtsverbänden noch vom DGB noch
von anderen, nach dem durch eine Erhöhung der Transferleistungen eine Senkung des Armutsrisikos - auf der
Grundlage der EVS liegt die Armutsrisikogrenze bei
936 Euro pro Monat - erreicht würde.
Wir haben die Grundsicherungssysteme als Armutsbekämpfungsinstrumente eingeführt. Uns ist klar, dass
die Hauptursache für die Armut von Kindern die Tatsache ist, dass ihre Eltern arbeitslos sind oder in prekären
Beschäftigungsverhältnissen arbeiten. Es ist richtig, in
diesem Bereich die vernünftige Politik, die die rot-grüne
Koalition in den letzten Legislaturperioden betrieben hat
und die wir Agenda 2010 genannt haben, fortzuführen;
denn sie hat zu positiven Ergebnissen geführt. Herr
Singhammer, die beste Botschaft lautet in der Tat: Die
Arbeitslosigkeit sinkt.
({2})
Wir müssen allerdings auch dafür sorgen, dass die Menschen, die arbeiten, vernünftige Löhne bekommen.
({3})
Bei allen Gemeinsamkeiten muss ich Ministerin von
der Leyen Folgendes sagen - sie ist im Moment zwar
nicht hier, aber vielleicht wird ihr das überbracht -:
Wenn man als Familien-, Frauen- und Jugendministerin
gute Arbeit und staatliche Mindestlöhne ablehnt, dann
betreibt man eine Politik, die vor allen Dingen gegen erwerbstätige alleinerziehende Frauen gerichtet ist.
({4})
Das zeigt die Erfahrung in Großbritannien: Zu 80 bis
90 Prozent kommt dieses Instrument alleinerziehenden
erwerbstätigen Frauen zugute.
Frau Gruß, ich finde in Ihrem Antrag viele richtige
Ansätze. Ich möchte Ihnen das Angebot machen, dass
wir uns zusammensetzen und das, was in der Tat nicht
nur im Bereich der Bildung und Förderung, sondern
auch im Bereich der Jugendhilfe an Strukturverbesserungen notwendig ist, gemeinsam mit der FDP umsetzen.
Am Samstag hat Ihr Parteivorsitzender, Guido Westerwelle, in München eine Rede gehalten und sich groß
darüber ausgelassen, dass Nächstenliebe von den Menschen ausgeht, dass der Staat sie nicht ersetzen kann,
dass er das nicht leisten kann. Gleichzeitig fordern Sie in
Ihrem Antrag nicht nur von der Bundesregierung, sondern vom Staat insgesamt, noch größere Anstrengungen
als bisher zu unternehmen. Dabei gab es unter Rot-Grün
und gibt es auch jetzt unter der Großen Koalition mehr
an staatlichen Familienleistungen als jemals zuvor. Entweder haben Sie den falschen Vorsitzenden,
({5})
oder Ihr Antrag ist eigentlich kein FDP-Antrag - diesen
Widerspruch müssen Sie in Ihrer Partei lösen!
({6})
Ich habe nicht mehr viel Redezeit, will aber noch anbringen: Ich respektiere Ihre Arbeit und die Ihrer Kolleginnen und Kollegen in der Kinderkommission des
Deutschen Bundestages. Es ist mir, der ich einmal Mitglied der Kinderkommission war, wichtig, darauf hinzuweisen, dass der konsensorientierte Ansatz einer Arbeit
für Kinder und Kinderrechte in diesem Hause notwendig
ist. Ich vermisse Ihre Initiative, aber auch eine gemeinsame Initiative aller Fraktionen, für ein Antragsrecht der
Kinderkommission in diesem Hause.
({7})
Ich vermisse - schließlich wollen Sie mit Ihrem Antrag
etwas für die materielle Sicherung von Kindern tun -,
dass Sie sich für eine Ausweitung der Rechte von Kindern aussprechen. Das heißt ganz klar: für die Einführung eines Kinderwahlrechts ab Geburt. Ich weiß, dass
da nicht alle klatschen können.
Herr Kollege Stöckel, ich habe Ihnen jetzt einen ausreichenden Kinderzuschlag gegeben; aber Sie müssen
jetzt zum Ende kommen.
Damit komme ich zum Schluss, Herr Präsident. - Es
reicht nicht aus, materielle Forderungen zu erheben.
Man muss Kindern und Familien die Rechte einräumen,
die andere selbstverständlich für sich in Anspruch nehmen. Deshalb gehören das Kinderwahlrecht und ein Antragsrecht der Kinderkommission auf die Tagesordnung,
und die Kinderrechte gehören ins Grundgesetz.
({0})
Wir werden noch lange über diese Fragen diskutieren.
Herzlichen Dank.
({1})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort der
Kollegin Miriam Gruß.
Sehr geehrter Herr Stöckel, als ehemaligem Mitglied
der Kinderkommission darf ich Ihnen in Erinnerung rufen, dass wir in der Kinderkommission über ein Antragsrecht der Kinderkommission im Deutschen Bundestag
beraten haben, dort aber das Einstimmigkeitsprinzip gilt.
Ich darf Ihnen mitteilen: Ich bin ebenso wie meine
Fraktion dafür. Ich kann Ihnen auch drei andere Fraktionen nennen, die dafür sind. Jetzt bleibt es dem Publikum
und Ihnen überlassen, zu überlegen, welche Fraktion in
der Kinderkommission nicht dafür ist und warum ich
mich ausgerechnet auf Ihren Redebeitrag zu Wort melde.
({0})
Herr Kollege Stöckel zur Erwiderung.
({0})
Herr Präsident! Frau Gruß, ich begrüße, dass die Unterstützung für dieses berechtigte Anliegen gewachsen
ist. Ich hoffe natürlich, dass das auch in meiner Fraktion
so ist.
({0})
Aber ich rede hier als Sozialpolitiker, nicht nur als jemand, der einmal Kinderbeauftragter seiner Fraktion
war. Die Beachtung der Kinderrechte muss natürlich
auch dazu führen, dass sich die materiellen Bedingungen
für Kinder verbessern, vor allen Dingen für diejenigen,
die es am nötigsten haben. Das muss durchgesetzt werden. Insofern begrüße ich Ihre Haltung, und ich biete Ihnen meine Zusammenarbeit gerne an.
({1})
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
hat nun die Kollegin Petra Hinz von der SPD-Fraktion
das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Gerade all diejenigen, die im Ausschuss für
Familie, Senioren, Frauen und Jugend zu Hause sind,
werden sich sicherlich wundern, dass ich als Haushälterin jetzt hier zu Wort komme. Erst einmal möchte ich
mich bei meiner Fraktion ganz herzlich dafür bedanken,
dass ich die Möglichkeit dazu habe. Wir wollen damit
deutlich machen, dass das, was hier heute besprochen
worden ist - Vorschläge, Initiativen usw. - auch umgesetzt werden muss.
Wir haben für uns die Marschrichtung, dass all die
heutigen Lippenbekenntnisse des einen oder anderen bei
den nächsten Haushaltsberatungen in Form von Anträgen Widerhall finden müssen. Es muss fiskalisch wiederzuerkennen sein.
Wenn ich das heute hier richtig verstanden habe, dann
sind wir uns darin einig, dass wir zur Beseitigung der
Armut deren Wurzeln bekämpfen müssen. Für mich haben sich hier heute zwei Lösungen herauskristallisiert:
Erstens ist das die Erwerbsarbeit für Eltern. Es ist
viel über den Mindestlohn, über die Verantwortung für
die Alleinerziehenden und diejenigen, die wieder in den
Beruf einsteigen wollen, gesprochen worden. All diese
Themen haben wir auch in den zurückliegenden Haushaltsberatungen auf den Weg gebracht.
Zweitens. Ich habe mir einmal die Mühe gemacht, herauszusuchen, welche Maßnahmen gegen Kinderarmut wir auf den Weg gebracht haben, um das hier heute
im Plenum deutlich zu machen: Kinderzuschlag, Elterngeld, Erziehungsgeld, Unterhaltsvorschuss. Im Gegensatz zur Regierung - in diesem Fall zur Ministerin - war
das Thema Kindergeld für uns kein Ruhekissen, sondern
ganz im Gegenteil - Frau Künast hat das vorhin schon
gesagt -: Während unserer Regierungsverantwortung ist
das Kindergeld gestiegen. Das möchte ich hier auch
noch einmal deutlich machen.
Allerdings sagen wir Sozialdemokraten nach den vielen Debatten, die im Fachausschuss stattgefunden haben,
auch Ja zur Förderung von Familien und Kindern, aber
nicht mit der Gießkanne. Erreichen wir das, was wir
wollen, tatsächlich durch eine Kindergelderhöhung,
({0})
oder müssen wir in diesem Bereich nicht noch wesentlich mehr auf den Weg bringen? Die Devise muss doch
sein: Das eine tun, ohne das andere zu lassen. Dies werden wir im Rahmen der Haushaltsberatungen auch tun.
Wir waren es, die für einen Rechtsanspruch auf Betreuung gesorgt haben. Das Kinderbetreuungsfinanzierungsgesetz ist auf den Weg gebracht und verabschiedet
worden. Ich sage es hier noch einmal: 4 Milliarden Euro
stehen zum Beispiel für den Ausbau der Betreuungsinfrastruktur und die Finanzierung von Betriebskosten zur
Verfügung.
({1})
Wir, der Bund, haben Wege gefunden, die Kommunen
und die Träger über das Land zu finanzieren und zu fördern.
({2})
Wie sehen denn die Wirklichkeit und die Praxis aus?
In meiner Kommune, der Stadt Essen, ziehen sich einige
kirchliche Träger gerade aus der gesellschaftlichen
Verantwortung, die wir alle haben, zurück. Aufgrund
von Finanz- und Wirtschaftsplänen aus dem Jahre 2001
schließen sie gerade Kindertageseinrichtungen in nicht
unerheblicher Zahl. Dies tun sie nicht, weil kein Bedarf
vorhanden ist, weil keine langen Wartelisten bestehen
oder aufgrund des Finanzierungskonzeptes, sondern weil
von den Bewerbern nicht der entsprechende Glaube vertreten wird. All diejenigen, die angemeldet worden sind,
sind Muslime, Nichtgläubige oder wie auch immer.
({3})
Sie haben eine gesellschaftspolitische Verantwortung.
({4})
Wir waren diejenigen, die hier Fördergelder zur Verfügung gestellt haben. Das Land und vor allem die Kommunen müssen finanziell entsprechend ausgestattet werden. Schauen Sie sich an, was alles beim Land klebrig
hängen bleibt,
({5})
dass das Land Nordrhein-Westfalen das KiBiz auf den
Weg gebracht hat, die Finanzierung aber im Prinzip den
Petra Hinz ({6})
Trägern überlassen wird, und dass dort Eltern, die möglicherweise nicht zu den Begünstigten gehören, ihren Kindern nicht mehr Zeit in Kindertagesstätten kaufen können. Das ist die Wahrheit.
Ich erwarte von der Regierung, der Ministerin und
auch Ihnen, Herr Staatssekretär Kues, dass Sie im Rahmen der Konferenzen zwischen Bund und Land genau
dies thematisieren, damit all die Punkte, die im Kinderarmutsbericht dargestellt worden sind, auch mit Leben
erfüllt und umgesetzt werden.
({7})
Wir wollen also keine Förderung mit der Gießkanne,
sondern werden im Rahmen der Haushaltsberatungen
das fortsetzen, was wir auf den Weg gebracht haben. Wir
haben die Programme zum Ausbau der Ganztagsschule,
das Ganztagsbetreuungsgesetz und das neue Elterngeld
auf den Weg gebracht. All dies kann sich sehen lassen.
Aber darauf können wir uns nicht ausruhen. Deshalb
freue ich mich sehr auf die Beratung im Haushaltsausschuss.
Ich bitte Sie, Herr Staatssekretär Kues, den Fachausschussmitgliedern und den Haushältern eine Auflistung
über alle Maßnahmen zu geben, die sich im Haushalt
und im Finanzkonzept widerspiegeln und deutlich machen, wo wir gemeinsam gegen Kinderarmut kämpfen.
Vielen Dank.
({8})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/9433 und 16/9028 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Damit
sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf
der Fraktion Die Linke zur Änderung des Unterhaltsvor-
schussgesetzes. Der Ausschuss für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend empfiehlt in seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 16/9440, den Gesetzentwurf der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/7889 abzulehnen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? -
Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Be-
ratung mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen
die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Stimmenthal-
tung der Fraktionen von Bündnis 90/Die Grünen und
FDP abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäfts-
ordnung die weitere Beratung.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 36 a sowie die Zu-
satzpunkte 2 a bis 2 c auf:
36 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainder
Steenblock, Jürgen Trittin, Omid Nouripour, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Die europäische Integration der Republik
Moldova unterstützen
- Drucksache 16/9358 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({0})
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 2 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Christian Ahrendt, Carl-Ludwig Thiele, Hans-Michael
Goldmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Optimaler Darlehensnehmerschutz bei Kreditverkäufen an Finanzinvestoren
- Drucksache 16/8548 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus
Löning, Michael Link ({2}), Florian Toncar, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
FDP
Europäisches Parlament stärken - Sitzfrage
durch Europaparlamentarier entscheiden lassen
- Drucksache 16/9427 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({3})
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried
Hermann, Dr. Anton Hofreiter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Vertrag über die Beteiligung von Kapitalanlegern an den Verkehrs-, Logistik- und zugehörigen Dienstleistungsgesellschaften der Deutsche Bahn AG durch externen Sachverstand
prüfen lassen
- Drucksache 16/9474 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({4})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten
Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Vorlage auf Drucksache 16/9358 zu
Tagesordnungspunkt 36 a federführend vom Auswärtigen Ausschuss beraten werden soll. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 37 a und 37 b sowie 37 d bis 37 n auf. Es handelt sich um die BeschlussVizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
fassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 37 a:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Bevölkerungsstatistikgesetzes
- Drucksache 16/9040, 16/9079 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({5})
- Drucksachen 16/9319 Berichterstattung:
Abgeordnete Kristina Köhler ({6})
Siegmund Ehrmann
Jan Korte
Silke Stokar von Neuforn
Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9319, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksachen 16/9040 und
16/9079 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen aller
Fraktionen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen aller Fraktionen angenommen.
Tagesordnungspunkt 37 b:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu dem Abkommen vom 8. November 2007
zwischen der Bundesrepublik Deutschland
und dem Königreich Saudi-Arabien zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom
Vermögen von Luftfahrtunternehmen und der
Steuern von den Vergütungen ihrer Arbeitnehmer
- Drucksache 16/9276 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({7})
- Drucksache 16/9459 Berichterstattung:
Abgeordnete Manfred Kolbe
Dr. Gerhard Schick
Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9459, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/9276 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit
in zweiter Beratung mit den Stimmen von CDU/CSU,
SPD und FDP bei Stimmenthaltung der Linken und der
Grünen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung: Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie zuvor angenommen.
Tagesordnungspunkt 37 d:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({8})
Änderung der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages
hier: Vereinbarung zwischen dem Deutschen
Bundestag und der Bundesregierung über die
Zusammenarbeit in Angelegenheiten der
Europäischen Union
- Drucksache 16/9400 Berichterstattung:
Abgeordnete Bernhard Kaster
Dr. Carl-Christian Dressel
Jörg van Essen
Dr. Dagmar Enkelmann
Volker Beck ({9})
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 37 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({10})
Sammelübersicht 415 zu Petitionen
- Drucksache 16/9323 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 415 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 37 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({11})
Sammelübersicht 416 zu Petitionen
- Drucksache 16/9324 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 416 ist bei Stimmenthaltung der Fraktion Die Linke mit den Stimmen der
übrigen Fraktionen angenommen.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Tagesordnungspunkt 37 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({12})
Sammelübersicht 417 zu Petitionen
- Drucksache 16/9325 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 417 ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen
der Linken bei Stimmenthaltung der Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 37 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({13})
Sammelübersicht 418 zu Petitionen
- Drucksache 16/9326 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 418 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 37 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({14})
Sammelübersicht 419 zu Petitionen
- Drucksache 16/9327 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist mit den Stimmen des
Hauses gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 37 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({15})
Sammelübersicht 420 zu Petitionen
- Drucksache 16/9328 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 420 ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen
der Linken bei Stimmenthaltung der Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 37 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({16})
Sammelübersicht 421 zu Petitionen
- Drucksache 16/9330 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 421 ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen
der Linken und der Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 37 l:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({17})
Sammelübersicht 422 zu Petitionen
- Drucksache 16/9331 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist mit den Stimmen von
CDU/CSU, SPD und Linken gegen die Stimmen von
FDP und Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 37 m:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({18})
Sammelübersicht 423 zu Petitionen
- Drucksache 16/9332 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 423 ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und Grünen gegen die Stimmen von FDP und Linken angenommen.
Tagesordnungspunkt 37 n:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({19})
Sammelübersicht 424 zu Petitionen
- Drucksache 16/9333 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht ist mit den Stimmen
von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der FDP
und der Grünen bei Enthaltung der Linken angenommen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Fünften
Gesetzes zur Änderung des Dritten Buches Sozialgesetzbuch - Verbesserung der Ausbildungschancen förderungsbedürftiger junger
Menschen
- Drucksache 16/8718, 16/9238 - Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({20})
- Drucksache 16/9456 Berichterstattung:
Abgeordneter Stefan Müller ({21})
- Bericht des Haushaltsausschusses ({22}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 16/9465 Berichterstattung:
Abgeordnete Steffen Kampeter
Waltraud Lehn
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Gesine Lötzsch
Alexander Bonde
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Parlamentarischen Staatssekretär Klaus Brandner das Wort.
({23})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Unsere Gesellschaft mit der sozialen Marktwirtschaft
lebt davon, dass sie Chancen eröffnet. Wenn sie zulässt,
dass junge Menschen, die sich bemühen, auf unüberwindliche Hürden treffen, dann wird sie langfristig ins
Wanken geraten, dann ist in unserem Land etwas nicht in
Ordnung.
Zu diesen Hürden gehört auch, dass junge Menschen
in ein Raster eingeteilt werden, ob sie für eine Ausbildung geeignet sind oder nicht. Wenn es um junge Menschen geht, finde ich eine solche Unterscheidung zynisch.
({0})
Jede und jeder verdienen eine Chance. Jede und jeder
sollen sich ihren Platz in der Gesellschaft erarbeiten können. Eines muss klar sein: Qualitativ gute Arbeit ist nur
durch eine gute Ausbildung möglich. Für die meisten Jugendlichen bleibt die Ausbildung der zentrale Weg in
Arbeit.
Deshalb bringen wir mit dem Fünften Gesetz zur Änderung des SGB III neue Maßnahmen mit einem wichtigen Anliegen auf den Weg, nämlich die Verbesserung
der Ausbildungschancen junger Menschen.
({1})
Ausbildungsbonus und Berufseinstiegsbegleitung sind
die Antwort auf zwei Probleme, die immer drängender
werden und die für viele zum Stolperstein geworden
sind, die schon lange auf einen Ausbildungsplatz warten.
Erstens. Zum einen ist es die enorm gestiegene Zahl der
Altbewerber. Zweitens. Zum anderen beobachten wir
wachsende Schwierigkeiten insbesondere für Jugendliche mit einem Hauptschulabschluss bei der Suche nach
einem betrieblichen Ausbildungsplatz.
Sicher, wir haben mit dem Ausbildungspakt eine deutliche Steigerung der Zahl der Ausbildungsplätze erreicht.
Immerhin gibt es über 625 000 neu abgeschlossene Ausbildungsverträge. Das ist der zweithöchste Wert, den wir
seit der Wiedervereinigung zu verzeichnen haben. Über
53 000 erstmalig ausbildende Betriebe sind ein Beleg
dafür,
({2})
dass sich die Anstrengungen in unserem Land gelohnt
haben. Das ist die gute Nachricht.
Die schlechte ist: Es gibt noch immer deutlich zu
viele Altbewerber.
({3})
Darum wollen wir eine zeitlich befristete Förderung von
Altbewerbern auf den Weg bringen. Bundesregierung
und Bundestag stimmen jedenfalls darin überein, dass
wir diejenigen Unternehmen unterstützen wollen, die zusätzliche Ausbildungsplätze schaffen und mit Jugendlichen besetzen, die als Altbewerber schon lange nach einem Ausbildungsplatz suchen.
({4})
Wir wollen mit dem Ausbildungspakt und dem Ausbildungsbonus allen eine Chance auf eine Ausbildung
geben, damit sich ihre Berufswünsche erfüllen und die
Suche nach einem Ausbildungsplatz zu einem guten Abschluss führt. Mit dem Ausbildungsbonus wollen wir in
den kommenden drei Ausbildungsjahren 100 000 Altbewerbern eine Chance zum Einstieg in das duale Ausbildungssystem eröffnen. Die Anhörung, die wir am
26. April dieses Jahres dazu durchgeführt haben, hat gezeigt
({5})
- stimmt, es war im Mai; schön, dass wir eine gute Koalition sind, in der man gegenseitig auf das Wesentliche
achtet; danke, Herr Kollege Brauksiepe -, dass unser
Anliegen, die Ausbildungsplatzlage durch unterstützende Maßnahmen zu verbessern, auf eine grundsätzlich
positive Resonanz gestoßen ist. Auch der Bundesrat
sieht Handlungsbedarf, wie die von ihm beschlossene
Gesetzesinitiative für ein Altbewerbergesetz zeigt.
Die Anhörung hat aber auch deutlich gemacht, dass es
schwierig ist, eine Lösung zu finden, die Fehlanreize und
Mitnahmeeffekte quasi zu 100 Prozent ausschließt. Wenn
aber Unternehmen ihrer Verantwortung nicht ausreichend nachkommen, dürfen darunter nicht die jungen
Menschen in unserem Land leiden, die heute auf der
Straße stehen.
({6})
Deshalb muss jetzt steuernd eingegriffen und mitgeholfen werden, auch für Altbewerber eine Ausbildung zu
organisieren. Genau das wollen wir mit dem Gesetz erreichen.
Wir haben nach der Anhörung Modifizierungen am
Gesetzentwurf vorgenommen und das Anliegen noch
klarer und fester verankert. Dabei ist die Förderung mit
dem Ausbildungsbonus kein Selbstzweck zur Unterstützung von Arbeitgebern. Wir wollen ausdrücklich allein
zusätzliche Anstrengungen unterstützen; denn wir brauchen noch deutlich mehr und zusätzliche betriebliche
Ausbildungsplätze für junge Menschen, die schon seit
längerem auf eine Chance warten. Nur durch zusätzliche
Ausbildungsplätze bleibt gleichzeitig die Chance für Bewerber des aktuellen Schulabgängerjahrgangs erhalten.
Ich sage ganz offen, dass im Zusammenhang mit der
Förderung oft von Mitnahmeeffekten die Rede ist. Wir
haben im Gesetzgebungsverfahren versucht, Mitnahmeeffekte so gut wie auszuschließen. Zu 100 Prozent sind
sie nie auszuschließen. Aber sollen wir die Chancen junger Menschen einfach unberücksichtigt lassen, nur weil
es Mitnahmemöglichkeiten gibt? Ich denke: Nein. Wir
müssen mutig sein. Insofern haben wir konsequent gehandelt.
({7})
Wir haben deshalb den Rechtsanspruch auf eine Förderung auf diejenigen konzentriert, die keinen Schulabschluss, einen Sonderschulabschluss oder einen Hauptschulabschluss haben.
Dazu werden Jugendliche berücksichtigt, die sozial
benachteiligt oder lernbeeinträchtigt sind. Wir haben die
Auszahlungsweise dem Vorschlag der Wirtschaftsverbände angepasst. Der Bonus wird zu 50 Prozent nach der
Probezeit und zu 50 Prozent bei der Anmeldung zur Abschlussprüfung gezahlt. Auch damit, dass bei Teilnahme
an einer Einstiegsqualifizierung beim selben Arbeitgeber
der Förderausschluss durch eine Anrechnungslösung ersetzt wird, sind wir dem Vorschlag der Wirtschaftsverbände gefolgt. Wir erhoffen uns jetzt, dass sie aktiv mithelfen, das Altbewerberproblem zu lösen. Wir verbinden
damit die Erwartung einer breiten Zustimmung, und wir
hoffen, dass der Weg jetzt frei ist, damit die Agenturen
für Arbeit nach der Beratung im Bundesrat im Juli zügig
die gesetzlichen Möglichkeiten umsetzen können. Wir
haben nämlich einen äußerst ehrgeizigen Zeitplan. Der
Ausbildungsbonus soll zu Beginn des Ausbildungsjahres 2008 voll wirken. Auch im Hinblick auf die Berufseinstiegsbegleitung - ein weiteres Element - und die
Auswahl der 1 000 Schulen brauchen wir ein schnelles
Verfahren, weil der Vorlauf sehr kurz ist.
({8})
Die Berufseinstiegsbegleitung hat im parlamentarischen Verfahren viel positive Resonanz erfahren, aber
auch ab und an Skepsis, und zwar deshalb, weil wir mit
dieser Initiative auch Gefahr laufen könnten, ehrenamtliche Initiativen zu verdrängen. Ich glaube, wir müssen
sehr sorgfältig mit dem Thema umgehen. Ich bin mir
aber sicher, dass es im Zuge der Umsetzung vor Ort gemeinsam mit Schulen, Arbeitgebern und all denen, die
auf diesem Gebiet bisher schon praktisch wertvolle Arbeit geleistet haben, gelingen wird, mehr Menschen in
eine Ausbildung zu bringen. Das Ziel der Integration
junger Menschen durch Ausbildung in die Arbeit ist dabei das wesentliche Ziel, das wir uns vorgenommen haben.
Deshalb darf ich sagen: Wir wirken mit all denen, die
dieses Ziel verfolgen, zusammen und sind auf einem
guten Weg. Alle können mit anpacken. Auch die Oppositionsparteien können mit anpacken, indem sie diesem
guten Gesetzentwurf ihre Unterstützung nicht versagen.
Ich hoffe jedenfalls auf eine breite Unterstützung und
darauf, dass viele junge Menschen wieder eine Zukunftschance haben.
Herzlichen Dank.
({9})
Das Wort hat nun Jörg Rohde, FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Herr Staatssekretär, ich habe Ihre Rede
sehr aufmerksam verfolgt, und Sie haben ab und zu Beifall über die Fraktionsgrenzen hinweg bekommen, auch
von der FDP.
({0})
Wir stimmen im Ziel überein, aber ich habe vermisst,
dass Sie darauf hinweisen, wer am Ende die Zeche zahlt.
({1})
Das ist ein entscheidender Punkt, um das in meiner Rede
vorweg zu nehmen. Sie hätten schon sagen sollen, wer
zahlt. Ich komme darauf zurück.
Wir haben im April in erster Lesung gemeinsam über
den sogenannten Ausbildungsbonus beraten. Wir Liberale hatten Ihnen von der Großen Koalition signalisiert,
dass wir das Ziel Ihres Ansinnens mittragen.
({2})
Auch die FDP hält es für richtig, förderungsbedürftigen
Jugendlichen, die schon seit Jahren einen Ausbildungsplatz suchen, durch einen Arbeitgeberzuschuss eine
Chance für eine betriebliche Berufsausbildung zu geben.
Aber wir haben Ihnen von der Union und der SPD auch
unsere Bedenken mitgeteilt. Der Bonus schien uns weder hinreichend zielgenau auf die wirklichen Problemfälle zugeschnitten, noch konnte der Entwurf Mitnahmeeffekte bei den Arbeitgebern wirklich verhindern. Vor
allem aber hatten wir von der FDP darauf hingewiesen,
dass die Verbesserung der Ausbildungschancen Jugendlicher keine Aufgabe der Arbeitslosenversicherung, also
allein der angestellten Erwerbstätigen, ist, sondern dass
wir dies als eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe sehen,
die ergo aus Steuermitteln zu finanzieren wäre.
({3})
In der folgenden Anhörung des Bundestagsausschusses
für Arbeit und Soziales haben die Experten unsere Kritik
mehrheitlich bestätigt.
Meine sehr geehrten Damen und Herren der Regierungskoalition, die Hausaufgaben für Sie waren glasklar:
Erstens. Nur die Jugendlichen fördern, die aus eigener
Kraft keine Chance auf einen Ausbildungsplatz haben.
Zweitens. Echte Anreize zum Abschluss der Ausbildung
setzen und damit Mitnahmeeffekte vermeiden. Drittens.
Die Arbeitslosenversicherung nicht mit versicherungsfremden Ausgaben belasten.
Werte Kolleginnen und Kollegen von Schwarz-Rot,
Ihre gestern im Bundestagsausschuss für Arbeit und Soziales präsentierten Lösungen für diese Aufgaben bleiben weit hinter unseren Erwartungen und auch den Ratschlägen der Sachverständigen zurück.
({4})
Sie erweisen sich leider selbst als lernbeeinträchtigt: Der
Anhörung im Ausschuss konnten Sie ganz offensichtlich
nicht in Gänze folgen; sonst wären Sie bei der Korrektur
Ihres eigenen Gesetzentwurfs nicht auf halbem Wege
stehen geblieben. Ich prophezeie Ihnen deshalb: Viele
von Ihnen werden in dieser Verfassung die Versetzung in
die nächste Legislatur wohl nicht schaffen.
Es ist paradox: Die Regierung erwartet von den Betrieben und Unternehmen, dass diese mehr Ausbildungsplätze anbieten, insbesondere für schwer in Ausbildung
vermittelbare Jugendliche. Aber wenn die Arbeitgeber in
einer Bundestagsanhörung erläutern, wie eine Fördermaßnahme für die betroffene Gruppe aussehen sollte,
gehen die Regierungsfraktionen über diese Anregung
hinweg.
Selbst der Deutsche Gewerkschaftsbund, der nicht gerade als treuer Gefährte der BDA bekannt ist, steht hier
eng an der Seite der Arbeitgeber und hat vor der heutigen Debatte noch einmal eindringlich davor gewarnt,
den Kreis der Förderberechtigten zu weit zu fassen.
({5})
Statt einer Gießkannenförderung brauchen wir ein Instrument, das eindeutig auf die schwächsten Jugendlichen ausgerichtet ist. Jede andere Lösung wird zur Rosinenpickerei durch die ausbildenden Unternehmen auf
dem Markt förderberechtigter Jugendlicher führen. Die
Koalition hat mit diesem Gesetzentwurf einige kleine
Schritte in die richtige Richtung gemacht. Das erkennen
wir ausdrücklich an. Sie haben aber nicht den Mut aufgebracht, einigen Jugendlichen zu sagen: Du hast es aus
verschiedenen Gründen nicht leicht, kannst es aber dennoch aus eigener Kraft schaffen. Vor allem von den Kollegen der CSU und der CDU hätte ich hier mehr erwartet.
Ihrem Ausbildungsbonus fehlt auch ein wichtiger Erfolgsanreiz. Wir von der FDP haben vorgeschlagen, die
zweite Hälfte des Bonus erst dann auszuzahlen, wenn
der Auszubildende die Abschlussprüfung absolviert hat.
Ausdrücklich wollen wir Liberale die Förderung nicht an
ein Bestehen der Prüfung knüpfen; aber es muss gewährleistet sein, dass die Ausbildung abgeschlossen wird.
Gerade bei den förderbedürftigen Jugendlichen ist die
Quote der Ausbildungsabbrecher sehr hoch. Wir müssen
den Unternehmen hier also einen Anreiz bieten, ihre
Schützlinge auch wirklich bis zum Ende bei der Stange
zu halten.
({6})
Deshalb sollte die letzte Rate des Bonus erst dann ausgezahlt werden, wenn der Auszubildende die Abschlussprüfungen tatsächlich in Angriff genommen hat.
Neben diesen inhaltlichen Mängeln ist es aber vor allem ein ordnungspolitischer Fauxpas, der uns Liberale
zur Ablehnung dieses Gesetzentwurfs zwingt; ich habe
schon darauf hingewiesen. Auch von zahlreichen Sachverständigen haben Sie von Schwarz-Rot sich nicht davon abbringen lassen, das Instrument aus Beitragsmitteln der Bundesagentur für Arbeit finanzieren zu wollen.
Wir reden hier von Jugendlichen, die noch nie einen
einzigen Cent in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt haben. Wir reden hier von Jugendlichen, die keine
adäquaten Schulabschlüsse haben. Wir reden hier von
Jugendlichen, die eine Lernbeeinträchtigung haben oder
sozial benachteiligt sind.
({7})
Der Ausgleich all dieser Ausbildungshemmnisse ist eine
gesamtgesellschaftliche Aufgabe,
({8})
muss also von allen gestemmt werden, nicht nur von den
Beitragszahlern der Arbeitslosenversicherung.
({9})
Nicht nur der FDP, sondern auch der Mehrheit der
Sachverständigen in der Anhörung ist schleierhaft, warum die Koalition hier die Kasse der Bundesagentur
plündern will. Mit einem solchen Griff ins Portemonnaie
der Beitragszahler nehmen Sie von Union und SPD dem
Parlament weiteren Spielraum, den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung zu senken und damit den Faktor Arbeit insgesamt von den hohen Lohnnebenkosten zu entlasten. Die FDP hält bei der Arbeitslosenversicherung
einen Beitragssatz von weniger als 3 Prozent für möglich.
({10})
Mit dem Gesetz zum Ausbildungsbonus steuert die Bundesregierung nun in die Gegenrichtung. Dies hätten wir
gerne vermieden.
Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag hat
die Zeit zwischen erster und dritter Lesung für eine Umfrage genutzt. 12 000 Unternehmen haben online zum
Thema Ausbildungsplätze abgestimmt. Die Ergebnisse
der Umfrage dürften Sie von der großen sozialdemokratischen Koalition überrascht haben - für die FDP waren
sie absehbar -: 85 Prozent der Unternehmen haben erklärt, dass der Ausbildungsbonus ihre Ausbildungspläne
überhaupt nicht beeinflusst. Von den gerade einmal
5 Prozent der Betriebe, die mit dem Bonus einen neuen
Ausbildungsplatz schaffen wollen, sind die meisten im
Gastgewerbe und im Handel aktiv, also dort, wo ohnehin
traditionell schlechter qualifizierte Bewerber ausgebildet, aber häufig nicht übernommen werden. Ich hatte
heute Morgen selber einen Anruf von einem Unternehmer. Ich habe ihn direkt gefragt: Wie sieht’s aus? Wirst
du mit diesem Instrument arbeiten? Antwort: Nein;
({11})
ich mache Ausbildungsplätze nur dann, wenn sie Aussicht auf Erfolg haben.
({12})
- Das war nicht repräsentativ. Ich konnte nur eine Stichprobe machen. Aber die Umfrage bei den 12 000 war repräsentativ. - Diese ernüchternde Aussage darf aber
nicht als Destruktivität der Unternehmen bewertet werden.
Klipp und klar haben die Unternehmen erklärt, welche Maßnahmen sie stattdessen von der Politik erwarten.
Ganz oben steht dabei der Wunsch nach einer besseren
schulischen Vorbildung der Bewerber. Fast zwei Drittel
der Unternehmen haben Schwierigkeiten mit dem Bildungsstand der Jugendlichen. Hier liegt das eigentliche
Problem: Zu viele Jugendliche verlassen die Schule ohne
hinreichende Ausbildungsreife. Wer dieses Problem löst,
meine Damen und Herren, braucht sich später keine Gedanken um Ausbildungsplätze und Fachkräftemangel zu
machen.
({13})
Ich bringe die Position der FDP in einem Satz auf den
Punkt: Die FDP lehnt den Griff in die Kasse der Arbeitslosenversicherung und damit der Beitragszahler ab und
wird deshalb bei aller Sympathie für das Anliegen dem
vorliegenden Gesetzentwurf nicht zustimmen.
Vielen Dank.
({14})
Das Wort hat nun Franz Romer für die CDU/CSUFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Wir können mit dem nun vorliegenden Gesetzentwurf zum Ausbildungsbonus zufrieden
sein. Damit werden wir den Sockel der Altbewerber zielsicher abbauen, ohne bestehende Ausbildungsplätze zu
gefährden.
({0})
Wir werden einem großen Teil der sogenannten Altbewerber die Chance geben, einen Ausbildungsplatz zu
finden und den Übergang von Schule zu Beruf zu schaffen. Damit geben wir ihnen vor allem die Möglichkeit,
für ihr weiteres Leben Eigenverantwortung zu übernehmen. Kein anderer Faktor führt zwangsläufig so sicher
zu Hartz IV und Arbeitslosigkeit wie eine fehlende Berufsausbildung. Es muss unser Ziel sein, jedem Schulabgänger eine Berufsausbildung zu ermöglichen.
({1})
Herr Kollege Rohde, jeder anschließend Beschäftigte
leistet dann Beiträge zur Arbeitslosenversicherung
({2})
und bezahlt damit seinen Bonus über die Jahre wieder
zurück. Deshalb ist die Finanzierung über die BA auch
voll gerechtfertigt.
({3})
Wir alle wissen, dass die Anforderungen der Ausbildungsbetriebe heute sehr hoch sind. Letztlich braucht die
Wirtschaft aber auch gut qualifizierte Arbeitskräfte. Mit
dem Ausbildungsbonus und der Berufseinstiegsbegleitung vermitteln wir zwischen dem hohen Anspruch der
Betriebe und den vorhandenen Fähigkeiten der Schulabgänger. Aus meinem Wahlkreis weiß ich, dass viele Jugendliche die Schule mit nur mittleren oder unterdurchschnittlichen Ergebnissen verlassen. Dann kommt es
schnell zu Benachteiligungen bei der Ausbildungsplatzsuche. Das wird nun nicht mehr so leicht passieren.
Ich will hier einen wichtigen Punkt ansprechen: Wir
müssen sicherstellen, dass nur zusätzliche Ausbildungsplätze gefördert werden. Missbrauch muss verhindert
werden. Das Gesetz trägt diesem Problem ausreichend
Rechnung. Ein Ausbildungsplatz gilt nur dann als zusätzlich, wenn damit die durchschnittliche Zahl der Ausbildungsplätze der letzten drei Jahre überschritten wird.
Bleibt die Zahl der Plätze konstant, wird nicht gefördert.
Wir können gut mit den Kammern zusammenarbeiten,
um Missbrauch grundsätzlich zu verhindern. Durch den
Ausbildungsbonus hat kein Neubewerber schlechtere
Chancen gegenüber Altbewerbern.
Ich bin sehr froh darüber, dass wir mit diesem Gesetz
gleichfalls die Berufseinstiegsbegleitung einführen sowie die vielen ehrenamtlichen Projekte und die Partnerschaften zwischen Betrieben und Schulen unterstützen.
Eine konsequente Begleitung bei der Berufswahl,
beim Übergang von Schule zu Beruf und zu Beginn der
Ausbildung ist besonders für Jugendliche mit mittleren
und schlechteren Schulabschlüssen wichtig.
({4})
Mit Beendigung der Schule können sich junge Menschen erstmals nach ihren Fähigkeiten und Leistungen
frei für einen Beruf entscheiden. Hier müssen wir im Bedarfsfall in der Lage sein, zu helfen. Dafür schaffen wir
nun die Grundlage.
In diesem Zusammenhang möchte ich noch einmal
betonen, dass wir auch eine Förderung von Zweitausbildungen mit dem Ausbildungsbonus als Ermessensleistung zulassen. Damit kann gerade denjenigen, die während der Ausbildung Probleme hatten, eine neue,
zusätzliche Chance gegeben werden, einen passenden
Ausbildungsplatz zu finden. Wir können es uns nicht
leisten, dass motivierte Auszubildende wegen des Abbruchs einer Ausbildung, die ihren Fähigkeiten und Interessen vielleicht nicht entsprach, ihr Leben lang benachteiligt sind.
Die Anhörung zum Gesetzentwurf hat gezeigt, dass
wir auf dem richtigen Weg sind. Die Experten haben das
Vorhaben der Koalition begrüßt. Kritisiert wurden aber
einzelne Punkte, wie die breite Zielgruppe der Förderung sowie die fehlende Vereinbarkeit von Einstiegsqualifizierung und Förderung. Hier haben wir nachgebessert.
({5})
Das Gesetz sieht nun vor, dass der Ausbildungsbonus
für Auszubildende mit mittlerem Schulabschluss nur
noch als Ermessensleistung gewährt wird und kein direkter Anspruch auf diese Leistung besteht.
Auch bei der Einstiegsqualifizierung beim selben Arbeitgeber gibt es nun eine Anrechnungslösung.
Die Auszahlungsbedingungen sind ebenfalls angepasst worden. Nun wird der Bonus zur einen Hälfte nach
Ablauf der Probezeit und zur anderen Hälfte nach Anmeldung zur Abschlussprüfung ausgezahlt. So erreichen
wir, dass abgebrochene Ausbildungsverhältnisse nicht
weiter gefördert werden und für beide Seiten Anreize bestehen, eine Ausbildung auch zu Ende zu führen.
Ich bin mit der gefundenen Lösung sehr zufrieden.
Der Anteil von mehr als 50 Prozent Altbewerbern ist auf
Dauer nicht vertretbar,
({6})
wenn wir international wettbewerbsfähig bleiben wollen. In Deutschland können wir kaum noch rentable Arbeitsplätze halten, die ohne eine hochwertige Ausbildung auszufüllen sind. Also helfen wir nicht nur den
Jugendlichen in ihrer individuellen Entwicklung, sondern auch den Betrieben. Für die Zukunft ersparen wir
der Allgemeinheit die hohen Kosten der Arbeitslosigkeit
und sichern zusätzlich qualifizierte Arbeitskräfte für unsere Wirtschaft.
Ich bin überzeugt, dass die Einführung des Ausbildungsbonus günstiger und effizienter sein wird, als eine
große Zahl von Bewerbern außerbetrieblich auszubilden.
Herzlichen Dank.
({7})
Das Wort hat nun Cornelia Hirsch, Fraktion Die
Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wer ausbildet, soll unterstützt werden; wer nicht ausbildet, soll zahlen. Das ist das ebenso einfache wie gerechte
Prinzip einer gesetzlichen Ausbildungsplatzumlage.
({0})
Gerecht ist dieses Prinzip gleich doppelt:
Erstens, weil es einen Ausgleich schafft zwischen den
Unternehmen, die ausbilden, und den Unternehmen, die
nicht ausbilden. Ein Unternehmen, das nicht ausbildet,
kann dann nämlich nicht mehr, ohne irgendwelche Konsequenzen befürchten zu müssen, dem Unternehmen,
das ausbildet, die fertig ausgebildeten Fachkräfte wegschnappen.
({1})
Gerecht ist es zweitens, weil es Zukunft für die Jugendlichen sichert. Es kann nämlich gesetzlich dafür gesorgt werden, dass es ein auswahlfähiges, also ein ausreichendes Angebot an Ausbildungsplätzen für alle
Jugendlichen gibt. Deshalb sagt die Linke weiterhin: Die
Forderung nach einer gesetzlichen Ausbildungsplatzumlage ist nicht vom Tisch. Daran halten wir weiter fest.
({2})
Sie legen uns heute den Ausbildungsbonus vor. Dieser Bonus folgt leider geradewegs dem entgegengesetzten Prinzip; er ist gleich doppelt ungerecht. Erstens ist er
ungerecht, weil er die Unternehmen für ihre jahrelange
Ausbildungsverweigerung auch noch belohnt.
({3})
Man kann sich ein konkretes Beispiel anschauen: Ein
Unternehmen hatte letztes Jahr die Bewerbung eines
Hauptschülers vorliegen. Aber da es einen Ausbildungsplatz wegrationalisiert hatte, konnte er in dem Jahr nicht
ausgebildet werden. In diesem Jahr bekommt das Unternehmen eine erneute Bewerbung des Jugendlichen und
stellt ihn ein. Dafür bekommt es von Ihnen auch noch
eine Prämie zwischen 4 000 und 6 000 Euro überwiesen.
({4})
Da fragen wir uns: Ist es in irgendeiner Form gerecht,
ein Unternehmen dafür zu belohnen, dass es einen Jugendlichen ein Jahr einfach so im Regen hat stehen lassen? Das finden wir nicht richtig. Ausbildung ist keine
Wohltätigkeit von Unternehmen; Ausbildung ist Pflicht.
({5})
Zweitens ist der Ausbildungsbonus ungerecht, weil er
keine nachhaltige Zukunftsperspektive für die Jugendlichen bietet. Denn mit diesem Gesetz tun Sie mal wieder
nichts weiter, als an den Symptomen herumzudoktern,
anstatt endlich einmal die Ursachen für die Ausbildungsmisere anzugehen.
({6})
Im aktuellen Berufsbildungsbericht steht die erschreckend hohe Zahl von 385 000 Jugendlichen, die mindes17540
tens - zum Teil deutlich länger - ein Jahr auf der Suche
nach einem Ausbildungsplatz sind. Diese erschreckend
hohe Zahl von 385 000 Jugendlichen ist kein Zufall oder
hat ihre Ursache in der Dummheit der Betroffenen, sondern sie ist das konkrete Ergebnis der Ausbildungspolitik der letzten Jahre.
({7})
Deswegen kann es nicht heißen: Wir machen einfach
weiter mit dem Pakt. - Denn dieser Pakt ist gescheitert;
er ist für diese hohe Zahl von Jugendlichen ohne Ausbildungsplatz verantwortlich. Man kann auch nicht nach
dem Motto „Weiter so!“ fortfahren, nichts gegen die
Warteschleifen zu unternehmen. Denn Jugendliche brauchen Ausbildungsplätze.
({8})
Es gibt natürlich noch eine zweite Lesart für diesen
Ausbildungsbonus. Man kann ihn auch als ein Förderinstrument verstehen. Zumindest versuchen Sie, dies deutlich zu machen; denn schließlich trägt der Gesetzentwurf
den Titel „Verbesserung der Ausbildungschancen förderungsbedürftiger junger Menschen“. Das Problem daran
ist nur, dass diese Förderung zwar im Titel enthalten ist,
aber der Inhalt des Gesetzes dies nicht widerspiegelt.
Wiederum ganz konkret: Wenn Ihre Zielgruppe wirklich die Jugendlichen sind, die förderungsbedürftig sind
und die demnach einer Unterstützung bedürfen, dann
frage ich Sie: Was ist das für eine Unterstützung dieser
Jugendlichen, wenn Sie ein paar Tausender an ihre Arbeitgeber überweisen? Das ist keine Unterstützung. Darum halten wir diesen Ansatz als Förderungsinstrument
für nicht schlüssig.
({9})
Wenn Sie den Ausbildungsbonus tatsächlich zu einem
Förderinstrument hätten ausbauen wollen, dann hätten
Sie besser auf die Meinung der Sachverständigen in der
Anhörung hören müssen. Das hätte bedeutet:
Erstens. Die Zielgruppe wäre deutlicher eingegrenzt,
als Sie es tun. Der einzige Punkt, an dem Sie nachgebessert haben, war, die Realschüler aus der Pflicht- in die
Ermessensleistung zu nehmen, was aus unserer Sicht in
keinem Fall ausreichend ist.
({10})
Zweitens. Sie hätten ausbildungsbegleitende Hilfen
ganz klar als verbindlichen Anspruch im Gesetz verankern müssen. Ansonsten klappt es eben nicht, dass der
Jugendliche, der in dieses Programm gesteckt wird, auch
wirklich die Hilfe erhält, die er braucht.
({11})
Drittens. Sie hätten auch klarstellen müssen, dass für
eine zweijährige Ausbildung nicht die gleiche Prämie
gezahlt wird wie für eine dreijährige Ausbildung, wie es
bisher geregelt ist. Damit wird eine Schmalspurausbildung gefördert. Auch an dieser Stelle macht die Linke
nicht mit.
({12})
Aus all diesen Gründen halten wir den Ausbildungsbonus für kein taugliches Förderinstrument. Wir sagen
Nein zu diesem ungerechten Ansatz und stehen weiter
für das Recht auf Ausbildung, wie es auch in der Petition
von über 70 000 Jugendlichen gefordert wurde.
({13})
Diese Woche war sehr ermutigend; denn sie hat gezeigt, dass solche Forderungen durchaus Erfolg haben
können. Schauen wir uns die Situation in Hessen an. Die
Studierenden haben dort nicht hingenommen, dass Studiengebühren eingeführt wurden.
({14})
Sie haben dagegen protestiert, Autobahnen blockiert und
Rektorate besetzt. Das Ergebnis ist, dass der Landtag in
Hessen vorgestern mit Mehrheit beschlossen hat, die
Studiengebühren wieder abzuschaffen.
({15})
Dazu sagen wir Linke: Was an den Hochschulen klappen kann, das ist im Bereich der Ausbildung ebenfalls
möglich. Auch hier muss man für das Recht auf Ausbildung weiterkämpfen. Das heißt in einem ersten Schritt:
Nein zu diesem ungerechten Bonus, weg mit dem gescheiterten Pakt und her mit einer gesetzlichen Ausbildungsplatzumlage!
Besten Dank.
({16})
Das Wort hat nun Brigitte Pothmer, Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
100 000 Stellen durch die Jobperspektive, 100 000 Stellen
durch den Kommunalkombi, sogar mehr als 100 000 Stellen für junge Menschen mit und ohne Ausbildung - so
weit die vollmundigen Ankündigungen. Die Wirklichkeit: Diese drei Programme sind Megaflops.
({0})
Das war zuletzt im Spiegel dieser Woche zu lesen.
Die Große Koalition liebt offensichtlich das Gesetz
der großen Zahl und kommt jetzt mit dem Versprechen
daher, 100 000 zusätzliche Ausbildungsplätze - ich betone: zusätzliche - durch die Gewährung eines Ausbildungsbonus zu schaffen. Ich sage Ihnen: Das wird der
nächste Flop.
Herr Romer, Sie haben hier deutlich gesagt, es gehe
um Zusätzlichkeit. Jetzt will ich Ihnen einmal sagen, was
das Bundesinstitut für Berufsbildung errechnet hat:
({1})
Nach den Kriterien, die jetzt in Ihrem Gesetzentwurf stehen, würden bis auf den öffentlichen Dienst alle Wirtschaftsbereiche bei der gleichen Zahl von Neuverträgen
wie 2007 eine Förderung bekommen. Wo bleibt da die
Zusätzlichkeit?
Es ist sogar noch schlimmer, Herr Romer: Es ist sogar
möglich, dass mit Ihrem Bonus Unternehmen gefördert
werden, die weniger Ausbildungsplätze zur Verfügung
stellen als 2007. Sie müssten einmal denjenigen Betrieben, die in der Vergangenheit ihre Ausbildungsverpflichtung trotz wirtschaftlich schwieriger Lage und ohne jede
finanzielle Förderung ernst genommen und bis Oberkante Unterlippe ausgebildet haben und jetzt nicht mehr
nachlegen können, erklären, warum sie bei Ihrem Ausbildungsbonus leer ausgehen. Sie arbeiten nach dem
Prinzip: Die Ehrlichen sind die Dummen.
({2})
Das können Sie niemandem erklären.
Dieses Konzept ist eine krasse Fehlsubventionierung.
Dieses Konzept ist im Übrigen Schmu, weil Sie Ausbildungsplätze als zusätzlich zählen werden, die keineswegs zusätzlich sind.
({3})
Was mich am meisten quält, ist: Das ist das falsche
Konzept, zumindest für diejenigen, für die Sie vorgeben
etwas tun zu wollen und die auch tatsächlich die meiste
Unterstützung brauchen.
({4})
Das sind ja nicht einfach Jugendliche, die aufgrund der
Tatsache, dass es wenige Ausbildungsplätze gab, keinen
Ausbildungsplatz bekommen haben. Das ist doch eine
Gruppe, die nicht nur eine mangelnde schulische Bildung mitbringt, sondern die auch sonst eine ganze Reihe
von Problemen mit sich herumschleppt. Ich spreche von
mangelndem Durchhaltevermögen, von einer geringen
Frustrationsschwelle und von mangelnden sozialen
Kompetenzen.
({5})
An diesen geht der Ausbildungsplatzbonus doch komplett vorbei. Oder glauben Sie wirklich, dass Sie die Arbeitgeber mit ein paar Tausend Euro Schmerzensgeld
davon überzeugen können, solchen Jugendlichen einen
Ausbildungsplatz zu geben?
({6})
Die Arbeitgeber wissen doch ganz genau, dass diese Jugendlichen ganz andere Hilfen brauchen; auch das ist in
der Anhörung deutlich geworden.
({7})
Liebe Frau Nahles, Sie haben in Ihrer Presseerklärung
zur Entscheidung gestern im Ausschuss gesagt - ich lese
Ihre Presseerklärungen sehr aufmerksam -, die Umsetzung dieses Ausbildungsplatzbonus sei die Einlösung eines Kernversprechens sozialdemokratischer Politik:
({8})
Aufstieg durch Bildung. - Mein Gott, wie bescheiden
Sie geworden sind!
({9})
Ich kann mich an Zeiten erinnern, da waren die Sozialdemokraten in der Tat ambitionierter in dem, was sie in
dieser Gesellschaft verändern wollen.
({10})
Frau Nahles, Sie haben gesagt, dass der von Olaf Scholz angekündigte Rechtsanspruch auf einen Hauptschulabschluss Teil eines Gesamtkonzeptes sei, der einen „Aufstieg durch Bildung“ garantieren würde. Ich
will Ihnen einmal sagen, was es mit diesem Rechtsanspruch auf sich hat. Die jungen Menschen können diesen
Rechtsanspruch nur im Rahmen einer Maßnahme geltend
machen. Sie müssen vorher Warteschleifen durchlaufen
haben, also Berufsvorbereitungsjahr oder Berufsgrundbildungsjahr. Außerdem können sie den Hauptschulabschluss nur dann machen, wenn vorher klar ist, dass sie
ihn auch schaffen.
({11})
Es wird leichter sein, einen Sechser im Lotto zu bekommen, als dieses Versprechen zu realisieren.
({12})
Bis jetzt war es im Rahmen von § 16 Abs. 2 SGB II ganz
leicht möglich, einen Hauptschulabschluss nachzumachen. Dieses gute Instrument haben Sie gestrichen. Sie
sollten es wieder in Kraft setzen. Damit würden Sie
wirklich etwas für die Jugendlichen tun.
({13})
Ganz grundsätzlich gilt: Wenn Sie für die Jugendlichen etwas tun wollen, dann sollten Sie nicht die Betriebe, sondern die Jugendlichen unterstützen. Das geht
am besten mit den ausbildungsbegleitenden Hilfen. Zunächst einmal müssten Sie die 3,5 Milliarden Euro, die
jährlich in dieses Übergangssystem fließen, mit dem den
Jugendlichen in keiner Weise geholfen wird, zum Umbau nutzen. Ich spreche von Modulen, die Teil einer insgesamt modularisierten Ausbildung sein sollten. Sie
werden die Situation für die Altbewerber nur dann ernsthaft verbessern, wenn Sie strukturelle Veränderungen
vornehmen.
({14})
All das finden wir aber nicht in Ihrem Programm. Es
geht wirklich nicht, dass das Recht auf eine Ausbildung
für Jugendliche davon abhängt, ob das Konjunkturbarometer gerade steigt oder fällt.
Der Ausbildungsbonus hilft denen nicht, die ihn am
dringendsten brauchen. Der Ausbildungsbonus bewirkt
erhebliche Mitnahmeeffekte. Bezahlt - da hat die FDP
recht - wird er ausschließlich durch die Beitragszahler.
Ich finde, das sind drei von sehr vielen Gründen, die hinreichend dafür sind, dass dieser Ausbildungsbonus jedenfalls von uns abgelehnt wird.
Ich danke Ihnen.
({15})
Das Wort hat nun Christel Humme für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen!
Wenn wir gleich das Gesetz zum Ausbildungsbonus verabschieden, dann haben wir uns ganz klar an die Seite
der jungen Menschen gestellt.
({0})
Wir fördern mit dem Ausbildungsbonus Bildungsabschlüsse, keine Warteschleifen. Das ist in der Tat gerechter - das sage ich in alle Richtungen - als dogmatisches
Nichtstun.
({1})
Zugegeben: Das parlamentarische Verfahren war
recht zäh und mühselig. Für junge Menschen, die sich
um ihre Zukunftschancen betrogen sehen, ist das sicherlich völlig unverständlich. Worum geht es? 22 Prozent
der Menschen zwischen 25 und 35 Jahren sind heute
ohne einen beruflichen Bildungsabschluss.
({2})
22 Prozent sind fast ein Viertel dieser Altersgruppe. Für
eine Wirtschaftsnation, wie wir es sind, halte ich das, gelinde gesagt, für einen Skandal.
({3})
Was bedeutet das - darauf haben schon viele hingewiesen - für die jungen Menschen? Sie haben weniger
Chancen auf eine gute Arbeit und existenzsichernde
Löhne. Sie haben weniger Chancen auf Teilhabe. Sie haben weniger Chancen auf Unabhängigkeit und individuelle Persönlichkeitsentfaltung. Darüber hinaus haben
sie ein höheres Risiko, arbeitslos zu werden, und ein
deutlich höheres Risiko, in die Abhängigkeit von staatlichen Transferleistungen zu geraten. Genau das ist jetzt
die Situation.
Deshalb müssen wir alle Anstrengungen unternehmen, die Zahl junger Menschen, die heute ohne Abschluss sind, zu verringern.
({4})
Für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ist
klar: Wir wollen Ausbildung für alle. Alle haben das
Recht auf Ausbildung. In den letzten Jahren sind wir diesem Ziel etwas nähergekommen.
({5})
Wir hatten 2007 eine relativ gute Ausbildungssituation.
2007 - der Staatssekretär hat das bereits erwähnt - war
eines der besten Ausbildungsjahre, und 2008 wird ebenfalls ein gutes Ausbildungsjahr werden.
In jüngster Zeit war zum Teil nicht mehr von einer
Lehrstellenlücke, sondern von einer Bewerberlücke die
Rede. Ich möchte die Diskutanten bitten, etwas ehrlicher
zu sein, wenn sie die Analyse des Ausbildungsmarktes
betreiben.
({6})
- Es wäre gut, wenn Sie ein bisschen weniger schreien
könnten. - Fakt ist: Es gelingt nach wie vor nur jedem
zweiten Jugendlichen, direkt nach der Schule einen Ausbildungsplatz zu finden. Es landen noch immer viele Jugendliche in sinnlosen Warteschleifen, Herr Rohde.
({7})
Die Hälfte derjenigen, die einen Ausbildungsplatz suchen, ist seit einem Jahr oder länger vergeblich auf der
Suche.
625 000 Ausbildungsplätze geben zwar ein gutes Bild
ab, aber das sind trotzdem weit mehr als 100 000 zu wenig. Ich finde, hier steht die Wirtschaft in der Verantwortung; denn bedauerlicherweise bildet nur die Hälfte der
ausbildungsfähigen Betriebe aus. Da ist richtig viel
Potenzial vorhanden. Auch das gehört zu einer ehrlichen
Analyse.
Wir in der Großen Koalition haben uns gefragt, wie
wir den jungen Menschen, die vor diesem Problem stehen, besser unter die Arme greifen können. Ich sehe
viele junge Menschen auf der Tribüne sitzen. Niemand
kann ernsthaft glauben, dass der Streit, den wir hier über
die Finanzierung führen, einen Jugendlichen interessiert.
({8})
Wir haben es geschafft, ein - so nenne ich es einmal Chancenverbesserungspaket zu schnüren. Wir schlagen
zwei Fliegen mit einer Klappe: Erstens unterstützen wir
die benachteiligten Jugendlichen, die schon länger einen
Ausbildungsplatz suchen, mit einem Ausbildungsbonus,
und zweitens haben wir mit der Berufseinstiegsbegleitung ein Instrument geschaffen - das ist sehr wichtig -,
mit dem wir Schulabgängern unter die Arme greifen
können. Die Jugendlichen sollen nach der Schule direkt
eine Ausbildung aufnehmen können und gar nicht erst zu
Altbewerbern werden.
({9})
Ich möchte einen letzten Punkt ansprechen. Aus bildungspolitischer Sicht habe ich eine Debatte der letzten
Wochen überhaupt nicht verstanden: Es wurde immer
wieder gefragt, welche Jugendlichen gefördert werden
sollen. Viele Politiker hatten das Ziel, diese Gruppe so
klein wie möglich zu halten. Ich habe immer wieder versucht, mir vorzustellen, wie diese Debatte, die wir geführt haben, auf den einzelnen Jugendlichen wirken
muss. Was sagen wir ihm? Wenn sich diejenigen, die
vorhatten, die Gruppe kleinzuhalten, durchgesetzt hätten, dann hätte zum Beispiel eine 19-jährige Arbeitslose
mit Hauptschulabschluss, die seit drei Jahren vergeblich
einen Ausbildungsplatz sucht, gar keine Förderung erhalten. Was hätten wir dieser Frau sagen sollen? Ich
kann dazu nur sagen: Für diese Zielgruppendiskussion,
die wir auch mit den Gewerkschaften führen mussten,
werden die Jugendlichen kein Verständnis aufbringen.
Dafür wiederum habe ich Verständnis.
({10})
Ich bin sehr froh, dass es uns gelungen ist, dieses Paket im Sinne der Jugendlichen zu schnüren. Die Entscheidung, die wir gleich treffen werden, ist mehr als die
Verabschiedung eines Gesetzes. Das ist eine Botschaft
an die jungen Menschen. Sie lautet: Wir nehmen euch
und eure Sorgen ernst. Wir tun nicht so, als gäbe es eure
Probleme nicht. Wir wollen und wir brauchen euch in
der Gesellschaft. Deswegen lassen wir euch nicht im Regen stehen. - Ich danke allen, die das ermöglicht haben.
Herzlichen Dank.
({11})
Das Wort hat nun Stefan Müller, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Eine erfolgreiche Berufsausbildung ist der Schlüssel für
ein erfolgreiches berufliches Leben, weil sie Sicherheit
bietet und die Möglichkeit gibt, das eigene Leben selbstbestimmt und selbstbewusst zu gestalten und zu bestreiten. Ich finde, wir können froh sein über die Erfolge, die
wir in den letzten Jahren haben zur Kenntnis nehmen
dürfen. Der starke Wirtschaftsaufschwung und die erfolgreiche Arbeitsmarktpolitik dieser Großen Koalition
haben zum größten Rückgang der Arbeitslosigkeit und
zu einer Zunahme der Beschäftigung geführt.
({0})
Es hat auch dazu geführt, dass die Ausbildungszahlen in
unserem Land deutlich besser geworden sind.
({1})
Die Arbeitsmarktzahlen für den Mai dieses Jahres belegen das. Es gibt 61 000 Arbeitslose unter 25 Jahren
weniger als im Mai 2007. Zwischen dem 1. Oktober
2006 und dem 30. September 2007 wurden insgesamt
625 000 neue Ausbildungsverträge abgeschlossen. Das
sind fast 50 000 Ausbildungsverträge mehr als im Vorjahr. Das zeigt, dass unser duales Ausbildungssystem
funktioniert. Ich wehre mich dagegen, dass es auch in
diesem Haus Kolleginnen und Kollegen gibt, die das
duale Ausbildungssystem immer wieder infrage stellen.
Es funktioniert; das belegen die Zahlen.
({2})
Es gibt erstmals seit dem Jahr 2001 über 600 000 neue
Ausbildungsverträge. Das sind Zahlen, über die man
sich, wie ich finde, zu Recht freuen kann.
({3})
Das alles ist Ergebnis der Politik dieser Großen Koalition.
Bei aller Freude über diese Zahlen muss ich dennoch
sagen: Es gibt immer noch zu viele, die nicht profitieren,
die ohne Erfolg Hunderte Bewerbungen schreiben und
das Gefühl haben, nicht gebraucht zu werden. Das sind
vor allem diejenigen, die lernbeeinträchtigt sind, die aus
einem schwierigen sozialen Umfeld kommen und als sozial benachteiligt gelten. Genau für diese Jugendlichen,
die sich in den vergangenen Jahren vergeblich bemüht
haben, eine Lehrstelle zu finden, schaffen wir mit dem
Ausbildungsbonus das richtige Instrument, um ihnen
zielgenau zu helfen.
({4})
Wir wollen ihnen damit eine Chance auf eine Ausbildung, eine Beschäftigung und auf ein selbstbestimmtes
Stefan Müller ({5})
Leben geben. Nur wer gut ausgebildet ist, hat dauerhaft
eine berufliche Perspektive. Genau da wollen wir heute
ansetzen.
({6})
Ziel einer erfolgreichen Arbeitsmarktpolitik muss
sein, möglichst frühzeitig denen unter die Arme zu greifen, die unsere Hilfe brauchen. Das zeichnet unser Sozialsystem aus. Wir alle wissen: Je länger die Wartezeit
ist, bis junge Leute einen Ausbildungsplatz bekommen,
und je länger die Verweildauer in der Arbeitslosigkeit
ist, desto schwieriger wird die Integration in ein reguläres Arbeitsleben und desto höher sind auch die Folgekosten für unsere Sozialsysteme. Wir tun gut daran, uns
mit diesem neuen Instrument um die zu kümmern, die es
besonders schwer haben.
Ziel des Ausbildungsbonus ist es, zusätzliche - ich
betone: zusätzliche - Ausbildungsstellen zu schaffen,
({7})
und zwar vor allem für diejenigen, die bisher noch nicht
vom Aufschwung profitiert haben, die als lernschwach
gelten oder sozial benachteiligt sind.
({8})
Frau Pothmer, da Sie hier immer das Kriterium der
Zusätzlichkeit anführen - gestern im Ausschuss haben
Sie das auch getan -, will ich es wiederholen:
Die Ausbildung erfolgt zusätzlich, wenn bei Ausbildungsbeginn die Zahl der Ausbildungsverhältnisse … in dem Betrieb aufgrund des mit dem
Auszubildenden abgeschlossenen Ausbildungsvertrages höher ist, als sie es im Durchschnitt der drei
vorhergehenden Jahre jeweils am 31. Dezember
war.
Ich habe aus dem Gesetzentwurf vorgelesen; das hätten
Sie dort nachlesen können.
({9})
Natürlich lassen sich Mitnahmeeffekte nie ausschließen, wenn es direkte finanzielle Leistungen an Unternehmen gibt.
({10})
Ich glaube aber, dass wir dem mit der Definition der Zusätzlichkeit, so wie sie im Gesetzentwurf steht, und auch
aufgrund der Tatsache, dass die Industrie- und Handelskammern und die Handwerkskammern die Zusätzlichkeit bescheinigen müssen, Rechnung getragen haben
und Mitnahmeeffekte weitgehend ausschließen können.
({11})
Ein weiteres Thema im Zusammenhang mit Mitnahmeeffekten ist die Frage des förderfähigen Personenkreises. Ich gebe zu, Herr Kollege Rohde, man hätte an der
einen oder anderen Stelle sicherlich noch mehr machen
können; ich kenne die Stellungnahmen. Wie auch immer: Wir haben Vorschläge der Sozialpartner in unsere
Änderungsanträge aufgenommen, zum Beispiel hinsichtlich der Eingrenzung des förderfähigen Personenkreises und auch hinsichtlich der Möglichkeit, EQJPraktikanten im gleichen Betrieb zu fördern. Ich bin mir
sicher, dass wir durch die jetzige Definition des förderfähigen Personenkreises Mitnahmeeffekte ausschließen
können, jedenfalls mehr als durch den alten Wortlaut des
Gesetzentwurfes.
Herr Rohde, ich möchte gerne auf einen Punkt eingehen, den Sie angesprochen haben. Sie haben von einem
Telefonat berichtet, das Sie heute mit einem Unternehmer geführt haben. Diesen Unternehmer haben Sie gefragt, ob er zusätzlich ausbilden würde. Er hat dies verneint. Gut, es gibt immer Unternehmen, die es für sich
- aus welchen Gründen auch immer - ausschließen, mehr
auszubilden. Ich darf Ihnen trotzdem etwas aus der heutigen Frankfurter Allgemeinen Zeitung vorlesen. Dort
wird unter anderem über die heutige Beratung über den
Ausbildungsbonus berichtet, jedoch auch von einer Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach im Auftrag der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft. Dort
heißt es:
Annähernd zwei Drittel der Unternehmer befürworten jedoch, dass Betriebe einmalige Zuschüsse erhalten, wenn sie Ausbildungs- oder Arbeitsplätze
für gering qualifizierte Jugendliche schafften. Damit unterstützen sie die von der großen Koalition
geplante Einführung eines Ausbildungsbonus.
So ist es, liebe Kollegen von der FDP. Wir haben im
Grundsatz die Zustimmung für diesen Ausbildungsbonus. Ich finde, das muss einmal gesagt werden. Sie täten
gut daran, das zuzugeben.
({12})
Frau Pothmer, Sie haben vorhin an dieser Stelle sehr
viel kritisiert. Sie haben alles Mögliche genannt, was
man ansprechen könnte. Man kann ja in der Sache unterschiedlicher Meinung sein. Ich habe von Ihnen aber
keine Alternativen gehört.
({13})
Die FDP hat sich zumindest die Mühe gemacht, einen
eigenen Änderungsantrag vorzulegen.
({14})
- Herr Kollege Rohde, wenn Sie noch einen Moment
warten, können Sie Ihre Zwischenfragen gebündelt loswerden; denn ich komme noch zu Ihnen. - Im Änderungsantrag der FDP heißt es, der Ausbildungsbonus
solle nicht aus Mitteln der Bundesagentur für Arbeit,
sondern aus Steuermitteln finanziert werden. Sie haben
das schon oft im Ausschuss gesagt.
({15})
Stefan Müller ({16})
Ich habe Ihnen schon gestern im Ausschuss die Frage
gestellt: Wenn Sie der Auffassung sind, dass gesamtgesellschaftliche Aufgaben über Steuern finanziert werden
müssten, dann frage ich mich, warum Sie dies nur auf
den Ausbildungsbonus beziehen. Wenn Sie konsequent
wären, dann würden Sie sich hier hinstellen und sagen,
alle Leistungen zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit müssten aus Steuermitteln bezahlt werden und nicht
wie heute aus der Arbeitslosenversicherung. Damit wären alle berufsvorbereitenden Maßnahmen, alle Maßnahmen der vertieften Berufsorientierung und vieles andere
mehr eingeschlossen. Sie haben gerade davon gesprochen, dass wir über die Beitragszahler etwas für Jugendliche finanzieren, die noch nie etwas in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt haben. Das würde auch für alles
andere gelten, was die Bundesagentur in diesem Bereich
macht. Wir reden hier über eine Größenordnung von
1 Milliarde Euro.
({17})
Ich frage Sie: Wären Sie so konsequent, zu sagen,
dass bei uns in Erlangen zum Beispiel das Projekt
„Straße ins Leben“, das zur Hälfte aus Mitteln der Bundesagentur finanziert wird, ebenfalls nicht mehr durch
die Bundesagentur unterstützt werden kann?
Herr Kollege, gestatten Sie jetzt die Zwischenfrage?
Bitte, Herr Rohde.
Vielen Dank, Herr Kollege Müller. Es ist zwar eher
üblich, dass das Plenum Fragen an den Redner stellt,
aber ich komme gerne auf Ihre Fragen zurück.
Fangen wir mit dem letzten Punkt an, mit dem Projekt
„Straße ins Leben“. Wir haben die Möglichkeit, die
Steuermittel gezielt einzusetzen. Wir als FDP sagen,
dass wir alle versicherungsfremden Leistungen aus der
Arbeitslosenversicherung herausnehmen wollen, um den
Beitragssatz für die Beitragszahler so gering wie möglich zu halten und mehr Jobs in Deutschland zu generieren. Das ist die Zielrichtung. Wir haben gestern im Ausschuss schon mit der Diskussion darüber begonnen. Wir
sind gerne bereit, noch in dieser Legislaturperiode gemeinsam mit Ihnen eine Initiative durchzuführen.
Wir sind nicht nur konsequent; wir sind auch pragmatisch. Wir befinden uns leider gerade in der Rolle der
Opposition. Aber den Vorschlag, versicherungsfremde
Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung herauszunehmen, können wir gerne gemeinsam umsetzen.
Ich möchte noch auf die FAZ zurückkommen. Es
muss dort mehrere Redakteure geben; denn eine Überschrift lautet:
Umfrage des DIHK
„Der Ausbildungsbonus ist Geldverschwendung“.
({0})
So weit gehen wir mit unserer Kritik gar nicht. Wir wenden uns nur dagegen, dass Beitragsmittel verwendet
werden.
Wir haben eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.
Niemand bestreitet, dass es Altbewerber gibt und dass
man deshalb Maßnahmen ergreifen sollte. Wir streiten
um den Weg, und das ist eine gute Sache. Herr Müller,
stimmen Sie mit mir darin überein, dass die FDP wie Sie
etwas für diese Zielgruppe tun möchte, dass wir uns nur
im Weg unterscheiden?
({1})
Herr Kollege Rohde, zunächst zum FAZ-Artikel. Ich
gebe Ihnen gleich den Artikel, den ich habe;
({0})
dann können Sie das nachlesen.
({1})
Bei dieser Gelegenheit fällt mir ein: Herrn Kolb habe ich
versprochen, ihm das Steuerkonzept der CSU nachzureichen; auch das werde ich noch tun.
({2})
Herr Rohde, ich habe mir Ihr Steuerkonzept bereits
angeschaut; leider habe ich keine Zeit mehr, es inhaltlich
zu bewerten, so gern ich das auch tun würde. Auf Ihrem
Parteitag am vergangenen Wochenende in München haben Sie ein Steuerkonzept beschlossen
({3})
und sogar von Gegenfinanzierungsvorschlägen gesprochen. Gegenfinanzierungsvorschläge kann ich in Ihrem
Konzept allerdings nicht finden. Das, was dort zum
Thema Gegenfinanzierung steht, ist wirklich halb
virtuell.
({4})
Ich lasse Ihnen nicht durchgehen, dass Sie den Menschen einerseits in Aussicht stellen, die Steuern zu senken - allerdings ohne Gegenfinanzierungsvorschläge zu
machen -,
({5})
und andererseits zu fordern, dass alles Mögliche über
Steuermittel finanziert wird. So geht das nicht.
({6})
Ich bin davon überzeugt, dass wir mit dem Ausbildungsbonus das richtige Instrument entwickelt haben,
um endlich auch denen eine Chance zu geben, die vom
Aufschwung am Arbeitsmarkt noch nicht profitiert haben. Um diese Menschen müssen wir uns dringend küm17546
Stefan Müller ({7})
mern. Ich lade Sie ein, uns auf diesem Weg zu unterstützen.
({8})
Das Wort hat nun Katja Mast für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Heute ist ein guter Tag für vorsorgende Arbeitsmarktpolitik.
({0})
Heute ist Chancentag im Bundestag. Es ist Chancentag,
weil wir den Weg für 100 000 zusätzliche Ausbildungsplätze in den Betrieben freimachen.
({1})
Es ist Chancentag, weil wir uns um die Jugendlichen
kümmern, die seit über einem Jahr vergeblich eine Lehrstelle suchen, um die Jugendlichen, die täglich eine Absage im Briefkasten haben, in Warteschleifen verharren
und so langsam den Glauben verlieren, dass sie in unserem Land gebraucht werden.
({2})
Es ist Chancentag, weil wir ihnen mit dem Ausbildungsbonus für Altbewerber eine Perspektive geben. Wir lassen sie nicht allein.
Aber auch die Betriebe wissen uns an ihrer Seite. Wer
zusätzlich einen Altbewerber ausbildet, kann damit rechnen, den Bonus für Ausbildung, der zwischen 4 000 und
6 000 Euro beträgt, zu erhalten.
Die Bundesagentur für Arbeit geht noch einen Schritt
weiter. Wo notwendig, bietet sie sozialpädagogische Begleitung in Form von ausbildungsbegleitenden Hilfen
an. Denn nur beides gemeinsam, der Bonus für Ausbildung und sozialpädagogische Begleitung, wird dazu führen, dass eine Ausbildung erfolgreich abgeschlossen
wird.
({3})
Das zeigen uns die Erfahrungen aus der Praxis, so auch
in meiner Heimatstadt Pforzheim und im Enzkreis, wo
es einen solchen Bonus schon gibt. Ich erinnere nur an
Aishe - ich habe dieses Beispiel in meiner letzten Rede
erwähnt -, die nach 80 Absagen schon geglaubt hatte,
keinen Ausbildungsplatz mehr zu finden. Durch den Bonus der Bundesagentur und die Hilfe eines Jobcoachs,
der ihr über die gesamte Ausbildungsdauer hinweg zur
Seite stand, hat sie ihre Lehre als Einzelhandelskauffrau
im letzten Jahr im zweiten Anlauf abgeschlossen. Von
dieser Praxiserfahrung ließ sich die Große Koalition bei
der Erarbeitung dieses Gesetzentwurfes leiten.
({4})
Natürlich spielten bei den letzten kleinen Änderungen
auch die Auffassungen der Sachverständigen, die in der
Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Soziales geäußert wurden, sowie die Anregungen des Bundesrates
eine Rolle. Das hat zum Beispiel dazu geführt, dass wir
die Ausbildungsabbrecher aus Insolvenzunternehmen
mit aufgenommen haben.
Im vorliegenden Gesetzentwurf ist eine Befristung
auf drei Jahre vorgesehen.
({5})
Das hat seinen Grund. Denn seit kurzem ist auf dem
Ausbildungsmarkt eine Trendwende zu verzeichnen. Im
Jahre 2007 wurden 625 000 Ausbildungsverträge abgeschlossen, so viele wie seit 1999 nicht mehr. Wir können
aber nicht länger mit ansehen, dass die Zahl der abgeschlossenen Ausbildungsverträge steigt, während die
Chancen der Altbewerber auf einen Ausbildungsplatz
sinken.
({6})
Wie wir heute zur Genüge gehört haben, wird auch
bei diesem Chancengesetz Kritik laut. Die einen wollen
mehr, die anderen wollen weniger, wieder andere verlieren sich in Grundsatzdebatten. Das ist der beste Beweis
dafür, dass dieses Gesetz zielgerichtet ist, dass dieses
Gesetz die Jugendlichen erreicht.
({7})
Den Kritikern rufe ich zu: Bedenken Sie, dass für den
Bonus zwei Kriterien erfüllt sein müssen: Erstens. Der
Betrieb muss einen zusätzlichen Ausbildungsplatz schaffen. Grundlage der Bewertung ist dabei die Zahl der
Ausbildungsplätze im Betrieb in den letzten drei Jahren.
Zweitens. Der Betrieb muss einen Altbewerber einstellen. Wo da der Anreiz zu flächendeckender Mitnahme
liegen soll, müssen Sie mir auch nach der heutigen Debatte noch glaubhaft begründen.
({8})
Ich fordere die Wirtschaft auf, mitzumachen und zu
helfen, dass die Betriebe die Chancen, die dieses Gesetz
bietet, nicht etwa ausnutzen, sondern nutzen.
({9})
Meist sind es Jugendliche mit Hauptschulabschluss,
Sonderschulabschluss oder ganz ohne Schulabschluss,
die längere Zeit keinen Ausbildungsplatz finden. Sie bekommen mit diesem Gesetz einen Rechtsanspruch auf
den Bonus für Ausbildung, sofern für sie ein zusätzlicher
Ausbildungsplatz geschaffen wird. Das gibt den Jugendlichen und den Betrieben Sicherheit; das ist das, was die
Große Koalition will. Altbewerber mit einem höheren
Schulabschluss können den Bonus ab dem nächsten
Ausbildungsjahr ebenfalls erhalten, sofern der Bundesrat
zustimmt.
Aufstieg durch Bildung, das ist sozialdemokratische
Ausbildungs- und Arbeitsmarktpolitik.
({10})
Wir schaffen Chancen, wo vorher Frust war. Wir wollen,
dass jeder ausgebildet wird, wenn möglich im Betrieb.
Eines ist doch uns allen klar: Wer morgen Fachkräfte
braucht, muss sie heute ausbilden. Es sind der Mittelstand und das Handwerk, die Vorbilder in Sachen Ausbildung sind. Aber das reicht nicht. Jeder Jugendliche
muss ausgebildet werden. Politik ohne Ausbildungszwang setzt voraus, dass die Unternehmen ihrer Verantwortung für den Nachwuchs solidarisch gerecht werden.
({11})
Der Bonus - ich bleibe dabei - ist ein Musterbeispiel
für vorsorgende Arbeitsmarktpolitik. Chancentag im
Bundestag - das war heute nicht das letzte Mal. Die Reform der arbeitsmarktpolitischen Instrumente steht noch
in dieser Legislatur an.
({12})
Wir von der SPD-Bundestagsfraktion wollen gemeinsam
mit unserem Arbeitsminister Olaf Scholz die Kultur der
zweiten Chance verankern: Jeder soll das Recht bekommen, seinen Hauptschulabschluss nachzuholen. Nur so
gilt „Aufstieg durch Bildung“, nur so bekommen wir den
nächsten Chancentag im Bundestag. Stimmen Sie heute
dem Chancentag im Bundestag zu!
({13})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Fünften Gesetzes zur Änderung des Dritten Buches Sozialgesetzbuch Verbesserung der Ausbildungschancen förderungsbedürftiger junger Menschen. Der Ausschuss für Arbeit
und Soziales empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 16/9456, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/8718 - Unterrichtung
durch die Bundesregierung auf Drucksache 16/9238 - in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in
zweiter Beratung mit den Stimmen von CDU/CSU und
SPD gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie zuvor
angenommen.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe nunmehr
die Tagesordnungspunkte 6 a bis 6 d auf:
a) - Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({1}) zu dem Antrag der Bundesregierung
Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der
internationalen Sicherheitspräsenz im Kosovo
auf der Grundlage der Resolution 1244 ({2})
des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen
vom 10. Juni 1999 und des Militärisch-Technischen Abkommens zwischen der internationalen Sicherheitspräsenz ({3}) und den Regierungen der Bundesrepublik Jugoslawien
({4}) und der Republik
Serbien vom 9. Juni 1999
- Drucksachen 16/9287, 16/9461 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg
Dr. Werner Hoyer
Monika Knoche
Marieluise Beck ({5})
- Bericht des Haushaltsausschusses ({6})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 16/9462 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Herbert Frankenhauser
Lothar Mark
Jürgen Koppelin
Roland Claus
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({7}) zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Dr. Rainer Stinner, Dr. Karl Addicks,
Uwe Barth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP zu dem Antrag der Bundesregierung
Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der
internationalen Sicherheitspräsenz im Kosovo
auf der Grundlage der Resolution 1244 ({8})
des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen
vom 10. Juni 1999 und des Militärisch-Technischen Abkommens zwischen der internationalen Sicherheitspräsenz ({9}) und den Regierungen der Bundesrepublik Jugoslawien
({10}) und der Republik
Serbien vom 9. Juni 1999
- Drucksachen 16/9287, 16/9369, 16/9463 Berichterstattung:
Abgeordnete. Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg
Dr. Werner Hoyer
Monika Knoche
Marieluise Beck ({11})
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({12}) zu dem Antrag der Abgeordneten Monika
Knoche, Wolfgang Gehrcke, Dr. Norman Paech,
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Konflikte zwischen Serbien und Kosovo-Albanern reduzieren - UN-Resolution 1244 uneingeschränkt umsetzen sowie faire und ergebnisoffene Verhandlungen ermöglichen
- Drucksachen 16/6034, 16/7583 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg
Harald Leibrecht
Marieluise Beck ({13})
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({14}) zu dem Antrag der Abgeordneten Monika
Knoche, Paul Schäfer ({15}), Inge Höger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Unverzüglicher Rückzug der Bundeswehr aus
dem Kosovo
- Drucksachen 16/8779, 16/9151 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg
Dr. Werner Hoyer
Marieluise Beck ({16})
Über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung werden
wir später namentlich abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Johannes Jung, SPD-Fraktion, das Wort.
({17})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich komme gerade von einem Gespräch mit den
diesjährigen Teilnehmern des Stipendienprogramms des
Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft, das den Namen des ermordeten ehemaligen serbischen Ministerpräsidenten Zoran Djindjic trägt. Ich würde hier natürlich
sehr gerne über die Potenziale und Chancen der Region
sprechen, die wir heutzutage den westlichen Balkan nennen, so wie ich das auch mit diesen jungen Leuten getan
habe. Leider bietet dieser Tagesordnungspunkt aber nur
wenig Gelegenheit dazu. Vielmehr ist es notwendig, hier
ungeschminkt auf die harte Realität im Kosovo einzugehen.
Ich glaube, man muss leider feststellen - um das in einem Satz zusammenzufassen -: Wer sich heute für seine
Kinder im Kosovo eine bessere Zukunft wünscht, der hat
Schwierigkeiten, das zu erreichen, wenn er sich nach unseren Maßstäben rechtsstaatskonform verhält. - Es war
und ist in Kosovo traditionell leider schlecht möglich,
beides miteinander zu vereinbaren.
Die internationale Gemeinschaft hat in den letzten
Jahren sicherlich zu viel toleriert. Um auch einmal Namen zu nennen: Führungspersonal wie der famose USGeneral Shook stellt eben keine Lösung des Problems
dar, sondern ist selbst ein Problem, wenn es darum geht,
ein Gebiet wie Kosovo international aufzurichten.
Wir sprechen bekanntlich von einem Landstrich mit
knapp 2 Millionen Einwohnern. Das spricht noch nicht
gegen die internationale Anerkennung. Kleine Länder
können erfolgreich sein. Luxemburg und, um in der Region zu bleiben, Montenegro, sind erfolgreiche Beispiele
dafür. Nun wird seit Jahren darauf hingewiesen, Kosovo
sei ein Sonderfall. Das stimmt ganz gewiss; denn Kosovo erfüllt - einzigartig in Europa - alle Kriterien eines
Entwicklungslandes. Was machen wir aber aus diesem
Sonderfall? Es ist beschämend, dass die Mission EULEX
so schwer aus der Vorbereitungsphase herauskommt,
was keineswegs nur an Komplikationen mit Russland
liegt.
Die Mission KFOR im Kosovo ist leider weiterhin
notwendig. Sie muss auf unserem Schirm bleiben, wie
man heute sagt; daran besteht angesichts der Sicherheitslage und der Tatsache, dass das Jahr 2008 ein Jahr des
Übergangs im Kosovo ist, kein Zweifel.
Recht ist für die Menschen da. Für manche auf dieser
Welt, so auch für die Damen und Herren von der Linkspartei, PDS, wird es niemals ein Völkerrecht geben können, das sie ruhigen Gewissens in ihrer Isolation leben
lässt. Von Solidarität keine Spur - mit niemandem, auch
nicht in dieser Frage, über die wir heute zu entscheiden
haben. Sie verschanzen sich an dieser Stelle erneut hinter Ihrer notorischen Interpretation des Völkerrechts.
Wen und wie viele Sie Ihres notorisch guten Gewissens
wegen hängen lassen, ist Ihnen egal. Ich möchte auch
beim nächsten Mal, wenn es um Massenmord geht, nicht
auf Sie angewiesen sein.
Wir müssen allerdings mehr bieten als Halbherzigkeit. Offensichtlich ist der Nationalismus im Kosovo auf
allen Seiten dominant. Vernünftige Menschen wie Veton
Surroi von der albanischen Seite und Oliver Ivanovic
von der serbischen Seite, um auch hier Namen zu nennen, sind derzeit leider nicht gefragt. Werden wir das
noch ändern können? Werden die derzeitigen politischen
Führer im Kosovo einen demokratischen und europäischen Weg gehen, weg von traditioneller Unterdrückung
in einer in weiten Teilen vormodernen Gesellschaft und
weg von organisierter Kriminalität? Gerade weil darauf
jedenfalls heute nicht mit Ja geantwortet werden kann,
sind KFOR und EULEX bitter notwendig.
Das führt zu der Frage, ob die Menschen dort in unserem Sinne europäisch sein wollen. Reicht es, Demokratie und Wohlstand zu versprechen? Wie glaubwürdig ist
dieses Versprechen, wenn Sicherheit und Gewaltmonopol fehlen? Wer kann denn garantieren, dass am Ende
die gemeinsame europäische Zukunft steht, die wir uns
Johannes Jung ({0})
hier wünschen? Woher nehmen wir diesen Glauben?
Uns muss klar sein: Wer nicht in dieser Generation in die
Europäische Union kommt, der wird weiterhin ein nationalistisches Projekt betreiben.
Seit langer Zeit versuche ich klarzustellen, dass die
Lage im Nachbarland Mazedonien prekärer ist als in Kosovo und Serbien. In Kosovo und Serbien ist die Separation längst vollzogen; wir haben sie hier bestätigt. In
Mazedonien exerziert die internationale Gemeinschaft
eine Strategie des Ethnoproporzes, die genau wie in Bosnien-Herzegowina erkennbar nicht funktioniert.
({1})
Die größere der beiden Albanerparteien soll wieder nicht
mit der größten slawisch-mazedonischen Partei koalieren. Es ist das gute Recht beider Parteien, sich ihre Koalitionspartner selbst zu wählen; aber aufgrund der
Spielregeln, die wir mit aufstellen, kann die größte albanische Partei in Mazedonien die in dieser Gesellschaft an
sie gestellten klientelistischen Ansprüche eben nicht befriedigen. Das kann nur eine Regierungspartei. So führt
Nationalismus zu dem, was wir jetzt beobachten müssen: zur Selbstzerfleischung in derselben Volksgruppe,
als wäre die Zugehörigkeit zur selben Volksgruppe per
se ein politisches Problem oder Kriterium. Was tun wir?
Wir sind nicht bereit, Sicherheit für alle Staatsbürger
Mazedoniens über die NATO zu ermöglichen, was der
einzige Weg wäre. Ein schwerer Fehler!
Ein Blick in den Norden Kosovos: Wir haben bereits
genügend Erfahrungen mit extralegalen Staatstrukturen.
In den 90er-Jahren gab es die Quasirepublik Serbische
Krajina auf kroatischem Territorium, die Quasirepublik
Herceg-Bosna als kroatische Teilstruktur in BosnienHerzegowina. Können wir im Nordkosovo das pragmatisch ignorieren, was sich dort abspielt? Vielleicht wäre
es ehrlicher, zu sagen, dass wir plan- und hilflos danebenstehen und das akzeptieren, was es dort seit Jahrzehnten gibt. Jedenfalls sehe ich niemanden, der im
Sinne dessen, was KFOR und EULEX eigentlich erreichen sollen, die Zustände im Nordkosovo dramatisch ändern möchte. Ich füge hinzu: Es ist auch ratsam, dies zu
unterlassen.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss.
Der europäische Einsatz ist sowohl bei KFOR als auch
bei EULEX notwendig, um allen Seiten im Kosovo Sicherheit zu geben, aus sogenannten Volksgruppen vielleicht doch endlich Staatsbürger zu machen und der
nächsten Generation ein besseres Leben zu ermöglichen.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat nun Rainer Stinner für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
„Balkan-Blues - Europas ungelernte Lektionen“ ist der
Titel der neuesten Ausgabe der Zeitschrift Internationale
Politik vom Juni dieses Jahres. Dieser Titel spiegelt genau das wider, was wir gegenwärtig bedauerlicherweise
auf dem Balkan erleben. Ich fordere uns alle auf, hier
und auch draußen von der Beschönigung der Situation
abzusehen und der Realität im Kosovo ins Auge zu
schauen. In dem angesprochenen Heft dieser Zeitschrift
stehen Überschriften wie „Drohendes Desaster im Kosovo“, „Krampf ums Kosovo“, „Gedankenlose Neuordnung“ etc. All diese Beschreibungen sind leider durchaus realistisch.
In diesem völlig unbefriedigenden Umfeld stehen wir
heute vor der Frage der Verlängerung des KFOR-Mandates. Hier sage ich ganz deutlich: Gerade weil die Situation so unbefriedigend ist und die Dinge sonst nicht laufen, ist es ungeheuer wichtig, dass wir heute gemeinsam
das KFOR-Mandat verlängern. Die KFOR-Mission ist
gegenwärtig der einzige stabile Anker in dieser Region.
({0})
Die KFOR-Mission macht jede Entwicklung erst möglich. Ohne die KFOR-Mission gingen wir das Risiko ein,
dass das Land in ein unerträgliches Chaos gerät. Das
können wir doch nicht wollen. Deshalb muss jeder in
diesem Raume, liebe Kolleginnen und Kollegen, dem
wirklich an den Menschen in der Region liegt, diesem
KFOR-Mandat hier und heute zustimmen.
({1})
Wir wissen alle, dass das Mandat eine notwendige,
aber keine hinreichende Voraussetzung für das ist, was
im Kosovo geschehen muss. Die KFOR alleine bringt
den Kosovo keinen Millimeter weiter; sie verhindert nur
Schlimmeres. - Ein Nebensatz, sehr verehrter Herr Minister Jung: Die KFOR nimmt im Kosovo auch polizeiliche Aufgaben wahr, um hier nur ganz kurz eine andere
Debatte anzuführen. Was braucht die Republik Kosovo?
Sie braucht erstens die europäische Rechtsstaatsmission
EULEX, über die wir sprechen, damit Stabilität herbeigeführt, ein Rechtsstaat aufgebaut und notwendige
Strukturen entwickelt werden können.
Wir müssen feststellen - auch das gehört zu einer
kritischen Analyse -, dass die acht Jahre dauernde
UNMIK-Mission nicht die erwarteten Ergebnisse gebracht hat. Acht Jahre unbeschränkte Vollmachten der
internationalen Gemeinschaft haben zu einem unbefriedigenden Ergebnis geführt. Das muss nachdenklich
stimmen.
({2})
Daraus muss die EULEX-Mission lernen. Ich stelle infrage, ob es sinnvoll ist, dass an der EULEX-Mission
mehrere Tausend Personen beteiligt sind. Die Erfahrung
mit internationalen Missionen hat gezeigt, dass in einem
solchen Fall die Selbstbeschäftigung eher zunimmt. Die
EULEX-Mission muss aber schlagkräftig sein.
Bei der Vorbereitung der Mission erleben wir ein weiteres Trauerspiel: Die EU ist eben nicht in der Lage, die
Vorbereitung konsequent zu betreiben. Sie ist ins Stocken geraten, und das wirft ein schlechtes Licht auf uns.
({3})
Zweitens braucht das Kosovo die Einbindung in regionale Strukturen. Auch das gestaltet sich gegenwärtig außerordentlich schwierig. Ich spreche nicht nur über
Serbien - die Schwierigkeiten in diesem Zusammenhang
sind ein Sonderfall -, sondern auch über die anderen regionalen Partner. Bei der Einbindung des Kosovo in regionale Strukturen kommt es darauf an, dass sie von der
Europäischen Union bzw. von Deutschland aktiv vorangetrieben wird. Hierbei sehe ich relativ wenige Impulse
der deutschen und europäischen Politik.
Drittens. Auch das Kosovo braucht eindeutig die
europäische Perspektive. Die Zeitschrift Internationale
Politik formuliert prägnant und auch etwas süffisant:
„… wir tun so, als wollten wir sie aufnehmen, und
sie tun so, als würden sie uns das glauben …“
Das beschreibt die unbefriedigende gegenwärtige Situation. Die Glaubwürdigkeit der EU hat in der Region leider sehr stark abgenommen. Das muss man erkennen.
Wir haben seitens der EU heroisch hohe Hürden aufgebaut, unter denen wir dann aber ganz schlank weggelaufen sind. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die
Zusammenarbeit mit Den Haag in Serbien und an die
Polizeireform in Bosnien-Herzegowina. In beiden Fällen
wurden hohe Hürden aufgebaut, beide Male schlank darunter weggelaufen. Das erhöht unsere Glaubwürdigkeit
in der Region leider überhaupt nicht.
({4})
Das schadet dem Balkan, und das schadet auch Europa.
Eine kohärente europäische Balkanpolitik ist leider nicht
erkennbar. Ich sage noch deutlicher: Man kann den Eindruck haben, dass die Balkanpolitik in Brüssel eher lustlos administriert wird, als dass sie mit Herz, Realitätssinn und Nachdruck politisch gestaltet wird.
Alle diese Punkte machen deutlich: Auch im Kosovo
liegt die Lösung - das wissen wir alle - nicht im Militärischen; es müssen die politischen Voraussetzungen geschaffen werden. Das Militär kann nur die Grundlagen
dafür schaffen.
Leider beschränkt sich der Antrag der Bundesregierung, dem wir aus vollem Herzen zustimmen, formalistisch-minimal auf die Forderung, das Militär einzusetzen, und nimmt die Komplexität der politischen
Entwicklung in keiner Weise wahr. Deshalb haben wir
seitens der FDP unseren Antrag eingebracht, um wenigstens auf einige inhaltliche Punkte hinzuweisen.
Ich darf Ihnen ehrlich sagen, ich war gestern im Verteidigungsausschuss ein bisschen erschüttert darüber,
mit welchen wirklich fadenscheinigen, primitiven Gründen unser Antrag, dem Sie eigentlich alle zustimmen,
abgelehnt worden ist. Ich sehe hier zwei Fraktionsvorsitzende der Großen Koalition. Liebe Kolleginnen und
Kollegen, Sie werben um unsere Stimmen für die Zustimmung zur Fortsetzung des Mandats. Das bedenken
wir, und wir werden auch zum großen Teil zustimmen,
wie Sie wissen. Wir können dann aber auch erwarten,
dass Sie mit unseren inhaltlichen Anträgen, die unsere
Zustimmung begleiten, ernsthafter umgehen, als Sie es
in diesem Fall getan haben.
({5})
Ich hoffe auf Ihre Lernwilligkeit und Lernfähigkeit
und gehe deshalb davon aus, dass Sie heute unserem Antrag zustimmen.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat nun Ruprecht Polenz für die CDU/CSUFraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Unionsfraktion wird dem Antrag der Bundesregierung, das Mandat für KFOR zu verlängern, zustimmen. Nach den Beratungen im Auswärtigen Ausschuss
können wir auch davon ausgehen, dass die Zustimmung
auch vom Bündnis 90/Die Grünen und von der FDP, also
von einer breiten Mehrheit im Deutschen Bundestag, getragen wird. Das hat auch gute Gründe; denn jeder, der
sich mit der Lage im Kosovo befasst, weiß - Herr Stinner hat darüber gerade gesprochen -, dass die KFOR für
den Aufbau eines sicheren Umfeldes für alle Bewohner
und die weitere Unterstützung beim Aufbau demokratischer und rechtsstaatlicher Strukturen im Kosovo unverzichtbar ist.
Wahr ist, dass der eigentlich sorgfältig vorbereitete
Weg, beim Kosovo zu einer Statusänderung zu kommen,
nicht zu einer einvernehmlichen Lösung geführt hat.
Aber der Zustand war auch nicht länger haltbar. Denjenigen, die sagen - ich spreche hier vor allem die Linksfraktion an -, es sei falsch gewesen, dass die Bundesrepublik Deutschland den anderen Ländern, die die
Unabhängigkeit des Kosovo anerkannt haben, gefolgt
sei, möchte ich sagen, dass eine einvernehmliche Lösung
nicht mehr zu erwarten war.
({0})
25 Monate ist verhandelt worden, zuerst unter Ahtisaari,
dann im UN-Sicherheitsrat, dann unter Beteiligung der
Troika von Russland, den USA und der Europäischen
Union sowie von Wolfgang Ischinger. Alles war ergebnislos. Der Status quo war nicht länger tragbar. Insofern
sind wir nun bei der zweitbesten Lösung. Damit müssen
wir umgehen.
Über die zweitbeste Lösung zu sprechen, bedeutet gerade angesichts des Besuchs des russischen Präsidenten
in Berlin, zwei, drei Sätze zur Rolle Russlands in diesem
Prozess zu sagen. Russland hat seinerzeit eine Resolution des UN-Sicherheitsrats für eine Intervention verhindert, obwohl Genozidgefahr bestand. Russland hat dann
eingelenkt und die UN-Resolution 1244 mitgetragen.
Russland hat dem Mandat für Ahtisaari zugestimmt. Ich
selber habe mit Ahtisaari zu Beginn seiner Verhandlungsmission gesprochen. Er, der ein erfahrener Politiker
ist, hat damals den festen Eindruck gehabt, dass die
Ziele, die er in sogenannten Private Messages nach
Priština und Belgrad vermittelt hat, von allen ständigen
Mitgliedern des UN-Sicherheitsrates geteilt werden.
Russland ist dann irgendwann ausgeschert und hat mit
dem internationalen Konsens gebrochen. Deshalb haben
wir nun das Problem, einen Übergang von UNMIK, der
Mission der Vereinten Nationen im Kosovo, die eine Art
Protektoratsregime innehatte, zu einer von der Europäischen Union und der EULEX-Mission überwachten und
kontrollierten Unabhängigkeit des Kosovo zu finden. Es
wird nicht so laufen wie geplant. Dazu sage ich gleich
noch etwas.
Es gibt nun die neue Aufgabe, die Einheit des Kosovo
sicherzustellen. Es gibt den serbisch besiedelten Norden,
den Serbien gerne als Hebel zur Durchsetzung seines
Anspruchs auf das Kosovo nutzen möchte. Nicht nur die
Parlamentswahlen, sondern auch die Kommunalwahlen,
die Serbien rechtswidrig beispielsweise in Mitrovica hat
durchführen lassen, haben gezeigt, dass sich daraus noch
ein Problem ergeben könnte. Falls in Belgrad die Europabefürworter die Regierung bilden werden, haben sie
das Problem, dass es sich aus serbischer Sicht bei den
Vertretern in Mitrovica um Hardliner in Amt und Würden handelt, die möglicherweise den ganzen Prozess
noch weiter erschweren.
Es besteht die Gefahr, dass sich im Norden ein
Machtvakuum bildet und dass Priština den Anspruch erhebt, die Unabhängigkeit des ganzen Kosovo erklärt zu
haben. Nun kann man auf Zeit spielen. Es wird uns auch
nicht viel anderes übrig bleiben, gerade wenn es um den
Übergang von UNMIK zu EULEX geht. Angesichts der
Kürze der Debatte nur so viel: Wahrscheinlich wird entgegen den Planungen UNMIK bleiben, und EULEX
wird unter dem Dach von UNMIK ein Pfeiler. Eine andere Lösung kann ich mir nicht vorstellen. Aber beim
zeitlichen Aspekt müssen auch die Nebenwirkungen in
der Region beachtet werden.
Damit bin ich bei Mazedonien, Herr Jung. Ich glaube,
wenn in Mazedonien angesichts der jetzigen Lage der
Eindruck entsteht, der Norden des Kosovo sei auf einem
erfolgreichen Weg, sich abzuspalten, wird die Versuchung für die albanische Minderheit in Mazedonien sehr
stark wachsen, darüber nachzudenken, ob man das auch
machen könnte. Deshalb ist es ganz wichtig, dass auch
die deutsche Regierung und vor allem die Europäische
Union den Namensstreit zwischen Mazedonien und
Griechenland als ein erstrangiges Problem wahrnehmen.
({1})
Denn für die Stabilisierung Mazedoniens sind die Mitgliedschaft in der NATO und die EU-Perspektive, die es
ohne die Lösung des Namensstreites natürlich nicht gibt,
essenziell. Mein Eindruck, gerade auch in der Vorbereitung des NATO-Gipfels, war, dass die meisten gemeint
haben, Griechenland vertrete eine aberwitzige Position
und werde schon einknicken. Ich will die griechische
Position gar nicht bewerten. Nur, eines will ich Ihnen sagen: Jeder, der auch nur drei Stunden in Athen war, hätte
erkennen können, dass es für jede griechische Regierung
völlig unmöglich war, im Namensstreit nachzugeben.
Und dass Griechenland einige Erfahrungen damit hat,
EU-Entscheidungen zu blockieren, wissen wir aus anderen Zusammenhängen. Also, hier bitte mehr Aufmerksamkeit auch der deutschen Politik für diesen Namensstreit. Wir müssen sehen, dass wir ihn in diesem Jahr
vom Tisch bekommen.
Eine letzte Anmerkung: Wir werden auch Wert darauf
legen müssen, Russland und Serbien so gut es geht irgendwie wieder in die Prozesse einzubeziehen. Hier
kommt die OSZE als eine Möglichkeit ins Spiel, über
die wir stärker nachdenken müssten, als das vielleicht
bisher geschehen ist. Die OSZE ist als ziviler Stabilisierungsfaktor im Land dabei - 800 Mitarbeiter in allen Gemeinden des Kosovo -, den Aufbau demokratischer
Institutionen zu fördern, zum Beispiel mit Monitoringaufgaben, was Menschenrechte, Minderheitenschutz und
die Medienentwicklung in Kosovo angeht. Sie unterstützt die Dezentralisierung, und sie betreibt Polizei- und
Gerichtsmonitoring, sogar eine eigene Polizeischule.
Jetzt kommt der politische Aspekt. Die OSZE arbeitet
unter der Prämisse der Statusneutralität und könnte dadurch eine Klammer in der jetzigen Frage zu Russland
und zu Serbien darstellen. Es ist ganz wichtig, dass gerade Deutschland deutlich macht, dass wir nach wie vor
eine wichtige Rolle der OSZE wünschen. Nach dem,
was man hört, könnte demnächst ein Wechsel an der
Spitze der OSZE-Mission anstehen. Ich möchte gerade
von dieser Stelle die Anregung geben, dass Deutschland
sich um eine Übernahme dieser Führungsposition bemüht, zumal die Position von Herrn Rücker bei UNMIK
demnächst auslaufen wird und wir zu den Ländern gehören, die ein besonderes Interesse am Kosovo haben, dann
aber in keiner Führungsposition mehr bei den internationalen Organisationen vertreten sein würden. Das wäre
auch ein Signal dafür, dass wir den Weg des Kosovo
weiter begleiten wollen, auch weil es in unserem Interesse liegt, diesem Armenhaus des früheren Jugoslawiens, dem Armenhaus des jetzigen Europas, zu helfen. Es
ist reich an Bodenschätzen - die drittgrößten Braunkohlenreserven Europas liegen dort, und es gibt viele
Erz- und Mineralvorkommen, die sehr wichtig sind.
Eine allerletzte Bemerkung: 13 Prozent des kosovarischen Bruttosozialprodukts bei einer Arbeitslosigkeit
von 50 Prozent kommen von den Überweisungen von
Exilkosovaren in ihre Heimat. Ich finde es etwas widersinnig, dass wir mit sehr viel Geld vor Ort tätig sind,
aber eine Politik der Rückführung von Kosovaren, die
hier gut integriert sind, die hier ihre Wohnung und ihren
Arbeitsplatz haben - die Arbeitgeber kommen sogar mit
ihnen in unsere Sprechstunden und sagen, dass diese ihre
besten Mitarbeiter seien, und fragen, warum wir die
zurückschicken -,
({2})
betreiben und auf diese Weise das Kosovo von einer
wirtschaftlichen Einnahmequelle abschneiden, die das
Land auf absehbare Zeit noch brauchen wird.
Kollege Polenz, gestatten Sie nicht eine Zwischenfrage, sondern eine Nachfrage? Ihre Redezeit ist nämlich
schon vorüber.
Ja. Ich weiß.
Sehr geehrter Herr Kollege Polenz, Sie wissen, dass
ich Sie sehr respektiere und wir in diesem Punkt Ihre
Haltung absolut teilen. Kann man aufgrund Ihrer jetzigen Aussage davon ausgehen, dass die Regierung und
Sie als Teil der Koalitionsfraktionen sich massiv vor allen Dingen an die Innenministerkonferenz wenden werden, weil diese Entscheidungen nicht vom Außenministerium getroffen werden, sondern von den
Innenministern, die in unverantwortlicher Weise genau
diese Widersinnigkeit, die Sie eben beschrieben haben,
von Jahr zu Jahr fortführen?
({0})
Liebe Frau Kollegin Beck, ich muss ehrlich sagen:
Das weiß ich nicht. Was ich hoffe, ist, dass dieser Zusammenhang, über den wir, glaube ich, alle zu wenig
diskutiert haben, deutlich wird und zu einer Korrektur
des Verhaltens führt.
({0})
Das Wort hat nun Norman Paech, Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Linke wird der Mandatsverlängerung nicht zustimmen,
({0})
und zwar aus ganz einfachen Gründen: Die UN-Sicherheitsratsresolution 1244 von 1999 taugt nicht mehr als
Rechtsgrundlage für eine Verlängerung des Bundeswehreinsatzes. Die Umstände haben sich mit der einseitigen
Unabhängigkeitserklärung des Kosovo im Februar 2008
grundlegend und entscheidend verändert. Diese Unabhängigkeitserklärung war völkerrechtswidrig, ebenso die
anschließende Anerkennung durch die Bundesregierung.
Das haben Sie - das ist das Interessante - in der Debatte
vor einem Jahr genauso gesehen, und das möchte ich Ihnen in Erinnerung rufen.
Die Bundesregierung, Herr Steinmeier, hat damals in
ihrem Antrag auf Verlängerung des Mandats die Hoffnung ausgedrückt, „dass der VN-Sicherheitsrat seiner
Aufgabe gerecht wird und möglichst bald eine neue Resolution verabschiedet, die … die bisherige Resolution 1244 ({1}) des VN-Sicherheitsrates ablöst und die
Grundlage für die neue internationale Präsenz schafft“.
Sie betonte damals, dass eine „derartige Folgeresolution
... eine Neumandatierung des Bundeswehreinsatzes im
Rahmen einer konstitutiven Befassung des Deutschen
Bundestages notwendig machen wird“.
Kollege Polenz, erinnern Sie sich noch an das, was
Sie in der Debatte am 21. Juni 2007 gesagt haben? Folgendes:
Die jetzige Rechtsgrundlage … ist die Sicherheitsratsresolution 1244. Es ist klar, dass bei einer Veränderung eine rechtzeitige neue Befassung des
Bundestages erfolgen muss. Es ist genauso klar,
dass der Bundeswehreinsatz in jedem Fall und zu
jedem Zeitpunkt eine eindeutige rechtliche Grundlage haben muss.
Sie können doch jetzt nicht behaupten, dass diese rechtliche Grundlage nun gegeben ist.
({2})
Frau Kollegin Zapf, erinnern Sie sich noch an Ihre
Worte am 21. Juni 2007? Sie sagten:
Ich finde allerdings, dass eine einseitige, unkonditionierte Anerkennung des Kosovo … über den
Horizont des Denkens hinausgeht. Eine solche Anerkennung kann nicht infrage kommen.
Meine Frage an Sie: Hat sich Ihr Horizont jetzt erweitert?
({3})
Zur FDP. Sie stellte in ihrem Entschließungsantrag
damals ganz unmissverständlich Folgendes fest:
Innerhalb des Kosovo mehren sich die Stimmen,
die eine einseitige Unabhängigkeitserklärung fordern. Völkerrechtlich wäre eine solche Erklärung
ein Bruch der Resolution 1244.
({4})
… Mit dem Bruch der Resolution 1244 würden
beide Institutionen
- KFOR wie UNMIK ihre Legitimitätsbasis verlieren.
Sie, Kollege Stinner, wiederholten das in Ihrer Rede fast
wörtlich.
Schließlich zu den Grünen. In ihrem Entschließungsantrag, aus dem ich zitiere, sagten sie:
Grundlage dafür
- für die weitere Stationierung der Bundeswehr Dr. Norman Paech
ist das Beharren auf einer neuen UN-Resolution,
die Resolution 1244 ersetzt. Eine Unabhängigkeitserklärung der kosovarischen Regierung kann ebenfalls nur auf dieser Grundlage erfolgen. Sollte eine
dieser Bedingungen oder beide nicht mehr erfüllt
sein, wäre die völkerrechtliche Grundlage für das
KFOR-Mandat und die UNMIK-Mission entfallen.
({5})
So haben Sie sich im Juni 2007 geäußert.
All diesen Reden zum Trotz ist nach der Unabhängigkeitserklärung im Februar 2008 genau das Gegenteil geschehen: Die Bundesregierung hat weder ihre KFORTruppen zurückgerufen noch eine neue Resolution als
Grundlage für die weitere Präsenz der Bundeswehr im
Kosovo gefordert. Stattdessen hat sie den Bundestag
schlichtweg übergangen, das Völkerrecht missachtet und
das Kosovo anerkannt.
({6})
Waren diese Ihre Worte eigentlich nur das Geschwätz
vom vergangenen Jahr, das Sie heute nicht mehr kümmert?
Herr Kollege Polenz, Sie warnten vor einem Jahr,
dass sich einseitige Schritte in Priština „wie der Funke
an einem Pulverfass auswirken“ könnten. Was ist eigentlich mit den vielen anderen Pulverfässern dieser Welt,
({7})
in Abchasien, Südossetien, bei den Basken, den Kurdinnen und Kurden, in Tibet? Wollen Sie bei der Lösung all
dieser Konflikte nach Gutsherrenart, nach dem Prinzip
der politischen Willkür verfahren? Ich sage Ihnen eines:
Die Missachtung von Völkerrecht löst keine Probleme,
sondern wird immer weitere Probleme schaffen.
({8})
Deswegen rate ich Ihnen: Kehren Sie zum Völkerrecht
zurück, und holen Sie die deutschen Truppen aus dem
Kosovo zurück!
Danke schön.
({9})
Das Wort hat nun Marieluise Beck, Fraktion Bündnis
90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir sprechen über den gesamten Balkan,
wenn wir über das Kosovo sprechen. Wir haben es mit
einer Realität zu tun, die sich durch Argumentationen,
die man immer wiederholt, nicht verändern lässt. Die
Realität ist: Der Staat Jugoslawien ist in seine Teile zerfallen. Wenn wir heute über das Kosovo sprechen, haben
wir es immer noch zu tun mit dem Bewältigen von auch
völkerrechtlich schwierigen Situationen, die durch diesen Staatszerfall entstanden sind und die mit der Unentschiedenheit der Europäischen Union und der internationalen Staatengemeinschaft zusammenhängen.
Herr Jung, Sie haben das angesprochen: Wir haben
uns - das kann man insbesondere an Bosnien-Herzegowina sehen - auf einen schmalen Grat begeben, indem
wir ethnische Zugehörigkeit als Teil des Verfassungsrechts anerkannt haben. Wir wissen, dass die Länder, die
aus dem ehemaligen Jugoslawien hervorgegangen sind,
bis zum heutigen Tag an den Folgen dieser sehr prekären
Entscheidungen herumlaborieren.
Noch einmal kurz zu der völkerrechtlichen Frage,
Herr Paech. Jawohl, wir alle hätten uns eine einvernehmliche Lösung gewünscht. Es ist lange daran gearbeitet
worden. Nachdem es Vertreibung gegeben hatte, Völkermord gedroht hatte und die Autonomie durch Milosevic
genommen worden war, war es dem Kosovo nicht mehr
zuzumuten, noch einmal unter das Dach dieses Staates
zurückzukehren. Wir alle wussten, dass das Kosovo das
nie tun würde.
Wir haben die Resolution 1244, die die Staatengemeinschaft dazu verpflichtet, den Schutz aller Ethnien
vor Ort zu gewährleisten. Das ist die Aufgabe der
KFOR-Soldaten.
({0})
Sie haben sich vor einigen Tagen in der Berliner Zeitung fragen lassen müssen: Wäre es denn politisch zu
verantworten, die verfeindeten Kosovo-Albaner und Kosovo-Serben miteinander allein zu lassen? Sie geben
keine Antwort darauf. Was Sie hier sagen, heißt in der
Konsequenz aber: Jawohl, wir lassen sie alleine. - Dann
gäbe es aber eine große Krise. Deswegen müssen unsere
Soldaten dort bleiben. Sie haben bisher verhindert, dass
diese Krise ausbricht und es wieder zu Vertreibung und
Gewalt kommt.
Das also ist Ihre Konsequenz. Sie werden Sie nie unter der Überschrift „Menschenrechte“ verkaufen können.
Die Resolution 1244 ist sehr eindeutig. Sie verpflichtet
dazu, vor Ort für Gewaltvermeidung zu sorgen. Diese
Maßgabe der Resolution 1244 besteht fort.
({1})
Nun also gilt es, nach vorn zu schauen, was als
Nächstes zu tun ist. Das ist die EULEX-Mission als
Rechtsstaatsmission. Das ist der schwierige Weg, im Kosovo Institutionen aufzubauen, damit die Menschen endlich wieder eine Perspektive bekommen, damit es Justiz
und Polizei gibt, damit die Chance auf Investitionen besteht, damit sich in dem Land wirtschaftliche Tätigkeit
entwickeln kann und nicht auf Dauer der Import der lebenswichtigen Ressourcen von außen notwendig bleibt.
Es geht auch darum, organisierte Kriminalität zu verhindern. Trafficking vom Balkan betrifft auch uns in unseren Staaten. Wir haben also ein Interesse daran, dass
im gesamten kosovarischen Gebiet der Weg hin zum
Rechtsstaat eingeschlagen wird, und zwar nicht von
Marieluise Beck ({2})
außen aufgesetzt, sondern in Eigenverantwortung der
Kosovo-Albaner.
({3})
Es geht um den schwierigen Weg des Nation-Building. Kosovo ist das bisher anspruchvollste Vorhaben
der gemeinsamen Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Es steht unter schwierigen Vorzeichen,
weil es ein Nebeneinander von UNMIK und EULEX
gibt. Vermutlich wird aber - davon ist auszugehen - in
der nächsten Woche der Generalsekretär der Vereinten
Nationen in dieser Frage eine Klärung herbeiführen.
Wir sollten uns hier klarmachen, dass Gewalt und
Vertreibung auf dem Balkan unendlich viel Leid hervorgerufen haben. Natürlich - da haben Sie recht, Herr Stinner - dauert die Mission schon acht Jahre. Das ist eine
lange Zeit. Aber in Bosnien dauert sie zum Beispiel noch
viel länger, nämlich 15 Jahre. Wir lernen aber da-raus,
dass das Wiederherstellen von Staatlichkeit und Rechtsstaatlichkeit gerade dann, nachdem Nationalisten so
lange freies Spiel hatten und es so viel Gewalt unter den
Menschen verschiedener Ethnien gegeben hat, sehr
mühselig ist. Es ist also ein langer und schwieriger Weg,
das wieder aufzubauen, was vorher durch Gewalt und
Vertreibung zerstört worden ist. Es gibt keine Alternative zu diesem sehr mühseligen Weg.
Wir als Grüne nehmen die Herausforderung an. Wir
setzen auf EULEX und werden der Verlängerung der
KFOR-Mission zustimmen.
({4})
Das Wort hat nun Kurt Rossmanith für die CDU/
CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir diskutieren heute in der Tat über einen Teil des Balkans, nämlich über das Kosovo, ein Land, das, wie Sie,
Frau Kollegin Beck, richtigerweise hingewiesen haben,
ein Teil des zerfallenen Jugoslawiens war.
Wir müssen leider auch mit dem Fakt leben, dass in
den neun Jahren nach Beendigung des Krieges die diplomatischen Bemühungen nicht zum Erfolg geführt haben,
sodass im Endeffekt am 17. Februar dieses Jahres gar
nicht viel anderes zu erwarten war, als dass das Kosovo
sich zum selbstständigen Staat erklärt. Die Bundesrepublik Deutschland hat in Form der Bundesregierung vier
Tage später, am 21. Februar, diesen Staat als solchen anerkannt und damit auch Verpflichtungen übernommen.
Ich danke Ihnen, Frau Beck, dass Sie auf Flucht, Vertreibung und all die Mühsal sowie auf all die Verbrechen, die dort geschehen sind, hingewiesen haben. Daher frage ich - das ist schon fast nicht einmal mehr als
rhetorische Frage zu verstehen -, was man von einer
Partei halten kann, muss oder soll, die auf diese Frage
nichts anderes zu sagen weiß, als auf Rechtspositionen
hinzuweisen, die völlig falsch sind. Herr Gysi hat ja das
Bundesverfassungsgericht angerufen. Ich wünsche ihm
dabei sehr viel Erfolg. Jeder blamiert sich so gut er kann,
kann ich dazu nur sagen.
Es nützt auch nichts, Kollege Stinner, wenn wir nur
auf die Vergangenheit schauen und all das beklagen, was
geschehen ist. Es ist richtig, dass wir bislang Hilfen in
Höhe von 2 Milliarden Euro für den Wiederaufbau der
Wirtschaft geleistet haben. Dennoch liegt die Arbeitslosigkeit über 50 Prozent. Für den Aufbau der Energieversorgung im Kosovo haben wir über 1 Milliarde Euro gegeben. Nach wie vor fällt die Stromversorgung dort aber
stundenlang aus.
Überweisungen aus dem Ausland tragen zu 13 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt des Kosovo bei. Darauf
hat Kollege Polenz hingewiesen.
Man kann die Situation auch folgendermaßen betrachten: Die Investitionsneigung im Kosovo ist momentan äußerst gering. Daher können wir von den Fachleuten aus dem Kosovo, die Krieg, Flucht und Vertreibung
nicht erleben mussten, weil sie bei uns in Sicherheit leben konnten, schon erwarten, dass sie ihr in Deutschland
erworbenes Fachwissen in ihrem Heimatland ihren Mitbürgerinnen und Mitbürgern zugute kommen lassen und
einen entsprechenden Beitrag zum Wiederaufbau der
Wirtschaft leisten.
({0})
Ich bin dankbar, dass die Bundesregierung den Antrag eingebracht hat, unser Mandat zu verlängern. Aufgabe der KFOR ist ja die Demilitarisierung, Stabilisierung, Leistung von humanitärer Hilfe und von
Rückkehrhilfe für Flüchtlinge und für Vertriebene, um
sie wieder eingliedern zu können. Natürlich hoffen wir,
dass die zivile Rechtsstaatsmission EULEX - das wäre
zwingend notwendig - zum Tragen kommt. Dies ist ein
ganz wichtiger Pfeiler. Gerade deshalb benötigen wir
weiterhin den Schutz durch die KFOR. Es wäre geradezu verrückt und würde ein großes Maß an Inhumanität
zeigen, wenn wir sagen würden: Die Soldaten ziehen sofort wieder ab.
Wir hatten fast 7 000 Soldaten im Kosovo. Jetzt sind
es noch 2 800. Wir wollen die Zahl weiter auf 2 200 reduzieren. Die Bundesregierung und die sie tragende
Koalition verhalten sich, was diese Mission betrifft, sehr
korrekt. Das Mandat ist unbegrenzt; es wäre also gar
nicht erforderlich gewesen, dass die Bundesregierung es
erneuern lässt. Aber die Koalition aus den Fraktionen
der CDU/CSU und der SPD war der Meinung: Wir wollen nach der Unabhängigkeit des Kosovo die Verlängerung dieses Mandats im Parlament bestätigen.
Die Verlängerung des Mandats ist wichtig für die
Bürgerinnen und Bürger im Kosovo. Denn sie können so
mit unserer Hilfe und mit dem Beistand unserer Soldaten
am Aufbau ihres Heimatlandes mitwirken. Ich sage dies
auch im Interesse unserer Soldaten, denen ich ausdrücklich im Namen meiner Fraktion - ich bin überzeugt:
auch im Namen des ganzen Hauses - einen Dank für ihre
hervorragende Leistung ausspreche, die sie dort unter
wirklich schweren Bedingungen erbringen.
({1})
Ich bitte um Zustimmung für diesen Antrag.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie darum,
eine solche Ruhe herzustellen, dass wir auch dem letzten
Redner in dieser Debatte noch zuhören können.
Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Dr. HansPeter Bartels das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es gibt
im Augenblick zwei große NATO-Missionen: KFOR
und ISAF. Während in Afghanistan um den Erfolg noch
gerungen werden muss - auch um den Erfolg einer militärischen Absicherung -, können wir für das Kosovo sagen: KFOR ist ein Erfolg und leistet das, wofür wir das
Mandat 1999 und die folgenden Mandate gegeben haben.
({0})
Die Sicherheitslage ist ruhig. Wir haben die Präsenz
unserer Soldaten Schritt für Schritt reduzieren können.
Das ist ein Zeichen dafür, dass die Sicherheitslage mit
immer weniger internationaler Präsenz stabil gehalten
werden kann. Die Zahl der NATO-Soldaten wurde von
über 45 000 auf jetzt 16 000 verringert. Der deutsche
Anteil wurde von anfänglich 6 500 Soldaten auf
2 200 Soldaten im Normalfall verringert. Auch daran,
dass mit immer weniger militärischer Absicherung das
gleiche Sicherheitsergebnis erreicht wird, kann man den
Erfolg messen.
Die Unabhängigkeit ist so, wie sie erreicht wurde
- auch das ist schon gesagt worden -, nicht die erste
Wahl und somit nur das zweitbeste Ergebnis gewesen.
Die sich daraus ergebende Situation muss jetzt gestaltet
werden. Die Ausschreitungen, die es zu Anfang in
Mitrovica gegeben hat, sind schnell unter Kontrolle gebracht worden. Auch das ist ein Erfolg von KFOR. Dank
KFOR kam es nicht zu einem Flächenbrand.
({1})
Die Institutionen eines demokratischen Kosovo sind
im Aufbau. Die internationalen Organisationen arbeiten
in einem sicheren Umfeld. Flüchtlinge sind in den vergangenen Jahren nach und nach in das Kosovo zurückgekehrt. Deutschland ist das Land - auch das ist angesprochen worden -, das das größte Interesse daran hat,
dass hier eine gute Zukunft gestaltet wird. Denn heute leben
300 000 Kosovo-Albaner in Deutschland. 100 000 sind
schon in das Kosovo zurückgegangen. Das heißt,
Deutschland hat im Vergleich zu allen anderen europäischen Ländern die engsten Beziehungen zum Kosovo.
Die starke, stabile Kraft im Kosovo ist heute noch
KFOR. Die dritte Linie hinter der kosovarischen Polizei
und der UNMIK-Polizei - in Zukunft EULEX - sind Soldaten. Sie müssen aber nur dann eingreifen, wenn die anderen Kräfte versagen würden, und sie versagen immer
weniger. Da wir immer den deutschen Soldaten danken,
sollten wir auch einmal den 130 bis 140 deutschen Polizisten Dank sagen, die heute ihren Dienst im Kosovo tun.
({2})
Über deren Einsatz beschließen wir ja nie in Form von
eigenen Mandaten. Das gilt auch für manche, die in der
Aufbauhilfe tätig sind. Wir reden immer nur über die
Militärmandate. Aber es sind auch Polizisten mit exekutiver Befugnis in einem fremden Land. Das ist kein
leichter Dienst.
Wir werden dafür sorgen müssen, dass es beim Übergang von UNMIK zu EULEX kein Machtvakuum gibt.
Die Verhandlungen - das ist angesprochen worden sind im Gange. Der UNO-Generalsekretär hat sich eingeschaltet. Wir sollten darauf vertrauen, dass keine gefährlichen Situationen entstehen; wir sollten diese aber
auch nicht herbeireden. Aber für den Fall, dass gefährliche Situationen entstehen, ist die starke Kraft, die im
ganzen Land akzeptiert wird und die dahintersteht, die
KFOR. KFOR ist - ich habe mich bei einem Besuch Anfang dieser Woche davon überzeugen können - auch auf
Eventualitäten gut vorbereitet. Sie wird nicht so leicht
von Ereignissen überrollt und überrannt werden können,
die möglicherweise hier oder da geplant werden, die
aber den Friedensprozess in diesem Land nicht mehr
rückgängig machen können.
Alle Konfliktparteien vertrauen der NATO mit ihrer
KFOR-Mission. Das ist ein hohes Gut. Alle vertrauen
darauf, dass KFOR unparteiisch ist und schützt - auch in
kritischen Situationen wie beim Inkrafttreten der Verfassung, was in wenigen Tagen, am 15. Juni, der Fall sein
wird, und beim Übergang von UNMIK zu EULEX.
Die Vertrauensarbeit in diesem Land muss weitergehen. Auch in diesem jetzt unabhängigen Staat muss Vertrauen zwischen Mehrheit und Minderheit sowie zwischen Kosovo und Serbien geschaffen werden. In der
UNO muss Russland für einen konstruktiven Weg gewonnen werden. In der NATO muss die Türkei für einen
konstruktiven Weg gewonnen werden.
Auch als Parlamentarier können wir in Deutschland
und Europa möglicherweise etwas zum Aufbau des Vertrauens in die neuen kosovarischen Institutionen beitragen. Es gibt bisher nur die deutsch-südosteuropäische
Parlamentariergruppe, womit im Moment auch Kosovo
gemeint ist. Wir haben schon Parlamentariergruppen mit
Kroatien, Slowenien und Bosnien-Herzegowina. Ich
wäre dafür, dass wir jetzt eine Parlamentariergruppe
Deutschland-Kosovo einrichten. Das wäre ein vertrauenschaffendes und integrierendes Signal an diesen jungen
Staat auf dem Weg zur Demokratie.
Wir werden gewiss noch einige Jahre finanzielle, personelle und auch militärische Beiträge zur Absicherung
der Entwicklung leisten müssen, die wir im südlichen
Osteuropa wollen, für eine Entwicklung, die wir dem
Kosovo gönnen und die der Kosovo braucht. Das wird
nicht ohne KFOR gehen. Wir werden noch einen langen
Atem brauchen, der jedenfalls so lange halten muss, bis
es dann ganz ohne fremde Hilfe geht. Das wird einige
Jahre dauern. Aber diesen langen Atem sollten wir haben. Ich bitte Sie, dem Antrag der Bundesregierung zuzustimmen.
Schönen Dank.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärti-
gen Ausschusses auf Drucksache 16/9461 zu dem An-
trag der Bundesregierung zur Fortsetzung der deutschen
Beteiligung an der internationalen Sicherheitspräsenz im
Kosovo. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf
Drucksache 16/9287 anzunehmen.
Wir stimmen nun über die Beschlussempfehlung na-
mentlich ab. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schrift-
führer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Sind
alle Schriftführerinnen und Schriftführer an den vorgese-
henen Plätzen? - Das ist der Fall. Ich eröffne die Ab-
stimmung.
Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme noch nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der
Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schrift-
führerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu
beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen
später bekannt gegeben.
Während der Abstimmung haben das Präsidium Er-
klärungen zum Abstimmungsverhalten nach § 31 der
Geschäftsordnung des Deutschen Bundestags der Kolle-
gin Sylvia Kotting-Uhl, der Kollegin Monika Lazar, des
Kollegen Hans-Christian Ströbele und des Kollegen
Dr. Harald Terpe erreicht. Wir nehmen diese Erklärun-
gen entsprechend unseren Bestimmungen zu Protokoll.1)
Wir setzen die Abstimmungen fort. Dazu bitte ich Sie,
liebe Kolleginnen und Kollegen, wieder die Plätze ein-
zunehmen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärti-
gen Ausschusses zu dem Entschließungsantrag der Frak-
tion der FDP zu dem Antrag der Bundesregierung zur
Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der internatio-
nalen Sicherheitspräsenz im Kosovo. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 16/9463, den Entschließungsantrag der Fraktion
der FDP auf Drucksache 16/9369 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfeh-
lung ist gegen die Stimmen der FDP-Fraktion und der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Zustimmung der
Unionsfraktion, der SPD-Fraktion und der Fraktion Die
Linke angenommen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärti-
gen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke
1) Anlage 2
mit dem Titel „Konflikte zwischen Serbien und Ko-
sovo-Albanern reduzieren - UN-Resolution 1244 un-
eingeschränkt umsetzen sowie faire und ergebnisoffene
Verhandlungen ermöglichen“. Der Ausschuss emp-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 16/7583, den Antrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 16/6034 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
möchte sich enthalten? - Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion,
der FDP-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke ange-
nommen.
Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses
zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel
„Unverzüglicher Rückzug der Bundeswehr aus dem Ko-
sovo“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 16/9151, den Antrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/8779 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Gibt es Stimmenthaltungen? - Das
ist nicht der Fall. Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion, der
FDP-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke angenom-
men.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a bis 7 c auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Barbara Höll, Wolfgang Nešković, Ulla Lötzer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Steuerhinterziehung bekämpfen - Steueroasen
austrocknen
- Drucksache 16/9168 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Barbara Höll, Dr. Axel Troost, Dr. Gregor
Gysi, Oskar Lafontaine und der Fraktion DIE
LINKE
Steuermissbrauch wirksam bekämpfen - Vorhandene Steuerquellen erschließen
- Drucksache 16/9166Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Christine
Scheel, Kerstin Andreae, Birgitt Bender, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Keine Hintertür für Steuerhinterzieher
- Drucksache 16/9421 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({2})
Rechtsausschuss
Vizepräsidentin Petra Pau
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion Die Linke fünf Minuten erhalten soll. - Ich
höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Für die Fraktion Die
Linke hat die Kollegin Dr. Barbara Höll das Wort.
({3})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Am Samstag beginnt die Fußballeuropameisterschaft.
Das ist ein großes Ereignis, das viele Menschen begeistern wird. Ich hoffe auf interessante Spiele. Möge die
Mannschaft mit der schönsten Spielkultur gewinnen.
Vielleicht kann die deutsche Nationalmannschaft der
Männer an die Erfolge der Frauen anknüpfen.
({0})
Man wird natürlich nicht nur schöne Spiele zu sehen
bekommen, sondern auch Franz Beckenbauer. Der Botschafter und ungekrönte Kaiser des deutschen Fußballs
wird als willkommener und allseits gefragter Kommentator auf allen Kanälen zu sehen sein. Herr Beckenbauer
lebt seit 1982 in Österreich, um Steuern zu sparen, während er beruflich all die Zeit schwerpunktmäßig in
Deutschland tätig war und ist. Er muss nur aufpassen,
dass er im Jahr nicht mehr als 183 Nächte in Deutschland verbringt.
Herr Zumwinkel bekam den Hals nicht voll genug. Er
war dank Erbschaft schon Millionär, bevor er seine Einkünfte als Chef der Deutschen Post gewaltig vermehren
konnte. Allein 2006 steigerte er seine Gesamtbezüge gegenüber dem Vorjahr um 26 Prozent auf sage und
schreibe 4,24 Millionen Euro. Aber all diese Millionen
waren noch nicht genug für ihn. Nein, er musste auch
noch Steuern über die Steueroase Liechtenstein hinterziehen.
({1})
In der aktuellen Werbung von Banken und Kreditinstituten wimmelt es nur so von Vorschlägen und Aufmachern, wie die im nächsten Jahr kommende Abgeltungsteuer umgangen werden kann. Sogar die Tageszeitung
Die Welt titelte am 14. Mai dieses Jahres: „Banken schüren Angst vor Abgeltungssteuer“.
Die Finanzbranche warnt ausgerechnet vor der Steuer,
deren Einführung Bundesfinanzminister Steinbrück letztes Jahr hier im Plenum noch so begründete: 25 Prozent
von x sind besser als 42 Prozent von nix. Diese Aussage
ist leider bezeichnend für die Strategie der Bundesregierung - die gerade nicht anwesend ist -, wenn es um
Steuerhinterziehung geht.
({2})
Sie entlasten die Einkommen, bei denen sich Steuerhinterziehung lohnt, nämlich die hohen Kapitaleinkommen. Damit verknüpfen Sie die Hoffnung, dass weniger
hinterzogen wird. Diese Strategie geht bisher nicht auf,
da Sie offenbar Folgendes unterschätzen: In Deutschland
sind Steuerumgehung, also das legale Ausnutzen von
Lücken im Steuerrecht, und illegale Steuerhinterziehung
en vogue. Es gibt hierzulande geradezu eine Kultur des
exzessiven Steuersparens, nach der es heldenhaft ist,
dem Staat möglichst wenig zu überlassen. Das lehnen
wir ab.
({3})
Rituale der öffentlichen Empörung nach jedem aufgedeckten Steuerhinterziehungsskandal sind absolut überflüssig, solange ihnen kein Handeln folgt. In Bundesregierung und Koalition bedarf es offensichtlich eines
Umdenkens bezüglich wirksamer Strategien gegen Steuerhinterziehung und -umgehung. Die Steuersenkungen,
die Sie veranlasst haben, sind hierzu das völlig falsche
Instrument.
({4})
Wir brauchen stattdessen einen Ausbau der Kontrollmöglichkeiten und die Durchsetzung der bestehenden
Gesetze. Dazu bedarf es mehr Ressourcen und mehr Personal für die Steuerverwaltung. Die bestehenden Probleme in diesem Feld, die sich aus der föderalen Kompetenzverwaltung ergeben, müssen endlich angegangen
werden. Es muss Schluss damit sein, dass die Bundesländer Standortwettbewerb mittels laxen Steuervollzugs
betreiben. Die Bekämpfung der internationalen Steuerhinterziehung braucht auf nationaler Ebene dringend zusätzliche Kontrollmöglichkeiten. Daher schlagen wir
vor, eine Meldepflicht bei Kapitalbewegungen ins Ausland ab einem jährlichen Betrag in Höhe von insgesamt
100 000 Euro einzuführen. Wir brauchen weitere gesetzliche Regelungen, zum Beispiel eine gesetzliche Anzeige- und Registrierpflicht für aggressive Steuermodelle. Das sind Konstrukte, die extra dafür geschaffen
werden, Gewinne nicht aus Wertschöpfung, sondern aus
dem Sparen von Steuern zu erreichen. Mit der deutschen
Vorreiterrolle beim internationalen Steuersenkungswettbewerb muss Schluss sein.
({5})
Weitere Wettbewerbsrunden, beispielsweise durch die
Unternehmensteuerreform, einzuläuten, ist falsch. Es
wäre langfristig viel sinnvoller, wenn sich die Bundesregierung für mehr Steuerharmonisierung auch auf europäischer Ebene einsetzen würde.
({6})
Dafür bestehen ja Chancen. Die Bundesrepublik als
größte Volkswirtschaft verfügt über das dafür notwendige politische Gewicht. Natürlich geht es auch darum,
die Steueroasen endlich auszutrocknen. Dass das machbar ist, hat das Verhalten der USA gegenüber Liechtenstein gezeigt. Die Zinsrichtlinie auf EU-Ebene muss
dringend reformiert werden. Sie sollte in Zukunft alle
Kapitaleinkünfte erfassen. Wir brauchen unbedingt gesetzliche Neuregelungen bezüglich der Quellensteuervereinbarung auch mit Steueroasen wie Luxemburg, Österreich, Belgien und der Schweiz. Dabei darf die
Quellensteuer aber nicht auf natürliche Personen begrenzt sein, sondern muss auf juristische Personen ausgedehnt werden.
Ich fordere Sie auf: Nehmen Sie unsere Anträge zur
Hand. Lassen Sie uns darüber diskutieren. Belassen Sie
es nicht bei der öffentlichen Empörung, sondern handeln
Sie endlich, wo es möglich ist.
Ich bedanke mich.
({7})
Bevor ich nun dem Kollegen Manfred Kolbe für die
Unionsfraktion das Wort gebe, komme ich zu Tagesordnungspunkt 6 a zurück und gebe das von den
Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu
dem Antrag der Bundesregierung zur Fortsetzung der
deutschen Beteiligung an der internationalen Sicherheitspräsenz im Kosovo bekannt: Abgegebene Stimmen
559. Mit Ja haben gestimmt 499, mit Nein haben gestimmt 57. Drei Kolleginnen und Kollegen haben sich
enthalten. Die Beschlussempfehlung und damit der Antrag der Bundesregierung ist angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 559;
davon
ja: 499
nein: 57
enthalten: 3
Ja
CDU/CSU
Ulrich Adam
Ilse Aigner
Peter Albach
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
({0})
Veronika Bellmann
Otto Bernhardt
Clemens Binninger
Renate Blank
Peter Bleser
Antje Blumenthal
Dr. Maria Böhmer
({1})
Wolfgang Bosbach
Michael Brand
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Georg Brunnhuber
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Leo Dautzenberg
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Maria Eichhorn
Dr. Stephan Eisel
Anke Eymer ({2})
Ilse Falk
Dr. Hans Georg Faust
Enak Ferlemann
Hartwig Fischer ({3})
Dirk Fischer ({4})
Axel E. Fischer ({5})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich
({6})
Erich G. Fritz
Jochen-Konrad Fromme
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Dr. Jürgen Gehb
Norbert Geis
Ralf Göbel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Dr. Karl-Theodor Freiherr zu
Guttenberg
Olav Gutting
Gerda Hasselfeldt
Ursula Heinen
Uda Carmen Freia Heller
Jürgen Herrmann
Bernd Heynemann
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Klaus Hofbauer
Joachim Hörster
Hubert Hüppe
Susanne Jaffke-Witt
Dr. Peter Jahr
Dr. Hans-Heinrich Jordan
Andreas Jung ({7})
Dr. Franz Josef Jung
Bartholomäus Kalb
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({8})
Volker Kauder
Jürgen Klimke
Julia Klöckner
Jens Koeppen
Kristina Köhler ({9})
Norbert Königshofen
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Dr. Martina Krogmann
Dr. Hermann Kues
Dr. Karl Lamers ({10})
Andreas G. Lämmel
Helmut Lamp
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Ingbert Liebing
Eduard Lintner
Dr. Klaus W. Lippold
Patricia Lips
Dr. Michael Luther
Stephan Mayer ({11})
Wolfgang Meckelburg
Dr. Michael Meister
Dr. Angela Merkel
Friedrich Merz
Laurenz Meyer ({12})
Maria Michalk
Philipp Mißfelder
Dr. Eva Möllring
Marlene Mortler
Carsten Müller
({13})
Stefan Müller ({14})
Dr. Gerd Müller
Hildegard Müller
Bernd Neumann ({15})
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Ronald Pofalla
Daniela Raab
Hans Raidel
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({16})
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Albert Rupprecht ({17})
Peter Rzepka
Anita Schäfer ({18})
Hermann-Josef Scharf
Hartmut Schauerte
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Bernd Schmidbauer
Christian Schmidt ({19})
Andreas Schmidt ({20})
Ingo Schmitt ({21})
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Wilhelm Josef Sebastian
Kurt Segner
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Jens Spahn
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Gero Storjohann
Andreas Storm
Max Straubinger
Thomas Strobl ({22})
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Hans Peter Thul
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Vizepräsidentin Petra Pau
Volkmar Uwe Vogel
Andrea Astrid Voßhoff
Gerhard Wächter
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg
Peter Weiß ({23})
Gerald Weiß ({24})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Anette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dagmar Wöhrl
Wolfgang Zöller
SPD
Dr. Lale Akgün
Niels Annen
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Ernst Bahr ({25})
Doris Barnett
Klaus Barthel
Sören Bartol
Sabine Bätzing
Dirk Becker
Klaus Uwe Benneter
Dr. Axel Berg
Petra Bierwirth
Lothar Binding ({26})
Volker Blumentritt
Kurt Bodewig
Clemens Bollen
Gerd Bollmann
Dr. Gerhard Botz
Bernhard Brinkmann
({27})
Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Ulla Burchardt
Martin Burkert
Christian Carstensen
Dr. Peter Danckert
Karl Diller
Dr. Carl-Christian Dressel
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Hans Eichel
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Elke Ferner
Rainer Fornahl
Gabriele Frechen
Peter Friedrich
Iris Gleicke
Renate Gradistanac
Angelika Graf ({28})
Dieter Grasedieck
Monika Griefahn
Gabriele Groneberg
Achim Großmann
Wolfgang Grotthaus
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann
({29})
Nina Hauer
Hubertus Heil
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Stephan Hilsberg
Iris Hoffmann ({30})
Frank Hofmann ({31})
Klaas Hübner
Lothar Ibrügger
Brunhilde Irber
Johannes Jung ({32})
Josip Juratovic
Johannes Kahrs
Ulrich Kasparick
Ulrich Kelber
Christian Kleiminger
Astrid Klug
Walter Kolbow
Fritz Rudolf Körper
Karin Kortmann
Anette Kramme
Ernst Kranz
Nicolette Kressl
Volker Kröning
Angelika Krüger-Leißner
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Jürgen Kucharczyk
Ute Kumpf
Dr. Uwe Küster
Christine Lambrecht
Christian Lange ({33})
Dr. Karl Lauterbach
Waltraud Lehn
Gabriele Lösekrug-Möller
Dirk Manzewski
Lothar Mark
Katja Mast
Petra Merkel ({34})
Ulrike Merten
Ursula Mogg
Marko Mühlstein
Detlef Müller ({35})
Gesine Multhaupt
Franz Müntefering
Andrea Nahles
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Mechthild Rawert
Steffen Reiche ({36})
Dr. Carola Reimann
Christel RiemannHanewinckel
Walter Riester
Sönke Rix
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth ({37})
Michael Roth ({38})
Ortwin Runde
({39})
Anton Schaaf
Axel Schäfer ({40})
Dr. Hermann Scheer
Marianne Schieder
Otto Schily
Ulla Schmidt ({41})
Silvia Schmidt ({42})
Heinz Schmitt ({43})
Carsten Schneider ({44})
Olaf Scholz
Ottmar Schreiner
Reinhard Schultz
({45})
Swen Schulz ({46})
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Dr. Angelica Schwall-Düren
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Jörg-Otto Spiller
Dr. Ditmar Staffelt
Andreas Steppuhn
Ludwig Stiegler
Christoph Strässer
Dr. Peter Struck
Joachim Stünker
Dr. Rainer Tabillion
Jella Teuchner
Jörn Thießen
Franz Thönnes
Simone Violka
Jörg Vogelsänger
Dr. Marlies Volkmer
Hedi Wegener
Andreas Weigel
Petra Weis
Gunter Weißgerber
Gert Weisskirchen
({47})
Dr. Rainer Wend
Lydia Westrich
Dr. Margrit Wetzel
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Engelbert Wistuba
Waltraud Wolff
({48})
Heidi Wright
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
FDP
Dr. Karl Addicks
Daniel Bahr ({49})
Uwe Barth
Rainer Brüderle
Ernst Burgbacher
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Paul K. Friedhoff
Horst Friedrich ({50})
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Miriam Gruß
Joachim Günther ({51})
Heinz-Peter Haustein
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Heinz Lanfermann
Harald Leibrecht
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Michael Link ({52})
Markus Löning
Patrick Meinhardt
Jan Mücke
Burkhardt Müller-Sönksen
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
({53})
Cornelia Pieper
Jörg Rohde
Frank Schäffler
Dr. Konrad Schily
Vizepräsidentin Petra Pau
Dr. Hermann Otto Solms
Dr. Rainer Stinner
Florian Toncar
Dr. Claudia Winterstein
Hartfrid Wolff ({54})
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Marieluise Beck ({55})
Volker Beck ({56})
Birgitt Bender
Alexander Bonde
Dr. Thea Dückert
Dr. Uschi Eid
Hans Josef Fell
Kai Gehring
Britta Haßelmann
Priska Hinz ({57})
Bärbel Höhn
Fritz Kuhn
Undine Kurth ({58})
Anna Lührmann
Nicole Maisch
Jerzy Montag
Kerstin Müller ({59})
Winfried Nachtwei
Brigitte Pothmer
Claudia Roth ({60})
Krista Sager
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Irmingard Schewe-Gerigk
Dr. Gerhard Schick
Rainder Steenblock
Silke Stokar von Neuforn
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Jürgen Trittin
Josef Philip Winkler
Nein
CDU/CSU
Willy Wimmer ({61})
SPD
Gregor Amann
Petra Hinz ({62})
FDP
Jürgen Koppelin
DIE LINKE
Dr. Dietmar Bartsch
Karin Binder
Dr. Lothar Bisky
Heidrun Bluhm
Eva Bulling-Schröter
Roland Claus
Sevim Dağdelen
Dr. Diether Dehm
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Klaus Ernst
Dr. Gregor Gysi
Hans-Kurt Hill
Inge Höger
Ulla Jelpke
Dr. Hakki Keskin
Monika Knoche
Katrin Kunert
Oskar Lafontaine
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Ulrich Maurer
Dorothée Menzner
Kornelia Möller
Kersten Naumann
Petra Pau
Bodo Ramelow
Paul Schäfer ({63})
Volker Schneider
({64})
Dr. Herbert Schui
Dr. Petra Sitte
Frank Spieth
Alexander Ulrich
Sabine Zimmermann
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Monika Lazar
Hans-Christian Ströbele
fraktionslos
Enthalten
CDU/CSU
Dr. Wolf Bauer
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Dr. Anton Hofreiter
Nun hat das Wort der Kollege Manfred Kolbe für die
Unionsfraktion.
({65})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Um es vorab klarzustellen, sage ich: Auch die Unionsfraktion bekämpft Steuerhinterziehung energisch. Auch
die Bundesregierung bekämpft die Steuerhinterziehung
energisch. Wir bekämpfen sie aber auf vernünftige Art
und Weise. Frau Höll, bloße Forderungen nach Steuererhöhungen, Meldepflichten und Abgabepflichten sind
keine Lösung.
({0})
Deshalb darf ich kurz sachlich darstellen, was wir auf
diesem Gebiet bereits geleistet haben. Dies tue ich, weil
Sie das unterschlagen haben.
Wir haben in den letzten Jahren viel gegen die Steuerhinterziehung getan. Seit 2005 gilt die EU-Zinssteuerrichtlinie. Diese gab es vorher nicht. Sie ist maßgeblich
auf deutsches Drängen hin eingeführt worden. 22 Staaten wenden diese Zinssteuerrichtlinie an. Es ist allerdings bedauerlich, dass bei einigen dieser Staaten die
überseeischen Gebiete nicht dabei sind, die gerade interessant wären. Bei Großbritannien fehlen Anguilla, Bermuda und die Virgin-Islands. Aber immerhin: 22 Staaten
wenden diese Richtlinie an. Wir drängen auf eine weitere Ausdehnung. Belgien, Luxemburg, Österreich, die
Schweiz und Liechtenstein verweigern bisher die Teilnahme und führen lediglich eine Quellensteuer ab. Das
heißen wir nicht gut.
({1})
Wir treten für eine Ausdehnung der Zinssteuerrichtlinie
ein. Sie darf nicht nur für Privatpersonen gelten, sie
muss auch für Körperschaften gelten. Sie darf nicht nur
für Zinserträge gelten, sie muss auch für andere Erträge
gelten. Noch ist das ein Käse mit vielen Löchern.
(Christine Scheel ({2}): So ist es! - Dr. Barbara Höll ({3}): In dem Punkt können Sie uns dann
zustimmen? - Dr. Ilja Seifert ({4}):
Stimmen Sie doch einfach unserem Antrag
zu!)
Sie wurde im Jahr 2005 eingeführt. Die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen arbeiten daran.
Lassen Sie mich zur Amtshilfe kommen. Angesichts
der zunehmenden internationalen Verpflichtungen ist die
Zusammenarbeit im Verwaltungsvollzug immer wichtiger. Deshalb sehen auch die Art. 26 und 27 des OECDDBA-Musterabkommens den Austausch von Bankinformationen und die Gewährung von Betreibungshilfe vor.
Wir arbeiten weiter daran, dies zu verbessern. Das
Ganze ist im Augenblick noch nicht optimal. Nach einem Bericht des Bundesministeriums der Finanzen vom
18. März 2008 ist es bisher aber nicht einmal gelungen,
mit allen westeuropäischen OECD-Mitgliedstaaten Bankinformationen nach Maßgabe des OECD-Musterabkommens auszutauschen; hier wären erneut eine Reihe von
Ländern zu nennen. Die Bundesregierung und die sie
tragenden Fraktionen sind jedoch an vorderster Linie dabei, Frau Kollegin Höll.
Lassen Sie mich bei der Bekämpfung der internationalen Steuerhinterziehung zu den Doppelbesteuerungsabkommen kommen. Auch diese Doppelbesteuerungsabkommen eröffnen durch die Begrenzung der
Besteuerungsrechte der einzelnen Staaten gewisse Gestaltungsmöglichkeiten. Wir versuchen, diese durch Vorbehaltsklauseln in den DBA oder durch einseitige nationale Maßnahmen wie zum Beispiel § 50 d Abs. 3
Einkommensteuergesetz in der Fassung des Jahressteuergesetzes 2007 einzugrenzen. Hier sind wir weiter tätig.
Alles in allem können wir in diesem Bereich aber nicht
allein handeln. Wir brauchen dazu auch Vereinbarungen
mit den anderen Europäern. Das alles ist nicht so einfach.
Auf nationaler Ebene ist der Umsatzsteuerbetrug das
größte Problem. Nach Schätzungen des Ifo-Institutes haben wir allein im Jahr 2007 einen Einnahmeausfall in
Höhe von 11,3 Milliarden Euro erlitten. Hier muss etwas
getan werden. Wir haben auch schon einiges getan: Wir
haben im Jahr 2001 das Umsatzsteuerverkürzungsbekämpfungsgesetz verabschiedet. Wir haben das Steueränderungsgesetz 2003 verabschiedet. Wir haben im
letzten Jahr die Telekommunikationsüberwachung bei
der bandenmäßigen Umsatzsteuer- und Verbrauchsteuerhinterziehung eingeführt. Bis dahin gab es im Bereich
des Steuerrechts keine Telefonüberwachung. Wenn von
Telefonüberwachung die Rede ist, dann gibt es hier einige, die gleich den ganzen Rechtsstaat in Gefahr und
den Abhörstaat kommen sehen.
({5})
Im Bereich der bandenmäßigen Umsatzsteuer- und Verbrauchsteuerhinterziehung hat diese Bundesregierung
erstmalig die Möglichkeit einer Telekommunikationsüberwachung geschaffen.
Wir müssen das Umsatzsteuersystem generell reformieren, um es weniger betrugsanfällig zu machen. Frau
Staatssekretärin Kressl, unsere augenblicklichen Bemühungen auf europäischer Ebene sind an einem Punkt angelangt, an dem es mit Reverse-Charge wohl nicht weitergeht. Wir überlegen jetzt auf nationaler Ebene, wie
wir das System weniger betrugsanfällig gestalten können.
({6})
- Ja, die FDP ist natürlich dabei. Wir können doch über
alles reden, Herr Wissing. Die FDP war schon etliche
Jahrzehnte an der Regierung beteiligt, aber auch Ihnen
ist das bisher noch nicht geglückt. Daran zeigt sich: Es
ist nicht ganz einfach, dieses dicke Brett zu bohren.
Auf nationaler Ebene ist das Thema Steuerhinterziehung durch die Verhaftung von Klaus Zumwinkel am
14. Februar dieses Jahres und die anschließende deutschlandweite Aktion der Steuerfahndung Wuppertal in den
Fokus der Öffentlichkeit geraten. Wir haben damals gesagt - das sagen wir auch heute noch -: Steuerhinterziehung ist kein Kavaliersdelikt und wird von uns energisch
bekämpft.
Der Fall Zumwinkel darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Steuerfahndung in Deutschland alles in
allem erfolgreich ist. Es gibt pro Jahr rund 40 000 Verfahren, rund 17 000 Strafverfahren, und die Mehreinnahmen betragen im Schnitt 1,5 Milliarden Euro. Das ist
eine beachtliche Leistung der Steuerfahnder. Auch was
die Verhaftung von Klaus Zumwinkel angeht, hieß es
nicht etwa, man habe zu wenig energisch gehandelt, sondern es hieß eher, man habe vielleicht sogar zu energisch
gehandelt, da man zum Beispiel die Hilfe des BND in
Anspruch genommen habe. Daran wird deutlich: Steuerhinterziehung wird energisch verfolgt.
Was kann noch getan werden? Gelegentlich wird die
Forderung nach einer Erhöhung des Strafmaßes erhoben.
Wir glauben, dass das Strafmaß von bis zu zehn Jahren
Freiheitsentzug ausreichend ist. Eine weitere Erhöhung
würde wenig bringen, zumal das Strafmaß von bis zu
zehn Jahren bisher kaum ausgeschöpft wurde.
Auch die Abschaffung der strafbefreienden Selbstanzeige, die gelegentlich gefordert wird, würde wenig
bringen, da diese Selbstanzeige eine Folge der Mitwirkungspflicht des Steuerpflichtigen ist. Würde man die
strafbefreiende Selbstanzeige abschaffen, würde sich
niemand korrigieren können, ohne die Einleitung eines
Strafverfahrens zu riskieren; auch derjenige nicht, der
nur irrtümlich einen Fehler in seiner Steuererklärung gemacht hat.
An einem Punkt gibt es unserer Meinung nach aber
einen Wertungswiderspruch: Derjenige, der seine Steuern ordnungsgemäß deklariert und lediglich bei der Zahlung einige Tage in Verzug gerät, muss einen Säumniszuschlag von 1 Prozent pro angefangenem Monat
zahlen. Wenn man seine Steuern also ordnungsgemäß
deklariert und lediglich verspätet zahlt, hat man auf das
Jahr gerechnet einen Strafzins in Höhe von 12 Prozent
zu entrichten. Derjenige hingegen, der seine Steuern
nicht deklariert, der sie also hinterzieht, zahlt nach den
§§ 235 und 238 AO lediglich Hinterziehungszinsen in
Höhe von 6 Prozent pro Jahr. Das ist unseres Erachtens
ein Wertungswiderspruch, über den wir einmal nachdenken sollten. Die Besserstellung eines Steuerhinterziehers
gegenüber einem bloß säumigen Zahler scheint mir nicht
angebracht zu sein.
Abschließend sage ich: Missbrauchsbekämpfung und
Bekämpfung der Steuerhinterziehung sind die eine Seite
der Medaille. Die andere Seite der Medaille ist ein gerechtes und von den Bürgerinnen und Bürgern akzeptiertes Steuersystem.
({7})
Je höher die Steuern sind und je mehr an der Steuerschraube gedreht wird, desto eher sieht der eine oder andere als vermeintlichen Ausweg - ich sage ausdrücklich:
als vermeintlichen, nicht als berechtigten Ausweg - die
Steuerhinterziehung. Deshalb müssen wir genauso energisch, wie wir die Steuerhinterziehung bekämpfen, für
ein gerechtes und akzeptiertes Steuersystem kämpfen.
({8})
Sie, meine Damen und Herren von der Linken, haben
bis 1989 in einem Teil Deutschlands regiert. Dort gab es
eine Einkommensteuer, die erdrosselnd war: Ab einem
Einkommen von 20 000 Mark waren in der DDR
80 Prozent Steuern fällig. Steuerflucht und Globalisierung gab es aufgrund der bekannten einengenden Umstände nicht. Das Ergebnis war nicht mehr Wohlstand
und eine größere staatliche Leistungsfähigkeit. Das Ergebnis war eine Revolution, die alles hat zusammenbrechen lassen. Wir müssen also einen vernünftigen Mittelweg finden. Wir brauchen ein gerechtes und akzeptiertes
Steuersystem, und die Steuerhinterziehung muss energisch bekämpft werden. Dafür wird sich die Unionsfraktion einsetzen.
Danke.
({9})
Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Dr. Volker
Wissing das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Über Steuerhinterziehung haben wir schon oft gesprochen, sind aber keinen Schritt weitergekommen.
({0})
Angesichts der Qualität der heutigen Anträge ist damit
auch nicht zu rechnen.
({1})
Ich gehe auf den Antrag der Grünen ein. Die Grünen
schreiben:
Die große Koalition hat viel zu lange stillgehalten
und damit Steuerhinterziehung gedeckt.
Die Wahrheit ist: Die Große Koalition regiert seit drei
Jahren, die Grünen haben vorher sieben Jahre regiert und
genauso stillgehalten. Nach Ihrer Logik, Frau Kollegin
Scheel, haben Sie Steuerhinterziehung doppelt so lange
gedeckt wie die Große Koalition. Herzlichen Glückwunsch!
({2})
Sie schreiben in Ihrem Antrag weiter:
Die Bundesregierung soll in der Föderalismuskommission II darauf hinwirken, dass das Personal bei
Betriebsprüfung und Steuerfahndung deutlich aufgestockt wird.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, in der
Sache haben Sie recht; aber warum wirken Sie nicht
selbst in der Föderalismuskommission II darauf hin?
({4})
- Sie sollten einmal mit Herrn Kuhn sprechen; er sitzt ja
in der Kommission. - Bevor Sie hier nach der Unterstützung der Bundesregierung rufen, sollten Sie in der
Föderalismuskommission II das, was Sie in Ihrem Antrag fordern, vortragen. Im Übrigen hat die FDP in der
Föderalismuskommission II wiederholt auf diesen Punkt
hingewiesen. Wenn Sie uns dabei unterstützen wollen,
sind wir bei diesem Punkt schon morgen ein Stück weiter.
Am Ende wird Ihr Antrag richtig skurril. Sie schreiben, Staatsanwälte würden Steuerstrafsachen aus Kapazitätsmangel nicht bei den zuständigen Strafkammern
der Landgerichte, sondern bei den Amtsgerichten erheben, die nur maximal vier Jahre Freiheitsstrafe verhängen dürfen. Liebe Frau Scheel, die Zulässigkeit einer
Anklage wird in Deutschland von unabhängigen Richterinnen und Richtern geprüft.
({5})
Es ist absurd, Amtsrichtern zu unterstellen, sie würden
Hauptverfahren in Steuerstrafsachen eröffnen, obwohl
die Landgerichte zuständig sind. Mich würde wirklich
interessieren, wie Sie auf solche unhaltbaren Vorwürfe
kommen.
({6})
Sie schöpfen aus dem Vollen, Sie schreiben in Ihrem
Antrag, deutsche Gerichte würden aus Kapazitätsmangel
Steuerstrafsachen oft einstellen, anstatt die Angeklagten
zu verurteilen. Ich finde, das ist bodenlos. 2006 wurden
von den Gerichten in Deutschland 14 Prozent der allgemeinen Strafsachen eingestellt, bei Steuerstrafsachen lag
die Einstellungsquote bei nur 9,3 Prozent, also deutlich
niedriger.
({7})
Ich frage Sie: Was veranlasst Sie eigentlich dazu, in Ihrem Antrag derart schwerwiegende Vorwürfe gegen die
deutsche Justiz zu erheben?
({8})
Es ist eine Zumutung, dass Sie uns Anträge mit haltlosen
Vorwürfen vorlegen.
({9})
Sie zeichnen ein Bild, das mit der Realität nichts zu tun
hat.
({10})
Wenn Sie sich, bevor Sie Anträge schreiben, einmal
informieren wollen, wie sich das mit den Steuerstrafsachen verhält, empfehle ich Ihnen, die Antwort der
Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der FDP zu lesen; darin können Sie die Zahlen nachlesen.
({11})
Dann werden Sie feststellen, dass Steuerstrafsachen von
der deutschen Justiz schärfer verfolgt werden als allgemeine Straftaten. Hören Sie auf, einen solchen Popanz in
Ihre Anträge zu schreiben! Das ist, gelinde gesagt, unseriös, Frau Scheel.
({12})
Nun zu den Anträgen der Linken. Liebe Kollegin
Höll, was mich an Ihrem Ansatz stört,
({13})
ist, dass er rein reaktiv ist. Sie fordern regelmäßige Berichte des Finanzministers über Steuergestaltungsmodelle. Sie wollen Steuergestaltungsmodelle verbieten.
Besser wäre es, Steuergestaltungsmodelle von vornherein zu verhindern.
({14})
Wenn Sie ehrlich sind, müssen Sie zugeben, dass Steuergestaltungsmodelle vor allem dort entstehen, wo das
Steuerrecht zu kompliziert ist, wo es undurchsichtig ist,
wo es von den Menschen nicht akzeptiert wird.
Herr Kollege Kolbe, ich bin ganz Ihrer Meinung,
wenn Sie sagen, es sind viele Löcher im Käse. Auch die
FDP ist der Meinung, dass das deutsche Steuerrecht
ziemlicher Käse ist.
({15})
Kollege Dr. Wissing, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Dr. Höll?
Ja.
Herr Kollege Wissing, ich bin irritiert. Unser Antrag
trägt den Titel „Steuermissbrauch wirksam bekämpfen Vorhandene Steuerquellen erschließen“. Wir setzen uns
darin explizit mit Maßnahmen gegen aggressive Steuersparmodelle auseinander. Wir haben das Punkt für Punkt
aufgeführt. Man kann das so machen, wie wir das vorschlagen, man kann das auch anders machen; aber man
muss etwas machen. Zu einer Form haben wir uns sehr
konkret geäußert, nämlich zu den Steuergestaltungsmodellen. Hier sollen Anzeigepflichten eingeführt werden.
Sie müssen bei der ersten oder zweiten Zeile aufgehört
haben, unseren Antrag zu lesen.
Ich sage es Ihnen noch einmal, Frau Kollegin Höll:
Ich halte Ihren Ansatz für schwach, weil er rein reaktiv
ist. Es wäre vernünftiger, dort anzusetzen, wo die Probleme entstehen. Sie liegen in einem viel zu komplizierten Steuerrecht begründet. Sie versuchen immer wieder,
die Dinge im Nachhinein zu flicken. Sie können dann
neue Löcher in den Käse hineinschneiden, aber das
Ganze bleibt ein löchriger Käse.
Das Steuerrecht würde vor allen Dingen mit der Umsetzung Ihrer Vorschläge Käse bleiben. Sie führen nämlich neue Bürokratielasten ein und machen es noch komplizierter. Das halte ich schlicht und einfach für die
falsche Lösung. Ein besserer Lösungsansatz wäre es, das
Steuerrecht zu vereinfachen, es gerechter zu gestalten
und niedrigere Steuersätze einzuführen, damit die Menschen das akzeptieren und die Fehlanreize zur Schaffung
von Steuerausnahmen in Deutschland beseitigt werden.
Genau das habe ich gesagt. Dazu stehe ich auch. Das ist
die Meinung der FDP.
({0})
Bezeichnenderweise findet sich in den Anträgen der
Oasenaustrockner kein einziges Wort dazu. Statt inhaltlich mit eigenen Konzepten in die Offensive zu gehen,
wollen Sie nur reagieren. Ehrlich gesagt langweilt mich
an dieser Debatte langsam, dass immer wieder so getan
wird - die Grünen sind darin ja auch immer sehr stark -,
als gäbe es hier im Haus einige, die für Steuerhinterziehung sind, während andere sie bekämpfen wollen. Ich
finde diesen Popanz ehrlich gesagt ziemlich albern und
will noch einmal sagen: Wenn wir gemeinsam etwas tun
wollen, dann müssen wir dort ansetzen, wo die Probleme
entstehen. Diese entstehen aufgrund der Komplexität
und der mangelnden Transparenz unseres Steuersystems.
Die FDP ist gerne bereit, mit Ihnen über Maßnahmen
zur Bekämpfung von Steuerhinterziehung zu reden; aber
allein damit werden wir uns nicht zufriedengeben. Wir
wollen mehr. Wir wollen etwas Konkretes, nämlich ein
einfaches und gerechtes Steuersystem mit niedrigen
Steuersätzen für die Mitte unserer Gesellschaft, die seit
Jahren abkassiert wird.
({1})
- Frau Scheel, Sie erheben hier laut Ihre Stimme.
({2})
- Herr Kollege Poß, da Sie von „billig“ reden, sollten
Sie einmal Ihren Zwischenruf im Protokoll nachlesen.
Der ist nicht nur billig, sondern den kann ich Ihnen auch
gleich schenken und zurückgeben.
Frau Kollegin Scheel, ich sage Ihnen ganz offen: Sie
kommen mit Ihren Vorschlägen nicht weiter. Wer etwas
gegen Steuerhinterziehung tun will, der muss dort ansetzen, wo die Probleme entstehen. Das ist bei unserem
Steuerrecht. Deswegen wollen wir eine Politik für die
Mitte machen, die hier abkassiert wird.
Kollege Wissing, achten Sie bitte auf das Zeichen vor
Ihnen. Die Redezeit ist überschritten.
Sie haben das angefangen, die Große Koalition hat
das fortgesetzt. Wenn dieses Steuersystem nicht gerechter wird, dann werden Sie die Probleme nicht lösen.
({0})
- Ich bedaure nicht, dass Sie keine Frage mehr stellen
können, aber wir hören nachher ja noch Ihre Ausführungen zu Ihrem nicht ganz sorgfältig ausgearbeiteten Antrag.
Vielen Dank.
({1})
Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Lothar
Binding das Wort.
({0})
Sehr verehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Eigentlich hat jetzt auch der Letzte gemerkt, dass wir etwas gegen Steuerhinterziehung, internationale Steuergestaltung und Steuerbetrug machen
müssen, also auch die PDS, die Linke, die LafontainePartei.
({0})
Es ist schon wichtig, etwas zu tun, man darf aber
nicht verschweigen, dass schon sehr viel getan wurde.
Wir wissen, dass die Steueroasen schon ein paar Jahre
existieren. Herr Wissing hat uns vorgetragen, wie lange
jetzt verschiedene Koalitionen existieren und wie lange
die Fraktionen in der Regierung waren. Schauen Sie sich
an, wie alt die Steueroasen schon sind, und bedenken
Sie, dass auch die FDP 39 Jahre lang an der Regierung
beteiligt war, ohne sich so darum zu kümmern. Andernfalls hätten wir uns heute gar nicht mehr darum kümmern müssen. Daran erkennen Sie, wie schnell sich Ihre
Aussagen relativieren.
({1})
Ich will ein Grundproblem nennen, mit dem ich andeuten kann, dass unsere Regierung ein gigantisches
Lob verdient hat. Es geht um das Verdienst, sich um internationale Verhandlungen über ein faires Steuermodell
zu kümmern. Das geschieht international in der OECD
und in der EU ganz intensiv. Trotzdem haben wir noch
Probleme.
Deshalb haben die SPD und die CDU/CSU einen eigenen großen und seriösen Antrag in den Blick genommen. Wir wollen die Lücken, die es noch gibt, genauer
untersuchen, immer mit Blick auf die internationale Einbindung. Solange die Unterschiede bei den Steuersystemen und den Steuersätzen zwischen den Ländern so
groß sind, können wir nicht alles erreichen, was wir wollen.
Angenommen, ich habe in Deutschland ein x-beliebiges Vermögen. Sagen wir, es sind 3 Milliarden Euro. Ich
denke an eine Institution, an ein Unternehmen oder an
eine Partei. Angenommen, ich würde Gefahr laufen,
dass ich dieses Geld steuerlich irgendwie zur Geltung
bringen muss. Das würde mich ärgern. Was würde ich
also machen? Ich würde möglicherweise - Österreich
wurde von Euch ja schon genannt - eine Rudolfine
Steindling aus Österreich kennen, die zu 60 verschiedenen Banken engste Kontakte pflegt und weltweit über
ein ehemals noch über die SED existierendes Unternehmensnetz gewisse Dinge tun kann. Was würde ich also
mit meinem Geld in Deutschland tun? Ich würde ausländische Firmen finden, die meiner inländischen Firma,
die das Geld hat, eine Rechnung ausstellen würden.
Die Rechnung würde für Consulting, also Beratung,
ausgestellt. Ich kann gute Beratung gut oder schlecht bezahlen, ich kann schlechte Beratung gut oder schlecht
bezahlen, ich kann natürlich auch gar keine Beratung gut
bezahlen.
Jetzt sieht man sofort das Problem: Ich bekomme die
Rechnung auf den Tisch und bezahle sie, was in
Deutschland eine ganz normale Ausgabe ist. Das Geld
ist dann grenzüberschreitend weg, es ist an einem wohlüberlegten, sicheren Ort in einem Land, in dem vielleicht
keine Steuern erhoben werden. Falls doch, fällt mir bestimmt die nächste Grenze ein - bis dieses Geld in einer
Steueroase angekommen ist.
Wenn wir uns richtig erinnern, ist das deshalb so
kompliziert, weil ich selbst dann, wenn die anderen Staaten wohlmeinend wären, die Firma, die mir die Rechnung schreibt, umgründen, in Konkurs gehen lassen,
verschmelzen oder neu gründen kann. Ich nenne ein Beispiel: Die SED geht in die PDS über, diese verschmilzt
mit der WASG und gründet Die Linke neu. Hier haben
wir genau diese klassische Umgründung, Verschmelzung und Neugründung erlebt,
Lothar Binding ({2})
({3})
die wir auch in der Unternehmenswelt vorfinden. Deshalb empfinde ich euren Antrag als essenziell wichtig.
Wir werden sogar einzelne Dinge, speziell diejenigen,
die die Zinsrichtlinie betreffen, in unseren Antrag aufnehmen. Die Zinsrichtlinie ist tatsächlich verbesserungsbedürftig.
Da ich gerade Herrn Bisky sehe, füge ich an: Dass
meine Untersuchung eben gerade nicht ganz verkehrt
war, kann ich auch damit begründen, dass Sie sogar ein
Ordnungsgeld in Kauf genommen haben, allerdings
nicht, um Transparenz zu erzeugen, sondern möglicherweise deshalb, um Aussagen nicht machen zu müssen,
die Transparenz geschaffen hätten. Vornehm formuliert,
nennt man dies Verschleierung.
({4})
Von daher muss man ein bisschen genauer hingucken
und fragen, was dort gemacht wird. Man muss auch etwas genauer auf das gucken, was im Antrag steht.
Zu Ihrem Vorschlag, die Doppelbesteuerungsabkommen abzuschaffen, habe ich drei Fragen. Wissen Sie,
dass es etwa 40 000 bis 50 000 Grenzgänger zur
Schweiz gibt, deren Einkommen in Deutschland versteuert werden? Haben Sie sich überlegt, welche Konsequenzen es für uns hätte, wenn wir darauf verzichteten?
Natürlich gilt dies immer symmetrisch. Überlegen Sie
sich also, was das für unser Steueraufkommen, aber auch
für die Menschen bedeutete, die als Grenzgänger Arbeitnehmer in der Schweiz sind. Haben Sie sich auch einmal
überlegt, wie eigentlich die Beziehungen etwa in der
chemischen Industrie zwischen Schweizer Unternehmen
und wichtigen Töchtern in Deutschland sind und welche
Konsequenzen es etwa für die Besteuerung von Lizenzzahlungen hätte, wenn wir Ihrem Vorschlag zu den Doppelbesteuerungsabkommen folgten? Daran merken wir,
dass Ihr Vorschlag sehr unüberlegt ist.
Diese Unüberlegtheit zeigt sich insbesondere an einem kleinen Satz in Ihrem Antrag:
- der Verzicht auf die Einführung der Kapitalabgeltungsteuer: Kapitalerträge werden auch zukünftig
dem persönlichen Steuersatz unterworfen;
Dies heißt eigentlich nichts weiter als Folgendes:
Machte eine Aktiengesellschaft einen Gewinn von, sagen wir, 100 Euro, und zahlte sie auf diese 100 Euro
30 Euro Steuern, bekämen Sie als Anteilseigner 70 Euro
und müssten darauf, weil Sie reich sind, wie wir gerade
gehört haben, 40 Prozent Steuern zahlen. Am Ende hätten Sie möglicherweise von dem Gewinn allenfalls noch
35 bis 40 Prozent übrig. Wollen Sie dies wirklich, und
haben Sie sich überlegt, was das für Investitionstätigkeit,
Ansiedlungspolitik und Standortfragen bedeutet? Dessen
bin ich mir nicht sicher; ich vermute, dass Sie sich diesen Vorschlag nicht besonders gut überlegt haben.
Es gibt in Ihrem Antrag noch ein paar andere Vorschläge, zum Beispiel den „Ausschluss von Bankinstituten aus nicht kooperierenden Staaten“. Welchem Recht
unterliegen eigentlich Filialen ausländischer Banken in
Deutschland? Diese Filialen unterliegen deutschem
Recht. Was passierte, wenn sie geschlossen würden?
Dann gäbe es immer noch internationale Banktransfers.
Es würde immer noch eine Dividende in die Clearstream
Banking AG als Sammelbecken fließen, die das dann
über ihr Korrespondenzkonto komplett auf eine andere
Bank überweisen würde. Wie würden Sie dieser Anonymität Herr werden?
Insofern wäre eine echte kleine Tochtergesellschaft
einer ausländischen Bank oder eine Filiale vorzuziehen,
die nach deutschem Recht beaufsichtigt wird und Transparenz wahren muss. Der Kollege Kolbe hat bereits darauf hingewiesen, dass es eine ganze Reihe von Kontrollmitteilungen gibt. Möglich ist zum Beispiel eine
Kontenabfrage, um herauszufinden, ob jemand Konten
verschleiern wollte. Wir können auch die Stammdaten
und die Anzahl der Konten erheben.
Ich halte die Diktion in Ihrem Antrag insgesamt für
falsch. Mit den von Ihnen vorgeschlagenen Maßnahmen
wäre es nicht möglich, Erträge aus Vermögen, die sich
heute im Ausland befinden, aufzuspüren.
({5})
Denn wenn sich das Vermögen erst einmal im Ausland
befindet, dann kann man die sich daraus ergebenden Erträge international anlegen, ohne jemals mit einer deutschen Bank bzw. dem deutschen Fiskus zu tun zu haben.
In Ihrem Antrag sind keine Möglichkeiten vorgesehen,
auf solche Erträge zu stoßen. Das ist ein Fehler.
Wir wollen Ihren Antrag zum Anlass nehmen, uns mit
dem Thema zu befassen und mit unserem Antrag, den
wir bereits formuliert haben, der Stoßrichtung in diesem
Punkt zu folgen. Ich glaube, dann können wir zu einem
guten Ergebnis kommen.
Sie haben uns aufgefordert, Ihrem Antrag zuzustimmen. Ich fordere Sie auf: Stimmen Sie unserem Antrag
zu! Er ist wohlüberlegt.
({6})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die
Kollegin Christine Scheel das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es wäre schön, wenn wir einem Antrag vonseiten der
SPD und der CDU/CSU zustimmen könnten, wenn es
ihn denn gäbe. Es gibt ihn aber nicht.
({0})
Das Problem besteht darin, dass innerhalb der Großen
Koalition anscheinend sehr individuell gearbeitet wird.
Die einen arbeiten in einer AG an einem Antrag; die anderen haben andere Arbeitszusammenhänge und setzen
andere Prioritäten. Ich befürchte, dass es zum Thema
Steuerhinterziehung in dieser Legislaturperiode keinen
gemeinsamen Antrag der Großen Koalition geben wird.
Das ist bedauerlich. Aus diesem Grund haben wir vom
Bündnis 90/Die Grünen einen konkreten Antrag mit
Handlungsmöglichkeiten vorgelegt.
({1})
- Der Inhalt ist richtig.
Herr Wissing, Sie sind von Beruf Jurist. Der Antrag
der Grünen ist nicht so zu verstehen, als ob wir Staatsanwälten oder Richtern einen Vorwurf machen würden,
wie Sie ihn interpretiert haben. Im Gegenteil: Die Grünen sind der Meinung, dass die Richter und Staatsanwälte im Zusammenhang mit Ermittlungstätigkeiten regelmäßig in Verfahren ertrinken. Deswegen wollen wir
mehr Effizienz und eine Personalaufstockung mit einer
Schwerpunktsetzung in diesem Bereich, wie es sie derzeit nicht gibt.
({2})
Wir fordern ebenso wie bei der Wirtschaftskriminalität die Einrichtung von Schwerpunktstaatsanwaltschaften. Es geht nicht an, dass in der Bundesrepublik
Deutschland viele Verfahren nicht so zügig bearbeitet
werden können, wie es diejenigen gerne täten, die sie zu
bearbeiten haben.
Kollegin Scheel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Dr. Wissing?
Gern.
Frau Kollegin Scheel, Sie haben eben festgestellt,
dass das, was in Ihrem Antrag formuliert ist, richtig sei.
Sie schreiben in Ihrem Antrag, dass aus Kapazitätsmangel beim Amtsgericht angeklagt wird, obwohl an sich
die Wirtschaftsstrafkammern des Landgerichtes zuständig sind. Teilen Sie mit mir die Auffassung, dass diese
Aussage falsch ist, weil nach deutschem Recht nicht frei
entschieden werden kann, wo man Anklage erhebt, und
dass es dienstrechtlich für Staatsanwälte in Deutschland
nicht zulässig ist, in Kenntnis der Zuständigkeit des
Landgerichtes beim Amtsgericht Anklage zu erheben?
Teilen Sie mit mir die Auffassung, dass Staatsanwälte in
Deutschland nicht gegen diese gesetzliche Regelung verstoßen?
Herr Kollege Wissing, Sie lenken ab. Der entscheidende Punkt ist, dass wir die Situation, die Anlass zum
Bedauern gibt, verändern wollen. Es gibt solche Fälle,
wie ich sie beschrieben habe; das wissen Sie. Die Juristinnen und Juristen in meiner Fraktion haben in der Praxis der Lebenswelt festgestellt, dass es Probleme gibt.
Wir möchten die Probleme lösen, indem wir dem Personal mehr Hilfestellung geben, zum Beispiel durch das
Aufstocken der Stellenzahl. Dann kann mehr passieren.
Das wäre im Hinblick auf unser Ziel gut, Steuerhinterziehung zu bekämpfen. Das ist der entscheidende Punkt,
nicht mehr und nicht weniger.
({0})
Sie wollen ein einfaches und faires Steuersystem und
das Problem durch Senkung der Steuersätze lösen. Damit liegen Sie falsch. Nehmen wir den Fall des Postchefs
Klaus Zumwinkel. Er hat viele Jahre bei der Liechtensteiner LGT Bank etwa 10 Millionen Euro angelegt und
hat auf die Zinserträge keine Steuern gezahlt. Ich frage
Sie: Verhindern Sie solche Fälle, in denen jemand irgendwo Geld anlegt und null Zinserträge angibt, obwohl
er sie angeben müsste, wenn Sie das Einkommensteuerrecht durch entsprechende Änderungen vereinfachen
und die Sätze senken? Sie können noch so sehr vereinfachen, aber solche Fälle, in denen jemand bewusst keine
Steuern zahlen will, verhindern Sie so nicht. Sie müssten
den Satz schon auf null senken, um vielleicht Ihr Ziel zu
erreichen. Das kann aber nicht im Interesse des Allgemeinwesens liegen und wird der Situation in der Bundesrepublik Deutschland nicht gerecht. Das wäre völliger Quatsch; das wissen Sie auch. Sie lenken mit Ihrer
Zwischenfrage nur ab.
({1})
Die Spitze des Eisbergs ist nun ein Stück weit abgetragen. Aber der Eisberg ist ziemlich breit und groß.
Nach Angaben der Deutschen Steuer-Gewerkschaft sind
etwa 400 Milliarden Euro im Ausland versteckt. Um den
Bürgerinnen und Bürgern die Relation deutlich zu machen: Das ist das Eineinhalbfache dessen, was der Bund
ausgeben kann. Allein der Steuerschaden liegt im zweistelligen Milliardenbereich. Aus diesem Grund haben
wir strategische Überlegungen angestellt. Unser wirksames Maßnahmenpaket auf nationaler, europäischer und
internationaler Ebene finden Sie in unserem Antrag.
({2})
Wir wollen alle Chancen nutzen. Ich verweise nur auf
die Löcher bei der europäischen Zinssteuerrichtlinie und
bei Doppelbesteuerungsabkommen. Wir wollen zum
Anrechnungsverfahren übergehen. Das alles und vieles
mehr lässt sich in unserem Antrag finden. Wir werden in
Zukunft darüber weiter diskutieren können, wenn die
Koalition denn einen Antrag vorlegt. Ich hoffe sehr, dass
sie es bald tun wird. Unser Antrag liegt bereits vor. Die
Ideen sind richtig. Die Maßnahmen sind gut. Deswegen
bitten wir, unseren Antrag zu unterstützen.
Danke schön.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/9168, 16/9166 und 16/9421 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeVizepräsidentin Petra Pau
schlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Laurenz Meyer ({1}), Dr. Heinz
Riesenhuber, Dr. Michael Fuchs, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie
der Abgeordneten Ute Berg, Dr. Rainer Wend,
Doris Barnett, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Das neue Zentrale Innovationsprogramm Mittelstand ZIM optimal ausgestalten und konsolidierungskonform finanzieren
- Drucksachen 16/8905, 16/9471 Berichterstattung:
Abgeordnete Ute Berg
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dr. Heinz Riesenhuber für die Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kollegen! Über Steuerhinterziehung haben wir gerade gesprochen, jetzt reden wir über den ehrlichen Mittelstand, der vielfältig in Deutschland seine
Arbeit tut und der seine Steuern zahlt.
Der Mittelstand hat in den letzten Jahren den größten
Anteil an neuen Arbeitsplätzen geschaffen. Es waren
Hunderttausende. Der Aufbau von Arbeitsplätzen fand
insbesondere im innovativen Mittelstand statt. Die Welt
besteht aus Hightech, Lowtech und Notech, aber der Bereich, in dem am schnellsten Neues entsteht, ist der technisch-innovative Mittelstand. In diesem Bereich gibt es
in Deutschland gut hunderttausend Unternehmen. Man
muss ehrlich einräumen, dass rund die Hälfte von diesen
Unternehmen gar nicht forscht, 30 000 mit großer Stetigkeit forschen und der Rest gelegentlich. Jeder ist willkommen. Es gibt viele, die im Wesentlichen von Imitationen leben. Das ist zulässig, solange sich das in den
Grenzen dessen bewegt, was die Gesetze erlauben. Es
gibt andere, die Ideen zu technologischen Dienstleistungen zur Marktreife bringen und dabei aus frei verfügbarem Wissen schöpfen. Auch dies ist gut. Was hier entsteht, ist eine große Landschaft, die allerdings in den
letzten Jahren nicht ganz die Dynamik hatte, die wir uns
immer gewünscht haben. Wir konstatieren eine Stagnation der Forschungsaufwendungen in den mittelständischen Unternehmen bei nur geringen Schwankungen.
Dies ist in Zeiten, die sich immer schneller ändern und in
denen immer mehr auf Forschung basiert, eine gefährliche Strategie.
Zum Mittelstand gehören auf der anderen Seite die
Gründungen. Die Zahl der Neugründungen von Hightechunternehmen stieg bis 2000 Jahr für Jahr, dann nahm
die Zahl ab, anschließend gab es eine leichte Erholung,
und 2005 ging die Zahl wieder zurück. Die Situation ist
durchaus schwierig.
Schauen Sie sich die ganze Landschaft an. Von den
300 forschungsstärksten Unternehmen der Welt sind 55
nach 1960 gegründet worden, zwei in Europa, eins davon in Deutschland, 53 in den USA. Wenn wir die Dynamik erreichen wollen, die wir mit der Lissabon-Strategie
beschlossen haben, dann müssen wir einen neuen Anlauf
nehmen. Das macht die Bundesregierung. Deshalb hat
sie die Ziele gesetzt. Das 6-Milliarden-Euro-Programm
ist inzwischen durch die Weisheit und Güte des Finanzministers aufgestockt worden. Wir hoffen, dass es so
weitergeht. Ich nenne weiterhin die Hightech-Strategie
und die Programme, die den Mittelstand in den einzelnen Bereichen voranbringen. Es gibt die Fachprogramme des Forschungsministeriums und des Wirtschaftsministeriums. Eine große Stärke aber liegt in den
technologieoffenen Programmen, die der Wirtschaftsminister aufgelegt hat.
Hier setzt jetzt ZIM an, der neue Vorschlag, über den
wir jetzt diskutieren. Das ist eine Weiterentwicklung von
Programmen, die wir haben, eine Zusammenführung und
Vereinfachung. ZIM bedeutet Zentrales Innovationsprogramm Mittelstand, nur damit wir uns nicht mit Kürzeln
erschlagen. Ich habe das jetzt einmal gesagt und darf es
deswegen künftig einsparen. Dieses ZIM fasst mehrere
Programme zusammen, die sich bewährt haben. Nach
1990, nach der deutschen Einheit kam eine Reihe von
Programmen, die sich in den alten Bundesländern bewährt hatten, in die neuen Länder. Manche wurden modifiziert. Inzwischen haben sich diese und andere, neue
Programme in den neuen Ländern bewährt.
Mit ZIM soll das, was gut ist, zu einem einzigen Programm für ganz Deutschland zusammengeführt werden.
Die Scheidung in Ost und West kann nicht der vernünftige Weg sein. Dabei handelt man in dem klaren Bewusstsein, dass der Anteil der Mittel, die in die neuen
Bundesländer gehen, weiter steigt und immer überproportional hoch bleibt. Das ist notwendig für die Dynamik in diesem Bereich.
Was geschieht im Einzelnen? Ich beschreibe jetzt
nicht die Programme, die uns allen, wie ich vermute,
wohlvertraut sind. Pro Inno betrifft die Zusammenarbeit
zwischen Unternehmen und wissenschaftlichen Instituten. Das ist mit über 200 Millionen Euro ein starkes Programm. Damit werden Kooperationen aufgebaut. InnoNet fördert Netzwerke zwischen kleinen und mittleren
Unternehmen und Forschungseinrichtungen. Diese Kooperationen brauchen wir so, dass das selbstverständlich
wird. NEMO steht für: Netzwerkmanagement Ost. Es
war eine gute Idee, einen Förderwettbewerb zum Aufbau
von Netzwerken zwischen mittelständischen Unternehmen und Forschungseinrichtungen durchzuführen. Aus
dem Programm Inno-Watt soll die einzelbetriebliche
Förderung von Unternehmen in den neuen Bundesländern in ZIM integriert werden. Damit haben wir das
Konzept.
Was ändert sich? Neu ist, dass die Programme für
ganz Deutschland gelten. Neu ist, dass die Antragsverfahren einfacher werden. Neu ist, dass man bei all diesen
Programmen den einzelnen Adressaten nicht hinterherlaufen muss; vielmehr gibt es eine einzige zentrale Ansprechstelle. Neu ist die Schnelligkeit der Bearbeitung.
Ein Mittelständler muss schnell über die Entscheidung
informiert werden. Neu sind außerdem einige Inhalte.
Bis jetzt galt beispielsweise eine beachtliche Altersgrenze. Es gibt aber keinen vernünftigen Grund, warum
erfahrene Forscher nicht weiterarbeiten sollen, solange
sie Ideen haben. Bis jetzt war es auch so, dass die Geschäftsführer nicht mitmachen durften. Bei einem mittelständischen Unternehmen, das forscht, ist aber der Geschäftsführer in der Regel das „Frontschwein“, das die
ganze Arbeit zu machen hat. Das heißt, wir versuchen
Barrieren zu beseitigen, sodass die Sache schnell, dynamisch und erfolgreich ist. Wir sorgen für ein einziges geschlossenes Programm für ganz Deutschland.
({0})
Dazu brauchen wir hier neben der vorzüglichen Arbeit des Wirtschaftsministers die Unterstützung des Finanzministers. Ich kann hier nicht voraussagen, was es
kostet. Es heißt, dass wir in diesem Jahr mit den Mitteln
hinkommen, dass wir im nächsten Jahr 80 Millionen
Euro und in den Folgejahren, je nach Entwicklung,
100 Millionen bis 200 Millionen Euro mehr brauchen
könnten. Es sind also sehr beachtliche Beträge. Wir haben bis jetzt die Erfahrung gemacht, dass uns der Finanzminister, der heute zufällig nicht da ist, mit Herzlichkeit durch die Jahre begleitet hat. Wir vertrauen fest
darauf, dass das so bleiben wird.
({1})
Die Frage des Finanzministers, warum er Forschung
fordern soll, ist ungefähr 150 Jahre alt. Damals fragte
der englische Finanzminister Gladstone, wofür Elektrizität gut sei. Die klassische Antwort war: Sie können sie
eines Tages besteuern. Nichts ist bezaubernder für einen
Finanzminister, als dass er einmal besteuern kann. Wenn
es mehr neugegründete Unternehmen gibt, dynamische
Unternehmen, die durch Forschung neue Arbeitsplätze
schaffen, dann profitiert davon der Finanzminister. Ihn
glücklich zu machen, ist das größte Ziel. Auf dieser
Grundlage könnten wir dann arbeiten.
Wir werden daran in den nächsten Jahren arbeiten.
Wir brauchen zum Start dieses Programms das grüne
Licht des Finanzministers jetzt; denn am 1. Juli soll die
erste Stufe starten, und am 1. Januar nächsten Jahres soll
der betriebsspezifische Teil von Inno-Watt dazukommen. Das ist ein wichtiger Schritt, auch wenn es nicht alles ist.
Wenn die Forschungspolitik gut ist, entstehen immer
neue Forschungsprogramme. Alte Forschungsprogramme
werden eingestellt, neue werden begonnen, und vorhandene werden umstrukturiert. Das muss ein lebendiger
Prozess sein. Wenn ein Forschungsprogramm erfolgreich ist, dann muss man sich fragen, ob man es weiterführen muss. Wenn es erfolglos ist, dann darf man nicht
gegen den Markt fördern. Entscheidend ist, eine Strategie zu finden, durch die Neues angeregt wird, Ideen in
den Markt eingebracht werden, die Menschen begeistert
werden und fröhlicher Unternehmungsgeist unter den
Menschen wächst. Da haben wir noch einen langen Weg
vor uns.
Über vieles diskutieren wir. Noch mehr tut die Bundesregierung, worüber wir stolz und glücklich sind. Uns
wird ein Vorschlag zur steuerlichen Forschungsförderung gemacht werden. Über Wagniskapital werden wir
in der nächsten Stufe wieder reden. Wir werden in vielen
Bereichen das Neue angehen. Dann entsteht eine Landschaft, über die vor allem der Finanzminister glücklich
sein kann, weil er dadurch zusätzliche Steuereinnahmen
erzielt. Herr Staatssekretär, bitte, richten Sie ihm meine
herzlichen und verbundenen Grüße aus.
({2})
Vorher müssen wir dafür sorgen, dass das Neue entsteht
und wächst. Der Staat kann die Zukunft nicht vorhersehen, aber er kann die Voraussetzungen dafür schaffen,
dass die Menschen, die etwas davon verstehen, die die
Arbeit tun und die Verantwortung tragen, die unsere
Bürgergesellschaft ausmachen -
Kollege Riesenhuber, auch wenn Sie darüber hinwegsehen: Dieses Licht dort bedeutet, dass Sie weit über
Ihre Redezeit sind. Ich weiß, dass Sie das immer irritiert.
Frau Präsidentin, ich bedanke mich für den Hinweis.
Ich freue mich sehr, dass Sie mich so liebevoll begleiten.
({0})
Wir werden deshalb mit Fröhlichkeit, Unternehmungsgeist und Entschlossenheit unter Begleitung der Präsidentin in eine neue unternehmerische Zukunft aufbrechen.
Wenn die Frau Präsidentin uns dabei wohlwill - genau
wie der Finanzminister -, dann ist das für uns alle nützlich.
({1})
Das Wort hat der Kollege Martin Zeil für die FDPFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Trotz der wie immer eindrucksvollen Vortragsweise,
Herr Kollege Riesenhuber, geht es uns mit dem Antrag
der Koalitionsfraktionen so wie mit einem Luftballon,
der nicht ganz dicht ist: Je länger man ihn in Händen
hält, desto mehr schnurrt er zusammen.
({0})
Sie haben einen einfachen haushaltstechnischen Vorgang genutzt, um wunderschöne Sätze und SelbstverMartin Zeil
ständlichkeiten aufzuschreiben und eindrucksvoll das
Hohelied des Mittelstands zu singen. Eine besondere politische Substanz können wir dem leider nicht entnehmen.
Vielleicht erklärt das auch Ihr Verhalten gestern im
Ausschuss, wo der Antrag entgegen allen parlamentarischen Gepflogenheiten einfach durchgepeitscht wurde,
ohne dass die Fragen unserer Fraktion vor der Abstimmung beantwortet worden waren. Offenbar sahen Sie Ihren eigenen Antrag als nicht so recht diskussionswürdig
an.
Gegen die Bündelung der Fördermaßnahmen für den
Mittelstand ist grundsätzlich auch nichts einzuwenden,
falls dadurch Effizienzpotenziale gehoben und vor allen
Dingen mehr Transparenz für die Förderungsempfänger
erreicht werden können. Jedoch darf die Förderung nicht
zu einem simplen Geschenketopf für alle werden. Die
Förderrichtlinien müssen klar formuliert werden. Die
Maßnahmen müssen endlich von einer unabhängigen Instanz bewertet werden.
({1})
Leider halten Sie sich erneut nicht an Ihre eigenen
Subventionsrichtlinien. Im Subventionsbericht der Bundesregierung heißt es - ich zitiere -:
Neue Finanzhilfen werden nur noch befristet und
grundsätzlich degressiv ausgestaltet.
In Ihrer verspäteten Antwort auf unsere Fragen heißt es
stattdessen:
Innerhalb der Laufzeit werden die … Fördersätze
im Programm stabil gehalten, um bei den Nutzern
Planungssicherheit zu gewährleisten.
Aber nur die degressive Förderung verhindert die Abhängigkeit vom Subventionstropf und fördert die Initiative der Empfänger, eigene Finanzquellen zu erschließen.
({2})
Aber für alles das hätte es dieses Antrags nicht bedurft. Sie haben angesichts der anhaltenden Kritik aus
dem Mittelstand an Ihrer Politik - Stichwort Ziel- und
Orientierungslosigkeit - einmal wieder einen Anlass gesucht, sich selbst zu loben. Sie schreiben im Antrag:
Nur an der Spitze des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts kann Deutschland auch in Zukunft
im globalen Wettbewerb bestehen und damit Wachstum, Arbeitsplätze und Wohlstand in Deutschland sichern.
({3})
- Wer wollte dem nicht zustimmen, Herr Kollege Wend?
Sie reden von vielen forschenden und innovativen
Unternehmen in unserem Land. Haben Sie sich eigentlich einmal gefragt, wie lange die sich das Forschen nach
Ihrer mittelstandsfeindlichen Politik noch leisten können? Ich erinnere an die Debatte um die Besteuerung der
Funktionsverlagerung im Zusammenhang mit der Unternehmensteuerreform.
({4})
Herr Kollege Riesenhuber, das ist gerade für die innovativen Unternehmen, die jungen Unternehmen ein ganz
gravierender Hemmschuh.
({5})
Das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung
hat richtig festgestellt, dass die kleineren Unternehmen
sich noch zu wenig an diesem Innovationsprozess beteiligen. Das wirft doch die Frage auf: Warum? Die
Antwort ist gar nicht so schwer: Es sind Ihre Politik des
Stillstands, der mittelstandsfeindlichen Erbschaftsteuerreform, der Steuererhöhungen, der hochgetriebenen Energie- und Lohnnebenkosten sowie die Bewegungslosigkeit bei der Reform des Arbeitsmarkts und eine
nach wie vor belastende Bürokratie, die diese Schritte
behindern.
({6})
Solange Sie eine mittelstandsfeindliche Politik machen,
solange Sie damit immer mehr gut ausgebildete junge
Menschen ins Ausland treiben, solange werden auch die
gutgemeinten Programme und ihre Zusammenlegung
nichts bewirken. Noch ist die Lage unserer Wirtschaft
gut. Die Alarmzeichen am Horizont sind aber nicht zu
übersehen. Gerade deshalb ist es so verantwortungslos,
wenn sich die schwarz-rote Koalition mehr und mehr
vom Regieren verabschiedet und sich nur noch mit
Wahlkampfscharmützeln bis zum nächsten Wahltermin
schleppen will.
({7})
Wir befinden uns in einer Vertrauenskrise: Viele Menschen vertrauen der Finanzwirtschaft wegen der aktuellen Krise nicht mehr; viele Marktteilnehmer vertrauen
einander nicht mehr; viele Menschen trauen der Regierung nicht mehr; Teile der Regierung trauen sich untereinander nicht mehr. Die Regierung betreibt aber keine
Politik, die das Vertrauen wieder stärken könnte.
({8})
Vertrauen gewinnt man nur mit einem klaren Kurs zurück, der am Kompass der sozialen Marktwirtschaft ausgerichtet ist.
({9})
Lassen Sie mich abschließend sagen: Sie sollten sich
gerade anlässlich Ihres Antrages folgenden Satz des
deutschen Familienunternehmers Hans Knürr hinter die
Ohren schreiben:
Belässt man dem Mittelstand die notwendigen Mittel, hat er ohne staatliche Hilfe einen unglaublich
festen Stand.
Ich danke Ihnen.
({10})
Das Wort hat die Kollegin Ute Berg für die SPDFraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nach der larmoyanten Rede von Herrn Zeil
({0})
möchte ich wieder Optimismus in die Runde bringen
und auch mit ein wenig Stolz zurückblicken.
Wir haben Deutschland unter Rot-Grün im Bereich
Forschung und Entwicklung gut aufgestellt.
({1})
- Ja, ich sagte aber auch: „und auch mit ein wenig Stolz
zurückblicken“. Gedulden Sie sich!
Mit Edelgard Bulmahn an der Spitze des Forschungsministeriums wurden die Ausgaben für Bildung und Forschung um fast 38 Prozent erhöht. Sie erinnern Sie sich
vielleicht an einen gewissen Herrn Rüttgers, der auch
einmal Forschungsminister war. Ich erinnere nur einmal
kurz daran, dass unter ihm der Etat zweimal zurückgeschraubt wurde. Bei uns war das anders.
({2})
Ohne unser klares sozialdemokratisches Bekenntnis zur
Innovationspolitik,
({3})
ohne den Pakt für Forschung und Innovation, ohne die
Exzellenz-, Gründer- oder IT-Forschungsinitiativen, den
Hightech-Masterplan, um nur einige Projekte zu nennen,
stünden wir definitiv nicht so gut da.
({4})
Da unser jetziger Koalitionspartner das leider nicht herausstellt - man sieht das ja deutlich -, müssen wir das
eben hin und wieder auch einmal selber tun.
Die erfolgreiche Politik setzen wir nun aber auch in
der Großen Koalition fort. Die Ausgaben des Bundes für
Forschung und Entwicklung haben wir im Jahr 2007 mit
rund 10 Milliarden Euro auf einen Höchststand angehoben. Dieser Betrag wird in diesem Jahr mit voraussichtlich 11 Milliarden Euro sogar noch getoppt. Das sind gut
angelegte Gelder. Wir bestreiten ein Drittel unseres weltweiten Handels mit forschungs- und entwicklungsintensiven Gütern. Den jetzigen Aufschwung hätten wir ohne
unsere Spitzenposition bei Technologieexporten nicht
erlebt - so die Expertenkommission Forschung und Innovation in ihrem ersten Gutachten 2008 für die Bundesregierung.
Vor zwei Jahren haben wir die Hightech-Strategie
gestartet - Herr Riesenhuber hat schon darauf hingewiesen -, um Deutschland an die Spitze der wichtigsten
Zukunftsmärkte zu bringen. Ressortübergreifend zieht
diese Regierung dabei an einem Strang. Unsere Ziele
sind, aus Ideen schneller marktfähige Produkte zu machen, Wirtschaft und Wissenschaft noch enger miteinander zu vernetzen und dabei besonders die kleinen und
mittelständischen Betriebe im Auge zu haben. Sie sind
nämlich der Motor unserer wirtschaftlichen Entwicklung. Das ist bekannt. Fast 30 000 von ihnen betreiben
kontinuierlich Forschung, circa 110 000 bringen regelmäßig innovative Produkte und Dienstleistungen auf den
Markt und sorgen damit für einen enormen Beschäftigungszuwachs. Die Wettbewerbsfähigkeit des Standortes Deutschland wird maßgeblich durch diese Unternehmen beeinflusst.
Die eben erwähnte Expertenkommission erklärte uns,
dass mit der Hightech-Strategie ein neuer, vielversprechender Weg beschritten wurde, und sie forderte den
Bund auf, den eingeschlagenen Weg konsequent fortzusetzen, Herr Zeil. Das werden wir tun.
Aber nicht nur der Staat unternimmt verstärkte Anstrengungen, auch die privaten Investitionen ziehen inzwischen nach. Laut Stifterverband sind seit 2006 deutliche Zuwächse zu verzeichnen. Damit tun sich die
Unternehmen, die forschen und entwickeln, selbst den
größten Gefallen. Sie schaffen sich nämlich in aller Regel gute Positionen im nationalen, aber auch im internationalen Wettbewerb.
Die Unternehmensberatung Ernst & Young hat in ihrer aktuellen Studie „Siegerstrategien im deutschen Mittelstand 2008“ 100 besonders erfolgreiche mittelständische Unternehmen unter die Lupe genommen und nach
dem Geheimnis ihres Erfolgs gesucht. Das Ergebnis
war: Die Entwicklung innovativer Produkte gilt als
wichtigster Schritt zum Erfolg. Es folgen Bildungsaktivitäten, Orientierung an Kundenwünschen und Motivation durch gesellschaftliches Engagement.
Aber wo viel Licht ist, ist natürlich auch Schatten. Ich
habe mich bisher auf die innovativen Mittelständler konzentriert. Leider ist auch das Realität in Deutschland:
Zwei Drittel der Unternehmen, die das IW, das Institut
der deutschen Wirtschaft Köln, in seinem Zukunftspanel
befragt hat, forschen oder entwickeln überhaupt nicht.
Herr Riesenhuber hat schon darauf hingewiesen. Das hat
natürlich unterschiedliche Gründe: Den einen fehlt
schlicht und ergreifend das Geld für FuE-Aktivitäten,
die sich in der Regel erst mittel- oder langfristig auszahlen, und die anderen haben häufig keine Kenntnis davon,
welche Forschungsergebnisse, die vermarktet werden
können, die Hochschulen und Forschungsinstitute hervorbringen.
In jedem Fall bleiben riesige Potenziale ungenutzt.
Das muss sich schnellstens ändern. Deshalb hat das
BMBF das Programm „KMU-innovativ“ aufgelegt, um
Spitzenforschung im Mittelstand zu fördern. Deshalb
startet das BMWi das ZIM, das Zentrale Innovationsprogramm Mittelstand, das - wie Sie schon gehört haben technologieoffen angelegt ist.
Vier Programme des Bundesministeriums für Wirtschaft werden zu einem Dachprogramm zusammengelegt. Mit dieser Reform sollen die schon in der Vergangenheit durchaus erfolgreiche Innovationsförderung
des Mittelstandes noch effektiver gestaltet und ein transUte Berg
parentes, zielgenaues und leicht zugängliches Unterstützungsangebot gemacht werden.
Die wichtigsten positiven Veränderungen noch ganz
kurz im Überblick: Die Forschung wird ausgeweitet. Es
wurde schon erwähnt, dass NEMO, das Netzwerkprogramm-Ost, das sich früher nur auf Ostdeutschland bezog, auf die gesamte Bundesrepublik ausgedehnt wird.
Im zweiten Schritt geschieht das für das Programm InnoWatt, welches hinsichtlich der Förderung von Forschung
und Entwicklung bei innovativen Wachstumsträgern im
Osten Deutschlands erfolgreich funktioniert hat. Auch
noch andere Programme werden, wie gesagt, unter diesem Dach vereinigt.
({5})
- Eben. Effektivität kann nicht schaden.
Die dritte Veränderung: Transparenz und Nutzerfreundlichkeit werden erhöht. Die Förder- und Antragsbedingungen werden vereinfacht.
Die vierte Veränderung: Die Innovationsprogramme
- das hatte ich am Anfang schon angedeutet - sind in
die Hightech-Strategie eingebettet. Damit fließen umfangreiche Mittel in dieses Programm, das von einer Erhöhung der Fördermittel von 450 Millionen Euro in
2005 auf 670 Millionen Euro bis zum Jahre 2009 profitiert.
Die ressortübergreifende Beratungsstelle ist sicherlich
auch von großem Interesse für die KMU; denn bisher
mussten sie sich an die unterschiedlichsten Stellen wenden und haben damit sehr viel Zeit vergeudet. Es wurden
bürokratische Hürden geschaffen, die jetzt abgebaut
werden. Das heißt, die eine Beratungsstelle informiert
nicht nur über die Programme des Bundes, sondern auch
über Programme der Länder und der EU und gibt zusätzlich Hinweise, an welche Anlaufstellen bzw. an welche
Projektträger sich die kleinen und mittelständischen Unternehmen wenden müssen. Das bringt Licht in den Förderdschungel und ist gerade für die kleineren Unternehmen extrem wichtig, die weder Zeit noch Geld und
schon gar kein zusätzliches Personal haben, um mühsam
auf eigene Faust das für sie geeignete Programm samt
Anlaufstelle zu recherchieren.
So gut das alles klingt, möchten wir als Parlament
weiterhin informiert und beteiligt werden und - wo
nötig - auch nachjustieren. Selbstverständlich wollen
wir auch eine vernünftige Evaluation, die im Übrigen in
der Vergangenheit bei den einzelnen Programmen schon
stattgefunden hat.
({6})
- Auch von Unabhängigen.
Daher fordern wir die Bundesregierung auf, uns jährlich über den Erfolg der Technologieförderung im Mittelstand zu unterrichten, insbesondere natürlich über das
künftige Kernstück: das ZIM.
Mit Blick auf die weitere Entwicklung kleiner und
mittelständischer innovativer Unternehmen möchte ich
noch einen Aspekt ansprechen, der maßgeblich zum Erfolg aller Unternehmen, besonders aber der kleinen innovativen beiträgt. Gerade für diese ist es entscheidend
wichtig, dass hochqualifiziertes Personal vorhanden ist.
Daher trifft sie der Ingenieur- und Fachkräftemangel insgesamt besonders hart. Die Zahlen des Stifterverbandes
für die Deutsche Wissenschaft verdeutlichen dies: 2005
waren ungefähr 300 000 Arbeitnehmer in Forschung und
Entwicklung tätig. Für 2007 wurden dann schon 310 000
prognostiziert. Neuere Zahlen liegen noch nicht vor. Es
ist aber ganz klar: Die Zahlen in diesem Bereich werden
steigen; die Nachfrage wird steigen. Auf dem Arbeitsmarkt kommen aber nicht genügend hochqualifizierte
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer an.
Kollegin Berg, achten Sie bitte auf die Zeit.
Ich komme zum Schluss.
Durch gezielte Anstrengungen im gesamten Bildungsbereich Verbesserungen herbeizuführen, muss unser aller Herzensanliegen sein. Daher ein abschließender
Appell: Lassen Sie uns gemeinsam für eine gute Zukunft
des Mittelstands und des Standorts Deutschland
arbeiten - mit Zukunftsinnovationen in Forschung und
Entwicklung, mit dem weiteren Abbau unnötiger Bürokratie, mit intelligenten Investitionen in unsere Infrastruktur und mit einer Kraftanstrengung im Aus- und
Weiterbildungsbereich. Davon haben dann alle Bürgerinnen und Bürger etwas. Sie profitieren von guten Arbeitsplätzen, mehr Wirtschaftskraft und höherer Lebensqualität.
Vielen Dank.
({0})
Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin
Dr. Petra Sitte das Wort.
({0})
Danke schön. - Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Wir haben schon gehört: Es werden mehrere
Mittelstandsprogramme des Ministeriums für Wirtschaft und Technologie in ein Zentrales Innovationsprogramm Mittelstand überführt. Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Ich bin ganz froh, dass dies nicht nur eine
Zusammenführung bedeutet. Als Aufsichtsratsmitglied
eines kleinen, aber feinen Technologiegründerzentrums
freut es mich, dass es auch Erweiterungen gibt, dass
auch marktvorbereitende Maßnahmen wie beispielsweise klinische Studien oder die Fertigung von Prototypen förderfähig werden.
Das war eine Blindstelle bisheriger Förderpolitik.
Denn oft genug haben wir zwar mit öffentlichen Mitteln
Innovationen gefördert. Aber dann ist nicht nur die
Markteinführung gescheitert, sondern schon vorher auch
die Produktionseinführung. Gerade diese Maßnahmen
bedürfen nochmals erheblicher finanzieller Aufwendungen. Diese haben dann oftmals gefehlt. Wir haben also
mit öffentlichem Geld eine Entwicklung gefördert; dabei
sind aber keine Arbeitsplätze entstanden und, Herr Riesenhuber, noch weniger Steuereinnahmen angefallen.
Zusammengeführt werden auch Programme, die vorher ausschließlich für den Mittelstand Ost galten. Wir
haben im Osten sehr wichtige Erfahrungen für strukturschwache Gebiete bundesweit gesammelt. Das heißt, das
Zentrale Innovationsprogramm richtet sich jetzt nicht
nur an den Osten, sondern an alle strukturschwachen Gebiete der Bundesrepublik. Alle Regionen können sich
unterschiedslos für dieses Programm bewerben.
Wenn wir aber nicht in Rechnung stellen, dass es ganz
unterschiedliche Ausgangsbedingungen gibt, kann es zu
einem ungleichen Wettbewerb kommen. Wenn diese Regionen gleichermaßen Chancen haben sollen, müssten
die Mittel für dieses Programm eigentlich insgesamt
nochmals aufgestockt werden. Denn bei Konkurrenz von
strukturschwachen und starken Regionen sind die
Hauptnutznießer - wir kennen schon jetzt das Ergebnis;
das haben wir bei der Exzellenzinitiative gesehen - die
stärkeren, insbesondere dann, wenn sich zeigt, dass der
Topf zu klein ist, um den sich alle drängen.
({0})
Wir müssen also verhindern, dass strukturschwache
Regionen hinten herunterfallen. Wir müssen auch daran
denken: Strukturschwache Gebiete im Osten sind in der
Dimensionierung nicht mit strukturschwachen Gebieten
im Westen gleichzusetzen. Deshalb ist durchaus zu überlegen, ob in diese Programmlinien eine Quote nicht nur
für strukturschwache Regionen insgesamt, sondern auch
für den Osten eingeführt wird.
({1})
Ansonsten vergrößert sich der Abstand zwischen strukturschwachen und -starken Regionen, zwischen Ost und
West.
Ich möchte kurz zeigen, warum die Innovationsförderung für den Osten so wichtig ist. Bundesweit - das ist
schon angeklungen - liegt der Anteil der Ausgaben für
Forschung und Entwicklung in kleinen und mittelständischen Betrieben an den Gesamtausgaben bei 12 bis
14 Prozent; hingegen beträgt der Anteil dieser Ausgaben
bei Betrieben im Osten 50 Prozent, aber nur 8 Prozent
der innovativen Unternehmen haben dort ihren Sitz.
Deshalb ist es für uns so wichtig, jetzt nicht nur A,
sondern auch B zu sagen. Ein wichtiger Bestandteil ist
aus unserer Sicht die Forschungsprämie, die bislang
Hochschuleinrichtungen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen zur Verfügung stand, sofern sie
mit Mittelständlern Entwicklungen umgesetzt haben.
Bei uns im Osten gibt es jedoch gemeinnützige
GmbHs - Forschungs-gGmbHs -, die für die Substanz
der dortigen Forschung und damit auch für den Strukturwandel ausgesprochen wichtig sind. Nunmehr, seit Anfang des Jahres, können auch diese gGmbHs an der Forschungsprämie partizipieren.
({2})
- Es haben so viele daran mitgewirkt, bis es am Ende
dazu gekommen ist: auch wir, aber auch die anderen.
({3})
- Da bin ich mir nicht so sicher. - Diese ForschungsgGmbHs erwirtschaften Beträge, die ähnlich wie bei den
Fraunhofer-Instituten sehr hoch sind; aber sie werden
nicht gleichermaßen kontinuierlich gefördert. Deshalb
ist es aus unserer Sicht notwendig, im Zusammenhang
mit dieser Programmlinie darüber nachzudenken, diese
ebenso kontinuierlich zu fördern wie andere außeruniversitäre Forschungseinrichtungen.
Fazit: Es ist positiv, dass es eine solche zentrale Programmlinie gibt. Für kleine und mittelständische Unternehmen werden Verbesserungen erreicht. Wir müssen
aber aus den Erfahrungen lernen. Dazu gehört, die unterschiedlichen Zugangsmöglichkeiten, die unterschiedlichen Voraussetzungen der Mittelständler in den Regionen
in Rechnung zu stellen. Dann besteht die Möglichkeit,
einen Strukturwandel zu erreichen und damit am Ende
Arbeitsplätze und letztlich - ich komme auf Herrn Riesenhuber zurück - Steuern zu generieren.
Danke schön.
({4})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die
Kollegin Kerstin Andreae das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Bevor ich auf die Inhalte des Antrags eingehe,
möchte ich kurz sagen: Es hat uns sehr enttäuscht, dass
wir im Wirtschaftsausschuss über die Angelegenheit
nicht debattieren konnten.
({0})
Uns wurde erzählt, es gebe einen Fragenkatalog der
FDP. Dem Protokoll der Wirtschaftsausschusssitzung ist
zu entnehmen:
Die Parlamentarische Staatssekretärin Wöhrl hat
zugesichert, aufgrund der vorangeschrittenen Zeit
die schriftlich ausgearbeiteten Antworten den Ausschussmitgliedern im Laufe des Tages per E-Mail
zuzusenden.
Das war gestern. Es ist nicht geschehen. Wir mussten
heute extra nachfragen, damit wir die Antworten bekommen.
Ich bitte, dass das abgesprochene Verfahren eingehalten wird. Wir haben ein Recht auf die Antworten auf
diese Fragen. Es ist notwendig, dass wir sie bekommen,
damit wir eine ausführliche, sinnvolle Debatte führen
können.
({1})
Ich möchte jetzt einige Punkte zu den Inhalten des
Antrags sagen. Ich stimme mit Ihnen darin überein, dass
es wichtig ist, hier Bürokratieabbau zu betreiben. Sie
wollen die Programme zusammenfassen. Das ist gut; es
wird einfacher. Der Antrag ist aber noch sehr unkonkret
und kommt blass daher. Es gibt viele Möglichkeiten, im
Bereich der KMU Forschungs- und Technologieförderung zu betreiben. Sie müssen aber viel dezidierter und
klarer äußern, was Sie denn wollen und in welche Richtung Ihre politische Arbeit geht. Das wäre sehr wichtig.
Ein Beispiel: Unternehmensteuerreform und Wagniskapital. Der erste Entwurf zum Venture Capital war ein
totaler Rohrkrepierer. Er wurde in der Anhörung von den
Sachverständigen auseinandergenommen.
({2})
- Das Urteil war sogar vernichtend. - Jetzt haben Sie einen neuen Entwurf angekündigt. Meines Wissens hätte
er vor der Sommerpause verabschiedet werden sollen.
Das werden wir jetzt nicht mehr wirklich schaffen. Im
Übrigen ist meine Prognose, dass wir es in dieser Legislaturperiode überhaupt nicht mehr schaffen werden, die
Programme zum Venture Capital auf neue Beine zu stellen.
({3})
Zweites Thema: Forschungsprämie. Sie haben die
Forschungsprämie eingeführt. Das ist eine gute Sache;
wir finden das richtig. Es geht darum, die Zusammenarbeit zwischen KMU und Hochschulen zu fördern. Untersuchen Sie aber einmal, warum nur 20 Prozent der
Mittel überhaupt abgefragt wurden. Wenn Sie solche
Programme auflegen und solche Prämien einführen,
müssen Sie doch auch schauen, was mit den Mitteln passiert. Warum liegen 80 Prozent der Mittel brach? Warum
werden sie nicht genutzt? Solcher Fragen müssen Sie
sich annehmen.
Mein drittes Thema - auch hier finde ich Ihr Vorgehen viel zu unambitioniert -: Klimaschutz, Umwelttechnologien und effiziente Technologien. Wir haben schon
im Zusammenhang mit der Hightech-Strategie angemahnt, dass ein Leitbild „nachhaltiges Wirtschaften“
fehlt. Sie hätten die Möglichkeit gehabt, eine politische
Ausrichtung der Technologieförderung und -forschung
vorzunehmen. Wir brauchen wesentlich stärkere Anstrengungen in den Bereichen Effizienztechnologien, erneuerbare Energien und Einsparpotenziale.
Ich gebe zu, dass Sie im Haushalt mehr Mittel für
Klima- und Energieforschung bereitgestellt haben. Sie
müssen aber auch deutlich mehr Marktanreizprogramme
auflegen, damit die Forschungsergebnisse als Produkte
bzw. Produktionsprozesse in den Markt überführt werden können. Das ist es, was wir brauchen, was Sie aber
nicht machen. Die Klimapolitik der Bundesregierung besteht nur aus schönen Worten. Da steckt nicht viel hinter.
Morgen führen wir eine lange Debatte über das Klimapaket, über das IKEP. Da steckt nicht viel hinter, was
Marktanreizprogramme oder die Schaffung von Märkten
angeht, damit das, was erforscht wird, auch tatsächlich
einmal auf dem Markt angeboten werden kann. Wir
müssen marktreife Produkte entwickeln und Anreizprogramme schaffen, sonst sind die meisten Mittel im Forschungsbereich nutzlos.
({4})
Viertes Thema: IT. Es gab einen IT-Gipfel. Es bestand
die große Hoffnung, dass die Bundeskanzlerin auf diesem IT-Gipfel ankündigt, dass die Einkommensschwelle
für ausländische Fachkräfte gesenkt wird, weil sie zu
hoch ist. Ich werde nicht müde, es zu sagen: Wenn Sie
verlangen, dass eine ausländische Fachkraft aus dem
Nicht-EU-Ausland in Deutschland ein Einkommen von
85 000 Euro pro Jahr nachweist, dann werden Sie diese
Kraft nicht bekommen.
({5})
Sie stehen einer Fortentwicklung in den Bereichen Technologieentwicklung, Forschung und Innovation, in denen wir auf das Know-how von anderen angewiesen
sind, im Weg, weil Sie eine diesbezügliche Änderung
nicht herbeigeführt haben. Das war eine Riesenenttäuschung auf dem IT-Gipfel. Wenn Sie wenigstens solche
Maßnahmen umsetzen würden, wären wir schon deutlich weiter.
Fazit: Das ist ein oberflächlicher, blasser Antrag, der
mehr Fragen aufwirft, als er Antworten liefert.
({6})
Statt den Kritikpunkten, die im Übrigen auch von der eigenen Expertenkommission geäußert wurden, nachzugehen, verzetteln Sie sich in Prosa. Auch im Wirtschaftsausschuss fand keine Debatte darüber statt. Da wir es im
Prinzip sinnvoll finden, dass Sie die Programme zusammenfassen, werden wir uns bei der Abstimmung heute
enthalten.
Vielen Dank.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Wirtschaft und Technologie zu dem Antrag
der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD mit dem Ti-
tel „Das neue Zentrale Innovationsprogramm Mittel-
stand ZIM optimal ausgestalten und konsolidierungs-
konform finanzieren“. Der Ausschuss empfiehlt in
Vizepräsidentin Petra Pau
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9471,
den Antrag der Fraktion der CDU/CSU und der SPD auf
Drucksache 16/8905 anzunehmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Unionsfraktion und der SPD-Fraktion bei
Enthaltung der FDP-Fraktion, der Fraktion Die Linke
und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a und 9 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Beck ({0}), Marieluise Beck ({1}), Alexander Bonde, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Eine kohärente und konsistente Menschenrechtspolitik gegenüber China entwickeln
- Drucksache 16/9422 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({2})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
b) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Volker Beck ({3}), Winfried Hermann, Marieluise
Beck ({4}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Menschenrechtslage im Vorfeld der Olympischen Sommerspiele 2008 in Beijing
- Drucksachen 16/6175, 16/7273 Zu der Großen Anfrage liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten
soll. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist so
beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Volker Beck für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Vielen Dank, Frau Präsidentin! Wenn wir gegenwärtig nach China schauen, dann bewegt uns alle, glaube
ich, hier in Deutschland wie in Europa die schwierige Situation, in der sich die chinesische Volksrepublik aufgrund der Folgen des Erdbebens befindet. Wir versichern der Volksrepublik China all unsere Solidarität und
Unterstützung für das chinesische Volk zur Bewältigung
der schweren Folgen dieser Katastrophe.
({0})
Ich denke, es ist ein gutes Zeichen, dass die chinesische
Regierung gesagt hat, dass sie Hilfe aus dem Ausland
annimmt. Denn kein Volk dieser Welt kann die Folgen
solcher Naturkatastrophen allein und ohne die Unterstützung der Völkergemeinschaft bewältigen.
Wir haben uns als Fraktion schon im letzten Jahr mit
der Menschenrechtslage in China verstärkt beschäftigt,
weil wir gesagt haben: Wir müssen beobachten, wie sich
die Situation im Vorfeld der Olympiade entwickelt. Die
Hoffnungen und Erwartungen aufgrund der Vergabe der
Olympischen Spiele an Peking waren groß. Wir haben
feststellen müssen: Die Hoffnungen haben sich in den
letzten Wochen und Monaten leider nicht erfüllt. Über
anderthalb Millionen Menschen sind im Zusammenhang
mit der Errichtung der olympischen Stätten enteignet
worden, viele davon ohne jegliche Entschädigung und
unter Anwendung von Zwang.
Wir haben in den letzten Wochen und Monaten auch
erlebt, dass nicht nur in Tibet, sondern auch in Zentralchina alle Kritik durch eine Verschärfung der Repressionen gegen politische Dissidenten und gegen religiöse
und kulturelle Minderheiten niedergedrückt wird. Das
haben wir eigentlich nicht erwartet. Deshalb hoffe ich,
dass heute mit der Zustimmung zu unserem Entschließungsantrag ein einheitliches Signal des Deutschen Bundestages ausgeht. Wir bitten die Bundesregierung, die
chinesische Regierung aufzufordern, alle politischen Gefangenen bis zum Beginn der Olympiade in China freizulassen. Ich hoffe, dass wir in dieser Frage im Hause
großer Einheit haben.
({1})
Bezüglich des Applauses muss man in der Debatte vielleicht noch etwas nacharbeiten.
({2})
Ich glaube, wir sollten hier nicht auseinanderfallen,
wenn es um eine klare Sprache zur Verteidigung der
Menschenrechte geht. Dass das Haus, insbesondere die
Bundesregierung, bei der Chinapolitik ständig auseinanderfällt, ist eine Malaise. Wir haben das an den Diskussionen im Zusammenhang mit dem Besuch des DalaiLama bei Angela Merkel und auch beim letzten Besuch
des Dalai-Lama hier im Deutschen Bundestag erlebt.
Mit dieser Art von Politik dient man weder den Menschenrechten noch den außenpolitischen Beziehungen
zur Volksrepublik China. Wir brauchen eine konsistente
Menschenrechtspolitik, die sich nicht in Symbole flüchtet, sondern eine klare Linie hat, auf Gespräche und Dialog setzt und eine klare Sprache im Dialog findet. In unserem Antrag haben wir Vorschläge zu den Punkten,
über die es hier zu reden gilt, gemacht.
Im Antrag werden die entscheidenden Punkte genannt. Wir müssen zum Beispiel mit den Chinesen im
Dialog über die Todesstrafe weiterkommen. Da haben
wir erste Erfolge erzielt. Es ist ganz wichtig, dass wir
diese Erfolge gegenüber den chinesischen Partnern betonen. Die chinesische Volksrepublik hat mit ihrer neuen
Gesetzgebung eine Reduzierung der Zahl der Vollstrekkungen der Todesstrafe bewirkt. Das ist gut. Aber damit
erfüllt sie weder unsere Hoffnung auf eine völlige Abschaffung noch unsere Vorstellungen von den Mindeststandards, die der Zivilpakt von den Staaten verlangt.
Die chinesische Volksrepublik hat mit der Wahl zum
Volker Beck ({3})
Menschenrechtsrat versprochen, den Zivilpakt zu unterzeichnen. Auch das hat sie bis heute nicht vollzogen.
Wenn sie ihn ratifizieren würde, müsste sie Veränderungen vornehmen und nur noch bei schweren Verbrechen
die Todesstrafe verhängen. Vielleicht entscheidet sie sich
dann auch aufgrund von Dialogen mit uns, aber auch mit
Ländern wie den USA - auch dort gibt es noch die Todesstrafe - für die Abschaffung der Todesstrafe.
({4})
Ich glaube, es gibt keine Alternative zum Dialog mit
China. Wir brauchen China bei der Lösung von menschenrechtlichen Konfliktfeldern wie zum Beispiel beim
Konflikt in Darfur. Wir brauchen China auch bei der Bewältigung der verheerenden Situation in Birma, wo die
Menschen Opfer einer Naturkatastrophe geworden sind
und ein Regime so kaltschnäuzig und diktatorisch ist,
dass es internationale Hilfe behindert, statt den Menschen zu helfen. Ich finde, die Chinesen könnten darauf
verweisen, wie sie mit den Folgen des Erdbebens umgehen; das könnte ein Vorbild für Birma sein.
({5})
Ein letztes Wort, da dies unmittelbar die Beziehungen
des Deutschen Bundestages zur Volksrepublik China betrifft. Die chinesische Volksrepublik hat es für richtig befunden, den Menschenrechtsausschuss vor seinem Besuch in der nächsten Woche zum zweiten Mal auszuladen.
Wir haben heute im Ältestenrat darüber gesprochen und
gesagt: Wir protestieren dagegen, und wir erwarten von
den Chinesen, dass sie im Rahmen des Menschenrechtsdialogs auch mit dem Menschenrechtsausschuss des
Deutschen Bundestages in Gespräche eintreten und dass
wir in der nächsten Zeit eine definitive Einladung erhalten.
Dass die Chinesen allein vor dem Wort Menschenrechte Angst haben, kann man an einer Mail sehen, die
mich von einer Bürgerin erreicht hat.
Herr Kollege Beck!
Noch einen Satz, Frau Präsidentin. Sie erinnern sich
vielleicht: Ich hatte in meiner Rede zur Tibet-Debatte
dieses T-Shirt hochgehalten.
({0})
Bürgerinnen und Bürger haben es bestellt. Eine Bürgerin
der Bundesrepublik Deutschland ist damit nach Peking
auf den Platz des Himmlischen Friedens gereist. Ihre gesamte Reisegruppe wurde festgehalten. Erst nach einer
Befragung durch die Polizei und nach der Bedeckung
des T-Shirts haben die Chinesen die Leute weiterlaufen
lassen. Das ist kein gutes Signal für die Olympiade. Ich
hoffe, dass die Chinesen, die Mitglied des Menschenrechtsrats sind, keine Angst mehr vor dem Wort Menschenrechte haben und es dulden, wenn Bürgerinnen und
Bürger sich weltweit - auch in China - für die Menschenrechte einsetzen.
Kollege Beck, ich bitte Sie jetzt wirklich um Ihren
letzten Satz.
Vielen Dank für Ihre Geduld, Frau Präsidentin. Die
Menschenrechte brauchen manchmal ein paar Worte
mehr. Das sollten sie uns wert sein.
({0})
Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Holger
Haibach das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dass die
Menschenrechte uns einiges wert sind, sieht man auch
daran, dass Herr Beck fünf Minuten Redezeit bekommen
hat. Offensichtlich hat er das etwas falsch verstanden.
Ich hatte den Eindruck, er meinte, sieben Minuten zur
Verfügung zu haben. Zumindest hat er sich so lange ausgelassen.
Der Anlass ist wichtig. Die Beantwortung der Großen
Anfrage, für die ich der Bundesregierung danke, ist deutlich und zeigt die Defizite auf, die Kollege Beck hier
auch genannt hat. Ich finde, es lohnt sich aber, sich genauer mit dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen auseinanderzusetzen, der uns heute vorliegt. Ich würde das
gern anhand von zwei Leitfragen tun. Die erste Leitfrage
lautet: Stimmt das, was in diesem Antrag steht? Die
zweite Leitfrage lautet: Ist das wirklich etwas Neues?
Wir sollten uns hier eigentlich nur dann mit Themen beschäftigen, wenn wir erkennbare Veränderungen sehen
oder wenn wir an der einen oder anderen Stelle erkennbare Fortschritte sehen. Wenn ich mir diesen Antrag anschaue, dann habe ich da Zweifel.
({0})
- Ich weiß, dass dies ein Dauerthema ist, Frau Kollegin,
aber auch Dauerthemen werden dadurch, dass man sie
immer wieder neu zusammenfasst, nicht besser. Sie werden vor allem nicht entschieden besser.
Zu Beginn Ihres Antrags heißt es, die Bundesregierung sei in der Frage, wie man mit China in der Zukunft
umgehen solle, gespalten; im Übrigen verlören die Bundesregierung und die Koalition sich in Symbolpolitik.
Dazu muss ich sagen: Hier können Sie auf Ihre eigene
Regierungszeit verweisen. Ich bin immer wieder überrascht darüber, wie schnell Sie sich in die Opposition
verabschiedet haben. Ich kann mich daran erinnern, dass
es auch unter Rot-Grün solche Diskussionen gegeben
hat, nämlich als es um die Frage eines Waffenembargos
ging. Trotzdem haben Sie hier im Bundestag als Koalitionsfraktion abgestimmt. Es mag sein, dass wir an der
einen oder anderen Stelle unterschiedlicher Meinung
sind, lieber Herr Kollege Beck, aber tun Sie nicht so, als
sei das etwas Besonderes. Akzeptieren Sie es als das,
was es ist, nämlich ein Meinungsstreit in der Demokratie.
({1})
Kollege Haibach, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Beck?
Mit großer Freude.
Da Sie einige Erinnerungslücken aufgewiesen haben,
frage ich Sie: Sind Sie dann, wenn ich Ihrer Erinnerung
nachhelfe, bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass wir in
der Frage des Waffenembargos zwar eine Diskussion
hatten, dass wir in unserer Fraktion aber keine Veränderung der Position hatten und dass wir während unserer
Regierungszeit im Ergebnis weiterhin für die Beibehaltung des Waffenembargos gegenüber China waren?
Sehr geehrter Herr Kollege Beck, das habe ich nie bestritten. Ich habe nur darauf hingewiesen, dass es innerhalb der Koalition vielleicht unterschiedliche Meinungen zu diesem Thema gegeben haben könnte.
({0})
Das ist etwas, was wir in Demokratien des Öfteren erleben. Ich finde, man muss an einer Stelle, an der keine
Symboldebatte existiert, auch keine eröffnen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wenn man
einmal das ganze Brimborium beiseite schiebt, muss man
sagen: Jeder von uns kann seine eigene Meinung haben.
An dieser Stelle möchte ich auf eines hinweisen: Wir haben begrüßt, dass Frau Merkel den Dalai-Lama empfangen hat, und vielleicht hatten wir an der einen oder anderen Stelle eine andere Meinung als Sie. Das bedeutet aber
nicht, dass wir nicht der Meinung sind, konstruktive Gespräche, Kompromisse und Dialoge seien notwendig. Allerdings denke ich, man kann das eine tun, ohne das andere zu lassen. Wir sollten daraus keinen Glaubenskrieg
machen. Denn es ist wichtig, dass wir insgesamt vorankommen. Das werden wir aber nur schaffen, wenn wir
alle Mittel, die uns zur Verfügung stehen, gleichermaßen
einsetzen.
({1})
In Ihrem Antrag steht - auch das hat mich sehr überrascht -, dass wir China jetzt loben und keine Symbolpolitik betreiben sollten. Ich möchte daran erinnern, dass
Kollege Trittin, der der heutigen Debatte auch beiwohnt,
damals ausdrücklich gelobt hat, dass Frau Merkel den
Dalai-Lama empfangen hat. Er sagte, das sei eine richtige Maßnahme. Ich finde, man kann nicht in der Vergangenheit das eine getan haben und heute das genaue
Gegenteil in einen Antrag schreiben. Auch das ist letztlich nicht gerade glaubwürdig.
Man muss überlegen: Wo besteht in dieser Angelegenheit eigentlich die Kohärenz? Wenn man Ihren Antrag, in dem viel Richtiges steht - das will ich überhaupt
nicht bestreiten; darum geht es aber nicht -, liest, dann
muss man feststellen: Man findet darin nichts, was wir
nicht schon an anderer Stelle gefordert bzw. schriftlich
niedergelegt haben.
({2})
Weil ich wusste, dass wir uns heute mit diesem
Thema beschäftigen, habe ich mir das ein bisschen genauer angesehen. Sie erheben in Ihrem Antrag zum Beispiel die Forderung nach Zugang zu den Haftanstalten
und Lagern; hier verweise ich Sie auf unseren gemeinsamen Antrag zur Verurteilung der Laogai-Lager. Außerdem fordern Sie eine Reform der Gefängnisse und der
Haftlager; auch an dieser Stelle verweise ich Sie auf unseren Antrag zu den Laogai-Lagern. Falls Sie mir nicht
glauben: Ich habe alle Anträge mitgebracht und kann sie
Ihnen gerne zeigen.
({3})
Zur Presse- und Meinungsfreiheit gibt es ebenfalls einen
Antrag der Koalition, und auch mit dem Thema Tibet haben wir uns nicht nur einmal beschäftigt; hoffentlich
werden wir uns vor der Sommerpause noch einmal damit
befassen.
Das macht das, was in Ihrem Antrag steht, nicht
falsch. Nichtsdestoweniger muss ich sagen: Auf der einen Seite fordern Sie eine kohärente Außenpolitik und
eine kohärente Menschenrechtspolitik ein. Auf der anderen Seite wiederholen Sie aber nur das, was ohnehin
schon „common sense“ bzw. gemeinsame Ansicht dieses
Hauses ist.
({4})
Das ist wirklich nicht besonders originell. Ich finde, dass
Sie sich sehr überschätzen, wenn Sie sagen, Ihr Antrag
sei besonders toll.
Sie haben recht, dass es einer differenzierten Betrachtung der Menschenrechtssituation in China bedarf.
Heute ist China sicherlich ein anderes Land als vor 25
oder 30 Jahren;
({5})
das ist gar keine Frage. Heute gibt es dort gewisse Freiheiten, die man früher mit Sicherheit nicht hatte. Aber
die Defizite sind weiterhin klar erkennbar.
Ich stimme Ihnen auch zu, dass die Hoffnungen, die
mit der Vergabe der Olympischen Spiele an China verbunden waren, nicht erfüllt wurden. Über dieses Thema
haben wir schon einmal in einer Aktuellen Stunde gesprochen. Ich möchte aber deutlich machen: Hier sind
auch die internationalen Sportverbände gefordert. Wer
sich auf der einen Seite dafür einsetzt, dass die Olympischen Spiele in China stattfinden, der muss auf der anderen Seite auch kontrollieren, ob dort Fortschritte gemacht werden
({6})
und darf nicht einfach sagen: Die Spiele sind unpolitisch. - Die Olympischen Spiele waren nie unpolitisch.
Es ist heuchlerisch, wenn man das behauptet.
({7})
Wahr ist auch, dass wir China als internationalen Partner in der Menschenrechtspolitik, aber auch in der Außenpolitik brauchen; das ist gar keine Frage. Bei den Ereignissen in Birma, aber auch, als es um Nordkoreas
Atomprogramm ging, haben wir erlebt, was erreicht
werden kann, wenn sich China zu einer konstruktiven
Haltung bereiterklärt. Wir würden uns wünschen, dass
das viel öfter geschieht. Ich will nur daran erinnern:
Wenn die Chinesen keinen Druck auf Nordkorea ausgeübt hätten, hätte in diesem Konflikt wahrscheinlich
keine Einigung erzielt werden können. Daran wird deutlich, dass wir die Chinesen brauchen.
Uns allen muss völlig klar sein, dass wir unsere menschenrechtlichen Standards nicht senken dürfen. Sie
müssen weiterhin gelten, gegenüber China und gegenüber allen anderen Staaten. Das bedeutet aber auch: Wir
müssen so miteinander umgehen, dass wir uns in Zukunft noch ins Gesicht schauen können.
Ich möchte noch eine letzte Bemerkung machen - denn
wir diskutieren heute auch über einen Entschließungsantrag -: Ich glaube, jeder von uns würde sich wünschen,
dass die chinesische Regierung noch vor den Olympischen Spielen alle politischen Gefangenen entlässt.
({8})
Aber wer würde sich nicht wünschen, dass es keine Vertreibungen mehr gibt? Wer würde sich nicht wünschen,
dass es Verhaftungen wegen der Religion nicht mehr
gibt? Wer würde sich nicht wünschen, dass es Verhaftungen von Journalisten nicht mehr gibt, dass es Presse- und
Meinungsfreiheit gibt? Wer würde sich nicht wünschen,
dass es keine Internetzensur mehr gibt?
({9})
Ich könnte Ihnen fünfundzwanzig, dreißig, vierzig Themen aufzählen, die man in einen Entschließungsantrag
aufnehmen kann. Nur, man muss sich fragen, ob das die
Methode der Wahl ist.
Nichtsdestoweniger will ich einräumen, dass dies ein
wichtiges Thema ist. Jenseits des Antrags und der Großen Anfrage der Grünen ist es für mich wichtig, dass wir
mit dieser Debatte an die Herrscher in China das Signal
senden, dass die Menschenrechte nicht etwas sind, was
man gewähren kann oder eben nicht. Ich komme deshalb
darauf, weil, als Herr Medwedew kürzlich zum Staatsbesuch in Peking war, es zu einem gemeinsamen Kommuniqué von Herrn Medwedew und der chinesischen Seite
gekommen ist. Die Neue Zürcher Zeitung hat dies am
24. Mai 2008 wie folgt kommentiert und dabei aus dieser Erklärung zitiert:
Auch gegen westliche Menschenrechtskritik wehren sich Russland und China gleichermassen. Menschenrechte sollten nicht politisiert werden oder als
Vorwand dienen, sich in die inneren Angelegenheiten anderer Länder einzumischen, hiess es in der
gemeinsamen Erklärung. Jeder Staat habe das
Recht, die Menschenrechte „auf der Grundlage seiner eigenen Bedingungen und Eigenschaften zu ermutigen und zu schützen“.
Diese Einstellung ist falsch. Die Menschenrechte sind
nicht etwas, was jemandem zuerkannt werden könnte,
die Menschenrechte hat jeder Mensch von Geburt an.
Wenn wir einen grundsätzlichen Beitrag zur Achtung der
Menschenrechte leisten wollen, müssen wir dafür sorgen, dass dieser Gedanke in China und auch sonst wo
auf der Welt Einzug hält.
Herzlichen Dank.
({10})
Das Wort für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege
Florian Toncar.
({0})
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Ich möchte zum Ausdruck bringen, dass
wir alle hier angesichts der furchtbaren Erdbebenkatastrophe mit dem chinesischen Volk fühlen, und unser
Beileid aussprechen.
({0})
Wir wollen aber auch darauf hinweisen, dass das
nicht genügt. Wir wünschen uns, dass Deutschland, wo
es kann, schnell und effektiv Hilfe leistet. Im Erdbebengebiet in China sind derzeit schätzungsweise 5 Millionen Menschen obdachlos, und das wird sich bis zum
Winter wahrscheinlich nicht wesentlich ändern. Die chinesische Zeltproduktion läuft auf Hochtouren; aber es ist
unmöglich, dass China aus eigener Kraft in kürzester
Zeit Zelte für 5 Millionen Menschen herstellt. Herr Staatsminister, ich glaube, dass die 900 Zelte, die das Auswärtige Amt bzw. die Bundeswehr zur Verfügung gestellt
hat, nicht alles sind, was wir tun können. Wir Freien Demokraten wünschen uns, dass mehr getan wird.
({1})
Der Umgang der Behörden und der Medien mit dem
Erdbeben hat, wie wir wahrnehmen konnten, eine neue
Qualität angenommen. Erstmals ist der Wert des einzel17578
nen Menschenlebens öffentlich anerkannt und dokumentiert worden: Die Regierung hat Anteilnahme am Schicksal einzelner Familien gezeigt, die Medien konnten
vergleichsweise offen berichten. Das sind Dinge, die uns
Mut machen. Die chinesische Führung hat offensichtlich
verstanden, dass Transparenz wertvoll und den chinesischen Interessen dienlich ist.
Das ist das Bindeglied zur Menschenrechtspolitik, es
ist die Voraussetzung dafür, dass wir China gegenüber
deutlich machen können, dass Öffnung, dass selbstständig, eigenständig denkende Menschen nicht etwa Stabilität kosten, sondern Stabilität und Fortschritt bringen.
Dieser Paradigmenwechsel ist das Entscheidende in unserem Verhältnis zu China.
({2})
Deswegen bin ich ein Anhänger des Konzepts der
Einbindung Chinas in internationale Verantwortung, der
Zusammenarbeit und des direkten Dialogs. Man muss
sich nur die Situation in Birma oder in Nordkorea anschauen, um zu sehen, was in völlig abgeschotteten Ländern die Realität ist. In den Gesprächen mit China müssen Gemeinsames und Trennendes offen erörtert werden
können, ohne Übertreibungen, aber genauso wenig ohne
Beschönigung der Situation.
Der Antrag der Grünen trifft diesen Duktus weitgehend. Er wird den Fortschritten Chinas im Menschenrechtsbereich gerecht; genauso wird zu Recht auf die
weiterhin bestehenden massiven Probleme in einzelnen
Bereichen hingewiesen. Ich glaube, das ist die richtige
Linie.
({3})
Es ist vollmundig, wenn der Bundesregierung Konzeptlosigkeit vorgeworfen wird. Aber ich bin da nicht so
zurückhaltend wie der Kollege Haibach. Was hat sich
hier vor drei Jahren abgespielt, als über eine Aufhebung
des Waffenembargos diskutiert worden ist: Nicht nur
Bundeskanzler Gerhard Schröder, auch Außenminister
Joschka Fischer haben an diesem Pult die Meinung vertreten - ich habe das im Protokoll nachgelesen -, es sei
der Integration der Volksrepublik China in die Weltgemeinschaft dienlich, das Waffenembargo fallen zu lassen. Diese Einstellung ist verkehrt und bestimmt kein
Ausdruck konzeptioneller Klarheit.
({4})
- Herr Kollege Beck, ich verstehe, dass Sie das trifft.
({5})
Die heutige Bundesregierung hat ebenfalls kein Konzept für eine stimmige Menschenrechtspolitik gegenüber
der Volksrepublik China. Das gilt insbesondere für das
Verhältnis zwischen der Bundeskanzlerin und dem Außenminister, die das alles ja offen austragen. Eine Rollenverteilung, bei der die eine für die publikumswirksamen Auftritte und der andere für die stille Diplomatie
zuständig ist, ist schlecht. Diese Rollenverteilung hilft
uns nicht; sie ist unglücklich und schadet deutschen Interessen.
({6})
Wir brauchen ausdrücklich auch gegenüber Staaten
wie China, bei denen wir diese Defizite sehen, öffentliche Signale. In Deutschland gelten die Regeln offener
Gesellschaften. Diejenigen, die zum Beispiel sagen, dass
Gespräche mit dem Dalai-Lama eine Gefahr für die Stabilität Chinas seien, haben aus meiner Sicht eine überkommene Vorstellung von Stabilität. Sie führen gerade
keinen Dialog auf Augenhöhe, sondern passen sich von
vornherein chinesischen Erwartungen an und müssen
sich schlussendlich fragen lassen, was wir denn tun sollen, wenn wir keine Gespräche führen sollen. Ich glaube,
dass wir öffentliche Signale brauchen.
({7})
Letztendlich ist es aber eine schiere Selbstverständlichkeit, dass solche auch öffentlichkeitswirksamen
Treffen und Termine die Diplomatie, vertrauliche Gespräche und den Rechtsstaats- und Menschenrechtsdialog, der ein wirklich gelungenes Instrument ist, nicht ersetzen können. Es ist völlig klar, dass beides miteinander
einhergehen muss.
Aus meiner Sicht hat sich der Bundesaußenminister
deshalb unnötigerweise in einen menschenrechtspolitischen Hungerturm zurückgezogen, aus dem er jetzt - vielleicht auch aus Gründen verletzten Stolzes - nicht mehr
so leicht herauskommt. Das sagt nicht nur einiges über
das Verhältnis zwischen der Kanzlerin und dem Außenminister, sondern auch über den Zustand der Koalition
insgesamt aus.
({8})
Liebe Koalition, liebe Grünen, um noch auf diesen
Punkt einzugehen: Ich finde das, was Sie aufgeschrieben
haben, in weiten Teilen zustimmungsfähig. Beim Streit
über die Menschenrechtspolitik ist entscheidend, worüber wir genau streiten; denn wir streiten ja nicht über
die Geltung von Menschenrechten, sondern wir streiten
hier politisch darüber, wie man Menschenrechten möglichst effektiv zur Durchsetzung und Förderung verhilft.
Ich glaube, dass es in einem Land wie Deutschland
selbstverständlich ist, dass man auch darüber streiten
darf. Streit ist etwas Normales, und ich finde, dass er
noch wichtiger ist, als Pluralismus zu fordern.
Kollege Toncar, achten Sie bitte auf die Zeit.
Frau Präsidentin, jetzt hätten Sie fast meinen Schlusssatz unterbrochen.
({0})
Ich komme sofort zum Ende. Es war einer der letzten
Sätze.
Noch wichtiger, als Pluralismus zu fordern, ist es aus
meiner Sicht, ihn vorzuleben. Das schwächt unsere Position in Deutschland auch nicht, sondern das verschafft
uns zusätzliche Glaubwürdigkeit. Insofern wünsche ich
mir auch über Menschenrechtsthemen einen konstruktiven und sinnvollen Streit.
({1})
Die Kollegin Herta Däubler-Gmelin hat jetzt für die
SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Herr Toncar, ich stimme Ihnen voll und ganz zu:
Diskussion und Streit sind in der Tat die Lebenselemente
jedes Parlaments.
({0})
Dass man sich manchmal wünschen würde, der Anlass
wäre dem angemessen, gehört freilich auch dazu.
Wenn ich mir vor Augen führe, wie häufig und wo
überall wir uns mit China, der Politik der Bundesregierung oder auch dieses Parlaments gegenüber China, den
Menschenrechten oder auch den Olympischen Spielen
beschäftigt haben, dann weiß ich nicht so recht, ob wir
hier heute eigentlich mehr als nur künstliche Gegensätze
haben. Ich sage das hier ganz offen, weil wir uns sehr
häufig mit diesen Fragen auseinandergesetzt haben.
Weil viele unserer Zuschauerinnen und Zuhörer das
gar nicht wissen können, darf ich noch einmal daran erinnern: Bereits im Januar hat der Menschenrechtsausschuss zusammen mit dem Sportausschuss eine sehr gute
Anhörung durchgeführt, bei der es um Menschenrechte,
die Olympischen Spiele und im Speziellen übrigens auch
um das Selbstverständnis des Sports und um den Teil der
Olympischen Charta ging, der sich mit Menschenrechten
befasst.
An dieser Anhörung haben Sportlerinnen und Sportler, Vertreter des Deutschen Olympischen Komitees und
des Deutschen Olympischen Sportbunds, Journalisten
mit sehr langer China-Erfahrung und Vertreterinnen und
Vertreter der Menschenrechtsorganisationen teilgenommen. Wie es bei uns Brauch ist, haben alle Fraktionen
Anhörungspersonen und Experten benennen können.
Die Statements bei dieser Anhörung waren durchweg
nicht sehr unterschiedlich und vor allen Dingen nicht so
schrill, wie es der eine oder andere Beitrag heute hier
vermuten lässt.
({1})
Es war eine inhaltlich interessante Anhörung, weil
wir die Zeit hatten, die unterschiedlichen Gesichtspunkte
und Aspekte breit zur Sprache zu bringen. Wir haben uns
nicht nur auf die Befürchtungen oder das fokussiert, was
der eine oder andere gerade in den Medien gesehen
hatte, sondern es war uns möglich - das macht eben das
ganze Bild aus -, auch die Fortschritte in China zu sehen. Eine Darstellung dieser Fortschritte finden Sie übrigens ebenfalls in der Antwort auf Ihre Große Anfrage.
Ich greife einige heraus, die man einfach zur Kenntnis
nehmen muss:
Dass in jedem Jahr zwischen 9 und 10 Millionen
junge Leute in China von den Universitäten kommen, ist
ein Potenzial für das Selbstverständnis, für das wachsende Selbstbewusstsein, für die Veränderung einer Gesellschaft hin zu mehr Menschenrechten und mehr Menschenrechtsschutz. Hier sehe ich eine große Chance,
durch Gespräche die ganz praktische Umsetzung der
Menschenrechte zu unterstützen. In diesem Punkt
stimme ich Ihnen ausdrücklich zu, lieber Herr Toncar.
({2})
In den letzten Jahren - ich bin dankbar, dass auch dies
zur Kenntnis genommen wird - hat es bei allen Mängeln
und bei allem, was uns stört und was wir selbstverständlich kritisieren, mehr Meinungsfreiheit, Bewegungsfreiheit sowie Vertrauens- und Eigentumsschutz gegeben.
Übrigens lohnt es sich, beides, die Mängel, die wir kritisieren, und die Fortschritte, zur Kenntnis zu nehmen,
weil es zeigt, dass unsere Menschenrechtsarbeit - ich
sage es einmal etwas weniger ambitioniert: dass auch
unsere Menschenrechtsarbeit - tatsächlich Erfolge zeitigt. Darauf sollten wir stolz sein. Hier kann man nicht
nur das Parlament, sondern auch die Bundesregierung
loben.
({3})
Ob man jetzt den einen oder die andere mehr oder weniger mag, hat damit eigentlich gar nichts zu tun.
Ich gebe an dieser Stelle noch einmal den Rat, die
Materialien zu dieser Anhörung nachzulesen. Sie stehen
der Öffentlichkeit zur Verfügung und können auf der Internetseite des Menschenrechtsausschusses des Deutschen Bundestages in voller Länge abgerufen werden.
Ich halte es für sehr gut, dass Herr Beck und Herr
Toncar ebenso wie Herr Haibach - ich tue es jetzt auch auf die schreckliche Zeit, die die Menschen in Sichuan
durchmachen, auf die enormen Probleme, die sich dort
gestellt haben, und auf die unglaublich tolle Hilfsarbeit
der Organisationen in China und bei uns hingewiesen
haben. Dass die Unterbringung dieser vielen Millionen
Obdachloser in Zelten nicht möglich ist, weil es auf der
gesamten Welt nicht so viele Zelte gibt, wie allein in Sichuan gebraucht würden, ändert daran nichts. Ich jedenfalls bin dem Roten Kreuz in China, den Helferinnen
und Helfern in China, aber auch den Helferinnen und
Helfern bei uns in Europa und überall in der Welt für ihren Einsatz ausgesprochen dankbar.
({4})
Folgenden Gesichtspunkt, der hier auch schon erwähnt worden ist, muss man deutlich unterstreichen: Die
chinesischen Medien haben von Anfang bis Ende berichtet; sie berichten auch heute noch sehr stark. Der Fokus
der Berichterstattung zielte eindeutig weniger darauf ab,
die Taten der Regierung ins Bild zu rücken, als darauf,
das Leiden der Menschen und vor allem den Wert eines
jeden einzelnen Menschenlebens und den Kampf um jedes einzelne Menschenleben abzubilden.
({5})
Wir haben hier also nicht nur Lob im Vergleich zu den
schrecklichen Verhältnissen in Myanmar auszusprechen,
sondern können auch zur Kenntnis nehmen, wie die
Hilfsbereitschaft und der veränderte Fokus eine Gesellschaft zum Guten verändern.
Manchmal habe ich den Eindruck, wir sollten im Plenum daran erinnern, dass sich der Menschenrechtsausschuss, der sich mit der Umsetzung der Menschenrechte
und vor allem mit dabei vorhandenen Mängeln befasst,
nicht nur mit China beschäftigt. Diesen Eindruck könnte
man manchmal gewinnen, wenn man den einen oder anderen Antrag liest. Das hat mit den Olympischen Spielen
zu tun, und es ist auch legitim, Herr Beck, dass man ein
solches Großereignis nutzt, um die Aufmerksamkeit auf
die Menschenrechte zu richten.
({6})
Ich möchte jedoch erinnern, dass Menschenrechte
nicht nur bei großen öffentlichen Auftritten interessant
sind, sondern auch dann, wenn die Olympischen Spiele
vorbei sind. Menschenrechte sind auch in einem Land
interessant, das wir zu unseren Freunden rechnen. Die
Glaubwürdigkeit Ihrer beiden Anträge wäre nicht verletzt worden, wenn man zum Beispiel Simbabwe mit
aufgenommen hätte, wo gestern der Oppositionsführer
Tsvangirai verhaftet worden ist, oder wenn darin ein
kleiner Hinweis auf das Waterboarding oder
Guantánamo enthalten gewesen wäre.
({7})
Das alles wäre im Sinne unserer gemeinsamen Arbeit,
Herr Beck. Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie im Menschenrechtsausschuss über die Fraktionsgrenzen hinweg
diesen Ansatz teilen.
({8})
- Lieber Herr Beck, wenn Sie sich mit Kollegen auseinandersetzen wollen, dann haben Sie im Zweifel immer meine Unterstützung.
Ich erinnere daran, dass der Menschenrechtsausschuss über die Parteigrenzen hinweg immer wieder darauf aufmerksam gemacht hat, welche Sorgen uns zum
Beispiel die Einschränkung der Pressefreiheit in verschiedenen Ländern macht, und die Bundesregierung
und alle anderen, die dazu in der Lage sind, aufgefordert
hat, ihren Beitrag zu leisten. Das ist auch dann notwendig, wenn es wieder darum geht, das Waterboarding zu
ächten. Auch dazu wird heute Abend Gelegenheit sein.
Wir sollten nicht nur die Balken in den Augen der anderen sehen - obwohl wir sie kritisch wahrnehmen sollten -, sondern auch gelegentlich die Splitter bei uns
selbst, zum Beispiel die illegal bei uns lebenden Menschen, für die die Menschenrechte auch gelten müssen.
Dann wird das, was wir tun, sinnvoll und immer wichtiger.
Ganz herzlichen Dank.
({9})
Der Kollege Michael Leutert hat jetzt das Wort für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Kollegin Däubler-Gmelin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Unsere Fraktionen bewegen sich im Bereich der Menschenrechtspolitik langsam aufeinander
zu. Nach Ihrer Rede hätte ich fast geklatscht.
Wir beraten heute auch eine Große Anfrage der Grünen. In ihrer Antwort darauf kommt die Bundesregierung zu dem Gesamturteil:
Die Menschenrechtslage in China gibt - trotz einiger Verbesserungen - weiterhin Anlass zur Besorgnis.
Diese Einschätzung wird auch von meiner Fraktion geteilt. Ich möchte das kurz begründen.
In der Volksrepublik China hat nach der Kulturrevolution eine rasante Veränderung eingesetzt, die die unterschiedlichsten Bereiche - insbesondere Wirtschaft, Politik und Recht - erfasst hat und China auch heute noch
weiter verändert. In den letzten Jahren sind mehr und
mehr Defizite auch in den Bereichen Sozialpolitik, soziale Spannungen, Wanderarbeiter, Umweltbelastungen
oder Ausbildung des Rechtssystems zutage getreten. Das
sehen nicht nur wir, sondern das sieht auch der Botschafter der Volksrepublik China so, wie in seiner schriftlichen Stellungnahme zur öffentlichen Anhörung im Sportausschuss nachzulesen ist.
Trotz alledem ist festzustellen, dass die Erfolge messbar sind, sowohl nach ökonomischen als auch nach
rechtlichen Kriterien. Aber ganz sicher wird diese Entwicklung dann scheitern, wenn dieser Weg der Stabilität
verlassen wird. Diese Stabilität im Wandel ist unseres
Erachtens davon abhängig, ob es der chinesischen Regierung gelingt, zivilgesellschaftliche LösungsstrateMichael Leutert
gien zu entwickeln und auf Repressionsmechanismen zu
verzichten. Darin sehen wir die Perspektive, einen gemeinsamen Nenner in der deutschen und der chinesischen Politik zu finden, weil die Reformkräfte in der
Kommunistischen Partei Chinas an dieser Stabilität und
diesem Wandel und damit auch an zivilgesellschaftlichen Lösungsstrategien inklusive der Menschenrechte
interessiert sind. Das gilt meines Wissens auch für alle
Fraktionen in diesem Hause und die Bundesregierung.
Wir sind der Auffassung, dass Instrumente wie der
deutsch-chinesische Rechtsstaatsdialog und der Menschenrechtsdialog die geeigneten Mittel sind, um dieses
Ziel zu erreichen, weil sie vernünftig sind. Das heißt, sie
sind dialog- und kooperationsorientiert.
({0})
Alternativ dazu kann natürlich Menschenrechtspolitik
im Sinne moralischer Appelle verstanden werden. Damit
haben wir uns hier schon mehrfach auseinandergesetzt.
Diese Politik ist sicherlich billig zu haben, wird aber
letztendlich keinen Erfolg haben. Sie blendet aus, dass
China 15-mal mehr Einwohner hat als Deutschland,
Deutschland aber ein 15-mal höheres Bruttoinlandsprodukt pro Kopf aufweist als China.
({1})
Genau das ist der objektive Rahmen, in dem sich die Reformpolitik in China bzw. sich unsere Politik bewegt.
Zum Antrag der Grünen bleibt Folgendes zu sagen:
Ob China auch nur einen einzigen politischen Gefangenen freilässt oder nicht freilässt, hat sehr wenig mit den
Olympischen Sommerspielen zu tun, sehr viel aber mit
dem rechtsstaatlichen Charakter des Strafrechts in
China. Veränderungen im Strafrecht sind nur durch Dialog zu erreichen, nicht durch Symbolpolitik vor den
Sommerspielen. Deshalb werden wir uns bei der Abstimmung über den Antrag enthalten.
Ich freue mich, dass die Linke in dieser Debatte das
letzte Wort hatte.
Danke.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/9422 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlos-
sen.
Tagesordnungspunkt 9 b: Wir kommen zur Abstim-
mung über den Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen zu ihrer Großen Anfrage. Zu
dieser Abstimmung liegt eine Erklärung des Kollegen
Arnold Vaatz nach § 31 unserer Geschäftsordnung vor.1)
Wer stimmt für den Entschließungsantrag auf Drucksache 16/9489? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? ({0})
Wir können uns im Präsidium nicht darauf einigen, wer
die Mehrheit hat.
({1})
Deswegen werden wir noch einmal abstimmen. Wer ist
für den Entschließungsantrag? ({2})
Wer ist dagegen? ({3})
Wer enthält sich?
({4})
Es ist nach wie vor so, dass sich die Schriftführerinnen in der Frage nach den Mehrheitsverhältnissen unterschiedlich verhalten.
({5})
Deswegen bitte ich die Geschäftsführer nach vorne.
({6})
Unsere Geschäftsordnung - das will ich sagen - sieht
vor, dass man, wenn es Uneinigkeit im Präsidium gibt,
nichts anderes machen kann, als einen Hammelsprung
durchzuführen. Hier besteht Uneinigkeit. Deshalb möchte
ich Sie bitten, den Saal zu verlassen. Das übrige Prozedere kennen Sie. ({7})
Natürlich muss ich die Kolleginnen und Kollegen bit-
ten, den Saal zu verlassen. Verlegen Sie Ihre Bespre-
chungen bitte nach draußen. Ich bitte die Schriftführerin-
nen und Schriftführer, sich an den Türen einzufinden. -
Ich muss Sie nun dringend bitten, den Saal zu ver-
lassen und die Besprechungen und Telefonate, die hier
drin sowieso nicht erlaubt sind, nach draußen zu verle-
gen. - Wie ich sehe, sind genügend Schriftführerinnen
und Schriftführer da. Offensichtlich haben alle den Saal
verlassen. Wir können also den Hammelsprung durch-
führen. Ich bitte, jetzt mit der Auszählung zu beginnen.
1) Anlage 3
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Sind draußen noch Abgeordnete, die zur Tür hereinkommen möchten, um ihre Stimme abzugeben? - Das
scheint noch immer der Fall zu sein. Dann warten wir
noch einen Augenblick.
Ich sehe von hier oben Winksignale. Das heißt wohl,
dass die Schriftführerinnen und Schriftführer mir signalisieren wollen, dass alle, die hereinkommen wollten,
drin sind. Ist das richtig? - Das scheint mir der Fall zu
sein. Dann schließe ich die Abstimmung.
Ich gebe jetzt das Ergebnis der Abstimmung bekannt.
Es ging um den Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen zu ihrer Großen Anfrage. Für
diesen Antrag auf Drucksache 16/9489 haben 83 Abgeordnete gestimmt, dagegen haben 283 Abgeordnete gestimmt, und 24 Abgeordnete haben sich enthalten. Damit
ist der Entschließungsantrag abgelehnt.
({8})
Bevor ich den nächsten Tagesordnungspunkt aufrufe,
möchte ich all diejenigen, die noch in den Gängen stehen
und sich über den vergangenen Tagesordnungspunkt unterhalten, bitten, entweder Platz zu nehmen oder den
Saal zu verlassen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines
Ersten Gesetzes zur Änderung des Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetzes
- Drucksache 16/9415 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({9})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Zwischen den Fraktionen ist verabredet worden, eine
halbe Stunde zu debattieren. - Dazu höre ich keinen Widerspruch.
Als erster Rednerin gebe ich der Kollegin Ingrid
Fischbach das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
({10})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich möchte diejenigen, die anwesend sind, bitten, doch
Platz zu nehmen. Dann können sie erfahren, an welchen
Stellen wir Veränderungen durchführen und wie wir damit etwas Gutes noch besser machen wollen. Sie erfahren all das, was wir beim Elternzeitgesetz ändern wollen.
Frau Fischbach, ich habe Ihre Redezeit angehalten.
Denn im hinteren Teil des Saals stehen noch einige Kollegen, die anscheinend kein starkes Interesse an dieser
Debatte haben. Ich möchte diese Kollegen bitten, den
Saal zu verlassen.
({0})
- Es sind in der Tat alles Männer.
({1})
Auch die könnten an dieser Debatte eigentlich teilnehmen.
({2})
Bitte, Frau Kollegin Fischbach.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Als wir das Elterngeld auf den Weg gebracht haben, hat
niemand - bei allem Optimismus, den wir hatten - daran
geglaubt, dass es ein solcher Erfolg wird.
Das muss man einfach feststellen. Denn die Zahlen,
die uns schon nach gut einem Jahr vorliegen, überraschen alle. Ich selber gebe zu: Auch ich war etwas skeptisch. Ich gehörte nicht zu den großen Optimistinnen,
war aber von dem überzeugt, was wir auf den Weg gebracht haben.
Die Zahlen sprechen für sich: Das Elterngeld ist ein
Erfolg. Es ist gerade für junge Familien der richtige
Weg, ihren Wunsch nach Kindern zu erfüllen und die
Möglichkeit zu haben, ohne große finanzielle Belastungen in die Familienphase zu kommen. Das war die richtige Entscheidung, der richtige Weg. Deshalb kann man
an dieser Stelle ganz deutlich sagen: Das Elterngeld ist
ein Erfolg der Regierungskoalition.
({0})
Aber wie das bei vielen großen Erfolgen ist: Manchmal gibt es Änderungswünsche. Wir haben damals gesagt: Wir bringen ein ganz neues Projekt auf den Weg.
Wir werden es evaluieren. Den Bericht über diesen Evaluationsprozess werden wir zum 1. Oktober 2008 vorgelegt bekommen.
({1})
- Frau Lenke, Sie sind schon wieder so aufgeregt. Hören
Sie doch erst einmal zu! Vielleicht sind ja noch ein paar
Dinge dabei, die Sie noch gar nicht gelesen haben. Ich
kann Ihnen versichern, dass wir im Oktober, wenn der
Gesamtbericht vorliegt,
({2})
viel intensiver diskutieren werden müssen. Das ist gar
keine Frage; das wissen wir. Aber nichtsdestotrotz sollten wir die Chancen, die wir jetzt haben, nutzen, die
Dinge, die sich schon jetzt abzeichnen und die wir
schnell ändern können, auf den Weg zu bringen und Änderungen vorzunehmen, die dann diejenigen, die vom
Elterngeld profitieren, noch besser stellen.
({3})
Ich zähle die Bereiche auf, die wir heute - dies ist die
erste Lesung - auf den Weg bringen wollen. Dazu gehört
zum einen der Bezug des Elterngeldes für Wehrdienstund Zivildienstleistende. Sie wissen, dass diejenigen, die
den Wehrdienst oder den Zivildienst ableisten, nichts dafür können, dass sie dann auch weniger verdienen. Das
ist im Wehrpflichtgesetz festgesetzt. Deshalb müssen wir
darauf Rücksicht nehmen, dass diese Personen, wenn sie
dann Eltern werden, aufgrund ihres Wehrdienstleistens
oder Zivildienstleistens bei der Berechnung des Elterngeldes nicht benachteiligt werden. Wir sagen: Hier muss
die Möglichkeit bestehen, in Bezug auf den Verdienst
auf weiter zurückliegende Monate zurückzugreifen, damit für Wehrdienstleistende und Zivildienstleistende
keine Verluste eintreten. Wir wollen hier eine Änderung
vornehmen. Ich glaube, das ist gut und wichtig. Wir wollen, dass alle Familien profitieren, auch die, die ihren
bürgerlichen Pflichten nachkommen.
({4})
Der zweite große Bereich, der jetzt geändert werden
soll, ist der Bereich der Großeltern. Wir haben an anderer Stelle über vermehrte Teenagerschwangerschaften
debattiert. Wir haben festgestellt, dass es mehr junge
Menschen, mehr Minderjährige, ja Kinder gibt, die Mütter bzw. Eltern werden. Diese Kinder, wenn sie denn selber Eltern werden, müssen die Chance haben, ihre
Schulausbildung oder auch eine begonnene Berufsausbildung abzuschließen.
Damit sie das tun können, wollen wir, dass die Elternzeit auf die Großeltern übertragen werden kann. Das
heißt, dass sich Großeltern, die, vor allem wenn es sich
um minderjährige Kinder handelt, ihrer Verpflichtung
nachkommen - sie haben ja noch eine eigene Erziehungspflicht ihren Kindern gegenüber; diese sind ja
noch nicht 18 Jahre alt -, freistellen lassen können, also
in Elternzeit gehen können. Wir wollen mit dem vorliegenden Gesetzentwurf auf den Weg bringen,
({5})
dass Großeltern eingreifen und mithelfen können
({6})
- Herr Tauss, herzlichen Dank für Ihre Unterstützung -,
und zwar nicht nur bei minderjährigen Kindern. Auch
gerade junge Volljährige, die in der Berufsausbildung
sind - sie sind ja von der Lebensphase her nicht anders
aufgestellt als Minderjährige -, sollen die Möglichkeit
haben, ihre Berufsausbildung abzuschließen. Den Großeltern soll es möglich sein, statt der jungen Volljährigen
Elternzeit zu nehmen, um das Enkelkind zu betreuen, damit die jungen Leute in Ruhe ihre Berufsausbildung, auf
die letzten beiden Ausbildungsjahre beschränkt, abschließen können.
Ich glaube, auch das ist richtig und wichtig. Dabei gilt
es allerdings bestimmte Voraussetzungen einzuhalten,
etwa dass das Kind im Haushalt leben muss. Ich glaube,
es ist, wenn wir über Generationen reden, ein gutes,
wichtiges Zeichen, zu sagen: Die Großeltern haben die
Möglichkeit, hier mitzumachen. Das halte ich für einen
wichtigen Punkt.
({7})
Damals, bei Einführung des Elterngeldes, haben wir
gedacht: Wenn besondere Härtefälle auftreten - Tod
oder eine schwere Krankheit -, sollen junge Familien die
Möglichkeit haben, die einmal beim Antrag getroffene
Entscheidung, wer das Elterngeld bezieht, zu ändern.
Wir sagen jetzt: Die Erfahrungen zeigen, dass es auch
andere Gründe gibt, den Bezugspartner zu ändern. Wenn
zum Beispiel jemand, der in der Elternzeit ist, plötzlich
erwerbslos wird und eine neue Arbeitsstelle angeboten
bekommt, muss es den jungen Familien möglich sein,
kurzfristig den Bezugspartner zu ändern, also einen
neuen Antrag zu stellen. Wir sagen: Es muss möglich
sein, einmal ohne Begründung einen Antrag auf Änderung zu stellen; das hat auch etwas mit Verwaltungsvereinfachung zu tun. Weiterhin besteht in einem besonderen Härtefall die Möglichkeit - das bleibt unberührt -,
den Bezugspartner ein zweites Mal zu ändern. Dies ist
eine wirksame Regelung, damit die Familien das Elterngeld viel effektiver in Anspruch nehmen können.
({8})
Wir haben damals - Sie erinnern sich - Partnermonate ermöglicht; die Ministerin spricht gerne vom
Wickelvolontariat.
({9})
Das heißt: Wenn sich beide Elternteile die Elternzeit teilen, wird die Bezugsdauer beim Elterngeld um zwei Monate verlängert. Wir haben damals nicht daran gedacht,
dass es unterschiedliche Grundvoraussetzungen gibt:
Wenn beide Eltern erwerbstätig sind, hat die Mutter
schon die Grundvoraussetzung für die Partnermonate erfüllt; dann könnte der Vater seine Verpflichtung in nur
einem Monat Elternzeit erfüllen. Wir sagen: Die Bindung von Vater und Mutter zum Kind - sie ist wirklich
nötig - soll zum Wohle des Kindes möglichst intensiv
sein. Deshalb soll der Partner mindestens zwei Monate
in Elternzeit gehen. Ich glaube, es ist gut fürs Kind,
wenn sich der Vater zwei Monate lang an das Kind gewöhnen kann.
({10})
Ich glaube, der Vater bleibt noch einen Monat länger
beim Kind, weil es einfach schön ist, mitzuerleben, wie
das junge, kleine Kind wächst und gedeiht. Auch hier
werden wir also eine Änderung vornehmen.
({11})
- Frau Lenke, Sie können gerne eine Zwischenfrage stellen; dann darf ich länger reden.
({12})
- Gut, rufen Sie zwischen!
Es gibt eine weitere, eher formale Änderung bei der
Arbeitgeberbescheinigung. Bisher wurde die Bescheinigung des Arbeitgebers über die Höhe des Verdienstes,
der Sozialabgaben und dergleichen an den Arbeitnehmer
ausgegeben; der musste sie wiederum an die zuständigen
Behörden weiterleiten. Wir sagen: Ähnlich wie beim
Unterhaltsvorschussgesetz und beim Bundeskindergeldgesetz muss der Arbeitgeber diese Bescheinigung sofort
an die Behörde schicken. Das heißt, wir sparen Wege,
Zeit und Verfahren. Das ist richtig und wichtig.
Wir machen mit den ersten Änderungen, über die wir
heute debattieren, deutlich, dass wir die Entscheidung
der jungen Menschen für Kinder, für Familie und den
damit verbundenen Auftrag sehr ernst nehmen und genau hinschauen, was von uns Politikern bei der Weiterentwicklung des Elterngeldes erwartet wird. Es ist unbestritten, dass kein Gesetz, so wie es verabschiedet wird,
in seiner Wirkung wirklich hundertprozentig bei den
Menschen ankommt. Man muss bereit sein, ein Gesetz
weiterzuentwickeln. Das tun wir heute mit der ersten
Vorlage, mit den Punkten, die ich gerade genannt habe.
Dabei ist die Großelternzeit sehr wichtig. Wir machen
damit deutlich, dass wir Erziehungsverantwortung ernst
nehmen und sie wirklich anerkennen wollen. Ich kann
Sie, vor allem die Kolleginnen und Kollegen in den Oppositionsfraktionen, nur bitten, sich diesen wichtigen,
kleinen Weiterentwicklungsschritten nicht in den Weg zu
stellen.
({13})
- Frau Lenke, ich habe gerade gesagt, dass dies die ersten Schritte sind, die wir kurzfristig gehen können. Eine
große Debatte wird folgen. Sie werden sich - ich kenne
Sie ja - dort einbringen. Diese Debatte kann folgen,
wenn uns im Oktober der Evaluationsbericht vorliegt.
Jetzt haben wir die Möglichkeit, für die Bezieher von
Elterngeld wichtige Schritte, auch wenn sie klein sind,
zu tun. Sie sollten sich nicht verweigern, sondern mitmachen.
({14})
Die Kollegin Ina Lenke hat jetzt das Wort für die
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Frau Fischbach, wir machen
mit, aber anders. Die halbe Stunde, die wir hier über
diese Änderungen diskutieren, ist wirklich verschenkte
Zeit. Sie haben gesagt, dass die Geburtenzahl im letzten
Jahr gestiegen ist. Sie wissen doch, dass man die Elternschaft planen kann. Dafür gibt es die Pille. Sie glauben
doch nicht wirklich, dass die Menschen nicht auf das
Jahr 2007 gewartet haben. Damit ist dieser Berg, die höhere Geburtenrate, zu erklären. Dieser „Berg“ wird sich
aber wieder „normalisieren“, und dann haben wir wieder
die „weite Fläche“. Das war eine sehr subjektive Betrachtung, Frau Fischbach. Angesichts der Tatsache,
dass Sie neun Minuten Redezeit hatten, der vorliegende
Gesetzentwurf aber nur wenig Substanz hat, blieb ihnen
vermutlich nichts anderes übrig, als auch dies als Begründung anzuführen.
({0})
Dieser Gesetzentwurf bedeutet keine Weiterentwicklung des Gesetzes. Das Gesetz enthält Fehler, und Sie
verändern diese Fehler nur.
({1})
Die Ministerin hat ganz deutlich gesagt, dass vergessen
wurde, die Oma-und-Opa-Regelung, die Teil des alten
Gesetzes war, in das neue Gesetz aufzunehmen. Das ist
die Veränderung, und jetzt meinen Sie, dass das etwas
Superneues ist. Dazu kann ich nur sagen: Sie haben beim
ersten Gesetz Fehler gemacht, die Sie jetzt korrigieren
wollen. Was soll das?
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU
und der SPD, Sie haben die Chance verpasst, die Macken, die das Elternzeitgesetz hat, auszubessern. Wir von
der FDP müssen nicht auf den Evaluationsbericht warten. Sie müssen das anscheinend. Dabei müssten Sie
ebenso wie ich Briefe aus der Bevölkerung bekommen,
die die Macken dieses Gesetzes aufzeigen. Dazu möchte
ich einige Dinge sagen:
Sie wollen Flexibilisierung nur bei Härtefällen. Die
Härtefälle haben Sie folgendermaßen definiert: wenn ein
Ehepartner stirbt, wenn jemand behindert ist usw. Nur
dann soll eine Flexibilisierung möglich sein. Wissen Sie,
was wir wollen? Wir wollen die Entscheidung den Eltern
überlassen. Die Eltern sollen sich mit dem Arbeitgeber
einigen. Der eine könnte zum Beispiel drei Tage und der
andere zwei Tage arbeiten, oder der eine arbeitet drei
Wochen und der andere sieben Wochen. Über ein Budget
könnten wir das sehr gut entbürokratisieren. Warum gibt
es diese Möglichkeiten nicht? Warum feiern Sie es als
Supererfolg, dass sich diese Eltern innerhalb der Elternzeit ein zweites Mal umorientieren können? Wo sind wir
eigentlich?
({2})
Frau Lenke, Frau Fischbach würde Ihnen gerne eine
Zwischenfrage stellen. Möchten Sie das zulassen?
Wenn Sie das gerne möchten, Frau Fischbach.
Bitte schön.
Frau Lenke, geben Sie mir recht, dass es eine Flexibilisierung ist, wenn wir den Familien die Möglichkeit geben, innerhalb des Jahres, in dem sie Elterngeld beziehen, ohne Begründung eine Veränderung vorzunehmen?
Sie sind doch immer für Verwaltungsvereinfachung.
Glauben Sie, die Unternehmen und die Behörden würden es begrüßen - Stichwort: Papierkrieg -, wenn die Eltern ständig - sie sprachen von wöchentlich drei Stunden
und dann vier Stunden - wechseln könnten?
({0})
Sie müssten das dann generell freigeben. Sie können ja
nicht sagen: Dreimal oder viermal im Jahr darf geändert
werden. Wenn, dann muss man das generell tun dürfen.
Wenn alles ständig geändert werden kann, wie soll die
Angelegenheit unbürokratisch, einfach und schnell, was
im Sinne der Eltern ist, geregelt werden? Ich wäre Ihnen
sehr verbunden, wenn Sie mir erklären könnten, wie das
ohne Mehrkosten und ohne mehr Verwaltungsaufwand
geregelt werden soll.
({1})
Viel Beifall hat Ihre Rede ja nicht hervorgerufen.
({0})
Frau Fischbach, in der Debatte zum ersten Elternzeitgesetz haben Sie gesagt: Das geht nicht anders, weil der
Bürokratieaufwand sonst zu groß würde. Deswegen
wollten Sie nur einen einmaligen Wechsel ermöglichen.
Jetzt haben Sie festgestellt, dass das gar nicht praktikabel ist, weil es Sonderfälle des Lebens gibt. Sie haben
den Kreis der Sonderfälle, bei denen eine zweite Änderung möglich sein soll, sehr eng gefasst.
Warum sollen die Eltern nicht ein Budget bekommen,
wenn die Arbeitgeber der Eltern und die Eltern selbst sagen: „Wir wollen das anders regeln“? Die in Ihrem Gesetzentwurf vorgesehene Regelung ist immer noch zu
starr. Das ist immer noch zu wenig Flexibilität. Ich
glaube, wir könnten hier im Bundestag gemeinsam zu
der Auffassung gelangen, dass ein Budget weniger Bürokratie mit sich bringen würde. Die Eltern könnten dieses Budget untereinander aufteilen, ohne dass die Politik
sich einmischt. Dass es insgesamt bei einer Bezugsdauer
von 14 Monaten bleiben muss, darüber sind wir uns einig. Ich finde - das meine ich ganz ernst -, das ist zu wenig Flexibilität.
({1})
Ich würde Ihnen gerne ein Beispiel aus der Praxis
nennen. In meiner Bürgersprechstunde wurde mir von
folgendem Fall berichtet: Der Vater, der Elternzeit
nimmt, muss an einem Tag im Monat im Betrieb erscheinen.
Wissen Sie warum? Weil er sonst nach dem Tarifvertrag weniger Urlaubs- und Weihnachtsgeld bekommt.
Wir sind eine völlig verregulierte Gesellschaft. Ich sage
es noch einmal: Wir brauchen Wahlfreiheit für junge Eltern.
Elterngeld sollte Lohnersatz sein. Wir wissen aber,
dass ein Drittel des Elterngeldes Sozialleistungen und
nicht Lohnersatzleistungen sind. Sie müssen sich also
einmal überlegen, was Sie als Koalition falsch gemacht
haben.
({2})
Ich komme noch einmal auf die Nachteile für teilzeitbeschäftigte Ehefrauen zu sprechen. Die Lohnersatzleistung bemisst sich nach dem Nettogehalt. Jeder, der in
Steuerklasse V ist, weiß: hohes Brutto, niedriges Netto.
Nach diesem niedrigen Netto wird das Elterngeld berechnet. Wir hatten einen guten Vorschlag gemacht, bevor das Elterngeld eingeführt wurde. Wenn der Bruttolohn berücksichtigt worden wäre - mit einer Pauschale -,
würden alle gleich behandelt, egal welche Steuerklasse
sie haben. Ich finde weiterhin, dass das eine sehr gute
Idee ist.
({3})
Sie haben zwar etwas für Wehrpflichtige getan, aber
nichts für Mütter, die selbstständig sind. Der Deutsche
Journalisten-Verband kritisiert das. Ich kann dies aus
Zeitgründen nicht ausführen, lege Ihnen aber ans Herz,
die Broschüre zu lesen. Ich kann sie Ihnen gerne zusenden. Wenn ein Umsatz für eine zurückliegende Beschäftigung im Zeitraum des Bezugs von Elterngeld auf dem
Konto der Mutter eingeht, bekommt sie deswegen weniger Elterngeld. Ich frage mich, ob das gerecht ist.
({4})
Sie müssen sich mehr um Selbstständige kümmern.
Die Bild-Zeitung hat uns darüber aufgeklärt, dass man
vom Elterngeld Steuern zahlen muss. Ich war sehr erschrocken, als ich die Zahlen sah.
({5})
Man verliert über 10 Prozent, also einen Monat Elterngeld. Wer als Elternteil die 101 Seiten der Broschüre
durchgearbeitet hat - das hat übrigens auch etwas mit
Bürokratie zu tun -, hat das sicherlich gelesen. Ich muss
sagen: Wenn die Ministerin immer nur von 1 800 Euro
und 67 Prozent vom Netto spricht, aber darüber nicht
aufklärt und nicht sagt, dass das Elterngeld, was die Progression angeht, teilversteuert werden muss - ich drücke
es einmal laienhaft aus -, dann sind die Bürger natürlich
hinterher enttäuscht. Daran sind Sie schuld und nicht das
Elternzeitgesetz.
({6})
Ich will zum Schluss kommen. Ich rate Ihnen:
Schauen Sie sich unseren alten Antrag zum Elterngeldgesetz an. Sie werden sehen, dass er gute Ideen enthält,
die Sie übernehmen können, damit das Elterngeld endlich allen Lebenslagen von Frauen und Männern gerecht
wird. Wir werden wieder einen Antrag stellen. Der Evaluationsbericht wird hoffentlich nicht subjektiv, sondern
objektiv sein. Sie werden noch vieles finden, um das Elterngeldgesetz weiter zu verändern; denn ordentlich gemacht ist es nicht. Ich warte mit Freude auf die Evaluation, damit wir konstruktiv darüber streiten können.
({7})
Vielen Dank.
({8})
Die Kollegin Caren Marks spricht jetzt für die SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Frau Lenke, eine
kleine Anmerkung vorweg: Natürlich ist das Bessere
stets der Feind des Guten. Aber dazu kann ich Ihre Vorschläge überwiegend leider nicht zählen.
({0})
Zu Frau Fischbach möchte ich Folgendes sagen: Sie
haben vorhin vom Wickelvolontariat gesprochen. Ich
möchte, weil ich weiß, dass Sie genauso wie ich von den
Partnermonaten überzeugt sind, darauf hinweisen, dass
wir den Begriff Wickelvolontariat nicht gebrauchen sollten; denn das war ein Kampfbegriff von Herrn
Ramsauer, der sich damals gegen die Partnermonate ausgesprochen hat. Es ist mir wichtig, darauf hinzuweisen.
({1})
Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten haben den Familien im Wahlkampf 2005 ein Elterngeld
versprochen. Wir haben dieses Versprechen zum 1. Januar 2007 eingelöst. Wir haben das bisherige Erziehungsgeld durch ein modernes Elterngeld nach skandinavischem Vorbild abgelöst. Das Elterngeld ist eine neue
Leistung für Familien.
Mit dem heute vorliegenden Gesetzentwurf wollen
wir kurzfristig auf Hinweise reagieren, die uns aus der
Praxis erreicht haben.
Hinweis Nummer eins: Teenager, die Kinder bekommen, wollen ihre Ausbildung beenden. Die Großeltern,
die sie dabei unterstützen möchten, haben jedoch gegenüber ihren Arbeitgebern bisher keinen Anspruch auf Elternzeit.
Hinweis Nummer zwei: Aktuell kann der Elterngeldantrag nur in Härtefällen wie Krankheit oder Tod geändert werden. Wenn sich aber die Erwerbssituation verändert, konnten Mütter und Väter ihre Elterngeldmonate
bisher nicht flexibel anpassen. Das haben wir verändert.
Hinweis Nummer 3: In Einzelfällen gibt es Nachteile
für Wehr- und Zivildienstleistende bei der Berechnung
des Elterngeldes. Auch das wurde verändert.
Hinweis Nummer 4: Vereinzelt musste Elterngeld für
weniger als zwei Monate bewilligt werden. Das war
nicht zielführend.
Frau Lenke, diesen vier Hinweisen tragen wir mit
dem vorliegenden Gesetzentwurf Rechnung. Damit verbessern wir die Wirkung der Elternzeit und des Elterngeldes. Wir verbessern insgesamt die Vereinbarkeit von
Familie, Ausbildung und Beruf.
Die Initiative zur Einführung der sogenannten Großelternzeit bei Teenagerschwangerschaften kam aus den
Reihen der Sozialdemokratinnen. Es freut uns, dass es
uns in der Großen Koalition gelungen ist, dies umzusetzen. Teenagereltern unterstützen wir mit diesen Neuregelungen, sodass sie ihre Ausbildungen abschließen
können. Schul- und Bildungsabschlüsse sind für ihre
späteren Berufschancen von immenser Bedeutung.
({2})
Frau Lenke, das ist für Sie vielleicht spannend: Im
Herbst wird die Bundesregierung eine erste umfassende
Evaluation zum Elterngeld vorlegen. Das wird die Datenbasis für eine sinnvolle Weiterentwicklung des Elterngeldes sein.
Zusammenfassend kann man sagen: Das Elterngeld
wirkt. Junge Eltern müssen in Deutschland nicht mehr
befürchten, dass die Geburt eines Kindes für sie mit erheblichen Einbußen verbunden ist. Beiderseits erwerbstätige Paare profitieren dadurch, dass das wegfallende
Nettoeinkommen zu 67 Prozent ersetzt wird. Geringverdienerinnen und -verdiener bekommen einen höheren
prozentualen Einkommensersatz. Paare mit einem Verdiener erhalten das Elterngeld on top. Auch sie profitieren von einem insgesamt höheren Familieneinkommen.
Familien, die von Leistungen der Grundsicherung leben,
bekommen das Elterngeld ebenfalls on top; denn das Elterngeld wird nicht auf die existenzsichernden Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II angerechnet. Diese
Wirkungen sind sozial gerecht.
Die zweijährige Bezugsdauer des früheren Erziehungsgeldes wurde in der Fachwelt als Falle für Frauen
bezeichnet, und zwar zu Recht. Zu viele Frauen haben
nach der bezahlten Elternzeit von zwei Jahren den Wiedereinstieg in den Beruf nicht geschafft. Sie mussten einen Teil ihrer Lebenswünsche aufgeben und auf eine eigenständige soziale Absicherung verzichten.
Meine sehr geehrten Damen und Herren von der Linken, Ihre Forderung nach einer Verlängerung des Bezugszeitraums zeigt, dass sich das traditionelle Familienbild von Christa Müller bei Ihnen leider mehr und mehr
durchsetzt.
({3})
Wir hingegen setzen auf eine moderne Frauen- und Familienpolitik. Das entspricht den Wünschen der jungen
Männer und Frauen in diesem Land. Dafür steht auch
das Elterngeld. Wir wollen mehr Männer, die sich Familienarbeit mit ihren Partnerinnen teilen. Das haben wir
erreicht. Heute gehen dreimal so viele Väter in Elternzeit
wie im Jahr 2006, und die Tendenz ist steigend. Rund
40 Prozent von ihnen nehmen sie länger als zwei Monate. Die Orientierung des Elterngeldes am NettoeinkomCaren Marks
men und die Partnermonate sind ein wirksamer Anreiz.
Sie erleichtern gemeinsame Erziehungsverantwortung.
Es hat sich gelohnt, dass wir diese gezielte Starthilfe
für Mütter und Väter durchgesetzt haben. Mit dem Elterngeld, mit dem Ausbau der Kinderbetreuung und mit
familienfreundlichen Arbeitsbedingungen schaffen wir
echte Wahlfreiheit für Familien.
Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Lassen Sie uns diese Instrumente gemeinsam weiterentwickeln. - Das war der letzte Satz.
Ich bedanke mich.
({0})
Ich erteile jetzt dem Kollegen Jörn Wunderlich für die
Fraktion Die Linke das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
„Elterngeld - nur wenige Eltern profitieren“, „nur wenige kommen über 1 000 Euro“, „Elterngeld der Realität
anpassen“, „familienfreundliche Arbeitswelt sieht anders aus“.
({0})
- Nein, das ist nicht von mir. Das sind Schlagzeilen und
Meldungen der letzten Wochen.
Verbände diskutieren mit Eltern, Wissenschaftlern,
Juristen und Arbeitgebern über die Frage: Was hat ein
Jahr Elterngeld gebracht? Im Ergebnis wird festgestellt:
Das war eine wunderbare Kür, aber vom Staat wird mehr
Pflicht verlangt. Fazit: Das Reförmchen ist wieder einmal mehr Schein als Sein. Eltern wünschen sich tatsächlich mehr.
Da, wo Änderungsbedarf besteht - eine Erhöhung des
Mindestelterngeldes bei gleichzeitigem Teilelterngeldbezug -, wird nichts gemacht. Das Elterngeld bleibt auch
nach dem vorliegenden Gesetzentwurf eine sozialpolitische Mogelpackung, die für die Mehrheit der Eltern
nicht hält, was sie verspricht. Das Elterngeld benachteiligt Eltern mit niedrigem oder gar keinem Einkommen.
Im Wissen darum, dass jedes siebte Kind in Deutschland
auf einem Einkommensniveau lebt, das es von einer angemessenen sozialen und gesellschaftlichen Teilhabe
ausschließt, verschärfen Sie die Kinderarmut weiter.
({1})
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf halten Sie an der
Unausgewogenheit und an der Umverteilung von Arm
nach Reich fest.
Herr Singhammer, die Zahlen sprechen für sich: Die
Mehrheit der Eltern erhält ein Elterngeld von weniger als
500 Euro, 32 Prozent bekommen sogar nur das Mindestelterngeld in Höhe von 300 Euro. Um noch eins draufzusetzen: Die Auswirkungen auf Alleinerziehende sind statistisch gar nicht zu ermitteln, weil das Gesetz diesbezügliche Erhebungen nicht vorsieht. Dazu kann man nur
sagen: Gratulation! Sind das die Wahlversprechen, die
die SPD im Wahlkampf gemacht hat - Frau Marks hat
sie gerade erwähnt -, wollte man den Eltern nach der
Wahl weniger geben?
({2})
Das ist wie mit euren Steuerversprechen: Es wird viel
versprochen, aber nichts wird gehalten.
({3})
Eine Bemerkung zur Großelternzeit. Unsere Kritik
richtet sich darauf, dass der Anspruch auf das Zeitrecht
ohne Anspruch auf Elterngeld gewährt werden soll, ganz
nach dem Motto: Oma wird es schon richten. Das Argument, dass die Eltern das Mindestelterngeld erhalten,
greift zu kurz.
({4})
- Mehrwertsteuererhöhung - ohne uns; das war euer
Wahlversprechen. Ich sage nur: Versprecht ruhig weiter!
Wenn ihr 3 Prozent weniger bekommt und wir 3 Prozent
mehr bekommen, dann haben wir euch überholt.
({5})
Eine Bemerkung am Rande: Die Großeltern, um die
es hier geht, die Eltern der Teenie-Eltern, sind heute zwischen 40 und 50 Jahren, also noch nicht im Rentenalter.
Wie sollen sie mit einem Zeitanspruch aussteigen, wenn
sie noch im Berufsleben stehen? Das Recht und die
Möglichkeit auf eine Ausstiegszeit bringen wenig, wenn
nicht klar ist, woher in dieser Zeit das Geld kommen
soll.
({6})
Aus gleichstellungspolitischer Sicht - auch diese Perspektive ist von Bedeutung - ist das Ganze ohnehin kontraproduktiv, weil es wieder die Frauen sind - ich sage
nur: Steuerklasse V -, auf deren geringeres Einkommen
eher verzichtet wird.
({7})
Ich wiederhole: Oma wird es schon richten.
Großelternzeit nur den Großeltern zu gewähren, und
das auch nur, wenn sie mit dem betreuenden Kind in einem Haushalt leben, das ist uns zu wenig. Die Linke will
den Anspruch auf andere Verwandte bis zum dritten
Grad ausdehnen, auch dann, wenn sie nicht mit dem
Kind in einem Haushalt leben. Außerdem wollen wir Solidarität auch außerhalb von Verwandtschaftsbeziehungen anerkennen; denn es sind nicht immer nur Verwandte, die helfen. Deshalb schlagen wir vor, auch
Dritten, die mit Eltern und Kind nicht verwandt sind, einen entsprechenden Anspruch zu gewähren.
Die Linke steht für eine sozial gerechte Kinder- und
Familienpolitik und fordert eine stärkere Übernahme öffentlicher Verantwortung für Kinder und Familien. Wir
fordern die sofortige Anhebung des Mindestelterngeldes
auf 450 Euro
({8})
und die Verlängerung des Anspruchs auf Elterngeld
({9})
- Frau Marks, hören Sie mir doch einmal zu, bevor Sie
hier Unwahrheiten verbreiten! - auf zwölf Monate pro
Elternteil, nämlich auf zwölf Monate für die Mutter und
auf zwölf Monate für den Vater.
({10})
Wenn Sie unsere Konzepte vertreten, dann vertreten Sie
sie bitte richtig! Wir wollen einen zwölfmonatigen Anspruch auf Elterngeld auch für die Väter, um sie stärker
in die Pflicht zu nehmen.
({11})
Insbesondere fordern wir in diesem Zusammenhang
eine öffentliche, gut ausgebaute und qualitativ hochwertige Kinderbetreuung mit entsprechend ausgebildeten
Erzieherinnen und Erziehern, wobei ich die Schwerpunkte auf „öffentlich“ und „gut ausgebaut“ lege. Die
öffentlichen Träger und der Bundesjugendverband haben
gesagt: Der von der Regierung angekündigte Bedarf
lässt sich auch mit öffentlichen und gemeinnützigen Trägern umsetzen. - Frau Lenke hört gerade leider nicht zu,
obwohl das ganz besonders an sie gerichtet ist. ({12})
Es kann also auf gewerbliche und profitorientierte Träger verzichtet werden.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({13})
Jetzt hat die Kollegin Ekin Deligöz für das Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man ein Instrument wie das Elterngeld einführt, dann hat das
zwangsläufig zur Folge, dass nach einem Jahr Korrekturund Verbesserungsbedarf besteht, weil man im Laufe der
Zeit vieles lernt. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf
soll die Feinkorrektur dieses neuen Instruments vorgenommen werden.
Ich muss allerdings darauf hinweisen, dass dem Parlament bis zum 1. Oktober dieses Jahres ein erster Bericht
vorgelegt werden soll, in dem die Folgen und der Wirkungsbereich der Einführung des Elterngeldes dargestellt werden. Eigentlich wäre es sinnvoll gewesen, mit
den Korrekturen zu warten, bis dieser Bericht vorliegt.
({0})
Dann hätte man daraus Konsequenzen ziehen und die Instrumente dementsprechend anpassen können.
Sie wollten aber nicht bis zum Herbst dieses Jahres
warten, und wir wissen auch, warum.
({1})
Wir wissen, dass in der Koalition schnelle, einvernehmliche familienpolitische Verfahren Seltenheitswert haben.
({2})
Spätestens mit der Vorlage des Wirkungsberichts zum
Elterngeld hätten Sie sich darauf einigen müssen, wie es
mit den Vätermonaten weitergeht. Die Ministerin hat die
Debatte darüber ja schon eröffnet.
({3})
Aber Sie möchten das lieber zu einem Wahlkampfthema
machen, als hier etwas Konkretes vorzulegen.
({4})
Die Familienministerin hat, was die Ausweitung der
Partnermonatsregelung angeht, eine konkrete Positionierung mehrfach vermieden. Sie hat selber gesagt, das
überlasse sie der Diskussion, die sich sicher entwickeln
wird. So redet jemand, der sich entweder nicht festlegen
will oder nicht festlegen kann.
({5})
Womöglich gibt es nicht nur innerhalb der Koalition,
sondern sogar innerhalb der CDU/CSU-Fraktion Differenzen.
({6})
Dass Sie darauf beharren, Bericht und Korrekturen zu
trennen, lässt darauf schließen, dass Sie den Bericht als
Wahlkampfschlager verwenden möchten. Ich sage Ihnen: Das wird Ihnen nur bedingt gelingen.
({7})
Das, was jetzt gemacht werden soll, ist Klein-Klein,
ja klitzeklein, und ab Herbst wird der Wahlkampf toben.
Bis dahin gibt es mit dem Gesetzentwurf ein paar Vorschläge, die grundsätzlich nicht schlecht sind: Die Einführung einer Mindestbezugsdauer für die Partnermonate kann man begrüßen, genauso, dass Wehr- und
Zivildienst bei der Einkommensermittlung ausgeklammert werden sollen. Zur Revidierung der Leistungsaufteilung muss ich sagen: Eigentlich gibt es keinen Grund,
warum, wenn man eine Leistungsaufteilung im Härtefall
zugesteht, dies nur einmalig möglich sein soll.
({8})
Härtefälle können schließlich öfters vorkommen.
Auch der Vorschlag einer sogenannten Großelternzeit
ist nachvollziehbar. Gerade im Falle von Teenagerschwangerschaften ist jede Hilfe willkommen und sinnvoll.
({9})
Ich glaube, dass die Großelternzeit in Anspruch genommen werden wird, Herr Wunderlich. Die Großeltern
könnten zum Beispiel auf Teilzeitarbeit übergehen; auch
in diesem Sinne ist Elternzeit möglich. Das Problem ist
aber: Was passiert, wenn sich die Großeltern mit den Eltern nicht einigen können? Die ersten Experten sagen
schon, dass diese Regelung Konflikte nicht aus dem Weg
räumt, sondern womöglich vertieft bzw. neue Konflikte
schafft. Darüber werden wir in der Anhörung, die die
Oppositionsfraktionen verlangen, noch zu sprechen haben.
Abgesehen davon erschließt es sich mir nicht, warum
Sie sich, wenn Sie schon eine solche Öffnung vorsehen,
auf die Großeltern konzentrieren. Man könnte doch sagen: In einer modernen Welt, in der es verschiedene Familienformen gibt, gibt es auch andere Konstellationen
des Zusammenlebens, des Miteinander-VerantwortungÜbernehmens.
({10})
Auch diesen Konstellationen sollte man eine solche
Möglichkeit eröffnen. Das Ziel ist doch, dass die Teenager auch mit Kind ihre Schule oder Ausbildung fortführen und beenden können.
({11})
Wir machen jetzt Klein-Klein. Die großen Reformen,
die Änderungen, die auf jeden Fall anstehen, werden uns
dann im Herbst beschäftigen.
({12})
Jetzt ergreift Kerstin Griese das Wort für die SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zwei Anmerkungen vorneweg. Erste Bemerkung: Liebe
Ekin Deligöz, es sind zwar kleine Änderungen; aber es
sind Änderungen, die den Menschen im realen Leben
helfen. Deshalb wird das Gesetz dadurch besser.
({0})
Meine zweite Anmerkung: Herr Wunderlich, wenn
eine Meisterschaft im Versprechen-Abgeben ausgerufen
würde, wären Sie mit den 157 Milliarden Euro - diese
Summe umfassen die Versprechen der Linkspartei; diesen Geldsegen würden Sie gern verteilen - schon jetzt
der Gewinner. Im Versprechen-Abgeben sind Sie die
Größten, eine Gegenfinanzierung haben Sie allerdings
nicht.
({1})
Wir reden heute über etwas Erfolgreiches. Dass Sie
das stört, kann ich verstehen; nichtsdestotrotz ist das Elterngeld ein großer Erfolg. Wir von der SPD sind froh,
dass wir unseren Koalitionspartner davon überzeugen
konnten.
({2})
Wir haben das Elterngeld gemeinsam verwirklicht. Darauf können wir stolz sein. Ich sage das ausdrücklich;
damit alle Seiten klatschen können. Die Zustimmung in
der Bevölkerung ist enorm: Zwei Drittel der Bevölkerung halten das Elterngeld für eine gute Sache. Sicherlich nicht nur durch dieses Gesetz - auch durch viele andere Maßnahmen -, aber auch durch dieses Gesetz
wurde der Geburtenrückgang zum ersten Mal seit 1990
gestoppt. Bei den Männern gibt es ein Umdenken. Vielleicht haben diejenigen, die früher einmal von einem
Wickelvolontariat gesprochen haben, dazugelernt.
Bereits im letzten Quartal des letzten Jahres ging jede
achte Bewilligung des Elterngeldes an einen Mann.
Zwei Drittel dieser Väter haben zwei Monate lang Elterngeld in Anspruch genommen. Knapp jeder fünfte
dieser Väter ist sogar für zwölf Monate ganz oder teilweise aus dem Beruf ausgestiegen, um sich um das Kind
zu kümmern. Es findet also ein echtes Umdenken in der
Gesamtbevölkerung statt: bei den Männern und auch in
der Wirtschaft. Eine aktuelle Umfrage zeigt, dass das
Verständnis der Personalverantwortlichen für Familien
deutlich gestiegen ist. 61 Prozent befürworten es, wenn
auch Väter Elternzeit nehmen. Das waren vor ein paar
Jahren noch viel weniger. Alles in allem ist die Bilanz
des Elterngeldes erfolgreich.
({3})
Es ist schon gesagt worden: Wir werden zum
1. Oktober 2008 eine umfassende Evaluation erhalten.
Das ist auch gut so. Nichtsdestotrotz kann man einige
Dinge schon vorher ändern.
Ich will mich ganz ausdrücklich beim Diakonischen
Werk des Evangelischen Kirchenbezirks Baden-Baden
und Rastatt bedanken; denn wir wurden vor etwas über
einem Jahr, im April 2007, mit einem Brief an unsere
Kollegin Nicolette Kressl darauf aufmerksam gemacht,
dass es in der Tat das Problem gibt, dass keine Großelternzeit mehr möglich ist. Vonseiten der SPD haben
wir uns dann sehr schnell für die Wiedereinführung der
Großelternzeit stark gemacht. Ich sage ganz ehrlich: Wir
hätten das gerne noch schneller auf den Weg gebracht
- wir haben häufig darüber gesprochen; es gab aber viel
abzustimmen, auch mit dem Bereich Bildung -; denn
wir wollen, dass Großeltern in dieser Notsituation einspringen können. Wir wollen, dass Großeltern eine Auszeit nehmen können mit der Garantie für eine Rückkehr
in ihren Job, wenn ihre Kinder Eltern werden und sie
ihre Enkelkinder betreuen wollen.
({4})
Ich glaube, diese Änderung entspricht der Lebenswirklichkeit. Es geht um Teenager, die selber Eltern werden.
Daneben wollen wir, dass die jungen Eltern, die in der
Schule, in der Ausbildung oder vielleicht sogar schon im
Studium sind, ihren Abschluss machen können; denn wir
wissen, dass die beste Prävention von Kinderarmut - wir
reden viel über Kinderarmut, auch heute Morgen hier im
Parlament - die Erwerbstätigkeit der Eltern ist. Erwerbstätig kann man nur sein, wenn man einen Schul- und
Ausbildungsabschluss hat.
({5})
Wir haben diese Regelung auch deshalb eingeführt,
um Teenagern in dieser schwierigen Situation wirksam
helfen zu können. Heute werden etwa sechs von 1 000
13- bis 17-jährigen Mädchen in Deutschland schwanger.
Etwa drei von diesen Mädchen, also die Hälfte, bekommen ein Kind. Die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche
in der gleichen Altersgruppe ist ein klein wenig höher als
die der Geburten. Wir sprechen über etwas mehr als
7 000 Kinder von 13- bis 17-jährigen Teenagern, die in
Deutschland pro Jahr geboren werden. Diese Teenager
können die Hilfe ihrer Eltern mit der neuen gesetzlichen
Regelung leichter in Anspruch nehmen. Hinzu kommen
noch diejenigen, die schon volljährig sind, aber vor ihrem 18. Geburtstag mit einer Ausbildung begonnen haben. Auch für sie ist diese neue Regelung im Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz positiv.
({6})
Fakt ist also: Wir verbessern die Möglichkeiten im
Rahmen der Elternzeit weiter und schaffen eine lebensnahe Lösung für ganz junge Eltern, wodurch ihnen geholfen wird, Schule und Ausbildung zu Ende zu machen.
Damit helfen wir den Familien ganz konkret. Ich bitte
Sie alle nicht nur um Zustimmung, sondern auch um zügige Zustimmung, damit diese wirklich gute Lösung
sehr schnell in Kraft tritt und die Großeltern, die es wollen und können, ihren Kindern und Enkelkindern gleichermaßen helfen können.
Vielen Dank.
({7})
Damit schließe ich die Aussprache.
Zwischen den Fraktionen ist verabredet worden, den
Gesetzentwurf auf Drucksache 16/9415 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. -
Damit sind Sie einverstanden. Dann ist das so beschlos-
sen.
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 11 a und 11 b
auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gisela
Piltz, Christian Ahrendt, Ernst Burgbacher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Abkommen zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und den Vereinigten Staaten von
Amerika über die Vertiefung der Zusammenarbeit bei der Verhinderung und Bekämpfung
schwerwiegender Kriminalität neu verhandeln
- Drucksache 16/9094 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang
Wieland, Volker Beck ({1}), Alexander Bonde,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Kein uferloser Datenaustausch mit den USA
- Drucksache 16/9360 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({2})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Es ist verabredet, über diese beiden Anträge insgesamt eine halbe Stunde zu debattieren. - Dazu höre ich
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin
Gisela Piltz für die FDP-Fraktion das Wort.
({3})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Als „Albtraum“ hat der europäische DatenschutzGisela Piltz
beauftragte Peter Hustinx das Vorantreiben der EU-weiten Ausdehnung des Prümer Vertrags bezeichnet und
hinzugefügt, die mit dem Vertrag verknüpften Datenschutzbestimmungen seien ein „kompliziertes Flickwerk“. Der Prümer Vertrag ist damit für uns alles andere
als ein gutes Vorbild. Trotzdem geht die Bundesregierung noch einen Schritt weiter und handelt ein Sicherheitsabkommen mit den USA zum Austausch von Daten
aus, ohne sich wenigstens an diesen zugegebenermaßen
flickwerkartigen Datenschutzbestimmungen zu orientieren. Dann verkauft uns diese Bundesregierung das auch
noch als politischen Erfolg und stellt die Vorreiterrolle
Deutschlands heraus. Der Prümer Vertrag selbst ist in
Europa bis heute nicht umgesetzt, eine Evaluierung gibt
es auch nicht. Aber wir müssen wieder einmal mit gutem
Beispiel vorangehen. Für uns ist das eher ein schlechtes
Beispiel.
({0})
Es wäre sinnvoll gewesen, die Erfahrungen aus dem Prümer Vertrag erst einmal abzuwarten und auszuwerten,
anstatt ihn unter einem anderen Namen über den Atlantik zu exportieren.
Wer sensible Daten wie die politische, religiöse oder
sonstige Überzeugung, die Zugehörigkeit zu einer Gewerkschaft, die sexuelle Einstellung und Gesundheitsdaten übermitteln will, ohne dabei Begriffe wie Terrorismus und Kriminalität ausreichend zu definieren, muss
sich schon fragen lassen, wo sein Grundrechts- und Bürgerrechtsverständnis geblieben ist.
({1})
- Damit haben Sie völlig recht, Herr Kollege. - Es reicht
nicht, dass die Vertragspartner einander notifizieren können, welche Straftaten nach nationalem Recht unter die
Begriffe Terrorismus und Kriminalität fallen; denn diese
Notifikation ist jederzeit änderbar. Heute hü!, morgen
hott! - so kann Rechtssicherheit nicht eintreten.
Was hat, bitte schön, die Gewerkschaftszugehörigkeit
mit terroristischen Straftaten bzw. schwerwiegender Kriminalität zu tun? Wir haben lange darüber nachgedacht.
Weder das englische noch das deutsche Wort geben uns
dazu Veranlassung. Wenn man aber lange genug bei
Google sucht, fallen einem das spanische und das französische Wort für „Gewerkschaft“ auf: el sindicato und
syndicat. Hier ergibt sich ein ganz neuer Horizont von
Assoziationen. Der Syndikalismus war eine revolutionär-gewerkschaftliche Bewegung, die sich Ende des
19. Jahrhunderts bildete. Mittel der Syndikalisten war
nicht nur der Streik, sondern auch die Sabotage.
({2})
- Dass Sie von der Linken das wieder gut finden, ist mir
klar. - Parlamentarische Bestrebungen wurden abgelehnt. Im heutigen Kontext würde ein solcher Mitteleinsatz von einigen Ländern vielleicht als Terrorismus
bezeichnet werden. Unsere Gewerkschaften in Deutschland bedienen sich aber dieser Mittel nicht. Ich glaube,
die Zeiten des Syndikalismus haben wir nun wirklich
überwunden.
Ich verstehe auch nicht, wie eine Bundesjustizministerin mit SPD-Parteibuch ein solches Abkommen federführend verhandeln konnte.
({3})
Dieses Sicherheitsabkommen stellt die Gewerkschaften
an den Pranger. Das haben sie wirklich nicht verdient.
({4})
Es ist schon bezeichnend, wenn die FDP die Gewerkschaften verteidigen muss. Dies ist eine wirklich komische Rollenverteilung.
Noch ein Wort zum Verfahren: Entgegen Ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke haben Sie den Innenausschuss des Bundestages im Februar
2007 nicht über die Aufnahme von Vertragsverhandlungen informiert. Ich habe mir extra noch einmal das Wortprotokoll angeschaut. Meinem Fraktionskollegen Ernst
Burgbacher haben Sie auf Nachfrage geantwortet, dass
die USA dem Vertrag von Prüm nicht beitreten könnten.
Dies stimmt natürlich. Sie haben eine formale Antwort
gegeben und sich so um die inhaltliche Antwort gedrückt. Sie haben im Ausschuss nicht die Wahrheit gesagt,
({5})
und das kann sich das Parlament nicht bieten lassen.
({6})
Die Regelungen im Sicherheitsabkommen haben
Sprengstoff in sich. Europäische Datenschutzstandards
haben in den USA überhaupt keinen Bestand, wie wir
wissen. Das dortige Datenschutzniveau ist deutlich niedriger. Insbesondere werden in den USA polizeiliche Daten über Jahrzehnte gespeichert: bis zu 99 Jahre. Das
Ende der Speicherung seiner Daten wird also kaum jemand erleben. Eine unabhängige Datenschutzkontrolle,
wie es in Deutschland der Fall ist, gibt es dort auch
nicht. Der automatisierte Austausch soll im sogenannten
Hit-/No-hit-Verfahren erfolgen. Die Vertragspartner
wollen sich dabei gegenseitig Zugriff auf die sogenannten Fundstellendatensätze ihrer nationalen DNA- und
Fingerabdruckdatenbanken gewähren, um diese für den
automatisierten Abgleich zu nutzen. Einzelheiten sollen
aber Durchführungsvereinbarungen vorbehalten bleiben.
Auch da werden wir dann keinen Einfluss haben. Es ist
nicht sonderlich klug, wie man in diesem Punkt mit dem
Parlament umgeht.
Auskunfts- und Berichtigungsansprüche, die einem
rechtsstaatlichen Verfahren grundsätzlich immanent sind,
sind in dem Abkommen für die Betroffenen vorsichtshalber gar nicht vorgesehen, da nur das Verhältnis zwischen den Vertragsparteien USA und Deutschland gere17592
gelt wird. Wenn ich betroffen bin, brauche ich als
betroffene Person einen Auskunftsanspruch.
Wir hoffen, dass Sie in dieser Hinsicht noch einmal
tätig werden. Uns wäre es sowieso lieber, Sie würden
das Ganze zurückziehen. Aber wenn Sie es durchführen,
dann müssen Sie sich auch an rechtsstaatliche Verfahren
halten. Der Grundsatz des effektiven Rechtschutzes, der
jedenfalls nach unserer Auffassung eine tragende Säule
unseres Rechtsstaates ist, wird damit einmal mehr über
Bord geworfen.
Zum Abschluss: Nachdem ich schon versucht habe,
den Begriff Syndikat geschichtlich zu erklären, habe ich
in der Zitatenkiste gewühlt und ein Zitat aus dem Jahr
1670 gefunden.
({7})
Das liegt so weit zurück, dass es vielleicht für die Bundesregierung unverdächtig ist, auch wenn es von einem
Mitglied der liberalen Bundestagsfraktion verwendet
wird. Baruch de Spinoza hat gesagt: „Der Zweck des
Staates ist in Wahrheit die Freiheit.“ Ich fände es gut,
wenn wir uns alle daran halten würden.
Herzlichen Dank.
({8})
Der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Christoph
Bergner hat jetzt das Wort für die Bundesregierung.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Verehrte
Frau Piltz, die Einzelheiten des in Rede stehenden, von
der Bundesregierung verhandelten deutsch-amerikanischen Abkommens werden im Zuge der anstehenden
vertragsgesetzlichen Ratifizierungen behandelt. Ich
werde deshalb darauf verzichten, auf viele der Vorwürfe
- Sie nannten Speicherhöchstfristen und anderes - im
Einzelnen einzugehen.
Ich will vorausschauend so viel zurückweisen - wir
haben es sogar im Innenausschuss im Rahmen der Berichterstattung diskutiert, wenn ich mich richtig erinnere -: Die Gewerkschaften und religiöse und sonstige
Überzeugungen sind in Art. 12 des Vertrages ausdrücklich wegen der besonderen Schutzwürdigkeit der entsprechenden Daten erwähnt. Das heißt, was von Ihnen
als besondere Weitergabe von speziellen Informationen
zu denunzieren versucht wird,
({0})
ist in dem Vertrag gerade in den Rahmen einer besonderen Schutzwürdigkeit gestellt worden. Sie sollten sich
wenigstens die Mühe machen, in dieser Frage fair zu argumentieren.
Ein Weiteres. Mein Kollege Altmaier hat am 28. Februar über die Aufnahme von Gesprächen mit den USA
zur Intensivierung des bilateralen Informationsaustausches informiert, damals natürlich noch nicht über Vertragsinhalte. Sie wissen, dass am 9. März ein Berichterstattergespräch stattgefunden hat - an dem Sie, glaube
ich, selbst teilnahmen -, in dem mein Kollege Altmaier
über den Vertrag informiert hat.
Ich will versuchen, auf die allgemeinen Vorwürfe, die
das Muster Prümer Vertrag und seine Übertragung auf
den Drittstaat USA betreffen, einzugehen. Dabei ist zunächst einmal hervorzuheben, dass der Vorwurf, hier
würde ein Ausverkauf des Datenschutzes betrieben,
wirklich unbegründet ist. Wer die bisherige Realität und
das angestrebte Abkommen nüchtern betrachtet, der
wird feststellen müssen: Erstens. Die USA sind und bleiben einer unserer wichtigsten internationalen Verbündeten. Das gilt auch und gerade im Kampf gegen den internationalen Terrorismus.
({1})
Wer hier auf den Informationsaustausch mit den USA
verzichten will, verschließt die Augen vor der Realität.
Ich erinnere daran, dass der entscheidende Hinweis im
Sauerland-Fall gerade von amerikanischer Seite kam.
({2})
Zweitens. Der Datenschutz ist ein Problem bei jeder Art
von internationaler Zusammenarbeit. Wer ein Datum an
einen anderen Staat übermittelt, muss sich darüber im
Klaren sein, dass dort nicht mehr die eigene, sondern die
dortige Rechtsordnung gilt. Im Bereich des Datenschutzes gibt es dabei natürlich erhebliche Abweichungen.
Mit diesen Abweichungen kann man auf dreierlei Weise
umgehen.
Erstens. Man übermittelt - das ist möglicherweise die
Zielsetzung, von der Sie ausgehen - gar keine Daten an
Staaten, die über kein angemessenes Datenschutzniveau
verfügen. Diese Ansicht hätte allerdings im Extremfall
zur Konsequenz, dass der Datenschutz über das Leben
von Menschen gestellt wird, die von einem konkreten
Anschlag bedroht sind, wenn der Anschlag durch Übermittlung eines Hinweises hätte abgewendet werden können. Weil dies niemand ernsthaft wollen kann, muss im
Einzelfall eine Abwägung zwischen den Belangen des
Datenschutzes und dem Zweck der Datenübermittlung
stattfinden. Das ist Weg Nummer zwei, der der gegenwärtigen Rechtslage entspricht. Nach § 14 Abs. 7 des
Bundeskriminalamtgesetzes muss das Bundeskriminalamt bei einer Datenübermittlung an andere Staaten auch
die Angemessenheit des dortigen Datenschutzniveaus
berücksichtigen und nach den Umständen des Einzelfalls
eine Abwägung vornehmen.
Neben der jeweiligen Rechtsordnung im Empfängerstaat kommt es insbesondere auf die konkrete Art der
Daten und den Zweck der Übermittlung an. Ein Polizist,
der möglicherweise binnen Minuten oder wenigen StunParl. Staatssekretär Dr. Christoph Bergner
den entscheiden muss, ob er einen Hinweis an einen
Drittstaat geben kann, hat jedoch kaum Zeit, ausführlich
die Rechtsordnung des Empfängerstaates zu prüfen und
diese in Relation zum Übermittlungszweck zu setzen.
Deshalb ist die dritte Lösung, mit den weltweit unterschiedlichen Datenschutzniveaus umzugehen, offenkundig die beste. Sie besteht darin, durch ein Abkommen
mit dem Empfängerstaat selbst ein angemessenes Datenschutzniveau für die im Abkommen vorgesehene Übermittlung zu schaffen. Diesen Weg wollen wir nun mit
den USA bei der polizeilichen Zusammenarbeit beschreiten.
Das Abkommen flankiert die Befugnisse zum Datenaustausch mit einer Reihe von Datenschutzbestimmungen, die im Vergleich zur bisherigen Rechtslage ein
deutlich besseres Datenschutzniveau schaffen. Ich
denke, das werden wir noch würdigen, wenn wir in die
Ratifikation des Vertrages einsteigen. Dies gilt insbesondere für den automatisierten Austausch im sogenannten
Hit-/No-Hit-Verfahren. Dies bedeutet, dass jeweils nur
Fundstellendatensätze und nicht die eigentlichen Personendaten abgerufen werden können. Wenn ein Treffer
erzielt wird und eine Seite weiß, dass die andere über
Erkenntnisse zur gleichen DNA oder zum gleichen Fingerabdruck verfügt, muss sie ein Ersuchen um Übermittlung der eigentlichen Personendaten stellen. Diese Ermittlung erfolgt nach den bereits bestehenden
allgemeinen Regeln. Das heißt, wir haben dann ein
Rechtshilfeverfahren, wie wir es kennen. Dieses Verfahren, das der Prümer Vertrag vorsieht, wurde vom
Datenschutzbeauftragten als datenschutzfreundlich gelobt, weil im ersten Schritt keine Personendaten abgerufen werden, sondern lediglich Fundstellen zu DNA- und
Fingerabdruckdaten.
Nun verkenne ich nicht, dass man sich an der einen
oder anderen Stelle - darüber werden wir bei der Vertragsratifikation noch zu befinden haben - aus datenschutzrechtlicher Sicht noch mehr gewünscht hätte. Die
Bundesregierung hatte sich insbesondere im Rahmen der
Verhandlungen massiv für die Schaffung unmittelbarer
subjektiver Rechte der Betroffenen eingesetzt, sodass
sich deutsche Bürger wegen Verletzung einer Datenschutzbestimmung direkt an ein US-amerikanisches Gericht hätten wenden können. Die USA hatten dies jedoch
unter Hinweis auf ihr innerstaatliches Recht strikt abgelehnt; denn der sogenannte Privacy Act in den USA gibt
bisher nur US-Bürgern unmittelbare subjektive Rechte.
Der in dem Abkommen, Frau Piltz, gefundene Kompromiss kann sich jedoch aus unserer Sicht sehen lassen;
denn mit dem Abkommen werden nun völkerrechtliche
Ansprüche der Vertragsparteien auf Auskunft, Berechtigung, Sperrung oder Löschung geschaffen.
({3})
Die jeweiligen Vertragsparteien, also Deutschland und
die USA, vermitteln diese Ansprüche nach dem jeweiligen innerstaatlichen Recht ihren Bürgern, Herr Kollege
Wieland. Nach innerstaatlichem Recht bestehende subjektive Rechte des Betroffenen auf Auskunft, Berichtigung, Sperrung oder Löschung können also vermittelt
durch die jeweilige Vertragspartei wahrgenommen werden. Diese vermittelte Wahrnehmung bedeutet im Ergebnis keine Schwächung der Rechtsposition der Betroffenen. Zugegebenermaßen wird das Verfahren für die
Betroffenen möglicherweise etwas komplizierter. Andererseits wird dem Anspruch durch die Geltendmachung
seitens der Vertragspartei ein höheres Gewicht verliehen.
Meine Damen und Herren, wenn wir die einzelnen
Punkte durchgehen, können wir feststellen, dass wir
überall zu sehr tragfähigen Ergebnissen gekommen sind.
Wer meint, wie es im FDP-Antrag zum Ausdruck
kommt, es könne durch Neuverhandlungen zu besseren
Ergebnissen kommen, der sollte sich nicht täuschen. Gerade dort, wo sich die Kritik am lautesten entfacht hat
- Frau Kollegin Piltz, ich bin schon auf Art. 12 und die
Übermittlung sogenannter besonders sensibler Daten
eingegangen -, zeigt sich häufig auch ihre Irrationalität.
Auslöser hierfür war eine sinnentstellende Presseberichterstattung, die auch bei Ihrer Rede, Frau Piltz, durchdrang,
({4})
und zwar über den Charakter der Regelung als Schutzvorschrift, die ins Gegenteil verkehrt wurde; denn - ich
sage es noch einmal - Art. 12 schafft eben gerade nicht
die Verpflichtung oder erst die Möglichkeit zur Übermittlung sensibler Daten, sondern er dient ihrem besonderen Schutz. Was hier von vielen Seiten als Ausverkauf
des Datenschutzes beklagt wurde, ist genau das Gegenteil.
Herr Kollege, Sie müssten bitte zum Ende kommen.
Ja. - Vergleichbare Sonderregelungen gehören zum
klassischen Repertoire internationaler Datenschutzbestimmungen.
Meine Damen und Herren, wir befinden uns, wie gesagt, noch immer im Vorfeld der vermutlich noch in diesem Jahr beginnenden gesetzlichen Ratifikation des Vertrages, und wir werden dann über alle Einzelheiten
sprechen können. Aus Sicht der Bundesregierung sollten
beide Anträge, die versuchen, im Vorfeld Stimmungen
gegen den Vertragsinhalt zu machen, zurückgewiesen
werden.
Danke schön.
({0})
Der Kollege Jan Korte hat jetzt das Wort für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Staatssekretär Bergner, wir würden gerne Ihre Bemühungen in den Verhandlungen um Datenschutz honorieren und Sie dafür loben, aber wir haben dasselbe Problem wie bei dem Abkommen über Fluggastdaten. Wie
Sie sich erinnern, haben wir auch darüber diskutiert. Sie
haben in diesem Zusammenhang im Innenausschuss mitgeteilt, dass Sie grundsätzlich über laufende Verhandlungen mit ihren Partnerinnen und Partnern in den USA
keine Auskunft geben. Deswegen können wir überhaupt
nicht nachvollziehen, wie Ihre Bemühungen gewesen
sind. Wir können nicht nachvollziehen, an welcher Stelle
die US-Administration sagt: Das ist mit uns überhaupt
nicht zu machen. - Das würden wir aber gerne wissen,
um Sie unterstützen zu können. Wenn Sie uns das aber
nicht rechtzeitig berichten, können wir Sie nicht unterstützen, und das ist das Problem. Die Anträge der FDP
und der Grünen sind sehr sinnvoll, weil wir gerade in
dieser Woche viele schlechte Erfahrungen gemacht haben, wie es um den Datenschutz bestellt ist. Deswegen
ist es wichtig, sozusagen präventiv für die Bürgerrechte
zu wirken. Deswegen unterstützen wir ausdrücklich
diese Anträge.
Ich will kurz zusammenfassen, welche die Hauptkritikpunkte auch der Linken sind. Wir teilen ausdrücklich
die Kritik, die in den Anträgen formuliert ist. Ein Punkt
steht im Zusammenhang mit der Rendition-Praxis. Da es
keine praktische, nachvollziehbare Definition von Terrorismus gibt - auch nicht in diesem Abkommen -, ist der
Willkür Tür und Tor geöffnet. Das ist das Hauptproblem.
Zur Speicherdauer in den USA - 99 Jahre - ist schon etwas gesagt worden. Wenn wir darüber diskutieren, dass
diese Daten - das ist in den USA anders als in der Bundesrepublik - zum Beispiel an die CIA, die NSA, das
FBI und was weiß ich, welche Geheimdienste und Halbgeheimdienste es inzwischen dort gibt, weitergegeben
werden, dann würde mich interessieren, wie Sie in diesen Verhandlungen darauf hingewirkt haben, dass diese
Daten nicht für eine Praxis genutzt werden, die wir nicht
mit rechtsstaatlichen Grundsätzen vereinbaren können,
die aber in den USA seit 2001 gang und gäbe ist.
({0})
Ich hoffe, dass der Kollege Gunkel heute wieder so
trefflich die Vorlage kritisiert, wie er das beim letzten
Mal gemacht hat. Darüber würde ich mich sehr freuen.
Ich glaube aber, das passiert nicht, weil die Federführung auch bei der Bundesministerin Zypries gelegen hat.
Dazu muss man sagen: Es ist nicht nur Herr Schäuble,
der Ärger kriegen muss, sondern in diesem Fall auch
Frau Zypries. Eines verstehe ich bei der SPD nicht; ich
kann es nur wiederholen: Sie erklären auf Ihrem Hamburger Parteitag, dass die SPD wieder die Bürgerrechtspartei in diesem Land sein soll. Beim BKA-Gesetz haben Sie laut angekündigt, dass Sie da nicht mitmachen
werden und dass die Onlinedurchsuchung nicht stattfinden werde. Spätestens nächste Woche fallen Sie um und
werden alles mitmachen. Im Zweifel sind Sie schon umgefallen.
Ich kann gar nicht verstehen - schließlich wollen Sie
sich hier wieder als Bürgerrechtspartei profilieren; zumindest bei uns sind Parteitagsbeschlüsse sehr viel wert;
wir halten uns immer daran; ich dachte immer, das sei
bei Ihnen auch so -, wie man das hier verteidigen kann.
Ich hoffe, das passiert nicht.
Wir lehnen das ab. Wir fordern, die Ratifizierung zu
stoppen, neu zu verhandeln und vor allem den Bundestag in diesen Prozess einzubinden, damit wir mit unseren
sachlich orientierten Hinweisen eine Hilfestellung geben
können.
Danke.
({1})
Für die SPD-Fraktion spricht der Kollege Wolfgang
Gunkel.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Verehrter Kollege Korte, ich muss natürlich zuerst einmal auf
das eingehen, was Sie hier kurz angesprochen haben.
Die Situation hier ist ein klein wenig anders als zuletzt
beim Fluggastdatenabkommen mit den USA. Der wesentliche Unterschied besteht darin, dass man in dieses
Abkommen einen Paragrafen eingefügt hat - den bereits erwähnten Art. 12 -, durch den dafür Sorge getragen wird - von der Opposition wird dies anders interpretiert -, dass zum Schutze der Menschen verhindert
werden soll, dass diese Daten ohne konkreten Anlass
weitergegeben werden.
({0})
- Das ist beim Fluggastdatenabkommen mit den USA
aber durchaus möglich. Deswegen habe ich es damals
kritisiert. Hier ist das nicht der Fall, und daher kritisiere
ich das heute nicht.
Was die Onlinedurchsuchungen angeht, brauchen wir
gar nicht umzufallen.
({1})
Offensichtlich haben Sie übersehen, dass das Bundesverfassungsgericht dazu ein Urteil gefällt hat. Das Bundesverfassungsgericht hat ausgeführt, dass Onlinedurchsuchungen grundsätzlich möglich sind, allerdings unter
sehr schwierigen Bedingungen.
({2})
- Nein, es sagt keiner, dass man es machen muss.
({3})
Man kann aber auch etwas tun, was man nicht unbedingt
lassen will. Daher ist es unredlich, zu sagen, wir fielen in
irgendeiner Weise um. Wir werden mit den Kollegen der
CDU/CSU darüber noch ausführlich diskutieren. Das
Kabinett hat einen entsprechenden Entwurf verabschiedet. Seien Sie mit diesen Äußerungen also bitte schön
ein bisschen vorsichtig! Ich bemühe mich schon, das
Ganze auch kritisch zu betrachten. Was Recht ist, muss
allerdings auch Recht bleiben. Dieser Entwurf unterscheidet sich ganz wesentlich von dem, was uns bisher
vorgelegt worden ist.
Nun zu den einzelnen Punkten. Die Anträge der Grünen und der FDP befassen sich mit dem besagten Abkommen zwischen Deutschland und den Vereinigten
Staaten von Amerika vom 11. März dieses Jahres. Das
Abkommen soll die Zusammenarbeit bei der Verhinderung und der Bekämpfung schwerwiegender Kriminalität vertiefen, insbesondere der terroristischen Gefahr.
Konkret geht es um Datenaustausch. Geregelt wird in
diesem Vertrag, dass Fingerabdrücke und DNA-Daten
automatisiert in den Datenbänken beider Länder abgeglichen und dass personenbezogene Daten zu sogenannten
terroristischen Gefährdern im Wege der Rechtshilfe
übermittelt werden können.
Es ist schon mehrmals gesagt worden, dass dieses Abkommen an den Vertrag von Prüm angeglichen worden
ist. Dieser Vertrag ist ein Abkommen zwischen den EUStaaten. Es galt bisher zwischen sieben Staaten. Es ist
unter deutscher Ratspräsidentschaft in den Rechtsrahmen der EU überführt worden und ist damit verbindlich
für alle anderen EU-Mitglieder. Richtig ist - Frau Piltz,
das stimmt -, dass es noch nicht alle EU-Mitglieder umgesetzt, das heißt ratifiziert haben. Aber es dauert eben
alles seine Zeit. Man hat auch bei uns nicht alles sofort
umgesetzt.
Glauben Sie mir, dass auch ich über das Zustandekommen dieses Vertrages etwas überrascht war;
({4})
schließlich waren von deutscher Seite ausschließlich das
Bundesinnenministerium und das Bundesjustizministerium beteiligt, das Parlament leider nicht. Daran habe ich
Kritik zu üben. Man hätte uns vielleicht etwas eher einbinden sollen.
({5})
Die Chance, uns besser einzubeziehen, besteht noch.
Wir können darüber im Innenausschuss noch diskutieren, bevor der Gesetzentwurf im Bundestag verabschiedet wird. Aufgrund Ihres Antrags streiten wir auch heute
darüber, ob es sinnvoll ist, bestimmte Regelungen zu ändern. Es ist ja noch nie ein Gesetzentwurf so verabschiedet worden, wie er eingebracht worden ist.
({6})
- Ja, Struck’sches Gesetz. Danke für die Hilfestellung,
Herr Kollege. - Das ist im Rahmen der demokratischen
Gepflogenheiten doch alles ganz normal. Also besteht
kein Grund, daran Kritik zu üben.
Grundsätzlich bin ich davon überzeugt, dass dieses
Abkommen notwendig ist. Angesichts der steigenden
terroristischen Gefahren, die wir ohne Zweifel zu verzeichnen haben, muss man eine gute Zusammenarbeit
mit den Behörden der Vereinigten Staaten pflegen.
({7})
Wir können nicht so tun, als wenn die USA das Land des
Bösen oder Ähnliches wären. Die Hinweise, die aus den
USA kamen, haben zumindest wesentlich dazu beigetragen, die Anschläge der Sauerland-Gruppe gegen den
amerikanischen Luftwaffenstützpunkt Ramstein sowie
gegen amerikanische und usbekische Konsulareinrichtungen im Herbst vergangenen Jahres zu verhindern.
({8})
Dennoch ist an dieser Stelle die Frage zu stellen, ob
man eine ausgewogene Balance zwischen Sicherheit und
Freiheit geschaffen hat. Wie Sie wissen, sollte man aus
meiner Sicht immer zugunsten der Freiheit entscheiden,
wenn es denn geht.
({9})
Die personenbezogenen Daten, um die es hier geht,
unterscheiden sich vom Fluggastdatenabkommen, weil
in den USA ohne Anlass gesammelt wird. In Deutschland wird aber nur aus einem bestimmten Anlass gesammelt. Qualitativ gesehen ist das ein Unterschied. In
Art. 10 handelt es sich um personenbezogene Daten wie
den Namen, das Geburtsdatum und Ähnliches. Daran
kann ich nichts Verwerfliches erkennen.
Interessant wird es, wenn zusätzliche Daten übermittelt werden. Der Staatssekretär hatte die Richtlinien, die
dafür gelten, bereits genannt: das Verfassungsschutzgesetz und das BKA-Gesetz. An dieser Stelle kann ich nur
sagen: Hier wird ganz konkret darauf abgestellt, dass die
Personen dem terroristischen Umfeld zugerechnet werden, zu den sogenannten Gefährdern zählen oder andere
Ermittlungen ausgelöst haben. Der Grundsatz, der da besteht, ist, dass diese Daten nur in solchen Fällen überhaupt übermittelt werden können.
Die politische Weltanschauung, die Mitgliedschaft in
einer Gewerkschaft oder Auskünfte über Gesundheit und
Sexualleben, die in Art. 12 beschrieben werden, können
nur unter bestimmten Voraussetzungen herausgegeben
werden.
({10})
- Ich habe sie gerade genannt. Wenn es sich um Gefährder handelt oder wenn sich Personen in einem Ausbildungslager befinden. Das sind alles Personen, die mehr
oder weniger in die staatlichen Maßnahmen einbezogen
sind.
({11})
- Ich sagte gerade, dass diese Daten nur übermittelt werden, wenn sie relevant sind und für die Ermittlungen von
Bedeutung sind. Es liegt auch auf der Hand, dass dies
überwiegend nicht der Fall ist.
Zur berühmten Gewerkschaftszugehörigkeit habe ich
ein Beispiel:
({12})
Wenn jemand, der des Terrorismus verdächtigt ist, zufällig Gewerkschaftsmitglied ist, ist es nicht zwingend,
dass Letzteres übermittelt wird. Denn dazu muss ein relevanter Anlass bestehen. Lassen Sie die Kirche doch im
Dorf!
({13})
Diese Vorschrift kommt nur in den seltensten Fällen zur
Anwendung.
({14})
Wenn dieses Gewerkschaftsmitglied einer konspirativen Gruppe angehört, die einen Anschlag vorbereitet,
dann wäre zum Beispiel zu prüfen, ob man das übermittelt. Dies wäre der Fall, wenn die Schlussfolgerung gezogen werden könnte, dass die Gewerkschaftsgruppe die
konspirative Gruppe ist; aber auch das ist höchst unwahrscheinlich. Ich glaube nicht, dass dies so bedeutend
ist, dass man hier ein Konstrukt ablehnt, welches insgesamt der Terrorismusbekämpfung dient.
Die Bedenken hinsichtlich des Datenschutzniveaus
kennen wir. Die amerikanischen Verhältnisse haben wir
schon beim Fluggastdatenabkommen erlebt. Die amerikanischen Bestimmungen sind natürlich nicht wie die
deutschen Bestimmungen, das ist ganz klar. Sie haben
das benannt, Frau Kollegin Piltz: Es handelt sich um
Aufbewahrungsfristen, um Übermittlungsfristen oder
Übermittlungsmöglichkeiten. Es ist sicherlich zu kritisieren, dass das nicht ausreichend geregelt ist. Vielleicht
besteht die Möglichkeit, da noch etwas nachzubessern.
Die Kritik hält sich deshalb vonseiten unserer Fraktion in engen Grenzen. Nach den schwierigen Verhandlungen - mit den Amerikanern ist es sicherlich nicht
ganz so einfach zu realisieren - ist ein Werk vorgelegt
worden,
({15})
das zwar noch zu diskutieren ist, das aber für die Kriminalitätsbekämpfung erst einmal hilfreich ist.
Aus den Gründen, die ich genannt habe, kommen wir
zu der Auffassung, dass wir die Anträge zunächst zurückweisen. Wir setzen darauf, dass wir das Abkommen
im Gesetzgebungsverfahren, wenn es in den Innenausschuss kommt, noch einmal ausführlich behandeln können und die eine oder andere Änderung oder Verbesserung vornehmen können.
In diesem Sinne danke ich für die Aufmerksamkeit.
({16})
Wolfgang Wieland spricht jetzt für das Bündnis 90/
Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Heute
hätte ich mir fast gewünscht, dass der Kollege Gehb zu
diesem Thema spricht. Gestern hat er über Mammografie gesprochen. Ich hätte es mir gewünscht, weil er immer versucht, uns die rechtliche Einordnung von sexuellen Dingen zu präsentieren.
({0})
Ob es passt oder nicht: Er versucht es immer. Die Frage,
was nun Sexualdaten mit der Abwehr terroristischer Gefahr zu tun haben, hat hier noch niemand erklären können; auch der Kollege Gunkel nicht.
({1})
Es wird immer gesagt, dass es sich um eine Schutzvorschrift handelt. Damals in der Fragestunde hat Herr
Bergner zu den Fragen, wer die Daten sammelt und in
welcher Datei sie zu finden sind, nichts sagen können.
Wenn dieser Art. 12 wirklich eine Schutzvorschrift wäre,
müsste er wie folgt lauten:
Personenbezogene Daten, aus denen die Rasse oder
ethnische Herkunft, politische Anschauungen, religiöse oder sonstige Überzeugungen oder die Mitgliedschaft in Gewerkschaften hervorgeht oder die
die Gesundheit oder das Sexualleben betreffen, dürfen nicht übermittelt werden.
Das wäre eine klare Schutzvorschrift.
({2})
Stattdessen wird hier gesagt: nur wenn die Daten besonders relevant sind. Was soll denn das? Werden denn
sonst irrelevante Daten übermittelt? Natürlich sollen nur
relevante Daten übermittelt werden, und irgendwelchen
Amtsleuten ist es vorbehalten, sexuelle Orientierung,
Gewerkschaftszugehörigkeit oder sonst etwas an die
USA zu übermitteln. Ihr Gewerkschaftsvorsitzender Michael Sommer liegt da richtig, das GdP-Mitglied Wolfgang Gunkel liegt da leider völlig falsch.
({3})
Die allererste Frage, die sich einem stellt, lautet doch:
Warum macht das die Bundesrepublik im Alleingang?
Wie hat man sich den Mund zerrissen, als die Tschechen
ein ähnliches Separatabkommen zum Visumverfahren
Ende Februar abgeschlossen haben! Da hieß es: Warum
ein Alleingang? Warum nicht im Konzert mit den anderen EU-Staaten? Nun geht man hin, schließt mit den
USA ein Abkommen und hat noch die Chuzpe, an dessen Anfang zu schreiben, die anderen EU-Mitglieder
sollten sich dieses zum Vorbild nehmen und auch diesen
Weg gehen. Gehen Sie einmal nach Brüssel und reden
Sie mit den Mitgliedern der Kommission darüber, wie
das dort aufgefasst wurde: erstens als Affront und zweitens als Schwächung der europäischen Position gegenüber den USA. Das ganze Ding gehört in den Papierkorb
und darf keinesfalls vom Bundestag ratifiziert werden.
({4})
Eine weitere Frage muss man stellen, auch wenn die
USA natürlich unsere Verbündeten sind: Gab es da nicht
gewisse Probleme in den letzten Jahren? Warum tagt
denn hier seit Jahr und Tag ein Untersuchungsausschuss?
({5})
- Sie wussten es einmal besser, Kollege Benneter, und
haben da auch einmal sehr kritische Fragen gestellt, zum
Beispiel, ob es denn sein kann, dass aufgrund von Datenweitergabe durch deutsche Behörden ein Herr Zammar
in Marokko gekidnappt oder anderswie gefangen genommen wird und dann in Damaskus im Gefängnis landet, wo er heute noch sitzt.
({6})
Die Frage ist also, ob wir gegenüber den USA deswegen nicht besondere einschränkende Sicherheitsstandards brauchen. Aber statt hieraus endlich einmal die
Konsequenzen zu ziehen, machen Sie das Gegenteil. Sie
machen alle Aktenschränke und alle Dateien zugänglich
und schlagen ein Abkommen vor, das die Daten hemmungslos fließen lässt.
({7})
Das ist doch geradezu unglaublich. Ein gegenteiliges
Verhalten wäre gegenüber den USA nötig.
({8})
- Wir werden die Beziehungen zu den USA nicht abbrechen.
Es ist sogar richtig, sich über solche Dinge zu unterhalten, aber bitte im europäischen Rahmen und nicht im
Alleingang. Von den Rendition-Fällen waren ja auch andere europäische Staaten betroffen. Das Europaparlament, auch Abgeordnete Ihrer Fraktion, hat sich damit
deutlich kritischer - ich erinnere an Herrn KreisslDörfler und andere - befasst, als Sie es hier tun. Es ist
doch wohl nicht normal, dass Menschen in Europa gekidnappt und irgendwohin verbracht werden, die Europäer dann aber einen Keil zwischen sich treiben lassen
und einzeln entsprechende Abkommen mit den USA
abschließen. Die USA gehen hier nach dem Motto:
„Divide et impera!“ vor, und wir sagen: Bitte, bitte, liebe
USA, hier habt ihr unsere Daten. Wir stellen all das, was
wir wissen, zur Verfügung.
({9})
So kann es nun wirklich nicht laufen.
Dieses Abkommen - ich wiederhole mich - gehört in
den Reißwolf.
({10})
Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/9094 und 16/9360 an die in der Ta-
gesordnung vorgesehenen Ausschüsse vorgeschlagen. -
Damit sind Sie einverstanden. Dann ist das so beschlos-
sen.
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 12 a und b
auf:
a) Beratung der Unterrichtung durch den Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit
Tätigkeitsbericht 2005 und 2006 des Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit - 21. Tätigkeitsbericht - Drucksache 16/4950 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
b) Beratung der Unterrichtung durch den Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit
Tätigkeitsbericht zur Informationsfreiheit für
die Jahre 2006 und 2007
- Drucksache 16/8500 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für. Gesundheit
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
Es ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattieren. Dazu höre ich keinen Widerspruch.
Dann eröffne ich die Aussprache und erteile das Wort
der Kollegin Beatrix Philipp für die CDU/CSU-Fraktion.
({2})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Ich gebe zu, es ist nach der gestrigen Debatte
über die Bespitzelungsaffäre bei der Deutschen Telekom
schwierig, heute über bereits abgeschlossene Vorgänge
aus den Jahren 2005 und 2006 zu sprechen. Hinzu
kommt, dass die Vorgänge bei der Telekom von solch
ungeheurer krimineller Energie zeugen, dass eigentlich
für jeden klar ist: Auch der Gesetzgeber ist nicht in der
Lage, jeden Missbrauch und jede Form kriminellen Verhaltens auszuschalten und auszuschließen.
Die FAZ hat daher am 3. Juni in bemerkenswerter Offenheit ausgeführt:
Auch der Bundesdatenschutzbeauftragte, der die
Gelegenheit ergreift, die Vergrößerung seiner Behörde zu fordern, könnte kriminellen Datenmissbrauch mit noch so vielen Kontrolleuren nicht verhindern.
Ich glaube, das ist wahr. Aber wir müssen versuchen,
Missbrauch so weit wie eben leistbar schwierig bis unmöglich zu machen. Wir müssen außerdem aus dem vorliegenden Bericht Konsequenzen ziehen, ohne irgendwelchen Ergebnissen aus laufenden Untersuchungen
vorgreifen zu wollen.
Ich weiß nicht, wie Sie auf den Skandal bei der Deutschen Telekom reagiert haben.
({0})
Mir schoss durch den Kopf: Es ist ungeheuerlich, dass in
diesem großen Unternehmen mit Tausenden von Mitarbeitern ein so eklatanter Verstoß so lange Zeit unbemerkt
geblieben ist. Man kann sicherlich davon ausgehen, dass
es eine Reihe von Mitwissern gegeben hat. Diese Tatsache wiederum lässt ein kleines, aber feines Kapitel aus
dem vorliegenden Bericht in einem besonderen Licht erscheinen. Ich zitiere aus dem Kapitel 3.3.1 mit dem Titel
„Whistleblowing - Richtiger Umgang mit Insidertipps“:
Gründe für die Einrichtung solcher Hotlines sind
- neben der Umsetzung gesetzlicher Vorgaben auch eigene Unternehmensinteressen an der Aufdeckung rechtswidrigen Handelns und ethisch vorwerfbarer Verhaltensweisen.
Der Düsseldorfer Kreis - jetzt wird es spannend - befasst sich mit genau dieser Problematik in einem
Arbeitskreis, weil eben auch dieses interne Verfahren
- man höre und staune - „datenschutzkonform“ gestaltet
werden muss. Es ist fast skurril, dass auch das Meldeverfahren - im Falle der Telekom betrifft dies den kriminellen Umgang mit Daten - dem Datenschutz unterliegt
und dementsprechend datenschutzkonform sein muss.
Das wirft natürlich schon die Frage auf, ob wir uns generell mit unserer Datenschutzgesetzgebung auf dem richtigen Weg befinden.
({1})
- Herr Tauss, auch das Audit hätte nicht geholfen. Der
Datenschutzbeauftragte hat gestern im Ausschuss erklärt, er sei regelmäßig bei der Telekom gewesen und
habe regelmäßig überprüft. Sie wissen genauso gut wie
ich, dass nur ein Insider die Schwächen und Fehler seines Unternehmens kennt. Es war immer ein Argument
von uns gegen das Audit, dass nämlich derjenige, der
von außen kommt, sich in einer erheblich schwächeren
Position befindet als der Insider. Das Audit hätte nicht
geholfen, weil es nur darauf abzielt, sicherzustellen, dass
Gesetze eingehalten werden. Dies kann man aber auf anderen Wegen erreichen.
Auch das will ich ehrlicherweise sagen: Ein Unternehmen wie die Telekom könnte mit dieser Angelegenheit auf freiwilliger Basis locker umgehen. Wir haben in
unserem gemeinsamen Entschließungsantrag gesagt,
dass ein Audit freiwillig und unbürokratisch möglich ist.
Wenn wir dies aber flächendeckend und für alle verbindlich machen würden, würden wir den Mittelstand in
Deutschland in erheblichem Maße belasten. Das würde
zu weiteren Standortnachteilen führen.
({2})
Ich will zu der Überlegung zurückkommen, ob wir
uns, was die immer engmaschiger werdende Kontrolle
im Rahmen des Datenschutzes angeht, auf dem richtigen
Weg befinden und ob man nicht einmal in einem Teilbereich einen anderen Weg beschreiten sollte.
Wir hatten einmal gemeinsam eine etwas breiter angelegte Anhörung durchgeführt. Damals hat der Sachverständige Professor Dr. Abel einen Gedanken entwickelt, den ich nach wie vor für richtig und für
ausgesprochen interessant halte. Er hat eine Konkretisierung des Wettbewerbsrechts dahin gehend gefordert,
dass datenschutzrechtliche Verstöße und auch das Unterlassen datenschutzrechtlich erforderlicher Maßnahmen
als unlauterer Vorsprung durch Rechtsbruch anzusehen
und mit einem wettbewerbsrechtlichen Instrumentarium
zu ahnden sei. Dass eine solche Bestimmung nicht zuletzt im Interesse eines redlichen Geschäftsverkehrs liegen würde, würde natürlich ein Grund dafür sein. Ein
weiterer Grund wäre, dass dies den bürokratischen Aufwand im Zusammenhang mit dem Datenschutz erheblich
reduzieren würde.
Meine Damen und Herren, wir haben vor etwas mehr
als einem Jahr hier die gemeinsame Entschließung zum
20. Tätigkeitsbericht debattiert. Wir sind auch jetzt auf
dem Wege, zu einer gemeinsamen Entschließung zu
kommen. Ich finde das bemerkenswert und bin ein bisschen stolz darauf, dass es bei aller Unterschiedlichkeit in
der Auffassung vom Datenschutz doch auch Gemeinsames gibt und man der staunenden Bevölkerung eine gemeinsame Auffassung präsentieren kann.
({3})
Dazu gehört sicherlich, dass wir über den für Missbrauchsfälle gültigen Bußgeldrahmen nachdenken und
zu einem Ergebnis kommen werden.
Gestern hat der Bundesdatenschutzbeauftragte im
Ausschuss sehr klar zum Ausdruck gebracht, dass nicht
einmal die Bußgeldvorschriften im Bundesdatenschutzgesetz und im Telekommunikationsgesetz einheitlich
sind. Das ist nicht in Ordnung. Die Beträge, die wir im
geltenden Recht vorgesehen haben, wirken, wie man bei
der Telekom sieht, in keinem Falle wirklich abschreckend. Darüber muss also sicherlich diskutiert werden.
Wir werden im Hinblick auf die Einführung eines Audits - ich muss nach wie vor sagen, dass die Telekom ein
Beweis dafür ist, dass das Audit, anders als es immer
verkauft wird, kein Allheilmittel ist - dabei bleiben, es,
wie wir es letztens beschlossen haben, freiwillig und unbürokratisch auf den Weg zu bringen.
Schließlich: Es gibt eine Menge von Beispielen im
Tätigkeitsbericht, den wir im Ausschuss noch intensiv
besprechen werden. Beim Fluggastdatenabkommen mit
den USA haben wir die Hausaufgaben gemacht. Es wird
um das Thema RFID gehen. Dort wird es wieder zu einer Abwägung zwischen dem Nutzen und den Chancen,
die mit neuen Technologien verbunden sind, und datenschutzrechtlichen Bedenken kommen.
Sicherlich wird wieder die Onlinedurchsuchung auf
der Tagesordnung stehen; dazu ist eben schon ausführlich gesprochen worden. Dabei müsste es ein gemeinsames Anliegen sein, der Bevölkerung zu sagen, was mit
Onlinedurchsuchungen wirklich verbunden ist. Ich habe
heute nur so im Vorbeigehen gesehen, dass es eine Umfrage von Forsa gibt. Es ist ja abenteuerlich, was die
Leute glauben, was mit Onlinedurchsuchungen verbunden ist oder verbunden sein kann. Das heißt, dass sie
über Details, über die Bedingungen und den engen Rahmen, in dem eine Onlinedurchsuchung überhaupt stattfinden kann, nicht informiert sind. Es müsste eigentlich
ein Anliegen aller hier in diesem Hause sein, das deutlich zu machen.
Man soll ja nicht mit Kanonen auf Spatzen schießen;
aber es ist doch toll, dass sich Innenminister
Dr. Schäuble dafür verteidigen muss, dass er sich dafür
einsetzt, dass die Durchführung von Onlinedurchsuchungen in Form eines Gesetzes geregelt werden soll,
während sein Vorgänger, Innenminister Schily, der Auffassung war, dass eine Verordnung ausreiche. Sie alle
wissen, dass wir uns über Wochen und Monate bemüht
haben, Staatssekretär Diwell im Innenausschuss zu befragen, wie das eigentlich abgegangen ist. Es ist uns
nicht gelungen.
({4})
Ich will es noch einmal sagen: Während Innenminister
Dr. Schäuble sagt: „Wir brauchen dafür ein Gesetz“, hat
Innenminister Schily die Auffassung vertreten, dass eine
Verordnung ohne Beteiligung des Parlamentes für die
Durchführung von Onlinedurchsuchungen ausreiche. So
lange ist das noch nicht her, als dass uns das nicht noch
gut im Gedächtnis wäre.
Es ist noch viel zu sagen; aber die Redezeit ist schnell
um. Ich möchte noch darauf hinweisen, dass ich es für
sehr erfreulich halte, dass der Bundesdatenschutzbeauftragte, der auch für das Informationsfreiheitsgesetz zuständig ist, der Auffassung ist, dass den meisten Informationsbegehren der Bürgerinnen und Bürger
stattgegeben wurde. Wie gesagt, es ist noch viel zu diesem Bericht zu sagen. Wir werden das im Ausschuss tun
und sind natürlich deswegen mit der Überweisung einverstanden.
Vielen Dank.
({5})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Gisela Piltz für die
FDP-Fraktion.
({0})
Verehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und
Kollegen! Herr Schaar hat gleich zwei Tätigkeitsberichte
vorgelegt: einen zum Datenschutz und einen zur Informationsfreiheit. Beide Berichte lassen aus unserer Sicht
deutlich erkennen, von welch grundlegender Bedeutung
die kritische Begleitung dieser Themen durch eine unabhängige Stelle ist.
Ich möchte mich ausdrücklich bei Herrn Schaar sowie
bei seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für die geleistete Arbeit bedanken. Wer regelmäßig im Innenausschuss zu Gast war, durfte im Zusammenhang mit den
sogenannten Postdaten miterleben: Erst der Bericht des
Bundesdatenschutzbeauftragten war fundiert genug, um
uns darüber in Kenntnis zu setzen, was da überhaupt
passiert ist. Leider war auch nach dreifachem Nachfragen bei den entsprechenden Ministerialbeamten keine
Klarheit zu bekommen. Der Behörde gebührt unser herzlicher Dank.
({0})
In einer modernen Informationsgesellschaft ist ein Informationsfreiheitsgesetz unerlässlich. Seit Inkrafttreten
dieses Gesetzes im Januar 2006 müssen Bundesbehörden und sonstige öffentliche Stellen des Bundes Bürgern
Akteneinsicht bzw. Auskünfte gewähren. Ich bitte diejenigen, die hier zuschauen - vielleicht haben Sie davon
noch nicht gehört; die Bundesregierung macht es nicht
öffentlich, weil es ihr nicht so ganz in den Kram passt -:
Machen Sie davon Gebrauch! Fragen Sie nach, wenn Sie
etwas interessiert! Amtsgeheimnisse bzw. beschränkte
Aktenöffentlichkeit gehören nicht zu einer modernen
Verwaltung.
Die geäußerten Befürchtungen haben sich nicht bewahrheitet. Weder ist eine Verwaltung untergegangen
noch gab es eine Flut von Anträgen; all das ist nicht eingetreten. Dennoch zeigt sich nach knapp zweieinhalb
Jahren, dass das Gesetz verbesserungsbedürftig ist. Dazu
gehört aus unserer Sicht auch, dafür zu sorgen, dass sich
die Behörden bei Auslegungsfragen nicht scheuen, die
Beratungshilfe des Informationsbeauftragten in Anspruch zu nehmen. Wir brauchen eine Fragekultur in den
Behörden. Das vermeidet Ärger, geht im Zweifel schnel17600
ler und spart unnötige Bürokratie. Das ist eine gute Sache.
({1})
Im Tätigkeitsbericht zum Datenschutz kommt deutlich zum Ausdruck, dass die Bundesregierung vor allem
eine Antwort auf die technischen Entwicklungen hat:
möglichst umfassende Überwachung, von der vorwiegend Unverdächtige betroffen sind. Wir haben gerade
schon über einen anderen Aspekt gesprochen; hinzu
kommen die Vorratsdatenspeicherung, die Fluggastdatenübermittlung, biometrische Daten in Pässen und bald
auch in Personalausweisen oder der vorgelegte Entwurf
eines BKA-Gesetzes, das die Möglichkeit zu heimlichen
Onlinedurchsuchungen schafft.
({2})
Frau Kollegin Philipp, das ist der Unterschied: Die Onlinedurchsuchungen dürfen heimlich sein.
({3})
Das hat es in unserem Rechtsstaat bisher nicht gegeben:
heimliche Durchsuchungen. Das ist eine ganz neue Qualität. Das können Sie nicht einfach so abtun.
({4})
Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung
wird immer weiter beschnitten. Die Bundesregierung ist
auf dem Weg, den gläsernen Bürger zu schaffen. Aus
unserer Sicht muss sich der Bundestag dringend mit den
rasanten Entwicklungen bei den Technologien auseinandersetzen und ihnen neue Regelungen im Bundesdatenschutzgesetz entgegensetzen. Da muss die Bundesregierung endlich aus ihrem Dornröschenschlaf erwachen.
Auch in der Bundesverwaltung müssen Vorkehrungen
getroffen werden - das wird im Bericht deutlich -, um
vertrauliche Daten ausreichend zu sichern. Das war leider nicht immer der Fall. Nach einer Kleinen Anfrage
unserer Fraktion hat sich herausgestellt, dass Hunderte
von Festplatten und Computern der Bundesverwaltung
einfach verloren gegangen sind. Ich weiß nicht, was Sie
machen, wenn Ihnen ein Computer verloren geht. Es
verschwinden also nicht nur in Großbritannien, sondern
auch hier Daten. Ich möchte gar nicht wissen, wer diese
Daten in die Hände bekommen hat. Ich finde, darum
muss man sich kümmern. Es ist nicht so, als könne so etwas in Deutschland nicht passieren; es passiert jeden
Tag. Ich erwarte von der Bundesregierung, dass sie etwas dagegen tut.
Ich begrüße ausdrücklich die umfangreichen Ausführungen im Tätigkeitsbericht zum Sozialdatenschutz. Gerade in diesem Bereich wissen die Betroffenen oft nicht,
an wen sie sich wenden sollen. Der Bericht macht deutlich, dass der Datenschutzbeauftragte häufig einen rettenden Anker für die Betroffenen bietet. Wir sollten dafür sorgen, dass kein Rettungsanker nötig ist.
Nicht nur der Staat, sondern auch Private sammeln
Daten; Kollegin Philipp hat es eben schon gesagt. Durch
Einführung eines Datenschutzaudits würde auf jeden
Fall ein Teil des verloren gegangenen Vertrauens der
Bürgerinnen und Bürger zurückgewonnen werden. Es ist
wirklich ein Armutszeugnis, dass es auch die Große Koalition seit fast drei Jahren nicht schafft, es einzuführen.
({5})
Schleswig-Holstein hat es uns vorgemacht: Dort ist das
Datenschutzaudit Realität; es funktioniert.
Ich teile nicht die Auffassung von Herrn Schaar und
des Düsseldorfer Kreises, dass Rechtsanwälte unbegrenzt auskunftspflichtig gegenüber Datenschutzkontrollinstanzen sein sollen; denn aus meiner Sicht kann es
nicht sein, dass Datenschutzkontrollinstanzen mehr
Rechte haben als Staatsanwalt und Gerichte bei strafrechtlichen Ermittlungen.
Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. Datenschutz ist in unserer Informationsgesellschaft wichtiger
denn je. Wir fordern das Parlament auf, endlich eine Renaissance des Datenschutzes einzuleiten. Die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes hätten das verdient.
({6})
Nächster Redner ist der Kollege Jörg Tauss für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Highlight und
Renaissance - ich freue mich über die Vorschusslorbeeren.
({0})
- Frau Piltz, Sie haben bisher noch nichts Nettes gesagt.
Sie haben aber noch die Möglichkeit dazu.
Wir diskutieren heute über zwei Berichte des Datenschutzbeauftragten zum Datenschutz und zur Informationsfreiheit. Auf Letzteres wird mein Kollege Bürsch
eingehen. An dieser Stelle will ich nur sagen: Es besteht
Handlungsbedarf. Eine ganze Reihe Abgeordneter nutzt
dieses Gesetz. Auch ich gehöre dazu. Es ist interessant,
dass wir nicht nur ein Gesetz gemacht haben, sondern
mittlerweile auch für die Literatur dazu sorgen. Von einem 17 000-seitigen Vertrag zum Thema Maut bekam
ich vom Ministerium zwischenzeitlich vier Seiten. Wen
das interessiert, dem gebe ich gern Akteneinsicht. Hier
sind die vier Blätter.
({1})
Es gibt noch einiges zu tun, damit wir zu einer bürgerfreundlicheren, offeneren und transparenteren Verwaltung kommen, was im Sinn des Gesetzgebers war.
Das war das letzte Gesetz, das wir unter Rot-Grün,
übrigens mit Zustimmung der FDP - Dank dafür -,
durch Bundestag und Bundesrat gebracht haben.
({2})
- Gelegentlich kann man euch schon loben. Es ist ja
nicht alles schlecht, was ihr macht.
({3})
Eure Steuerkonzepte sind nicht so toll, aber in bürgerrechtlicher Hinsicht können wir zueinanderfinden, auch
wenn ihr an der einen oder anderen Stelle übertreibt.
Der Bericht des Bundesdatenschutzbeauftragten ist
ein guter Bericht. Er zeigt, dass der Datenschutz in
Deutschland einen hohen Stellenwert hat. Allerdings ist
es bedauerlich - so empfinden das vor allen Dingen wir,
die wir uns in diesem Bereich seit vielen Jahren engagieren -, dass es eines Skandals wie desjenigen bei der Telekom bedurfte, damit dieses Thema auch öffentlich
Konjunktur bekommt. Ich hätte mir diese Öffentlichkeit
früher gewünscht. Ich erinnere mich an Begegnungen
mit dem einen oder anderen Journalisten; ich vermeide
es, jetzt Namen zu nennen. Ich möchte aber darauf hinweisen, dass mir ein Journalist, dem ich mit Datenschutz
kam, gesagt hat: Tauss, das hört sich sehr interessant an,
aber hast du denn kein Thema, das sexy ist? Im journalistischen Sinn galt Datenschutz nicht als sexy. Ich bedauere sehr, dass auch die Journalisten dazu beigetragen
haben, dass dieses Thema nicht öffentlich behandelt
wurde. Es gab kein Bewusstsein für die Wichtigkeit dieses Themas. Wenige Journalisten waren die Ausnahme;
ich nenne Herrn Prantl. Das Thema hat wieder Konjunktur. Für uns ist das eine Chance, etwas zu verbessern.
Liebe Frau Kollegin Philipp, ich höre nicht auf, Sie
mit sanfter Stimme zu umwerben.
({4})
Ihre Position zum Thema Datenschutzaudit sollten Sie
einmal überprüfen. Es geht hier nicht um Pflicht. Wir
sollten uns einfach einmal zusammensetzen; das wäre
von Vorteil.
({5})
Das Bundesinnenministerium hat in vorbildlicher Weise
angefangen, an einem Gesetzentwurf zu arbeiten. Er
liegt im Moment in der Schublade. Herr Staatssekretär
Bergner, wir sind damit noch nicht so ganz zufrieden.
Die Koalition sollte in den nächsten Tagen zusammenkommen und den einen oder anderen Vorbehalt überwinden.
({6})
- Vielen Dank, an dieser Stelle kann ruhig geklatscht
werden, damit Frau Philipp nicht glaubt, Datenschutz sei
nur ein Hobby von mir.
Beim Datenschutzauditgesetz geht es in der Tat nicht
darum, Bürokratie zu schaffen, sondern darum, ein modernes Instrumentarium zu erreichen. Wir wissen, dass
wir bei einem in die Jahre gekommenen Bundesdatenschutzgesetz mit der technischen Entwicklung nicht
Schritt halten können. Die Entwicklung wird immer
schneller sein, als wir Gesetze machen können. Es geht
nicht darum, ein Gesetz für diejenigen zu machen, die
sich - das ist ja immer selbstverständlich - an die Gesetze halten. Wir wollen vielmehr denjenigen, die in besonderer Art und Weise deutlich machen, dass sie mit
den sensiblen Daten, die ihnen übereignet worden sind,
verantwortungsbewusst umgehen, denjenigen, die sich
mit diesem Thema intensiv beschäftigen, sich Datenschutzkonzepte überlegen und das im Wettbewerb nutzen wollen, einen Wettbewerbsvorteil gegenüber unseriösen Dienstleistern gewähren. Ich glaube, das wäre der
beste Weg in Richtung eines besseren Datenschutzes.
Das ist das Beste, was wir erreichen können. Da sind wir
übrigens mit dem Bundesdatenschutzbeauftragten einer
Meinung.
Liebe Frau Präsidentin, die Lampe am Rednerpult
leuchtet bereits. Meine Redezeit ist also beendet. Lassen
Sie mich aber noch leidenschaftlich in den Raum rufen:
Wir können hier mehr für Datenschutz tun!
Frau Piltz, wenn aus den Ländern, in denen die FDP
mitregiert, die Ideen, die Sie hier vorgetragen haben, etwas häufiger oder überhaupt einmal über den Bundesrat
vorgelegt würden, dann hätten wir eine zusätzliche
Chance für einen besseren Datenschutz in Deutschland.
({7})
An dieser Stelle hoffe ich ausnahmsweise auf die FDP,
an anderen Stellen nicht ganz so.
({8})
Sie können bestimmt irgendwann einmal koalieren.
Schönen Dank.
({9})
Für die Fraktion Die Linke spricht nun der Kollege
Jan Korte.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Kollege Tauss, wenn Sie etwas Gutes für den Datenschutz in diesem Lande machen wollen, dann rate ich
dringend davon ab, sich in der Koalition zusammenzusetzen. Denn wenn Sie zusammensaßen, ist bisher immer nur Schlechtes für den Datenschutz herausgekommen. Das kann man nach knapp drei Jahren schon
beurteilen. Deswegen setzen Sie sich besser nicht zusammen.
Interessant an dieser Debatte, die wir jetzt haben, ist,
dass es nach den Fällen Lidl, Telekom usw. einen öffentlichen Druck gibt, wie es ihn noch nie gegeben hat. Ich
glaube, dass wir hier uns alle darin einig sind, dass wir
über die kriminelle Energie empört sind. So weit, so gut.
Das Trennende beginnt an dem Punkt, dass ich
glaube, dass Ihre Empörung ein Stück weit geheuchelt
ist.
({0})
Denn das politische Kernproblem ist, dass Ihre Maßnahmen und Ihre Gesetze, insbesondere die Vorratsdatenspeicherung, die Sie in den letzten drei Jahren verabschiedet haben, durch diese Skandale in Misskredit
geraten sind und gesellschaftlich nicht mehr getragen
werden.
({1})
Das ist der Kern des Problems. Deswegen finde ich es
notwendig, dass wir eine politische Debatte darüber führen, was für eine Sicherheitsarchitektur wir wollen.
({2})
Was für ein Niveau von Datenschutz wollen wir? Das ist
eine politische Entscheidung.
Der Bundesbeauftragte, Peter Schaar, hat ein paar
Vorschläge dazu gemacht. Interessant ist - soweit ich die
Berichte gelesen habe -, dass allein in den letzten drei
Jahren der Bundesbeauftragte für den Datenschutz dreimal aufgefordert hat, endlich ein Arbeitnehmerdatenschutzgesetz vorzulegen. Nichts ist geschehen, obwohl
er dies in den letzten drei Jahren in jedem Bericht gefordert hat.
Deswegen glaube ich, dass es in der nächsten Sitzungswoche an der Zeit wäre - Sie haben das BKA-Gesetz, Stichwort „Onlinedurchsuchung“, auf die Tagesordnung gesetzt -, noch einmal in sich zu gehen und
- das sage ich insbesondere an die SPD gewandt - zu
überlegen,
({3})
ob man das so weiter mitmachen und sich von Minister
Schäuble und der Law-and-Order-Fraktion treiben lassen will. Sie müssen entscheiden, was Sie wollen.
({4})
Solche Überlegungen fände ich äußerst interessant. Mit
der Union kann ich ja umgehen, weil ich weiß, was
kommt. Bei jedem Gesetz, das vorgelegt wird, weiß ich,
was darin steht: Es ist nicht gut und bedeutet eine Verschärfung der inneren Sicherheit. Damit kann ich umgehen. Bei der SPD weiß ich es leider nie.
({5})
Das ist ja das Problem. Sie sagen erst, Sie würden etwas
nicht mitmachen, machen es dann aber trotzdem. Dadurch wird es schwierig.
Der Kern der Auseinandersetzung ist - das ist in der
Tat eine Auseinandersetzung mit den Konservativen das Gesellschaftsbild, das man hat. Hat man ein Bild von
einer offenen Gesellschaft, von mündigen, aufrecht marschierenden Bürgerinnen und Bürgern, die sich nichts
sagen lassen?
({6})
Ist das das Bild, das man will? Oder - das ist das Problem der Konservativen in den letzten 200 Jahren - ist
Ihnen die offene Gesellschaft suspekt?
({7})
Misstrauen allseits - das ist das konservative Bild der
letzten 200 Jahre.
({8})
Darüber sollten wir streiten.
Denn eines ist klar: Wenn man die offene Gesellschaft, den aufrechten Gang, Aufmüpfigkeit und Ungehorsam will - das wollen zumindest wir -, dann muss
man die Privatsphäre sichern und schützen, damit die
Menschen einen Rückzugsraum haben, in dem sie sich
zum Beispiel überlegen können, wie sie in der nächsten
Woche in der Gesellschaft aufmüpfig agieren. Das ist Ihnen suspekt. Wir hingegen finden das total klasse. Deswegen trennen sich unsere Gesellschaftsbilder.
({9})
Die Kollegin Silke Stokar von Neuforn hat ihre Rede
zu Protokoll gegeben.1)
Damit hat als letzter Redner in dieser Debatte das
Wort der Kollege Dr. Michael Bürsch für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Werte Freunde und Förderer des Datenschutzes! Ich
nehme mit großer Genugtuung zur Kenntnis, dass aus
den vier oder fünf, die sich vor zehn Jahren für Datenschutz interessiert haben, jetzt schon fast vierzig geworden sind.
({0})
Das ist ein gutes Zeichen; das ist ein hoffnungsvolles
Zeichen für den Datenschutz. Herr Kollege, man darf die
Hoffnung nie aufgeben.
Die Schweden haben das Informationsfreiheitsgesetz
schon vor 200 Jahren gehabt. Die CDU hat es jetzt. Insofern ist die CDU in der Frage der offenen Gesellschaft
bei uns. Das entnehme ich zumindest der heutigen Debatte und dem Bericht des Informationsfreiheitsbeauftragten.
({1})
1) Anlage 6
Wir haben das Informationsfreiheitsgesetz. Ich mache
dazu drei Bemerkungen:
Erstens. Es ist gut, dass wir das Gesetz haben und
dass alle in diesem Haus dieses Gesetz auch befürworten.
({2})
Wir haben damit ein großes Stück des Wegs aufgeholt.
Wir waren eines der drei letzten Länder von allen industrialisierten Ländern, die ein solches Gesetz noch nicht
hatten. Wir haben es seit dem 1. Januar 2006. Damit ist
der uralte Grundsatz der Amtsverschwiegenheit, der vorher lange Zeit galt, durch das Prinzip der Transparenz
und auch durch das Prinzip der offenen Gesellschaft ersetzt worden, Herr Kollege Korte. Insofern ist das der
Anschluss an die moderne Zeit des 21. Jahrhunderts, den
wir damit geschafft haben.
({3})
Zweitens. Das Gesetz hat sich im Prinzip bewährt.
Das ist nicht meine eigene Einschätzung. Ich kann mich
hier auf eine neutrale Instanz berufen. Das ist die Bewertung des Beauftragten für die Informationsfreiheit, der in
Person gleichzeitig der Datenschutzbeauftragte ist. Er
hat in seiner ersten Bilanz deutlich geschrieben: Im Prinzip hat sich das Gesetz bewährt. Die Befürchtungen, die
damals von vielen Seiten - unter anderem von der Wirtschaft - geäußert wurden, weil sie sich dem vielleicht
noch nicht öffnen konnten, haben sich nicht bewahrheitet. Die deutsche Verwaltung wurde nicht lahmgelegt;
das war eine der Befürchtungen. Eine weitere Befürchtung war, jetzt rolle eine Riesenwelle von Anträgen auf
Information auf die Verwaltung zu und sie könne nichts
anderes mehr tun, außer diese Anträge zu bearbeiten.
Nein, die Welle war überschaubar. Im Jahr 2006 gab es
rund 2 300 Anträge. Im Jahr 2007 waren es nur noch
1 250 Anträge. An dieser Stelle muss man vielleicht der
Frage nachgehen, woran dies lag. War dies nur eine sogenannte Delle? Wird im Jahr 2008 wieder eine Aufstockung erfolgen? Ich hoffe nicht, dass es bedeutet, dass
im Jahr 2006 schon der Höhepunkt der Nachfrage nach
Informationen erreicht wurde.
Es wurde ebenfalls die Befürchtung geäußert, die Gebühren könnten abschreckend wirken. Das ist nicht passiert. Zu Beginn gab es ein bis zwei Fälle, in denen deutlich zu hohe Gebühren erhoben worden sind. In diese
Fälle hat sich der Beauftragte für Informationsfreiheit
eingeschaltet. Das ist inzwischen behoben. Somit ist das
eingetreten, was wir 2005 in das Gesetz geschrieben haben: Die Gebühren dürfen in keinem Fall abschreckend
wirken.
Drittens. Die Umstellung in den Köpfen mag noch
Zeit - vielleicht noch einige Jahre - brauchen. Das kann
man aus dem Bericht des Informationsfreiheitsbeauftragten ebenfalls herauslesen. Für manche in der Verwaltung ist es schon eine Umstellung, dass jeder Bürger
diese Informationen verlangen kann. Hier müssen wir
Zeit geben. Weiterhin ist vielleicht ein wenig häufig von
den Ausnahmeregelungen Gebrauch gemacht worden.
Es wurde darauf verwiesen, dass es sich bei den nachgefragten Informationen um ein Betriebsgeheimnis oder
um ein Geschäftsgeheimnis handelte. Bei der Anfrage
des Kollegen Tauss ist wahrscheinlich darauf Rücksicht
genommen worden, dass ein Abgeordneter vielleicht gerade die Zeit hat, vier Seiten zu lesen, dass er für das Lesen von 17 000 Seiten während seiner aufreibenden Arbeit von 70 Stunden in der Woche wahrlich keine Zeit
hat.
({4})
Wir werden hier nachhaken. Lieber Jörg, vielleicht bekommst du jetzt jede Woche vier Seiten. Ich lese sie
dann gern mit.
Die Ausnahmeregelungen sollen wirklich nur als
Ausnahme gehandhabt werden. Meine Überzeugung ist:
Informationsfreiheit ist ein Bürgerrecht. Das hat etwas
damit zu tun, dass wir eine offene Gesellschaft sind und
dass wir Bürgerengagement fördern wollen. Wer eine
Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern will, der muss
ihnen das Recht auf Information geben. Wer sich beteiligen will, der muss auch wissen, worum es geht. Insofern
ist die Informationsfreiheit die andere Seite der Medaille.
Ich glaube, wir sind auf einem guten Weg. Wir werden in drei Jahren eine Evaluation vornehmen. Ich hoffe,
dann sagen zu können: Das ist - dank der FDP - ein gutes Gesetz, und die CDU ist mit im Boot. Das ist hervorragend, so soll es weitergehen.
Danke schön.
({5})
Ich schließe nun die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/4950 und 16/8500 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Paul
Schäfer ({0}), Monika Knoche, Hüseyin-Kenan
Aydin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Abzug der Bundeswehr aus Südafghanistan
- Drucksache 16/9418 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion Die Linke fünf Minuten erhalten soll. - Ich
sehe und höre dazu keinen Widerspruch. Dann werden
wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Paul Schäfer für die Fraktion Die
Linke das Wort.
({1})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist
kein alltäglicher Vorgang, dass sich der Wehrbeauftragte,
wie vor einigen Wochen geschehen, an den Verteidigungsausschuss wendet und von großer Unsicherheit bei
Soldaten des Fernmeldebataillons in Wesel berichtet, die
sich fragen, ob ihr Einsatz in Kandahar, in Südafghanistan, rechtlich in Ordnung und mit dem Bundestagsmandat in Einklang zu bringen ist.
Der Punkt ist: Diese Soldaten sind weit über ein Jahr
ununterbrochen im Süden Afghanistans im Einsatz, und
die Zweifel, ob noch von einem befristeten Einsatz gesprochen werden kann, sind mehr als berechtigt. Vor allem: Jetzt soll das Mandat wieder verlängert werden,
von Juni bis August. Auf meine Nachfrage wurde geantwortet: In NATO-Kreisen geht man natürlich davon aus,
dass es weitere Verlängerungen geben wird. Im Mandat
des Deutschen Bundestages heißt es aber unmissverständlich, dass deutsche Streitkräfte außerhalb des Verantwortungsbereichs im Norden und außerhalb Kabuls
nur für zeitlich und im Umfang begrenzte Unterstützungsmaßnahmen eingesetzt werden dürfen. Daran ist
zu erinnern.
Das Bundesministerium der Verteidigung hat dem
Wehrbeauftragten geantwortet, dass deutsche Soldaten
zwar seit dem 16. Oktober 2006 für solche Unterstützungsmaßnahmen im Einsatz seien, dass das aber ein
zeitlich befristeter und im Umfang begrenzter Einsatz
sei. Außerdem könne die Kriegsführungsfähigkeit der
NATO im Operationsschwerpunkt Südafghanistan nur
durch den deutschen Beitrag sichergestellt werden.
({0})
Was lernen wir daraus? Erstens. Es gibt Bundeswehrsoldaten, die darauf bedacht sind, dass ihr Einsatz im
Rahmen des Rechts und des Bundestagsauftrags erfolgt
und die hinterfragen, ob dies tatsächlich in jedem Fall so
ist. Das ist gut.
({1})
- Ja, das ist gut so.
Das Zweite. Wir haben einen Wehrbeauftragten, der
dieses Unbehagen aufgreift und kritische Fragen an die
Bundesregierung weiterleitet.
({2})
Auch das ist gut so.
Drittens. Aus der Antwort der Bundesregierung ergibt
sich, dass man wieder einmal - ich sage es vorsichtig im Grauzonenbereich operiert. Denn die geschilderte
Praxis ist meines Erachtens eindeutig nicht mit dem
Mandat des Bundestags vereinbar. Natürlich kann man
das Mandat immer wieder verlängern, sodass es jedesmal auf zwei oder drei Monate befristet ist, in der
Summe aber für eine Dauer von zwei Jahren gilt. Das ist
allerdings ein Rosstäuschertrick, den wir Ihnen nicht
durchgehen lassen.
({3})
Der vierte Punkt - die betreffenden Soldaten werden
das nicht so gern hören; es muss aber gesagt werden -:
Die Bundeswehr leistet offensichtlich einen wichtigen
Beitrag zur Kriegsführungsfähigkeit der NATO im Süden Afghanistans. Es gilt: kein moderner Krieg ohne
Fernmeldeverbindungen. Auch in diesem Fall ist das so.
Es gibt dort Fernmelder, denn ohne entsprechende Informationstechnik läuft nichts.
Unser Antrag zielt auf zwei Dinge ab. Erstens. Das
Parlament entscheidet über die Entsendung der Bundeswehr ins Ausland. Es legt den Auftrag und die Einsatzbedingungen genau fest. Die Praxis der dauerhaften
Stationierung von Soldaten in Kandahar steht im Widerspruch zu diesem Mandat. Hier geht es um die Wahrung
der Rechte des Parlaments.
({4})
Deshalb wollen wir, dass das Mandat für diesen Fernmeldeeinsatz nicht verlängert wird und dass die deutschen Soldaten unverzüglich zurückgezogen werden.
Zum Zweiten - das ist der Hintergrund -: Die verschiedenen Hilfsleistungen der Bundeswehr im Kampfgebiet Afghanistan, vermehrte Transall-Hilfsflüge, mehr
Soldaten in den Führungsstäben und die dauerhaft stationierten Fernmelder in den entsprechenden NATO-Bataillonen bezeugen die zunehmende Verstrickung der Bundeswehr in die Kampfhandlungen im Süden des Landes.
Deutschland ist, um das zugespitzt zu formulieren, auch
Teil des schmutzigen Krieges in Afghanistan, der nach
wie vor viele, zu viele zivile Opfer fordert. Nicht zuletzt
aus diesem Grund kann die NATO mit dem Militäreinsatz nicht gewinnen. Der Abzug dieser Soldaten ist für
uns Linke Teil eins des Ausstiegs Deutschlands aus dem
Krieg in Afghanistan, zu dem wir die Bundesregierung
auffordern.
Wenn die Bundesregierung jetzt andere Signale sendet - der Herr Minister spricht von zehn Jahren oder länger, die der Einsatz noch dauern könnte -, müssen Sie
wissen: Sie stärken damit den wachsenden Teil der Afghaninnen und Afghanen, der fürchtet, dass sich die
NATO-Truppen dauerhaft in Afghanistan festsetzen. Sie
stärken damit auch diejenigen, die daraus den Schluss
ziehen, auf die andere Seite überzuwechseln.
Ich finde, das ist keine verantwortliche Politik. Es ist
doch genau das Problem, dass ein wachsender Teil der
Afghanen den Eindruck gewinnt, es mit einer Besatzungsmacht zu tun zu haben.
({5})
- Man kann das ignorieren. Wir finden, man sollte das
nicht ignorieren, sondern die richtige Schlussfolgerung
daraus ziehen. Sie kann nur darin bestehen, den Abzug
der Bundeswehr einzuleiten
({6})
Paul Schäfer ({7})
und stattdessen die wirtschaftliche und politische Aufbauhilfe, diplomatische Bemühungen um Frieden zu
stärken. Das ist unsere Position.
Vielen Dank.
({8})
Nächster Redner ist für die CDU/CSU-Fraktion der
Kollege Ernst-Reinhard Beck.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Lieber Kollege Schäfer, der vorliegende Antrag der Fraktion der Linken ist für mich Teil einer RausKampagne: raus aus Afghanistan, raus aus Kosovo, raus
aus der NATO.
({0})
Damit sind Sie allerdings wieder bei einer OhnemichelKampagne; die 50er- und 80er-Jahre der alten Bundesrepublik lassen grüßen. Eine seriöse Auseinandersetzung
mit den drängenden Problemen ist dies nicht, von Lösungen ganz zu schweigen.
Vordergründig - Sie haben das gerade ausgeführt geht es Ihnen heute um Einsätze in Südafghanistan.
Südafghanistan ist eine Region mit hoher Bedrohungslage, eine Region, wo man als Otto Normalverbraucher
gemeinhin keine deutschen Soldaten vermutet; dies ist
sicherlich richtig. In Wirklichkeit geht es Ihnen aber darum, die gesamte ISAF-Mission infrage zu stellen.
({1})
- Frau Knoche, wenn Sie sagen: „Nein, überhaupt
nicht“, nehme ich das mit großer Freude zur Kenntnis.
Doch bisher schien der Tenor Ihrer Forderungen in diese
Richtung zu gehen. Sie versuchen nämlich den Eindruck
zu erwecken, die Bundeswehr bereite systematisch ein
Standbein in Südafghanistan vor, sie stationiere heimlich, am Parlament und an der Öffentlichkeit vorbei, größere Truppenteile im Süden und sie verstoße last, but not
least - wenn dies zuträfe, wäre das in der Tat ein gravierender Verstoß - gegen das von uns im Deutschen Bundestag beschlossene Mandat. Diese Unterstellungen sind
allesamt falsch.
({2})
Ich sage auch, warum. Vielleicht müssen wir auf ein
paar Dinge einmal näher eingehen. Wir haben als drittgrößter Truppensteller den Einsatz auf den Norden und
auf die Hauptstadt Kabul beschränkt. Diesen Ansatz
halte ich nach wie vor für richtig und für erfolgversprechend. Spekulationen über ein Engagement im Süden
halte ich für falsch und für abträglich.
({3})
Die Bundeswehr wird im Süden - übrigens auch im
Westen und im Osten - nur dann eingesetzt, wenn es um
Unterstützungsmaßnahmen geht, und auch das nur, sofern diese zur Erfüllung des Gesamtauftrages der ISAF
unabweisbar notwendig und im Umfang regional begrenzt sind. Dies ist die Vorgabe.
In diesem Zusammenhang sind die deutschen Anteile
an NATO-Verbänden - das Fernmeldebataillon, um das
es geht, gehört zu einem NATO-Verband - im Mandat
explizit erwähnt. Wir haben es nicht mit einem nationalen Einsatz zu tun, wir haben es mit einem multinationalen Einsatz im Bündnis zu tun. Ich kann mir nicht vorstellen, da Soldaten abzuziehen und zu sagen: Die
gehören da nicht hin. Zum Funktionieren eines Einsatzes
mit 40 Nationen sind der Verbund und die Multinationalität unbedingt und zwingend erforderlich.
Dies ist bei den erwähnten deutschen Soldaten auf
dem Kandahar Airfield durchaus der Fall. Die Soldaten
sind aus Bündnissolidarität im Süden stationiert. Lieber
Kollege Schäfer, sie sind nicht dauerhaft, sondern lediglich zeitweilig dort. Darum wird der Einsatz ja auch immer wieder von Vierteljahr zu Vierteljahr erneuert.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Schäfer?
Ich komme gleich zu der Zwischenfrage.
Ich habe natürlich auch mit dem Wehrbeauftragten
gesprochen. Herr Schäfer, möglicherweise beantworte
ich damit auch gleich Ihre noch nicht gestellte Frage.
Auf Anfrage des Wehrbeauftragten, der die von Ihnen
skizzierten Sorgen und Nöte von Soldaten vorgetragen
hat, erklärte das Verteidigungsministerium am 25. Februar 2008 - ich zitiere -:
Die Erweiterung des ISAF-Operationsgebietes im
Jahr 2006 auf ganz Afghanistan und die damit verbundene Aufstellung von fünf Regionalkommandos
erforderte die Ausweitung der Informations- und
Kommunikationstechnik, um so die Führungsfähigkeit von ISAF umfassend zu sichern. Der Aufbau
der dafür erforderlichen Einrichtungen sowie der
Betrieb der Systeme wurde durch die NATO an einen zivilen Dienstleister vergeben. Trotz großer
Anstrengungen kommt es bis dato vor allem im
Raum Kandahar und weiter im Süden Afghanistans
zu erheblichen Verzögerungen. Das ist der Grund,
weshalb insbesondere im Feldlager Kandahar
Airfield die notwendige Führungsunterstützung
durch militärisches Personal sichergestellt wird.
Dieses militärische Engagement wird bis zur vollständigen Auftragserfüllung durch den zivilen
Dienstleister aufrechterhalten.
Ich meine, wenn man das nicht im zivilen Bereich
schafft und man Führungsfähigkeit braucht, dann ist die
einzige Möglichkeit die, dass dies Soldaten tun. Wer
sonst als die Fernmelder sollte das denn tun?
Herr Kollege Schäfer, ich gebe Ihnen gerne die Möglichkeit, eine Zwischenfrage zu stellen.
Herr Kollege, bitte.
Werter Kollege Beck, dann möchte ich Ihnen die Gelegenheit geben, einen Punkt klarzustellen. Sie haben ja
gesagt, diese Fernmelder seien Bestandteil eines NATOBataillons, also eines integrierten Verbandes, und man
könne sie jetzt nicht beliebig herauslösen. Heißt das Ihrer Meinung nach, dass die Restriktionen, die der Bundestag in seinem Mandat festgeschrieben hat - zum Beispiel hinsichtlich der zeitlichen Befristung -, in diesem
Falle nicht gelten und dass man sich einfach darüber hinwegsetzen kann?
Diese einfache Frage möchte ich beantwortet haben.
({0})
Ich habe gerade versucht, klarzustellen, dass im
Wechsel und für kurze Zeiträume immer wieder andere
Soldaten mit Aufgaben betraut sind. Sie müssen auch
Bagram noch hinzurechnen. Zum Teil sind unsere Soldaten ein Vierteljahr lang für diesen Bereich verantwortlich. Dann sind es mehr, nämlich die von Ihnen genannten 38. Wenn ich richtig informiert bin, sind es im
Augenblick nur 31. Wenn innerhalb des NATO-Bataillons andere Nationen in dieser Funktion unterstützt werden, dann sind es wesentlich weniger, nämlich nur vier
oder fünf.
({0})
Ich möchte zum Schluss noch ein paar Anmerkungen
machen. Ich habe festgestellt, dass die Fernmeldesoldaten für diese Aufgabe selbstverständlich ordentlich vorbereitet wurden. Sie unterliegen natürlich - darüber sind
wir uns auch im Klaren - einer erhöhten Gefährdung.
Wie ich meine, hat die militärische Führung darauf geachtet, die Chancen und Risiken dieses Einsatzes vor jeder Entsendung gewissenhaft abzuwägen. Ihr Vorwurf
würde dann zutreffen, wenn man die Kontingente im
Grunde genommen ohne eine entsprechende Begrenzung jeweils durcheinanderlaufen ließe.
Weil wir uns hinsichtlich der Fürsorge unserer Soldaten sicherlich einig sind: Diese turnusmäßigen Wechsel
sind für die Soldaten, die besonders belastet sind - Sie
haben darauf hingewiesen, und der Wehrbeauftragte hat
nicht umsonst danach gefragt -, natürlich auch im Hinblick auf die Planbarkeit außerordentlich wichtig. Man
muss sagen, wann ungefähr wieder ein solcher Bedarf
für diese Spezialisten besteht.
Neben der gerade beendeten Tätigkeit waren deutsche
Soldaten immer wieder lageabhängig und zeitlich ebenfalls befristet zur Verstärkung ihrer NATO-Kameraden
in Afghanistan im Einsatz. Sie haben schon gesagt
- man muss auch gar kein Geheimnis daraus machen -,
aus welchen Bereichen sie kommen. Das sind in der Installation, im Netzwerk, in der Nutzerbetreuung, in der
Wartung, in der Reparatur und in der Versorgung eingesetzte Leute. Wenn ich das so sagen darf: Das ist das
Parlakom des ISAF-Kommandos im Süden Afghanistans. Es sind Spezialisten, die man auch hier nicht an jeder Straßenecke findet.
Ich wiederhole: Alle bislang beantragten und nach
ministerieller Prüfung im jeweiligen Einzelfall durch
den Bundesminister der Verteidigung genehmigten Einsätze deutscher Führungsunterstützungssoldaten in Südafghanistan waren stets zeitlich befristet und stellten im
Umfang begrenzte sowie für den Gesamterfolg der ISAF
unabweisbare Unterstützungsmaßnahmen zum Erhalt
der Führungsfähigkeit dar. Wenn Sie in Ihrem Antrag
schreiben, dass Sie etwas gegen die Führungsfähigkeit
hätten, lehnen Sie damit im Grunde die Durchführbarkeit militärischer Operationen völlig ab. Der soeben zu
Ende gegangene Einsatz erfüllte die genannten Kriterien, er war mandatskonform und nach meiner Auffassung auch rechtlich zulässig.
Nach wie vor ist es das Ziel der NATO, das militärische Personal durch die zivile Komponente zu ersetzen.
Persönlich würde ich mich freuen, wenn entsprechend
der ursprünglichen Planung möglichst bald zivile Leistungsträger eingesetzt würden. Herr Kollege Schäfer, um
es noch einmal zu sagen: Weil die zeitliche Perspektive
vorhanden ist, ist der Einsatz grundsätzlich nicht auf
Dauer, sondern lediglich für eine Übergangszeit angelegt.
Der Einsatz der deutschen Führungsunterstützungssoldaten und ihre Tätigkeit in Südafghanistan werden im
internationalen Umfeld sehr hoch eingeschätzt. Ohne
diesen Beitrag wäre es wahrscheinlich zu erheblichen
Einschränkungen bei der Führungsfähigkeit im Bereich
des Regionalkommandos Süd gekommen.
Lassen Sie mich mit zwei Bemerkungen schließen.
Erstens. Wir stehen zu unseren Bündnisverpflichtungen.
Wir bleiben verlässliche Partner. Wir stehen auch zu unserer Verantwortung für die Menschen in Afghanistan,
die nämlich wollen, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, dass wir bleiben, weil sie wissen, was die Alternative wäre und was dann auf sie zukäme. Wer jetzt für den
Abzug unserer Soldaten plädiert, lässt unsere Verbündeten und damit auch die Menschen in Afghanistan im
Stich, und zwar mit unabsehbaren Folgen für unsere eigene Sicherheit, von den Folgen eines Scheiterns für das
Bündnis ganz zu schweigen.
Zweitens. Der ISAF-Auftrag bezieht sich auf ganz
Afghanistan. Wir werden deshalb gemeinsam Erfolg
haben - was ich hoffe und wünsche - oder gemeinsam
scheitern. Regionale Erfolge wird es hier nicht geben. Es
war übrigens kein Politiker der Großen Koalition, sondern der grüne Ex-Außenminister Joschka Fischer, der
Anfang Mai vorhersagte, die Bundeswehr werde bald
auch im gefährlichen Süden Afghanistans kämpfen müssen. Ich teile diese Einschätzung ausdrücklich nicht.
Im Übrigen lehnen wir den Antrag der Fraktion Die
Linke ab.
Herzlichen Dank.
({1})
Für die FDP-Fraktion spricht nun die Kollegin Birgit
Homburger.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Fraktion Die Linke hat wieder einmal den
Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan beantragt. Das
ist nichts Neues. Deswegen beschränke ich mich hier auf
die Tatsachen.
Die erste Tatsache ist, dass es ein Mandat gibt. In diesem ISAF-Mandat ist der Einsatz von Bundeswehrsoldaten außerhalb des Nordgebiets und Kabuls erlaubt, und
zwar in der ISAF-Region West sowie in anderen Regionen für zeitlich und im Umfang begrenzte Unterstützungsmaßnahmen, sofern diese zur Erfüllung des ISAFGesamtauftrags unabweisbar sind. So steht es, Herr Kollege Schäfer, im Mandat, und genau so wird es gemacht.
Die NATO - das hat der Kollege Beck gerade ausgeführt - hat die Firma Thales beauftragt, ein Kommunikationsnetz für ganz Afghanistan aufzubauen. Leider ist
dies bisher nicht fertiggestellt. Deswegen besteht das
Problem darin, dass die Fernmeldeverbindungen nicht
ausreichen, die aber dringend notwendig sind. Sie dienen
der Führungsunterstützung. Dabei geht es um Informationsmanagement und die Versorgung mit Informationen, aber auch um die Gewährleistung von Informationssicherheit, die zwingend erforderlich ist.
Es geht auch um die Vernetzung von Feuerleitstellen
in Kandahar und Kabul. Damit komme ich zu dem Argument, das Sie vorhin angeführt haben, Herr Kollege
Schäfer. Die Vernetzung stellt sicher, dass der Einsatz
präzise geplant werden kann. Das wiederum trägt dazu
bei, Kollateralschäden zu verhindern. Anders ausgedrückt dient dieser Einsatz dazu, die Planungen so präzise durchführen zu können, dass zivile Opfer vermieden
werden. Dieses Anliegen teilen wir alle in diesem Hause.
({0})
Im Übrigen hat nur die parlamentarische Kontrolle
dazu geführt, dass das Thema angesprochen wurde. Wir
haben uns im vergangenen Jahr in diesem Hause damit
befasst. Nicht zuletzt unsere Diskussionen haben dazu
geführt, dass dieses Thema auf NATO-Ebene aufgegriffen wurde und dass die Zahl der zivilen Opfer seitdem
drastisch zurückgegangen ist. Ich glaube, dass man diese
Bemühungen fortsetzen sollte.
({1})
Die Linke ist gegen alles. Der Antrag dient als Mittel,
das Thema in den Vordergrund zu rücken und gegen den
Einsatz Stimmung zu machen. Das ist nicht nur ungerechtfertigt, sondern auch unfair gegenüber den eingesetzten Soldaten.
({2})
Im Gegensatz zu den Linken hat die FDP mehrheitlich für den Einsatz gestimmt. Voraussetzung dafür war,
dass er im Rahmen des Mandats erfolgt. Die FDP hat
kürzlich im Zusammenhang mit dem AWACS-Einsatz
über der Türkei vor dem Bundesverfassungsgericht eine
Stärkung der Parlamentsrechte erreicht. Wir werden
auch weiter peinlich genau darauf achten, dass das Parlament nicht übergangen wird. Darum geht es nämlich in
diesem Fall.
({3})
Konkret bedeutet das, Herr Kollege Schäfer: Erstens
sind die Einsätze bekannt. Sie bekommen Informationen
über die wöchentliche Unterrichtung des Parlaments. Sie
haben im Februar eine ausführliche schriftliche Information erhalten, und wir sind mehrfach bei den Obleuten
unterrichtet worden.
({4})
Zweitens ist der Einsatz zeitlich begrenzt. Das hat
mein Vorredner eben sehr ausführlich erläutert. Ich will
noch einmal deutlich machen, dass es sich hier um zwei
NATO-Fernmeldebataillone handelt, die multinational
aufgestellt sind und in deren Rahmen auch deutsche Soldaten zum Einsatz kommen. Sie schreiben in Ihrem Antrag korrekterweise, dass die Bundeswehrsoldaten in
Kandahar fast durchgängig stationiert sind, Herr Kollege
Schäfer. Das heißt, nicht ganz durchgängig, und genau
das ist der Fall: Es ist ein zeitlich befristeter Einsatz.
Drittens ist der Umfang des Einsatzes begrenzt. Auch
das ist schon erläutert worden. Er ist für den gesamten
Auftrag unverzichtbar, da Telekommunikationssysteme
für ganz Afghanistan von zentraler Bedeutung sind. Deshalb ist es nicht richtig, dass die Bundeswehrsoldaten
stationiert sind, um Führungsunterstützungsaufgaben für
die anderen NATO-Staaten im Süden Afghanistans zu
leisten, wie Sie in Ihrem Antrag schreiben. Das ist nur
die halbe Wahrheit. Es geht um die Führungsfähigkeit in
ganz Afghanistan, also auch in der Nordregion. Insofern
liegt dieses Thema auch im Interesse der deutschen Soldaten im Norden.
({5})
Für meine Fraktion sage ich in aller Deutlichkeit: Der
vorliegende Antrag gibt uns Anlass, beim Bundesminister der Verteidigung nachzuhaken, wann die Firma
Thales endlich den ausgeschriebenen Aufgaben nachkommt, die von dieser privaten Firma übernommen wurden.
Zurzeit gibt es keine Alternative zu dieser tragfähigen
Zwischenlösung. Sie ist im Rahmen des Mandats für alle
wichtig, auch für unsere Kräfte in der Nordregion.
Die FDP-Bundestagsfraktion wird weiter darauf achten, dass alles, was in Afghanistan geschieht, im Rahmen des Mandats stattfindet und dass die Rechte des
Deutschen Bundestags gewahrt werden. Die Bundes17608
wehr ist eine Parlamentsarmee. Dafür werden wir uns
weiter einsetzen. Deshalb lehnen wir Ihren Antrag ab.
({6})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Uta Zapf für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren von der Linken, Ihre gebetsmühlenartig wiederholte Forderung „Raus mit unseren
Soldaten aus Krisengebieten!“
({0})
- stattdessen wollen Sie alles mit Diplomatie und ähnlich schönen Sachen lösen - regt mich langsam auf. Wie
wollen Sie denn die Befriedung, die Stabilität und den
Wiederaufbau einer nach 30 Jahren Krieg zerrütteten
Gesellschaft sowie den Aufbau eines funktionierenden
Staatswesens allein mit Diplomatie und Aufbauhilfe
schaffen? Es ist doch richtig, dass es in einer Post-WarConflict-Situation - wie es so schön im Neudeutschen
heißt - wie im Kosovo und in Afghanistan nicht ohne
eine militärische Absicherung geht. Sonst können wir
alle Aufbauanstrengungen schlicht und ergreifend vergessen. Das wissen Sie auch. Sie stellen Behauptungen
wider besseres Wissen auf.
({1})
Wir müssen uns natürlich um das Wie kümmern. Das
tun wir auch. Wir haben in der SPD eine Arbeitsgruppe,
die seit Oktober 2006 versucht, alle möglichen Aspekte
zu analysieren, und Verbesserungsvorschläge macht.
Eine Frage, über die wir - auch in der NATO - lang und
breit diskutiert haben, lautet, wie wir die Interventionen
sowohl auf ziviler als auch auf militärischer Seite mit
mehr Kultursensibilität angehen können. Hier haben wir
alle noch etwas zu lernen.
({2})
Ich möchte einen weiteren Punkt aufgreifen. Paul
Schäfer, deine Behauptung, dass praktisch die ganze afghanische Bevölkerung den Abzug verlange und die
Truppen als Bedrohung empfinde, ist unseriös. Ich will
ein paar Zahlen nennen. In einer breit angelegten Studie
von ARD und BBC, die du sicherlich kennst, wird genauso wie in einer noch nicht veröffentlichten neueren
Studie festgestellt: 99 Prozent begrüßen die Aktivitäten
der Entwicklungsorganisationen. 96 Prozent sind der
Meinung, dass sie vom Aufbau und von der Anwesenheit ausländischer Truppen profitieren, auch finanziell.
74 Prozent der Antwortenden sind der Meinung, dass
das Militär die lokale Bevölkerung schützt. Darüber
kann man sich nicht hinwegsetzen, weil vielleicht insgesamt 10 Prozent der Bevölkerung anderer Meinung sind.
Es gibt sicherlich eine interessengeleitete Spaltung der
afghanischen Gesellschaft.
Was bedeutete denn ein Abzug für das afghanische
Volk? Er bedeutete, es im Stich zu lassen. Wenn Sie nach
Afghanistan fahren - das hat bislang fast niemand von
Ihnen getan - und mit den Menschen dort sprechen würden, würde Ihnen bestätigt werden, dass die Afghanen
noch nicht in der Lage sind, ihre eigene Sicherheit zu garantieren. Deshalb bilden wir vermehrt aus. Die Bundeswehr hat die Ansätze für die Ausbilder und die Ausbildungsaufgaben verstärkt. Bei EUPOL findet sogar eine
Verdoppelung statt. Die Afghanistan-Konferenz in Paris
wird die militärischen wie die zivilen Maßnahmen überprüfen und genau darauf achten, was erreicht wurde und
was nicht, wer seine Aufgaben erfüllt hat und wer nicht,
was schiefgelaufen ist und welche Gründe es dafür gibt.
Nach Beantwortung dieser Fragen müssen wir unsere
Strategie notfalls überdenken.
Alle Studien, die nun wie Pilze aus dem Boden schießen, besagen, dass etwas verändert werden muss. Eine
der geforderten großen Veränderungen ist - ich glaube,
darin stimmen wir überein -, noch mehr in den Aufbau
zu stecken,
({3})
noch mehr Entwicklungshilfe zu leisten, noch mehr in
Straßenbau, Arbeitsplätze, Ausbildungsprojekte und alle
Projekte zu investieren, die begonnen wurden und nun
verstärkt werden müssen.
Nur, dann soll mir doch bitte einer erklären, wie wir
das ohne Schutz der Bevölkerung, ohne Schutz der Projekte fertigbringen sollen.
({4})
Ein letzter Punkt. Paul, du hast die zivilen Opfer angesprochen. Schau dir bitte die Statistiken an:
({5})
Es gibt mehr zivile Opfer von afghanischen Warlords,
von illegalen Akteuren und von den Taliban,
({6})
als es zivile Opfer durch militärische Angriffe gibt. Das
brauche ich jetzt nicht noch einmal auszuführen. Wir haben doch schon diskutiert, welche Strategien von den Taliban insbesondere im Süden angewendet werden; dort
nehmen sie die Zivilbevölkerung in Geiselhaft. Die Lage
wird nicht dadurch besser, dass Militär abgezogen wird
und wir noch eine Straße bauen, sondern die Situation
wird nur durch den Aufbau von Polizei und Militär besser, sodass die eigenen Sicherheitskräfte diesen Schutz
gewährleisten können. Die zivile Hilfe wird hoffentlich
noch viel länger andauern. Wir werden in den Wiederaufbau noch viel länger investieren müssen als in die militärischen Kapazitäten. Aber solange militärische Hilfe
notwendig ist, ist eure Forderung einfach absurd. Es tut
mir leid.
({7})
Nächster Redner ist der Kollege Omid Nouripour für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir beraten heute einen Antrag der Linksfraktion mit dem Titel
„Abzug der Bundeswehr aus Südafghanistan“. Ziel dieses Antrags ist es, etwas zu skandalisieren, was kein
Skandal ist. Weil wir wissen, dass Sie diesen Antrag
auch stellen, um am Wochenende bei der friedenspolitischen Konferenz in Hannover gut auszusehen,
({0})
möchte ich Ihnen die Erkenntnis zurufen, die sich Grüne
und Friedensbewegung gemeinsam erarbeitet haben:
Friedenspolitik braucht Fachkompetenz. Leider beweisen Sie diese mit Ihrem Antrag nicht.
({1})
Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie, Herr Kollege
Schäfer, sich endlich einen Ruck geben würden und einmal das Hauptproblem beim Namen nennen würden.
Wann kommt endlich der Antrag der Linksfraktion mit
dem Titel „Abzug der Taliban“? Darauf warte ich, seit
ich diesem Hause angehöre, aber dieser Antrag kommt
leider nicht.
({2})
Ich möchte zum Gegenstand Ihres Antrags zurückkommen. Wir sind der Ansicht, dass der Einsatz der
38 Fernmelder auf dem ISAF-Stützpunkt in Kandahar
durch das vom Deutschen Bundestag vergebene Mandat
durchaus gedeckt ist; denn dieser Einsatz ist eine Unterstützungsmaßnahme. Unterstützungsmaßnahmen sind Teil
des Mandats. Das schreiben Sie selbst in Ihrem Antrag.
Sie schreiben darin völlig zu Recht, dass die Bundesregierung nur dann Soldaten außerhalb der Region Kabul
und des Zuständigkeitsbereichs des Regionalkommandos Nord einsetzen dürfe, wenn - ich zitiere - „es um
eine Unterstützungsmaßnahme geht, die für die Erfüllung des ISAF-Gesamtauftrags unabweisbar ist, und
diese Maßnahme sowohl zeitlich als auch im Umfang
begrenzt ist.“ Dass die Fernmelder in Kandahar Unterstützungsaufgaben übernommen haben, schreiben Sie
drei Sätze später in Ihrem eigenen Antrag.
Dass Unterstützung zwischen den Bündnispartnern
jenseits von Kampfeinsätzen selbstverständlich sein
muss, ergibt sich einmal aus der Natur des Begriffs
„Bündnis“, zum anderen daraus, dass unsere Soldatinnen
und Soldaten im Zweifelsfall auch Unterstützung brauchen, wenn es zum Beispiel um Evakuierungsmaßnahmen geht. Also ist Ihr Antrag widersprüchlich. Ich
glaube, dass Sie das wissen.
({3})
- Doch, dazu sage ich auch etwas. Das bringt mich leider
zu der Konsequenz, zu sagen: Die Ernsthaftigkeit, die
das Thema erfordert, haben Sie leider mit Ihrem Antrag
verfehlt.
({4})
Der Umfang des Einsatzes hat sich in den letzten Jahren nicht verändert. Wenn ein Bündnispartner oder ein
anderer Akteur aus technischen Gründen nicht in der
Lage ist, eine Aufgabe zu übernehmen, und deshalb die
Bundeswehr diese Aufgabe weiter übernimmt, dann ist
das bedauerlich, aber noch lange kein Rechtsbruch. Der
Einsatz ist keineswegs entfristet. Das ist nämlich der
zentrale Punkt. Es gibt immer wieder die Frage, was
nach drei Monaten passiert. Natürlich wünschen wir uns,
dass die Bundesregierung eine andere Informationspolitik betreibt, und natürlich wollen wir mehr Transparenz
haben. Natürlich bricht sich die Bundesregierung keinen
Zacken aus der Krone, wenn das nächste Mal - das fordern und erwarten wir auch - die Fernmelder in das
Mandat hineingeschrieben werden. Das ist die transparenteste und sauberste Lösung.
Wie Sie wissen, haben auch wir Grüne viel Kritik an
der Afghanistan-Politik - „Afghanistan-Strategie“ ist in
diesem Fall vielleicht ein zu großes Wort - der Bundesregierung. Natürlich wollen wir einen Strategiewechsel.
Natürlich wollen wir auch eine zivile Offensive. Natürlich wollen wir, dass OEF und ISAF nicht mehr unsinnigerweise nebeneinander bestehen. Natürlich wollen wir,
dass die US-Regierung auch Druck aus Berlin spürt, einen Kurswechsel vorzunehmen.
Sie ersparen uns aber nicht, dass wir Ihre Position hier
kritisieren müssen. Sie wollen den sofortigen Gesamtabzug aus Afghanistan, und zwar - das ist meine Vermutung - nicht nur aus außenpolitischen Gründen. Das finden meine Fraktion und ich persönlich unverantwortlich;
denn dadurch würden die Menschen in Afghanistan im
Stich gelassen.
({5})
Da wir dieser Unverantwortlichkeit nicht beitreten wollen, lehnen wir Ihren Antrag ab.
({6})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Maik
Reichel, SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Von einigen meiner Vorredner ist schon betont
worden: Der uns vorliegende Antrag der Fraktion Die
Linke ist nahezu gleichlautend mit Anträgen, die wir
schon des Öfteren behandelt haben. Das gibt uns noch
einmal die Möglichkeit, klarzustellen, was wir in Afghanistan tun und was wir dort nicht tun. Ich denke, dazu
sollte immer genügend Zeit sein, auch wenn manche Anträge von vornherein besser durchdacht sein sollten.
Ich will auf diesen Antrag unter dem Eindruck meiner
Reise nach Afghanistan vor wenigen Tagen eingehen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, als ich
zunächst die Überschrift Ihres Antrags „Abzug der Bundeswehr aus Südafghanistan“ gelesen habe - die war zuerst bekannt -, habe ich geglaubt: Okay, die Linke hat
sich dem ISAF-Einsatz konstruktiv genähert; sie hat unsere Mission dort zumindest anerkannt. Aber weit gefehlt! Es geht wieder darum, aus Afghanistan insgesamt
abzuziehen. Auch meine Vorredner - Kollege Beck,
Kollege Nouripour und Frau Homburger - haben deutlich gemacht, unter welchen Bedingungen wir da sind,
was wir wollen und was klar sein muss, damit wir dort
weiter bleiben wollen. Meine Kollegin Uta Zapf ist darauf entsprechend eingegangen.
Frau Homburger, nicht nur die FDP, sondern wir alle
- die SPD und die anderen Fraktionen - halten viel davon, genau darauf zu achten, dass die Mandate eingehalten werden; das machen wir auch. Ich möchte das kurz
an dem Beispiel Kontingentobergröße erläutern: An diesem Punkt halten wir das Mandat ein, auch wenn es hier
und da ein bisschen quietscht, weil wir Managementprobleme haben. Auch da werden wir perspektivisch bis zur
nächsten Mandatsverlängerung sicherlich einiges tun.
Frau Homburger, was Thales anbetrifft, sind wir
ebenfalls auf Ihrer Seite. Wir müssen beobachten, wie
sich der Afghanistan-Einsatz dort entwickelt. Er ist anders als vor sechs Jahren. Wohin konkret müssen wir gehen? Wenn die nächste Mandatsverlängerung ansteht,
müssen wir über Veränderungen nachdenken. Auch das,
worüber wir heute diskutieren, wird dabei eine gewisse
Rolle spielen.
Ich möchte auf meine Reise vor wenigen Tagen zurückkommen. Daran haben insgesamt acht Kollegen teilgenommen. Vor Ort gewesen zu sein - einige hier haben
mich begleitet -, erhöht das Verständnis dessen, was dort
passiert. Zwar können Berichte und Bilder einen Eindruck vermitteln, aber wichtiger ist, dorthin zu gehen
und mit den Akteuren vor Ort auf allen Ebenen zu reden.
({0})
Lieber Kollege Schäfer, ich glaube, für viele von Ihnen wäre es nötig, einmal dorthin zu fahren - das scheinen Sie nicht zu wollen -, sich mit den Soldatinnen und
Soldaten, mit den Polizistinnen und Polizisten und auch
mit den Leuten, die dort leben, zu unterhalten, um zu erfahren, was dort passiert; denn man kommt von dort etwas verändert zurück. Man erfährt, was die Soldatinnen
und Soldaten beim Aufbau der afghanischen Armee machen. Unser hiesiges Menschenbild ist dort fehl am
Platz. Dort gilt ein ganz anderer Maßstab für das, was
Erfolg ist. Wir reden zu wenig über die Erfolge, die dort
erzielt werden.
Natürlich ist die Sicherheitslage prekär; aber sie wird
noch prekärer, falls wir unsere Truppen dort abziehen
und den Wiederaufbau nicht fortführen.
({1})
Das wollen wir nicht. Man kann dort konkret erleben,
was unsere Soldatinnen und Soldaten, unsere Polizisten
und auch die zahlreichen Aufbauhelfer dort tun. Ich
möchte an dieser Stelle allen, die dort monatelang mit
vielen Entbehrungen arbeiten, meinen herzlichsten Dank
aussprechen.
({2})
Ich möchte noch auf einige wenige Aspekte eingehen.
Seit 2002 wird der Polizeiaufbau dort bilateral durchgeführt; mittlerweile geschieht er unter der Verantwortung
von EUPOL. Über 18 000 Polizisten sind dort ausgebildet worden. Momentan werden etwa 35 000 Menschen
in der Armee ausgebildet. Diese Zahl soll auf 70 000 ansteigen. Wir sind unterstützend dort - Assistants. Das
heißt, wir wollen, dass die Afghanen sich selbst schützen
können, ob mithilfe von Polizei, Justiz oder Armee. Das
ist das Wichtige; das kann nicht oft genug gesagt werden. Ich kann nur jedem raten: Fahren Sie hin! Sprechen
Sie mit den Leuten vor Ort!
Zum Abschluss möchte ich noch erwähnen, was Zia
Farsin - ein Afghane, der uns begleitet hat - gesagt hat:
Afghanistan ist wie ein Mensch, der gefallen ist, der unterstützt wird und dessen Arme hochgehalten werden,
unter anderem auch von euch. Er wankt nach vorne und
nach hinten. Wenn ihr loslasst, dann fällt er wieder. Das
wollen wir nicht. Bleibt hier und helft!
Viele Studien - Frau Zapf hat es erwähnt - sprechen
dafür. In diesem Sinne, lieber Herr Schäfer: Fahren Sie
hin, schauen Sie es sich an, und reden Sie mit den Leuten!
Vielen Dank.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/9418 mit dem Ti-
tel „Abzug der Bundeswehr aus Südafghanistan“. Wer
stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Ent-
haltungen? - Der Antrag ist bei Gegenstimmen der Lin-
ken mit den übrigen Stimmen des Hauses abgelehnt.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 14 a und 14 b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu dem Fakultativprotokoll vom 18. Dezember
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
2002 zum Übereinkommen gegen Folter und
andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe
- Drucksache 16/8249 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({0})
- Drucksache 16/9468 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Ute Granold
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Sevim Dağdelen
Jerzy Montag
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe ({1}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Volker Beck ({2}), Marieluise Beck ({3}), Alexander Bonde, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Für eine effektive Umsetzung des Zusatzprotokolls zur VN-Anti-Folter-Konvention
- Drucksachen 16/8760, 16/9411Berichterstattung:
Abgeordnete Holger Haibach
Florian Toncar
Volker Beck ({4})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Alfred Hartenbach.
({5})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrtes Präsidium!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir werden heute die
Voraussetzung für die Ratifikation des Vertragsgesetzes
zum Fakultativprotokoll zum UN-Antifolterübereinkommen schaffen.
Ich möchte dies zunächst zum Anlass nehmen, um
mich bei den Kolleginnen und Kollegen aus dem Rechtsausschuss für die zügige Beratung des Vertragsgesetzes
zu bedanken.
({0})
Das macht deutlich, dass es der Bundesrepublik
Deutschland - Ihnen aus der Legislative wie auch uns
aus der Exekutive - mit der Unterstützung dieses neuen
völkerrechtlichen Instruments gegen Folter und unmenschliche Haftbedingungen ernst ist.
Wie Sie wissen, ist es auch durchaus nötig, dass die
Bundesrepublik diese Entschlossenheit hinsichtlich der
Einmütigkeit des Bestrebens und des Tempos der Beratungen demonstriert. Denn bei der Ratifikation müssen
wir leider die Erklärung abgeben, dass wir unsere nationalen Präventionsmechanismen erst mit einer Verzögerung von bis zu drei Jahren in Kraft setzen können. Das
wirkt international sicherlich nicht besonders schön; es
ist aber unvermeidlich.
Für die Gründung der Länderkommission ist aus verfassungsrechtlichen Gründen nun einmal ein Staatsvertrag nötig. Dieser kann nicht von heute auf morgen ratifiziert werden. In einigen Ländern ist auch eine
Parlamentsbeteiligung notwendig. Das dauert seine Zeit.
Ich denke, es ist gut, dass auf Länderebene die Parlamente an diesem Gesetzgebungsverfahren beteiligt werden.
Immerhin legen wir heute die Rechtsgrundlage, wenn
wir den Vertragstext verabschieden. Das ist doch schon
etwas. Auch der Text des Staatsvertrages ist bereits in
den Ländern konsentiert. Das Verfahren läuft jetzt an.
Auch die organisatorischen Vorbereitungen sind schon
im Gang.
Ich bin sicher, dass neben dem Bundesministerium
der Justiz vor allem der Ausschuss der Menschenrechte
und Humanitäre Hilfe, lieber Christoph, die Arbeit des
nationalen Präventionsmechanismus im Interesse aller
Beteiligten aufmerksam und kritisch verfolgen wird.
Wir schließen mit diesem Gesetz nichts ab, sondern
leiten eine neue Form der präventiven Kontrolle ein, mit
der wir den Schutz der Menschenrechte für Personen,
die - aus welchem Grund auch immer - in Deutschland
in Gewahrsam genommen werden, sichern wollen. Das
ist ein Prozess, an dem sich die Regierung ebenso wie
das Parlament mit ihren jeweiligen Mitteln beteiligen
wird. Beide verfolgen wir das gleiche Ziel: eine arbeitsfähige Institution zu schaffen, die die Ziele der Vereinten
Nationen auf diesem Gebiet so umsetzt, wie wir selbst
das als Rechtsstaat von uns erwarten.
Mit dem heutigen Beschluss werden wir diesen Prozess ein Stück voranbringen. Dafür bedanke ich mich
noch einmal und bin sicher, dass wir zu dem Thema miteinander im Gespräch bleiben, auch - jetzt hören Sie gut
zu; denn da sind Sie auch gefordert, wenn es so weit ist was die finanzielle und personelle Ausstattung der Gremien betrifft.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Florian Toncar,
FDP-Fraktion.
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Die parlamentarische Behandlung der Konvention, über die wir heute
sprechen, ist ein angenehmer Anlass. Ich glaube aber,
wir sind uns einig, dass der Schutz vor Folter ein ernstes,
weil ein gegenwärtiges Thema ist und dass wir die Ächtung der Folter als zentrale zivilisatorische Errungenschaft auch weiterhin aktiv verteidigen müssen.
Es ist immer wieder unvorstellbar, was Menschen
einander antun können. Wir wissen, dass Folter in der
Welt heute noch weit verbreitet ist. Selbst dort, wo die
Folter offiziell, also nach den Gesetzen eines Landes, abgeschafft ist, herrscht nicht selten ein Klima, in dem es
regelmäßig zu Misshandlungen in Gefängnissen oder auf
Polizeistationen kommt, ohne dass diese geahndet werden. Lange hat das Völkerrecht gebraucht, um auf diese
Probleme eine Antwort zu finden. Die UN-Antifolterkonvention von 1984 stellt dazu den entscheidenden
Beitrag dar.
Natürlich wissen wir, dass Folter heute hauptsächlich
ein Problem von klassischen Unrechtsstaaten ist, die
keine entwickelte Justiz haben. Ich möchte aber auch sagen, wie sehr mich beunruhigt, dass etwa im Zuge des
Kampfes gegen den Terrorismus auch in entwickelten
Rechtsstaaten Folter teils diskutiert und teils - Stichwort
„Waterboarding“ - auch praktiziert wird. Das ist eine
höchst beunruhigende Entwicklung.
({0})
Ich glaube, dass wir auch dadurch, wie wir heute abstimmen, deutlich machen müssen, dass wir gegen jede
Aufweichung des absoluten Folterverbotes in Deutschland und auch in der Welt sind. Natürlich steht die Misshandlung von Menschen bei uns in Deutschland unter
Strafe. Natürlich treffen wir bereits heute weiter gehende
Maßnahmen, um Folter zu vermeiden. Wir schieben beispielsweise keine Ausländer ab, wenn ihnen dann Folter
droht, und wir verwerten durch Folter erlangte Aussagen
nicht in Strafverfahren.
({1})
Neu ist aber - das soll heute umgesetzt werden -, dass
wir zu einer aktiven Folterprävention kommen. Wir wollen einerseits ein Vorbild für andere Staaten abgeben, die
diesem Mechanismus beitreten wollen, indem wir das
Zusatzprotokoll in Deutschland vorbildlich umsetzen.
Andererseits wollen wir durch aktive Kontrolle und Prävention dafür sorgen, dass Misshandlungen in staatlichen Einrichtungen - bei uns handelt es sich dabei
immer nur um Einzelfälle - noch weiter gehender unterbunden werden, als es bislang durch das Strafrecht getan
wird. Aus diesem Grund kommt der heute anstehenden
Ratifizierung wirklich große Bedeutung zu.
Es ist immer gut, wenn eine staatliche Instanz durch
unabhängige Experten kontrolliert wird. Das ist kein
Ausdruck des Misstrauens gegen die Mitarbeiter in solchen Einrichtungen; ihnen vertrauen wir grundsätzlich.
Wir wissen aber auch: Je mehr es in den Grundrechtebereich hineingeht, je sensibler die Bereiche sind - ich
nenne beispielsweise Gefängnisse oder Polizeistationen -, umso gründlicher muss die Kontrolle sein, damit
auch die wenigen Einzelfälle von Misshandlungen aufgedeckt werden. Dass es dabei immer besser ist, wenn
jemand von außen kontrolliert und nicht jemand, der aus
dem Apparat bzw. der Behörde selbst stammt, ist, wie
ich glaube, uns allen klar.
({2})
Insofern ist die Tatsache, dass das Zusatzprotokoll nunmehr ratifiziert wird, auch für die FDP-Fraktion ein
Grund zur Freude.
Nichtsdestotrotz gibt es natürlich auch kritische Anmerkungen.
Die Vorlaufzeit bis zur Ratifikation war sehr lang; das
hing damit zusammen, dass sich Bund und Länder zunächst nicht über die Umsetzung der Konvention in unseren nationalen Präventionsmechanismus einigen konnten. Keiner von uns möchte überflüssige neue Strukturen
schaffen.
Keiner von uns möchte, dass neu einzustellende Beamte bzw. staatliche Angestellte Dinge tun, die längst
getan werden. Darum geht es keinem von uns. Es geht
vielmehr darum, dass die Instrumente, die auf Bundesund Länderebene bestehen, vernetzt und koordiniert
werden und jemand dafür sorgt, dass keine Schutzlücken
entstehen. Das muss sichergestellt sein. In diesem Falle
kann man nicht davon reden, dass neue bzw. zusätzliche
Bürokratie geschaffen wird.
Was wir wollen, wird mit den derzeit vorgesehenen
Ressourcen nur schwer zu erreichen sein. Die Länderkommission, die eine ganz wichtige Aufgabe erfüllt,
weil sich die meisten Einrichtungen, um die es geht, in
Trägerschaft der Länder befinden, ist mit vier Ehrenamtlichen besetzt, die die Kontrollaufgaben übernehmen.
Dass diese Ehrenamtlichen in 16 Bundesländern keine
ausreichende Präsenz in den vielen Einrichtungen zeigen
können, liegt auf der Hand.
Der Bund finanziert im Wesentlichen lediglich eine
neue Stelle eines wissenschaftlichen Mitarbeiters. Das
Gesamtbudget für den Nationalen Präventionsmechanismus beträgt 300 000 Euro. Das ist ausgesprochen wenig.
Unter diesen Umständen wird es nicht mehr geben als
nur Stichproben. Anders gesagt: Wenn auch nur eine einzige Kontrolle irgendwo im Bundesgebiet stattfindet,
geht bei der Koordinierungsstelle nur der Anrufbeantworter an.
Wir sind zwar glücklich, dass es Fortschritte gegeben
hat, aber wir sehen auch die Defizite. Die FDP-Fraktion
möchte, dass das Instrument, das wir jetzt einführen, zügig evaluiert wird. Der Menschenrechtsausschuss wird
sich mit Sicherheit auch mit den Personen, die diese
Kontrollen konkret vornehmen, zusammensetzen und
sich von ihrer Arbeit berichten lassen.
Der zum Ratifikationsgesetz vorgelegte Antrag der
Grünen nennt notwendige Aspekte - sowohl internationale als auch innerstaatliche -, die wir beachten müssen.
Die FDP schließt sich den entsprechenden Forderungen
an. Wir selbst haben einen Antrag eingebracht, in dem
ähnliche Gedanken aufgegriffen wurden und der im
Laufe dieses Jahres im parlamentarischen Verfahren bedauerlicherweise von der Koalition abgelehnt worden
ist. Wir werden deshalb dem inhaltlich sehr ähnlichen
Antrag der Grünen zustimmen und hoffen sehr, dass wir
das Instrument so effektiv wie möglich ausgestalten können.
({3})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Ute Granold, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es geht heute um Folter, das heißt um schwere Verstöße
gegen die Menschenrechte. Die Union und mit ihr unsere Bundeskanzlerin Frau Dr. Angela Merkel stehen für
eine wertegebundene Außenpolitik. Das hat die Bundeskanzlerin unter anderem gezeigt, als sie den Dalai-Lama
empfangen hat.
Wir treten national und international entschlossen für
die Einhaltung der Menschenrechte ein, und legen dort
den Finger in die Wunde, wo Menschenrechte eklatant
verletzt werden, unabhängig davon, ob das in Russland,
Kuba, Venezuela, Nordkorea oder im Iran der Fall ist. In
diesem konsequenten Verhalten werden wir uns nicht beirren lassen.
({0})
Deshalb freut es mich sehr, dass wir heute abschließend über den Gesetzentwurf der Bundesregierung zum
Fakultativprotokoll zum Übereinkommen gegen Folter
und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende
Behandlung oder Strafe beraten. Deutschland war bei
der Ausarbeitung dieses Fakultativprotokolls maßgeblich beteiligt. Mittlerweile haben 61 Länder dieses Protokoll gezeichnet, davon haben es 34 ratifiziert. Die Ratifikation ist für Deutschland eine Selbstverständlichkeit.
Dieser Schritt ist ein Symbol für die Kontinuität unseres
Einsatzes für das absolute Folterverbot - auch im Kampf
gegen den internationalen Terrorismus.
Nicht nur in bilateralen Gesprächen, sondern auch im
Rahmen der Vereinten Nationen und gemeinsam mit unseren EU-Partnern setzen wir uns vehement dafür ein,
dass Folter abgeschafft wird. Dabei legen wir den Finger, wie gesagt, in die Wunde. Wir zahlen freiwillig Beiträge in den Fonds der Vereinten Nationen für die Opfer
von Folter. Wir treten außerdem dafür ein, dass Drittstaaten dieser Konvention beitreten und sich für die
Rechte der Opfer einsetzen. Die Union steht ausdrücklich hinter dem großen Engagement der Bundesregierung zur globalen Durchsetzung des absoluten Folterverbots.
Die Forderung im Antrag der Grünen an die Bundesregierung, mehr für die Durchsetzung der Konvention zu
tun, ist Schaufensterpolitik. Dieser Antrag ist absolut
haltlos; denn die Einhaltung des Grundgesetzes ist für
uns auf allen Ebenen immer eine Selbstverständlichkeit
gewesen.
({1})
Was das Fakultativprotokoll angeht, sind wir natürlich dafür, auf internationaler und nationaler Ebene dafür
einzutreten, dass die Besuchs-, Präventions- und Kontrollmechanismen eingesetzt werden.
Lassen Sie mich zu beiden Elementen des Regierungsentwurfs etwas sagen. Mit der Ratifizierung des
Fakultativprotokolls wird dieses für die Bundesrepublik
bindend und Bestandteil der deutschen Rechtsordnung.
Was die Umsetzung angeht, so haben wir auch hier unseren Beitrag geleistet. Wir müssen versuchen - das Lindauer Abkommen verpflichtet uns dazu; hier sind wir in
einer schwierigeren Situation als die anderen Nationalstaaten -, die Bundesländer einzubinden, da die Zuständigkeit der Länder berührt ist.
Was die Bundesebene angeht, findet eine enge Abstimmung zwischen den Ministerien der Justiz, des Inneren und der Verteidigung statt, um die Bundesstelle zur
Verhütung von Folter zu installieren.
Was die Länder angeht - Bundeswehr und Bundespolizei -, so gibt es eine vielfältige Zuständigkeit: zum
einen im Bereich der Polizei, was den Strafvollzug und
die Abschiebehaft angeht, und zum anderen, was Pflegeeinrichtungen und die Psychiatrie angeht. Aufgrund der
Vielfältigkeit ist es erforderlich, dass eine Zentralstelle
eingerichtet wird, die die Kontrollen durchführt. Herr
Hartenbach hat es gerade gesagt: Es gibt einen Staatsvertrag; der Entwurf liegt vor. Wir gehen davon aus, dass in
Kürze die notwendigen Umsetzungen erfolgt sind und
wir an die Arbeit gehen können.
Zur Umsetzung soll ein gemeinsames Sekretariat bei
der Kriminologischen Zentralstelle in Wiesbaden eingerichtet werden. Es sind Sach- und Personalkosten in Höhe
von 300 000 Euro eingestellt worden. 200 000 Euro davon tragen die Länder, 100 000 Euro der Bund. Wir meinen, dass das in Ordnung ist. Man wird sehen, ob es,
wenn diese Stelle arbeitet, erforderlich ist - so der Antrag der Grünen; Sie wollen ja von heute auf morgen
mehr Geld einsetzen -, Weiteres zu tun.
An dieser Stelle möchte ich ein klares und deutliches
Wort zum Thema Folter sagen. Es wird hier so getan, als
sei Folter in Deutschland ein Thema, das wir jeden Tag
zu bearbeiten hätten. Die Polizei leistet bei uns eine hervorragende Arbeit.
({2})
Sie ist nicht zu kriminalisieren und in die Nähe von Ausländerfeindlichkeit zu rücken. Es wird tagtäglich unter
schwierigsten Bedingungen hervorragende Arbeit geleistet. An dieser Stelle möchte ich mich ausdrücklich
bei den Polizeibehörden dafür bedanken.
({3})
Wir werden in unserem Kampf zur Durchsetzung der
Menschenrechte und zur Prävention, was Folter angeht,
nicht nachlassen. Wir werden dafür sorgen, dass auch
andere Staaten, bei denen Folter noch ein großes Thema
ist, der Konvention beitreten und dass die Mechanismen
in den einzelnen Nationalstaaten greifen. Wir wären
dankbar, wenn heute alle Fraktionen dem Gesetzentwurf
der Bundesregierung zustimmen würden, damit wir weitere Schritte gehen könnten. Ich denke, hier besteht ein
Konsens.
Zur Verzögerung bei den Ländern möchte ich noch einen Satz sagen. Wir sind in der Tat ganz erheblich in
Verzug. Das liegt aber nicht daran, dass die Länder Bedenken hätten, was die Zielrichtung der Konvention angeht. Dies lag vielmehr einfach daran, dass bei einigen
Ländern Bedenken bestanden, dass die Schaffung neuer
Stellen zu mehr Bürokratie führt. Diese Bedenken konnten inzwischen ausgeräumt werden. Ich denke, dass wir
mit dem jetzt formulierten Vertragsgesetz für Deutschland die Ratifikation und Umsetzung gemeinsam auf den
Weg bringen können und so unseren Beitrag zur weltweiten Prävention von Folter leisten.
Vielen Dank.
({4})
Für die Linke gebe ich das Wort dem Kollegen Michael Leutert.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Niemand hier wird bezweifeln, dass die Ratifizierung
des Zusatzprotokolls der VN-Antifolterkonvention eine
Notwendigkeit ist. Allerdings muss man sagen, dass der
Gesetzentwurf natürlich lange auf sich hat warten lassen.
Die Schuld dafür - das ist hier schon mehrmals gesagt
worden - liegt mit Sicherheit nicht bei der Bundesregierung.
({0})
Dies liegt vielmehr an der Länderebene, und zwar an den
Ländern Sachsen, Niedersachsen und Sachsen-Anhalt.
Wenn ich die Feierlaune etwas trüben darf: Das alles
sind CDU-geführte Länder; auch das sollte hier gerechterweise gesagt werden.
({1})
- Moment, wir kommen noch dazu.
Der Preis, der dafür gezahlt worden ist, dass diese
Verhandlungen mit den Ländern geführt werden mussten, ist ein sehr bitterer, nämlich die Struktur von nur
vier ehrenamtlichen Beobachtern, die über 1 000 Einrichtungen zu überprüfen und zu untersuchen haben.
Hinzu kommen möglicherweise weitere Gewahrsamseinrichtungen, die nicht zum Bereich der Polizei gehören. Dass das eine defizitäre Struktur ist, wird hier im
Hause wohl niemand - auch keiner von der CDU/CSUoder der SPD-Fraktion - bestreiten.
Wenn das Argument vorgebracht werden sollte, dass
das zumindest ein Einstieg ist, dann kann ich nur sagen:
Das ist kein Argument; das ist einfach nur eine Beteuerung. Wir werden uns anschauen, wie weit man in diesem Bereich in den nächsten Jahren vorankommen wird.
Schlimm ist meines Erachtens aber etwas ganz anderes: Es wird immer davon gesprochen, dass Deutschland
eine größere internationale Verantwortung hat, insbesondere in den Bereichen Terrorismusbekämpfung und militärisches Engagement; das Thema der vorhergehenden
Debatte war Afghanistan. Wenn es so ist, dass wir eine
größere internationale Verantwortung haben, dann hat
das, was vorgelegt wurde, eine maximal negative Signalwirkung und zeigt einen relativen traurigen Zustand unserer Gesellschaft:
({2})
Ein so reiches Land wie Deutschland ist nicht in der
Lage, einen Präventionsmechanismus gegen Folter einzurichten.
Ich möchte Zahlen nennen - sie müssen einmal genannt werden -: Deutschland investiert jedes Jahr
650 Millionen Euro nur in das Militär in Afghanistan.
Das Hauptargument dafür ist immer wieder die gestiegene internationale Verantwortung. Im Bereich der Prävention von Folter sind wir aber nicht einmal in der
Lage, 300 000 Euro zu investieren;
({3})
trotzdem reden Sie hier von der gestiegenen internationalen Verantwortung. Wenn es dabei bleibt, bin ich gespannt, wie die Bundesregierung in nächster Zeit auf internationaler Ebene nicht so reichen Ländern erklärt,
dass es für sie extrem wichtig ist, einen solchen Präventionsmechanismus einzurichten.
({4})
Gerade im Hinblick auf den außenpolitischen Bereich
wäre es notwendig gewesen, eine angemessene materielle Ausstattung zu gewährleisten, um eine Signalwirkung zu erreichen.
Wir reden hier über Folter und über das Folterverbot.
Gerade im Kampf gegen den internationalen Terrorismus - das wurde heute schon mehrmals erwähnt - ist
das Folterverbot in letzter Zeit mehr und mehr aufgeweicht worden. Wir reden hier nicht nur über die USA;
wir, der Deutsche Bundestag, haben einen Untersuchungsausschuss eingerichtet, weil die Vermutung im
Raume steht, dass deutsche Sicherheitsbehörden unter
Anwendung von Folterpraktiken erzielte Ermittlungsergebnisse zumindest verwendet haben. Wenn so etwas
schon im Raume steht, wenn solche Vorwürfe existieren,
dann sollte das ein ausreichender Grund sein, einen Präventionsmechanismus einzurichten, der materiell ausreiMichael Leutert
chend abgesichert ist, um seine Aufgaben in angemessener Form wahrzunehmen.
({5})
Leider begnügt sich die Koalition damit, sich mit einer gewissen Symbolpolitik in der Öffentlichkeit darzustellen. Dennoch werden wir notgedrungen diesem Gesetzentwurf zustimmen.
({6})
Nächster Redner ist der Kollege Volker Beck, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zunächst einmal möchte ich sagen: Mit der Ratifizierung
des Zusatzprotokolls gehen wir heute endlich - es hat
elendig lange gedauert - einen guten Schritt. Im Rahmen
der Staatengemeinschaft ist es das richtige Signal, dass
die Bundesrepublik Deutschland immerhin als 17. Land
das Zusatzprotokoll ratifiziert und damit den entscheidenden Schritt geht. Diese Gemeinsamkeit wollen wir
festhalten. Ich weiß, wie schwierig es war, die Länder
von dieser Lösung zu überzeugen.
({0})
Es ist ein wichtiger Schritt, der aber zu kurz ist. In
erster Linie geht es natürlich nicht darum, bei unserer
rechtsstaatlich orientierten Polizei und bei der Bundeswehr nachzuprüfen, dass bei uns nicht gefoltert wird.
Wir sind zwar, wie der Fall Daschner gezeigt hat, nicht
völlig frei von Ausrutschern; so etwas kann auch bei uns
vorkommen. Rechtsstaatliche Verfahren führen aber in
der Regel dazu, dass so etwas geahndet wird, weil unser
Rechtsstaat funktioniert.
Die internationale Gemeinschaft hat sich aber für dieses Zusatzprotokoll und den Präventionsmechanismus
entschieden, weil es in vielen Staaten keine funktionierenden Mechanismen gibt, weil es keinen Rechtsstaat
gibt. Heute senden wir ein Signal an diese Länder - es ist
das falsche Signal -: 300 000 Euro, also das Geld für
- sagen wir - vier Ehrenamtler und eine Geschäftsstelle,
reichen in einem Land mit 82 Millionen Menschen - mit
Polizeidienststellen, Heimen, Gewahrsamsanstalten und
Abschiebeeinrichtungen - völlig aus, um sicherzustellen, dass es in Deutschland weder Folter noch unmenschliche Behandlung gibt.
Bei der Konvention - sie wird kurz Antifolterkonvention genannt - geht es nicht nur darum, zu prüfen, ob bei
uns tatsächlich Menschen gefoltert werden, sondern
auch darum, zu prüfen, ob Menschen in Heimen, in psychiatrischen Einrichtungen usw. unter unmenschlichen
Bedingungen leben. Da können wir nicht sagen: Alles,
was bei uns in Altersheimen und psychiatrischen Anstalten passiert, ist super; es bedarf keiner zusätzlichen Kontrolle.
({1})
Ich bin hochunzufrieden damit, dass wir hier nicht
weiter gehen. Frau Granold, in unserem Antrag haben
wir eindeutig geschrieben, dass wir die Ratifizierung begrüßen, aber meinen, dass ein nächster Schritt folgen
muss. Das wollen Sie hier heute ablehnen.
Wir fordern die Bundesregierung auf, „gemeinsam
mit den Ländern nach der Ratifizierung an einem Ausbau des bisher beschlossenen Präventionsmechanismus
zu arbeiten, der eine effektive Umsetzung aller im Zusatzprotokoll vorgesehenen Regelungen zum nationalen
Präventionsmechanismus gewährleistet.“ Was kann angesichts der Tatsache, dass Sie alle beteuern, dass wir
den nächsten Schritt gehen müssen, der Grund sein, dieses Ansinnen abzulehnen? Wir sollten den Ländern sagen, dass es erbärmlich ist, dass sie darauf bestanden haben, von Länderseite maximal 200 000 Euro dafür zu
investieren.
In der Anhörung haben alle Fachleute gesagt: Diese
Magersuchtlösung ist eine Schande für unsere Republik
und unserer Arbeit nicht würdig.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Granold?
Ja, aber gerne doch.
Herr Kollege Beck, Sie haben gerade anhand des Falles Daschner ausgeführt, dass unser Rechtsstaat funktioniert.
({0})
Darauf können wir stolz sein. Deutschland ist ein
Rechtsstaat, der weltweit seinesgleichen sucht.
Können Sie bestätigen, dass, wenn es diesen Kontrollmechanismus gibt, wir für diese Maßnahme
300 000 Euro in den Haushalt einstellen, wir dahin gehend Einvernehmen erzielt haben, dass wir dann eine
Evaluation vornehmen wollen, um festzustellen, ob
mehr Geld - dem verschließen wir uns nicht - erforderlich ist?
Es geht um die Grundannahmen. Es geht darum, vor
welchem Hintergrund man über diese Frage diskutiert.
Selbstverständlich ist Deutschland ein sehr guter Rechtsstaat. Ob er seinesgleichen sucht, weiß ich nicht. In Europa gibt es noch viele andere Rechtsstaaten. Ich glaube,
wir sollten nicht überheblich sein und behaupten, dass
wir Deutschen auch das viel besser können, weil wir im17616
Volker Beck ({0})
mer alles viel besser können. Ich finde, diese Tonlage ist
unangemessen.
({1})
- Wenn Sie diese Tonlage für angemessen halten, ist das
Ihre Sache. Das respektiere ich. Ich finde, das ist die falsche Haltung gegenüber unseren europäischen Nachbarn.
({2})
Frau Granold, ich bin noch bei der Beantwortung Ihrer Frage. Deshalb bitte ich Sie, entsprechend den Gepflogenheiten des Hauses stehenzubleiben; denn meine
Redezeit läuft sonst gleich ab.
Wir müssen das Ganze unter folgender Fragestellung
diskutieren: Welches Signal senden wir an andere Staaten aus? Was soll Marieluise Beck sagen, wenn sie nach
Russland oder Zentralasien fährt? Soll sie sagen: Ja, wir
haben vier Ehrenamtliche dafür!?
({3})
- Das ist die Antwort auf die Frage. Wenn Sie mich fragen, müssen Sie mir die Antwort überlassen. So ist das
in der Demokratie.
({4})
Wir müssen den Ländern sagen - das ist das Entscheidende -: Wir machen das so wirkungsvoll, dass ihr das
nachmachen könnt. Wenn wir das mangelhaft machen,
werden sie sich auch daran orientieren und sich darauf
herausreden. Das wird insbesondere für die Länder gelten, die Unterstützung beim Thema Folterprävention eigentlich dringend nötig hätten.
Nicht ohne Grund hat uns der UN-Sonderberichterstatter für Folter, Manfred Nowak, heute ins Stammbuch
geschrieben, dass er den Gesetzentwurf, den wir auf dem
Tisch haben, kritisiert. Ich zitiere aus einer Meldung der
Nachrichtenagentur des Evangelischen Pressedienstes:
Er bezweifele, ob Deutschland die Konvention zur
Folterprävention angemessen umsetzt und genügend bezahltes Personal bereitstellt, sagte Nowak
im Deutschlandradio Kultur. „Mit ein paar unbezahlten, freiwilligen Mitarbeitern kann man diese
wichtige Aufgabe sicherlich nicht durchführen.“
({5})
Recht hat er. Stimmen Sie unserem Antrag zu, damit wir
eine Blamage Deutschlands bei der Ratifizierung verhindern. Noch ist das möglich.
({6})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Christoph Strässer, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Kollege Beck, Sie kennen sicherlich Brehms Tierleben. In einer Parabel steht - ich bekomme sie nicht
mehr ganz auf die Reihe -: Je mehr sich der Hahn aufplustert, desto weniger nützt es der Henne.
({0})
Ich begreife Ihre Aufregung nicht. Sie ist der Sache nicht
angemessen.
Ich darf vielleicht einige Aspekte um der historischen
Wahrheit willen aufzeigen: Lieber Kollege Beck, Sie beklagen, dass das alles lange gedauert hat. Ich darf daran
erinnern, dass das Zusatzprotokoll, das Fakultativprotokoll zur Antifolterkonvention im Dezember des Jahres 2002
in der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet wurde. Jetzt frage ich Sie und mich - da müssen wir uns beide schämen -, wer eigentlich 2002 und
bis 2005 regiert hat.
({1})
Ich bin ein Stück weit stolz darauf, dass in dieser Großen
Koalition die Zeichnung durch den Bundesaußenminister im September 2006 endlich erfolgt ist, damit wir hier
auf einen vernünftigen parlamentarischen Weg kommen
können.
({2})
Das ist die historische Wahrheit an dieser Stelle.
Noch etwas gehört zur Wahrheit; das hat mit den Ländern zu tun. Die Wahrheit ist, dass die Bundesländer, die
jetzt einen Staatsvertrag abschließen müssen, sich nur
bereit erklärt haben, überhaupt über dieses Thema zu
reden, wenn sie mit nicht mehr als insgesamt
200 000 Euro belastet werden. Worauf freue ich mich
jetzt an dieser Stelle? Bevor wir Anträge, die uns im Moment nicht weiterbringen, im Deutschen Bundestag beschließen, freue ich mich auf die erste Bundesratsinitiative des Stadtstaates Hamburg zur Umsetzung dieser
Geschichte auf Landesebene. Darauf bin ich sehr gespannt.
({3})
Kollege Toncar klatscht gerade so laut. Ich kann ihn nur
fragen: Wo sind denn die Initiativen aus NordrheinWestfalen, aus Niedersachsen oder aus Baden-Württemberg?
({4})
Da können Sie alle Ihre Hausaufgaben machen. Dann
können wir hier in aller Ruhe und verständnisvoll über
diese Themen reden.
({5})
- Ja, wir sind dabei, keine Sorge.
Kollege Strässer, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Toncar?
Gerne.
({0})
Herr Kollege Strässer, in Kenntnis dessen, dass es
noch Bundesländer gibt, in denen die SPD mitregiert,
wollte ich fragen, ob ich Ihre Ausführungen so verstehen
darf, dass bald von dem einen oder anderen Bundesland
eine Initiative zu erwarten ist.
Sie können sich fest darauf verlassen, dass wir dafür
sorgen werden. Wir kritisieren ja im Moment an dieser
Stelle nicht. Wir sagen vielmehr ganz deutlich: Das, was
hier auf den Weg gebracht worden ist, ist ein Fortschritt.
Man sollte nicht sofort anfangen, das schlecht- und kaputtzureden. Wir haben dies jetzt in dieser Konstellation
auf den Weg gebracht. Wir werden es heute hier wahrscheinlich mit Zustimmung aller ratifizieren. Es ist ein
guter Tag für den Schutz der Menschenrechte in
Deutschland und in Europa. So ist das.
({0})
Zu den vielfältigen Kommentaren, die hier jetzt im
Raume stehen: Kollege Beck, Sie haben eine Fachtagung im Deutschen Institut für Menschenrechte angesprochen, auf der ich Sie gar nicht gesehen habe. Aber
man kann ja in den Protokollen nachlesen. Es gibt zum
Beispiel einen Vertragsausschuss bei den Vereinten Nationen, der sich mit den WSK-Rechten befasst. Der deutsche Vertreter dort ist Professor Dr. Eibe Riedel; Sie kennen ihn wahrscheinlich. Er hat mir bei der letzten
Kuratoriumssitzung des Deutschen Instituts für Menschenrechte klar gesagt, dass das, was wir hier in
Deutschland machen, in diesem Vertragsausschuss ausgesprochen begrüßt wird. Denn es kommt nicht in erster
Linie auf ein Signal nach außen, auf den konkreten Status an, sondern es geht darum, dass endlich eines der
größten Länder Europas diese Ratifizierung durchführt.
Das ist die zentrale Botschaft, die von diesem heutigen
Tag ausgehen muss.
({1})
Ich will deutlich sagen, dass die Debatte, die wir hier,
wie ich finde, mit großem Verantwortungsbewusstsein,
sehr fair und in der Sache nach vorne gerichtet geführt
haben, ein Stück weit dazu beigetragen hat, dass in unserem Land Sensibilisierungen für die Themen Folter und
Antifolterkonvention stattgefunden haben. Ich darf daran erinnern, dass die Antifolterkonvention der Vereinten Nationen eine der Konventionen ist, die am wenigsten gezeichnet worden sind. Das hat damit zu tun, dass
große Länder vor diesem Thema ein Stück weit zurückschrecken; sie gehen es nicht offensiv an. Wir müssen
diese Fragen demnächst bei uns und anderswo thematisieren.
Ich bin auf Einladung von Amnesty International vor
drei Wochen in Washington gewesen. Wir haben die
amerikanische Administration und alle, die damit zu tun
haben, sehr offen, klar und auch sehr massiv darauf hingewiesen - dies bezieht sich auch auf unsere europäische
Verantwortung -, dass das, was die Vereinigten Staaten
im Kampf gegen den Terrorismus in Gang gesetzt haben,
nicht mehr unter die Antifolterkonvention fällt. Diskussionen wie die über das Waterboarding, wie sie auch von
Herrn Bush geführt werden, tragen nicht dazu bei, in der
Welt den Eindruck zu erwecken, dass unsere westlichen
Werte in dieser Art und Weise gut vertreten sind.
Ich glaube, diesen Anstoß sollten wir zur Verteidigung der Menschenrechte und zur weiteren Forcierung
des Schutzes vor Folter überall aufnehmen. Dafür ist
dieser Tag heute ein guter. Mein Dank geht an alle, die
daran mitgewirkt haben und insbesondere an die Bundesregierung, die das auf den Weg gebracht hat.
Herzlichen Dank.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Fakultativprotokoll vom 18. Dezember 2002 zum Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche
oder erniedrigende Behandlung oder Strafe. Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/9468, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/8249 anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in dritter Beratung mit den Stimmen des ganzen
Hauses angenommen.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Tagesordnungspunkt 14 b: Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit
dem Titel „Für eine effektive Umsetzung des Zusatzprotokolls zur VN-Anti-Folter-Konvention“. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9411, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 16/8760 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen
der Opposition angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Jürgen
Trittin, Josef Philip Winkler, Omid Nouripour,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Hilfe für irakische Flüchtlinge ausweiten - im
Irak, in Nachbarländern und in Deutschland
- Drucksachen 16/7468, 16/9006 Berichterstattung:
Abgeordnete Eckart von Klaeden
Johannes Jung ({1})
Dr. Werner Hoyer
Jürgen Trittin
Über die Beschlussempfehlung werden wir später auf
Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen namentlich
abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dr. Rolf Mützenich, SPD-Fraktion.
({2})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ohne die folgenschwere Entscheidung der
US-Regierung, im Irak zu intervenieren, müssten wir
heute nicht über die Situation der Flüchtlinge reden.
({0})
Noch vor wenigen Tagen hat der frühere Pressesprecher des amerikanischen Präsidenten, McClellan, eingeräumt, dass der Krieg gegen den Irak ein ernsthafter strategischer Missgriff war. Mehr als 4 Millionen Menschen
sind noch heute, fünf Jahre nach Beginn des Irak-Kriegs,
auf der Flucht. Nach 1948 ist dies die zweite große
Flüchtlingswelle in der Region. Allein 2 Millionen Iraker leben in Syrien, Jordanien und dem Libanon. Nur
etwa ein Drittel der ehemals 1,2 Millionen Christen im
Irak sind heute noch im Land. Fünf von zehn Irakern
müssen täglich mit weniger als einem Euro überleben.
Das ehemals vorbildliche Gesundheits- und Bildungssystem ist zusammengebrochen. 60 000 Iraker sind inhaftiert, die Mehrzahl von ihnen ohne Prozess oder Anklage. Die schreckliche Bilanz lautet: 1,2 Millionen
Menschen sind getötet worden. Genauso viele Menschen
wurden verwundet. Die Folgen des Irak-Kriegs sind desaströs. Schlimmer noch: Die angeführten Gründe für
den Einmarsch waren eine niederträchtige Manipulation.
({1})
McClellan zieht ein verheerendes Fazit: Der Zusammenbruch der Kriegsgründe hätte keine Überraschung zu
sein brauchen. Damit bezichtigt der ehemalige Pressesprecher im Weißen Haus nicht allein seinen ehemaligen
Vorgesetzten der Selbsttäuschung. Auch denjenigen, die
vor fünf Jahren den US-Streitkräften in den Irak gefolgt
waren oder folgen wollten, schreibt er ins Zeugnis, sie
hätten es bereits damals besser wissen können.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, deshalb bin ich
stolz darauf, dass die von Gerhard Schröder geführte
Bundesregierung den Irak-Krieg von Anfang an abgelehnt hat.
({3})
Obwohl einzelne Medien sowie politische und gesellschaftliche Meinungsführer eine Beteiligung Deutschlands forderten, haben wir uns nicht beirren lassen. Damals hat die SPD in einem geschichtlichen Moment
wieder richtig gehandelt.
({4})
Auch wenn wir nicht alle furchtbaren Entwicklungen
vorhersehen konnten, wussten wir, dass dieser Krieg
falsch war. Wir befürchteten auch, dass die Invasion im
Irak die Region destabilisieren und die europäische Sicherheit bedrohen würde.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, obwohl wir gegen
den Krieg waren, hat Deutschland sogleich geholfen.
Wir haben bisher rund 300 Millionen Euro für den Wiederaufbau und die Stabilisierung des Iraks bereitgestellt.
({5})
In den letzten beiden Jahren haben wir allein für die
Flüchtlingshilfe 8 Millionen Euro verausgabt. Im Jahre
2008 sind bereits 4 Millionen Euro in Projekte der humanitären Hilfe geflossen. Ein Großteil der Leistungen
kam den Aufnahmeländern direkt zugute.
Vor allem Syrien hat irakische Flüchtlinge aufgenommen. Viele der 1,3 Millionen Iraker leben im Großraum
Damaskus. Nahezu jeder dritte Bewohner der Hauptstadt
ist ein Flüchtling. Man kann sich die daraus erwachsenden Herausforderungen für das Schul- und Gesundheitswesen, für den Wohnungsmarkt und für die Strom- und
Wasserversorgung nur ansatzweise vorstellen. Deshalb
war es richtig, dass wir in den vergangenen Monaten vor
allem Syrien bei der Bewältigung der Flüchtlingsströme
geholfen haben.
({6})
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, die Besuche
des Außenministers und der Entwicklungshilfeministerin in Damaskus dienten vor allem diesem Ziel. Deswegen ist es verwunderlich, dass diejenigen, die heute weitere Anstrengungen verlangen, diese Besuche damals
kritisiert haben.
({7})
Ich denke, Frank-Walter Steinmeier und Heidemarie
Wieczorek-Zeul haben mit ihren Gesprächen und ihren
konkreten Hilfszusagen einiges für die Stabilisierung der
Situation und der Region getan.
({8})
Neben den staatlichen Instanzen in den arabischen
Nachbarstaaten des Iraks haben insbesondere Hilfsorganisationen versucht, die Probleme der Flüchtlinge zu lindern. So haben das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten
Nationen, das Internationale Rote Kreuz und der Rote
Halbmond eine Menge bewegen können. Gleichzeitig
haben Menschen und private Organisationen in Syrien,
Jordanien und Libanon geholfen. Ihnen allen sei hiermit
ganz herzlich gedankt!
({9})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sollten in diesem Zusammenhang auch daran erinnern, dass bereits
heute 73 000 irakische Staatsangehörige in Deutschland
leben, darunter viele Jesiden und Christen. Ich würde
mir wünschen, dass weitere Iraker bei uns Schutz finden.
({10})
Wir begrüßen den Vorstoß des Innenministers, sich
dafür einzusetzen, dass in Deutschland und in den anderen EU-Mitgliedstaaten weitere irakische Flüchtlinge
aufgenommen werden. Jetzt geht es darum, diesen Vorschlag rasch umzusetzen. Im Sinne der notleidenden
Menschen wäre es daher wünschenswert, wenn die EUInnenminister bereits auf der morgigen Ratstagung einen
Beschluss über die Zahl der aufzunehmenden Flüchtlinge und über die EU-interne Lastenverteilung fassen
würden.
({11})
- Das werden Sie uns gleich berichten. Ich freue mich
auf Ihre Rede, Herr Innenminister. Die SPD-Fraktion unterstützt Ihre Initiativen. Darüber hinaus tritt die SPDFraktion dafür ein, das Programm zur Wiederansiedlung
des UNHCR in Deutschland zu etablieren.
({12})
Nunmehr findet eine Debatte darüber statt, ob wir irakische Christen nach Deutschland holen sollten. Ich bezweifle, dass die Konzentration allein auf irakische
Christen den Herausforderungen angemessen ist.
({13})
Verschärft nicht bereits die Aufteilung entlang ethnischer und religiöser Trennlinien die Konfliktsituation im
Irak und in der Region? Ist eine Frauenrechtlerin muslimischen Glaubens in Deutschland weniger willkommen
als eine engagierte Politikerin christlichen Glaubens? Ist
nicht ein Arzt muslimischen Glaubens genauso mit tödlicher Verfolgung konfrontiert wie sein Kollege christlichen Glaubens?
({14})
Dürfen wir die Beweggründe für Flucht anhand des
Glaubens relativieren?
({15})
Selbst wenn christlichen Flüchtlingen die Aufnahme
in Deutschland erleichtert werden sollte, könnten wir
nicht mit der Unterstützung des UNHCR rechnen. Denn
ich glaube, dass die Einzelschicksale im Vordergrund
stehen und nicht die Zugehörigkeit zu einer Religion.
({16})
Was wir brauchen, ist eine Flüchtlingspolitik, die auf die
individuellen Schicksale und nicht auf bestimmte Merkmale Bezug nimmt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Flüchtlingsproblem ist leider nur ein Problem von vielen. Deshalb hat
sich Deutschland auf die Ausbildungshilfe im Berufsund Sicherheitssektor konzentriert. Deutsche Institutionen haben irakische Sicherheitskräfte aus- und fortgebildet. Wir haben bei der Minenräumung geholfen.
Schließlich haben wir den politischen und administrativen Wiederaufbau unterstützt, bei der Wahlbeobachtung
geholfen und die föderale Entwicklung begleitet. Der
Schuldenerlass beläuft sich gegenwärtig auf 5 Milliarden
Euro. Angesichts der schwierigen Situation sind dies nur
geringe Beiträge. Wir sollten uns darauf einstellen, dass
die Hoffnungen und Anforderungen gegenüber Deutschland wachsen werden.
Es ist gut, dass wir in der vergangenen Woche zwei
hochrangige Besucher aus dem Irak empfangen durften.
Diese Konsultationen sollten fortgesetzt werden, auch
im Irak. Angesichts der Sicherheitslage, aber auch angesichts der engen Beziehungen ist es derzeit durchaus angemessen und sinnvoll, sich auf den kurdischen Teil des
Iraks zu konzentrieren. Zweifellos wäre die rasche Eröffnung eines Konsulats in Erbil ein wichtiges Zeichen. Ich
würde dies begrüßen. Zugleich wäre es falsch, die anderen Regionen des Landes außer Acht zu lassen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Deutschland hat in
den vergangenen Jahren dem Irak geholfen. Wir werden
dies auch in Zukunft tun müssen. Wir sollten dabei eine
Politik unterstützen, die den ganzen Irak und alle Menschen in den Blick nimmt. Vor allem gegenüber den arabischen Nachbarstaaten und dem Iran sollten wir deutlich machen, dass nur verlässliche, regionale Lösungen
einen Sicherheitsgewinn für alle bringen können. Der
Irak wird nur in einem so gesicherten Umfeld eine Zukunft haben können.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({17})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Elke Hoff, FDPFraktion.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Ich finde es gut, dass wir heute,
auch wenn es schon so spät ist, im Deutschen Bundestag
über das Thema der Flüchtlinge im Irak und außerhalb
des Iraks reden. Ich finde es auch gut, dass wir heute namentlich abstimmen. Kollege Mützenich, Sie wissen,
dass ich Sie sehr schätze; aber ich muss Ihnen sagen, Sie
sind die Erklärung schuldig geblieben, wie sich Ihre
Fraktion nachher bei der Abstimmung verhalten wird.
({0})
Darauf bin ich nach Ihren Ausführungen sehr gespannt.
Wir alle müssen ein Interesse daran haben, dass die
Region, dass der Irak so schnell wie möglich stabilisiert
wird. Wir können in der Presse verfolgen und wir wissen
auch aus den Gesprächen, die wir mit irakischen Kolleginnen und Kollegen führen, dass es darauf ankommen
wird, zwischen den verschiedenen Ethnien und zwischen
den verschiedenen religiösen Ausrichtungen eine Balance zu finden.
Deswegen kann ich die Intention und die Intonation
dessen, was der Innenminister zurzeit auf europäischer
Ebene betreibt bzw. was die Kolleginnen und Kollegen
von der Union betreiben, nicht verstehen. Wenn Sie von
den Schicksalen hören, wenn Sie sich mit den Flüchtlingen unterhalten, hören Sie auch von muslimischen Familien, dass sie bedroht worden sind, dass Mitglieder ihrer
Familie massakriert worden sind, dass sie froh sind, es
geschafft zu haben, aus dieser fürchterlichen Situation
nach Jordanien oder Syrien zu fliehen. Wie könnten wir
einer solchen Familie sagen: Ihr habt euer Leben gerettet; aber ihr habt das Pech, dass ihr der falschen Konfession angehört. - Das ist für mich keine christliche Handlungsgrundlage.
({1})
Wir müssen beweisen, dass es uns um mehr geht: dass es
uns um die Menschen geht und dass wir als Vertreter einer funktionierenden Demokratie, eines funktionierenden Staatswesens in der Lage sind, die Dinge zusammenzuführen.
Kollege Mützenich hat versucht, die Zuwendungen
positiv darzustellen. Wir erleben aber, dass irakische
Flüchtlinge diese Zuwendung nicht bekommen, dass
Frauen und sogar erst zwölfjährige Mädchen gezwungen
sind, sich zu prostituieren, ihren Körper zu verkaufen.
Das können wir nicht weiter hinnehmen. Die Probleme
sind eben nicht gelöst. Es wird zu wenig getan. Der
UNHCR hat erhebliche finanzielle Probleme. Wir sollten an dieser Stelle den Ländern Syrien und Jordanien einen Dank dafür aussprechen,
({2})
dass sie die Lasten getragen haben, die wir als westliche
Wertegemeinschaft mit verursacht haben. Wir sitzen
nicht nur in einem Boot, wenn wir unsere Werte in der
Welt verkaufen wollen, wir sitzen auch in einem Boot,
wenn wir dafür geradestehen müssen, was im Namen
von Demokratie und westlicher Welt passiert ist.
Als Demokratin und Mitglied des Deutschen Bundestages fühle ich mich über die konfessionellen und die
Parteigrenzen hinweg verpflichtet, so schnell wie möglich einen Beitrag dafür zu leisten, dass die Menschen im
Irak eine Perspektive bekommen. Wir müssen heute
auch an die Zukunft denken.
Bei all den Analysen der Vergangenheit, die wir alle
hinreichend kennen und die schrecklich genug sind,
müssen wir auch eine Perspektive für die Stabilisierung
des Iraks finden,
({3})
das heißt das, was der Kollege Mützenich in Ansätzen
schon vorgetragen hat, nämlich den Austausch mit den
Institutionen und das Vorantreiben des gemeinsamen
Aufbaus von demokratischen Strukturen. Ich begrüße es,
dass sich viele Kolleginnen und Kollegen über die Parteigrenzen hinweg die Situation in Syrien und Jordanien
angeschaut haben, und ermuntere sie, auch den Weg in
den Irak zu finden. Wir setzen dadurch ein Zeichen, dass
uns wirklich daran liegt, das, was wir hier verkörpern
und wofür wir einstehen, auch den Menschen zukommen
zu lassen, die das - unter schlimmsten Bedingungen wollen.
Als ich die Gelegenheit hatte, den Irak zu besuchen,
haben sie mir gesagt: Wir wollen nicht euer Geld, wir
wollen auch keine militärische Hilfe, sondern wir wollen
wissen, wie es die Bundesrepublik Deutschland geschafft hat, zu einer blühenden und prosperierenden Demokratie zu werden. Helft uns dabei! - Diese Anliegen,
Wünsche und Forderungen kamen über die religiösen,
ethnischen und regionalen Grenzen hinweg.
Herr Bundesinnenminister, ich begrüße Ihre Initiative
zusammen mit den Kollegen Innenministern der Länder
auf europäischer Ebene. Es würde mich jedoch sehr
freuen, wenn Sie diesen Pfad verlassen und all die Menschen mit einschließen würden, die unsere Hilfe brauchen, weil wir damit beweisen würden, dass wir Demokraten und auch Christen sind.
Ganz herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({4})
Ich gebe dem Bundesinnenminister Dr. Wolfgang
Schäuble das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Not und das Elend der Flüchtlinge im und
aus dem Irak ist so groß, dass es in der Tat gut ist, dass
wir das Thema nicht mit mehr Streit behandeln, als es
von der Sache her unvermeidbar ist.
Ich bin gerade vom Rat der Justiz- und Innenminister
in Luxemburg zurückgekommen. Die Verspätung hier ist
gar nicht so schlecht; denn so kann ich Ihnen sagen, wie
weit wir dort heute Mittag gekommen sind. Ich würde
aber gerne noch ein paar Bemerkungen vorweg machen.
Ich bin ganz davon überzeugt, dass es wahrscheinlich
eine der größten Herausforderungen sein wird, das
Flüchtlingsproblem nachhaltig zu bewältigen, wenn es
im Irak bald zu einer besseren Entwicklung kommt, was
wir ja alle hoffen. Ich bin auch fest davon überzeugt,
dass Europa seinen Beitrag dazu leisten muss. Ein Teil
Europas sind auch wir in Deutschland. Wir haben ja
auch eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik.
Deshalb ist das richtig.
Ich habe mich zunehmend davon überzeugt, dass es
nicht ausreichen wird, den Ländern in der Region bei der
Bewältigung des Flüchtlingsproblems zu helfen, sondern
wir müssen auch dafür eintreten, dass ein Teil der Problematik dadurch gelöst wird, dass Flüchtlinge auch in
anderen Teilen der Welt Aufnahme finden.
({0})
Dazu muss auch Europa seinen Beitrag leisten; denn
man kann das nicht nur anderen raten, sondern man
muss dann auch das Seine tun.
Wenn wir sagen, dass Europa seinen Beitrag leisten
muss, dann muss auch Deutschland seinen Beitrag leisten, obwohl wir ganz anders als andere in Europa hinsichtlich der Aufnahme von Flüchtlingen Vorbelastungen haben. Ich muss gelegentlich darauf hinweisen, dass
Deutschland mehr als die Hälfte aller Flüchtlinge aufgrund der Kriege im ehemaligen Jugoslawien aufgenommen hat und wir noch immer an den Folgen leiden. Damals war die europäische Solidarität und damit die
Bereitschaft, einen Beitrag zu leisten, geringer als heute.
Aber wir wollen ja, dass die Dinge besser werden.
({1})
Ich will gleich hinzufügen: Das Problem kann nicht
dadurch gelöst werden, dass alle Flüchtlinge in anderen
Teilen der Welt oder in Europa Aufnahme finden. Ziel
muss es sein, dass möglichst viele wieder in den Irak zurückkehren können. Deswegen muss das der entscheidende Punkt der mittel- und langfristigen Perspektive
sein.
Ich muss folgende Bemerkung machen: Man muss
wissen, dass wir in Deutschland nur etwas erreichen können, wenn wir das gemeinsam mit den Ländern tun. Im
Übrigen: Die Aufenthaltsgewährung nach § 23 Aufenthaltsgesetz geht nur - das steht auch in der Begründung
und ist Praxis -, im Einvernehmen mit den Bundesländern. Deswegen habe ich - auch im Menschenrechtsausschuss des Bundestages - gesagt: Ich bin bereit, bei den
Innenministern und -senatoren der Bundesländer dafür
zu werben, mir zuzustimmen, dass ich eine solche Initiative auf europäischer Ebene ergreifen kann. Ich bin dankbar, dass die Innenminister und -senatoren aller 16 Bundesländer einstimmig beschlossen haben, sie seien
einverstanden, dass der Bundesinnenminister eine solche
Initiative ergreift. Dies habe ich im April im Rat der europäischen Justiz- und Innenminister getan.
({2})
Zunächst war es nur eine Ankündigung, und heute haben wir es, weil es auf der Tagesordnung stand, etwas
substanzieller beraten. Ich hatte es mit dem schwedischen Kollegen, dem slowenischen Kollegen - der amtierenden Präsidentschaft und dem französischen Kollegen - Frankreich wird die Präsidentschaft - übernehmen beraten. Wir sind auch heute nicht zu einer abschließenden Entscheidung gekommen. Ich bleibe dabei, dass es
richtig ist - so war die Beschlussfassung der Konferenz
der Innenminister der Bundesländer -, dass wir einen
Beitrag im Rahmen einer europäischen Aktion leisten
wollen. Davon sollten wir nicht abgehen.
({3})
- Wir haben heute keine Zahlen genannt, geschweige
denn beschlossen. So weit sind wir nicht.
Weil andere davon sprachen, sie machten bereits etwas und hätten nationale Quoten, habe ich in den Beratungen darauf hingewiesen, dass Deutschland in jedem
Monat durchschnittlich mehr als 500 Asylbewerber und
Flüchtlinge aus dem Irak aufnimmt. Es ist keineswegs
so, dass keine Menschen aus dem Irak nach Deutschland
kämen und hier Aufnahme fänden. Trotzdem sollten wir
einen weiteren Schritt tun.
Heute haben sich all diejenigen, die sich im Rat der
Justiz- und Innenminister geäußert haben - auch der zuständige Kommissar und Vizepräsident Barrot; geäußert
haben sich Frankreich, Schweden, Großbritannien, die
Niederlande, Slowenien usw. -, sehr für unsere Initiative
ausgesprochen. Ziel ist es, dass wir spätestens unter französischer Präsidentschaft - möglichst im September, so
habe ich es mit dem Kollegen vor zwei Wochen vorbe17622
sprochen - zu einer Beschlussfassung kommen und hierbei mit dem UNHCR zusammenwirken. Natürlich sollen
auch die europäischen Mitgliedstaaten, die sich an einer
solchen Aktion solidarisch beteiligen, daran mitwirken
können, welche Menschen geeignet sind, in welchem
Land Aufnahme zu finden, wer besonders verfolgt ist
und wer bessere und wer schlechtere Rückkehrperspektiven hat.
({4})
Deswegen ist, mit Verlaub, die Beschlussempfehlung
des Ausschusses richtig und der Antrag falsch. Er ist zu
schematisch; er löst das Problem nicht.
Aber wir sind ja in der Sache nicht auseinander.
({5})
- Sie vielleicht schon.
({6})
- Es gibt doch keine Formeln. Ich habe im Gegensatz zu
Ihnen etwas getan. Ich habe ziemlich viel getan, damit
wir hier vorankommen und das Problem gelöst wird.
({7})
Ich erläutere Ihnen, wie wir es am besten lösen und
einen europäischen Konsens zustande bringen können.
Es ist übrigens den Menschen und der Region mehr gedient, wenn es eine gemeinsame europäische Initiative
gibt. Dafür habe ich auch das Einvernehmen der Innenminister aller Bundesländer, das ich dazu brauche, was
auch richtig so ist.
Wir haben gesagt, wir müssten doch denjenigen helfen, die besonders verfolgt sind. Das sind nun einmal die
religiösen Minderheiten, wie es im europäischen Sprachgebrauch heißt. Wenn Sie im Irak genau hinschauen,
dann glauben Sie kaum, welche religiösen Minderheiten
unter den Flüchtlingen besonders bedrängt und verfolgt
sind. Besonders schlecht haben es die Christen. Das darf
man auch unter der Geltung des Grundgesetzes und der
Neutralität sagen.
({8})
Dann muss man bei einer zwischen EU, Aufnahmeland und UNHCR abgestimmten Aufnahmepolitik - Resettlementpolitik - auch bedenken, wer am besten wohin
passt und wen man wo aufnehmen kann. Ich sage das
mal in meiner alemannischen Art. Natürlich könnte man
auch sagen, die Christen sollten möglichst in der Türkei
Aufnahme finden, die Muslime möglichst in Mitteleuropa. Ich halte es ein bisschen anders auch für intelligent, wenn ich an die Chance denke, dass die Menschen
sich einfügen und zusammenpassen. Deswegen kann ich
nicht erkennen, dass es irgendwie diskriminierend sei,
wenn sich die christlichen Kirchen in Deutschland dafür
einsetzen, dass wir in besonderer Weise Christen helfen,
was nicht heißt, dass wir anderen nicht auch helfen.
({9})
Darüber gibt es übrigens in Europa auch großes Einvernehmen. Jedes Mitgliedsland wird sein System nach
seinen eigenen Überzeugungen und Erfahrungen auslegen. Verabredet ist, dass jedes Land im Rahmen der europäischen Aktion daran mitwirken kann, zusammen mit
dem UNHCR mitzubestimmen, wen wir aufnehmen.
Ich habe mit dem Vertreter der Innenministerkonferenz, dem Berliner Innensenator Körting, verabredet,
nicht bis zu einer formalen europäischen Beschlussfassung zu warten. Auch das habe ich angekündigt, und ich
habe dafür geworben, dass andere Mitgliedstaaten auch
so verfahren. Vielmehr haben wir besprochen, ob wir
nicht im Vorgriff auf eine europäische Beschlussfassung
jetzt schon handeln sollten. Einige Länder sind schon dabei.
Herr Kollege Körting und ich werden mit den Innenministern und -senatoren der Bundesländer in dieser
Frage in den nächsten Tagen Kontakt aufnehmen. Zwar
muss eine europäische Aktion, bei der wir - in Abstimmung mit dem UNHCR - mitreden, wer in Deutschland
aufgenommen wird, das Ziel bleiben, aber wir können in
Erwägung ziehen, im Vorgriff auf diese Aktion schon
jetzt zu handeln. Ich werbe dafür, das zu tun.
Wenn wir in diesem Sinne ein starkes Einvernehmen
erzielen, dann wird dies auch die Einigkeit der Innenminister und -senatoren der Länder fördern. Ich werbe dafür, dass wir in dem Stil, in dem wir diese Debatte geführt haben, aufeinander zugehen, es gemeinsam
angehen und uns nicht wieder durch Profilierungsversuche auseinandertreiben lassen.
Herzlichen Dank.
({10})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Ulla Jelpke, Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seit
über einem Jahr diskutiert der Innenausschuss über die
humanitäre Hilfe für irakische Flüchtlinge. Wir haben
damals den Antrag der Linken diskutiert, die ihn zuerst
eingebracht hat. Dann folgte der Antrag der Grünen. Die
Anträge sind abgelehnt worden.
Heute diskutieren wir über Soforthilfe für Flüchtlinge
aus dem Irak; es geht nicht um eine Hilfe zu irgendeinem
späteren Zeitpunkt. Es wurde bereits angesprochen, dass
es um fast 5 Millionen Menschen im Irak geht, die auf
der Flucht sind. Etwa 2,2 Millionen Menschen sind innerhalb des Irak auf der Flucht, und 2,7 Millionen Menschen sind in die inzwischen überlasteten Nachbarländer
geflüchtet, die es sich nicht mehr leisten können, diese
Flüchtlinge zu ernähren.
Allein in Deutschland leben zurzeit 25 000 irakische
Flüchtlinge, die anerkannt sind. 9 000 sind nur geduldet.
Sie müssen täglich davon ausgehen, das Land zu verlassen.
Herr Schäuble, zu meinem Erstaunen war heute zumindest zu hören, dass Sie bereit sind, jetzt schon mit
der Hilfe anzufangen. Das ist in der Tat eine neue Information. Am Mittwoch hieß es im Innenausschuss noch,
dass frühestens unter der französischen Ratspräsidentschaft, möglicherweise im Oktober, damit begonnen
werden soll.
Die Linke ist der Meinung, dass Soforthilfe nötig ist.
({0})
Nach einem Jahr intensiver Debatte im Innenausschuss
ist es ein Armutszeugnis, dass die deutsche Ratspräsidentschaft diesen Punkt nicht aufgegriffen hat. Man
muss nicht warten, bis die einzelnen Länder der EU bereit sind, Flüchtlinge aufzunehmen. Die geltende Rechtslage erlaubt es, hier und jetzt mit dem Resettlement-Programm zu beginnen. Das fordern das UNHCR und viele
Flüchtlingsorganisationen seit langem.
Herr Schäuble hat darauf hingewiesen, dass die Länder mit einbezogen werden müssen. Wie lange soll das
denn dauern, wenn erst jedes einzelne Land darüber beraten will, ob es Flüchtlinge aufnimmt? Bisher sind Zahlen zwischen 1 000 und 2 000 Flüchtlingen im Gespräch.
Das halte ich für viel zu wenig.
({1})
Die Kirchen haben sich vorbildlich dafür eingesetzt,
dass die irakischen Flüchtlinge auch in Deutschland aufgenommen werden. Ich bin sicher, dass die Kirchen
nicht der Meinung sind, dass dabei ausschließlich die
christliche Minderheit zu berücksichtigen ist, die in der
Tat besonders verfolgt wird. Wir treten vielmehr dafür
ein, dass die Flüchtlinge unabhängig von ihrer religiösen
Einstellung oder ethnischen Herkunft hier aufgenommen
werden können.
({2})
Zum Schluss möchte ich einen Punkt ansprechen, der
ebenfalls in die Gedanken von Herrn Schäuble einfließen sollte. Sie haben hinsichtlich einer Kleinen Anfrage
der Fraktion Die Linke angekündigt, dass im kommenden Jahr der Asylstatus von 12 500 irakischen Flüchtlingen erneut überprüft werden solle. Das bedeutet, dass die
betroffenen Menschen Angst vor der Zukunft haben,
Angst, möglicherweise in ein Land abgeschoben zu werden, in dem Krieg geführt wird. Das Bundesamt sollte
angewiesen werden, keinerlei Überprüfungen vorzunehmen, sondern den Menschen ihren Asylstatus zu belassen.
({3})
Die Linke will eine klare europäische Regelung für
die Beteiligung an den Resettlement-Programmen. Das
kann gar keine Frage sein. Andere europäische Länder
tun das bereits. Es ist wichtig, dass diejenigen, die es
nicht tun, überzeugt werden; denn die Flüchtlinge aus
dem Irak brauchen unsere Solidarität und vor allen Dingen eine Lösung. Deshalb unterstützen wir den Antrag
der Grünen.
Ich danke Ihnen.
({4})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Kerstin Müller, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Debatte hat gezeigt: Wir sind uns über die dramatische Lage der irakischen Flüchtlinge weitgehend einig.
Wir sind uns ebenfalls darüber einig, dass Deutschland
und die Europäische Union dringend und schnell helfen
müssen, und zwar auch bei der Aufnahme von Flüchtlingen.
({0})
Herr Kollege Mützenich, Sie haben eine gute Rede
gehalten und sicherlich gesehen, dass wir Grüne Ihnen
voll zustimmen.
({1})
Ich bin gespannt, wie Sie sich bei der Abstimmung über
unseren Antrag verhalten werden. Nach Ihrer Rede
müssten die SPD-Fraktion, aber auch Kolleginnen und
Kollegen von der Union unserem Antrag zustimmen.
({2})
Die Aufnahmeländer Syrien und Jordanien dürfen mit
den Flüchtlingen nicht alleine gelassen werden. Sie sind
an der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit und reagieren
teilweise sehr restriktiv auf die Flüchtlinge, zum Beispiel mit Arbeitsverboten, was zur Folge hat, dass die
Flüchtlinge in katastrophalen Verhältnissen leben. Herr
Vaatz und Frau Steinbach, Sie haben das alles auf Ihren
Reisen erfahren. Herr Schäuble, wir begrüßen es sehr,
dass die EU-Innenminister auf deutsche Initiative hin
endlich darüber beraten haben, wie sich die EU im Rahmen von Resettlement-Verfahren an der Aufnahme iraki17624
Kerstin Müller ({3})
scher Flüchtlinge beteiligen kann. Das ist ein wichtiges
humanitäres Signal und eine der zentralen Forderungen
unseres Antrags, der deshalb von vielen Kolleginnen
und Kollegen unterstützt wird.
({4})
Es muss aber auch gesagt werden - dies haben Sie leider unterschlagen, Herr Schäuble -: Dieses Signal war
überfällig. Durch das fast ein Jahr dauernde Hin und Her
in der Koalition in der Frage, wie man mit den irakischen Flüchtlingen verfahren soll, wurde eine schnelle
Lösung auf der europäischen Ebene verhindert; das ist
unverantwortlich. Schon während der deutschen EURatspräsidentschaft hätten Sie die Initiative ergreifen
können.
({5})
Frau Kollegin Müller, vielleicht warten Sie einen Augenblick. Ich stoppe auch Ihre Zeit.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist vonseiten der
Grünen nicht möglich, die Kollegin zu hören. Herr Kollege Reiche, ich bitte Sie, die Gespräche einzustellen
oder außerhalb des Saales fortzuführen.
({0})
Vielen Dank. - Ich will auf den Grund eingehen. Teile
der Union haben lange Zeit gefordert, nur Angehörige
christlicher Minderheiten aufzunehmen. Damit wurden
eine entsprechende Regelung und eine schnelle Einigung
in der Europäischen Union verhindert. Herr Grindel und
Herr Uhl von der Union haben noch vor einigen Tagen gesagt, dass es keine Beschlusslage in der Fraktion dazu
gebe und dass man sich bei der Aufnahme keinesfalls an
den Resettlement-Gruppen des UNHCR orientieren dürfe.
Diese Position ist angesichts des Elends der Flüchtlinge
unhaltbar. Es darf nicht nach religiöser Zugehörigkeit,
sondern es muss nach der Schutzbedürftigkeit der irakischen Flüchtlinge gehen.
({0})
Herr Vaatz, Sie haben es auf Ihrer Reise selbst zu hören bekommen. Der UNHCR in Damaskus hat zu Recht
gesagt: Wir weigern uns, nach diesem Kriterium vorzugehen. Ich möchte Ihnen das Beispiel einer sunnitischen
Frau nennen, die fünf Kinder hat und in Damaskus in einem Kellerloch lebt. Ich glaube, Sie sind mit diesem
Beispiel konfrontiert worden. Sie wurde vertrieben, weil
sie zur sunnitischen Minderheit im Irak gehört, und muss
ihre fünf Kinder mehrere Stunden am Tag in diesem Kellerloch einsperren, damit sie illegal etwas Geld verdienen kann. Ich frage Sie: Ist diese Frau weniger schutzbedürftig als Angehörige christlicher Minderheiten? Das
kann nicht Ihr Ernst sein.
({1})
Herr Schäuble, Sie haben die katholische und die evangelische Kirche erwähnt. Vertreter beider Kirchen waren
auf dieser Reise Ihrer Kollegen mit. Ich möchte den von
uns allen sehr geschätzten Prälaten, Herrn Jüsten, zitieren.
Er hat nämlich nach dieser Reise Folgendes gesagt: Bei
Härtefällen ist die Religion zweitrangig. Da gilt die Geschichte vom barmherzigen Samariter.
({2})
Ich kann Ihnen nur sagen: Er hat recht. Das muss die
Richtlinie von Christinnen und Christen bei der Aufnahme von Flüchtlingen sein. Insofern hoffen wir, dass
es zu einem schnellen Beschluss auf der Ebene der Europäischen Union kommt. Aber ich möchte Sie auch auffordern: Solange die Europäer nicht entscheiden, muss
Deutschland mit gutem Beispiel vorangehen - aber
nicht, indem nach Christen und Nichtchristen unterschieden wird - und schnell und unbürokratisch irakische Flüchtlinge hier aufnehmen. Dazu fordere ich die
Innenminister und die Bundesregierung auf.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärti-
gen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen mit dem Titel „Hilfe für irakische
Flüchtlinge ausweiten - im Irak, in Nachbarländern und
in Deutschland“. Ich weise die Kolleginnen und Kolle-
gen darauf hin, dass uns Erklärungen nach § 31 vor-
liegen, die von zahlreichen Kolleginnen und Kollegen
unterschrieben wurden.1) Der Ausschuss empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9006,
den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 16/7468 abzulehnen. Wir stimmen nun über
die Beschlussempfehlung auf Verlangen der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen namentlich ab. Ich bitte die Schrift-
führerinnen und Schriftführer, ihre vorgesehenen Plätze
einzunehmen. Sind die Plätze an den Urnen besetzt? -
Das ist der Fall. Ich eröffne die Abstimmung.
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall. Ich
schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerin-
nen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen.
Das Ergebnis der namentlichen Abstimmung wird Ihnen
später bekannt gegeben.
Wir setzen die Beratungen fort.
1) Anlagen 4 und 5
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten
Gesetzes zur Änderung des Seelotsgesetzes
- Drucksache 16/9037 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
({0})
- Drucksache 16/9390 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Hans-Michael Goldmann
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. -
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich
um die Reden der folgenden Kolleginnen und Kollegen:
Enak Ferlemann, CDU/CSU, Dr. Margrit Wetzel, SPD,
Hans-Michael Goldmann, FDP, Dorothée Menzner, Die
Linke, Rainder Steenblock, Bündnis 90/Die Grünen, und
die Parlamentarische Staatssekretärin Karin Roth.1)
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9390, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/9037
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in
zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses
angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit auch in dritter Beratung mit den Stimmen des
ganzen Hauses angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 3 sowie die Tagesordnungspunkte 17 a bis 17 d auf:
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Burkhardt Müller-Sönksen, Harald Leibrecht, Florian
Toncar, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Präsident Medwedew beim Wort nehmen
- Drucksache 16/9423 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
17 a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Dr. Werner Hoyer, Sabine Leutheusser-Schnar-
renberger, Harald Leibrecht, weiterer Abgeordne-
ter und der Fraktion der FDP
1) Anlage 7
Für eine konstruktive Zusammenarbeit mit
Russland und einen kritischen Dialog
- Drucksachen 16/4165, 16/7907 Berichterstattung:
Abgeordnete Manfred Grund
Johannes Pflug
Dr. Werner Hoyer
Marieluise Beck ({2})
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe ({3}) zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Volker Beck
({4}), Marieluise Beck ({5}), Alexander
Bonde, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie zu der Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Marieluise Beck ({6}), Volker Beck ({7}), Alexander Bonde, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Aktuelle Entwicklungen in Russland und ihre
Auswirkung auf die Beziehungen zwischen der
EU und Russland
- Drucksachen 16/4932, 16/6241, 16/7187,
16/7873 Berichterstattung:
Abgeordnete Erika Steinbach
Johannes Jung ({8})
Burkhardt Müller-Sönksen
Volker Beck ({9})
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({10}) zu dem Antrag der Abgeordneten Marieluise Beck ({11}), Volker Beck ({12}), Rainder Steenblock und der Fraktion BÜND-NIS 90/
DIE GRÜNEN
Anforderungen an eine strategische Partnerschaft der EU mit Russland
- Drucksachen 16/4155, 16/7906 Berichterstattung:
Abgeordnete Manfred Grund
Markus Meckel
Dr. Werner Hoyer
Marieluise Beck ({13})
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({14}) zu dem Antrag der Abgeordneten Marieluise Beck ({15}), Volker Beck ({16}), Alexander Bonde, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Zusammenarbeit der EU mit Russland stärken
- Drucksachen 16/8420, 16/9464 17626
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg
Markus Meckel
Harald Leibrecht
Marieluise Beck ({17})
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. -
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich
um die Reden der folgenden Kolleginnen und Kollegen:
Karl-Georg Wellmann, CDU/CSU, Gert Weisskirchen,
SPD, Harald Leibrecht, FDP, Wolfgang Gehrcke, Die
Linke, Marieluise Beck, Bündnis 90/Die Grünen.1)
Zusatzpunkt 3. Interfraktionell wird Überweisung der
Vorlage auf Drucksache 16/9423 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie
damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 17 a. Wir kommen zur Be-
schlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu
dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Für
eine konstruktive Zusammenarbeit mit Russland und ei-
nen kritischen Dialog“. Der Ausschuss empfiehlt in sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/7907, den
Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/4165
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Be-
schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Linken, der
SPD und der CDU/CSU bei Gegenstimmen der FDP und
bei Enthaltung der Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 17 b. Beschlussempfehlung des
Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
zu dem Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen zur Beratung ihrer Großen Anfrage mit dem
Titel „Aktuelle Entwicklungen in Russland und ihre
Auswirkung auf die Beziehungen zwischen der EU und
Russland“, Drucksachen 16/4932, 16/6241, 16/7187.
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 16/7873, den Entschließungsantrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? -
Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der Fraktio-
nen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen und bei Ent-
haltung der Fraktion der FDP angenommen.
Tagesordnungspunkt 17 c. Beschlussempfehlung des
Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Anforderungen
an eine strategische Partnerschaft der EU mit Russland“.
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 16/7906, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/4155 abzu-
lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen der Fraktionen Die
Linke, SPD und CDU/CSU bei Gegenstimmen der Frak-
1) Anlage 8
tion Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der Fraktion der FDP angenommen.
Tagesordnungspunkt 17 d. Beschlussempfehlung des
Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion
Bündnis90/Die Grünen mit dem Titel „Zusammenarbeit
der EU mit Russland stärken“. Der Ausschuss empfiehlt
in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9464,
den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 16/8420 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen?
({0})
Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit
den Stimmen der Fraktionen Die Linke, der SPD und der
CDU/CSU bei Gegenstimmen des Bündnisses 90/Die
Grünen und der FDP angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 sowie den Zusatzpunkt 4 auf:
18 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({1})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Anette Hübinger, Dr. Christian Ruck, Dr. Wolf Bauer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Sascha
Raabe, Gregor Amann, Elvira Drobinski-Weiß,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD
Die entwicklungspolitische Zusammenarbeit
Deutschlands im Rahmen der strategischen
Partnerschaft der Europäischen Union mit
den Staaten Lateinamerikas und der Karibik zielgerichtet stärken
- zu dem Antrag der Abgeordneten Heike Hänsel, Dr. Diether Dehm, Wolfgang Gehrcke,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Zum EU-Lateinamerika-Gipfel in Lima Impulse für solidarische und gleichberechtigte Beziehungen zwischen der EU und Lateinamerika
- zu dem Antrag der Abgeordneten Thilo Hoppe,
Marieluise Beck ({2}), Volker Beck
({3}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Die strategische Partnerschaft zwischen der
Europäischen Union, Lateinamerika und
der Karibik durch eine intensive Umweltund Klimakooperation beleben
- Drucksachen 16/9073, 16/9074, 16/8907,
16/9458 Berichterstattung:
Abgeordnete Anette Hübinger
Dr. Karl Addicks
Thilo Hoppe
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
ZP 4 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({4}) zu dem Antrag der Abgeordneten Marina
Schuster, Dr. Werner Hoyer, Jens Ackermann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Die Beziehungen zu Lateinamerika und den
Staaten der Karibik stärken und den EU-Lateinamerika/Karibik-Gipfel zu einer ehrlichen Bestandsaufnahme nutzen
- Drucksachen 16/9056, 16/9475 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Karl-Theodor Freiherr
zu Guttenberg
Niels Annen
Wolfgang Gehrcke
Kerstin Müller ({5})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Anette Hübinger, CDU/CSU-Fraktion.
({6})
Frau Vorsitzende! Meine Damen und Herren! Der
Gipfel in Lima ist zu Ende. Ich bin der Meinung, dass er
den Beziehungen zwischen Lateinamerika und Europa
sehr gut getan hat.
Bei den zentralen Themen wie Armutsbekämpfung
und globalem Klimaschutz gab es rege Diskussionen,
die zeigten, dass sowohl Europa als auch Lateinamerika
eine enge und ernsthafte Zusammenarbeit wollen, die
auf eine strategische Partnerschaft zielt. Dabei sind das
klare Bekenntnis der lateinamerikanischen Staaten zu
den Millenniums-Entwicklungszielen und der Wille,
diese sogar zu übertreffen, ein großer Fortschritt und
eine wichtige Grundlage für unsere weitere Zusammenarbeit.
Gerade bei der Überwindung der sozialen Ungleichheiten wird es davon abhängen, wie sehr der einzelne
Staat bereit ist, diesen Konflikt durch den Aufbau von
Instrumenten zu lösen. Denn trotz steigender Sozialausgaben in vielen lateinamerikanischen Staaten in den letzten Jahren und trotz sozialpolitischer Programme wie
des brasilianischen Programms „Bolsa Família“ liegt die
Entwicklung im sozialen Bereich noch weit hinter dem
guten wirtschaftlichen Wachstum der letzten Jahre zurück.
Die im Antrag der Koalitionsfraktionen enthaltenen
Forderungen zu nachhaltigen Entwicklungen waren in
Lima immer wieder wichtige Gesprächsthemen auf
multilateraler Ebene sowie in vielen bilateralen Dialogen
unserer Kanzlerin. Denn die entwicklungspolitische Zusammenarbeit hat durch den breit angelegten Ansatz in
der Armutsbekämpfung und in Fragen des Klimaschutzes eine Schlüsselrolle. So wurde auch in der Gipfelerklärung zu Recht unterstrichen, dass die Möglichkeiten
der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit für die Bekämpfung der sozialen Ungleichheiten noch stärker als
bisher genutzt werden müssen.
({0})
Aber auch in unserer Arbeit sehe ich noch erhebliches
Potenzial, wenn es darum geht, flexibler auf regionale
Veränderungen zu reagieren, unsere zahlreichen Aktivitäten im internationalen Bereich besser aufeinander abzustimmen und Schnittmengen zu gestalten. Ich denke
an dieser Stelle an internationale Projekte im Forschungs- und Bildungsbereich. Doch auch im Wirtschafts- und Energiebereich gibt es noch viel Potenzial,
mit entwicklungspolitischen Instrumenten eine wirklich
nachhaltige Entwicklung zu erreichen.
Für eine erfolgreiche Zusammenarbeit ist es aber
ebenso wichtig, dass wir von den lateinamerikanischen
Partnern ganz klare Hinweise bekommen, was genau zu
tun ist und welche Unterstützung in welchem Bereich
gebraucht wird. Oft müssen keine großen Summen investiert werden, damit die Lebenssituation der Menschen erheblich verbessert werden kann.
({1})
Im Gespräch mit der Bundeskanzlerin wies der peruanische Staatspräsident auf die Notwendigkeit von
Rauchabzugsanlagen für den ländlichen Raum hin, damit die Lebens- und Gesundheitssituation der Menschen,
die in einem einzigen Raum wohnen und kochen, verbessert werden kann.
Dieser gegenseitige Austausch spielt für den Entwicklungserfolg eine ganz entscheidende Rolle; denn jedes Land hat seine eigenen spezifischen Herausforderungen, die wiederum sehr individuelle Ansätze benötigen.
Differenzierte Ansätze sind deshalb in unseren Antrag
eingeflossen.
Wenn wir von Lateinamerika sprechen, dann muss
uns klar sein, dass wir einer Vielfalt von Staaten und
Völkern gegenüberstehen, die in ihrer Ausprägung nicht
unterschiedlicher sein könnten. Diese notwendige Flexibilität muss meines Erachtens auch die EU bei den noch
offenen Handels- und Assoziierungsabkommen mit der
Andenregion, mit Zentralamerika und mit dem Mercosur
deutlich zeigen. Dabei sollte vielleicht - darauf verwies
Präsident García meines Erachtens zu Recht - zuerst mit
denen begonnen werden, die es auch ernsthaft wollen.
In der lateinamerikanischen Vielgestaltigkeit nehmen
wir aber auch Entwicklungen wahr, die als sehr kritisch
zu bewerten sind, Entwicklungen wie beispielsweise die
in Venezuela. Menschenrechtsverletzungen stehen dort
zunehmend auf der Tagesordnung, das zeigt zum Beispiel das jüngst per Dekret erlassene Geheimdienstgesetz. Durch staatszentralistische Maßnahmen werden die
Ressourcen der venezolanischen Bevölkerung für die eigenen populistischen Zwecke des Staatspräsidenten
Chávez missbraucht.
({2})
Meine Damen und Herren von der Fraktion Die
Linke, es wäre wirklich an der Zeit, dass Sie sich endlich
eingestehen, dass die Politik, die Sie wiederum in Ihrem
Antrag verfolgen und auch in anderen Ländern unterstützen, den Menschen keine Zukunft gibt.
({3})
Den Menschen eine Zukunft zu eröffnen, ist ein zentrales Anliegen unserer entwicklungspolitischen Zusammenarbeit. Deshalb werden Themen wie Bildung, Aufbau von Sozialsystemen und rechtsstaatliche Strukturen,
die Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung durch
Eliten und Unternehmen, die Einführung von gerechten
Steuersystemen, Good Governance, aber auch Umweltfragen in unseren politischen Dialogen immer wieder
eine große Rolle spielen. Wir wissen nämlich aus eigener Erfahrung, wie wichtig diese Sektoren für den Aufbau einer funktionierenden Gesellschaft und für eine
nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung sind. Gerade
wir im ressourcenarmen Deutschland wissen, was ein
gutes Bildungssystem bedeutet. Deshalb werden wir
auch in den lateinamerikanischen Ländern unermüdlich
dafür werben, in die Bildung der Menschen zu investieren. Nur so wird sich das derzeitige wirtschaftliche
Wachstum auch in Zukunft nachhaltig entwickeln.
({4})
In diesem Zusammenhang möchte ich als ein gelungenes Beispiel der ressortübergreifenden Arbeit zwischen dem BMZ und dem BMBF in Mexiko den Start eines Masterstudiengangs im Umweltbereich nennen.
Kooperationen gerade auch im Umweltbereich werden
in Zukunft eine immer größere Rolle spielen. Denn
keine Region verfügt über so viele geschützte und ökologisch wertvolle Gebiete wie Lateinamerika.
Die größte Herausforderung für uns alle wird meines
Erachtens dabei sein, uns gemeinsam bei den globalen
Fragen des Klimaschutzes, des Walderhaltes und des Erhalts der Biodiversität der Verantwortung zu stellen und
zu international gültigen Regeln zu kommen. Einzelprojekte können hierbei einen wichtigen und wertvollen
Beitrag leisten. Als Beispiele wären zu nennen: unsere
Unterstützung bei den Regionalprogrammen des Amazonas-Paktes oder das sich in der Prüfung befindliche
ITT-Projekt in Ecuador.
({5})
Klar ist auch, dass wir als Industrienation dabei eine
Bringschuld haben. Deshalb müssen wir auch eine Vorreiterrolle übernehmen. Die Zusage der Bundeskanzlerin, bis 2012 für den Walderhalt 500 Millionen Euro zusätzlich zur Verfügung zu stellen und danach jährlich
den gleichen Betrag, ist ein wichtiger Vorstoß.
Auch benötigen wir eine ständige Dialogplattform,
um diese wichtigen Themen zu diskutieren. Brasilien
wird im November dieses Jahres zu einer internationalen
Konferenz einladen, auf der die Fragen Agrartreibstoffe,
Nahrungsmittelsicherheit und Klimawandel diskutiert
und Lösungsansätze entwickelt werden sollen.
Begreifen wir Lateinamerika in seiner Vielfältigkeit
so, wie wir im vereinten Europa unsere verschiedenen
Kulturen erleben. Es ist unsere gemeinsame Aufgabe,
für die großen zentralen Herausforderungen unserer Zeit
gemeinsame Lösungen zu finden, damit die Fiktion einer
strategischen Partnerschaft zwischen Lateinamerika und
Europa auch Realität wird. Die Entwicklungspolitik von
deutscher wie auch von europäischer Seite kann dabei
wertvolle und unterstützende Arbeit leisten.
Herzlichen Dank.
({6})
Ich gebe nun das Wort der Kollegin Marina Schuster,
FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich möchte zunächst auf meine Vorrednerin
eingehen. Ich weiß nicht, welches Gipfeldokument Sie
gelesen haben. Ich kann jedenfalls in der 15-seitigen Abschlusserklärung wenig Konkretes finden. Substanzielle
Ergebnisse sind ebenfalls ausgeblieben.
({0})
So war dieser Gipfel wie auch die Gipfel zuvor leider
eine Veranstaltung mit hohem Symbolcharakter, aber
ohne neue Ergebnisse. Das ist wirklich sehr schade.
({1})
Vor fast zehn Jahren, 1999, ist diese strategische Partnerschaft begründet worden. Es ist schon gut, wenn man
sich die alten Gipfelerklärungen anschaut. 1999 wurden
insgesamt 69 Punkte vereinbart. Man muss schon die
kritische Frage stellen, was bisher herausgekommen ist
und was bisher umgesetzt worden ist. Die Ergebnisse
sind einfach mau.
Ich hatte die Hoffnung, dass der Gipfel in Lima neuen
Schwung bringt. Deutschland und die EU waren einfach
zu wenig engagiert und haben zu wenige ehrgeizige
Ziele vereinbart. Das rächt sich zu einem Zeitpunkt, zu
dem sich die politische Landkarte in Lateinamerika
komplett verändert hat und sehr viel komplexer ist als
noch vor zehn Jahren.
Jahrelang sind wir wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass wir der natürliche Partner Lateinamerikas sind, weil wir in der Tat viele Werte teilen,
({2})
was die Kultur, die Religion und die Tradition angeht.
Aber der große Fehler war, zu glauben, dass uns der
Kontinent so nahe ist, dass wir uns nicht mehr aktiv darum bemühen müssen.
({3})
Jetzt wundern wir uns, dass China, Indien und Russland vor Ort an Einfluss gewinnen und dass sie ihre Beziehungen gefestigt haben. Da muss ich auch an die
Adresse der Grünen sagen: Wer sich an die Politik von
Joschka Fischer erinnert, der muss auch feststellen, dass
es in dieser Zeit keine neuen Impulse gab.
({4})
Glücklicherweise ist das Interesse der lateinamerikanischen Staaten an den Beziehungen zu Deutschland und
zur Europäischen Union sehr hoch. Wir müssen endlich
diese ausgestreckte Hand ergreifen.
Die Staaten Lateinamerikas haben ein neues Selbstbewusstsein gewonnen. Der Rohstoffboom und die asiatische Nachfrage nach Energie und Lebensmittel tun das
Ihre dazu. In diesem Zusammenhang erwarte ich von der
Bundesregierung, dass sie definiert, welche Rolle
Lateinamerika für die künftige Energiediversifizierung
Deutschlands und der Europäischen Union spielen soll.
Zudem müssen wir uns eingestehen, dass sich unsere
Hoffnungen auf eine lateinamerikanische Integration
nach europäischem Vorbild auf absehbare Zeit wohl
nicht erfüllen werden. Dies ist sehr schade. Die Gründe
dafür sind aber auch bekannt.
Zum einen ist es die nachlassende Bereitschaft der lateinamerikanischen Staaten, nationale Souveränität abzutreten. Dafür ist Mercosur ein gutes Beispiel. Ob die
seit Jahren geplanten Assoziierungsabkommen mit dem
Mercosur oder auch mit der Anden-Gemeinschaft überhaupt noch zustande kommen, ist die große Frage. Bei
der Erklärung der Mercosur/EU-Troika, die jetzt im Internet steht, ist das Deckblatt größer als die Erklärung
selbst. Ich glaube, da sind wir auf keinem guten Weg.
Zum anderen müssen wir Europäer uns fragen, was
unsere neue Initiative ist. Es ist vollkommen richtig, auf
den globalen Freihandel zu setzen. Auch wir wünschen
uns endlich den Durchbruch bei den Doha-Verhandlungen. Wir müssen aber auch eine ehrliche Bestandsaufnahme vorlegen und überlegen, inwieweit wir EU-weit
bilaterale und subregionale Abkommen forcieren müssen, so wie wir das im Falle von Chile und Mexiko gemacht haben.
({5})
Ansonsten verpassen wir den Zug, auf den andere schon
längst aufgesprungen sind.
Ich begrüße, dass die Kanzlerin Deutschland in Lima
prominent vertreten hat und dass sie sich von Chávez
nicht hat aus der Ruhe bringen lassen.
({6})
Es ist aber die Frage, mit welchen Initiativen die Bundesregierung jetzt an die Umsetzung herangehen und
wie sie zum Beispiel die Außenwirtschaft und den Tourismus forcieren will. Es ist auch ganz drängend, im Bereich der Sicherheitspolitik enger zusammenzuarbeiten.
Wir haben Probleme im Bereich der Bekämpfung des
Drogenhandels und des Terrorismus, aber auch in der
Frage der Abrüstung. Da ist viel zu tun. Außerdem besteht bei der auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik
enormer Handlungsbedarf.
({7})
Ich frage mich, welche konkreten Ziele und welchen
Zeitrahmen die Bundesregierung vereinbaren will. Denn
zu einer strategischen Partnerschaft gehört aus meiner
Sicht eine umfassende Zusammenarbeit in allen wichtigen Politikbereichen. Eines darf nicht passieren: dass
wir den Begriff „strategische Partnerschaft“ als dauernde
Wunschvorstellung in unsere Dokumente schreiben und
dass dies nicht Wirklichkeit wird.
({8})
Gerade für Lateinamerika gilt, dass diese Partnerschaft
endlich mit Leben erfüllt werden muss. Dafür ist es aus
liberaler Sicht höchste Zeit.
({9})
Das Wort hat der Kollege Dr. Sascha Raabe, SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Wir haben die vorliegenden Anträge vor
einigen Wochen in erster Lesung diskutiert. In unserem
Koalitionsantrag haben wir einige Anregungen und
Wünsche in Richtung Bundesregierung - an der Spitze
die Bundeskanzlerin - formuliert, die wir heute nachträglich beschließen. Der Lateinamerika-Gipfel hat ja in
der Zwischenzeit stattgefunden. Als Augenzeuge dieser
Reise - ich durfte die Kanzlerin für die SPD-Fraktion
auf dieser Reise begleiten - kann ich Ihnen sagen, dass
sie die wesentlichen Punkte, die wir in dem Antrag der
Koalition vereinbart hatten, bei ihren Gesprächen in allen vier Ländern und auf dem Gipfel angesprochen hat.
Wir haben in unserem Antrag eine Vertiefung der Beziehungen zwischen der Europäischen Union und Lateinamerika nicht nur allgemein gefordert, sondern das
auch mit ein paar konkreten Inhalten gefüllt. Zum Beispiel muss der Umwelt- und Ressourcenschutz auch
dazu führen, dass das Erbe, das wir unserer nachfolgenden Generation, den Kindern, im Bereich der biologischen Vielfalt hinterlassen - dazu hat kurz danach die
Konferenz in Bonn stattgefunden -, wirkungsvoll geschützt wird. Das geht natürlich nicht, wenn wir den Entwicklungsländern und unseren lateinamerikanischen
Partnern - zum Beispiel Brasilien oder Ecuador, wo es
große Regenwaldflächen gibt - nur mit dem moralischen
Zeigefinger sagen: Ihr müsst euren Wald schützen. - Natürlich müssen diese Länder ihre Verantwortung wahrnehmen. Aber unsere Bundeskanzlerin hat sich im Sinne
unseres Antrags dazu bekannt, dass Deutschland weiterhin und verstärkt seinen finanziellen Beitrag dazu leisten
wird, dass diese Wälder geschützt werden und dass die
lokale Bevölkerung, die um diese Wälder lebt, und die
indigene Bevölkerung, die in diesen Wäldern lebt, Ein17630
kommensalternativen erhalten, wenn sie keine Wälder
roden.
Wir haben schon vor vielen Jahren in Brasilien - das
war die erste Station der Reise - das PPG-7-Projekt gestartet, um den amazonischen Regenwald zu schützen.
Mittlerweile sagt man in Brasilien oft - das habe ich vor
Ort gehört -: Das ist eigentlich das PPG-1-Projekt, weil
Deutschland der einzige Geldgeber ist, der dieses Projekt noch wirkungsvoll unterstützt. Deshalb hat man in
Brasilien einen großen Respekt und eine große Anerkennung dafür, was wir im Bereich des Tropenwaldschutzes
leisten.
Vor dem Gespräch, das die Kanzlerin mit dem ecuadorianischen Präsidenten Correa geführt hat, hatte ich
Gelegenheit, mit ihr über den Vorschlag der ecuadorianischen Regierung zu sprechen, dass wir in einem besonders wertvollen Abschnitt des Amazonas, in dem die
höchste Biodiversitätsdichte der Welt herrscht, in dem
also die meisten Pflanzen- und Tierarten vorkommen abgekürzt: im ITT-Gebiet; eine Parlamentarierdelegation
hat sich dies zuvor auf einer Reise in das Amazonasgebiet angeschaut -, helfen. Denn unter dem Boden dieses
Gebietes liegen die größten Erdölreserven Ecuadors.
Ecuador ist ein armes Land; es kann nicht ohne Weiteres auf solche Einnahmen verzichten. Denken Sie daran, welche hohen Erdölpreise wir gerade haben. Da
gäbe es viel zu gewinnen, was dieses Land für Infrastruktur, Bildung, Gesundheit und die Armutsbekämpfung einsetzen könnte. Deswegen hat Ecuador gesagt:
Wir erkennen unseren Teil der Verantwortung an. Wir
verzichten auf die Hälfte der möglichen Einnahmen aus
der Erdölförderung, wenn die Weltgemeinschaft die
zweite Hälfte kompensiert und wir dieses Geld für die
Bevölkerung vor Ort nehmen können, damit sie sich andere Einkunftsquellen erschließen kann.
Auch das hat die Kanzlerin in einem Gespräch mit
Correa unterstützt. Wir von der Koalition werden gemeinsam mit den Grünen dazu einen Antrag in den Bundestag einbringen, in dem zum Ausdruck gebracht wird,
dass wir dieses Projekt unterstützen wollen.
Die Kanzlerin hat auch beim Thema Biokraftstoffe
das, was wir in unserem Antrag beschrieben haben und
auch in vielen anderen Papieren zu lesen ist, sehr differenziert und positiv rübergebracht: Biokraftstoffe, zum
Beispiel aus Zuckerrohr gewonnenes Ethanol, können
und dürfen nur dann nach Europa eingeführt werden,
wenn sie aus nachweislich zertifiziertem Anbau stammen. Es darf also weder zu ökologischen Beeinträchtigungen - auch nicht zu indirekten Beeinträchtigungen,
die sich daraus ergeben, dass der Sojaanbau auf Regenwaldflächen verlagert wird - noch zu einer Konkurrenz
zur Nahrungsmittelproduktion kommen; denn auch die
Ernährungssicherheit ist uns wichtig.
Die Kanzlerin hat in Brasilien im Sinne unseres Antrages durchaus den richtigen Ton getroffen. Es ist bekannt, dass Präsident Lula in der Produktion von Biokraftstoffen große Chancen sieht. Es ist berechtigt, dass
er diese Chancen wahrnehmen will. Er hat aber schon
die Botschaft verstanden, die wir vom deutschen Parlament über unsere Bundeskanzlerin ausgesandt haben:
Wir wollen darauf achten, dass die ökologischen und sozialen Kriterien gewahrt bleiben.
Apropos soziale Kriterien: Gerade in Lateinamerika,
auf einem Kontinent, der hohe wirtschaftliche Wachstumsraten verzeichnet - in den letzten Jahren lag die
Wachstumsrate in den meisten Ländern bei 7 bis 8 Prozent; davon können wir nur träumen -, ist es ganz wichtig, dass das Problem der Verteilungsungerechtigkeit gelöst wird. Auf keinem anderen Kontinent gibt es eine
solch starke Ungleichverteilung zwischen Arm und
Reich. Hier konnten wir, die deutsche Delegation, im
Gespräch mit den Unternehmern immer wieder deutlich
machen, dass wir in Lateinamerika eine soziale Marktwirtschaft fördern wollen. Das bedeutet, dass die oberen
Schichten durch eine gerechte Besteuerung ihrer Verantwortung gerecht werden müssen, damit soziale Sicherungssysteme aufgebaut werden können. Sonst entsteht
dort - auch das konnten wir rüberbringen - ein explosiver Sprengstoff, der für den Kontinent nicht gut ist.
In einigen Zeitungen und von einigen kritischen
NGOs wurde beklagt, dass auf dem Gipfel, was Dokumente anbelangt, keine riesigen Ergebnisse erzielt wurden. Ich glaube, internationale Gipfel haben das an sich.
Es ist aber wichtig, dass eine Annäherung zwischen Europa und Lateinamerika in Freundschaft erreicht wurde
und dass die Themen richtig besetzt wurden. Jetzt liegt
es an uns Parlamentariern in Deutschland, in Europa und
in unseren lateinamerikanischen Partnerländern, die benannten Themen mit Leben zu erfüllen und konkrete
Ziele zu erreichen, sei es durch Wirtschaftsabkommen
mit Lateinamerika, durch verschiedene Assoziierungsabkommen, oder sei es - das würde Europa und Lateinamerika sicherlich helfen - durch einen Durchbruch in
der WTO-Runde.
Ich möchte ein paar Sätze zur letzten Station unserer
Reise, zu Kolumbien, äußern. In erster Lesung haben wir
sehr emotional über Kolumbien diskutiert. Auf der einen
Seite erkennen wir dort, was die Sicherheit angeht, große
Fortschritte. Die Journalisten und die Wirtschaftsdelegation konnten sich davon überzeugen, dass sich viele Verbesserungen ergeben haben: Die Zahl der Morde und der
Entführungen sowie das Ausmaß des Terrors sind zurückgegangen.
Die größte dort verbliebene Terrororganisation ist die
FARC. Sie hält weiterhin viele Geiseln gefangen, und
zwar unter schlimmen Bedingungen. Vor einigen Wochen konnten wir in den Medien von einem Computerfund der kolumbianischen Regierung lesen. In der letzten Debatte wurde die Frage gestellt, ob die Daten echt
sind oder ob der Computer manipuliert wurde. Mittlerweile wissen wir: Diese Computer sind nicht manipuliert
worden.
Bei der Auswertung der Daten auf diesem Computer
wurden erschreckende Erkenntnisse gewonnen: Die venezolanische Regierung mit Präsident Chávez hat der
FARC, einer Terrororganisation, Geld und Waffen angeboten. Zugleich ließ sich Chávez anlässlich der Vermittlung einer möglichen Geiselfreilassung als Friedensengel feiern. Es ist der Gipfel der Heuchelei, die
Geiselnehmer zu unterstützen und dann zu sagen, die
Geiseln sollten befreit werden.
Im Spiegel konnten wir über einen Kollegen im Parlament, Wolfgang Gehrcke von der Linkspartei - er wird
hier noch reden -, lesen, dass er sich laut der Daten auf
diesem Computer im Jahr 2005 mit dem Sohn des Terroristenführers getroffen hat, um konkret über eine Unterstützung und über Strategien zu verhandeln, wie die
Linkspartei/PDS die Terrororganisation FARC unterstützen kann.
({0})
Das Ergebnis war: Herr Gehrcke hat von sich aus dem
Sohn des Terroristenführers angeboten, darauf hinzuwirken, dass die FARC von der Terrorliste der EU gestrichen wird.
({1})
Das hat die Linke gleich hier im Parlament umgesetzt;
ein entsprechender Antrag wurde dem Parlament vorgelegt.
Herr Gehrcke, ich muss sagen: Das ist unter Demokraten ein wirklich erschreckender Vorgang.
({2})
Es war wirklich erschreckend, dass Sie in der letzten
Parlamentssitzung tränenrührig gesagt haben: „Liebe
Freunde von der FARC“ - na ja, das haben Sie nicht gesagt -, „ich gebe euch einen sozialistischen Rat: Lasst
die Geiseln frei!“, Sie aber gleichzeitig die FARC verharmlosen und sagen, dass Sie die FARC von der Terrorliste nehmen wollen. Sie sagen immer, dass man mit den
Leuten verhandeln muss. Man muss aber sehen, dass
man hier im Grunde in einer Erpressungssituation verhandelt. Wenn ein Entführer eine Pistole an den Kopf
des Entführten hält, dann kann die Polizei in dem Moment
nur verhandeln und sagen: Bevor du ihn erschießt …
Wie Sie das darstellen, klingt das so, als wollten Sie
die FARC zu einer sozialen Bewegung machen, mit deren Vertretern man auf Augenhöhe verhandeln kann, um
soziale Probleme zu lösen. Sie wollen die FARC nicht
kriminalisieren. Die FARC muss aber kriminalisiert werden, weil das eine Mörder- und Terroristenbande ist, die
Massaker verursacht und Leid über die Zivilbevölkerung
gebracht hat.
Herr Kollege, bitte.
Sie dürfen nicht immer auf dem linken Auge blind
sein. Wir Demokraten müssen alle Terroristen ablehnen,
egal ob sie von links oder von rechts kommen. Es ist
eine Schande, dass Sie diese Organisation unterstützen,
Herr Gehrcke.
({0})
Ich komme zu Tagesordnungspunkt 15 zurück und
gebe das von den Schriftführerinnen und Schriftführern
ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über
die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses
zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit
dem Titel „Hilfe für irakische Flüchtlinge ausweiten - Im
Irak, in Nachbarländern und in Deutschland“ - Drucksachen 16/7468 und 16/9006 - bekannt: Abgegebene
Stimmen 528. Mit Ja haben gestimmt 387, mit Nein haben gestimmt 141, Enthaltungen 0. Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 527;
davon
ja: 387
nein: 140
Ja
CDU/CSU
Ulrich Adam
Peter Albach
Peter Altmaier
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Dr. Wolf Bauer
Günter Baumann
({0})
Veronika Bellmann
Otto Bernhardt
Clemens Binninger
Renate Blank
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
({1})
Wolfgang Bosbach
Michael Brand
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Georg Brunnhuber
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Leo Dautzenberg
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Maria Eichhorn
Dr. Stephan Eisel
Anke Eymer ({2})
Ilse Falk
Dr. Hans Georg Faust
Enak Ferlemann
Hartwig Fischer ({3})
Dirk Fischer ({4})
Axel E. Fischer ({5})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Dr. Hans-Peter Friedrich
({6})
Erich G. Fritz
Jochen-Konrad Fromme
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Dr. Jürgen Gehb
Norbert Geis
Ralf Göbel
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Dr. Karl-Theodor Freiherr zu
Guttenberg
Olav Gutting
Ursula Heinen
Uda Carmen Freia Heller
Jürgen Herrmann
Bernd Heynemann
Ernst Hinsken
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Klaus Hofbauer
Joachim Hörster
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Hubert Hüppe
Susanne Jaffke-Witt
Dr. Peter Jahr
Andreas Jung ({7})
Bartholomäus Kalb
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster
Siegfried Kauder ({8})
Volker Kauder
Jürgen Klimke
Julia Klöckner
Jens Koeppen
Kristina Köhler ({9})
Norbert Königshofen
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Dr. Martina Krogmann
Dr. Hermann Kues
Dr. Karl Lamers ({10})
Andreas G. Lämmel
Helmut Lamp
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Ingbert Liebing
Eduard Lintner
Dr. Klaus W. Lippold
Patricia Lips
Dr. Michael Luther
Stephan Mayer ({11})
Wolfgang Meckelburg
Dr. Michael Meister
Friedrich Merz
Laurenz Meyer ({12})
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Eva Möllring
Marlene Mortler
Carsten Müller
({13})
Stefan Müller ({14})
Dr. Gerd Müller
Hildegard Müller
Bernd Neumann ({15})
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Ronald Pofalla
Daniela Raab
Hans Raidel
Dr. Peter Ramsauer
Peter Rauen
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche ({16})
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Albert Rupprecht ({17})
Peter Rzepka
Anita Schäfer ({18})
Hermann-Josef Scharf
Hartmut Schauerte
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Bernd Schmidbauer
Christian Schmidt ({19})
Andreas Schmidt ({20})
Ingo Schmitt ({21})
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Wilhelm Josef Sebastian
Kurt Segner
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Jens Spahn
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Gero Storjohann
Andreas Storm
Max Straubinger
Thomas Strobl ({22})
Michael Stübgen
Hans Peter Thul
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Andrea Astrid Voßhoff
Gerhard Wächter
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg
Peter Weiß ({23})
Gerald Weiß ({24})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Anette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth WinkelmeierBecker
Dagmar Wöhrl
Wolfgang Zöller
SPD
Gregor Amann
Niels Annen
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Ernst Bahr ({25})
Doris Barnett
Klaus Barthel
Sören Bartol
Sabine Bätzing
Dirk Becker
Klaus Uwe Benneter
Dr. Axel Berg
Petra Bierwirth
Lothar Binding ({26})
Volker Blumentritt
Kurt Bodewig
Clemens Bollen
Gerd Bollmann
Dr. Gerhard Botz
Bernhard Brinkmann
({27})
Edelgard Bulmahn
Martin Burkert
Christian Carstensen
Dr. Peter Danckert
Karl Diller
Dr. Carl-Christian Dressel
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Detlef Dzembritzki
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Hans Eichel
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Elke Ferner
Rainer Fornahl
Gabriele Frechen
Peter Friedrich
Iris Gleicke
Renate Gradistanac
Angelika Graf ({28})
Dieter Grasedieck
Monika Griefahn
Achim Großmann
Wolfgang Grotthaus
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann
({29})
Nina Hauer
Hubertus Heil
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Stephan Hilsberg
Petra Hinz ({30})
Iris Hoffmann ({31})
Frank Hofmann ({32})
Eike Hovermann
Klaas Hübner
Johannes Jung ({33})
Josip Juratovic
Johannes Kahrs
Ulrich Kasparick
Ulrich Kelber
Christian Kleiminger
Astrid Klug
Walter Kolbow
Fritz Rudolf Körper
Karin Kortmann
Rolf Kramer
Anette Kramme
Ernst Kranz
Nicolette Kressl
Angelika Krüger-Leißner
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Jürgen Kucharczyk
Ute Kumpf
Dr. Uwe Küster
Christine Lambrecht
Christian Lange ({34})
Dr. Karl Lauterbach
Waltraud Lehn
Gabriele Lösekrug-Möller
Dirk Manzewski
Lothar Mark
Katja Mast
Petra Merkel ({35})
Ursula Mogg
Marko Mühlstein
Detlef Müller ({36})
Gesine Multhaupt
Franz Müntefering
Andrea Nahles
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Mechthild Rawert
Steffen Reiche ({37})
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Christel RiemannHanewinckel
Walter Riester
Sönke Rix
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth ({38})
Michael Roth ({39})
Ortwin Runde
Anton Schaaf
Axel Schäfer ({40})
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Dr. Hermann Scheer
Marianne Schieder
Ulla Schmidt ({41})
Silvia Schmidt ({42})
Heinz Schmitt ({43})
Carsten Schneider ({44})
Olaf Scholz
Ottmar Schreiner
Reinhard Schultz
({45})
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Jörg-Otto Spiller
Dr. Ditmar Staffelt
Ludwig Stiegler
Christoph Strässer
Dr. Peter Struck
Joachim Stünker
Dr. Rainer Tabillion
Jella Teuchner
Jörn Thießen
Franz Thönnes
Simone Violka
Jörg Vogelsänger
Dr. Marlies Volkmer
Hedi Wegener
Andreas Weigel
Petra Weis
Gunter Weißgerber
Gert Weisskirchen
({46})
Lydia Westrich
Dr. Margrit Wetzel
Andrea Wicklein
Engelbert Wistuba
Waltraud Wolff
({47})
Heidi Wright
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
Nein
SPD
Otto Schily
FDP
Dr. Karl Addicks
Daniel Bahr ({48})
Uwe Barth
Rainer Brüderle
Ernst Burgbacher
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Paul K. Friedhoff
Horst Friedrich ({49})
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Joachim Günther ({50})
Heinz-Peter Haustein
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Heinz Lanfermann
Harald Leibrecht
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Markus Löning
Patrick Meinhardt
Jan Mücke
Burkhardt Müller-Sönksen
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
({51})
Gisela Piltz
Frank Schäffler
Dr. Konrad Schily
Dr. Hermann Otto Solms
Dr. Rainer Stinner
Christoph Waitz
Dr. Claudia Winterstein
Hartfrid Wolff ({52})
DIE LINKE
Karin Binder
Heidrun Bluhm
Eva Bulling-Schröter
Roland Claus
Sevim Dağdelen
Dr. Diether Dehm
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Klaus Ernst
Dr. Gregor Gysi
Hans-Kurt Hill
Inge Höger
Ulla Jelpke
Monika Knoche
Michael Leutert
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Ulrich Maurer
Dorothée Menzner
Kornelia Möller
Kersten Naumann
Wolfgang Nešković
Bodo Ramelow
Paul Schäfer ({53})
Volker Schneider
({54})
Dr. Herbert Schui
Dr. Petra Sitte
Frank Spieth
Alexander Ulrich
Sabine Zimmermann
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Marieluise Beck ({55})
Volker Beck ({56})
Birgitt Bender
Alexander Bonde
Dr. Thea Dückert
Dr. Uschi Eid
Hans Josef Fell
Kai Gehring
Britta Haßelmann
Winfried Hermann
Peter Hettlich
Priska Hinz ({57})
Bärbel Höhn
Sylvia Kotting-Uhl
Undine Kurth ({58})
Monika Lazar
Nicole Maisch
Jerzy Montag
Winfried Nachtwei
Brigitte Pothmer
Claudia Roth ({59})
Krista Sager
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Irmingard Schewe-Gerigk
Dr. Gerhard Schick
Rainder Steenblock
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Hans-Christian Ströbele
Jürgen Trittin
Josef Philip Winkler
fraktionslos
Nächster Redner ist der Kollege Wolfgang Gehrcke,
Fraktion Die Linke.
({60})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Fangen wir gleich mit dem Thema FARC an. Ich wusste
ja, dass Sie damit kommen.
({0})
Es war nicht schwer, das zu erahnen.
({1})
Sie haben den Begriff „Fund“ benutzt; bezeichnen wir
das einmal so. Bei einer Geheimdienstoperation von
Ecuador, also von außerhalb Kolumbiens, wurde der
stellvertretende Vorsitzende der FARC ermordet.
({2})
- Passen Sie doch einmal auf. Sie können ja noch nicht
einmal richtig aus dem Spiegel zitieren.
({3})
Die Computerdaten - ich kenne den Inhalt dieser Daten nicht im Einzelnen - sind geknackt worden. Spannend ist, dass der Spiegel einen Tag vor unserem Parteitag und meiner Kandidatur diese Daten veröffentlicht
hat. Ein Narr ist, wer Schlechtes dabei denkt.
({4})
Im Spiegel stand einzig und allein, dass ich mich mit
dem Sohn des FARC-Führers getroffen habe und ich ihm
gesagt habe, dass wir dafür sind, die FARC von der Terrorliste zu streichen.
({5})
- Das können Sie ja ablehnen. Das ist meine Position.
Ich hatte Gelegenheit, die Friedensprozesse in El
Salvador und Guatemala zu begleiten. Ich habe Erfahrungen mit diesem Prozess. Damals wurde das Gleiche
über die Frente in El Salvador und Guatemala gesagt. In
solchen Gespräche muss man dem Gesprächspartner
klipp und klar sagen, was man von ihm erwartet. Das
habe ich den FARC-Führern genau so gesagt, wie ich es
hier im Bundestag gesagt habe.
({6})
Ich habe gesagt: Ich erwarte von Ihnen, dass Sie die
Geiseln sofort freigeben, weil das nichts mit linker Politik zu tun hat.
({7})
Ich glaube, dass es vernünftig ist, die Sache so auszutragen.
({8})
Die FARC hat jetzt die Möglichkeit, die Geiseln ohne
Vorbedingungen sofort freizugeben.
Ihnen sage ich aber: Wenn Sie einen wirklichen Friedensprozess in Kolumbien wollen, sind Sie schlecht beraten, sich ganz auf die Seite von Präsident Uribe zu
schlagen.
({9})
Krieg verdirbt ein ganzes Land, und 40 Jahre Bürgerkrieg bedeuten in einem Land für alle Seiten Zerstörung,
Gewalt, Drogen, Waffen und was alles dazugehört. Das
prägt Kolumbien. Ich behaupte nicht, dass das nicht auch
die FARC prägt. Das ist die konkrete Situation. Wenn
Sie da rauskommen wollen, bleibt Ihnen nur der Weg der
Verhandlungen. Es wäre sinnlos, einen anderen Weg einzuschlagen. Ein anderer Weg würde nicht zu einem Ergebnis führen.
({10})
Ich weiß gar nicht, warum Sie sich hier so aufregen.
Ich habe aus meinen Positionen nie einen Hehl gemacht.
Ich habe immer darüber diskutiert. Das hätten Sie nicht
erst dem Spiegel entnehmen oder vom Geheimdienst hören müssen; Sie hätten mir nur einmal zuzuhören brauchen. Ich gehe offen damit um.
Ich will Ihnen noch etwas sagen, damit wir nicht nur
über dieses Problem reden.
({11})
- Das können Sie ja auch. Reden Sie mit sich selbst. Wir
haben eh wenig Zeit dafür.
({12})
Herr Raabe, Sie haben das Ergebnis des Gipfels geschönt. Es war ein nichtssagendes, ein schlechtes Ergebnis. Ich Blödkopf habe es mit Ihrem Antrag, den Sie als
SPD beschlossen haben, verglichen, um zu sehen, ob
sich das ein Stück weit dort wiederfindet. Nichts findet
sich dort wieder. Ich sage Ihnen auch mit Blick auf die
vergangenen Debatten, in denen Kollege Mützenich gute
Reden gehalten hat: Ihre Partei macht kaputt, dass Sie
sich völlig entgegen dem verhalten, was Sie hier sagen.
Das gilt auch bezüglich Lateinamerika.
({13})
Ich gebe das Wort der Kollegin Ute Koczy, Bündnis 90/
Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Freiheit für Ingrid Betancourt - ich denke, das
muss die Botschaft sein, dafür müssen wir uns einsetzen.
Und an die Linke: Sie haben die Verantwortung, dafür zu
sorgen, dass gewalttätige Organisationen - und das ist
die FARC - dazu angehalten werden, von der Gewalt abzulassen.
({0})
Sie machen dies auf dem falschen Weg; denn Sie distanzieren sich nicht weit genug. Das ist ein Problem, das
dazu beiträgt, die Gewalt zu kontinuieren, zu perpetuieren. Eigentlich müsste man das ganz anders angehen.
Aber ich sage ebenfalls: Auch gegenüber der Regierung
Kolumbiens haben wir Grüne Forderungen, die wir nicht
so einfach unter den Tisch fallen lassen können. Auch
die Regierung Uribe hat Dreck am Stecken.
Ich komme zurück zum Gipfel in Lima; denn darum
geht es hier. Wir wollen bewerten, was der Gipfel gebracht hat. Es ist schlicht übertrieben, wenn man den
Gipfel und die Reise der Kanzlerin als Erfolg wertet. Dafür gibt die Abschlusserklärung von Lima viel zu wenig
her. Man bekennt sich zu Gemeinplätzen. Man bekundet
zwar, auf vielen Feldern zusammenarbeiten zu wollen,
aber es wird nicht gesagt, wie diese Zusammenarbeit
umgesetzt werden soll
({1})
und welche konkreten Schritte stattfinden sollen, weder
bei der Bekämpfung der Nahrungsmittelkrise noch beim
Klimawandel, ganz zu schweigen von der Steuerpolitik
oder den Agrotreibstoffen, die im Abschlussdokument
überhaupt nicht erwähnt werden.
Wir haben nach dem Gipfel in Wien vor zwei Jahren
kritisiert, dass sich die Ergebnisse in Bekenntnissen zu
gemeinsamen Werten erschöpfen und dass sie nichts
dazu beitragen, die strategische Partnerschaft zwischen
den Regionen mit Leben zu füllen. An den Anträgen der
Koalition kritisieren wir, dass alles Lob für die Bundesregierung nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass sich
real wenig getan hat. Das ist ein Desaster.
({2})
Die beiden Anträge der Koalition zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass sie mit vielen Worten wenig sagen, vor allem wenig Konkretes, und um den heißen Brei
herumgeredet wird.
({3})
Ich möchte hier nur an den Umgang mit den Regierungen von Kolumbien und Venezuela erinnern. Wie groß
die Uneinigkeit in der SPD ist und wie unterschiedlich
die Einschätzung zu diesen beiden Ländern sein kann,
haben Herr Raabe und Herr Mark in der letzten Debatte
hierzu vorgeführt.
Die Kanzlerin hat ihr Amt erst jetzt nach Lateinamerika geführt, also zweieinhalb Jahre nach ihrem Amtsantritt. Sie hat versucht, in einer Woche all das nachzuholen, was sie in den letzten zweieinhalb Jahren hätte tun
müssen. Das kann natürlich nicht gut gehen.
Lateinamerika befindet sich in einem Wandlungs- und
Wachstumsprozess. Der Kontinent mit seinen 500 Millionen Menschen kommt zusehends zu mehr Handlungsspielräumen und Selbstbewusstsein. Das ist eine Weisheit, die nicht erst in den letzten Wochen vom Himmel
gefallen ist. Die gestiegenen Rohstoffpreise und die stärkere Orientierung Lateinamerikas hin zu China, Indien
und anderen Staaten des Südens haben sich schon länger
abgezeichnet. Die Staaten Lateinamerikas werden im
Zuge dieser Entwicklungen politisch und wirtschaftlich
unabhängiger, sowohl von den USA als auch von der
EU. Gleichzeitig verliert die bestehende regionale Integration an Schwung und damit auch die Strategie der EU
für die biregionale Zusammenarbeit. Das spürt man bei
den Verhandlungen zu den Assoziations- und Freihandelsabkommen, aber auch in den internationalen Finanzinstitutionen.
Wir müssen uns schon die Frage stellen, wie wir die
Verhandlungen mit unseren Partnern in Zukunft führen
wollen. Der Umgang mit der Andengemeinschaft ist ein
gutes Beispiel. Das Bündnis ist wegen interner Probleme
geschwächt. Kompromisse fallen schwer. Wenn die EU
die regionale Integration stärken will, ist es dann sinnvoll, eine Kooperation in zwei Geschwindigkeiten zu betreiben? - Ich bezweifle das.
({4})
In Zukunft werden Deutschland und die EU aktiv und
mit attraktiven Angeboten auf die Staaten Lateinamerikas zugehen müssen. Ein Angebot wäre - Sascha Raabe
hat es schon erwähnt -, Ecuador darin zu unterstützen,
das Öl im Boden zu lassen. Das ist korrekt. Wir wollen
einen gemeinsamen Antrag dazu schreiben. Das wäre
meiner Meinung nach innovativ und nach vorn schauend. Hier wäre es auch einmal konkret. Daher denke ich,
dass wir zumindest in diesem Bereich auf einem guten
Weg sind.
Danke.
({5})
Der Kollege Gregor Amann, SPD, hat seine Rede zu
Protokoll gegeben.1)
Wir kommen zu den Abstimmungen, und zwar zur
Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirtschaftli-
che Zusammenarbeit und Entwicklung auf Drucksache
16/9458. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Be-
schlussempfehlung die Annahme des Antrags der Frak-
tionen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache
16/9073 mit dem Titel „Die entwicklungspolitische Zu-
sammenarbeit Deutschlands im Rahmen der strategi-
schen Partnerschaft der Europäischen Union mit den
Staaten Lateinamerikas und der Karibik zielgerichtet
stärken“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen der Koalition bei Ge-
genstimmen der Opposition angenommen.
Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ableh-
nung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Druck-
sache 16/9074 mit dem Titel „Zum EU-Lateinamerika-
Gipfel in Lima - Impulse für solidarische und gleichbe-
1) Anlage 9
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
rechtigte Beziehungen zwischen der EU und Lateinamerika“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen des Hauses bei Gegenstimmen der Fraktion
Die Linke angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9458 die
Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 16/8907 mit dem Titel „Die strategische Partnerschaft zwischen der Europäischen
Union, Lateinamerika und der Karibik durch eine intensive Umwelt- und Klimakooperation beleben“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU und FDP bei
Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und
bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen.
Zusatzpunkt 4. Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der FDP
mit dem Titel „Die Beziehungen zu Lateinamerika und
den Staaten der Karibik stärken und den EU-Lateinamerika/Karibik-Gipfel zu einer ehrlichen Bestandsaufnahme nutzen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9475, den Antrag
der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/9056 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist bei Gegenstimmen der FDP mit den Stimmen
des restlichen Hauses angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Lukrezia Jochimsen, Dr. Petra Sitte, Dr. Gesine Lötzsch, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE
Ehrung für Johann Georg Elser als gesamtgesellschaftliches Anliegen begreifen
- Drucksache 16/9419 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Wolfgang
Börnsen ({1}), CDU/CSU, Dr. Wolfgang Thierse,
SPD, Christoph Waitz, FDP, Dr. Lukrezia Jochimsen,
Die Linke, Katrin Göring-Eckardt, Bündnis 90/Die Grünen.
Johann Georg Elser war ein mutiger und ehrenwerter
Mann: Im Sommer 1938 entschloss er sich, Adolf Hitler
zu ermorden und zwar allein. Sein monatelang geplantes
Attentat führte er am 8. November 1939 in München aus,
scheiterte aber tragisch. Kurz vor Kriegsende, am
9. April 1945, wurde er im Konzentrationslager Dachau
„auf höchste Weisung“ erschossen. Tragisch, skandalös,
ein Akt der Barbarei des NS-Staates.
Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus hatte
kein einheitliches Gesicht: Er kam aus der Arbeiterbewegung, aus bürgerlichen Kreisen, aus den Kirchen, er existierte innerhalb der Wehrmacht. Und es gab die zahlreichen, nicht namentlich bekannten Widerstandskämpfer
im Alltag, die einfach menschlich handelten. Ihnen allen
gebührt unser tiefer Dank, unser Respekt.
Johann Georg Elser war ein Einzelkämpfer, der die
Geschichte unseres Landes ändern wollte. Daher ist das
Anliegen richtig, seiner zu gedenken, an ihn zu erinnern,
ihn nicht der Vergessenheit anheim zu geben. Deshalb
auch wird an ihn in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand erinnert. Deshalb gibt es in der KZ-Gedenkstätte
Sachsenhausen, wo er fünf Jahre Einzelhaft erdulden
musste, eine Gedenktafel. Deshalb beschäftigt sich mit
ihm auch die Topographie des Terrors.
Es gibt eine Georg-Elser-Gedenkstätte in Königsbronn, wo er geboren wurde. Sie zeigt neben wertvollen
zeitgeschichtlichen Dokumenten auch die Verhörprotokolle vom Dezember 1939 und zeichnet ein umfangreiches Bild der Hintergründe des Attentats. In Heidenheim,
wo er entscheidende Vorbereitungen für sein Attentat traf,
existiert der engagierte Georg-Elser-Arbeitskreis. In enger Zusammenarbeit haben die Gedenkstätte Deutscher
Widerstand, der Georg-Elser-Arbeitskreis Heidenheim
und die Gemeinde Königsbronn eine wissenschaftlich
fundierte Dokumentation zu Elser und dem Attentat erarbeitet. In Deutschland gibt es 24 Straßen und Plätze, die
nach ihm benannt sind. Man kann also nicht davon sprechen, dass Johann Georg Elser in der Öffentlichkeit nicht
präsent wäre. Im Gegenteil - und man wünschte sich,
dass anderer Widerstandskämpfer ebenso engagiert und
vielseitig gedacht würde.
Die Rolle des Widerstands gegen den Nationalsozialismus und die Leistungen und den Mut jedes Einzelnen zu
würdigen, ihnen den Platz im öffentlichen Bewusstsein zu
geben, der ihnen gebührt - das ist eine Aufgabe, die nie
abgeschlossen sein wird und die von vielen Seiten wahrgenommen werden muss, auch und in erster Linie von den
Ländern.
Daher ist das Anliegen unserer Berliner Freunde von
der Union begrüßenswert, in Berlin eine Ehrung für Johann Georg Elser vorzusehen, allerdings ist es eine Landesangelegenheit. Nur am Rande sei hier bemerkt, dass
die Berliner Linken im Abgeordnetenhaus - als mitregierende Fraktion - eine rasche Ehrung abgelehnt haben
und stattdessen einen Prüfauftrag beschlossen haben.
Die Reaktion der Berliner Linken jedenfalls ist konsequent, bedenkt man, dass Elser in der DDR von der SED
ignoriert wurde, passte er doch nicht in die leninistische
Geschichtsschreibung und wurde nicht als Kommunist
der reinen Lehre betrachtet.
Man könnte daher tatsächlich zu der Ansicht gelangen, dass der uns vorliegende Antrag der Linken im Deutschen Bundestag, wo sie keine Regierungsverantwortung
tragen, nicht mehr als ein Schaufensterantrag ist. Seine
Zielrichtung geht fehl, und die Unterstellung, es gebe
„nicht erinnerte Opfer“ des Nationalsozialismus, zeugt
von blankem Unwissen: Die Gedenkstätte Deutscher Widerstand und die Neue Wache Unter den Linden als
Wolfgang Börnsen ({0})
Mahnmal für alle Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft
leisten diese Erinnerung, in würdiger und bewegender
Weise.
Auch München hat für eine verantwortungsbewusste
Aufarbeitung der NS-Historie in Bezug auf Johann Georg
Elser Beispiele gesetzt. Dort, wo er verhaftet wurde und
sein Weg ins Konzentrationslager begann, erinnern ein
Georg-Elser-Platz, eine Gedenktafel und die GeorgElser-Hallen an den Widerstandskämpfer.
Am 13. März dieses Jahres haben im Berliner Abgeordnetenhaus die beiden Koalitionsfraktionen SPD und
Die Linke einen Antrag beschlossen, der das gleiche Anliegen verfolgt wie der jetzt von der Bundestagsfraktion
Die Linke vorgelegte Antrag: nämlich Johann Georg
Elsers in Berlin zu gedenken.
In der Sache waren sich alle Fraktionen im Berliner
Parlament einig, nur über Formulierungen wurde gestritten. Auch der in Berlin für Kultur zuständige Staatssekretär André Schmitz unterstützt das Projekt.
Deshalb verstehe ich nicht, warum die Linke diesen
Antrag zum jetzigen Zeitpunkt im Bundestag einbringt
und nicht erst einmal die von Ihnen im Berliner Abgeordnetenhaus mitbeschlossene Prüfung der „Möglichkeiten
zur Errichtung eines Denkzeichens für Johann Georg
Elser an zentraler, öffentlich zugänglicher Stelle in Berlin“ abwartet, deren Ergebnisse bis zum 30. Juni 2008
vorgelegt werden sollen.
Ich halte es für sinnvoll, dass das Land Berlin in eigener Trägerschaft Elsers gedenkt. Und natürlich ist auch
zu überlegen, ob und wie der Bund das Anliegen unterstützen kann.
Die Linke fordert in ihrem Antrag auch, im Umfeld des
Deutschen Bundestages die bislang nicht erinnerten Opfer des NS-Regimes zu ehren. Sie sollten bei dieser Forderung allerdings berücksichtigen, dass jedes weitere
Denkmal den Wert der bestehenden schmälert.
In der Sache stimme ich dem Anliegen der Linken zu,
das Andenken an den Widerstandskämpfer Johann Georg
Elser im öffentlichen Bewusstsein zu stärken. Dafür habe
ich als Schirmherr der Berliner Georg-Elser-Initiative
mehrfach geworben.
Johann Georg Elser blieb viel zu lange die Aufmerksamkeit und die öffentliche Würdigung verwehrt, die ihm
gebührt. Das gilt im Übrigen für beide deutschen Staaten
gleichermaßen. Das Gegenteil nämlich war der Fall:
noch viele Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges
hielt sich hartnäckig das Gerücht, Johann Georg Elser
sei eine Marionette der Nationalsozialisten gewesen, die
durch das Attentat den Mythos des von der Vorsehung beschützten Führers stärken wollten.
André Schmitz sprach zu Recht von einer zweiten Hinrichtung: erst durch seine Henker und dann durch die öffentliche Wahrnehmung nach dem Zusammenbruch des
NS-Regimes.
Johann Georg Elser war mutiger und weitsichtiger als
die meisten anderen Deutschen. „Ich habe den Krieg verhindern wollen“, sagte er in den Verhörprotokollen zu
seinem Motiv für das Attentat. Der Anschlag am 8. November 1939 im Münchner Bürgerbräukeller schlug fehl.
Das mörderische Regime entfaltete sich unaufhaltsam
weiter und kostete vielen Millionen Menschen auf brutalste Weise das Leben. Elser wurde am 9. April 1945,
vier Wochen vor Ende des Krieges, hingerichtet.
Erst Ende der 1960er-Jahre haben Historiker anhand
der Verhörprotokolle der Gestapo die Alleintäterschaft
Elsers nachgewiesen. Auch danach dauerte es noch viele
Jahre, bis Johann Georg Elser in der offiziellen Gedenkkultur der Bundesrepublik gewürdigt wurde. Zu verdanken ist das den ehrenamtlichen Georg-Elser-Initiativen,
von denen es mittlerweile sechs in Deutschland gibt. Ihnen gebührt mein Dank.
Dieses dezentrale zivilgesellschaftliche Engagement
ist charakteristisch für die Erinnerungskultur in Deutschland. Staatliches Erinnern kann und soll diese Initiativen
nicht ersetzen. Erst das Engagement vieler, nicht nur hier
in Berlin, sondern auch anderswo in Deutschland, hält
das Andenken an Johann Georg Elser und die vielen anderen Widerstandskämpfer wach.
Mir ist es wichtig, nicht nur Elsers Tat stärker ins öffentliche Bewusstsein zu heben, sondern ihn auch als Beispiel, als Vorbild für mutiges Eintreten eines einzelnen
Menschen gegen staatliche Willkür und Unrecht wahrzunehmen. Die wichtigste Lehre des Widerstandes ist, Unrecht zu bekämpfen, bevor es die Chance erhält, an die
Macht zu kommen. Es ist im Sinne von Johann Georg
Elser, politisch wach zu sein und Feinde des demokratischen Zusammenlebens frühzeitig zu erkennen und zurückzudrängen.
Lassen Sie uns im Ausschuss weiter darüber diskutieren, in welcher Weise und an welchem Ort Johann Georg
Elsers gedacht werden kann und gedacht werden sollte
und wie der Bund Berlin dabei unterstützen kann. Jede
Debatte darüber hält die Erinnerung an diesen mutigen
Widerstandskämpfer wach und hilft, Johann Georg Elser
den prominenten Platz im kollektiven Gedächtnis einzuräumen, der ihm gebührt.
1938, als die Nationalsozialisten und Adolf Hitler ihre
Macht in Deutschland zementiert, Österreich an das
Deutsche Reich angeschlossen und die Tschechoslowakei
als Staat zerschlagen hatten, erkannte Georg Elser, dass
Hitler und die Nationalsozialisten einen Angriffskrieg
vorbereiteten. Er erkannte, wofür viele Zeitgenossen in
Deutschland blind waren. Er sah den Krieg mit unvorstellbaren Ausmaßen, der vor Deutschland und Europa
lag. Er erkannte für sich, dass nur ein Attentat auf Hitler
diese Gefahr bannen konnte.
Am 1. September 1939 begann Zweite Weltkrieg. In der
Nacht vom 6. auf den 7. November 1939 setze Georg
Elser den Zeitzünder der Bombe in Gang. Zu diesem Zeitpunkt war Polen längst überfallen, in die Kapitulation
gezwungen und geteilt worden. Großbritannien und
Zu Protokoll gegebene Reden
Frankreich hatten dem Deutschen Reich den Krieg erklärt. Die Welt stand vor dem Abgrund, der zu über
55 Millionen toten Menschen führen sollte.
„Ich habe den Krieg verhindern wollen“, sagte er später, nachdem er unter Folter seine Tat gestanden hatte.
1945, wenige Jahre nach dem Attentatsversuch von Elser,
steht Europa am Ende des Zweiten Weltkrieges vor einem
Desaster. Millionen von Kriegstoten, Flüchtlingen und
Vertriebenen, Millionen von Menschen, die aus rassistischen oder weltanschaulichen Gründen im System der
Konzentrationslager aus Hunger, Krankheit oder Entkräftung starben oder Opfer von Massenerschießungen
und Vergasung wurden.
Gerade im Lichte des millionenfachen Leids wünschte
ich, Georg Elser hätte mit seinem Attentat auf Hitler Erfolg gehabt, und ich wünschte, dass diese Tat wirklich die
Wirkungskette der Folgeereignisse unterbrochen und das
massenhafte Leid und Elend verhindert hätte.
Elser beschließt, Hitler zu töten, und bereitet das Attentat sorgfältig vor. Er platziert die Zeitbombe im
Münchner Bürgerbräukeller. Er weiß, dass Hitler am
8. Novembers 1939, anlässlich des Vorabends des Hitlerputsches vom 9. November 1923, dort sprechen wird. Die
Bombe ist in einer tragenden Säule platziert. Die Detonation bringt Teile der Decke zum Einsturz und begräbt das
Rednerpult. Acht Menschen sterben, viele sind verletzt.
Doch Hitler selbst verlässt zusammen mit weiteren NaziGrößen wenige Minuten vor der Explosion den Saal.
Noch am gleichen Tag wird Elser an der Schweizer
Grenze verhaftet und bis zum 9. April 1945, dem Tag seiner Hinrichtung, inhaftiert.
Georg Elser verdient unsere Anerkennung für das, was
er weitsichtig, selbstlos und unter großer persönlicher
Gefahr getan hat. Das von Georg Elser verübte Attentat
ist eines der wenigen, das tatsächlich ausgeführt wurde.
Viele weitere Attentatspläne kamen über das Planungsstadium nie hinaus. So steht die Tat Elsers historisch neben dem Attentatsversuch vom 20. Juli 1944.
Die Besonderheit seiner Tat kam auch durch die Inhaftierung und den Zeitpunkt seiner Hinrichtung zum
Ausdruck. Man „hob“ Elser quasi auf, um ihn nach
Kriegsende einem Schauprozess zu unterwerfen. Als
Deutschland kurz vor der Kapitulation stand, wurde
Elser zeitgleich mit Widerstandskämpfern wie Dietrich
Bonhoeffer, Wilhelm Canaris und Hans von Dohnanyi
hingerichtet.
Georgs Elsers Rolle als Widerstandskämpfer wurde
früher nicht ausreichend gewürdigt. Deswegen bin ich
froh, dass die Heimatstadt von Elser, Königsbronn, die
Gedenkstätte Deutscher Widerstand und die ErnstFreiberger-Stiftung die Erinnerung an Elser bewahren
und die Leistung und die Motivation Elsers für viele Menschen erfahrbar machen.
Heute gibt es bereits eine Vielzahl von Gedenkstätten
und Denkmäler für Georg Elser. In der Heimat Elsers
sind Straßen, Plätze und Schulen nach ihm benannt. Dort
gibt es auch eine Georg-Elser-Gedenkstätte. Die Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin räumt Elser einen
zentralen Platz in Ihrer Ausstellung ein, und die ErnstFreiberger-Stiftung errichtet im Rahmen der „Straße der
Erinnerung“ ein Denkmal für Georg Elser in der Nähe
des Bundesinnenministeriums am Spreebogen, das Ende
September 2008 eingeweiht werden soll.
Wenn jetzt das Land Berlin die Errichtung eines Denkmals plant, so ist dieses Vorhaben richtig und unterstützenswert. Ich denke, das Vorhaben ist in der Federführung des Landes Berlin auch gut aufgehoben.
Der Antrag der Linken leidet an zahlreichen Mängeln.
Er vermischt das Gedenken an Georg Elser mit dem Gedenken an andere Opfergruppen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Er entmündigt das Land Berlin
selbst in einfachsten Fragen der Denkmalerrichtung. Er
vermischt das Gedenken an Georg Elser sachwidrig mit
Aspekten, die das in Vorbereitung befindliche Gedenkstättenkonzept des Bundes betreffen. Er bietet bis auf das
lose Aneinanderreihen von nicht unmittelbar zusammenhängenden Forderungen keine praktisch verwertbaren
Vorschläge.
Der Deutsche Bundestag hat sich bereits in vielen anderen Fällen für die Errichtung von Denkmälern und Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus ausgesprochen und eingesetzt. Zuletzt wurde das Denkmal für
die ermordeten Homosexuellen in Berlin eingeweiht. Ein
Denkmal für die „als Zigeuner verfolgten“ Menschen befindet sich gegenwärtig im Bau. Darüber hinaus existiert
eine Vielzahl weiterer Gedenkstätten, die an im Nationalsozialismus ermordete Menschen erinnern.
Das Gedenken an den deutschen Widerstand hat in
Berlin eine zentrale Stelle gefunden. Die Gedenkstätte
Deutscher Widerstand befindet sich am Originalschauplatz im Bendlerblock in der Stauffenbergstraße. Hier haben die Attentäter des 20. Juli 1944 um Graf von Stauffenberg gewirkt, geplant und gehofft, und hier sind sie
gescheitert, gefangen und standrechtlich erschossen worden. Die Gedenkstätte wird bereits durch den Bund unterstützt. Es zweifelt niemand daran, dass die Arbeit der Gedenkstätte und der Ort des Gedenkens angemessen sind.
Ich verstehe nicht, warum die Linke den vorliegenden
Antrag in den Deutschen Bundestag eingebracht hat. Soweit der Antrag über das Gedenken an Georg Elser hinausgeht, betrifft er das Gedenkstättenkonzept des Bundes. Hier sind wir noch mit den Beratungen beschäftigt.
Das wissen auch Sie, liebe Kollegin Dr. Jochimsen.
Auch wir warten auf die Vorlage des endgültigen Konzepts der Bundesregierung. Hier hat es immer wieder
Verschiebungen gegeben. Jetzt soll das Konzept Ende
Juni dieses Jahres vorgelegt werden. Der Antrag der Linken hilft aber nicht, die Vorlage des Konzepts zu
beschleunigen. Ich schlage Ihnen vor, das Gedenkstättenkonzept abzuwarten und dann konkrete Änderungsvorschläge einzubringen. Dann können diese Vorschläge
auch im richtigen Kontext diskutiert werden.
Wer war Georg Elser? Der Sohn eines Bauern und
Holzhändlers aus Württemberg, Jahrgang 1903, Volksschüler, Schreinerlehrling, der die Gesellenprüfung 1922
als Jahrgangsbester besteht, Tischler und Uhrmacher. Als
Zu Protokoll gegebene Reden
die Weltwirtschaftskrise ausbricht, wird er Mitglied im
Rotfrontkämpferbund. Ab 1936 ist er Hilfsarbeiter in einer Heidenheimer Armaturenfabrik und erfährt dort von
der Rüstungsproduktion im Auftrag der Nationalsozialisten. 1938 erlebt er eine Gedenkveranstaltung der NSDAP
zum Hitler-Putsch. Das ist der historische Augenblick für
seinen Entschluss, Hitler durch ein Attentat umzubringen.
Er allein. „Einer muss es doch machen“, war seine Begründung. Ein Einzelner. Ein Einzelner, der als Erster
viereinhalb schrecklich lange Kriegsjahre vor Stauffenberg und der Gruppe des 20. Juli versucht hat, Deutschland von seinem Diktator zu befreien und den gerade begonnen Krieg zu beenden. Das Sprengstoff-Attentat am
8. November 1939 im Münchener Bürgerbräukeller misslingt, weil Hitler wenige Minuten vor der Explosion den
Versammlungssaal verlässt.
Georg Elser wird noch am gleichen Tag verhaftet und
gesteht am 13. November, die Tat allein geplant und
durchgeführt zu haben. Zitat aus dem Verhör: „Die seit
Herbst 1933 in der Arbeiterschaft von mir beobachtete
Unzufriedenheit und der von mir seit Herbst 1933 vermutete unvermeidliche Krieg beschäftigten stets meine Gedankengänge. … Ich stellte allein Betrachtungen an, wie
man die Verhältnisse der Arbeiterschaft bessern und einen Krieg vermeiden könnte. Die von mir angestellten
Betrachtungen zeitigten das Ergebnis, dass die Verhältnisse in Deutschland nur durch eine Beseitigung der augenblicklichen Führung geändert werden könnten. Unter
der Führung verstand ich die Obersten, ich meine damit
Hitler, Göring und Goebbels. Durch meine Überlegungen
kam ich zu der Überzeugung, dass durch die Beseitigung
dieser drei Männer andere Männer an die Regierung
kommen, die an das Ausland keine untragbaren Forderungen stellen, die kein fremdes Land einbeziehen wollen
und die für eine Verbesserung der sozialen Verhältnisse
der Arbeiterschaft Sorge tragen werden.“
Nach dem Eingeständnis der Tat wird Georg Elser vier
Jahre lang im KZ Sachsenhausen und im KZ Dachau immer wieder verhört und gefoltert und am 9. April 1945
- einen Monat vor der bedingungslosen Kapitulation erschossen.
Warum sollten wir, müssen wir dieses Mannes im Jahr
2008 ff. - mehr als hundert Jahre nach seiner Geburt und
mehr als sechzig Jahre nach seinem Tod - gedenken, und
zwar in Berlin im nationalen Rahmen? Der Grund ist
beschämend: weil genau dies in den vergangenen Nachkriegs-Jahrzehnten unterblieb. Ich zitiere Peter Steinbach
und Johannes Tuchel aus der „Frankfurter Rundschau“
vom 18. November 1999: „Georg Elser hatte keiner Elite
angehört, der man das Recht auf Widerstand zubilligte;
keine gesellschaftliche Großgruppe setzte sich für sein
Andenken ein. Er blieb Werkzeug der Machthaber, nicht
aber ein Mensch, der sich selbst in Übereinstimmung mit
seinem Gewissen einen Handlungsauftrag gegeben hatte.
… Lange Zeit wurde übrigens in beiden Teilen Deutschlands nicht akzeptiert, dass ein Arbeiter ohne Rücksicht
auf sich und seine unmittelbaren Angehörigen eine Tat bis
ins Detail geplant, gewagt und durchgeführt hatte, zu der
sich andere weder 1939 noch später entschließen konnten.“
„In der Bundesrepublik war Elsers Widerstand gegen
den Nationalsozialismus nach 1945 noch umstrittener als
die gesamte Gegnerschaft zum Regime. Immer wieder
rankten sich um seine Tat neue Gerüchte. Diffamierungen
aus der NS-Zeit wirkten fort und überlagerten sich nicht
selten mit teils bizarren Nachkriegsdeutungen. Georg
Elser war eine Herausforderung: Er machte deutlich,
dass ein einfacher Mann aus dem Volke sich zu einer weltgeschichtlichen Tat aufraffen konnte. Er strafte all jene
Lügen, die sich weiterhin einredeten, sie hätten dem Terror des NS-Staates nichts entgegensetzen können. Der
Durchschnittsbürger, das zeigte Elsers Beispiel, war keineswegs zum Mitläufer bestimmt - er konnte dem Rad des
Staates durchaus in die Speichen greifen.“
„Kein Denkmal erinnert an ihn“ heißt es am Ende des
Films „Georg Elser - Einer aus Deutschland“ von Klaus
Maria Brandauer aus dem Jahr 1989.
Zwar hat es seitdem eine große Ausstellung über Georg Elser gegeben, die in Berlin und 33 anderen Städten
Deutschlands zu sehen war und heute den Mittelpunkt der
Elser-Gedenkstätte in Königsbronn darstellt; zwar gibt es
eine Gedenktafel in München, einen Gedenkstein in Heidenheim, eine Schule mit seinem Namen, ein Archiv und
sogar eine Sonderbriefmarke, aber in Berlin erinnert an
dieses Vorbild des Deutschen Widerstands bisher nichts.
Seit Jahren plädiert Rolf Hochhuth dafür, Georg Elser
mit einem Denkmal in Berlin zu ehren. Er begründet das
so: „Elser war der Einzige von 80 Millionen, der klar
genug geblieben war, um zumindest den Versuch zu unternehmen, Hitler umzubringen“. Und es war Rolf
Hochhuth, der im Februar dieses Jahres dem Berliner
Abgeordnetenhaus vorgeschlagen hat, ein Denkzeichen
für Georg Elser an zentraler, öffentlich zugänglicher
Stelle zu errichten - auf dem Terrain der früheren Reichskanzlei. Also, Ehre dem einsamen Attentäter, der Vorbild
gerade für moderne Menschen sein könnte.
Die Linksfraktion im Bundestag sieht in diesem Vorschlag ein gesamtgesellschaftliches Anliegen - und keine
Sache Berlins allein. Eine Ehrung Elsers mit vorhergehender breiter gesellschaftlicher Diskussion würde die
politische Kultur der Bundesrepublik bereichern. Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf: im Einvernehmen mit dem Land Berlin die Trägerschaft für eine
Ehrung von Johann Georg Elser zu übernehmen; eine
Konzeption vorzulegen, in der dargestellt wird, wie und
an welchen Orten im Umfeld des Deutschen Bundestages
die bislang nicht erinnerten Opfer des verbrecherischen
NS-Regimes ({0}) geehrt werden sollten; darzustellen, wie die Breite des politischen Widerstandes auch außerhalb der mit dem 20. Juli
1944 verbundenen Gedenkstätte Deutscher Widerstand
im Berliner Stadtraum erinnert werden kann und in diesem Zusammenhang zu prüfen, ob tatsächlich und gegebenenfalls auf welche Weise der Ort der früheren Reichskanzlei als der eigentlichen politischen Machtzentrale
des NS-Regimes in das öffentliche Bewusstsein der Topografie des NS-Terrors eingefügt werden kann und sollte.
Dazu sollte im Ausschuss für Kultur und Medien eine
Anhörung stattfinden mit: Klaus Maria Brandauer, Rolf
Hochhuth, Prof. Jutta Limbach, Prof. Peter Steinbach,
Prof. Johannes Tuchel und anderen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Wenn ich an Johann Georg Elser und sein gescheiter-
tes Attentat auf Adolf Hitler denke, dann gerate ich in re-
trospektive Spekulationen: Wie wäre die Weltgeschichte
verlaufen, wenn Hitler damals eine viertel Stunde länger
im Münchner Bürgerbräukeller geblieben wäre? Hätte es
dann diesen schrecklichen Krieg nicht gegeben? Wäre
der millionenfache Mord an den europäischen Juden
dann nicht geschehen? Niemand kann das wissen und
doch erfüllt uns das tragische Scheitern Elsers mit der
seltsamen Ahnung, dass die Weltgeschichte oft von Zufäl-
len gesteuert wird. Hinzu kommt das persönliche Schick-
sal Elsers, der 1945 in Dachau ermordet wurde, aber
nach dem Krieg lange Zeit nicht angemessen gewürdigt
wurde, weil er vielen als Marionette der Nationalsozialis-
ten galt. Dies ist mittlerweile widerlegt, Elser war ein mu-
tiger Einzeltäter mit einer eigenen moralischen Agenda.
Der Schriftsteller und Dramatiker Rolf Hochhuth mag
Ähnliches gedacht und gefühlt haben, als er den Vor-
schlag machte, ein öffentliches Denkzeichen für Johann
Georg Elser in Berlin einzurichten, und zwar am Ort der
früheren Reichskanzlei, also an einer Stelle, die als
Schaltzentrale des nationalsozialistischen Menschheits-
verbrechens gilt. Die Linkspartei in Berlin hat sich diesen
Vorschlag zu eigen gemacht und damit die Unterstützung
aus anderen Fraktionen gewonnen. Im Februar hat das
Berliner Abgeordnetenhaus denn auch einen entspre-
chenden Beschluss gefasst.
Doch wünsche ich mir, dass, bevor wir ein solches Pro-
jekt in die Wege leiten, einige inhaltliche und formale
Grundsatzfragen geklärt werden. Inhaltlich wichtig finde
ich die Frage, wie anhand einer Einzelperson das breite
Spektrum des kommunistischen Widerstands dargestellt
oder zumindest angedeutet werden kann. Auch müssen
wir darüber nachdenken, wie sich dieser neue Erinne-
rungsort systematisch in das dichte Gesamtensemble der
Berliner Gedenkstätten einfügen kann. Welche Korres-
pondenzen und pädagogischen Synergien wären dabei
denkbar? Und formal-ästhetisch wäre mir doch sehr da-
ran gelegen, dass wir kein klassisches Heldendenkmal in
Bronze aufstellen, sondern bei der Ausschreibung die ge-
rade in Berlin hochaktive junge Kunstszene um zeitgemä-
ßere, gleichsam „experimentellere“ Vorschläge bitten.
Ich verstehe den Begriff „Denkzeichen“ im Beschluss des
Berliner Abgeordnetenhauses nämlich genau so: dass es
darum geht, mit subtilen Mitteln eine historische und
politische Nachdenklichkeit wachzurufen.
Über die weiterführenden Forderungen im vorlie-
genden Antrag bezüglich der Erinnerung an andere Op-
fergruppen des Nationalsozialismus - wie etwa die
sowjetischen Kriegsgefangenen oder die osteuropäische
Intelligenz - werden wir im Ausschuss für Kultur und Me-
dien zu beraten und zu diskutieren haben.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/9419 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a und 20 b auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung haftungsrechtlicher Vorschriften des Atomgesetzes und zur Änderung sonstiger Rechtsvorschriften
- Drucksache 16/9077 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0})
- Drucksache 16/9472 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Georg Nüßlein
Angelika Brunkhorst
Hans-Josef Fell
b) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu den Protokollen vom
12. Februar 2004 zur Änderung des Übereinkommens vom 29. Juli 1960 über die Haftung
gegenüber Dritten auf dem Gebiet der Kernenergie in der Fassung des Zusatzprotokolls
vom 28. Januar 1964 und des Protokolls vom
16. November 1982 und zur Änderung des Zusatzübereinkommens vom 31. Januar 1963
zum Pariser Übereinkommen vom 29. Juli
1960 über die Haftung gegenüber Dritten auf
dem Gebiet der Kernenergie in der Fassung
des Zusatzprotokolls vom 28. Januar 1964 und
des Protokolls vom 16. November 1982 ({1})
- Drucksache 16/9078 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({2})
- Drucksache 16/9473 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Georg Nüßlein
Angelika Brunkhorst
Hans-Josef Fell
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Dr. Georg
Nüßlein, CDU/CSU, Christoph Pries, SPD, Angelika
Brunkhorst, FDP, Hans-Kurt Hill, Die Linke, Sylvia
Kotting-Uhl, Bündnis 90/Die Grünen.
Regelungsgegenstand der vorliegenden Gesetzesentwürfe ist zentral die Ratifizierung der Änderungsprotokolle zum Pariser Übereinkommen sowie zum Brüsseler
Zusatzübereinkommen und die entsprechende Umsetzung
in nationales Recht, soweit erforderlich.
Das Atomhaftungsrecht ist ein von internationalen
Übereinkommen geprägtes Rechtsgebiet. Mit dem Pariser Übereinkommen wurde eine multilaterale Haftungsgrundlage für nukleare Schäden geschaffen. Dieses
wurde durch das Brüsseler Zusatzübereinkommen im
Hinblick auf weitere Entschädigungsmittel ergänzt.
Die Überarbeitung dieser internationalen Übereinkommen erfolgte insbesondere mit der Zielsetzung, die
multilaterale Haftungsgrundlage für Nuklearschäden
weiter zu verbessern und das Nuklearhaftungsniveau anzuheben. An einer substanziellen Optimierung des internationalen Haftungsrechts muß uns fraktionsübergreifend gelegen sein. An dieser Stelle begrüße ich die
Haltung des Koalitionspartners in der ersten Lesung der Kollege Pries spricht hier korrekterweise von einer
deutlichen Verbesserung im Bereich der internationalen
Atomhaftung.
An die fraktionsübergreifende energiepolitische Gesamtverantwortung will ich an dieser Stelle aber auch
jenseits des Haftungsrechts appellieren: Ich plädiere
nach wie vor für die notwendigen Laufzeitverlängerungen unserer deutschen Kernkraftwerke, weil ich nicht
weiß, wie wir im Bereich des grundlastfähigen Stroms die
Kernenergie bis zum anvisierten Finalausstieg spätestens
2023 ersetzen sollen - wenn wir nicht in Kauf nehmen
wollen, dass statt der Kernenergie verstärkt fossile
Energieträger eingesetzt werden und diese wiederum die
C02-Bilanz entscheidend verschlechtern. Wir brauchen
die Kernenergie als Brückentechnologie in einen neuen
Energiemix.
Auch wenn mir das Thema der energiepolitischen Gesamtverantwortung angesichts der Energieversorgungssicherheit und rasant ansteigender Energiekosten unter
den Nägeln brennt, ich will zurückkommen auf die heute
zu behandelnde Haftung im Bereich der Kernenergie.
Bei der Überarbeitung der internationalen Übereinkommen sind wichtige, bereits bestehende Haftungsgrundsätze beibehalten worden. So ist beim Brüsseler
Zusatzübereinkommen das dreigliedrige Entschädigungssystem geblieben, es ist jedoch mit der Zielsetzung
verbesserter Haftungskonditionen jeweils auf jeder Stufe
eine Tranchenerhöhung erfolgt. Beim Pariser Überkommen sind wichtige Haftungsprinzipien - wie die Gefährdungshaftung des Kernanlageinhabers oder die Haftungsbefreiung nur in abschließend aufgezählten Fällen
besonderer höherer Gewalt - beibehalten worden. Neue
Regelungsinhalte zum Pariser Überkommen sind etwa
die Haftungserhöhung des Kernanlageninhabers um ein
Mehrfaches auf mindestens 700 Millionen Euro oder die
entscheidende Anhebung der Mindesthaftung im Bereich
der Transporte nuklearen Materials. Mit der Erhöhung
der Haftungs- und Deckungssummen wurde dem Umstand Rechnung getragen, dass in einigen Vertragsstaaten noch immer verhältnismäßig niedrige Haftungshöchstgrenzen bestanden.
Neben der beschriebenen Anhebung der Haftungsund Deckungssummen hat der Opferschutz auch dadurch
eine wesentliche Verbesserung erfahren, dass der territoriale Anwendungsbereich erweitert wurde. Eine weitere
wichtige Präzisierung und Besserstellung zugunsten des
Opferschutzes erfolgte durch die Aufnahme einer Regelung zum Staatenklagerecht für geschädigte Bürger sowie
die vertragsstaatliche Pflicht zur Bestimmung eines Gerichts für nukleare Schadensersatzprozesse. Im Übrigen
wurde der anwendungsrelevante Schadensbegriff klargestellt und ausgeweitet. Der Schadensbegriff bezieht sich
nun unter anderem auch ausdrücklich auf Umweltschäden, womit man insbesondere dem Anspruch an ein modernes Umwelthaftungsrecht gerecht wird.
Vor diesem Hintergrund sind die Gesetzesvorlagen im
Sinne des Opferschutzes zu begrüßen, weil sie im Vergleich zur bisherigen internationalen Rechtslage eine erhebliche Verbesserung bedeuten. Wichtig ist deshalb das
baldige Inkrafttreten dieser verbesserten Haftungsgrundsätze.
Die von der Kollegin Brunkhorst in der ersten Lesung
angeführte Kritik, dass mit den debattierten Gesetzesentwürfen zielgerichtet insbesondere kerntechnischen Forschungseinrichtungen das Leben finanziell schwerer gemacht werden solle, weise ich entschieden zurück. Richtig
ist allein, dass der deutsche Gesetzgeber im Zuge der
Umsetzung verbesserter internationaler Haftungsstandards einen davon unabhängigen, aber notwendigen
Nachbesserungsbedarf im Bereich des Verwaltungskostengesetzes sowie der Kostenverordnung zum Atomgesetz
gesehen hat: Künftig kann das Bundesamt für Strahlenschutz auch von Bund, Ländern, Gemeinden und bestimmten juristischen Personen des öffentlichen Rechts
sowie von gemeinnützigen Forschungseinrichtungen Gebühren erheben. Damit soll aber gerade nicht den kerntechnischen Forschungseinrichtungen beziehungsweise
der Forschung an sich der Boden entzogen werden. Mit
der modifizierten Kostentragungsregelung werden nur
die rechtlichen Voraussetzungen für die Refinanzierung
jener Kosten geschaffen, die dem Bundesamt für Strahlenschutz durch die Genehmigung der Anwendung radioaktiver Stoffe oder ionisierender Strahlung zum Zwecke
der medizinischen Forschung entstehen. Mit diesem Refinanzierungsinstrument wird lediglich gewährleistet,
dass die mit den entsprechenden Aufgaben betrauten Stellen im Bundesamt dauerhaft gesichert werden.
Der Deutsche Bundestag verabschiedet heute zwei Gesetzentwürfe zur internationalen Atomhaftung. Damit
werden das Pariser Übereinkommen von 1960 und das
Brüsseler Zusatzabkommen von 1963 über die Haftung
gegenüber Dritten auf dem Gebiet der Kernenergie
grundlegend novelliert. Mit der Ratifizierung und Umsetzung der sogenannten Pariser Atomhaftungsprotokolle
vom 12. Februar 2004 erreichen wir substanzielle Verbesserungen beim internationalen Opferschutz im Falle
eines nuklearen Schadens.
Zu Protokoll gegebene Reden
Aufgrund des Ausmaßes und des potenziell grenzüberschreitenden Charakters nuklearer Ereignisse und Schäden war man sich bereits seit den 1950er-Jahren darüber
im Klaren, dass es eine internationale Kooperation in
diesem Bereich geben müsse. Der nach bisherigen Erkenntnissen zum Glück glimpflich verlaufene Kühlwasserverlust im Primärkreislauf des slowenischen Atomkraftwerkes Krsko am gestrigen Abend macht das wieder
einmal deutlich.
Lassen Sie mich noch einmal kurz die wesentlichen
Verbesserungen skizzieren, die durch die Verabschiedung
der beiden Gesetzentwürfe erreicht werden: Die zur Verfügung stehenden Haftungssummen der Anlagenbetreiber werden von 15 auf 700 Millionen Euro pro nuklearen
Schaden laut Pariser Übereinkommen erhöht. Die Haftungssummen werden von Höchst- zu Referenzbeträgen
umgewandelt. Eine unbegrenzte Haftung des Betreibers
einer Atomanlage - wie in Deutschland im Atomgesetz
verankert - wird ausdrücklich zugelassen. Die Höchstsummen garantierter Ersatzleistungen laut Brüsseler Zusatzübereinkommen werden von 300 Millionen auf
1,5 Milliarden Euro deutlich angehoben. Die Haftungsregelungen des Übereinkommens werden ausgedehnt. Davon profitieren vor allem diejenigen europäischen Staaten, die über keinerlei Atomanlagen verfügen - zum
Beispiel die Republik Irland und Österreich -, da das
Übereinkommen nun automatisch für diese Länder gilt.
Der Kreis der ersatzfähigen Schäden wird durch eine
Neudefinition des Begriffs „nuklearer Schaden“ deutlich
erweitert. Dadurch werden in Zukunft insbesondere Umweltschäden erfasst. Die weitgehende inhaltliche Deckungsgleichheit der Bestimmungen der regionalen Pariser und Brüsseler Atomhaftungsübereinkommen und des
weltweiten Wiener Atomhaftungsübereinkommens wird
wiederhergestellt. Dies war nach der Revision des Wiener
Übereinkommens 1997 erforderlich geworden.
Ich hatte anlässlich der ersten Lesung der vorliegenden Gesetzentwürfe meine Hoffnung auf eine breite Zustimmung im Bundestag zum Ausdruck gebracht. Die gestrigen Beratungen im Umweltausschuss haben mich
leider eines Besseren belehrt. Besonders verwundert bin
ich über die Ablehnung der Grünen: Wurden doch die Pariser Atomhaftungsabkommen noch unter der Federführung des grünen Umweltministers Jürgen Trittin ausgehandelt. Statt zum eigenen Regierungshandeln zu stehen,
ziehen Sie sich mit Ihrem Entschließungsantrag zur Haftungsfrage im Atomgesetz auf Maximalpositionen zurück.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, mit
der Frage der Versicherungsfähigkeit von Atomanlagen
weisen Sie auf ein altbekanntes Problem hin. Professor
Traube hat dies in der öffentlichen Anhörung des Umweltausschusses anlässlich des 20. Jahrestages der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl im Jahr 2006 auf den
Punkt gebracht. Ich zitiere: Wir haben das Problem, dass
der Unfall, der große Unfall, sehr unwahrscheinlich ist,
aber seine Folgen sehr, sehr groß wären. Das ist ein Problem, das wir mit Null mal Unendlich bezeichnen.
Daraus folgt: Die Versicherungssumme für ein Atomkraftwerk ist grundsätzlich immer zu niedrig oder zu
hoch. Mit dem Atomkonsens von 2000 und der Novelle
des Atomgesetzes von 2002 haben wir dieses Dilemma
durch einen politischen Kompromiss gelöst. Dieser Kompromiss sieht eine unbegrenzte Haftung des Anlagenbetreibers vor, der durch eine Deckungssumme von
2,5 Milliarden Euro je Schadensfall abgesichert wird.
Die damalige Novelle des Atomgesetzes stellte eine deutliche Verbesserung des Opferschutzes dar und geht weit
über das hinaus, was wir hier heute für das internationale
Atomhaftungsrecht beraten.
Wir sind uns alle bewusst, dass die Folgen eines GAUs
in einem deutschen Atomkraftwerk selbst die Betriebsvermögen der vier großen deutschen Energieversorger zusammengenommen bei weitem übersteigen würden. Die
Internationale Atomenergie-Organisation, der man eine
zu große Nähe zu Atomkraftgegnern nicht unterstellen
wird, schätzt in ihrem Tschernobyl-Bericht aus dem
Jahr 2005 den volkswirtschaftlichen Schaden der Reaktorkatastrophe von 1986 auf mehrere 100 Milliarden USDollar. Allein diese Zahl macht deutlich: Die Risiken der
Atomenergie tragen in letzter Konsequenz immer die Bürgerinnen und Bürger.
Es ist vor diesem Hintergrund und mit Blick auf die
milliardenschweren staatlichen Subventionen für die
Atomenergie in den vergangenen Jahrzehnten Augenwischerei, wenn der RWE-Konzern jetzt erwägt, einen reinen Atomstromtarif anzubieten. Dies ist ein durchsichtiges Manöver, die wahren Kosten der Atomenergie zu
verschleiern. Ich bin sicher, die Verbraucherinnen und
Verbraucher werden die richtige Antwort geben.
Ich möchte in diesem Zusammenhang aber auch noch
auf einen anderen Aspekt hinweisen: Allen Befürwortern
der Atomenergie muss klar sein, dass jeder schwere Störfall in einem Atomkraftwerk die Existenz der gesamten
Atomwirtschaft grundsätzlich infrage stellt. Wer fordert,
Milliarden in diese unsichere Form der Energiegewinnung zu pumpen, sollte die Bürgerinnen und Bürger auch
auf das Risiko eines Totalverlustes hinweisen. Ich betone
deshalb von dieser Stelle noch einmal: Wir stehen zum
Atomausstieg.
Zu den vorliegenden Gesetzentwürfen fasse ich nochmals zusammen: Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt
die vorliegenden Gesetzentwürfe als wesentliche Verbesserung des Opferschutzes im internationalen Atomhaftungsrecht. Wichtig ist jetzt, dass die Pariser Atomhaftungsprotokolle möglichst rasch in Kraft treten. Wir
leisten mit der heutigen Entscheidung unseren Beitrag
dazu.
Wie bereits in der ersten Lesung üben wir Liberale teilweise Kritik an den Gesetzentwürfen der Bundesregierung zu den Pariser Atomhaftungs-Protokollen 2004. Wir
bleiben aber weiterhin dabei, dass wir beiden Gesetzen
zustimmen, zumal es um die Umsetzung international ratifizierter Verträge geht. Die Gesetzentwürfe sehen vor,
dass die Haftungshöchstsummen deutlich erhöht werden;
das gilt für Betreiber kerntechnischer Anlagen und einzelne Vertragsstaaten genauso wie für die Gemeinschaft
der Vertragsstaaten. Das begrüßen wir. Begrüßenswert
ist ebenso, dass die Entschädigung für Bürger verbessert
wird, egal ob das betreffende Ereignis im eigenen oder im
Nachbarland stattgefunden hat.
Zu Protokoll gegebene Reden
Wir bleiben aber bei unserer Kritik: Es ist ein Unding,
dass die Bundesregierung dieses schlichte Artikelgesetz
benutzt, um dem Bundesamt für Strahlenschutz zulasten
der Kommunen und Länder und insbesondere der deutschen Kernforschungseinrichtungen 350 000 Euro mehr
an jährlichen Einnahmen zu gewähren. Ich sage es an
dieser Stelle noch einmal in aller Deutlichkeit: Unsere
Forschungseinrichtungen sind chronisch unterfinanziert.
Sie benötigen dieses Geld dringend, um ihre internationalen hohen Standards zu halten.
Liebe Kollegen von SPD und Grünen: Ob mit oder
ohne Atomausstieg, wir brauchen Fachkräfte - komme
was wolle - für den Rückbau von Kernkraftwerken genau
wie im Falle einer Verlängerung der Laufzeiten. Leider
mussten in der vergangenen Woche aber die Gewerkschaft Technik und Naturwissenschaft im öffentlichen
Dienst und Tanja Gönner, Umweltministerin von BadenWürttemberg, bestätigen, was wir seit langem wissen:
Die Bewerberzahlen für Studienplätze in Fächern, die für
eine funktionierende Atomaufsicht relevant sind, sind in
den letzten Jahren dramatisch eingebrochen. Selbst das
Bundesumweltministerium - man höre und staune - erkennt den Ernst der Lage: Der Fachkräftemangel sei ein
Thema, mit dem sich die Behörden auseinandersetzen
müssten.
Es ist verständlich, dass die wenigen Fachleute, die es
hierzulande gibt, sich von den hohen Gehältern locken
lassen, die die Privatwirtschaft zahlt. Das ist aber noch
lange kein Grund, die Kernforschung gleich ganz aufzugeben und dazu noch die Forschungsbedingungen zu verschlechtern. Aber auf eine genau solche Einstellung lässt
das Verhalten der Bundesregierung bezüglich der vorliegenden Gesetzentwürfe schließen. Der Bundesrat hat die
Zeichen der Zeit erkannt und der Bundesregierung empfohlen, die Beschneidung der Forschungseinrichtungen
rückgängig zu machen. Die Bundesregierung aber hat
diesen Einwand geflissentlich ignoriert und fördert lieber
sein eigenes Amt.
„Jeder ist sich selbst der nächste“ heißt ein kluges
Sprichwort. Das mag sich auch die Bundesregierung gedacht haben. Aber hier geht die Rechnung nicht auf. Weitaus eigennütziger wäre es - und in diesem Fall auch für
alle anderen besser -, die deutsche Kernforschung zu fördern. Das hat Staatssekretär Meyer-Krahmer noch vor
wenigen Wochen behauptet zu tun. Und nun das.
Deutschland darf seine Führungsrolle in der kerntechnischen Forschung nicht durch Zusatzbelastungen behindern - im Sinne der Sicherheit vorhandener und künftiger
Anlagen, der Nichtverbreitung, der Behandlung radioaktiver Abfälle und der Stilllegung ausgedienter kerntechnischer Anlagen. Die FDP-Bundestagsfraktion kritisiert
die vorgelegten Gesetzentwürfe in Teilen, befürwortet
aber die Umsetzung internationaler Abkommen auf
nationaler Ebene. Wir stimmen den Gesetzentwürfen der
Bundesregierung daher zu.
Die CDU setzt auf die gefährliche Atomkraft. Was das
kostet, darüber will sie aber nicht reden. Durchwinken
heißt die Devise, wenn es um die Folgen und volkswirtschaftlichen Auswirkungen der Atomkraft geht. Das
wurde am vergangenen Mittwoch in der Sitzung des Umweltausschusses deutlich.
Mit der Vorlage der Bundesregierung sollen zwar unter anderem die Haftungssummen für Atomtransporte neu
festgelegt und EU-weit vereinheitlicht werden. Doch bei
genauerem Hinsehen entpuppt sich der Entwurf als Luftnummer. Die Mindesthaftung bei Atomtransporten soll
80 Millionen Euro betragen. Bei einem Unfall mit abgebranntem Nuklearmaterial wird diese Summe nicht einmal im Ansatz reichen. Die Folgen eines Schadenfalls
würden das Hundertfache kosten.
Gleichzeitig klammert die Änderung des Atomgesetzes
eine längst überfällige Haftungsregelung für deutsche
Atomkraftwerke aus. Die Bundesregierung hält es nicht
für nötig, das Kassemachen der Atomkonzerne auf Kosten der Bürgerinnen und Bürger zu beenden. So heißt es
im Gesetzentwurf, die Änderung „erfordert keine inhaltlichen Anpassungen des nationalen Rechts“.
Damit wir uns richtig verstehen: Die Energiebosse haben für ihre Atomkraftwerke jeweils eine Haftungsbegrenzung von 2,5 Milliarden Euro. Die Folgekosten eines
Kernschmelzeunfalls werden aber mit 500 Milliarden bis
5 Billionen Euro angegeben. Ungeheure Summen würden
im Ernstfall auf die Allgemeinheit abgewälzt. Das würde
auch die deutsche Volkswirtschaft für längere Zeit lähmen.
So etwas ist nicht hinnehmbar und verdeckt die tatsächlichen Kosten der Atomenergienutzung. Diese rechnet sich für die Anlagenbetreiber doch nur, weil die enormen Zusatzkosten und Risiken auf die öffentliche Hand
abgewälzt werden. Bezieht man die sozialen, ökologischen und gesundheitlichen Risiken in die Stromrechnung
mit ein, würde Atomstrom je Kilowatt nicht 2 Cent, sondern 2 Euro kosten.
Damit ist klar: Atomenergie ist unwirtschaftlich, gefährlich und nicht beherrschbar - ganz abgesehen davon,
dass die Frage der Endlagerung hochradioaktiver Stoffe
wohl nie abschließend geklärt werden kann. Die Linksfraktion fordert die Bundesregierung deshalb auf, die
Haftungsfrage auch in Deutschland mit der vorliegenden
Gesetzesvorlage neu zu regeln. Man muss schließlich
auch zur Kenntnis nehmen, dass die Energiekonzerne mit
jedem der maroden Atomblöcke pro Jahr mindestens
300 Millionen Euro Profit machen. Die wahren Kosten
der Atomenergie müssen endlich offengelegt werden.
Letztendlich muss die Konsequenz aber lauten: Raus aus
der gefährlichen Atomenergie, so schnell wie möglich.
Einige Verbesserungen bringt der Entwurf aber: Das
Bundesamt für Strahlenschutz kann zukünftig Kosten für
Verwaltungsaufgaben in Rechnung stellen. Das ist zu begrüßen; denn es ist nicht gerechtfertigt, dass die Bürgerinnen und Bürger die Kosten der gefährlichen Atomenergie durch die Hintertür bezahlen.
Die Linke wird sich deshalb zu den Gesetzentwürfen
enthalten.
Zu Protokoll gegebene Reden
In der vergangenen Woche habe ich bei der ersten Debatte zur Änderung des deutschen Atomrechts auf die Gefahren hingewiesen, die mit der Atomkraft einhergehen.
Aus Sicht der Grünen sollte die Haftung für dieses Risiko
durch die Betreiber sichergestellt werden. Die Höhe der
gesetzlich festgelegten Deckungssumme, die sich im Promillebereich der tatsächlichen Kosten bei einem schwerwiegenden Atomunfall bewegt, muss dringend angehoben
werden.
Der jüngste Fall eines ernsten Störfalls in einem europäischen AKW liegt erst wenige Stunden zurück. Im slowenischen AKW Krsko ist radioaktives Kühlwasser aus
dem Primärkühlsystem des Reaktors ausgetreten. Fachleute gehen davon aus, dass dies zu einem Druckabfall im
System geführt hat. Das ist die erste Stufe zu einer Kernschmelze. Eine Kernschmelze hat 1986 zur Katastrophe
in Tschernobyl geführt. Dass gestern in Slowenien eine
derart ernste Situation eintreten konnte, dass das AKW
heruntergefahren werden musste, wie schon mehrfach in
den vergangenen Jahren, alles, obwohl es mit deutscher
Technologie nachgerüstet wurde, zeigt die Vermessenheit
der heimischen Atomlobby. Hier wird nach wie vor dreist
behauptet, deutsche Atomkraftwerke seien „sicher“.
Auch die Aussage von Kommissar Piebalgs und von
Umweltminister Gabriel, alles sei im Griff, das europäische Informationssystem funktioniere bestens und die
Medien würden mit ihrer Berichterstattung Ängste schüren, offenbart eine politische Ignoranz gegenüber den
Gefahren der Atomkraft, die wir zurückweisen. Vielmehr
ist festzuhalten, dass sich bei einem Verlust von Kühlwasser der Reaktor durch schnelles Herunterfahren derart
aufheizen kann, dass es zu einer Kernschmelze kommt.
Ein Leck im Kühlsystem ist also wahrlich keine Lappalie,
sondern einer der schlimmsten Störfälle, zu dem es in einem Atomkraftwerk kommen kann.
Das Risiko der Atomkraft bleibt unbeherrschbar. Deshalb ist es zwingend, eine obligatorische Haftung in der
vollen Höhe des möglichen Schadens gesetzlich festzuschreiben. Der Änderung des Atomgesetzes können wir
deshalb nicht zustimmen. Es bleibt bei unserer Forderung
nach einer deutlichen Erhöhung der garantierten Deckungsvorsorge. Die garantierte Deckung im Promillebereich eines möglichen Schadens ist nicht hinnehmbar.
Tatsächlich müsste das gesamte Risiko versichert werden.
Darüber hinaus ist es an der Zeit, die Organisationsstruktur der finanziellen Vorsorge zu verändern. Wir sind der
Ansicht, dass diese Geldmittel unter staatliche Kontrolle
gestellt werden sollten. Die Erträge aus diesen Rücklagen
sollten in zukunftsweisende Technologien im Bereich der
Erneuerbaren investiert werden.
Wir kommen zu den Abstimmungen. Tagesordnungspunkt 20 a. Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9472, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf Drucksache 16/9077 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU und FDP
bei Gegenstimmen der Grünen und Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit in dritter Beratung mit demselben Stimmenergebnis wie in zweiter Beratung angenommen.
Tagesordnungspunkt 20 b. Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9473,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache
16/9078 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist
damit mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU und FDP
bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und
der Fraktion Die Linke angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike
Höfken, Cornelia Behm, Nicole Maisch, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kein Leugnen der BSE-Gefahren - Tierfette
und -mehle raus aus der Lebensmittelerzeugung - Rein in die energetische Verwertung
- Drucksache 16/9098 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Franz-Josef
Holzenkamp, CDU/CSU, Dr. Wilhelm Priesmeier, SPD,
Hans-Michael Goldmann, FDP, Dr. Kirsten Tackmann,
Die Linke, Ulrike Höfken, Bündnis 90/Die Grünen.
Ihr Antrag offenbart mal wieder Ihre typische
schwarz-weiß Denke. Unter der Überschrift „Kein Leugnen der BSE-Gefahren“ breiten Sie vor uns einmal mehr
Ihre bekannten Vorurteile aus: Intensive Landwirtschaft
ist schlecht. Nur der Ökolandwirt ist ein guter Landwirt.
Die fleischverarbeitende Wirtschaft besteht aus lauter
Kriminellen. Gentechnik ist per se gefährlich.
Das ist ärgerlich und raubt uns die Zeit für wirklich
wichtige sachorientierte Politik. Sie geben wieder mal
keine Antwort auf drängende Fragen in der Landwirtschaft. Ich bitte Sie inständig: Ersparen Sie uns diesen
Quatsch zukünftig.
Besonders ärgerlich ist: Dieser Antrag ist nicht nur inhaltlicher Quatsch, er ist zudem fahrlässig populistisch.
Sie spielen hier mit den Ängsten der Verbraucher und malen ein BSE-Schreckensszenario an die Wand, das mit der
Wirklichkeit nichts zu tun hat.
Verstehen Sie mich nicht falsch, niemand will die aufgetretenen Fälle von BSE oder der Creutzfeldt-JakobKrankheit relativieren. Aber Sie benutzen Ihr BSE-Schreckensszenario, um die Landwirte, die intensive Tierhaltung betreiben, zu diffamieren. Ist es bei Ihnen immer
noch nicht angekommen: Jeder Tierhalter in Deutschland
hat höchste Tierschutz- und Umweltstandards einzuhalten.
Aber die BSE-Erreger allein reichen nicht aus, um Ihrem Theaterstück richtig Pfeffer zu geben. Der zweite Bösewicht wartet schon an der nächsten Ecke: Die durch
und durch kriminelle Fleischwirtschaft, die ob des größten Profites nicht nur Gammelfleischskandale am laufenden Band produziert. Nein, hier wird auch munter mit
BSE-verseuchtem Futtermittel herumgesudelt.
Für die Kollegen von den Grünen also noch einmal:
Nein, nicht die gesamte fleischverarbeitende Branche ist
kriminell. Ja, es gibt - wie überall - schwarze Schafe.
Und die gilt es zu scheren.
Deswegen wurden mit dem von der Bundesregierung
vorgelegten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Lebens- und Futtermittelgesetzbuches die Barrieren für die
schwarzen Schafe in der Lebensmittelbranche noch einmal hochgesetzt. So sind Lebensmittelunternehmer künftig verpflichtet, die Behörden zu informieren, wenn ihnen
verdorbene Lebensmittel angeboten werden. Damit
gehen wir aktiv gegen die Verschiebebahnhöfe vor. Außerdem werden wir den Bußgeldrahmen bei Verstößen
gegen das Lebens- und Futtermittelrecht von 20 000 auf
50 000 Euro anheben. Damit haben die Behörden nun
weitaus schärfere Sanktionsmöglichkeiten. Das Abschreckungsmoment steigt. So, meine Damen und Herren von
den Grünen, sieht ein sachlicher und konsequenter Verbraucherschutz aus.
Erlauben Sie mir auf Ihre Forderung nach dem Verbot
der Verfütterung tierischer Fette und Proteine einzugehen. Ich begrüße es ausdrücklich, dass wir den Vorschlag
des Bundesrates aufgegriffen haben, die Verfütterung von
tierischen Fetten an Nichtwiederkäuer wieder zuzulassen. Im Zuge der BSE-Krise hatte die Europäische Union
die Verfütterung von tierischen Proteinen als potenzielle
Überträger des BSE-Virus verboten. Das war eine Entscheidung, die damals zu Recht getroffen wurde.
Die Vorgängerregierung ist über das Ziel - wie so oft hinausgeschossen und hat zudem auch noch die Verfütterung der tierischen Fette verboten. Kein anderes EU-Mitgliedsland sah sich zu dieser Maßnahme gezwungen.
Aber Verbraucherschutz ist nicht teilbar! Wir können
zwar in Deutschland Regelungen und Verbote einführen.
Bei offenen Märkten nützt das nur oftmals nichts. Wie
auch in diesem Fall.
Die deutschen Verbraucher sind hier von Frau Künast
schlicht an der Nase herumgeführt worden. Ihnen wurde
vorgegaukelt, dass auf ihren Tisch kein Fleisch kommt,
das von einem Tier stammt, welches mit tierischen Fetten
gefüttert worden ist. Hatte das Tier seine Heimat in einem
andern europäischen Mitgliedsland, dann wurde es aber
mit tierischen Fetten gefüttert, und der Verbraucher hat
nichts gemerkt.
Unsere Veredelungsbetriebe sahen und sehen sich im
Vergleich mit den europäischen Nachbarn deutlichen
Wettbewerbsnachteilen ausgesetzt. Denn sie müssen die
tierischen Fette durch pflanzliche Futtermittel ersetzen.
Die zusätzlichen Kosten für unsere Veredelungswirtschaft
sind erheblich. Marktanteile wurden verloren. Am Ende
stehen auch immer Arbeitsplätze in der Land- und Ernährungswirtschaft zur Disposition.
Nein, auch hier zeigt Ihr Antrag in die falsche Richtung. Mit der Wiederzulassung der Verfütterung tierischer Fette an Nichtwiederkäuer heben wir Ihr unsinniges Verbot endlich auf. Es ist mir auch klar, dass Ihnen
das nicht passt - und es ist trotzdem richtig.
Verboten bleibt vorerst die Verfütterung tierischer
Fette von Nichtwiederkäuern an Wiederkäuer. Aber auch
hier wünschte ich mir eine Lockerung. Allerdings benötigen wir dafür genaue Analysemethoden, um die Stoffströme genau zu kanalisieren. Hier ist aber auch die Wirtschaft aufgerufen mitzuhelfen, dass Analyseverfahren zur
Bestimmung der Fettherkunft weiterentwickelt werden.
Kommen wir nun zu den tierischen Proteinen. Auch
hier fordern Sie die Beibehaltung des Verfütterungsverbotes. Gleichzeitig fordern Sie, den Anbau heimischer
GVO-freier Eiweiß-Futtermittelpflanzen zu stärken.
Durch das noch immer bestehende Verbot der Verfütterung tierischer Proteine müssen europäische Tierhalter
noch stärker auf Ersatz in Form pflanzlicher Proteine,
zum Beispiel Sojaschrot, zurückgreifen.
Ihr Vorschlag, durch einheimische Eiweißpflanzenproduktion die tierischen Proteine zu ersetzen, ist auf den
ersten Blick blauäugig, auf den zweiten schamlos.
Ich denke, Ihnen dürfte nicht entgangen sein, dass man
für die aus lebensmitteltauglichen Schlachtabfällen gewonnene Proteinmenge - das sind für Europa 1,125 Millionen Tonnen und für Deutschland 262 500 Tonnen 3,2 Millionen Tonnen für Europa oder 746 000 Tonnen
für Deutschland Sojaschrotäquivalent produzieren
müsste. Die dafür benötigte Anbaufläche entspricht der
Größe Schleswig-Holsteins!
Sie wissen so gut wie ich, dass es illusorisch ist, einerseits die Menge der tierischen Proteine auf deutscher
oder europäischer Anbaufläche zu substituieren. Andererseits wird es in Zukunft unumgänglich sein, gentechnisch veränderte Sojaschrotimporte zuzulassen, da auf
dem Weltmarkt immer weniger GVO-freies Soja zur Verfügung steht.
Bleibt es weiterhin bei der restriktiven europäischen
GVO-Politik - und dies fordern Sie ja in Ihrem Antrag -,
gäbe es folgendes Szenario: GVO-freies Soja würde aufgrund rapide abnehmender Marktverfügbarkeit so teuer
werden, dass die Futtermittelkosten für unsere Tierhalter
enorm in die Höhe schnellen würden - Studien sprechen
von einer Verteuerung von bis zu 600 Prozent. In der
Zu Protokoll gegebene Reden
Folge würden die Nahrungsmittelpreise rapide steigen.
Weiterhin würden viele tierhaltende Betriebe und Verarbeitungsbetriebe aufgeben müssen, weil sie gegenüber
der GVO-fütternden ausländischen Konkurrenz nicht
mehr wettbewerbsfähig wären. Zahlreiche Arbeitsplätze
gingen verloren. Schließlich würde der deutsche Nahrungsmittelmarkt mit Produkten ausländischer Anbieter
überschwemmt, die nicht zu unseren hohen Tier- und Umweltschutzstandards produzieren.
Meine Damen und Herren von den Grünen, sagen Sie
das den Landwirten und den Verbrauchern endlich einmal deutlich ins Gesicht. Sagen Sie Ihnen: Ja, uns ist unsere Ideologie wichtiger als eure Arbeitsplätze und der
Verbraucherschutz. Seien Sie endlich einmal ehrlich!
Nein, Vernichtung von Arbeitsplätzen und Verbrauchertäuschung kann nicht unser Ziel sein. Deswegen bin
ich für die Wiederzulassung der Verfütterung tierischer
Proteine. Allerdings müssen wir strengste Maßstäbe an
die Wiederzulassung anlegen: Es muss sichergestellt
sein, dass vollständig getrennte Ketten in der Futtermittelproduktion und bei der Anwendung des Futters erreicht werden und sichere Testverfahren vorhanden sind.
Ist dies nicht der Fall, kann es keine Wiederzulassung der
Verfütterung tierischer Proteine geben. Das erwartet der
Verbraucher. Und dazu hat er auch volles Recht.
Wir können es uns nicht mehr leisten, wertvolle Rohstoffe wie tierische Fette und Proteine aus dem Verwertungskreislauf auszuschließen. Das trifft im Übrigen auch
auf die Verwertung im Kraftstoffbereich zu. Allerdings
müssen Verwendung und Verbrauchersicherheit Hand in
Hand gehen.
Wir beraten heute den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen „Kein Leugnen der BSE-Gefahren Tierfette und -mehle raus aus der Lebensmittelerzeugung
- Rein in die energetische Verwertung“. Ich finde es löblich, dass die Kolleginnen und Kollegen heute das Thema
Landwirtschaft auf die Tagesordnung gebracht haben.
Leider nutzen sie jedoch wieder einmal ein mit Ängsten
besetztes Thema für einen Rundumschlag gegen die konventionelle Tierhaltung in Deutschland. Das habe ich
nicht anders erwartet. Es hilft aber in der Sache nicht
weiter. Wir haben es mit einem sehr sensiblen Thema zu
tun. Daher sollten wir mit ein wenig mehr Sorgfalt und
Rationalität an die Sache gehen.
Ihr Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
grünen Fraktion, suggeriert, dass die Gefahren, die von
BSE-Risikomaterial für die menschliche Gesundheit ausgehen, von den Koalitionsparteien vollkommen vernachlässigt werden. Dem muss ich energisch widersprechen.
Ein kleiner Blick auf die Zahlen verdeutlicht die Brisanz
des Themas: Insgesamt haben wir in Deutschland seit der
Einführung der BSE-Tests knapp 400 bestätigte BSEFälle bei Rindern. Die Tendenz ist eindeutig abnehmend:
In den Jahren 2005 und 2006 wurden insgesamt 48 Rinder positiv getestet, im Jahr 2007 nur noch vier Tiere und
im laufenden Jahr nur noch ein Rind. Es ist eine eindeutige Tendenz zu erkennen. Dies ist ein Beleg für mich,
dass die Bekämpfungs- und Kontrollmaßnahmen gegriffen haben und erfolgreich umgesetzt wurden. Ich betone:
Wir sind in Deutschland auf dem richtigen Weg, und die
Erfolge bei der Bekämpfung von BSE geben uns recht! Es
dauert nicht mehr lange, und Deutschland wird den Status BSE-frei erlangen.
Wir müssen uns aber auch die Relation zu den insgesamt 16 801 885 getesteten Rindern verdeutlichen:
Knapp 400 amtlich festgestellte BSE-Fälle im Zeitraum
vom 1. Januar 2001 bis zum 31. März 2008 sind prozentual ein geringer Anteil. Aber selbstverständlich ist die
absolute Zahl an BSE-Fällen aus Sicht des vorbeugenden
gesundheitlichen Verbraucherschutzes nicht hinnehmbar,
gibt es also keinen Grund, Vorsorgemaßnahmen schleifen
zu lassen - was wir im Übrigen auch nicht tun.
Mit dem Änderungsantrag zum Gesetzentwurf zur Änderung des Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuches
spricht sich auch die SPD dafür aus, die Verfütterung von
Fetten aus Gewebe warmblütiger Landtiere an Wiederkäuer weiterhin zu verbieten. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf folgen wir den Empfehlungen der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit, des BfR und
des FLI, die ebenfalls zu dem Schluss gekommen sind,
dass bei der Verarbeitung des von Nichtwiederkäuern gewonnenen Fettes jegliches BSE-Risiko auszuschließen
ist. Ich möchte betonen: Wir sprechen nicht von irgendwelchen Fetten, sondern ausschließlich von Fetten derjenigen Tiere, die vorab für den menschlichen Genuss als
tauglich befunden wurden. Alle anderen Tiere werden
weiterhin in vollem Umfang den Tierkörperbeseitigungsanlagen zugeführt und gelangen daher nicht in die Lebensmittelkette. Mit dem Gesetzentwurf gehen wir in Europa keinen Sonderweg, sondern vollziehen die Praxis
nach, die in den anderen EU-Ländern seit vielen Jahren
alltäglich ist. Ich sehe daher keine Notwendigkeit, in Aufgeregtheiten zu verfallen, und möchte Sie in diesem Zusammenhang um mehr Sachlichkeit bitten. Ihr Antrag
strotzt von Unwissenheit: Sie vermischen die Verfütterung
von Fetten mit der Verfütterung von Wiederkäuertiermehlen, was überhaupt nicht zur Diskussion steht. Mit diesem
Szenario verunsichern Sie deutsche Verbraucherinnen
und Verbraucher. Von einer Zulassung der Tiermehlverfütterung an alle Tierarten kann aber zum gegenwärtigen
Zeitpunkt keine Rede sein.
Es ist legitim, darüber nachzudenken, in welchem Umfang tierische Einweiße in der Futtermittelproduktion
eingesetzt werden können. Ausgangspunkt aller Überlegungen ist und bleibt aber das Verfütterungsverbot an
Wiederkäuer. Die entsprechende Kennzeichnung der Futtermittel und die Überwachung am Entstehungs- und Verwendungsort bleiben dabei unerlässlich. Die heutigen
Standarduntersuchungsverfahren stellen sicher, dass
selbst geringste Spuren von Rindereiweiß in Futtermitteln
von Wiederkäuern problemlos und schnell festgestellt
werden können. Ihr Antrag ist gehaltlos und kann daher
von meiner Fraktion nur abgelehnt werden.
Unsere Landwirte werden ständig mit steigenden Produktionskosten konfrontiert. Die aktuellen Proteste der
Milchbauern sprechen eine beredte Sprache hierüber.
Zu Protokoll gegebene Reden
Auf der Demo des BDM lassen sich die Grünen als
Freunde der Milchbauern feiern, doch sie gehören zu den
Wegbereitern der ständig steigenden Produktionskosten
der deutschen Landwirtschaft. Zusammen mit der SPD
haben sie dafür gesorgt, dass die Ökosteuer die deutschen
Landwirte belastet, dass die deutschen Bauern ein Vielfaches an Steuern auf ihren Diesel zu bezahlen haben, jeweils im Vergleich zu ihren europäischen Nachbarn.
Und CDU/CSU und SPD machen gleich so weiter wie
zuvor Rot-Grün. Europäische Vorschriften werden nach
wie vor nicht eins zu eins umgesetzt. Den Verbrauchern
wird suggeriert, dass es 100 Prozent gentechnikfreie Lebensmittel geben könnte, und die Zeche zahlen die Landwirte.
Im Zuge der BSE-Bekämpfung hat man vielfach das
Kind mit dem Bade ausgeschüttet und Maßnahmen ergriffen, die nichts mit BSE-Bekämpfung zu tun haben, wie
zum Beispiel das Verbot tierischer Fette an Nichtwiederkäuer. Die FDP hat diese Maßnahme schon immer abgelehnt.
Angesichts der beständig sinkenden BSE-Zahlen in
Deutschland tritt die FDP außerdem dafür ein, dass das
BSE-Testalter abgeschafft wird. Wir müssen zwar weiter
dafür sorgen, dass das Risikomaterial entsorgt wird, doch
die Testerei ist nichts als eine Ressourcenverschwendung.
Schließlich setzen wir uns dafür ein, dass das generelle
Verbot der Verfütterung tierischer Eiweiße auf europäischer Ebene überprüft wird. Auch dieses Verbot ist nicht
mehr zeitgemäß.
Wir müssen diese Ressourcen schließlich auch nutzen,
um eine Entlastung der Flächenkonkurrenz herbeizuführen.
Wir können nicht einerseits GVO-Futtermittel verbieten und andererseits den heimischen Schweineproduzenten die Verfütterung von tierischem Eiweiß untersagen.
Hier muss endlich wieder umgedacht werden.
Kein Leugnen der BSE Gefahren - das schreiben die
Grünen in ihrem Antrag. Ich verstehe sehr gut, dass die
dramatischen Vorgänge im Jahr 2000 ein Trauma hinterlassen haben bei den Grünen. Sie waren damals in Regierungsverantwortung und es war in der damals auch von
den Medien entfachten Hysterie offensichtlich nicht immer ganz einfach, sachlich richtige und politisch kluge
Entscheidungen zu treffen. Zu lange hatte die Politik die
warnenden Stimmen aus der Wissenschaft ignoriert, um
das einmal vorsichtig auszudrücken. Denn die sagten
schon lange vor dem ersten BSE-Nachweis, dass es nahezu ausgeschlossen sein dürfte, dass Deutschland bei
dieser neuartigen Erkrankung eine Insel der Glückseeligen bleibt. Und sie machten lange vor diesem ersten
Nachweis auf große Wissenslücken aufmerksam. Als das
erste infizierte Rind dann diagnostiziert war, brach ein
Zustand aus, den man mit gutem Recht als chaotisch bezeichnen kann.
Wir wussten damals wenig über den Auslöser der Erkrankung. Auch das Wissen über die Übertragungswege
war eher spekulativ. Daher mussten auch die Bekämpfungsmaßnahmen zunächst am theoretisch Denkbaren
ausgerichtet werden. Selbst die Diagnostik war auf das,
was dann kam, nicht vorbereitet. Von einer ohnehin
schwierigen Einzeltierdiagnostik musste auf Massentierdiagnostik umgestellt werden. Deren Befunde entschieden lange über die Existenz von ganzen Rinderherden und
-beständen. Ich kann mich an die Hektik, die durch eine
allzu reißerische Medienbegleitung forciert wurde, sehr
genau erinnern. Ich habe damals an dem Institut in Wusterhausen gearbeitet, das für die wissenschaftliche Begleitung der Entscheidungen verantwortlich war. Die
Situation in jenen Tagen hat eine Erkenntnis bei mir weiter vertieft: Über Tierseuchenbekämpfungskonzepte muss
man in Friedenszeiten nachdenken. Nur dann kann sachlich jenseits unterschiedlicher Lobbyismen begründet bewertet werden. Das setzt allerdings voraus, dass Gefahr
erkannt und ernst genommen werden. Aber genau das ist
das eigentliche Problem. In Friedenszeiten werden selbst
die für die Beantwortung der allernotwendigsten Fragen
notwendigen Ressourcen nur sehr begrenzt bereitgestellt.
Die Gefahr wird so lange ignoriert, bis es zu spät ist. Warnungen aus der Wissenschaft werden mit dem Vorwurf erwidert, es ginge nur um mehr Geld. Diese Geschichte
wiederholt sich leider regelmäßig. Ich erinnere nur an
MKS, Vogelgrippe und Blauzungenkrankheit. Dabei
wächst die Gefahr von Tierseuchen durch die globalen
Personen- und Handelsströme.
Das Signal müsste sein, die Veterinärepidemiologie,
die Wissenschaft für die Tierseuchenbekämpfung, zu stärken. Stattdessen hält auch diese Regierung an der Schließung der einzigen Einrichtung der Agrarressortforschung fest, das sich mit solchen Bekämpfungskonzepten
und Risikobewertungen beschäftigt: das Institut für Epidemiologie in Wusterhausen/Dosse. Der Schließungsbeschluss war schon 1996 ein Fehler und heute spricht noch
viel mehr dagegen. Es ist inakzeptabel, dass diese Entscheidung nicht wenigstens noch einmal geprüft wird.
Die Folgen dieser Ignoranz sind dramatisch: Verbraucherinnen und Verbraucher werden verunsichert und
Tiererkrankungserreger sind unterdessen eine ökonomische Existenzbedrohung für die Nutztierhaltung
Doch zurück zur BSE. In Erinnerung an die Situation
im Jahr 2000 ist es besonders wichtig, über die Frage des
Übertragungsrisikos durch Tiermehl und Tierfette sehr
ernsthaft, aber auch in aller Ruhe zu diskutieren. Auf der
einen Seite steht die Tatsache, dass das totale Fütterungsverbot seit Anfang 2001 Erfolg hatte: Im vergangenen
Jahr wurden nur vier BSE-Fälle nachgewiesen und das
bei 3,3 Millionen Schlachtungen. Das heißt aber auf der
anderen Seite: Das Risiko der Übertragung ist extrem gefallen. Auch die Herstellungsprozedur für Tiermehl
wurde risikominimierend geändert. Das spräche für eine
Aufhebung des Totalverbots sind zwei Einschränkungen:
das Fütterungsverbot an Wiederkäuer und das Kannibalismusverbot, das heißt keine Verfütterung an die gleiche
Tierart, bleiben bestehen, und zwar unter einer Vorbedingung: Verstöße gegen diese beiden Verbote müssen nachweisbar und damit kontrolliert sein.
Zu Protokoll gegebene Reden
Das ist die eigentlich wichtige Debatte, die wir im Ausschuss führen müssen: Kann die Verwendung des Tiermehls ausreichend sicher kontrolliert werden?
Die schwarz-rote Koalition bricht mit dem Prinzip des
vorsorgenden Verbraucherschutzes und der Tierseuchen-
und Krankheitsbekämpfung. Sie macht einen fatalen
Schritt, wenn sie mit der Novelle des Lebensmittel- und
Futtermittelgesetzbuches klammheimlich das Verfüttern
von Tierfetten an Nichtwiederkäuer wieder zulässt. Die
fatalen Folgen von BSE werden - wie vor 2001 - unter
den Teppich gekehrt. Dabei sind bis heute Erreger und
Übertragungswege nicht geklärt. Tatsache ist aber: Mil-
lionen von Tieren und Menschen sind in Gefahr. Auch
Nichtwiederkäuer sind an BSE erkrankt. Verbrauchermi-
nister Seehofer zeigt hier wieder einmal seine Unglaub-
würdigkeit: Während die Große Koalition bereits Ende
Februar den Vorstoß unternahm, mit einem Änderungs-
antrag das Verbot der Tierfettverfütterung zugunsten der
Futtermittel- und Fleischlobby zu lockern, stellte Minis-
ter Seehofer Ende April im Plenum noch fest: „Mir ist
nicht bekannt, dass die Bundesregierung beabsichtigt,
Tierfette/Tiermehle zuzulassen“.
Unwissenheit oder Unwahrheit? Anfang Mai folgte
dann die Offenbarung von Seehofer. Bereits im Sommer,
so titelten die Gazetten, wäre es denkbar, dass eine ge-
meinsame Verfütterungsposition der Bundesregierung
über Handlungsempfehlungen zustandekomme. Seehofer
erliegt klar dem Druck und den Drohgebärden der Fut-
termittel- und Agroindustrie und vertritt eins zu eins die
Position des Deutschen Bauernverbandes. Der Verbrau-
cherschutz wird leichtfertig den Interessen der Futtermit-
tel- und Agroindustrie geopfert.
Es darf nicht vergessen werden: Tierfette sind beson-
ders risikoreich, weil der Erreger BSE liposom ist, das
heißt, sich an Fette anlagert bzw. bindet. In Großbritan-
nien, wo die Rinderkrankheit am stärksten wütete, star-
ben bis Ende 2007 bereits 163 Menschen.
Die auf die BSE-induzierte Form der Creutzfeldt-Ja-
kob-Krankheit zurückzuführenden Todesfälle in Spanien
Anfang des Jahres bestätigen, dass vor 2001 mit BSE ver-
seuchtes Fleisch Todesfälle verursacht. Dort wurden seit
dem Jahr 2000 mehr als 720 Krankheitsfälle bei Kühen
bekannt. In Deutschland sind mehr als 400 BSE-Krank-
heitsfälle bei Rindern offiziell bestätigt, wobei eine hö-
here Dunkelziffer angenommen wird.
Experten gehen davon aus, dass die Inkubationszeit
der durch BSE bedingten Creutzfeldt-Jakob-Krankheit
mindestens zehn Jahre beträgt. Es ist also damit zu rech-
nen, dass erst in den nächsten Jahren der ganze Umfang
der menschlichen Erkrankungen zutage tritt. Auch das
Friedrich-Loeffler-Institut hat vor einigen Wochen die
Wiedereinführung der Tierfette als falsches und riskantes
Signal gewertet.
Die EU-Kommission hat hingegen hinterrücks die
Wiedereinführung von Fischmehl erlaubt. Dies ist weder
als tiergerecht noch als Verbrauchervorteil zu bewerten.
Schließlich ist Fischmehl ein Fremdprotein für Nutztiere
und bei Menschen als Dioxin-Senke völlig kontraproduk-
tiv.
Die Futtermittel- und Fleischlobby verkündet laut-
stark, dass die Tierfette doch nur bei Schweinen und Hüh-
nern landen sollen und nicht in Trögen der Wiederkäuer.
Eine Garantie, dass komplette Futterströme von der Fut-
termittelindustrie getrennt und vom Staat kontrolliert
werden können, ist pure Illusion. Erst gestern beklagten
die Lebensmittelkontrolleure in einer Anhörung im Bun-
destag ihre katastrophale Personalsituation. Noch
schlimmer sieht es bei den Veterinären aus. Mit der Wie-
derzulassung von Tierfetten in der Futtermittelherstel-
lung wird dem Missbrauch in der Fleischindustrie Tür
und Tor geöffnet. Damit steigt die Gefahr der Übertra-
gung von Krankheiten auf Mensch und Tier enorm an.
Dies bestätigt auch eine Recherche der Verbraucher-
organisation Foodwatch von Anfang April. Zum einen
wurden mehrere tausend Tonnen Risikomaterial zu Tier-
mehldüngemittel umdeklariert, von Deutschland illegal
exportiert und in Malaysia in die Lebens- und Futtermit-
telkette eingeschleust. Das alles zeigt, dass Minister See-
hofer seine ergriffenen Maßnahmen zwar offen angekün-
digt, aber in der Praxis nicht umgesetzt hat. Bis heute
fehlt die Umsetzung des K-3-Materials durch Zusatz von
Farb-, Geruchs- oder Bitterstoffen. Auch die Melde-
pflichten über die Verwendung von Tiermehldüngemitteln
sind mangelhaft.
Auch die Schweizer haben in einem partiellen Fütte-
rungsversuch gezeigt, dass eine Trennung der Waren-
ströme nicht funktioniert. Mit der Wiederzulassung von
Tierfetten in Tierfutter wird eine Aufweichung von Ge-
sundheits- und Qualitätsstandards in der Nahrungsmit-
telkette vollzogen, und Menschen werden in unverant-
wortlicher Weise gefährdet.
Um das Vertrauen der Verbraucher zu sichern und zum
Schutz des Images von Fleischprodukten haben aus Sicht
von Bündnis 90/Die Grünen Tierfette und -mehle nichts in
der Futterkette zu suchen. Wir Bündnisgrüne stehen für
eine sinnvolle Alternative, nämlich die Reststoff- und Ab-
fall-Verwertung in der Energieerzeugung. Wer Kreislauf-
wirtschaft unterstützen will, der muss sich einsetzen für
die kontrollierte und abgesicherte Verwendung der Tier-
abfälle in der Energiegewinnung.
Außerdem plädieren wir für deutlich weniger, dafür
aber qualitätsvolleres Fleisch in der Ernährung, aus öko-
logischen und bäuerlichen Betrieben. Klasse statt Masse,
das ist der Wahlspruch grüner Verbraucherpolitik. In Zu-
kunft muss die Basis der Futtermittelerzeugung in Europa
selbst liegen. Forschung und Entwicklung von gentech-
nikfreien Eiweißpflanzen müssen verstärkt werden.
Ebenso ist die Nutzung von Rapskuchen als Eiweißalter-
native eine weitere Möglichkeit.
Eindeutige und verbraucherfreundliche Regelungen
zur Kennzeichnung und klare Sicherheitsbestimmungen
werden sich auf Dauer als wichtiger Markt- und Stand-
ortvorteil der deutschen Landwirtschaft erweisen. Die
gesamte Agrar- und Fleischwirtschaft sollte dies als
Chance nutzen, statt das Risiko der Tiermehl-/Tierfett-
Verfütterung einzugehen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/9098 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22 a und 22 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Christian Ruck, Dr. Wolf Bauer, Hartwig Fischer ({0}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Dr. Bärbel Kofler, Dr. Sascha Raabe, Gregor
Amann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Förderung von Bildung und Ausbildung Entwicklungspolitischen Schlüsselsektor konsequent ausbauen
- Drucksache 16/9424 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten HüseyinKenan Aydin, Monika Knoche, Dr. Diether Dehm,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Entwicklung braucht Bildung - Den deutschen
Beitrag erhöhen
- Drucksache 16/8812 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({2})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll gegeben. Es handelt sich um die
Reden folgender Kolleginnen und Kollegen:
Dr. Christian Ruck, CDU/CSU, Dr. Bärbel Kofler, SPD,
Hellmut Königshaus, FDP, Hüseyin-Kenan Aydin, Die
Linke, Ute Koczy, Bündnis 90/Die Grünen.
Wenn man sich die Frage stellt, was die Kernfaktoren
sind, die Entwicklung wirklich voranbringen, so wird
man als wichtigsten Schlüsselfaktor die Bildung identifizieren. Bildung ist der Schlüsselfaktor für erfolgreiche
nachhaltige Entwicklung und das Fundament aller anderen Säulen unserer Entwicklungszusammenarbeit und für
eine nachhaltige Entwicklung der Gesellschaft. Für die
unionsgeführte Entwicklungspolitik war Bildung daher
auch traditionell einer der drei Schwerpunkte.
Die Weltgemeinschaft hat die Bedeutung der Bildung
mit der Milleniumserklärung unterstrichen und strebt an,
es bis zum Jahr 2015 zu ermöglichen, dass alle Kinder auf
der Welt - Mädchen wie Jungen - eine Grundschulausbildung erhalten. Bei der Weltbildungskonferenz in Dakar im Jahre 2000 haben die 180 teilnehmenden Staaten
sechs Ziele verabschiedet, um „Bildung für alle“- Education For All, EFA - bis zum Jahre 2015 erreichen zu
können. Obwohl es unbestreitbar Erfolge bei der Bildungszusammenarbeit gibt - so besuchten im Jahr 2005
rund 24 Millionen Kinder mehr die Grundschule als noch
1999 -, ist die Bildungssituation in vielen Ländern weiterhin sehr besorgniserregend. Noch immer können
780 Millionen Menschen weltweit nicht lesen und schreiben, und fast 80 Millionen Kinder besuchen keine Grundschule.
Neben der klassischen Entwicklungszusammenarbeit
muss die Bildungszusammenarbeit auch eine größere
Rolle in der Unterstützung von Nachkriegsregionen, in
Flüchtlingslagern und in sogenannten „failing oder
failed states“ einnehmen. Nur so können dort Friedensund Entwicklungsperspektiven eröffnet werden. Diese
Gebiete und Staaten sind durch ein sehr geringes Bildungsniveau gekennzeichnet.
In den ärmsten Entwicklungsländern bricht jedes
vierte Kind die Schule vorzeitig und ohne Abschluss ab.
Für Millionen von Grundschulabsolventen steht kein weiterführendes Bildungsangebot zur Verfügung. Über den
Zugang zur Grundbildung hinaus ist es daher wichtig, die
Abbrecherquoten abzusenken und zusätzliche Bildungsperspektiven zu eröffnen. Der Bildungssektor muss in
seiner Gesamtheit als Querschnittsaufgabe der Entwicklungszusammenarbeit verankert werden. Sekundarschulbildung, akademische Bildung und die berufliche
Aus- und Fortbildung sind wichtige Kernelemente, um
die Entwicklungspotenziale unserer Partner zu optimieren.
Die Unterstützung des Bildungssektors muss darauf
abzielen, ein angepasstes, bedarfsgerechtes und kohärentes Bildungssystem aufzubauen bzw. fortzuentwickeln. Es
gilt dabei, in einem übergreifenden Ansatz Mechanismen
und Strukturen formeller und non-formaler Bildungsangebote für die frühkindliche Bildung, die Grundbildung,
die Sekundarschulbildung, die akademische Bildung, die
berufliche Aus- und Fortbildung und die Erwachsenenbildung ebenso zu etablieren wie die dazu erforderlichen
Voraussetzungen für die Bereitstellung der entsprechenden Infrastruktur und der dazu notwendigen Lehrkräfte
sowie deren Aus- und Fortbildung.
Alle konzeptionellen Ansätze der Bildungsunterstützung müssen - auch im Rahmen übergeordneter Armutsbekämpfungsstrategien - zwischen Partnern und Gebern
eng abgestimmt und verzahnt werden. Auch darf die Unterstützung nicht dazu führen, dass bestimmte Landesteile
bevorteilt bzw. benachteiligt werden. Maßnahmen der
Bildungsunterstützung sind nur dann nachhaltig erfolgreich, wenn die weitere Finanzierung auch nach dem
Rückzug der Geldgeber abgesichert ist. Entsprechende
Strategien müssen bereits bei der Konzeption der Maß17650
nahmen integraler Bestandteil der Planungen und Vereinbarungen sein.
Schwierige wirtschaftliche Bedingungen und fehlender Zugang zu Bildung sind Faktoren, die Menschen für
radikal religiöse und politische Heilslehren anfällig machen können. Um den Herausforderungen des Extremismus oder religiösen Fundamentalismus zu begegnen,
sollten in Risikogebieten die Zusammenarbeit im Bildungsbereich als ein sektorübergreifendes Anliegen verstanden und staatliche Bildungssysteme gestärkt werden,
damit sie attraktive Alternativen zu einem fundamental
religiös geprägten Bildungsangebot werden.
Voraussetzung für alles weitere Lernen ist eine solide
Grundbildung. Investitionen in Grundbildung sind Investitionen für eine nachhaltige Entwicklung durch eigenverantwortlich handelnde Menschen. Noch immer
herrscht eine sehr ungleiche Verteilung der Grundbildungsangebote zwischen Land und Stadt. Um den Bereich
der primären Bildung voranzubringen, sind mehr regionale und praxisorientierte Ansätze notwendig. Zur Überwindung der den Schulbesuch hemmenden Faktoren müssen angepasste Anreizstrategien - zum Beispiel
Anpassung der Ferien, an den landwirtschaftlichen Kalender, Erhöhung der Schuldichte, Schulspeisung - identifiziert und umgesetzt werden.
Es gilt zudem, Anreize für Lehrpersonal zu schaffen,
einen Lehrauftrag an abgelegenen Standorten aufzunehmen. Beim Ausbau der Schulsysteme und Einrichtungen
müssen die Faktoren Quantität und Qualität ineinandergreifen. Neben den Einschulungsraten ist verstärkt auf
die Abschlussraten zu achten. Vermitteltes Wissen sollte
durch Qualitätskontrollen und Leistungstests kontrolliert
werden.
Nach der Grundschule müssen den Schülerinnen und
Schülern weiterführende Bildungsangebote zur Verfügung stehen. Daher muss darauf geachtet werden, auch
angepasste und leistungsfähige Sekundarschulstrukturen
- insbesondere im ländlichen Raum - auf- bzw. auszubauen. Zielsetzung muss dabei sein, ein Sekundarbildungsangebot zu etablieren, welches sowohl die Basis für
ein selbstbestimmtes Leben der Jugendlichen schafft und
die für die Landesbedürfnisse notwendige Ausbildungsfähigkeit in praktischen Berufen sicherstellt als auch die
Qualifikation für eine weiterführende technische oder
akademische Weiterbildung vermittelt sowie die Beschäftigungsfähigkeit verbessert.
Der Mangel an gut ausgebildeten Fachkräften für Produktion. Handel und Dienstleistungen ist ein wichtiger
hemmender Faktor für die Entwicklung in vielen Entwicklungsländern. Der Aufbau angepasster Berufsausbildungssysteme in enger Kooperation mit der örtlichen
Wirtschaft ist daher eine große Herausforderung für viele
Partner und damit für die deutsche Entwicklungszusammenarbeit. Berufliche Bildung hat in der Entwicklungszusammenarbeit zwei wichtige Zieldimensionen: Sie unterstützt die Entwicklung und Erschließung von
Wachstumspotenzialen insbesondere der modernen Wirtschaft, und sie befähigt gleichzeitig die Menschen zur eigenverantwortlichen Gestaltung ihres Lebens und der Arbeit.
Ein wichtiger Aspekt ist dabei auch die Eröffnung von
Perspektiven für die Beschäftigen des non-formalen Sektors, für junge Erwachsene und Menschen, denen es nicht
möglich war, am formalen Bildungssystem teilzuhaben.
Bei der Stärkung einer Brückenfunktion hin zu Zugängen
in den formalen Bildungsbereich haben Nichtregierungsorganisationen und Kirchen solide Kompetenzen.
Die lokale Anpassung des deutschen Systems der dualen Berufsausbildung kann bei der beruflichen Bildung
wichtige Impulse liefern, wird aber erfahrungsgemäß
nicht immer eine angepasste Lösung für die spezifischen
Bedürfnisse eines bestimmten Landes darstellen. Wichtig
ist aber die Herausbildung einer engen Kooperation von
Staat, Wirtschaft und Zivilgesellschaft.
Für die ausgebildeten Fachkräfte ist es wichtig, Zugang zur Fort- und Weiterbildung zu ermöglichen, damit
sie mit den schnelllebigen Entwicklungen Schritt halten
können. Dazu sind die Etablierung neuer und der Ausbau
bestehender Bildungseinrichtungen sowie die Herstellung von Kooperationen mit entsprechenden Einrichtungen in Deutschland und anderen Industrieländern wichtige Elemente. Über das Instrument der privatenöffentlichen Partnerschaften sollte auch die Einrichtung
überbetrieblicher Bildungseinrichtungen über die Industrie- und Handelskammern oder die Handwerkskammern
angestrebt werden.
Nachhaltige Bildungssysteme können nur dann etabliert werden, wenn die Partner mittelfristig auch ohne
Hilfe der Geber selbstständig ausbilden können. Ohne
gute akademische Bildungseinrichtungen - Universitäten
und Fachhochschulen - vor Ort ist dies nicht möglich.
Ein wichtiger Aspekt der Bildungszusammenarbeit ist daher auch die Intensivierung der Zusammenarbeit im
Hochschulbereich. Neben der Stärkung von Hochschulbildung als Querschnittsbereich sollte auch eine Vernetzung der Hochschulen in und zwischen Entwicklungsländern stärker gefördert werden, um einen lebhaften
Wissenstransfer innerhalb eines Landes oder einer Region zu gewährleisten. Auch die Gründung deutscher
Universitäten in Entwicklungsländern sollte als strategische Option gezielt vorangetrieben werden.
Hochschulen übernehmen eine Verbindungsfunktion
zwischen Staat und Gesellschaft und begleiten gesellschaftliche und politische Reformprozesse. Bei der Hochschul- und Wissenschaftskooperation können daher Synergieeffekte erzielt werden, wenn Brücken zu den anderen
Sektoren der Entwicklungszusammenarbeit geschlagen
werden. Mit dem Instrument Public-Private-Partnership
- PPP - können die in Entwicklungsländern angesiedelten Verbände und Unternehmen dabei unterstützt werden,
Ausbildungszentren und Hochschulen vor Ort zu initiieren und auszustatten. Die Einrichtung von grenzüberschreitenden Studiengängen mit möglicher Vernetzung zu
regionalen Forschungsnetzwerken stellt ein geeignetes
Instrument für die ressortübergreifende Förderung von
Hochschulkooperationen in Schwellenländern dar, die es
auszubauen gilt.
Die Förderung von Stipendiaten aus Entwicklungsländern und die Vertiefung der Wissenschaftskooperation
zwischen den universitären Einrichtungen erhöhen das
Zu Protokoll gegebene Reden
Bildungsniveau und festigen die Beziehungen zwischen
den beteiligten Staaten zum gegenseitigen Vorteil. Kooperationen deutscher Universitäten und Forschungsinstitute mit Partnern in Entwicklungsländern sind wegen des
damit verbundenen Aufbaus von Kontakten zur wissenschaftlichen Lösung globaler Probleme - Klima, Gesundheit und andere - notwendig, aber auch von Vorteil für die
deutsche Wirtschaft. Ein wichtiges Element der Kooperationen ist die Verstetigung der wissenschaftlichen und
persönlichen Kontakte sowie des gegenseitigen Austauschs durch eine intensivierte Pflege der Alumni-Netzwerke.
Gleich, welche Bildungsstufe durchlaufen wurde, sollen die Menschen dadurch in die Lage versetzt werden,
ihr eigenes Einkommen zu erwirtschaften, damit erworbenes Wissen und Fähigkeiten dem jeweiligen Partnerland nachhaltig erhalten bleiben. Es gilt, die Abwanderung von qualifizierten Kräften mit ihrem Wissen
- sogenannter Brain Drain - zu vermeiden. Dazu sind
Anreize zu schaffen, qualifizierte Menschen dort zu beschäftigen, wo sie am nötigsten gebraucht werden: im eigenen Land.
Wir sollten uns bei der Entwicklungszusammenarbeit
im Bildungsbereich auch der Akteure besinnen, die nicht
im engeren Sinn Teil der deutschen Entwicklungszusammenarbeit sind. Wir müssen alle Potenziale ausloten, die
Erfahrung der deutschen Auslandsschulen und der
Goethe-Institute zur Stärkung der Bildungssysteme unserer Partner zu nutzen.
Lassen Sie mich zum Schluss noch darauf hinweisen,
dass es auch einen Bereich gibt, wo wir die Bildung unserer Bürger, voranbringen müssen. Dies ist die entwicklungspolitische Bildung. Sie soll unseren Bürgern die Herausforderungen in den Entwicklungsländern und die
Instrumente zur Bewältigung dieser Herausforderungen
in der Einen Welt zur Sicherstellung von Frieden und
Wohlstand verdeutlichen. Wir sollten gemeinsam mehr
tun, den Zugang zu diesen Bildungsangeboten zu erweitern.
Ich freue mich, heute unseren aktuellen Antrag zur
Förderung der Bildung und Ausbildung in der Entwicklungspolitik vorstellen zu können. Bildung ist bei Weitem
kein neues Thema: Zusammen mit Gesundheit sind Bildung und Ausbildung fundamentale Elemente jeder entwicklungspolitischen Arbeit und Voraussetzung für die
nachhaltige Entwicklung einer Gesellschaft.
Bisher hat unsere bilaterale wie auch multilaterale
staatliche Entwicklungszusammenarbeit Gutes geleistet.
Die im Jahr 2000 initiierte Initiative „Education for all“
und die seit 2002 darauf aufbauende „Fast Track Initiative“ sind gelungene Beispiele dafür. Dennoch spricht
der UNESCO-Weltbildungsbericht vom Dezember 2007
eine deutliche Sprache. Die Bildungssituation in vielen
Ländern ist weiterhin besorgniserregend.
Zurzeit besuchen fast 80 Millionen Kinder keine
Schule, und der Zugang zu Bildung, insbesondere zur
Grundbildung, ist für viele Menschen immer noch mit
großen Schwierigkeiten und Hindernissen verbunden.
Dabei ist eines unbestritten: Bildung ist ein Menschenrecht, ist wesentliche Voraussetzung für ein selbstbestimmtes Leben und für gesellschaftliche Teilhabe. Daher
fordert unser Antrag den konsequenten Ausbau des
Schlüsselsektors Bildung. Dabei ist wichtig, dass Bildung
heute einerseits sektorübergreifend beispielsweise bei der
Friedensentwicklung und Krisenprävention sowie der
Demokratieförderung integriert werden muss, andererseits aber auch ein wichtiger selbstständiger Sektor ist
und bleibt. Der Sektor Bildung ist also von elementarer
Bedeutung, das sollte auch bei Regierungsverhandlungen
immer wieder betont werden.
Auf meiner Reise in den Ostkongo im Mai dieses Jahres hatte ich die Gelegenheit eine Schule zu besuchen, in
der mit partizipativen Lehrmethoden das selbstständige
Denken der Schüler gefördert wird und damit den Schülern auch friedliche Konfliktlösungskonzepte aufgezeigt
werden. Hiervon unterscheidet sich noch deutlich die
weit verbreitete herkömmlicher Methode der Unterrichtsgestaltung mit wenig selbstständiger Beteiligung der
Schüler und einem Auswendiglernen von Dingen, die den
Bedürfnissen der Region nicht entsprechen. Fragen der
Schüler sowie Formulierung eigener Standpunkte ist dabei nicht Teil des Unterrichtsgeschehens.
Dies hat Auswirkungen auf gesellschaftliches Handeln
und die Eigenreflexion der Schüler. In einem Gespräch
mit den Schülern wurde deutlich, dass die im Unterricht
erarbeiteten Verhaltensregeln auch auf das Leben außerhalb der Schule übertragen werden. Die Schülerinnen
und Schüler berichteten davon, wie sie das gemeinsame
Diskutieren in der Gruppe, das sie im Unterricht eingeübt
hatten, auch als Streitschlichtungsmodell für Schwierigkeiten im Freundeskreis außerhalb der Schule und in der
Familie einsetzen. Nach Jahren des Bürgerkriegs und der
Gewalt ist es insbesondere für die junge Generation unbedingt nötig, friedliche und demokratische Konfliktlösungsstrategien einzuüben. Denn auch dazu können
Schulen beitragen.
Dies zeigt, dass neben der Quantität der zu schaffenden Schulen auch die Qualität des angebotenen Unterrichts von entscheidender Bedeutung ist.
Neben der Vernetzung von Bildung mit anderen Sektoren der Entwicklungszusammenarbeit wie Friedensentwicklung gibt es drei Kernfelder, bei denen Bildung als eigenständiger Schwerpunkt ansetzten muss:
Allen voran ist die Grundbildung zu nennen. Wir als
Sozialdemokraten haben uns schon von jeher für eine
vom Elternhaus unabhängige Bildungschance für Kinder
und für Bildungsgerechtigkeit eingesetzt. Das ist in der
Entwicklungszusammenarbeit nicht anders. Daher ist bei
der Grundbildung besonders wichtig, dass sie gebührenfrei erfolgt und auch die Lehrmittel kostenfrei sind.
Insbesondere ist auch darauf zu achten, dass der Grundschulbesuch für Mädchen gefördert wird. Praxisorientierte Ansätze sind dabei wichtig: Die Schulwege müssen
sicher gestaltet werden, weibliches Lehrpersonal muss
verstärkt zum Einsatz kommen. Manchmal sind es einfaZu Protokoll gegebene Reden
che Dinge wie die Einrichtung von nach Geschlechtern
getrennten Schultoiletten, die es Mädchen leichter macht,
die Schule zu besuchen. Nach der Grundbildung und dem
Ausbau der Sekundarschulbildung, ist die berufliche Bildung und Weiterbildung als ein weiteres Kernelement der
entwicklungspolitischen Bildungsarbeit zu nennen.
Lassen Sie mich hier nochmals unterstreichen, dass
das duale Berufsschulsystem, mit welchem wir in
Deutschland gute Erfahrung haben, schon häufig in Partnerländern den Impuls für ähnliche Berufschulsysteme
gab. In der beruflichen Bildung gilt es, Fachwissen und
praktische Fähigkeiten wie auch soziale Verhaltensweisen zu erlernen, um Beschäftigungsfähigkeit zu schaffen.
Auch hier möchte ich ein Beispiel von meiner Reise in
den Kongo anführen. Das Berufsbildungszentrum CAPA
in Bukavu bietet jungen Menschen die Chance, in den Bereichen Lederverarbeitung, Metallverarbeitung - KFZHandwerk - Schreinerei, Polsterei, Textilbearbeitung und
Schneiderei, Gastronomie, Gitarrenbau, Seifenproduktion, Bau- und Maurerarbeiten und EDV eine Ausbildung
zu erhalten, die es ihnen ermöglicht, sich nach ihrem Abschluss in ihrem erlernten Beruf selbstständig zu machen.
Auch ein Lager, in dem die Absolventen günstig ihr Material für ihre eigene Werkstatt beziehen können, ist angeschlossen. Viele derjenigen, die hier eine Ausbildung erhalten, waren Kindersoldaten, Soldaten, die ihre Waffen
abgegeben hatten, und Menschen aus schwierigstem familiären und sozialen Umfeld.
Solche beruflichen Bildungsangebote, deren Qualifikationsmaßnahmen oft auch nur wenige Monate dauern,
bieten eine Chance für Menschen, die bisher nicht den
Weg im formalen Bildungssystem gehen konnten. In solchen Einrichtungen finden sich meist Alphabetisierungsangebote, auch Frauen werden durch diese besonders angesprochen und gestärkt.
Das von mir erwähnte Institut in Bukavu schafft berufliche Perspektiven, die angesichts der kriegsbelasteten
Vergangenheit der Menschen auch zu einem Weg zu einem neuen Leben in einer friedlichen Gesellschaft werden.
Lassen Sie mich nun noch auf einige Aspekte der akademischen Bildung eingehen. Im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit kommt der akademischen Bildung
ein wichtiger Auftrag zu. Im Bereich Wissenstransfer und
Hochschulkooperation ist es wichtig, regionale Vernetzung seitens der Hochschulen zu betreiben. Dies kann
nicht nur die Entstehung von Forschungsnetzwerken befördern, sondern dient auch dem Auf- und Ausbau akademischer Bildungseinrichtungen.
Gerade die universitären Einrichtungen müssen mit
Blick auf den Arbeitsmarkt des jeweiligen Landes Ausbildungsangebote machen: Der Fachkräftemangel im akademischen Bereich, insbesondere der Lehrkräftemangel,
stellt eine besondere Herausforderung dar.
Aber gerade am Beispiel der Lehrkräfte wird deutlich,
wie wichtig es ist, auch die Bedingungen des Arbeitsumfelds zu gestalten, um qualitative Bildung zu gewährleisten. Dazu gehören eine adäquate Besoldung der Lehrer
sowie Anreize für Lehrpersonal, auch an abgelegenen
Standorten zu unterrichten.
Zusammenfassend möchte ich folgende Aspekte nochmals betonen: Wie in Punkt acht unseres Antrags gefordert, ist der Grundbildungsförderung erhöhte Priorität
beizumessen. Vollständige Primarschulbildung ist
schließlich ein ausdrücklich formuliertes Millenniumsentwicklungsziel. Der Zugang zu Bildung und die Anwendung der erlernten Bildungsinhalte sind aber auch
Grundlage zur Verwirklichung aller Millenniumsentwicklungsziele, sei es Armutsbekämpfung und wirtschaftliches Wachstum, das durch die praktische, berufliche
Umsetzung des erlernten Wissens befördert wird, sei es
die Förderung einer aktiven Zivilgesellschaft, bei der sich
die in Bildungseinrichtungen vermittelten partizipativen
Strukturen und Kommunikationsfähigkeiten positiv niederschlagen. Auch die im dritten Millenniumsentwicklungsziel formulierte Gleichstellung der Geschlechter ist
im Bereich Bildung von weitreichender Bedeutung: Da
Frauen bei der Entwicklung eine Schlüsselrolle für Entwicklung zukommt, ist die Bildung von Mädchen und
Frauen explizit zu fördern.
Selbstverständlich gilt das Recht auf Bildung auch für
Menschen mit Behinderungen, denen in ungleich höherem Maße als anderen Menschen der Zugang zur Primarschulbildung verweigert wird.
Grundlage für den Schulbesuch ist, dass Kinder nicht
arbeiten müssen, um zum Lebensunterhalt der Familie
beizutragen. Die Einhaltung der ILO-Kernarbeitsnormen
und - für den Bereich der Bildung besonders wichtig das Verbot der Kinderarbeit sind dafür unabdingbare Voraussetzung.
Zu guter Letzt will ich noch auf den Einsatz der Bundesländer für Bildung in der Entwicklungszusammenarbeit eingehen. Aufgrund unserer föderalen Struktur und
der Länderhoheiten im Bereich Bildung kommt unseren
Bundesländern hier nicht nur innenpolitisch, sondern
auch im Rahmen entwicklungspolitischer Zielsetzungen
Verantwortung zu. Was bereits innenpolitisch ein Grundsatz der Sozialdemokratie ist - Bildung muss gebührenfrei sein -, ist natürlich auch ein Anspruch an die Bildungsarbeit der Bundesländer mit Entwicklungsländern.
Hier ist insbesondere der Abbau von Studiengebühren für
Studierende zu nennen. Studiengebühren sind hinderlich
für die Chancengleichheit; dies gilt für inländische Studierende ebenso wie für Studierende aus Entwicklungsländern.
Bildung ist der Schlüssel für ein selbstbestimmtes Leben, gesellschaftliche Teilhabe und effektive Armutsbekämpfung.
Es gibt viel zu tun!
Seit Jahren kämpft die FDP für die Verbesserung der
Bildung in Entwicklungsländern und somit der Lebenschancen der betroffenen Menschen. Erst jetzt kommt die
Koalition mit einem Antrag zu Bildung in Entwicklungsländern. Es ist traurig, dass es so lange gedauert hat,
aber immerhin hat die Koalition die Wichtigkeit des ProZu Protokoll gegebene Reden
blems endlich erkannt. Sie hätte allerdings schon früher
auf die Idee kommen können, dass die Bundesregierung
in diesem Bereich bisher zu wenig getan hat. Zum Beispiel hätten die Koalitionsfraktionen in den Haushaltsberatungen der letzten Jahre den Anträgen der FDPFraktion zustimmen sollen. Wir haben jedes Jahr die Aufstockung der Mittel im Grundbildungsbereich um insgesamt 60 Millionen Euro, aufgesplittet auf finanzielle und
technische Zusammenarbeit, gefordert, um der Bundesregierung die Chance zu geben, wenigstens ihre eigenen
Planungsziele einzuhalten. Leider hat die Koalition dem
nicht zugestimmt, und leider hat die Bundesregierung in
diesem Bereich auch nichts getan.
So ist die deutsche Entwicklungshilfe in diesem Bereich deutlich zurückgegangen: Von über 5 Milliarden
Euro deutscher Entwicklungshilfe wurden lediglich
70 Millionen Euro der Förderung der Grundbildung zugeschrieben, was einen Anteil von nur 1,6 Prozent der
ODA ausmacht. Das ist zu wenig, da Bildung von übergreifender Bedeutung für die Entwicklung ist.
Bildung ist grundlegende Voraussetzung für jede Form
wirtschaftlichen Wachstums. Ohne Bildung kann es keine
Entwicklung geben, und ohne Fortschritt kann die Armut
in den betroffenen Ländern nicht besiegt werden. Die Anwendung von Wissen und Fähigkeiten als Kern des Wirtschaftswachstums muss zentraler Bestandteil der Armutsbekämpfung werden und sowohl die Grund- als auch
die Weiterbildung gezielter gefördert werden.
Armut und Bildungsarmut hängen unmittelbar zusammen. Nachhaltige Bekämpfung der Armut erfordert also
den Aufbau eines für alle zugänglichen Bildungssystems.
Dabei ist zunächst die Grundbildung entscheidend. Ohne
Grundbildung können Menschen kaum an demokratischer Willensbildung teilnehmen. Der Manipulation und
Demagogie von Kriegsherren und Kleptokraten ist freie
Bahn gegeben. Ohne Grundbildung ist schon eine einfache wirtschaftliche Betätigung erheblich erschwert. Analphabeten werden viel eher zu Opfern von Betrügern
und Fälschern.
Bildungsarmut verhindert zumeist den Zugang zur
Justiz. Bildungsarmut führt wegen Unkenntnis oft zu
Gleichgültigkeit gegenüber Menschenrechtsverletzungen. Deshalb muss ein Schwerpunkt deutscher und europäischer Entwicklungshilfe für die ärmsten Länder in
dem Aufbau eines für alle zugänglichen Grundbildungswesens liegen.
Die Entwicklung von Justiz, Marktwirtschaft und einem funktionierenden demokratischen System hängt davon ab, ob es genügend Menschen in dem jeweiligen Land
gibt, die in der Lage sind, Verantwortung zu übernehmen.
Daher ist auch die weiterführende Bildung für den Entwicklungsprozess entscheidend. In der weiterführenden
Bildung müssen die ethischen Maßstäbe verantwortlichen Handelns, also die Voraussetzung des „good governance“, vermittelt werden.
Deshalb muss ein weiterer Schwerpunkt der Entwicklungspolitik auf Hilfen zum Aufbau eines sekundären und
tertiären Bildungssektors liegen. Der Zugang zur weiterführenden Bildung muss dabei für alle, Männer und
Frauen, nach Leistungsmaßstäben diskriminierungsfrei
zugänglich sein. Nur so kann sich Demokratie entwickeln. Die zu leistende Hilfe kann nicht nur finanziell gedacht werden, sie sollte auch inhaltliche und strukturelle
Bestandteile haben.
Die Bedeutung des Bildungssektors spiegelt sich auch
in den Millenniumsentwicklungszielen, den MDGs, wieder. Zwei der von den Vereinten Nationen im Jahre 2000
festgesetzten MDGs benennen Bildung als einen der essentiellsten Beiträge im Kampf gegen Armut und für
nachhaltige Entwicklung. So sieht einerseits MDG 2 die
Erreichung der universellen Grundschuldbildung für
Kinder bis zum 14. Lebensjahr vor: Alle Mädchen und
Jungen sollen bis 2015 die Grundschule abschließen.
MDG 3 bezieht sich auf die Förderung von Mädchen und
Frauen und eine Gleichberechtigung der Geschlechter.
Bis zum Jahr 2005 sollte eine geschlechterspezifische
Unterscheidung in der Primär- und Sekundarbildung beseitigt werden, bis zum Jahre 2015 auf allen Ausbildungsebenen eine völlige Gleichbehandlung der Geschlechter
erreicht werden.
Auf dem Weltbildungsforum im April 2000 in Dakar
verabschiedeten 164 Länder den Aktionsplan „Bildung
für alle“, dessen sechs Ziele sich im Kern auf die Bereitstellung von angemessenen Bildungsangeboten für alle
Altersstufen und die Halbierung der Analphabetenrate
bis 2015 beziehen. Im April 2002 wurde unter Schirmherrschaft der Weltbank die Fast Track Initiative ins Leben gerufen, welche eine zusätzliche technische und finanzielle Unterstützung für die von Bildungsarmut
betroffenen Länder bieten soll.
Bildung ist damit in den Fokus der Armutsbekämpfung
gerückt. Dennoch sind im Bereich der Bildung in entwicklungspolitischer Hinsicht zahlreiche Probleme zu beklagen. Insbesondere hat es die Bundesregierung in der Vergangenheit versäumt, ein einheitliches Konzept zur
Erreichung der international festgesetzten Größen vorzulegen. Vielmehr steht nach der Hälfte des angestrebten
Zeitrahmens laut dem von den Vereinten Nationen herausgegebenen Fortschrittsbericht bereits jetzt fest, dass
die Millenium Development Goals in den meisten der betroffenen Länder, so unter anderem in Afrika südlich der
Sahara und Westasien, nicht erreicht werden. Ungefähr
30 der 125 EFA-Länder sind laut dem Education for All
Development Index nach wie vor weit von den EFA-Zielen
entfernt; zu zwei Dritteln handelt es sich um Staaten in
Afrika südlich der Sahara.
Besonders schwierig ist immer noch die Situation der
Menschen, die weder lesen noch schreiben können. So
weist die UNESCO in ihrem im Jahre 2005 in London publizierten Weltbericht „Bildung für alle 2006“ auf die immer noch erschreckende Zahl von Analphabeten hin und
macht das Thema Alphabetisierung zum Schwerpunkt ihres EFA Global Monitoring Report 2006.
Die Gründe, warum ein Großteil der Kinder in Entwicklungsländern nicht zur Schule gehen kann oder diese
vorzeitig abbricht, sind nicht ausschließlich auf die Abwesenheit von Schulen oder Lehrkräften zurückzuführen,
sondern auch auf zahlreiche andere Faktoren wie fehlende Infrastruktur, kriegerische Auseinandersetzungen,
Zu Protokoll gegebene Reden
schlechte Regierungsführung und die Notwendigkeit,
dass auch die Kinder armer Familien einen Beitrag zum
existenziellen Auskommen leisten müssen.
Wie soll beispielsweise ein Familienvater seine Kinder
zur Schule schicken, wenn er gleichzeitig riskiert, dadurch die materielle Existenz seiner Familie zu gefährden, und weder weiß, ob ihnen die Schulbildung in der
Zukunft neue Chancen eröffnet noch ob sie am nächsten
Tag überhaupt etwas zu essen auf den Tisch bekommen?
Ein Kind kann nun mal nicht auf dem Feld oder sonst wo
arbeiten und gleichzeitig auf der Schulbank sitzen und
lernen. Mit hungrigem Magen lässt es sich nun einmal
schlecht lernen.
Bildung braucht also nicht nur Schulen und Lehrer,
sondern auch ein Umfeld, in dem sich Bildungsinvestitionen entwickeln können. Wir täten zum Beispiel gut daran, EU-Agrarsubventionen abzubauen, um den afrikanischen Bauern die Möglichkeit zu eröffnen, ihre Waren zu
fairen Preisen auf dem Weltmarkt anzubieten, und dafür
zu sorgen, dass verfehlte Klimaschutzpolitiken nicht zu
einem existenzbedrohenden Anstieg der Lebensmittelpreise und ungenutzten Anbaupotenzialen in genau den
Regionen führen, die es sich am wenigsten leisten können.
Diese Verfehlungen treffen natürlich in erster Linie die
Ärmsten der Armen, und ganz besonders deren Kinder.
Solange wir keine Lösung für Ernährungsfragen und
Fragen der politischen Stabilität finden, müssen wir uns
über mangelndes Engagement der betreffenden Regierungen und Bevölkerungen hinsichtlich des Aufbaus eines zukunftsfähigen Bildungssystems nicht wundern.
Dass wir die Entwicklungsländer stärker unterstützen
müssen, darüber sind sich alle Fraktionen hier im Parlament offensichtlich einig. Schade nur, dass die Bundesregierung diesen Bereich in der Vergangenheit zu sehr vernachlässigt hat. Es ist insofern zu begrüßen, dass die
Große Koalition jetzt mit einem Antrag kommt, in dem
sehr viele richtige Forderungen enthalten sind. Leider
wird das Fehlverhalten der Bundesregierung darin völlig
ausgeblendet. Wieso hat die Koalition in den letzten drei
Jahren denn nicht schon einmal mit ihrer parlamentarischen Mehrheit darauf hingewirkt, dass die Regierung
ihre Prioritäten ändert? Jetzt diesen Antrag hinterherzuschieben, als sei die ganze Zeit nichts gewesen, hat lediglich Alibicharakter.
Den Antrag der Linken muss man nicht weiter kommentieren. Ein gutes Anliegen wird missbraucht, um linker Ideologie gegen private Schulen, den Welthandel und
die Weltbank Platz zu bieten. Damit wird die Fraktion Die
Linke diesem wichtigen Thema wirklich nicht gerecht.
Der Bildungssektor muss im Rahmen der vom Bundestag im vergangenen März geforderten Neuausrichtung
der Entwicklungszusammenarbeit auf die Sozialsysteme
gestärkt werden. Denn weltweit sieht die Bildungssituation immer noch alles andere als befriedigend aus. Nach
den neuesten Zahlen können 780 Millionen Erwachsene
weder lesen noch schreiben. Mindestens 72 Millionen
Kinder haben keine Möglichkeit, zur Schule zu gehen. Die
Mehrheit unter ihnen sind Mädchen. Am härtesten trifft es
Kinder mit Behinderung, von denen nicht einmal 10 Prozent eingeschult werden.
Die Linke legt heute einen Antrag vor, der die Umsetzung der im April 2000 auf dem Weltbildungsforum in
Dakar vereinbarten sechs Entwicklungsziele fordert, darunter die Sicherstellung einer obligatorischen, gebührenfreien und qualitativ guten Grundschulbildung für alle
Kinder bis 2015. Die damalige Bundesregierung hat sich
selbst verpflichtet, dieses Ziel durch einen angemessenen
Beitrag zu unterstützen.
Leider müssen wir heute feststellen, dass sie dieses
Versprechen gebrochen hat. Dies gilt insbesondere für die
Grundbildung. Dieser Sektor stellt nach wie alles andere
als einen Schwerpunkt der deutschen Entwicklungszusammenarbeit dar. Die Ausgaben für Grundbildung betrugen 2006 nicht mehr als 1 Prozent des Entwicklungshaushaltes.
Angesichts dieser Defizite ist es zu begrüßen, dass
auch die Bundestagsfraktionen von SPD und Union durch
die Vorlage eines eigenen Bildungsantrages heute ihre eigene Regierung an die eingegangenen Selbstverpflichtungen erinnern wollen. Doch leider müssen wir dabei
feststellen, dass sie am Ende Angst vor der eigenen Courage bekamen. Wie sonst ist es zu werten, dass sie in ihrem vorliegenden Antrag nirgends konkret werden? Sie
verlieren sich in Allgemeinplätzen, die nichts bewegen
werden. Deutlich wird das etwa an ihrem Umgang mit
dem multilateralen Bildungsfonds FTI. Sie prangern das
Defizit an, das die Zahlungsunwilligkeit der G 8 in diesem Fonds hinterlassen hat. Doch zum konkreten
Engagement der Bundesregierung fällt kein Wort.
Ich helfe ihnen auf die Sprünge. Auf der Brüsseler Bildungskonferenz vom Mai 2007 sagte die Bundesregierung die Bereitstellung von 8 Millionen Euro für den
sogenannten Catalytic Fund der FTI zu. Das ist praktisch
nichts. Die Niederlande haben sich bereit erklärt, in den
denselben Fonds bis 2009 satte 470 Millionen Euro einzustellen. Das Schönreden haben sie von ihrer Regierung
abgeguckt. Seit Jahren fordern Nichtregierungsorganisationen und die Linke, dass endlich eine saubere Buchführung bei der Ausweisung der offiziell geleisteten Entwicklungshilfe eingeführt wird. Die bilaterale Hilfe wird
in den Bilanzen der Bundesregierung systematisch aufgebläht. 2005 wurden 985 Millionen Euro der bilateralen
Leistungen für den Gesamtsektor Bildung ausgewiesen.
Davon entfielen allerdings 745 Millionen auf die Anrechnung der Studienplatzkosten ausländischer Studierender
in Deutschland. Das ist eine rein fiktive Größe. Solange
sie nicht aufhören, die Bilanzen derart zu schönen, bleiben ihre vollmundigen Versprechen vollkommen unglaubwürdig.
Fakt ist: Gemessen am Bruttonationaleinkommen läge
nach Berechnungen der Globalen Bildungskampagne der
angemessene Anteil Deutschlands zur Finanzierung der
bildungspolitischen Millenniumsziele bei jährlich rund
560 Millionen Euro. Tatsächlich brachte die Bundesrepublik im Durchschnitt der Jahre 2004 und 2005 davon bestenfalls 39 Prozent auf - wenn man von der großzügigen
Annahme ausgeht, dass ein Drittel der unspezifizierten
Gelder für Entwicklungshilfe im Bereich Bildung in die
Förderung von Grundbildung fließen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Hier wird klar: Ihre Buchführung ist deshalb so unsauber, weil sie das ganze Ausmaß der Kluft zwischen Ankündigungen und Umsetzung vertuschen wollen. Lassen Sie
mich noch dieses anfügen: Dort, wo die Regierungsfraktionen konkret werden, dort wo sie nicht beschönigen,
dort stellen sie der Bundesregierung ein erbärmliches
Zeugnis aus. Ich spreche von Afghanistan. Sie stellen fest:
Afghanistan hat mit 72 Prozent die höchste Analphabetenrate weltweit - und das nach fast sieben Jahren des sogenannten Wiederaufbaus. Und ich füge an: Auch auf
dem alle sozialen Indikatoren umfassenden Weltentwicklungsindex ist Afghanistan in dieser Zeit noch weiter zurückgefallen. Deutlicher kann man wohl kaum machen,
dass der ganze Bundeswehreinsatz in Afghanistan ein
einziges kostspieliges Desaster darstellt. Sparen Sie endlich die Milliarden für den Militäreinsatz ein! Dann
würde auch für die Bekämpfung des weltweiten Analphabetismus mehr übrig bleiben.
Ich komme zum Schluss noch auf ein Problem zu sprechen, das häufig in den Diskussionen untergeht. Es ist
gut, wenn die KfW-Entwicklungsbank den Bau von Schulen in den Elendsvierteln Nairobis finanziert. Doch das
allein bringt uns dem Ziel einer qualitativ guten Grundbildung nicht näher. Entscheidend ist, dass genügend gut
ausgebildete Lehrkräfte zur Verfügung stehen. Sie finden
in manchen Entwicklungsländern häufig unhaltbare
Situationen vor, selbst dort, wo alle Kinder eines Ortes
eingeschult worden sind. So zeigte jüngst eine Dokumentation des Senders arte beispielhaft, wie in einer Grundschule in Madagaskar eine Lehrerin in ein und derselben
Stunde zwei Klassen gleichzeitig unterrichten muss - mit
je 50 Kindern! Da verwundert es nicht, dass viele Kinder
zwar eingeschult werden, aber nicht einmal die vier Klassen der Grundschule absolvieren. Es ist deshalb erforderlich, neben den Einschulungsraten auch die Abbrecherquoten bei der Bewertung der Fortschritte in der
Grundbildung zu berücksichtigen.
Die Linke fordert, dass sich die Entwicklungszusammenarbeit mit Nachdruck auf die Erhöhung der Anzahl
qualifizierter Lehrkräfte orientiert. Nach Schätzungen
der UNESCO müssen in Schwarzafrika bis 2015 zusätzlich 1,6 Millionen Lehrkräfte eingestellt werden, damit jedes Kind eine angemessene Grundschulbildung erhalten
kann. Um hier Abhilfe zu schaffen, kommen wir nicht umhin, auch über die Beteiligung der Entwicklungszusammenarbeit an Qualifizierungsmaßnahmen und der Besoldung der Lehrkräfte nachzudenken. Dies wäre im
Rahmen einer konditionierten Budgethilfe auch ohne
Weiteres machbar. Des Weiteren müssen CIM als integriertes Rückführungsprogramm von Arbeitsagenturen
und GTZ weiter gestärkt werden. Modelle der so genannten zirkulären Migration, wie sie im Antrag der Regierungsfraktionen propagiert werden, sind hingegen zum
Scheitern verurteilt, da sie auf Zwang statt auf Anreiz beruhen.
Zu Recht wird der Bildung in der internationalen Entwicklungszusammenarbeit ein hoher Stellenwert eingeräumt. Denn Bildung kann den Armutskreislauf durchbrechen und ist eine der wesentlichen Voraussetzung für
die Entwicklung eines Landes. 1998/99 waren in SubSahara-Afrika nur 57 Prozent der Kinder eingeschult.
Dann kamen im Jahr 2000 das Weltbildungsforum in
Dakar/Senegal und die Millenniumserklärung der Vereinten Nationen. Die Staatengemeinschaft verpflichtete
sich in den Erklärungen der beiden Gipfel die Bildungssituation in den Entwicklungsregionen der Welt zu verbessern. Grundschulbildung soll bis 2015 allen Kindern
zugänglich gemacht werden. Die Statistiken der Vereinten
Nationen zeigen seit den Verpflichtungserklärungen gute
Fortschritte bei den Einschulungsquoten. So erhöhte sich
besonders prägnant in den Ländern Sub-Sahara-Afrikas
die Quote bis 2005 auf 70 Prozent. In allen Entwicklungsregionen zusammengenommen stieg diese zwischen
1998/99 bis 2005 von 83 auf 88 Prozent. Nimmt man absolute Zahlen, so wird deutlich, dass es immer noch sehr
viel zu tun gibt; denn 77 Millionen Kinder erhalten weltweit immer noch keine Grundbildung. Neben Armut, die
viele Kinder dazu zwingt ihren Beitrag zur Haushaltskasse beizutragen, sind es vor allem Schulgebühren, die
viele arme Familien, besonders auf dem Land, daran hindern ihre Kinder in die Schule zu schicken. Eine gebührenfreie Grundschulbildung zu erreichen muss in den Bildungsplänen der jeweiligen Staaten implementiert
werden. Besondere Fortschritte sind demnach auch in
den Ländern zu verzeichnen, die ebendiese abgeschafft
haben, so in Ghana oder Mosambik.
Deutschland hat sich den internationalen Entwicklungszielen verpflichtet und muss seinen Beitrag leisten,
um das Ziel des universellen Zugangs zu einer Grundschulbildung bis 2015 zu erreichen. Die Mittel, die es dafür ausgibt, sind aber relativ gering. Die Globale Bildungskampagne attestiert Deutschland, dass es für die
Grundbildung weit unter dem „fairen Anteil“ gemäß der
deutschen Wirtschaftskraft liegt. In der Tat gilt es zu klären, wie eine angemessene Beteiligung Deutschlands
auszusehen hätte und auf welcher Grundlage diese zu errechnen wäre. Besonders das geringe Engagement
Deutschlands in der Education For All, EFA, - Fast Track
Initiative, FTI, der Weltbank ist sehr kritisch zu sehen. In
der Initiative werden in erster Linie diejenigen Entwicklungsländer finanziell wie technisch unterstützt, die
durch langfristig angelegte Aktionspläne den Zugang zu
Bildung systematisch verbessern wollen. Dadurch gibt es
ein hohes Maß an verbindlicher Planung und Identifikation mit den Bildungszielen der Vereinten Nationen. Die
großen Geberländer sollten der Initiative den entsprechenden finanziellen Spielraum einräumen, um die Reformbemühungen der Partnerländer effizient zu unterstützen. Deutschland muss sich aus unserer Sicht an der
Initiative mit mehr Geld beteiligen. Bis dato sind drei Millionen US-Dollar für EFA-FTI aus dem Bundeshaushalt
geflossen. Verglichen mit den Niederlanden, die sich bisher mit 430 Millionen US-Dollar beteiligen, ist das einfach zu wenig. Den Koalitionsfraktionen ist dies scheinbar aufgefallen. Sie fordern von der Bundesregierung
eine angemessene finanzielle Ausstattung der EFA-FTI,
lassen aber nicht erkennen an welche Größenordnung sie
dabei denken.
Ein wesentlich höherer Betrag wird für die Förderung
ausländischer Studierender und die Hochschul- und Wissenschaftskooperation ausgegeben. Im Grundsatz ist die
Zu Protokoll gegebene Reden
Hochschul- und Wissenschaftskooperation nicht zu kritisieren und wir teilen nicht die Auffassung, dass dadurch
die bilateralen EZ-Mittel künstlich aufgebauscht werden.
Dass würde voraussetzen, dass diese Formen der Förderung und Kooperation keine Instrumente der Entwicklungszusammenarbeit sind bzw. sein sollten. Sie sind es
aber, denn sie leisten einen wichtigen Beitrag zum geforderten Capacity Building in den Entwicklungsländern.
Ich frage aber kritisch nach, ob die finanzielle Übergewichtung dieses Sektors in Relation zur Förderung der
Grundbildung den Entwicklungszielen der Bundesregierung nicht zuwider läuft.
Der Antrag der Koalitionsfraktionen beschreibt umfassend den Bereich Bildung in der Entwicklungszusammenarbeit. Wichtige Handlungsfelder werden erwähnt,
von der Grundschulbildung über weiterführende Bildung
und Berufschulbildung bis zu Bildung in fragilen Staaten.
Es lässt sich allerdings - insbesondere im Forderungsteil nicht immer nachvollziehen, worin der optimale deutsche
Beitrag liegt. Wo hat Deutschland wirkliche Kompetenz,
die von den Partnerländern verstärkt und erwünscht
wird? So wäre es interessant zu wissen, was die Koalition
unter den „komparativen Vorteilen Deutschlands bei der
Konzeption von Bildungssystemen“ verstehen und vor allem wie diese in Entwicklungsländern eingebracht werden können. Konkret: Was können Mali oder Vietnam vom
deutschen Bildungssystem lernen? Dazu brauchten wir
eine Bestandsaufnahme unserer Stärken im Bildungsbereich, wobei immer noch die Frage zu klären wäre, ob
und wie sich diese auf andere Länder übertragen ließen.
Ähnliches gilt für den Hinweis, sich verstärkt in fragilen
Staaten zu engagieren. Bildung in Konfliktstaaten ist ein
wichtiges Thema. Dies steht nicht zur Frage. Aber die Arbeit mit und in fragilen Staaten ist komplex, und die Weltgemeinschaft steht damit noch am Anfang. Es stellt sich
also die Frage, ob es eine realistische Einschätzung gibt,
welche bildungspolitischen Konzepte in solchen Staaten
notwendig und möglich sind? Haben wir in diesem Bereich Konzepte anzubieten und können wir auf Erfahrungswerte zurückgreifen?
Der Antrag lässt aus unserer Sicht keine Schwerpunktsetzung erkennen. Es reicht nicht aus, den ganzen Bogen
der Probleme zu benennen, ohne den eigenen Anteil an einer möglichen Lösung wirklich benennen zu können.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/9424 und 16/8812 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst
Meierhofer, Michael Kauch, Angelika Brunkhorst,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Verfahren vereinfachen, Bürger entlasten,
Rechtssicherheit schaffen - Notwendige Bedingungen für die Sinnhaftigkeit eines Projekts „Umweltgesetzbuch“
- Drucksache 16/9113 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Andreas
Jung ({1}), CDU/CSU, Dr. Matthias Miersch,
SPD, Horst Meierhofer, FDP, Lutz Heilmann, Die Linke,
Sylvia Kotting-Uhl, Bündnis 90/Die Grünen.
Wir reden heute über einen Antrag der FDP-Fraktion,
der durch den Gesetzentwurf für ein UGB, der vor kurzem
versendet worden ist, zum Teil schon überholt ist. Zunächst einmal vorweg: Die Union will das UGB; das haben wir bereits im Koalitionsvertrag deutlich gemacht.
Aber genauso gilt: Wir wollen das UGB nicht als Selbstzweck, wir verbinden damit konkrete Anforderungen;
auch das wird bereits im Koalitionsvertrag deutlich.
Die Anforderungen, die wir stellen, unterscheiden sich
nicht wesentlich von jenen, die die FDP in ihrem Antrag
benennt: Wir wollen das UGB, um das zersplitterte deutsche Umweltrecht zusammenzuführen. Wir wollen dadurch Verfahrenserleichterungen erreichen. Wir wollen
weniger Bürokratie, und wir wollen bessere Europatauglichkeit. Auch in dem, was wir nicht wollen, treffen wir
uns mit der FDP: Die bestehenden materiellen Umweltstandards müssen erhalten bleiben. Mit dem UGB sollen
Standards weder erhöht noch abgesenkt werden. Wir wollen keine Beeinträchtigung von Privateigentum oder Bewirtschaftungsmöglichkeiten, die über das aktuelle Maß
hinausgeht. An all diesen Vorgaben wird die Union den
vorliegenden Entwurf Punkt für Punkt messen. Wo die
Anforderungen nicht erfüllt werden, wird sich die Union
für Änderungen starkmachen.
Die gute Nachricht: Vieles von dem, was die FDP in
ihrem Antrag befürchtet, ist bereits vom Tisch: Das gilt
für den befürchteten Eingriff in bestehende Eigentumsrechte durch Beschränkung des Bestandsschutzes für alte
Rechte und alte Befugnisse. Die Union hat klargemacht,
dass sie dem nie und nimmer zustimmen wird. Damit haben wir erreicht, dass diese Regelung im Gesetzentwurf
erst gar nicht auftaucht. Das gilt auch für die kritisierte
freie Widerruflichkeit jeglicher Gewässerbenutzung im
Rahmen der integrierten Vorhabengenehmigung, die im
Referentenentwurf enthalten war. Die Kritik aus der
Union hat dazu geführt, dass hier eine Alternative gesucht wurde, die den Bestandsschutz sichern soll. Wir
werden sorgfältig prüfen, ob das durch die im Gesetzentwurf enthaltene Regelung erreicht wird.
Und schließlich: Das EEG soll nicht Bestandteil des
UGB werden. Warum? Nicht weil es nicht wichtig wäre das EEG ist eines der zentralen Instrumente zur Verwirklichung der Klimaschutzziele. Aber es passt nicht in ein
Buch, in dem das zersplitterte Umweltrecht zusammengeführt werden soll. Das EEG ist ein Förderprogramm wie
etwa das Marktanreizprogramm oder das CO2-Gebäudesanierungsprogramm. Mit welchem Argument sollte man
Andreas Jung ({0})
das eine Gesetz aufnehmen, die anderen aber nicht? Systematisch ist es sinnvoller, Fördergesetze von der im UGB
zusammengefassten Materien zu trennen.
Entscheidend wird am Ende sein: Erreichen wir mit
dem UGB tatsächlich Verfahrenserleichterungen? Kernstück soll die integrierte Vorhabengenehmigung sein.
Den im Gesetzentwurf hierfür enthaltenen Vorschlag
werden wir daher besonders intensiv prüfen. Zu diesem,
aber auch zu allen anderen Punkten werden wir unseren
Standpunkt in Gesprächen mit den Betroffenen, mit Vertretern von Wirtschaft und Umwelt, mit Experten aus der
Praxis und der Wissenschaft erarbeiten. Dazu werden wir
im parlamentarischen Verfahren nach der Sommerpause
und gerade bei den notwendigen Anhörungen ausreichend Gelegenheit haben.
Ich freue mich auf die Beratungen.
Als ich den vorliegenden Antrag der FDP zum Umweltgesetzbuch auf den Schreibtisch bekam, musste ich
erst einmal genau hingucken, welches Datum dieser Antrag trägt. Ich dachte zunächst, es handele sich um einen
veralteten Antrag aus dem Jahr 2005. Aber: Es ist tatsächlich ein Antrag vom 7. Mai 2008!
Was soll dieser Antrag zu dieser Zeit? Er enthält in den
Überschriften zunächst eine Aufzählung allgemeiner
Aussagen, die bereits vor und nach der Föderalismusreform stets genannt wurden, wenn das große Vorhaben
eines Umweltgesetzbuches angesprochen wurde:
Sie schreiben: „Das UGB soll Potenziale zur Vereinfachung und Entbürokratisierung umfassend ausschöpfen“ - na klar -, „Die bestehenden Umweltstandards
müssen erhalten bleiben“ - selbstverständlich -, „das
UGB muss Planungssicherheit für Investitionsentscheidungen sowie Bestandsschutz gewährleisten“ - natürlich
- und - Ihr letzter Punkt - „Das UGB muss Rechtssicherheit und Rechtsklarheit für die Rechtsanwender schaffen“ - sehr gutes Ziel! Als politische Zielsetzung wäre Ihr
Antrag im Jahr 2005 durchaus diskutabel gewesen. Ja, er
wäre auch in den 70er-Jahren zeitgemäß gewesen, nachdem bereits dort über eine Kodifikation des Umweltrechts
nachgedacht wurde. Im Jahr 2008 ist er jedoch überflüssig und nicht zielführend.
Sie wissen, dass wir aktuell weiter sind. Es liegt ein Referentenentwurf vor. Insoweit wäre - wenn überhaupt zu
diesem Zeitpunkt - eine Auseinandersetzung mit diesem
augenblicklich in der Anhörung befindlichen Regierungsentwurf angezeigt gewesen. Wenn Sie jedoch den
Entwurf ansprechen, bleiben Sie äußerst oberflächlich.
Zudem scheinen die Aussagen in Ihrem Antrag auch widersprüchlich zu sein, sodass er insoweit zudem nicht zustimmungsfähig ist. Da führen Sie zum Beispiel aus, dass
das Gesetz für den Vorrang erneuerbarer Energien mit
den Regelungsmotiven des UGB wenig gemein habe.
Klima- und Ressourcenschutz sowie die Abkehr von
den fossilen Energieträgern sind die zentralen Umweltthemen. Sind Sie wirklich der Auffassung, dass ein
Umweltgesetzbuch zu diesen zentralen Themen schweigen sollte? Ist nicht das UGB auch der richtige Ort, um
klare Zielsetzungen des Umweltrechts zu formulieren, an
denen sich die Rechtsanwendung orientieren muss?
Weiter kritisieren Sie unter der Überschrift „bestehende materielle Umweltstandards müssen erhalten bleiben“ die Einführung einer Genehmigungspflicht kleiner
Biogasanlagen bzw. die Wärmenutzung als Genehmigungsvoraussetzung. Haben Sie sich die Effizienz bestimmter Anlagen einmal angesehen? Sie wissen doch genau, dass bestimmte Anlagen mit den notwendigen
Umweltstandards nicht mehr zu vereinbaren sind, sodass
es doch mehr als fahrlässig wäre, diese Punkte im Rahmen eines Umweltgesetzbuches nicht anzusprechen.
Interessant sind auch die Aussagen zum Wasserrecht.
Auf Seite 2 fordern Sie noch die Ausschöpfung der Potenziale zur Vereinfachung und Entbürokratisierung. Wenn
es dann aber um die Vereinheitlichung geht und alte
Rechte, die teilweise bis in das 13. Jahrhundert zurückreichen und überhaupt nicht mehr rechtlich zu handhaben
sind, in ein einheitliches Regelungssystem überführt werden, kritisieren Sie das wieder. Ich habe deshalb den Eindruck, dass Entbürokratisierung bei Ihnen eine andere
Bedeutung hat und eher die Forderung nach der Absenkung von Umweltstandards beinhalten soll. Sie wissen
darüber hinaus, dass mit der Wasserwirtschaft gerade
auch hier intensiv beraten wurde und wohl eine - für alle
Beteiligten - akzeptable Regelung gefunden werden
kann.
Das waren exemplarisch nur einige Beispiele, die zeigen, dass Ihre umweltpolitischen Zielsetzungen offenkundig nicht mit den im Antrag gewählten Überschriften zu
vereinbaren sind. Ich könnte jetzt noch weitere dieser
Widersprüchlichkeiten aufzählen, will jedoch die Zeit
nutzen, um für die SPD-Fraktion noch einmal ein paar
Dinge zum weiteren Verfahren zu sagen:
Wir begrüßen ausdrücklich, dass das Bundesumweltministerium nun das Verfahren zur Anhörung der Länder
und Verbände mit einem Entwurf eingeleitet hat, der dokumentiert, dass wir eine Stufe erreicht haben, die in den
früheren Jahrzehnten, in denen es zahlreiche vergebliche
Anläufe gegeben hat, nie erreicht wurde.
Wir fordern alle Beteiligten auf, dieses Vorhaben nun
konstruktiv zu begleiten. Auch die SPD-Fraktion wird das
bereits in diesem Stadium tun, wenngleich ich darauf hinweisen möchte, dass das parlamentarische Verfahren erst
nach der Kabinettsentscheidung beginnen wird und wir
uns dann, liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, über
all die Inhalte austauschen können und werden. Dazu
sollten Sie jedoch differenziertere und substanziellere
Vorschläge ausarbeiten.
Der Weg zum vorliegenden Entwurf war bereits steinig. Die Diskussionen unter den Ressorts haben die unterschiedlichen Vorstellungen offenbart. Bezieht man die
Abweichungskompetenz und die Sichtweise der Länder
mit ein, so zeigt sich, vor welch großen Herausforderungen das Bundesumweltministerium gestanden hat und
weiter steht.
Ich erachte es deshalb als sinnvoll, dass sich das Bundesumweltministerium zunächst auf die Kodifikation des
Umweltrechts bei gleichzeitigem Erhalt der bestehenden
Zu Protokoll gegebene Reden
Umweltstandards konzentriert und sich nicht schon im
Vorfeld auf von Einzelinteressen geleitete Regelungen
einlässt. Der Entwurf soll das bislang durch einzelne
Fachgesetze zersplitterte deutsche Umweltrecht stärker
integrativ unter Berücksichtigung von Wechselwirkungen
zwischen den Umweltmedien Wasser, Luft und Boden ausrichten.
Aber: Die Erwartungen sollten insoweit aber auch
nicht überspannt werden.
Natürlich ist es Aufgabe der Opposition, die Dinge zu
kritisieren. Aber die vollständige Aufnahme des Immissionsschutzrechts wäre nach meiner Einschätzung eine
solche Überspannung. Sie unterschlagen bzw. verkennen
in diesem Zusammenhang auch, dass sich mit der Schaffung der integrierten Vorhabengenehmigung erstmals die
Chance bietet, Genehmigungsverfahren zusammenzuführen. Damit entsteht die Möglichkeit, einerseits für den
Normadressaten eine Vereinfachung zu konzipieren. Ich
bin deshalb zuversichtlich, dass zudem der Vollzugsaufwand der öffentlichen Verwaltung gesenkt wird, sodass
Rationalisierung auch zu mehr Effektivität und Effizienz
führen kann. In Planspielen und Fachgesprächen sind
vor allem die Genehmigungs- und Verfahrensvorschriften
mit Vertretern des BMU von Zulassungsbehörden und
Unternehmen eingehend auf Praxistauglichkeit überprüft
worden. All dieses bildet eine hervorragende Grundlage.
Die anstehenden Beratungen werden eine große Herausforderung sein.
Da alle Fraktionen des Deutschen Bundestages ihre
Unterstützung bei der Schaffung des UGB signalisiert haben, sollte das Bundesumweltministerium ausreichende
Rückendeckung erhalten, einen möglichst breiten, aber
auch zielorientierten Dialog über die verschiedenen Aufgabenstellungen und Anforderungen zu führen. Bereits im
Frühjahr 2007 fand ein erstes ausführliches Symposium
zwischen Wissenschaft, Bundesumweltministerium und
Umweltpolitikern des Deutschen Bundestages statt. Trotz
oder gerade wegen der unterschiedlichen Interessenslagen und der aufgezeigten Probleme sollte das UGB Ergebnis eines möglichst breit angelegten Dialoges sein,
der gegebenenfalls auch Perspektiven für die weitere Arbeit nach der Verabschiedung eines ersten UGBs eröffnet. Die nun im Juni folgende Anhörung und Erörterung
für Verbände, Länder und kommunale Spitzenverbände
wird die SPD-Fraktion mit großer Aufmerksamkeit verfolgen.
Das Umweltgesetzbuch muss verwirklicht werden. Es
wäre ein erster, aber wichtiger Schritt hin zu einem übersichtlichen und anwenderfreundlichen Umweltrecht. Es
kann darüber hinaus zugleich eine solide Grundlage liefern für weitere innovative Schritte im Bereich des Umweltrechts.
Die bisherigen Bemühungen der Bundesregierung, ein
Umweltgesetzbuch zu schaffen, zeigen deutlich: Nicht nur
beim Klimaschutz und bei den erneuerbaren Energien,
auch bei der Umweltgesetzgebung wird die Luft für
Schwarz-Rot langsam dünn. Die Differenzen in der Großen Koalition sind auch hier längst offensichtlich.
Ob das Vorhaben UGB in dieser Legislaturperiode
noch gelingt, bezweifeln mittlerweile selbst Abgeordnete
aus den Regierungsfraktionen. Noch immer gibt es eine
Reihe zentraler Punkte, bei denen Union und SPD auf
keinen gemeinsamen Nenner kommen. Ich denke da nur
an die naturschutzrechtliche Eingriffsregelung!
Und dabei wird die Zeit so langsam wirklich knapp.
Ein Vermittlungsverfahren darf eigentlich schon nicht
mehr vorkommen, wenn das UGB tatsächlich noch vor
2010 in Kraft treten soll.
Der einstmals von Herrn Gabriel angekündigte große
Wurf ist in weite Ferne gerückt, um nicht zu sagen, er hat
sich in Luft aufgelöst. Mit viel Glück wird die Bundesregierung am Ende der Legislaturperiode ein Regelwerk
präsentieren, auf dessen Einband „UGB“ steht.
Doch: Das reicht nicht! Wir Liberale sind der Meinung, die Schaffung eines einheitlichen Umweltgesetzbuchs sollte mehr sein als ein Beschäftigungsprogramm
für Ministerialbeamte und Prestigeprojekt des ein oder
anderen Beteiligten.
Wir sind der Meinung, ein UGB macht nur - und nur
dann - Sinn, wenn es vor allem folgende drei Voraussetzungen erfüllt: Das UGB muss erstens grundlegende Verbesserungen und Vereinfachungen im Verwaltungsverfahren herbeiführen.
Das UGB muss zweitens mehr Rechtsicherheit und
mehr Rechtsklarheit für die Rechtsanwender bringen.
Und drittens müssen die materiellen Umweltstandards
tatsächlich unangetastet bleiben. Wir wollen weder eine
Verschärfung noch eine Absenkung, sondern eine Beibehaltung des Status quo.
Das haben wir auch in unserem Antrag deutlich gemacht, und daran werden wir die Arbeit der Bundesregierung messen.
Vor diesem Hintergrund begrüße ich es natürlich, dass
die neuesten Entwürfe zumindest an der einen oder anderen Stelle den Forderungen unseres Antrags Rechnung
tragen. Dies gilt vor allem für die Abkehr von der freien
Widerruflichkeit des wasserrechtlichen Teils der integrierten Vorhabengenehmigung und den Fortbestand der
sogenannten alten Rechte, aber zum Beispiel auch für die
Begriffsdefinitionen im Naturschutzrecht.
Ich begrüße es auch, dass die Bundesregierung unserer Forderung nachgekommen ist, das EEG nicht im UGB
aufzunehmen. Es hat da einfach nichts verloren!
Und trotzdem: Auch die neuen Entwürfe bleiben noch
immer hinter unseren Erwartungen an ein wirklich sinnvolles UGB zurück, das diesen immensen Aufwand überhaupt wert ist. Auch die neuen Entwürfe enthalten noch
immer Regelungen, durch die die Genehmigungsverfahren gerade für den Mittelstand komplizierter anstatt einfacher werden.
Zum anderen hat parteipolitisch gefärbte Lyrik in einem solchen Regelwerk - dessen Anspruch eine Allgemeingültigkeit ähnlich der des BGB ist - nichts zu suchen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Das gilt vor allem für die klar erkennbaren Tendenzen hin
zu einer Rekommunalisierung, die das Wasserbuch, wie
einen roten Faden durchziehen.
Vor allem der SPD sei an dieser Stelle gesagt: Gemeinwohl und Privatisierung sind keine Gegensätze. Auch
Private können von den Kommunen klar umrissene Aufgaben zur vollsten Zufriedenheit der Bürgerinnen und
Bürger in unserem Land erfüllen.
Die Bedeutung und Reichweite des Begriffs der Daseinsvorsorge ist alles andere als klar, sodass wohl auch
das Ziel der Rechtsvereinfachung eher konterkariert
wird; man wollte nur einmal mehr eine Streicheleinheit
an die kommunalen Unternehmen ins Gesetz packen; inhaltlich schwammig, aber zumindest wird es einem warm
ums Herz.
Ich hoffe, dass sich bis zur endgültigen Verabschiedung des UGB noch einiges zum Positiven verändert. Die
FDP wird das Projekt jedenfalls weiterhin kritisch begleiten.
Durchhalten ist Ihre Parole, meine Damen und Herrn
von der Koalition. In zentralen Fragen bekommen Sie
nichts auf die Reihe. Das Umweltgesetzbuch droht wie
der zweite Teil Ihres sogenannten Klimapakets zu floppen. Die von Ihnen eingeleitete Anhörung der Verbände
und der Länder ist nichts als Augenwischerei. Hier wollen Sie ein Vorankommen vortäuschen, das es gar nicht
gibt. Fakt ist, dass zentrale Elemente des Umweltgesetzbuches innerhalb der Regierung immer noch nicht abgestimmt sind. Es ist schon ein einmaliger Vorgang, dass
sich die Länder nun aussuchen können, wie sie es denn
gerne hätten. Das ist Wünsch-dir-was-Politik.
Die FDP - die sich auch viel wünscht - bestätigt mit
ihrem Antrag wieder einmal, dass sie der parlamentarische Arm der Wirtschaftsverbände ist.
Ich werde mich aber jetzt nicht mit der Vorhabensgenehmigung auseinandersetzen, sondern mit dem ebenso
umstrittenen Naturschutzrecht im Umweltgesetzbuch.
Hier ist es vor allem das Landwirtschaftsministerium, das
blockiert, wo es nur geht. Herr Seehofer scheint alles daranzusetzen, den Naturschutz so weit auszuhöhlen, dass
die Landwirte im wahrsten Sinne freie Bahn haben. Während sich die Bundeskanzlerin auf der Bonner Biodiversitätskonferenz als überzeugte Ökologin präsentierte und
sogar ein paar Millionen lockermachte, setzt ihr Minister
und Fraktionskollege Seehofer alles daran, den Naturschutz in Deutschland zu beerdigen. Vielleicht ist das nur
bayerisches Wahlkampfgetöse. Der zweite große Blockierer im Natur- und Umweltschutz ist wohl nicht zufällig
der andere CSU-Minister. Im Bundesrat blockiert Bayern
noch ungenierter. Ich hoffe, dass die bayerischen Wählerinnen und Wähler der CSU den fälligen Denkzettel verpassen. Diese bayerische Landesregierung gehört endlich abgewählt.
Anscheinend hatten die Blockierer bereits Erfolg: Der
vorliegende Entwurf bedeutet eine erhebliche Abschwächung des Naturschutzes. Dabei ist die Wunschliste aus
dem Hause Seehofer noch lang und noch gar nicht abschließend geklärt. Das betrifft die Eingriffsregelung,
und das betrifft den Artenschutz. Beginnen möchte ich
aber mit § 1, in dem üblicherweise die Ziele des Gesetzes
festgelegt werden. Wenigstens das müsste noch hinzukriegen sein, denke ich mir. Aber bereits hier zeigt sich, wie
wenig Ihnen der Naturschutz wert ist. Die Ziele werden
aufgeführt; das ist in Ordnung, auch wenn da ruhig ein
wenig mehr drin stehen dürfte. Aber sie wollen die Abwägung dieser Ziele mit anderen Interessen: mit Interessen
der Landwirtschaft, des Verkehrs, der Industrie usw.
ebenfalls als Ziel festlegen. Die Abwägung ist das Ziel.
Das ist nicht nur juristisch Quatsch - der Weg zum Erreichen der Ziele wird üblicherweise in den folgenden Paragrafen konkretisiert -, das ist für den Naturschutz auch im
höchsten Maße gefährlich. Wenn die Abwägung mit anderen Interessen ein gleichberechtigtes Ziel ist, schwindet
die Bedeutung der eigentlichen Ziele, sie stehen dann von
vornherein unter dem Damoklesschwert der Abwägung.
Alle weiteren Paragrafen, die das Erreichen der Ziele
festlegen, stehen unter Vorbehalt, sind praktisch nicht
mehr viel wert. Das bedeutet eine massive Schwächung
des Naturschutzes. Das ist Ihr Offenbarungseid im Naturschutz!
Frau Merkel, Ihre in Bonn zugesagten 500 Millionen
sind für mich eine moderne Form des Ablasshandels. Sie
beruhigen Ihr schlechtes Gewissen, machen aber munter
weiter wie bisher mit Ihrer die Natur zerstörenden Politik.
Nun zur Eingriffsregelung. Nach der bisherigen Eingriffsregelung müssen Schädigungen an der Tier- und
Pflanzenwelt real, das heißt, tatsächlich ausgeglichen
werden. Bundeslandwirtschaftsminister Seehofer möchte
dies gerne abschaffen. Statt eines realen Ausgleichs soll
ein moderner Ablasshandel entstehen. Natur kaputt, Geld
gezahlt - alles paletti. So geht das aber nicht; denn irgendwann ist von der Natur nicht mehr viel übrig. Da
nützt Geld dann auch nichts mehr. Damit ist der Kern der
bewährten Eingriff-Ausgleich-Regelung bedroht. Das
Landwirtschaftsministerium lässt den Lobbyverbänden
freie Hand beim Zerstören der Natur - trotz der gerade zu
Ende gegangenen UN-Biodiversitätskonferenz in Bonn.
Nun zur SPD. Ich möchte an die Diskussionen um die
Kleine Novelle des Bundesnaturschutzgesetzes vom letzten Jahr erinnern. Unsere Kritik war, dass es nur für die
nach dem europäischen Recht geschützten Arten ein hohes Schutzniveau gibt. Die national geschützten Arten
werden zu „Freiwild“. Die SPD hat damals gesagt, die
Kleine Novelle sei dafür nicht der richtige Ort, weil damit
nur das Urteil des Europäischen Gerichtshofes umgesetzt
werde. Das solle aber mit dem Umweltgesetzbuch nachgeholt werden. Wir haben im Referentenentwurf einmal
nachgeschaut. Auf den ersten Blick sieht es so aus, als ob
die SPD Wort gehalten hat: Durch einen einzigen zusätzlichen Halbsatz sind nun auch national geschützte Arten
vor der Vernichtung durch Land- und Forstwirtschaft einigermaßen gefeit. Wenn man aber genau liest, sieht man,
dass nur ein ganz kleiner Teil dieser Arten geschützt wird.
Sie schaffen eine Zweiklassengesellschaft bei national
geschützten Arten. Wie bisher wird zwischen besonders
und streng geschützten Arten unterschieden; so weit, so
gut. Innerhalb der besonders geschützten Arten soll es
nun aber besonderere und weniger besondere geben. Die
Zu Protokoll gegebene Reden
bisherige Definition lautete, dass besonders geschützte
Arten solche heimischen Arten seien, die im Inland durch
menschlichen Zugriff in ihrem Bestand gefährdet sind.
Nun gibt es einen zweiten exklusiven Club der Arten. Der
umfasst nur die Arten, für die Deutschland - wer auch immer das definieren soll - in hohem Maße verantwortlich ist.
Nur für diese Arten soll es Einschränkungen für Land-,
Forst- und Fischereiwirtschaft geben. Diese Arten umfassen aber nur cirka 10 Prozent der derzeit besonders geschützten Arten. Die anderen 90 Prozent können von der
Landwirtschaft beliebig vernichtet werden.
Denn die andere einschränkende Bedingung, die gute
fachliche Praxis der Landwirtschaft, ist das Papier nicht
wert, auf dem sie steht. Die wird noch schlechter, als sie
ohnehin schon ist. 90 Prozent der national geschützten
Arten sollen also der Landwirtschaft ausgeliefert werden.
Die Artenvernichtung wird also fast ungehindert weitergehen. Das Schlimme ist, dass noch diese Definition der
besonders geschützten Arten umstritten ist. Da der vorliegende Entwurf die Fassung enthält, die den Wünschen
des BMU entspricht, kann sich das noch weiter verschlechtern. Dann bleibt von Ihrer Ankündigung, liebe
SPD, vielleicht gar nichts mehr übrig.
Ich fasse zusammen: Mit diesem Gesetz schaden Sie
dem Naturschutz. Die Eingriffsregelung steht vor dem
Aus, die nationalen Arten bleiben Freiwild - und das
ganze Gesetz steht unter Vorbehalt. So sieht fortschrittlicher Naturschutz nicht aus; das ist ein klarer Rückschritt.
Wir debattieren heute einen Antrag der FDP zum Gesetzgebungsverfahren des Umweltgesetzbuches, der im
Titel behauptet, Bürger entlasten zu wollen. Tatsächlich
geht es den Freidemokraten natürlich darum, Unternehmen von vermeintlichen Belastungen zu befreien und die
ebenso beliebte wie unstimmige Litanei über die Unvereinbarkeit von wirtschaftlicher Entwicklung und Mitspracherechten der Bürgerinnen und Bürger an eben diesen Entwicklungsprozessen anzustimmen.
Als wirkliche Fürsprecherinnen und Fürsprecher der
Bürgerrechte lehnen Bündnis 90/Die Grünen den Abbau
der Beteiligungsrechte in den Planungsbeschleunigungsgesetzen ab. Der Sachverständigenrat für Umweltfragen,
SRU, hat bereits mehrfach betont, dass die maßgebliche
politische Rechtfertigung für die Beschleunigungsmaßnahmen einer tragfähigen empirischen Grundlage entbehrt. Weder ist eine übermäßig lange Dauer der deutschen Zulassungsverfahren für Infrastruktur- und
Industrieanlagen festgestellt worden noch sprechen die
Ergebnisse empirischer Studien dafür, dass ein relevanter
Zusammenhang zwischen der Verfahrensdauer und der
Standortwahl von Investoren besteht. Bürgerinnen und
Bürger müssen Einfluss auch auf Planungen von Wirtschaftsstandorten haben. Das ist Teil der Demokratie. Mit
der Vorlage zum UGB wird jetzt der Versuch unternommen, die Standardabsenkung durch die Beschleunigungsgesetzgebung zum Teil wieder rückgängig zu machen,
schließlich wird die Einschränkung der Öffentlichkeitsbeteiligung von zahllosen Experten auch als Europarechtsbruch eingestuft.
An der FDP scheint diese Debatte vorbeigegangen zu
sein. Obwohl sie sich gern als Bürgerrechtspartei bezeichnet, will sie Rechte von Bürgern und Bürgerinnen
beschneiden - das kann man nur bedauernd zur Kenntnis
nehmen. Kernbestandteile der europäischen Vorgaben
für die Öffentlichkeitsbeteiligung sind jedoch: die Bürgerinnen und Bürger in sachgerechter, rechtzeitiger und effektiver Weise frühzeitig zu informieren; ausreichend Zeit
zur effektiven Vorbereitung und Beteiligung einzuräumen; eine frühzeitige Öffentlichkeitsbeteiligung zu einem
Zeitpunkt zu initiieren, zu dem alle Optionen noch offen
sind und eine effektive Öffentlichkeitsbeteiligung stattfinden kann; seitens der Behörden künftige Antragsteller zu
ermutigen, die betroffene Öffentlichkeit zu ermitteln, Gespräche aufzunehmen und über den Zweck ihres Antrags
zu informieren, bevor der Antrag auf Genehmigung gestellt wird; Zugang zu allen Informationen zu ermöglichen, die für die entsprechenden Entscheidungsverfahren
relevant sind und zum Zeitpunkt des Verfahrens zur Öffentlichkeitsbeteiligung zur Verfügung stehen.
In Deutschland haben wir die bewährten Instrumente
der Einsicht in Planungsunterlagen und des Erörterungstermins, um Gespräche aufzunehmen, über den Zweck eines Antrags zu informieren und Zugang zu allen Informationen zu ermöglichen. Wir lehnen es ab, auf diese
Instrumentarien zu verzichten, wenn es denn den Behörden opportun erscheint und fordern dagegen die Ausweitung der Öffentlichkeitsbeteiligung.
In Sachen Vorhabensgenehmigung vollführt die FDP
einen weiteren Kniefall vor der Wirtschaft. Sie fordert tatsächlich den Verzicht auf die von allen Seiten geforderte
Pflicht zur Kraft-Wärme-Kopplung bei Anlagen, die Abwärme bzw. Wärme produzieren und nennt als Beispiel
fossile Kraftwerke. Die am häufigsten in Deutschland
eingesetzten Kraftwerke werden mit Kohle als Primärenergie betrieben. Ihr Wirkungsgrad liegt deutlich unter
50 Prozent, häufig erreichen sie nur rund 35 Prozent oder
noch weniger. Das heißt, dass etwa 65 Prozent der Energie nicht genutzt werden, während gleichzeitig selbst von
Steinkohlekraftwerken bis zu 860 Gramm Kohlendioxid
pro Kilowattstunde ausgestoßen werden. Angesichts des
Klimawandels und der Reduktionsziele, zu denen sich
Deutschland verpflichtet hat, ist die Nutzung der Abwärme von Kraftwerken ein Gebot der Stunde. Die FDP
zeigt auch mit dieser Forderung, dass sie nicht auf dem
Stand der Technik ist, um mit dem Bundesimmissionsschutzgesetz zu sprechen, sondern sich einer Wirtschaft
verpflichtet fühlt, die sich weniger am Gemeinwohl als an
der Gewinnmaximierung ihrer Shareholder orientiert.
Während die FDP mit ihrem Antrag offenbar den weiteren Ausbau der Stromproduktion in Deutschland mittels
Kohlekraft fördern will, fordern wir Grüne den Stopp
neuer Kohlemeiler. Alle politische Energie muss sich darauf konzentrieren, um schnellstmöglich den Umstieg auf
das postfossile Energiezeitalter zu erreichen. Nur durch
einen massiven Ausbau der erneuerbaren Energien, mit
Effizienztechnologien und mit dem Reduzieren unseres
Energieverbrauchs können wir diese Aufgabe meistern.
Die FDP zeigt mit ihrem Antrag, dass sie davon nichts
verstanden hat.
Zu Protokoll gegebene Reden
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/9113 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Achten
Gesetzes zur Änderung des Gemeindefinanzreformgesetzes
- Drucksachen 16/9275, 16/9288 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({0})
- Drucksache 16/9467 Berichterstattung:
Abgeordnete Antje Tillmann
Carl-Ludwig Thiele
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden der folgenden Kolleginnen und Kollegen: Antje
Tillmann, CDU/CSU, Bernd Scheelen, SPD, Carl-Ludwig Thiele, FDP, Dr. Axel Troost, Die Linke, Britta Haßelmann, Bündnis 90/Die Grünen.
Den Gemeinden steht seit der Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer zum 1. Januar 1998 ein Anteil in Höhe
von 2,2 Prozent an der Umsatzsteuer zu. Im Jahr 2007
entsprach das 3 409 Millionen Euro. Damit werden circa
6 Prozent des kommunalen Gemeindesteueraufkommens
gedeckt. Die Frage, wie diese Summe auf die Städte und
Gemeinden verteilt wird, ist also entscheidend, sodass
dieses spröde Gesetz ganz handfeste Auswirkungen auf
das kommunale Leben hat.
Derzeit erfolgt die Verteilung des Gemeindeanteils an
der Umsatzsteuer auf die einzelnen Gemeinden nach einem nicht bundeseinheitlichen Übergangsschlüssel.
Der unterschiedliche Schlüssel in den alten und neuen
Bundesländern rührt daher, dass die gemeindliche Umsatzsteuerbeteiligung als Ersatz für den Wegfall der Gewerbekapitalsteuer eingeführt wurde, die Eingang in die
Schlüsselkomponenten fand. In den neuen Ländern war
dies nicht möglich, da diese Steuer dort nicht erhoben
wurde. Durch die Berücksichtung des Merkmals „Gewerbekapitalsteuer“ ist dieser Schlüssel nicht nur nicht bundeseinheitlich, sondern auch nicht fortschreibungsfähig.
Von dem Gemeindeanteil an der Umsatzsteuer entfällt
derzeit auf die Gemeinden der alten Bundesländer einschließlich Berlin-West - ein Anteil von insgesamt
85 Prozent und auf die Gemeinden der neuen Bundesländer sowie auf Berlin-Ost - ein Anteil von 15 Prozent. Der
prozentuale Anteil der neuen Bundesländer am zugewiesenen Umsatzsteueraufkommen war damals großzügig
berechnet. Da die Gewerbekapitalsteuer nur in den alten
Bundesländern bestand, mussten damals Schätzungen in
den neuen Bundesländern über das Einnahmepotenzial
an der Gewerbekapitalsteuer erfolgen.
Das Gemeindefinanzreformgesetz enthält nun den
Auftrag an den Gesetzgeber, die Verteilung dieses Gemeindeanteils am Aufkommen der Umsatzsteuer mit Wirkung ab dem Jahr 2009 auf einen fortschreibungsfähigen
und bundeseinheitlichen Schlüssel umzustellen, um so
den Gemeinden weiterhin eine ausreichende Finanzausstattung zur Verfügung zu stellen.
Bereits zum Jahre 2003 sollte ein bundeseinheitlicher
Schlüssel die Umsatzsteuerverteilung auf die Gemeinden
regeln. Schlüsselelement sollte das Betriebsvermögen
- Sachanlagen, Vorräte, Löhne und Gehälter - sein. Das
Statistische Bundesamt hatte zwar Modellrechnungen erstellt, die jedoch in zahlreichen Fällen nicht nachvollziehbare Unstimmigkeiten in Bezug auf einzelne Länder
und einzelne Gemeinden aufzeigten. Nach allgemeiner
Auffassung des Bundes, der Länder und der kommunalen
Spitzenverbände konnten die vorliegenden Daten nicht
Grundlage für einen gerichtsfesten Verteilungsschlüssel
sein. Die Erhebung scheiterte. Der derzeitige Verteilungsschlüssel wurde wieder verlängert und Modellrechnungen des Statistischen Bundesamtes mit den
Schlüsselmerkmalen „Gewerbesteueraufkommen“, „sozialversicherungspflichtige Beschäftigte“ und „sozialversicherungspflichtige Entgelte“ erstellt.
Im Gesetzentwurf wurde ein Kompromiss gewählt, der
von den drei großen Spitzenverbänden mitgetragen wird.
Der vorgesehene endgültige Verteilungsschlüssel setzt
sich zusammen aus: 25 Prozent aus dem Gewerbesteueraufkommen - brutto - der Jahre 2001 bis 2006, 50 Prozent aus der Anzahl der sozialversicherungspflichtig
Beschäftigten am Arbeitsort - ohne Beschäftigte von Gebietskörperschaften und Sozialversicherungen sowie deren Einrichtungen - der Jahre 2004 bis 2006 sowie zu
25 Prozent aus den sozialversicherungspflichtigen Entgelten am Arbeitsort - ohne Beschäftigte von Gebietskörperschaften und Sozialversicherungen sowie deren Einrichtungen - der Jahre 2003 bis 2005.
Beschäftigte und Entgelt werden mit dem durchschnittlich gewogenen örtlichen Gewerbesteuer-Hebesatz des
jeweiligen Erfassungszeitraums gewichtet.
Die nun vorgeschlagene Regelung hat gegenüber den
anderen diskutierten Varianten den Vorteil, dass sie das
geringste Umverteilungsvolumen zwischen den Ländern
hat. Trotzdem ergeben sich natürlich Änderungen bei der
Zuweisung an die Kommunen.
Deshalb besteht Einvernehmen zwischen den Ländern
und den kommunalen Spitzenverbänden darüber, angesichts der Umverteilungswirkung zum Zeitpunkt des
Schlüsselwechsels den endgültigen Schlüssel nicht vollständig mit Wirkung ab dem Jahr 2009, sondern mit einem Übergangszeitraum - in Anlehnung an die Fortdauer des Solidarpakts II - bis 2018 einzuführen. In der
Gesetzesbegründung heißt es dazu:
Bis zu diesem Zeitpunkt sollte die Angleichung der
wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der neuen
Länder so weit fortgeschritten sein, dass der ab17662
schließende Übergang auf den endgültigen Verteilungsschlüssel allenfalls geringfügige Auswirkungen hervorrufen dürfte.
Ich kündige aber jetzt schon an, dass wir - sollte diese
Erwartung nicht eintreten - erneut über eine Neugestaltung des kommunalen Ausgleichs sprechen müssen.
In dem Übergangszeitraum von 2009 bis einschließlich 2017 wird ein Übergangsschlüssel Anwendung finden, der eine Kombination aus geltendem und zukünftigem Schlüssel darstellt.
Folgende Stufen sind vorgesehen: In den Jahren 2009
bis 2011 geht der endgültige Schlüssel mit einem Anteil
von 25 Prozent und der geltende Schlüssel mit einem Anteil von 75 Prozent ein, in den Jahren 2012 bis 2014 gehen endgültiger und geltender Schlüssel jeweils mit
50 Prozent ein und in den Jahren 2015 bis 2017 geht der
endgültige Schlüssel mit einem Anteil von 75 Prozent und
der geltende Schlüssel mit einem Anteil von 25 Prozent
ein.
Daneben werden die Auswirkungen bei den Ländern,
die nach der Neuverteilung mit Mindereinnahmen zu
rechnen haben, durch den Länderfinanzausgleich deutlich abgemildert. Berechnungen haben ergeben, dass die
Umverteilungswirkung durch den Länderfinanzausgleich
um fast 60 Prozent gemildert wird. Wir werden in den
Länderparlamenten, in denen wir die Verantwortung tragen, dafür sorgen, dass dieser Ausgleich auch bei den
Kommunen ankommt.
Der nun vorliegende endgültige und bundeseinheitliche Verteilungsschlüssel ist ein solider Baustein für die
Gemeindefinanzen. Städte und Gemeinden leisten ihre
Arbeit direkt am Bürger. Für Bildung, Erziehung, Verkehr
und Verwaltung brauchen Kommunen deshalb diese sichere Finanzierung. Für das Verhältnis Unternehmen/
Kommunen ist es hilfreich, wenn die Städte und Gemeinden auch finanzielle Vorteile aus der Ansiedlung von Gewerbe haben.
Die Kommunen haben nun Anreize, sich um eine erfolgreiche Ansiedlungspolitik zu kümmern. Die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer als Substanzbesteuerung
war richtig. Die Skepsis der Kommunen hat sich als unberechtigt erwiesen, wir haben ihnen durch die Übertragung des Umsatzsteueraufkommens Planungssicherheit
gegeben.
Wir werden dem Gesetzentwurf der Bundesregierung
daher zustimmen.
Gerade wenn es um unsere Kommunen geht, freue ich
mich, weiterhin an den Anfang meiner Reden und Statements im und außerhalb des Deutschen Bundestages immer noch als erste gute Nachricht setzen zu können: Nach
den Ergebnissen der Steuerschätzung werden sich die
kommunalen Steuereinnahmen auch in 2008 - mit leicht
reduzierter Zuwachsrate - erhöhen. Seit 2006 ist es dabei
nicht mehr nur die Gewerbesteuer, die einen erheblichen
Anstieg aufweist. Auch die Einnahmen aus den Gemeindeanteilen an der Einkommensteuer und der Umsatzsteuer legen stark zu. Hinter der günstigen Gesamtentwicklung verbergen sich lokale Unterschiede, zu deren
Ausgleich die Länder verpflichtet sind.
Als zweite gute Nachricht gilt für mich die in dieser
Woche anstehende Verabschiedung des Gemeindefinanzreformgesetzes, oder, wie es im Amtsdeutsch heißt, des
Achten Gesetzes zur Änderung des Gemeindefinanzreformgesetzes. Es sieht vor, den derzeit geltenden Übergangsverteilungsschlüssel für den Gemeindeanteil am
Aufkommen der Umsatzsteuer mit Wirkung ab dem Jahr
2009 in vier Stufen - bis 2018 - auf einen endgültigen,
fortschreibungsfähigen und bundeseinheitlichen Schlüssel umzustellen.
Als Bundestagsabgeordnete sind ihnen hierzu die entsprechenden Drucksachen, das heißt, der Gesetzentwurf
der Bundesregierung vom 26. Mai 2008 und die Beschlussempfehlung und der Bericht des Finanzausschusses vom gestrigen Tage, zugegangen. Den Dokumenten
können sie viele fachliche Details über die jeweilige Bedeutung von einzelnen Schlüsselmerkmalen, einer Hebesatzgewichtung einzelner Merkmale sowie zur Diskussion über zwölf Modellrechnungen des Statistischen
Bundesamtes im Vorfeld der Entscheidung für die jetzige
Gesetzesregelung entnehmen. Dies gilt auch für die ab
2018 geltende Gewichtung eines bundeseinheitlichen
Schlüssels mit einem Anteil von 25 Prozent bezogen auf
das Gewerbesteueraufkommen der Jahre 2001 bis 2006,
50 Prozent bezogen auf die Anzahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten und 25 Prozent bezogen auf
sozialversicherungspflichtige Entgelte.
Somit könnte man zur dritten guten Nachricht übergehen: Sowohl im für das Gemeindefinanzreformgesetz federführenden Finanzausschuss als auch in den mitberatenden Fachausschüssen Haushalt sowie Verkehr, Bau
und Stadtentwicklung wurde die Annahme des Gesetzentwurfs mit überwältigender Mehrheit empfohlen. Von der
Opposition stimmten lediglich die Kolleginnen und Kollegen der Nachfolgeorganisation der PDS nicht für diese
Vorlage. Die über zwei Legislaturperioden andauernde
intensive Beratung war somit ein Erfolg. Was lange
währt, wird doch noch gut.
Ich möchte heute die Gelegenheit wahrnehmen, meine
Ausführungen auf einige andere Dinge zu lenken, die sich
mir im Laufe des langjährigen Gesetzgebungsverlaufes
zum Gemeindefinanzreformgesetz darstellten: Die Notwendigkeit einer starken und frühzeitigen Beteiligung der
Kommunen an allen sie betreffenden Gesetzgebungsverfahren, die Berücksichtigung vielschichtiger unterschiedlicher Interessenlagen von großen, oft finanzstarken
Städten, unseren kleineren Gemeinden und des ländlichen
Raumes - somit die Stärkung kommunaler Stärken und die
Verantwortung zur Überwindung von Defiziten durch die
Länder aber auch in Zusammenarbeit mit dem Bund -, die
Einheit unseres Landes mit jedem Gesetzgebungsverfahren voranzutreiben und unser Versprechen im Bonner
Bundestag, in Berlin für unsere Bürgerinnen und Bürger
ein gläsernes Parlament zu sein.
Ich werde mit dem letzten Punkt anfangen: das gläserne Parlament. Gerade dieses Gesetzgebungsverfahren
verdeutlichte: Wir sind für das „Funktionieren“, für geZu Protokoll gegebene Reden
regelte Abläufe, für die Erfüllung der uns vom Grundgesetz auferlegten Pflichten verantwortlich, aber auch dafür, dies jedem Bürger verständlich zu machen. Daher
mein Verweis am Beginn meiner Rede auf die in den
Drucksachen des Deutschen Bundestages und Papieren
des Bundesministeriums für Finanzen nachzulesenden
Fachdetails zum heutigen Gesetzentwurf: ein Eldorado
für die Fachleute im Lande.
Für mich ist wichtig, dass man uns vor Ort versteht:
Dieses Gesetz ist keine Ergänzung unserer erfolgreichen
- gerade von der SPD Fraktion vehement vorangetriebenen - Gewerbesteuerreform. Sie brachte im Ergebnis für
Städte und Gemeinden im letzten Jahr Rekordüberschüsse von 8,6 Milliarden Euro, das heißt, eine erhebliche Verbesserung der kommunalen Finanzkraft. Es dient
vielmehr einer längst überfälligen Neuregelung eines gerechten Verteilungsschlüssels für den Anteil an der den
Gemeinden zustehenden Umsatzsteuer.
Diese Beteiligung war 1998 in Höhe von 2,2 Prozent
eingeführt worden. Damals ging es um die Kompensation
für den Einnahmeausfall durch die Abschaffung der sogenannten Gewerbekapitalsteuer. Der Gemeindeanteil an
der Umsatzsteuer wird in einem ersten Schritt auf die
Länder und dann auf die Kommunen nach bestimmten,
statistisch ermittelten Kriterien, sogenannter Schlüsselmerkmale, verteilt.
Das Gemeindefinanzreformgesetz von 2001, das dies
regelt, war bewusst bis 2005 befristet worden; denn in
ihm gelten unterschiedliche Bewertungskriterien für die
alten und neuen Bundesländer. Zum 1. Januar 2006 sollte
im Rahmen eines neuen Gesetzes festgelegt werden, nach
welchen - für die neuen und die alten Bundesländer einheitlichen - neuen Schlüsselmerkmalen die Umstellung
auf eine für die Zukunft fortschreibungsfähige Bewertung
erfolgen könnte.
Seit Anfang 2005 bemühten sich die Koalitionsfraktionen des Deutschen Bundestages und das Bundesfinanzministerium gleichermaßen um eine von den Kommunen,
Ländern und dem Bund akzeptierbare Lösung. Immerhin
geht es um die Neuverteilung eines Finanzvolumens von
3,53 Milliarden Euro. Mit dem gefundenen Schlüssel ist
sichergestellt, dass die Umverteilungswirkung im ersten
Jahr der veränderten Verteilung mit 35 Millionen Euro
und nach acht Jahren mit rund 140 Millionen Euro von
sieben auf neun Länder sehr maßvoll ausfällt.
Damit wurde ein guter Weg gefunden, ein Weg, bei dem
jeder Bürger für seine Kommune davon ausgehen kann,
dass dieser nicht willkürlich ist, sondern basierend auf
gesicherten statistischen Daten vorgezeichnet wird. Die
festgelegten Schlüsselmerkmale zur Zuweisung des Anteils der jeweiligen Gemeinde an der Umsatzsteuer geben
zudem einen hohen Anreiz, die Zusammenarbeit zwischen
ihr und der Wirtschaft zu intensivieren.
Die Notwendigkeit, kommunale Interessen auf Bundes- und Landesebene im Wege einer starken und frühzeitigen Beteiligung zu berücksichtigen, ist ein weiteres, gerade aus diesem Gesetzgebungsverfahren gestärktes
Anliegen - nicht nur weil dies eine Thematik ist, die gerade von der SPD-Bundestagsfraktion in der letzten und
dieser Legislaturperiode vehement verfolgt und auf die
Tagesordnung gesetzt wurde.
Selbstverständlich gibt es zu jedem Gesetzgebungsverfahren auch Anhörungen, zu denen auch die kommunalen
Spitzenverbände, manchmal einzelne kommunale Vertreter, geladen werden. Ein grundgesetzlich bzw. gesetzlich
verankertes Anhörungsrecht, das von den Spitzenverbänden gefordert wird, und, wie sich das auch immer deutlicher auf europäischer Ebene herauskristallisiert, gibt es
nicht.
Sie, meine Damen und Herren, werden mit Recht auf
unsere parlamentarische Geschäftsordnung verweisen.
Viele Geschäftsordnungen der Bundesministerien und
Länderverfassungen enthalten differenzierte Anhörungsrechte. Aber es gibt keinerlei einheitliche Regelung auch nicht in der Handhabung. Mir genügt nicht die Begründung, Kommunen seien nach dem Grundgesetz Teil
der Länder und keine selbstständige dritte Säule im Staat,
und die Länder nähmen umfassend die Rechte der Kommunen wahr.
Kommunen sind die Basis unseres Landes. Diese Basis
muss nicht nur finanziell gesichert sein. Sie muss mitgestaltend auf Landes- und Bundesebene einbezogen werden, das heißt, regelmäßig, ohne Einschränkung, selbstverständlich, nicht in Abhängigkeit von der Entscheidung
eines Sachbearbeiters, umfassend und nicht abhängig
vom Themenkomplex sozusagen nach dem Motto: bei innerdeutschen Fragestellungen ja, soweit erforderlich, bei
europäischen nein oder vielleicht eingeschränkt.
Dieses Gesetzgebungsverfahren zum Gemeindefinanzreformgesetz verdeutlichte allen Beteiligten: Ohne die
Vertreter des Deutschen Städtetages, des Deutschen
Städte- und Gemeinebundes, des Deutschen Landkreistages mit ihren Fachkenntnissen und Erfahrungen vor Ort
wäre die Verabschiedung des Gesetzes heute nicht möglich gewesen. Gerade sie förderten in vielen Gesprächen
den Kompromiss zwischen den Gemeinden, zwischen
Kommunen und den Ländern und im Verhältnis zum
Bund.
Vielleicht kann man anführen: Nun ja, die Notwendigkeit der Anhörung liegt hier ja quasi auf der Hand. - Den
Bürgern draußen sei gesagt: Rund 70 Prozent aller Gesetze des Deutschen Bundestages - inklusive der Umsetzung europäischer Richtlinien - betreffen ihre kommunalen Interessen vor Ort - mal offensichtlich, mal versteckt.
„Gläsern“ heißt also auch: Anhörung und Beteiligung
der kommunalen Vertreter auf Bundesebene. Ich persönlich möchte mich nicht darauf verlassen, dass unsere
Städte und Gemeinden als Teil der Länder von diesen ausschließlich vertreten werden. Ich glaube, dass es hier
noch Diskussionsbedarf gibt.
Auf jeden Fall möchte ich mich an dieser Stelle beim
Bundesfinanzminister Steinbrück und seinen Mitarbeitern bedanken, dass in diesem Gesetzgebungsverfahren
das positive Ergebnis gerade durch eine intensive Beteiligung der kommunalen Spitzenverbände, aber auch
durch viele Gespräche mit den Ländern erreicht werden
konnte.
Zu Protokoll gegebene Reden
Mein letzter Punkt spricht unsere Verpflichtung und
unseren Wunsch zur inneren deutschen Einheit an. Auch
hierfür steht das Achte Gesetz zur Änderung des Gemeindefinanzreformgesetzes.
Der zu Beginn meiner Ausführungen angesprochene
„bundeseinheitliche“ Schlüssel zur Umverteilung des
kommunalen Anteils an der Umsatzsteuer ist ein kleiner,
aber deutlicher Baustein. Gerade von unseren Kolleginnen und Kollegen aus der Nachfolgeorganisation der
PDS hätte ich erwartet, dass sie diesen meinen Hinweis
besonders hervorheben würden. Stattdessen übernahmen
sie wieder einmal originäre Forderungen der SPD-Bundestagsfraktion zur Stärkung der Gewerbesteuer, um als
Einzige den vorliegenden Regierungsentwurf abzulehnen. Und sie wiesen in der Beratung darauf hin, das Gesetz stelle eine Umverteilung zulasten der finanzschwachen neuen Bundesländer dar. Unabhängig davon, dass
dies von den Betroffenen - den Ostländern und ihren Gemeinden - nicht so gesehen wird, ist eine solche Argumentation populistisch und fachlich falsch.
Noch einmal: Das Ziel des Gemeindefinanzreformgesetzes ist nicht eine zusätzliche Stärkung kommunaler Finanzkraft. Hier sollten wir die Wirkung der Maßnahmen
zur Gewerbesteuer im Rahmen der Unternehmensteuerreform 2008 abwarten. Ziel ist die bundeseinheitliche,
überfällige Neuregelung des kommunalen Verteilungsschlüssels an der Umsatzsteuer. Es kann in sehr geringem
Maße zum Auslaufen einer Bevorzugung von einzelnen
Gemeinden in den neuen Bundesländern führen. Dies ist
allen Beteiligten bekannt. Zur Abmilderung der Umverteilungswirkung - übrigens auch in ehemals gewerbekapitalsteuerstarken westlichen Gemeinden - wurde die
sehr lange Übergangszeit bis 2018 eingebaut. Daneben
verweise ich auf den kommunalen Finanzausgleich der
Länder. Wie beim Auslaufen des Solidarpakts II bis 2019
sind wir sicher, dass bis zu diesem Zeitpunkt alle Voraussetzungen für einen erfolgreichen wirtschaftlichen Aufholprozess in den neuen Bundesländern und betroffenen
westlichen Kommunen geschaffen wurden.
Als kommunalpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion stehe ich voll hinter den gemeinsam mit den
Ländern, den kommunalen Spitzenverbänden und dem
Bundesfinanzministerium sowie vielen Kolleginnen und
Kollegen in diesem Hause diskutierten und letztlich festgeschriebenen Gesetzentwurf zur Verteilung des Gemeindeanteils an der Umsatzsteuer ab 2009.
Sie verzeihen mir meinen Ausflug in Fragestellungen,
die sich mir im Verfahren auftaten und mit diesem
verknüpft sind auch wenn Sie sich nicht fachlich-finanzpolitisch mit Bruttogewerbesteueraufkommen, sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten mit und ohne
Hebesatzgewichtung, sozialversicherungspflichtigen Entgelten ohne Entgelte von Beschäftigten von Gebietskörperschaften und Sozialversicherungen sowie deren Einrichtungen, die als Durchschnitt für die Jahre 2003 bis
2005 der Beschäftigten- und Entgeltstatistik ermittelt
wurden beschäftigten. Letzteres kann übrigens in § 5
Abs. 1 Satz 1 des Gesetzes nachgelesen werden.
Ich nehme den Gesetzentwurf zum Anlass, mich für die
gute Zusammenarbeit mit den kommunalen Spitzenverbänden zu bedanken und für ihr gesetzliches Anhörungsrecht zu plädieren. Ich verweise noch einmal auf unsere
Verpflichtung, als „gläsernes Parlament“ unsere Gesetze
und unsere Arbeit gläsern, das heißt, für die Bürgerinnen
und Bürger verstehbar, darzulegen. Ich freue mich, dass
dieses in der Öffentlichkeit zu Unrecht wahrscheinlich
wenig beachtete Gemeindefinanzreformgesetz die deutsche Einheit ein Stück voranbringen wird.
Die FDP begrüßt, dass nunmehr nach jahrelangen
Vorarbeiten ein Kompromiss über die Verteilung der Umsatzsteuer auf die Kommunen gefunden wurde. Hintergrund dieser Regelung ist, dass seinerzeit von der
schwarz-gelben Koalition auf Drängen der FDP die Gewerbekapitalsteuer als reine Substanzsteuer abgeschafft
wurde und die Kommunen erstmalig einen Anteil an der
Umsatzsteuer erhalten haben. Dieses war ein erheblicher
Fortschritt, zumal für die Unternehmen bis zu diesem
Zeitpunkt unabhängig von Ihrer Ertragslage hinzu kam,
dass zu dem Gewerbekapital auch Schulden und Schuldzinsen gerechnet wurden.
Wenn der Staat direkte Steuern wie die Gewerbesteuer
erhebt, dann sollte Wert darauf gelegt werden, dass diese
Steuer sich am Ertrag und damit an der Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen orientiert. Dieses ist bei Substanzsteuern nicht der Fall; denn diese müssen auch in
Verlustjahren gezahlt werden. Hierdurch verschärft sich
die finanzielle Situation ertragsschwacher Betriebe insbesondere in Verlustjahren. Deshalb hält es die FDP auch
für einen unglaublichen Fehler der Großen Koalition,
dass im Zuge der Unternehmensbesteuerung Kosten und
Kostenelemente als Bemessungsgrundlage für die Körperschaftsteuer eingeführt wurden. Dieses ist der falsche
Weg. Die FDP-Bundestagsfraktion stimmt dem Gesetzentwurf in der vom Ausschuss verabschiedeten Fassung
zu. Es handelt sich bei dieser Gesetzesvorlage um einen
Kompromiss, der von den Beteiligten sicher nicht als
Ideallösung betrachtet wird. Letztlich können aber wohl
alle damit leben, auch die kommunalen Spitzenverbände,
die die vorgesehene dauerhafte Umstellung des Verteilungsschlüssels für den Umsatzsteueranteil der Gemeinden als akzeptabel mittragen. Den Spitzenverbänden der
Kommunen ist diese Position auch durch die vorgesehene
langfristige Übergangsregelung erleichtert worden, nach
der der endgültige Verteilungsschlüssel in Anlehnung an
den Solidarpakt II erst 2018 voll in Kraft treten wird. Der
Deutsche Städtetag hatte in einem Beschluss seines Präsidiums vom 12. Februar dieses Jahres einen gleitenden
Übergang vom noch geltenden Verteilungsschlüssel, der
selbst nur Übergangscharakter hat, zum endgültigen Verteilungsschlüssel gefordert. Zu begrüßen ist es, dass die
Neuregelung zu einer Vereinheitlichung des Verteilungsschlüssels zwischen den alten und den neuen Bundesländern führt.
Die jetzt auf den Weg gebrachte Anschlusslösung für
die derzeitige Verteilung des Umsatzsteueranteils der Gemeinden ist die letzte Phase eines grundlegenden Schritts
zur Änderung der Gemeindefinanzen, den die frühere
Koalition aus CDU/CSU und FDP vor zehn Jahren getan
hat: die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer. Nach
Zu Protokoll gegebene Reden
jahrelangem, teilweise erbittertem Tauziehen zwischen
den damaligen Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion war diese antiquierte Steuer schließlich mit dem Gesetz zur Fortsetzung der Unternehmensteuerreform vom
29. Oktober 1997 abgeschafft worden. Den Gemeinden
sind damals 2,2 Prozent des Umsatzsteueraufkommens
als Ersatz für den Wegfall der Gewerbekapitalsteuer zugesprochen worden. Die Streichung der Gewerbekapitalsteuer war eine überfällige Maßnahme zu einer strukturellen Verbesserung der Gemeindefinanzen; denn damit
wurde - neben dem Verzicht auf die Erhebung der Vermögensteuer im Rahmen des Jahressteuergesetzes 1997 eine weitere Substanzsteuer aufgehoben. Substanzsteuern
in der Unternehmensbesteuerung sind von Übel, weil sie
die Ertragslage der Betriebe ausblenden. Sie sind auch in
Zeiten geringer Erträge und selbst in Verlustjahren zu
zahlen und können dadurch die Existenz von Unternehmen und damit auch Arbeitsplätze gefährden. Diese Erkenntnis hat allerdings die Große Koalition nicht daran
gehindert, die ertragsunabhängigen Elemente der Gewerbesteuer in der Unternehmensteuerreform 2008 auszubauen. Betriebswirtschaftliche Kosten werden jetzt von
ihr steuerlich zum Teil nicht mehr als Kosten anerkannt.
Die Begrenzung der Abzugsfähigkeit von Zinskosten
durch Einführung der Zinsschranke und die Hinzurechnungsbesteuerung von Zinsen, Mieten, Pachten, Leasingund Lizenzgebühren bei der Gewerbesteuer werden aber
in Zeiten ungünstiger Erträge oder Verluste zu einem
schweren Ballast für die betroffenen Unternehmen werden. Mit ihrem Anteil an der Umsatzsteuer haben die
Kommunen einen guten Tausch gemacht. Sie haben dadurch eine stabile und zukunftsträchtige Finanzierungsquelle erhalten, die der Wirtschaft nicht schadet. Durch
die in den vergangenen Jahren nur gedämpfte Entwicklung des privaten Konsums ist der Umsatzsteueranteil der
Gemeinden zwar weniger dynamisch gestiegen, als man
hätte erwarten können. Die Kommunen haben aber zumindest von der Mehrwertsteuererhöhung durch die
Große Koalition profitiert. Um rund 15 Prozent liegen die
Umsatzsteuereinnahmen der Gemeinden in 2008 über
den entsprechenden Einnahmen in 2006.
Die FDP geht den vor zehn Jahren eingeschlagenen
Weg der Beteiligung der Kommunen am Aufkommen der
Mehrwertsteuer programmatisch weiter. Sie fordert, wie
auf ihrem Bundesparteitag vom 31. Mai/1. Juni 2008 beschlossen, eine Reform der Gemeindefinanzen mit einem
Ersatz der Gewerbesteuer durch einen auf 12 Prozent erhöhten Anteil der Kommunen an der Umsatzsteuer und
einen Zuschlag mit eigenem Hebesatzrecht auf die Einkommen- und Körperschaftsteuer in gleicher Höhe. Die
Koalitionsfraktionen setzen auf immer mehr Gewerbesteuern. Die FDP dagegen tritt nach wie vor für einen Abbau dieser schädlichen und mit einigen Merkwürdigkeiten versehenen Steuer ein.
Dieser Gesetzentwurf kommt auf den ersten Blick als
ein recht technokratisches Werk zur Neuaufteilung des
kommunalen Umsatzsteueranteils daher. Bei genauerer
Betrachtung der damit einhergehenden Verteilungswirkungen stellt man aber fest, dass der Gesetzentwurf den
Wettbewerbsföderalismus in ganz erheblichem Umfang
weiter verschärft. Trug die Verteilung des kommunalen
Umsatzsteueranteils zwischen den Kommunen bisher
dazu bei, dass auch Kommunen in strukturschwächeren
Regionen eine gewisse finanzielle Mindestausstattung erhielten, so werden diesen Städten und Gemeinden nun gezielt Mittel zugunsten ohnehin besser ausgestatteter Gebietskörperschaften entzogen. Durch die Neuregelung
wird das Wohl und Wehe jeder einzelnen Kommune in Zukunft noch stärker davon abhängen, ob es ihr gelingt, gewerbesteuerkräftige Unternehmen anzusiedeln. Damit
wird die ohnehin schon häufig ruinöse Standortkonkurrenz zwischen den Kommunen weiter verschärft. Das Ergebnis ist bekannt: Am Ende haben die Kommunen zusammen genommen weniger in der Tasche, die soziale
Infrastruktur wird weiter eingeschränkt.
Unter dem Strich werden die Kommunen im Osten
Deutschlands je nach Bundesland zwischen rund 14 und
26 Prozent am Umsatzsteueranteil verlieren. Mit Ausnahme der hessischen Kommunen werden hingegen die
Kommunen im Westen per saldo mit Zugewinnen rechnen
können.
Sicher ist es richtig, jenen Kommunen, die durch die
Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer Einnahmerückgänge zu verzeichnen hatten, einen angemessenen Ersatz
zu verschaffen. Jedoch ist der hier vorgeschlagene Weg
einer Neuaufteilung des kommunalen Umsatzsteueranteils völlig unangebracht. Ein adäquater Ersatz für die
Gewerbekapitalsteuer, für deren Wiedereinführung auch
Die Linke nicht plädiert, kann nur in der Art geschehen,
dass die Gewerbesteuer in ihrer derzeitigen Ausgestaltung und Anwendung auf den Prüfstand gehört. Dabei
muss eine angemessene Einbeziehung der Selbstständigen und freiberuflich Tätigen in die Steuerpflicht ebenso
geprüft werden wie die Ausweitung der Bemessungsgrundlage. Darüber hinaus gilt es, der Entwicklung Einhalt zu gebieten, dass immer weitere Unternehmensarten,
hier vor allem Akteure auf den Finanzmärkten, von der
Gewerbesteuerpflicht entbunden werden. Nur so - und
nicht etwa auf dem Wege der Umsatzsteuerneuverteilung
zwischen den Kommunen - kann den Städten und Gemeinden auch in angemessener Weise etwas für die Bereitstellung von Infrastruktur an die Unternehmen und
zur Finanzierung der Daseinsvorsorge zurückgegeben
werden.
Gerne setzen wir uns mit Ihnen darüber auseinander,
wie die Kommunen besser an den Gemeinschaftssteuern
beteiligt werden können, als es derzeit der Fall ist. Dabei
halten wir es für überlegenswert, den Anteil der Städte
und Gemeinden am Umsatzsteueraufkommen von derzeit
rund 2 Prozent auf 20 Prozent zu erhöhen und im Gegenzug die Beteiligung an der Einkommensteuer und am
Zinsabschlag aufzugeben. Dabei könnte eine gerechtere
Verteilung des kommunalen Umsatzsteueranteils zwischen den Kommunen dadurch erfolgen, dass als Verteilungsschlüssel die Einwohnerzahl zugrunde gelegt wird.
Nach diesem Lösungsansatz könnten alle ostdeutschen
Länder und alle westdeutschen Nehmerländer spürbare
finanzielle Zugewinne für ihre Kommunen verbuchen.
Die Begründung des vorliegenden Gesetzentwurfes stellt
besonders heraus, wie sehr der Gesetzentwurf einen mühZu Protokoll gegebene Reden
sam gefundenen Kompromiss zwischen Bund, Ländern
und Gemeinden widerspiegelt. Wir sind aber ausdrücklich optimistisch, dass auch unser Vorschlag die Zustimmung der Länder und Kommunen finden würde. Klar
muss aber auch sein, dass allein eine gerechtere Verteilung des Mangels zwischen den Kommunen - die immerhin fast 70 Prozent aller öffentlichen Investitionen schultern müssen - dem kommunalen Finanzierungsbedarf
allein nicht gerecht wird. Hier stehen Bund und Länder
gemeinsam in der Pflicht, für eine angemessene Finanzausstattung der Kommunalhaushalte mit Sorge zu tragen.
Will man den Worten von CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen glauben, dass nämlich die mittleren und unteren Einkommensgruppen keine weiteren Steuerbelastungen erfahren sollen und der Staatshaushalt keiner zusätzlichen
Verschuldung ausgesetzt werden soll, so wird auch in dieser Frage kein Weg daran vorbeiführen, die Besitzer großer Vermögen und die Gewinne der großen Unternehmen
stärker zur Finanzierung des Gemeinwesens heranzuziehen.
Wenn diese Bundesregierung einen Gesetzentwurf in
den Deutschen Bundestag einbringt, in dem das Wort
„Kommunen“ vorkommt, dann haben Städte und Gemeinden hinterher fast immer weniger Geld als vorher.
Insofern ist diese Änderung des Gemeindefinanzreformgesetzes eine denkwürdige Ausnahme von der Regel.
Denn dieses Mal haben hinterher zumindest nicht alle
Städte und Gemeinden weniger Geld, sondern nur einige.
Der Gesetzentwurf, den wir heute beraten, ist kein großer Wurf für die Gemeindefinanzen. Nur der verwegenste
Optimist erwartet von dieser zerrütteten Regierungskoalition im Juni 2008 überhaupt noch irgendeinen großen Wurf. Aber er ist zumindest einmal eine handwerklich
ordentliche Vorlage, die im fairen Einvernehmen mit den
kommunalen Spitzenverbänden verhandelt wurde und einen tragfähigen Kompromiss darstellt. Deshalb stimmen
wir heute auch zu.
Nach Auffassung meiner Fraktion ist es richtig, bei der
Verteilung des Gemeindeanteils am Umsatzsteueraufkommen schrittweise zu einem einheitlichen Schlüssel für
Ost und West zu kommen. Es ist auch systematisch sinnvoll, die vollständige Einführung des neuen Schlüssels an
das Auslaufen des Solidarpakts II zu koppeln, denn die
wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zwischen Ost und West
muss noch weiter angeglichen sein, um einen so stark
wirtschaftskraftbezogenen Verteilerschlüssel voll wirksam werden zu lassen.
Wir alle wissen, und das streitet auch die Bundesregierung nicht ab, dass es sinnvollere Kriterien zur Verteilung
gäbe, die wir aber nicht anlegen können, wenn es keine
zuverlässige Datengrundlage dafür gibt. Deshalb ist es
für uns nachvollziehbar, einen Schlüssel zu finden, der
sich auf die amtliche Statistik für das Gewerbesteueraufkommen sowie die Entgelt- und Beschäftigtenzahlen
stützt. Ausdrücklich begrüßen wir, dass der neue Schlüssel zu verhältnismäßig geringen Umverteilungswirkungen im Vergleich zum Status quo führt, zumal die Verluste
von Ländern wie Sachsen und Berlin auch noch durch
den Länderfinanzausgleich teilweise kompensiert werden.
Die Hauptauseinandersetzung bei der Festsetzung
dieses Schlüssels lag bekanntlich in der Frage, wie hoch
wir das Gewerbesteueraufkommen werten. Hier wurde
ein sinnvoller Weg gefunden. Aber die Begründung der
Bundesregierung ist vor dem Hintergrund der Debatten,
die wir hier sonst führen, bemerkenswert: Die Gewerbesteuer ist verhältnismäßig gering gewichtet, denn Sie ist
ja so konjunktursensibel. Interessant. Ich möchte nur sichergehen: Reden wir hier über die gleiche Steuerquelle,
deren Aufkommenssteigerung Sie sonst immer zum Anlass nehmen, um einen strukturellen Reformbedarf bei
den Kommunalfinanzen abzustreiten?
Mit der jüngsten Steuerschätzung haben Sie sich selbst
ins Stammbuch geschrieben: Wer bei der Konsolidierung
der Gemeindefinanzen alleine auf die Gewerbesteuer
baut, der baut finanzpolitisch auf Sand. Die Einnahmen
bei der Gewerbesteuer gehen zurück, und wenn der Aufschwung weiter an Dynamik verliert, dann haben wir hier
bald wieder die gleichen Diskussionen wie zuvor.
Meine Fraktion bleibt dabei: Es bedarf einer föderalen Kraftanstrengung zur Stärkung der Kommunalfinanzen. Dazu brauchen wir eine Gemeindefinanzreform, in
deren Mittelpunkt die Weiterentwicklung der Gewerbesteuer zu einer kommunalen Wirtschaftssteuer steht. Wir
brauchen aber auch die Verankerung der Konnexität gegenüber den Kommunen im Grundgesetz und eine kommunale Altschuldenhilfe im Rahmen der Föderalismusreform II. Und wir brauchen eine Politik, die nicht mehr
versucht, im Windschatten konjunktureller Erholung die
versprochenen 2,5 Milliarden Euro jährliche Entlastung
für die Kommunen klammheimlich einzukassieren.
Es lässt sich auch einfacher zusammenfassen: Wir
brauchen eine andere Bundesregierung.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Finanzausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9467, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf den Drucksachen 16/9275 und 16/9288 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke mit
den Stimmen des restlichen Hauses angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke mit
den Stimmen des restlichen Hauses angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla Jelpke, Petra Pau, Sevim Dağdelen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
V-Leute in der NPD abschalten
- Drucksache 16/9007 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Rechtsausschuss
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Kristina
Köhler ({1}), CDU/CSU, Gabriele Fograscher,
SPD, Christian Ahrendt, FDP, Ulla Jelpke, Die Linke,
Monika Lazar, Bündnis 90/Die Grünen und Gert Winkelmeier.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist gegen das Abschalten der V-Leute in der NPD. Der Schaden, der unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung dadurch
droht, ist größer als die Aussicht auf Erfolg einer solchen
Maßnahme. Die Bekämpfung des Extremismus muss eben
mit Hirn und Verstand erfolgen, auch wenn man gefühlsmäßig gerne anders entscheiden würde. Denn rein gefühlsmäßig wünschen wir uns doch wohl alle, dass die
NPD und ihr antidemokratischer und antisemitischer
Rassismus von der Bildfläche verschwinden.
Aber so einfach ist es eben nicht, weil zum einen schon
fraglich ist, ob ein Verbot der NPD überhaupt zielführend
ist. Wir wissen, dass das Verbot einer Organisation noch
nie dazu geführt hat, dass ihre Anhänger plötzlich einem
anderen Weltbild folgen. Die Ideologie wird sich eine andere Struktur geben und in einem anderen Gewand weiter
machen, vielleicht vorerst im Untergrund - aber dadurch
nicht weniger gefährlich, sondern nur weniger beobachtbar und weniger angreifbar. Die einzige dauerhafte Lösung liegt daher darin, die NPD politisch zu demaskieren
und den Menschen zu zeigen, warum eine solche Partei
eine Partei des nationalen Untergangs ist und nicht des
gemeinsamen Fortschritts.
Nun gibt es aber auch einige, die sagen, dass ein Verbot der NPD trotzdem das kleinere Übel wäre. Und obwohl ich diese Meinung nicht teile, gibt es natürlich gute
und respektable Gründe für diesen Standpunkt. Voraussetzung für solch ein Verbotsverfahren ist aber - und darum dreht sich ja der vorliegende Antrag - das Abschalten aller V-Leute in der NPD, weil eben nur Material,
welches nicht kontaminiert ist, bei dem also zweifelsfrei
feststeht, dass kein V-Mann des Verfassungsschutzes irgendetwas damit zu tun hat, in den Verbotsantrag einfließen darf. Es genügt also nicht, Zitate aus öffentlich zugänglichen Quellen zusammenzukopieren, sondern es
muss sich um Material handeln, welches zweifelsfrei
nicht kontaminiert ist. Und dieses Material muss man
erstmal sammeln, und, das ist richtig, dies geht nur, wenn
alle V-Leute abgeschaltet sind und wenn man dann zwei
bis drei Jahre lang sammelt und darauf aufbauend einen
neuen Verbotsantrag vorbereitet.
Fakt ist deshalb aber, dass wir nach einem Abschalten
der Quellen für mehrere Jahre auf Erkenntnisse über das
Innere der NPD und damit auch in das mit ihr verbundene
rechtsextreme Netzwerk verzichten müssten, und das zu
einem Zeitpunkt, in dem sich die NPD auch durch die Vernetzung mit anderen rechtsextremistischen Strukturen
und Gruppen zunehmend noch weiter radikalisiert, zugleich aber nach außen versucht, den Biedermann zu geben. Deshalb wird die intensive und auch ins Innere gehende Beobachtung dieser Partei umso wichtiger. Und
deshalb wäre es zum gegenwärtigen Zeitpunkt nach Meinung aller unserer Experten auch grob fahrlässig, die
Quellen abzuschalten, zumal auch nach einem Abschalten der V-Leute nicht garantiert wäre, dass ein neues Verbotsverfahren erfolgreich sein würde
Die Verfassungsfeindlichkeit einer Partei reicht dafür
ja nicht aus, sondern sie muss auch verfassungswidrig
sein. Und das heißt, man muss der NPD nachweisen, dass
sie aktiv aggressiv-kämpferisch die freiheitlich-demokratische Grundordnung beeinträchtigt. Da mag nun jeder
für sich denken, eigentlich dürfte es daran bei der NPD
keinen Zweifel geben. Viele Experten haben aber erhebliche Zweifel, ob sich dies alleine mit offenen, nichtkontaminierten Materialien auch verfassungsgerichtsfest
nachweisen lässt. Mit den jetzt von manchen Ländern
vorgelegten Sammlungen lassen sich diese Zweifel nicht
widerlegen, weil noch nicht einmal sicher ist, ob die Materialien kontaminiert sind oder nicht. Alleine dass es
sich um öffentlich zugängliche Quellen handelt, sagt darüber eben noch überhaupt nichts aus.
Es gibt also starke Zweifel, ob ein NPD-Verbot überhaupt Sinn macht. Es gibt starke Zweifel, ob sich der
Nachweis eines aktiven aggressiv-kämpferischen Vorgehens gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung
alleine aus offenen Quellen führen lässt. Auf der anderen
Seite gibt es keine Zweifel, dass es sehr gefährlich wäre,
für Jahre auf interne Einblicke in die NPD verzichten zu
müssen.
Und es gibt auch keinen Zweifel daran, dass ein erneutes Scheitern des Verbotsverfahrens ein Super-Gau für
unsere Demokratie wäre. Deshalb können wir nach Abwägung aller uns vorliegenden Tatsachen uns nicht für
das Abschalten der V-Leute in der NPD aussprechen.
Vor gut einem Jahr haben wir bereits einen inhaltsgleichen Antrag der Fraktion Die Linke beraten. Sie wissen,
dass er derzeit keine Bereitschaft des Bundesinnenministers und der Mehrheit der CDU/CSU-Länderinnenminister gibt, ein erneutes NPD-Verbotsverfahren anzustrengen. Für einen neuen Verbotsantrag braucht es mehr als
nur das Abschalten der V-Leute der Verfassungsschutzämter in der NPD. Wir müssen nachweisen, dass die NPD
eine verfassungsfeindliche und aggressiv-kämpferische
Partei ist. Auch wenn es uns gelingen würde, die NPD zu
verbieten, ist es naiv zu glauben, dass damit das Problem
des Rechtsextremismus gelöst sei.
Selbst wenn wir, und das will die SPD, die NPD verbieten lassen könnten, so hätten wir das rechte Gedankengut damit in den Köpfen noch lange nicht verdrängt.
So wünschenswert ein NPD-Verbot ist, so wenig wird es
rechte Einstellungen, rassistische, antisemitische und
ausländerfeindliche Parolen sowie gewalttätige Übergriffe zurückdrängen oder gar verhindern.
Fest steht - und hier zitiere ich den Bayerischen Verfassungsschutzbericht 2007 -: „Das von der Partei vertretene Staats- und Menschenbild steht im krassen Gegensatz zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung.“
Das Ziel der NPD ist die Beseitigung der parlamentarischen Demokratie und des demokratischen Rechtsstaates. Sie bedient sich hierzu auch aggressiver Agitation
und Propaganda. Das können und dürfen wir nicht zulassen.
Leider - und das muss ich an dieser Stelle sagen -,
stellt sich die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, der Bundesinnenminister und die Mehrheit der CDU/CSU-Länderinnenminister gegen ein NPD-Verbot. Unserer Meinung
nach reicht das vorhandene Material, das zur Prüfung
beim Bundesinnenministerium liegt, für ein erfolgreiches
Verbotsverfahren aus, auch wenn die Hürden für ein Parteiverbot in Deutschland zu Recht sehr hoch sind.
Neben der Prüfung eines NPD-Verbotsverfahrens sollten wir alle rechtsstaatlichen Mittel anwenden, um
rechtsextreme Vereine und Organisationen, die auch im
vorpolitischen Raum aktiv sind, zu verbieten. Ich begrüße
ausdrücklich, dass der Bundesinnenminister auf Drängen
der Koalitionsfraktionen das Collegium Humanum und
zwei dazugehörige Vereine kürzlich verboten hat. Konsequent wäre es, weitere Verbote gegen solche Organisationen auszusprechen.
Der Verein Heimattreue Deutsche Jugend, HDJ, ist
eine Organisation, die zunehmend aktiver und unverfrorener auftritt. Die HDJ gilt als Kaderschmiede und Eliteschule für den rechtsextremen Nachwuchs, sie agiert
paramilitärisch, pflegt den Hitlergruß und ist führerorientiert. Das bereits bestehende Uniformierungsverbot
wird nicht durchgesetzt, da es vor Ort meist weder der Bevölkerung noch der Polizei bekannt ist. Hier sind die Länder gefordert, ihre Polizeibeamtinnen und -beamte darüber zu informieren und die Bevölkerung aufzuklären. Die
HDJ ist bundesweit tätig und versucht auch über die eigenen rechten Kreise hinaus, Kinder und Jugendliche für
ihren Kampf gegen unsere freiheitlich demokratische
Grundordnung zu rekrutieren. Um in Jugendlichen Kreisen auf sich aufmerksam zu machen, hat die HDJ ein Werbevideo in der Nähe von Wunsiedel in Bayern gedreht.
Dieses Video ist auf der Internetseite www.youtube.de zu
sehen und zeigt einen erschreckenden Umgang mit Kindern und Jugendlichen.
Wir fordern deshalb den Bundesinnenminister auf, ein
Verbot dieser bundesweit agierenden Organisation ernsthaft zu prüfen. Selbst wenn es gelänge, die NPD und andere rechtsextreme Vereine und Organisationen zu verbieten, bleibt es die Aufgabe für Politik, Staat und
Zivilgesellschaft, die Einstellungen und das braune Gedankengut, die zur Zustimmung und sogar Mitgliedschaft
in rechtsextremen Vereinen und Parteien führen, zurückzudrängen. Studien belegen, dass rechtsextreme Einstellungen keine Randerscheinung, kein Jugendproblem,
kein ostdeutsches Problem und auch kein Problem der
Ewiggestrigen sind, sondern ein Problem in der Mitte der
Gesellschaft ist. Diesem Problem müssen wir uns sachlich und engagiert, aber entschieden stellen, es konsequent angehen und es nicht nur dann, wenn es rechtsextreme Übergriffe oder Wahlerfolge solcher Parteien
gibt, auf die Agenda setzen.
Wir fordern die Prüfung und ein konsequentes Verbot
von Vereinen und Organisationen, die im rechtsextremen
Bereich tätig sind und die Aberkennung der Gemeinnützigkeit. Wir brauchen die verlässliche und nachhaltige
Finanzierung von Organisationen, Projekten und Initiativen, die für die Stärkung der demokratischen Kultur auf
allen Ebenen - Bund, Länder und Kommunen - in unserem Land arbeiten. Eine „Kultur der Gewöhnung“, wie
es in einem Spiegel-Artikel vom 2. Juni 2008 heißt, darf es
in Deutschland nicht geben.
Die FDP-Fraktion hält einen Abzug von V-Leuten aus
der NPD für die falsche Konsequenz als Reaktion auf das
öffentlich gescheiterte NPD-Verbotsverfahren.
Es ist die Aufgabe des Verfassungsschutzes, extremistische Organisationen zu beobachten, gleich welcher politischen Szene sie angehören. Dazu gehört auch die Informationsgewinnung über den Einsatz von V-Leuten.
Oftmals kann nur so ein klares Lagebild erreicht werden.
Vielfach sind die Informationen von V-Leuten hilfreich
gewesen, um gefährliche Straftaten zu verhindern.
Es gibt keine Gewährleistung dafür, dass ein NPDVerbotsverfahren erfolgreich wäre, wenn die V-Leute
heute abgeschaltet werden würden. Denn hierdurch würden die heute vorliegenden Erkenntnisse nicht verwertbar. Welche Erkenntnisse und Quellen in Zukunft herangezogen werden könnten, um ein NPD-Verbotsverfahren
erfolgreich zu bestreiten, ist derzeit ungewiss. Es ist daher ein Trugschluss, dass mit dem Abschalten der V-Leute
die Quellen von gestern gerichtsverwertbar werden würden.
Kritisch ist aber zum Einsatz von V-Leuten Folgendes
anzumerken: So sehr es darum geht, die rechtsextremistische Szene aufzuklären, so wenig darf der Einsatz von
V-Leuten in der NPD dazu führen, dass der Verfassungsschutz eine Art Garant dafür wird, dass ein NPD-Verbotsverfahren nicht durchgeführt werden kann. Beobachten
ist das eine. Eine aktive oder anders formuliert mittelbare
bzw. unmittelbare Beeinflussung von Quellen durch den
Verfassungsschutz darf es jedoch nicht geben. Das
BVerfG hat in seinem Beschluss vom 18. März 2003 zu
Recht festgestellt, dass Parteien grundsätzlich eine
„staatsferne Veranstaltung“ sind, der Staat also auf die
politische Willensbildung in den Parteien keinen Einfluss
nehmen darf.
Das Problem des Einsatzes von V-Leuten zur Beobachtung der „Rechten Szene“ ist nach dem gescheiterten
NPD-Verbotsverfahren zu einem Problem des Verfassungsschutzes geworden. Es bedarf der Aufklärung, wo
die intensive Beobachtung der NPD durch V-Leute zu einer gezielten und wirkungsvollen Einflussnahme auf die
Willensbildung der Vorstände der NPD auf Bundes- und
Landesebene geworden ist.
Ich habe der Bundesregierung mit meiner Kleinen Anfrage vom letzten Monat eben diese Fragen gestellt. Die
Bundesregierung hat die Fragen nicht beantwortet. InsZu Protokoll gegebene Reden
besondere ist vollständig offen geblieben, wie durch die
„Führung von V-Leuten“ die Einflussnahme auf die politische Willensbildung ausgeschlossen wird.
Man kann also getrost festhalten: Das NPD-Verbotsverfahren scheitert weniger an der nachrichtendienstlichen Überwachung der NPD durch den Verfassungsschutz, sondern vielmehr daran, wie diese Überwachung
in der Vergangenheit organisiert und durchgesetzt worden ist. Deswegen ist der Antrag der Partei Die Linke der
falsche Ansatz, um sich dem eigentlichen Problem zu widmen.
Ich möchte mit einem Hinweis schließen. Es kommt
nicht nur darauf an, sich mit einem NPD-Verbotsverfahren auseinanderzusetzen. Es ist ebenso bedeutsam, die
Organisationen im Umfeld der NPD zu verbieten. Mit
dem Verbot des Vereins „Collegium Humanum“ ist ein
Anfang gemacht. Aber wenn man sich anschaut, wie
lange dieser Verein existiert hat, hat das richtige Ergebnis
lange auf sich warten lassen.
Ebenso bedeutsam ist es, die Finanzierungsquellen für
extremistische Organisationen trocken zu legen. Es kann
nicht sein, dass solche Organisationen wie beispielsweise
der eben erwähnte Verein „Collegium Humanum“ das
Siegel der Gemeinnützigkeit erhalten und damit Spenden
an solche Organisationen steuerlich begünstigt sind.
Auch hier hat meine Kleine Anfrage vom März gezeigt,
dass die Bundesregierung keinen Überblick über dieses
Thema besitzt. Der Bundesregierung ist etwa die Zahl von
Körperschaften, die vom Verfassungsschutz beobachtet
und zeitgleich vom Staat steuerlich gefördert werden,
nicht bekannt. Ebenso wenig werden Fälle von Körperschaften registriert, denen die Gemeinnützigkeit entzogen
wurde, weil ihre Verfassungsfeindlichkeit festgestellt
wurde. Dies verwundert doch sehr. In einem Staat, in dem
die mittlere Lufttemperatur in Petrisberg jeden Monat
vom Bundesamt für Statistik akribisch festgehalten wird,
ist es ein starker Tobak, dass über die Gemeinnützigkeit
der verfassungsfeindlichen Körperschaften keine Notiz
gemacht wird.
Helfen wir der NDP also nicht länger durch eine ständig neue Verbotsdebatte. Lassen Sie uns den rechten
Sumpf im Umfeld der NPD effektiv trocken legen. Das ist
effizienter, nicht so öffentlichkeitswirksam, führt aber
zum selben Ziel.
Die Frage eines möglichen Verbots der NPD ist in den
letzten Wochen wieder in den Hintergrund der Debatte
getreten. Das hat vor allem zwei Gründe: In erster Linie
haben die Unionsinnenminister deutlich gemacht, dass
sie die Voraussetzungen für ein solches Verbot - Abzug
der V-Leute - nicht herstellen werden. Und zweitens haben Sie mal wieder die angebliche Gefahr von links so
hochgeredet, dass der tägliche Straßenterror der NPD
und ihrer Unterstützer in der öffentlichen Wahrnehmung
relativiert wurde.
Das verbal-radikale Auftreten einiger Innenpolitiker
der Koalition hat offensichtlich keine praktischen Konsequenzen. Weil CDU/CSU ein neues NPD-Verbotsverfahren ablehnen, die NPD jedoch weiterhin als besonders
gefährlich einschätzen, wollen sie diese weiterhin beobachten. Die SPD fordert hingegen ein erneutes Verbotsverfahren, obwohl nicht in allen SPD-geführten Bundesländern die Innenminister zum notwendigen Abzug der
V-Leute bereit sind. Dieser Abzug ist jedoch notwendig,
da das Parteienverbot „ein Höchstmaß an Rechtssicherheit, Transparenz, Berechenbarkeit und Verlässlichkeit“
verlangt - so das Bundesverfassungsgericht bei der Einstellung des letzten Verbotsverfahrens 2003. Dies setzt
voraus, dass die „Quellen in den Vorständen einer politischen Partei ,abgeschaltet“ sind.
Damit hat das Verfassungsgericht noch gar keine Aussage darüber getroffen, ob bei der NPD die für ein Verbot
notwendige „aggressiv-kämpferische Haltung“ gegen
die verfassungsmäßige Ordnung vorliegt. Ehrhart Körting, der sozialdemokratische Innensenator Berlins, hat
im April dieses Jahres festgestellt, die Verfassungswidrigkeit der NPD auch ohne V-Leute-Einsatz nachweisen zu
können. Daher verwundert es, dass nicht alle Innenminister der von der SPD geführten Bundesländer ihre V-Männer abziehen wollen. Es passt nicht zusammen, einerseits
auf die besondere Gefahr hinzuweisen, die von der NPD
ausgeht, und andererseits nicht die nötigen Schritte zu ihrem Verbot zu unternehmen.
Wie im Fall eines V-Mannes in Ostwestfalen wurde in
letzter Zeit deutlich, dass der Verfassungsschutz nicht nur
in Einzelfällen entgegen seines eigentlichen Auftrages
handelt. Der genannte V-Mann soll sich des Drogenhandels, der Körperverletzung und Verstößen gegen das Waffengesetz schuldig gemacht haben. Er wurde danach von
seinem V-Mann-Führer vor laufenden Ermittlungsmaßnahmen gewarnt. Ein weiterer aktueller Fall ist der laufende Prozess gegen die verbotene Neonazi-Gruppe
„Sturm 34“ im sächsischen Mittweida. Dort kam heraus,
dass ein Angeklagter Informant des Staatsschutzes war.
Bisher ist davon auszugehen, dass der Informant schon
bei Gründung der Gruppe für den polizeilichen Staatsschutz tätig war.
Diese Kumpanei mit einem Kriminellen ist skandalös
und macht die aus diesen Quellen gewonnenen Erkenntnisse auch nicht gerade glaubwürdig. Die Aussagen des
ehemaligen V-Manns Wolfgang Frenz beim ersten NPDVerbotsverfahren belegen zudem, dass V-Leute generell
nicht im Hintergrund der jeweiligen Gruppe agieren, sondern vielmehr eskalierend und radikalisierend auf andere
Mitglieder einwirken. Wolfgang Frenz war von 1962 bis
1995 bezahlter V-Mann bei der NPD und bis in hohe Parteiämter aktiv. Eine solche Entwicklung liegt in der Logik
verdeckter Arbeit innerhalb von Parteien, da eine Unterwanderung eine aktive Rolle der V-Leute erfordert. Dadurch wird nichts verhindert, und im Hinblick auf ein
mögliches Parteiverbot ist solche Art der Unterwanderung auch kontraproduktiv.
Das gescheiterte NPD-Verbotsverfahren und auch die
aktuellen Fälle aus NRW belegen, dass eine effektive
Kontrolle des Einsatzes von V-Leuten nicht möglich ist.
Die Informationen, die die Bundesregierung durch den
Einsatz von V-Leuten erhält, sind, wie man den Antworten
auf diverse Kleine Anfragen der Linken zum Thema
Zu Protokoll gegebene Reden
Rechtsextremismus entnehmen kann, durchgängig sehr
dürftig. Die meisten Antifa-Gruppen sind hier offensichtlich besser informiert.
Die Linke bleibt daher dabei: Die Spitzel des Verfassungsschutzes müssen sofort aus allen Gremien der NPD
abgezogen werden. Sie tragen nichts zur Aufklärung bei,
sondern sind allzu oft staatlich bezahlte Nazihetzer und
Kriminelle. Statt des Verfassungsschutzes sollte eine aus
öffentlichen Mitteln finanzierte unabhängige Beobachtungsstelle für Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus geschaffen werden.
Jeder siebte NPD-Funktionär steht auf der Gehaltsliste des Verfassungsschutzes! Das wurde im Zusammenhang mit dem gescheiterten Verbotsantrag im Jahr 2003
bekannt. Auch heute noch arbeiten viele Spitzel zugleich
für NPD und Verfassungsschutz - und kassieren oft doppelt. Diese Strategie erwies sich vielfach als kontraproduktiv. Es gibt etliche absurde und peinliche Beispiele,
wie Nazispitzel den Verfassungsschutz gezielt an der Nase
herumgeführt haben. Trotz jahrelanger Zusammenarbeit
mit V-Leuten gelang es den staatlichen Stellen nicht, die
NPD nachhaltig zu schwächen und ihren Einfluss zurückzudrängen. Im Gegenteil: V-Leute in der Parteiführung
garantieren der NPD stetige Subventionen und sind überdies der beste Schutz vor einem Verbotsverfahren. Das
sieht nach einem einseitig guten Geschäft für die Nazipartei aus.
Das demokratische Lager muss sich natürlich fragen:
Welchen Nutzen bringt uns der Einsatz von V-Leuten in
den NPD-Führungsetagen? Die Linksfraktion appelliert
in ihrem Antrag pauschal: Keinen Nutzen, es ist höchste
Zeit, alle V-Leute abzuschalten. Dies betrachtet sie als
ersten - und ausreichenden - Schritt für ein neues, diesmal erfolgreiches Verbotsverfahren. Und das ist das
wahre Ziel ihres Antrags. Seit jeher plädiert die Linke für
ein schnelles NPD-Verbot als zentrale Maßnahme gegen
Rechtsextremismus. Wir wissen jedoch, dass ein NPDVerbot die rechtsextreme Ideologie im Denken vieler
Menschen nicht ändert. Im Gegenteil, es gäbe vielleicht
sogar noch eine Art Märtyrerbonus für Nazikader. Auch
sehen wir die sehr reale Gefahr, dass sich nach einem Verbot aktive NPD-Truppenteile unter anderem Namen neu
formieren oder aus dem Untergrund weiteragieren würden. Darüber muss die Politik sich Gedanken machen,
bevor sie symbolträchtig nach Repressionen ruft. Denn
selbst wenn die NPD verboten würde, ihre Wählerinnen
und Wähler können wir nicht verbieten oder wegsperren.
Sie leben weiter in unserem Land, für das wir Verantwortung tragen. Die zentrale Frage angesichts des wachsenden Rechtsextremismus lautet deshalb für mich: Warum
erreicht aktuell die demokratische Politik so viele Menschen nicht mehr, und wie können wir das ändern? Diese
Fragestellung lässt der Antrag der Linksfraktion leider
außen vor.
Im Vordergrund der politischen Debatte sollte die Bekämpfung des grundlegenden Problems stehen, nicht das
Verbot einer daraus erwachsenen Struktur. Dieses Problem besteht in der rassistischen, antisemitischen und
neofaschistischen Haltung vieler Bürgerinnen und Bürger. Die Verdrängung der NPD in die Illegalität würde die
Ultrarechten zweifellos strukturell schwächen. Auf Naziideologie und rechtsextreme Gewalt wäre sie jedoch
keine geeignete Antwort. Auch müsste man mit der Bildung von Nachfolgeorganisationen rechnen. Ein Argument für ein Verbotsverfahren - und im Vorfeld für den
zwingenden Verzicht auf Informanten - ist die staatliche
Parteienfinanzierung. Mich ärgert es sehr, dass die NPD
davon profitiert. Die Lösung dieses Problems liegt jedoch
nicht in einem Parteiverbot, sondern in der Förderung
der Zivilgesellschaft, damit die NPD gar nicht erst gewählt wird. Starkes Demokratiebewusstsein kann rechtsextremen Parteien die Basis für ihre menschenverachtende Politik entziehen. Demokratische Strukturen
entstehen aber nicht durch Verbote! Wir müssen sie langfristig und quer durch alle Parteien und Gesellschaftsschichten entwickeln.
Diesen Ansatz vermisse ich im Antrag der Linksfraktion. Stattdessen erhebt er die gern gehörte, symbolpolitische Forderung nach einem NPD-Verbot. „Symbolpolitisch“ nenne ich sie, weil die V-Leute dabei als scheinbar
einziges Hindernis für ein Verbot instrumentalisiert werden. Die Linksfraktion legt nahe, dass einzig die Informanten die Zerschlagung der Nazistrukturen verhindern
würden. Dies ist weder sachlich richtig noch zielführend.
Selbstverständlich verurteilen auch wir die Missstände
bei der Überwachung der NPD durch den Verfassungsschutz. Angesichts öffentlicher Skandale sind Skepsis
und Wachsamkeit durchaus angebracht. Es ist höchst
bedauerlich, wie stümperhaft und lasch offenbar gewisse Überwachungen durchgeführt wurden. Wir fordern den Verfassungsschutz auf, professioneller zu agieren und Informanten besser auf ihre Eignung zu prüfen.
Es ist abzusichern, dass staatliche Behörden nicht Straftaten billigend in Kauf nehmen oder gar unterstützen.
Eine Überwachung, die das Selbstbewusstsein agierender Nazis und die Gefahren durch die NPD nur weiter erhöht, verfehlt ihr Ziel in fataler Weise.
Sollen wir also sofort alle V-Leute abschalten, wie die
Linke vorschlägt? Unsere Antwort lautet: Nein. Das wäre
nicht realisierbar. Der Staat ist auf Informationen aus
dem NPD-Umfeld angewiesen und zudem verpflichtet,
aus Schutzgründen die Anonymität der V-Leute zu wahren. Das heißt jedoch nicht, alles könne weiterlaufen wie
bisher. Die Überwachung muss viel professioneller gestaltet werden. Die zuständigen Gremien auf Bund- und
Länderebene haben ihre Kontrollfunktion gewissenhafter
und konsequenter auszuüben. Erkenntnisse des Verfassungsschutzes müssen kooperativ ausgewertet und sinnvoll genutzt werden. Leider hat aber die Innenministerkonferenz großen Nachbesserungsbedarf aufgezeigt. Mit
Steuermitteln gewonnene Informationen wurden zurückgehalten. Politikerinnen und Politiker griffen einander
öffentlich an. Von einer abgestimmten Strategie war
nichts zu hören.
Ohne Zusammenarbeit der demokratischen Kräfte
werden wir aber scheitern. Das gilt für Repression wie für
Prävention! In unserem Land finden fast ständig irgendwo Wahlen statt. Lassen Sie uns mit starken Bündnissen und präventiven Mitteln dafür sorgen, dass die NPD
Zu Protokoll gegebene Reden
dabei auf der Verliererseite steht. Dann erübrigt sich die
Debatte um V-Leute und Verbotsverfahren.
Vorab erst einmal ein ernst gemeinter Dank an die
Fraktion der FDP: Die Kleine Anfrage von Anfang Mai
dieses Jahres korrespondiert hervorragend mit dem hier
zu debattierenden Antrag meiner Partei, der Linken. Sie
spült viel Wasser auf die Mühlen derjenigen Demokraten,
denen es ein dringendes Bedürfnis ist, der NPD das - derzeit noch vom Staat zwangsläufig mitfinanzierte - Handwerk zu legen. Die „Antwort“ der Bundesregierung
scheint hingegen vermeintlich gesetzlich gestützte Staudämme errichten zu wollen. Sie ist schlicht eine Frechheit. Nur wird diese Nicht-Antwort das Gegenteil bewirken: Derart substanzlose Mauer-Versuche werden
unweigerlich durch die zu erwartenden Gegenströmungen zu Fall kommen. Auch nicht gegebene Antworten sind
interpretierbare Aussagen. Ende des Jahres 2006, als
meine Partei eine ähnliche Anfrage stellte, war die Bundesregierung noch ein klein wenig beredter.
Mich freut es, dass die FDP in Belangen der Bürgerrechte immer häufiger zu ihren Wurzeln zurückfindet und
- in schier endlosen Zeiten der Opposition - hier wieder
ein halbwegs verlässlicher Partner werden kann. Das
war - im Protokoll bitte fett unterstreichen! - alles andere
als ein Koalitionsangebot.
Dieses Land braucht eine neue Bürgerbewegung:
Otto-Kataloge und Schäuble 2.0 schreien förmlich nach
Opposition. Zu diesem zivilgesellschaftlichen Engagement zählt zwingend das Aufbegehren gegen rechtsextremistische Tendenzen, die sich immer mehr in die Mitte unserer Gesellschaft ausbreiten. Alle demokratisch
denkenden Menschen in Deutschland sollten denen auf
die Füße treten, wenn sie mit rassistischen und menschenfeindlichen Parolen der NPD und der ihr anhängenden
Kameradschaften und Zusammenschlüssen konfrontiert
werden.
Wir brauchen den zivilen Widerstand - die Gesinnung.
Aber wir benötigen auch den Widerstand der Politik und
der Gesetze. Das Bundesverfassungsgericht hat Vorgaben für ein Verbot der NPD formuliert. Die Linke - und
jetzt auch die FDP - haben dem auf den Zahn gefühlt. Es
könnte so einfach sein! Und hier benenne ich auch einen
sicherlich nicht ausschlaggebenden Kritikpunkt an dem
Antrag meiner Partei: Der Antrag fordert, alle Spitzel aus
der NPD abzuziehen. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hingegen spricht von den Führungsstrukturen als Hindernis für ein neues Verbotsverfahren.
Vielleicht ließe sich ja an dieser Stelle ein Kompromiss
finden. Dies böte sich, nach Lektüre des Urteils von 2003,
an.
Es geht um das Ziel: Eigentlich wollen alle demokratisch gesinnten Menschen in dieser Republik, dass den
Volksverhetzern der Rechten Mittel und Wege entzogen
werden, ihre Ideen zu verbreiten. Genau aus diesem
Grund erschließt sich mir nicht, weshalb die Union an
dieser Stelle versucht, diese vermeintlichen Mauern zu
ziehen.
Allerdings überkommt mich gerade die Erinnerung
ans vergangene Jahr: Es ist erschreckend und einer Demokratie unwürdig, wenn das Bundesministerium des Innern ein erneutes NPD-Verbotsverfahren ablehnt, obwohl es die Partei als „verfassungsfeindlich“ einschätzt.
Es ist zynisch, die NPD als „antidemokratisch“ und „antisemitisch“ einzustufen, sie aber nicht verbieten zu wollen, weil man die rechtsextremistische Partei dann nicht
mehr mit „nachrichtendienstlichen Mitteln“ beobachten
lassen könne.
Im Klartext heißt dies: Innenminister Schäuble und
sein treuer Adjutant, Unions-Fraktionsvize Wolfgang
Bosbach, wollen einer verfassungsfeindlichen Partei das
Parteien-Privileg gewähren, um diese weiter durch den
Verfassungsschutz beobachten zu können. Das ist eine
absurde und gefährliche Denkstruktur.
Das erste Verfahren ist 2003 zu Recht daran gescheitert, dass sich kaum noch unterscheiden ließ, ob die NPD
von V-Männern oder ihren eigenen Leuten geführt wird.
Es geht also bei einem neuerlichen Anlauf darum, die
Leute des Verfassungsschutzes an verantwortlicher Stelle
im NPD-Parteiapparat abzuschalten. Dann hätte ein Verbotsverfahren gegen die rechtsextremistische Partei gute
Chancen auf Erfolg.
Es darf nicht sein, dass der allumfassende Beobachtungswahn des Dr. Wolfgang Schäuble und seines Ministeriums dazu führt, dass eine verfassungsfeindliche Partei weiterhin mit öffentlichen Geldern ihr Unwesen
treiben kann.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/9007 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom
24. September 2005 zwischen der Regierung
der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Vereinigten Arabischen Emirate
über die Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich
- Drucksache 16/9039 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({0})
- Drucksache 16/9343 Berichterstattung:
Abgeordnete Ralf Göbel
Michael Hartmann ({1})
Ulla Jelpke
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll gegeben. Es handelt sich um die
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Ralf Göbel,
CDU/CSU, Michael Hartmann ({2}), SPD,
Dr. Max Stadler, FDP, Ulla Jelpke, Die Linke, Wolfgang
Wieland, Bündnis 90/Die Grünen.
Der technologische Fortschritt, die kommunikative
Vernetzung und offene Ländergrenzen verändern unsere
Gesellschaft insgesamt und damit auch die Strukturen
und das Bedrohungspotenzial von Kriminellen.
Kehrseite der Globalisierung ist aber auch, dass Kriminelle grenzüberschreitend agieren und global vernetzt
sind. Dass auch der Terrorismus schnell an globaler
Reichweite gewinnt, zeigt der „Europol Terrorism and
Trend Report 2007“, den die europäische Polizeibehörde
Europol im März vorgestellt hat. Danach wurden allein
im vergangenen Jahr 200 islamistische Terrorverdächtige in der Europäischen Union festgenommen, darunter
die im Sauerland Verhafteten. Auch der Fall des deutschen Islamisten Eric B., der in Pakistan oder Afghanistan vermutet wird und Gesinnungsgenossen per Videobotschaft im Internet zum Dschihad aufruft, macht
deutlich, dass die Sicherheitsbehörden international enger zusammenarbeiten müssen. Sie müssen ebenso grenzüberschreitend agieren wie Kriminelle und genauso vernetzt sein wie diese.
Was die Zusammenarbeit der nationalen Behörden auf
europäischer Ebene anbelangt, hat sich einiges getan: So
haben sich die Mitgliedstaaten der Europäischen Union
kürzlich darauf geeinigt, den Vertrag von Prüm, den sieben Einzelstaaten zuvor auf völkerrechtlicher Basis geschlossen hatten, in den Rechtsrahmen der Europäischen
Union zu überführen. Dieser ermöglicht unter anderem
verschiedene Formen der polizeilichen Kooperation auf
europäischer Ebene sowie den Informationsaustausch
über Terrorverdächtige. Neben einer verbesserten europäischen Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden bei
der Bekämpfung von Kriminalität ist auch die Kooperation auf internationaler Ebene erforderlich, um den ernstzunehmenden Gefahren, insbesondere denen des internationalen Terrorismus, begegnen zu können. Es ist wichtig,
internationale Netzwerke gegen den Terrorismus und die
organisierte Kriminalität auf- und auszubauen.
Neben Interpol und multilaterale Kooperationsinstrumente unter Federführung der Vereinten Nationen treten
dabei bilaterale Rechtsinstrumente. Um ein solches handelt es sich auch bei dem vorliegenden Abkommen, das
die Bundesrepublik Deutschland mit den Vereinigten Arabischen Emiraten im Jahr 2005 geschlossen hat. Ziel desselben ist es, die Zusammenarbeit der beiden Staaten im
Bereich der Bekämpfung des internationalen Terrorismus
und der grenzüberschreitenden Kriminalität auszubauen
und so die innere Sicherheit in den Vertragsstaaten zu erhöhen. Gegenstand der Zusammenarbeit sind die Vorbeugung und Bekämpfung der organisierten Kriminalität,
des Terrorismus, der Rauschgiftkriminalität und anderer
Straftaten von erheblicher Bedeutung, die beispielhaft in
Art. 1 des Abkommens aufgelistet sind. Die Beschränkung
der Zusammenarbeit auf Straftaten mit einer gewissen
Eingriffsintensität gewährleistet, dass der andere Vertragsstaat nicht wegen jeder beliebigen, geringfügigen
Straftat um Amtshilfe ersucht wird. Die aufgelisteten Deliktsbereiche markieren zugleich die Schwerpunkte der
gemeinsamen Sicherheitspolitik.
Die Formen der Zusammenarbeit der deutschen Behörden mit denen der Vereinigten Arabischen Emirate
sind abschließend in Art. 2 des Abkommens aufgelistet.
Zu ihnen gehört zunächst der Austausch von Informationen: In der Praxis müssen die Sicherheitsbehörden, um
zeitnah reagieren zu können, schnell über Daten über verdächtige Personen verfügen können. Es muss den Sicherheitsbehörden daher möglich sein, einen schnellen Zugriff auf die Daten bekommen, die für eine effektive
Gefahrenabwehr und Strafverfolgung unerlässlich sind.
Nur mit möglichst umfassenden Informationen haben wir
eine Chance, Bedrohungen und Gefahren abzuwehren,
bevor es zum Schaden kommt. Deswegen können wir
nicht darauf verzichten, Informationen zu erheben und zu
vernetzen. Dafür brauchen wir effektive Ermittlungsinstrumente sowie die nationale und internationale
Kooperation der Behörden. Die Mitgliedstaaten haben
sich daher dazu entschlossen, den Austausch von Informationen als erste Form der Zusammenarbeit im Abkommen festzuhalten. Danach tauschen die Vertragsstaaten
Informationen über in den Mitgliedstaaten begangene
oder geplante Straftaten und über kriminelle Organisationen, deren Strukturen und Verbindungen sowie die Mittel und Methoden ihrer Tätigkeit aus, allerdings unter
dem Vorbehalt, dass dies für die Verhütung und Aufklärung von Straftaten von erheblicher Bedeutung erforderlich ist. Damit wird sichergestellt, dass die Behörden die
Informationen erlangen, die für ihre Ermittlungsarbeit
von Bedeutung sind, über die sie aber selbst nicht verfügen.
Des Weiteren sieht das Abkommen den Austausch von
Erfahrungen im Bereich der Rauschgiftkriminalität sowie
von Forschungsergebnissen vor. Hierdurch profitieren
beide Seiten vom jeweiligen Know-how des anderen Staates.
Als weitere Form der Zusammenarbeit kommt die Entsendung von Verbindungsbeamten in Betracht, sofern Bedarf besteht. Ferner können Beweismittelmuster geliefert
werden, die aus Straftaten erlangt oder für diese verwendet wurden oder werden können. Schließlich besteht die
Befugnis, auf Ersuchen der anderen Vertragspartei und
soweit das Recht der ersuchten Vertragspartei es zulässt,
abgestimmte operative Maßnahmen zur Verhütung und
Aufklärung von Straftaten von erheblicher Bedeutung
durchzuführen.
Zugleich sieht das Abkommen für jede Vertragspartei
die Möglichkeit der Nichterfüllung des Amtshilfeersuchens vor. Voraussetzung für ein solches vollständiges
oder teilweises Verweigerungsrecht ist allerdings, dass
die Erfüllung des Ersuchens die Souveränität, die Sicherheit, die öffentliche Ordnung oder andere wesentliche Interessen beeinträchtigen kann oder die Erfüllung des Ersuchens gegen innerstaatliches Recht verstoßen würde.
Ein Ablehnungsrecht besteht auch dann, wenn das Ersuchen eine Handlung betrifft, die nach dem Recht des ersuchten Staates keine strafbare Handlung darstellt.
Deutschland ist nach alledem nicht gezwungen, Informationen um jeden Preis an die Vereinigten Arabischen
Emirate herauszugeben. Dieses - meiner Meinung nach
unverzichtbare - Abkommen trägt dazu bei, internationale Sicherheitsnetzwerke auszubauen und derzeit bestehende Sicherheitslücken infolge von Informationsdefiziten zu minimieren.
Mit Ihrer Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf leisten
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, einen wichtigen Beitrag dazu, dass das Abkommen in nationales Recht umgesetzt werden kann und für die Bundesrepublik Deutschland Rechtsverbindlichkeit erlangt.
In einer globalisierten Welt sind auch Terror und organisierte Kriminalität schon längst keine nationalen Phänomene mehr. Den Netzwerken des Verbrechens sind deshalb Netzwerke der inneren Sicherheit entgegen zu
stellen. Vor diesem Hintergrund begrüßt die SPD-Fraktion ausdrücklich das Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Vereinigten Arabischen
Emirate über die Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich.
Wie mit anderen Staaten auch, so wird nunmehr die
Kooperation mit einem wichtigen arabischen Land auf
ein solides Fundament gestellt. Das ist gut und richtig.
Durch das Gesetz wird - zu dem bereits am 24. September
2005 paraphierten Vertrag - ein weiterer wichtiger Mosaikstein zur Befestigung unserer inneren Sicherheit von
uns eingefügt. Dass der arabische Raum besonders, aber
keineswegs nur, beim Kampf gegen den Terror eine wichtige Rolle spielt, liegt auf der Hand. Hier die Bande enger
zu knüpfen, liegt also in unserem wohl erwogenen Eigeninteresse. Dass dabei stets die rechtsstaatlichen Grundlagen unserer Verfassung zu wahren sind, versteht sich von
selbst.
Nicht nur der Wissens- und Informationsaustausch
wird dadurch erheblich verbessert, sondern auch der
Austausch und die Mitwirkung von Beobachtern bei operativen Maßnahmen wird nunmehr stattfinden können.
Das dient der Verbesserung der Präventions- und Repressionsarbeit der Sicherheitsbehörden beider Vertragsparteien. Obendrein werden das Verständnis und die Kenntnis der Mentalitäten und der Sicherheitskultur in beiden
Staaten erhöht. Der Austausch von Verbindungsbeamten
hilft dabei zusätzlich. Moderne Kriminalität findet zunehmend im und mithilfe des World Wide Web statt. Daher
will ich ausdrücklich loben, dass es gelungen ist, auch
den Kampf gegen Computerkriminalität zu erfassen.
Möge das Gesetz vor allem aber das Vertrauen zwischen zwei Staaten unterschiedlicher Kulturen fördern.
Denn anstatt einen „Clash of civilisations“ herbeizureden, wie manche dies allzu leichtfertig tun, geht es auch
hier um die vornehmste Aufgabe von Politik: Vertrauen
schaffen.
Heute diskutieren wir hier das Gesetz zur Ratifizierung
des Abkommens vom 24. September 2005 zwischen der
Bundesregierung und der Regierung der Vereinigten Arabischen Emirate. Um es vorwegzunehmen: Wir werden
der Ratifizierung nicht zustimmen.
Erneut ist es die Bedrohung durch den internationalen
Terrorismus, die einen weiteren Eingriff in die Freiheitsrechte der Bürgerinnen und Bürger rechtfertigen soll.
Schon zu Zeiten der rot-grünen Bundesregierung, aber
auch seit der letzten Bundestagswahl und dem damit verbundenen Amtsantritt von Wolfgang Schäuble als Bundesinnenminister dient die Terrorgefahr als Vorwand für diverse Gesetze, die staatliche Überwachung ermöglichen
sollen oder, wie hier, über datenschutzrechtliche Bestimmungen schlicht hinweggehen. Ungeachtet mehrerer Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, in denen
festgestellt wurde, dass die Koalition beim „Schutz“ der
Bürgerinnen und Bürger regelmäßig zu weit geht, verfolgen Regierung und Koalition ihre fragwürdige Sicherheitspolitik unbeirrt weiter. Es scheint mir so, als ob die
Einschränkung von Freiheitsrechten das Einzige ist, worauf sich die Koalitionsparteien noch einigen können.
Bei dem Abkommen, über dessen Ratifizierung wir
heute zu beraten haben, handelt es sich um einen weiteren
Schritt in Richtung „gläserner Bürger“. So sehr wir Liberale internationale Zusammenarbeit unterstützen, so
wenig ändert dies etwas an unserer Haltung gegenüber
diesem Abkommen. Wir sind davon überzeugt, dass die
Probleme in einer globalisierten Welt nicht durch nationale Alleingänge gelöst werden können. Aus diesem
Grund sind vertrauensvolle Beziehungen gerade auch zu
den arabischen Staaten von herausragender Bedeutung.
Gleichwohl können wir bilateralen Abkommen dann
nicht zustimmen, wenn Regelungen enthalten sind, die
wir auch auf nationaler Ebene seit jeher ablehnen.
Mit unserer Zustimmung zu diesem Abkommen durfte
die Bundesregierung schon aufgrund von Art. 10 des Abkommens nicht rechnen. Dass wir die Ausweitung der
Aufnahme biometrischer Daten in Ausweisdokumente ablehnen, ist allseits bekannt. Ebenso problematisch wie
Art. 10 und ein weiterer Schritt in Richtung „gläserner
Bürger“ ist Art. 9 des Abkommens. Dieser bestimmt, dass
die Verwendung persönlicher Daten nicht nur zu den im
Abkommen geregelten Zwecken, sondern auch zur Verfolgung „schwerwiegender Straftaten“ und zum Zweck der
Abwehr von „erheblichen Gefahren für die öffentliche Sicherheit“ möglich sein soll.
Die Übermittlung und die Verwendung persönlicher
Daten an unbestimmte Rechtsbegriffe zu knüpfen, ist an
sich schon fragwürdig. Der Begriff der „schwerwiegenden Straftat“ ist darüber hinaus auch noch besonders
schwammig. Es bedarf also einer Auslegung dieses Begriffes. Zu welchem Auslegungsergebnis ein Land wie die
Vereinigten Arabischen Emirate kommen wird, dessen
Rechtssystem sich doch recht stark von unserem unterscheidet, ist schwer zu beurteilen.
Allerdings heißt es zum Beispiel auf der Internetseite
der deutschen Botschaft Abu Dhabi in einer Warnung für
Besucher der Emirate:
Drogenbesitz auch in kleinsten Mengen und unter
Umständen auch im Körper nachweisbarer kurz zurückliegender Drogenkonsum werden strengstens
Zu Protokoll gegebene Reden
verfolgt und ziehen in der Regel die Verurteilung zu
einer Gefängnisstrafe nicht unter 4 Jahren nach
sich.
Gleichlautende Hinweise finden sich auch auf der
Homepage des Auswärtigen Amtes. - Ist eine Handlung,
die eine Strafe von mindestens vier Jahren Gefängnis
nach sich zieht eine schwerwiegende Straftat?
Es ist unserer Auffassung nach nicht auszuschließen,
dass Daten, die im Sinne des Abkommens rechtmäßig
übermittelt werden, anschließend zur Verfolgung von
„schwerwiegenden Straftaten“ im Sinn des „innerstaatlichen Rechts der jeweiligen Vertragspartei“ genutzt werden. Denn genau danach soll sich die Verwendung der
übermittelten Daten richten. Für mich stellt sich daher
die Frage, warum dieser Begriff der „schwerwiegenden
Straftat“ gewählt wurde. Warum hat man sich stattdessen
nicht auf einen Straftatenkatalog geeinigt und die Verwendung und die Übermittlung an die Aufklärung einer
solchen Katalogtat gebunden?
Auch der andere unbestimmte Rechtsbegriff wirft einige Fragen auf. Wann liegt denn eine „erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit“ vor? Terrorismus allein kann nicht gemeint sein, da dessen Verhütung bereits
Zweck des Abkommens ist. Art. 9 Nr. 3 Satz 2 soll gerade
eine darüber hinausgehende Verwendung ermöglichen.
Im Ergebnis wird durch dieses Abkommen einer willkürlichen Verwendung persönlicher Daten Tür und Tor
geöffnet.
Bei dem, was die Bundesregierung unter der Bekämpfung des Terrorismus versteht, wird leider in aller Regel
der Teufel mit dem Beelzebub ausgetrieben. Das gilt auch
für die Vereinigten Arabischen Emirate, die uns von der
Bundesregierung hier als glaubwürdiger Akteur in Sachen Menschenrechte verkauft werden. Doch das ist der
reine Hohn. Ich fordere Sie auf, meine Damen und Herren: Lesen Sie den Länderbericht von Amnesty International, und dann denken Sie noch einmal darüber nach, mit
wem Sie hier in aller Freundschaft Abkommen über polizeiliche Zusammenarbeit schließen wollen.
Denn die Menschenrechte werden dort regelrecht mit
Füßen getreten. Der dortige Inlandsgeheimdienst ist berüchtigt dafür, Menschen in Haft zu nehmen, weil sie angeblich Islamisten sein sollen, oder auch nur, weil sie es
wagen, politische Reformen zu fordern. Eine Anklageerhebung hält man für unnötig. Die Betroffenen bleiben monatelang in sogenannter incomunicado-Haft, das heißt
ohne dass ihnen irgendein Kontakt zur Außenwelt gewährt wird. Manche Menschen „verschwinden“ einfach.
Die Todesstrafe wird verhängt, und grausame und erniedrigende Körperstrafen wie Auspeitschungen sind dort
keine Seltenheit. Wir wissen außerdem, dass in diesem
Land Homosexualität als sogenannte unzüchtige Handlung verboten und unter Strafe gestellt ist.
Mit einem Wort: Die Vereinigten Arabischen Emirate
gehören mit zu den Staaten, die man nur als Menschenrechtsverletzer beschreiben kann. Und mit dessen Behörden sollen jetzt nach dem Willen der Bundesregierung polizeiliche Erkenntnisse ausgetauscht werden. Beruhigend
heißt es in dem Dokument, dass beide Seiten strikt auf Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit zu achten hätten.
Doch von solchen Zusicherungen lässt sich Die Linke
nicht einlullen.
Denn wer kann garantieren, was mit diesen Daten passiert? Wer von Ihnen legt seine Hand dafür ins Feuer,
dass die Behörden der Arabischen Emirate tatsächlich
„verhältnismäßig“ vorgehen?
Jeder, der in den Emiraten, sei es zu Recht oder auch
zu Unrecht, schwerer oder auch minder schwerer Straftaten beschuldigt wird, muss damit rechnen, eingesperrt
und geschlagen zu werden oder zu verschwinden. Die
Vorstellung, dass das mit Hilfe deutscher Behörden passiert, die ihren arabischen Kollegen erst die notwendigen
Informationen liefern, ist doch reiner Horror.
Wir wissen ja, dass die Bundesregierung eine emsige
Zusammenarbeit mit Folterregimen praktiziert, auch im
Militär- und Polizeibereich. Um Menschenrechte, um
Frieden und die Eindämmung illegitimer Gewalt geht es
dabei kaum, vielmehr geht es um machtpolitische Interessen. Das fängt an bei den wichtigsten NATO-Verbündeten, die mit ihrer Politik der weltweiten Angriffskriege
und Folterlager oftmals Gegengewalt erst hervorrufen.
Doch daran mag bis auf die Fraktion Die Linke ja keine
Fraktion in diesem Haus erinnert werden.
Abkommen mit menschenrechtsfeindlichen Staaten begründet die Bundesregierung gerne damit, sie könnten
dabei helfen, eine grund- und menschenrechtsorientierte
Sicherheitspolitik zu etablieren. Ein Beispiel hierfür hat
sie allerdings bisher nicht vorgelegt. Würde sie ihre eigene Begründung wenigstens selbst ernst nehmen, hätte
sie ja versuchen können, für das Gesetzgebungswerk
Menschenrechtsorganisationen zu Rate zu ziehen. Das ist
nicht geschehen.
Noch ein letzter Hinweis: Wie so oft vermischt die Bundesregierung auch hier Terrorismus und illegalisierte Migration. Sie will Menschen daran hindern, ohne staatliche Erlaubnis nach Europa zu kommen, ohne sich für
Fluchtgründe und Situation dieser Menschen zu interessieren. Statt dessen wirft sie sie einfach in einen Topf mit
angeblichen Terroristen. Das ist inhuman, das ist unsachlich.
Die Fraktion Die Linke fordert eine an Menschenrechten orientierte Außenpolitik. Davon kann im Zusammenhang mit diesem Abkommen keine Rede sein. Wir lehnen
den Gesetzentwurf daher ab.
Wir haben heute schon über ein Abkommen zwischen
der Bundesrepublik und den USA debattiert. Da haben
wir gesehen, was man bei einem solchen Abkommen alles
falsch machen kann. Das nun vorliegende Abkommen mit
den Vereinigten Arabischen Emiraten ist ähnlich gelagert, aber handwerklich besser und wesentlich weniger
bedenklich als das Übereinkommen mit den USA. Aber
auch in diesem Fall bleiben Probleme, die uns eine Zustimmung nicht möglich machen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Zu begrüßen sind die klareren Antworten auf die Fragen: Wer? Was? Warum? Das Abkommen zählt explizit
auf, welche Stellen die Kooperation abwickeln. Es können
also nicht durch die Hintertür neue Zuständigkeiten für
andere Behörden geschaffen werden. Es herrscht auch
weitgehende Klarheit über die Straftaten, bei denen das
Abkommen zum Tragen kommen kann. Die Liste ist zu
lang geraten. Es stellt sich schon die Frage, ob die KfzKriminalität - vulgo: Autoklau - zwischen Deutschland
und Dubai ein wirklich dringliches Problem ist. „Eigentumskriminalität“ ist ebenfalls eine zu umfassende Kategorie, um einen - notorisch schwer zu kontrollierenden Datenaustausch mit einem anderen Land immer zu rechtfertigen. Es gibt aber auch in diesem Abkommen den undefinierten Begriff „Terrorismus“, bei dem man befürchten muss, dass er in einer freiheitlichen Demokratie doch
anders definiert ist als in einem Emirat.
Aber immerhin wird deutlich geregelt, dass der Informationsaustausch nur dann stattfindet, soweit dies für die
Verhinderung und Aufklärung von Straftaten von erheblicher Bedeutung erforderlich ist. Die Art und die Menge
der übermittelten Daten sind nach den Standards des
nationalen Rechts und nach der Verhältnismäßigkeit zu
bestimmen. „Erheblich“, „erforderlich“ und vor allem
„verhältnismäßig“ sind Worte, die man auch bei anderen
innenpolitischen Projekten dieser Bundesregierung gerne
öfter lesen würde.
Der Datenaustausch ist also beschränkt. Es wird - soweit das geht - die Einhaltung der eigenen Datenschutzstandards festgeschrieben und die Verwendung für andere Zwecke so eng limitiert wie nur möglich. Das löst
natürlich nicht das Problem, dass man Daten nicht mehr
wirksam kontrollieren kann, wenn sie den eigenen Hoheitsbereich verlassen haben. Aber es setzt ein Signal und
eine Grenze, und es muss sich rechtfertigen, wer diese
Grenze überschreitet.
Auch das Recht der Betroffenen wurde berücksichtigt.
Sie können nach den Gesetzen ihres Heimatlandes Auskunft über die über sie gespeicherten Daten und den Verwendungszweck erhalten. Das ist nicht perfekt; aber im
Gegensatz zu dem Abkommen mit den USA wird hier
deutlich, dass die Betroffenen als Menschen mit schützenswerten Rechten und nicht ausschließlich als Verdachtsmomentslieferanten betrachtet werden.
Bis hierhin also Licht und Schatten, wobei das Licht
vor allem relativ ist - neben dem durch und durch verschatteten Abkommen, das der Bundesinnenminister mit
den USA ausgehandelt hat, glänzt dieser Text.
Zum Ende aber zwei klare Kritikpunkte. Da gibt es
Art. 10, der - löblich und sinnvoll - die Einführung fälschungssicherer Reisedokumente fordert. Weniger erfreulich ist die Verpflichtung zur Einführung biometrischer
Merkmale in diesen Papieren. Da liest sich dieses noch
von Otto Schily ausgehandelte Abkommen, mit Verlaub,
eher wie eine Exportwerbung für deutsche Produkte.
Das größte Bedenken ergibt sich aber aus dem Vertragspartner. Auch wenn es in letzten Jahren Fortschritte
gegeben hat, bleiben die Emirate ein bestenfalls vordemokratischer Staat, in dem rechtsstaatliche Ansätze von
Entscheidungen nach der Scharia überlagert werden. Es
gibt immer wieder Berichte über Folter in den Emiraten.
So wünschenswert es ist, für die Bekämpfung des islamistischen Terrorismus Partner zu gewinnen, gerade
auch im arabischen Raum: Es fragt sich, ob angesichts
des Umgangs mit politischer Opposition tatsächlich nur
der Extremismus bekämpft wird, den auch wir bekämpfen, oder ob eben nicht auch demokratisch orientierte Bewegungen als Terroristen verunglimpft und verfolgt werden. Solange das nicht sicher zu sagen ist, sollte man sich
nicht der Gefahr aussetzen, unwillentlich dazu Beihilfe zu
leisten. Insofern können wir nur hoffen, dass die Bundesregierung bei der Umsetzung dieses Abkommens entgegen ihren sonstigen Gewohnheiten einmal vorsichtig und
umsichtig mit sensiblen Daten umgeht.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Innenausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9343, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 16/9039 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu
erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Koalition bei
Gegenstimmen der Fraktionen Die Linke und FDP und
Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({0}) zu dem
Antrag der Abgeordneten Josef Philip Winkler,
Omid Nouripour, Volker Beck ({1}), weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Humanitäre Standards bei Rückführungen
achten
- Drucksachen 16/4851, 16/7347 Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Grindel
Hartfrid Wolff ({2})
Josef Philip Winkler
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Hans-Werner Kammer, CDU/CSU, Rüdiger Veit, SPD, Hartfrid
Wolff ({3}), FDP, Ulla Jelpke, Die Linke, Josef
Philip Winkler, Bündnis 90/Die Grünen.
Was ist flüssiger als flüssig? Überflüssig. Diese Beschreibung passt sehr gut auf den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen „Humanitäre Standards bei
Rückführungen achten“. Erstens: Deutschland hält bereits aufgrund der internationalen Abkommen, ich verweise hier auf die Europäische Menschenrechtskonvention, derartige Standards ein. Es ist doch eine
Selbstverständlichkeit, dass Deutschland bei Rückfüh17676
rungen die humanitären Grundsätze und die Menschenrechte achtet.
Insofern sollten wir nicht noch eine Reihe von generellen Abschiebeerschwernissen einführen, die Drittstaatsangehörigen zu leichte Möglichkeiten bieten, der Abschiebung zu entgehen. Ich betone ausdrücklich, dass ich
niemanden mit pauschalen Verdächtigungen belegen
will, aber wir dürfen die Augen nicht vor dem Faktum
verschließen, dass es auch Menschen gibt, die Möglichkeiten, einer Abschiebung zu entgehen, missbrauchen.
Insbesondere der absolute Abschiebestopp für Traumatisierte, den die Grünen in ihrem Antrag fordern, führt ja
schon jetzt bei Rückführungen zu einem erheblichen
Missbrauch. Mit dem Hinweis auf eine Traumatisierung
haben viele Personen, insbesondere Frauen, versucht, einer Abschiebung zu entgehen. Wundersamerweise war in
vielen Fällen bei Rückführung in das Heimatland eine
medizinische Hilfestellung nicht mehr erforderlich. Gerade wenn es weitere bzw. andere Gründe für eine Abschiebung gibt, darf ein Drittstaatsangehöriger sich nicht
hinter einer Traumatisierung verstecken. Ich möchte hier
niemanden unter einen Generalverdacht stellen, aber
umso wichtiger ist an dieser Stelle die Einzelfallprüfung.
An dieser Stelle genießt das Bundesamt für Flüchtlinge
und Migration mein vollstes Vertrauen.
Die Einführung künstlicher Abschiebehindernisse
halte ich zudem für kontraproduktiv. Sobald wir die
Schwelle für Abschiebungen und den Kreis der schutzbedürftigen Personen erweitern, helfen wir vor allem den
Schleuserbanden, die Menschen um ihr Hab und Gut in
der Heimat bringen, indem sie mit immer mehr Versprechen die Menschen hierher schleusen und ihre Notsituation schamlos ausbeuten. Es kann nun wirklich keiner
wollen, dass wir mit immer mehr künstlichen Abschiebehindernissen neue Anreize für Schleuserbanden schaffen.
Jeder, der aus berechtigten Gründen nicht abgeschoben werden kann, wird auch in Deutschland nicht abgeschoben. Das ist in Deutschland und in Europa Standard,
auch ohne Ihren Antrag.
Angestoßen durch die deutsche EU-Ratspräsidentschaft, hat zudem die portugiesische Ratspräsidentschaft
einen entsprechenden Richtlinienentwurf neu initiiert.
Nach mehrjährigen Verhandlungen haben sich die EUInnenminister heute auf gemeinsame Regelungen zur Abschiebung verständigt. Mit dieser Einigung sind wir einen wichtigen Schritt auf dem Weg zu einer gemeinsamen
europäischen Migrationspolitik gegangen. In einem
Europa ohne Grenzen muss es auch eine einheitliche Migrationspolitik geben. Erst durch einheitliche Standards
können wir auch die Bedingungen der Menschen, die unter unmenschlichen Bedingungen hier zum Teil ein Sklavendasein führen, verbessern. Dazu gehört zum Beispiel,
dass die EU-Kommission künftig die Haftbedingungen
kontrollieren kann und so einheitliche Standards gewährleistet werden können. Ich bin mir in diesem Zusammenhang sicher, dass es in Deutschland relativ wenig Verbesserungsbedarf gibt.
Zudem begrüße ich es ausdrücklich, dass Wiedereinreiseverbote, die in den einzelnen Mitgliedstaaten verhängt wurden, dann EU-weit gelten werden. So ist eine effektive Bekämpfung von Schleuserbanden und anderen
kriminellen Aktivitäten erst möglich.
Ich bin zudem erfreut, dass sich die EU-Innenministerkonferenz heute in Luxemburg auf eine Begrenzung der
Abschiebehaft auf 18 Monate geeinigt hat, also so, wie es
bisher in Deutschland schon gesetzlich geregelt ist. Tatsächlich ist es so, dass die durchschnittliche Haftdauer in
Deutschland weit darunter liegt.
Ich möchte an dieser Stelle noch einmal auf die im Innenausschuss und auch hier bereits geführte Diskussion
um die Abschiebehaft eingehen. Während die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen in ihrem Antrag die Abschiebehaft
als letztes Mittel anerkennen, schießt in dieser Diskussion
mal wieder die SED-Nachfolgepartei Die Linke den Vogel
ab, indem sie eine generelle Abschaffung der Abschiebehaft fordert. Dass gerade Sie nach über 40 Jahren Repression gegen das eigene Volk an dieser Stelle mit humanitären Argumenten kommen, ist schon ein Hohn. Und
wir haben in der vergangenen Woche in diesem Hause ja
wieder erleben dürfen, wer schon Hand in Hand mit dem
Unrechtssystem DDR gearbeitet hat, Ihr Fraktionsvorsitzender, Herr Gysi. Dass Herr Gysi nur einer von vielen in
der Partei Die Linke ist, die das System unterstützt haben,
ist keine Neuigkeit. Bei vielen Gelegenheiten dokumentieren Sie immer wieder Ihre Nähe zu den Erfüllungsgehilfen des Systems. Wer Leute in seinen Reihen duldet, die
Bautzen mitzuverantworten haben, der sollte eine Debatte um humanitäre Haftbedingungen mit mehr Augenmaß führen.
Es gibt übrigens ein effektives Mittel, die Abschiebehaft zu verhindern: nämlich die freiwillige Ausreise bei
angeordneter Abschiebung. Darüber hinaus kommen
auch nur die Personen in Abschiebehaft, die nicht glaubwürdig versichern können, dass sie sich der Abschiebung
in irgendeiner Form entziehen können. Nur in solchen
Fällen ist eine Abschiebehaft vorbehaltlich des richterlichen Einverständnisses vorgesehen. Ich erlaube mir in
dem Zusammenhang den Hinweis, dass es sich bei der illegalen Einreise immer noch um einen Straftatbestand
handelt.
Die CDU/CSU-Fraktion lehnt nicht nur vor dem Hintergrund der heute getroffenen Einigung, die noch der Zustimmung des EU-Parlamentes bedarf, den Antrag von
Bündnis 90/Die Grünen ab. Wir halten Ihren Antrag auch
im Hinblick auf die Abschiebehindernisse für kontraproduktiv. Gerade mit der Einführung der Traumatisierung
führen Sie eine sehr undifferenzierte Bedingung zur Verhinderung einer Abschiebung ein, die möglicherweise einer missbräuchlichen Nutzung Tür und Tor öffnet. Ferner
halten wir in Deutschland die humanitären Standards in
den Haftanstalten ein. Und es ist in Deutschland eine
Selbstverständlichkeit, dass Rückführungen aus Deutschland unter Einhaltung des Menschenrechtes und rechtsstaatlicher Gesichtspunkte vollzogen werden.
Zum Schluss möchte ich mich noch bei Herrn Staatssekretär Altmaier dafür bedanken, dass die verhandelte
EU-Rückführungsrichtlinie in vielen Teilen die Handschrift der CDU trägt.
Zu Protokoll gegebene Reden
Der Antrag, den wir heute diskutieren, fordert die Einhaltung menschenrechtlicher Normen bei Rückführungen. Dass dieses Anliegen als solches meine Unterstützung findet, wird Sie nicht überraschen. Die Achtung der
Menschenrechte auch gegenüber denen, denen ein Aufenthaltsrecht in Europa versagt wird, muss für uns als Innenpolitiker und Europäer eine Selbstverständlichkeit
sein. Ich zitiere aus dem Haager Programm: „Der Europäische Rat fordert zur Festlegung einer wirksamen
Rückkehr- und Rückübernahmepolitik auf, die auf gemeinsamen Normen beruht, die gewährleisten, dass die
betreffenden Personen auf humane Weise und unter vollständiger Achtung ihrer Menschenrechte und Würde zurückgeführt werden.“ Doch Anspruch und Wirklichkeit
sind nicht immer leicht zu vereinen. Im Ringen um europäische Kompromisse muss sich der menschenrechtliche
Anspruch immer wieder gegen Einzelinteressen aus insgesamt 27 Mitgliedstaaten durchsetzen, die oft genug von
nationalen, auf Abwehr gerichteten Prinzipien geleitet
sind. So kann es nicht erstaunen, dass auch die Diskussionen über die Rückführungsrichtlinie von heftigsten
Kontroversen begleitet sind. Diese haben den Anlass gegeben, dass sich die slowenische Ratspräsidentschaft um
Kompromissgespräche bemüht hat.
Nun haben sich der Berichterstatter und die slowenische Ratspräsidentschaft am 23. April 2008 auf einen
Kompromiss einigen können. Die aktuelle Fassung der
Richtlinie nach diesem Kompromiss liegt mir noch nicht
vor. Ich muss mich daher auf Angaben unserer Kolleginnen und Kollegen aus Brüssel verlassen. Sie deuten darauf hin, dass einige Verbesserungen erreicht werden
konnten, aber kritische Punkte bestehen bleiben. Lassen
Sie mich beispielhaft drei Aspekte aufgreifen. Die Höchstdauer der Abschiebehaft wurde auf maximal sechs Monate, in Ausnahmefällen auf bis zu 18 Monate festgesetzt.
Dabei muss die Haft in vernünftigen Abständen überprüft
werden. Leider aber fehlt es an einer genaueren zeitlichen
Einschränkung, wann die Haftprüfung erfolgt. Die freiwillige Ausreise soll die Regel darstellen. Nach Prüfung
des Einzelfalls soll eine Frist zwischen sieben und 30 Tagen festgesetzt werden. Zwar sind die Mitgliedstaaten
verpflichtet, die Betroffenen über diese Möglichkeit zu
informieren, gleichwohl ist die Frist nicht nur kurz bemessen, sondern soll zudem nur auf Antrag eingeräumt
werden. Zuletzt sollen Mitgliedstaaten bei Abschiebungsanordnungen ein Wiedereinreiseverbot verhängen, das
bis zu fünf Jahre betragen kann. Dies wurde von vielen
Seiten als zu lang kritisiert.
All dies wird nur vor dem Hintergrund verständlich,
dass die bisherigen innerstaatlichen Standards in den
Mitgliedstaaten stark auseinandergehen. Während die
Inhaftierung in Zypern und Frankreich auf höchstens einen Monat begrenzt ist, ist sie in immerhin acht europäischen Staaten zeitlich unbegrenzt möglich. Während die
freiwillige Ausreisefrist in Deutschland bis zu sechs Monate betragen kann, kennen mehrere europäische Staaten
gar keine Frist, sondern nur die sofortige Ausreise. Während in mehreren Mitgliedstaaten - je nach Fallkonstellation - eine Wiedereinreise bereits nach einem Jahr wieder möglich sein kann, kann in anderen, hierunter auch
Deutschland, dem Gesetz nach theoretisch ein unbegrenztes Wiedereinreiseverbot verhängt werden. Insbesondere
das Beispiel der Abschiebehaft führt zur entscheidenden
Frage: Soll man einem im Detail kritikwürdigen Kompromiss zustimmen, um wenigstens minimale Garantien zu
erreichen, wo in manchen Mitgliedstaaten gar keine bestehen?
Dies ist die Frage, die unsere Kolleginnen und Kollegen im Europäischen Parlament derzeit umtreibt. Uns im
Deutschen Bundestag sollte der Austausch mit eben diesen Kolleginnen und Kollegen umtreiben, um das Erreichte zu würdigen, aber auch die verbleibenden Kritikpunkte zu erkennen. Und eben diese führen uns zu der
Aufgabe, die vor uns liegt: Wo wir mit dem Kompromiss
nicht einverstanden sind, müssen wir unsere nationalen
Regelungen mit ihm vergleichen und überprüfen, ob wir
an günstigeren Regelungen - so etwa im Bereich der Frist
für die freiwillige Ausreise - festhalten oder gar neue
schaffen möchten. Denn wie immer im Bereich des europäischen Asylrechtes gilt: Es steht den Mitgliedstaaten
frei, innerstaatlich günstigere Bestimmungen zu schaffen.
Mit dem Zuwanderungsgesetz haben wir zumindest im
Bereich der geschlechtsspezifischen Verfolgung ein Beispiel dafür gegeben. In § 60 Abs. 1 Satz 3 Aufenthaltsgesetz haben wir die Regelung getroffen, dass eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten
Gruppe auch dann vorliegen kann, wenn sie allein an das
Geschlecht anknüpft. Die Qualifikationsrichtlinie sieht
hier in Art. 10 Abs. 1 Buchstabe d Satz 3 zweiter Halbsatz
eine deutliche Einschränkung vor. Hiernach können geschlechterbezogene Aspekte berücksichtigt werden,
rechtfertigen aber für sich allein genommen noch nicht
die Annahme, dass dieser Artikel anwendbar ist.
Wegen weiterer Einzelheiten zum vorliegenden Antragstext verweise ich auf die Rede, die ich im Rahmen
der ersten Lesung am 29. März 2007 gehalten habe. Ich
möchte daher mit folgendem Appell schließen: Lassen Sie
uns die europäische Diskussion als einen Prüfauftrag im
eben genannten Sinne verstehen. Diesen allerdings müssen wir auf Grundlage der aktuellen Verhandlungsergebnisse umsetzen. Der heute diskutierte Antrag hingegen
wendet sich noch an die deutsche Ratspräsidentschaft,
die bekanntlich vorbei ist, und greift den aktuellen Verhandlungsstand nicht auf. Aus diesem Grund ist er trotz
richtigen Grundanliegens abzulehnen.
Der Umgang mit illegal sich in Deutschland aufhaltenden Menschen betrifft durchaus auch das Selbstverständnis einer freiheitlichen Gesellschaft und die
grundsätzlichen Fragen der Durchsetzung unserer
rechtsstaatlichen Ordnung. Natürlich gilt auch aus liberaler Sicht, dass mit dem Instrument der Abschiebehaft
sehr behutsam umgegangen werden muss. Es gibt eine
ganze Reihe von Verbesserungsmöglichkeiten, die umgesetzt werden müssen. Grundsätzlich halten wir die Abschiebehaft für durchaus gerechtfertigt und in manchen
Fällen auch für unumgänglich.
Die Grünen benennen konkrete Probleme in ihrem Antrag und zeigen einige Lösungsvorschläge auf. Das ist
Zu Protokoll gegebene Reden
Hartfrid Wolff ({0})
nicht selbstverständlich, wenn man bedenkt, was für
Wünsch-dir-was-Kataloge zu dieser Thematik hier von
manchen vorgelegt werden. Doch auch die Grünen beleuchten in ihrem Antrag - vielleicht nicht unbeabsichtigt nur Teilaspekte und übersehen den Gesamtzusammenhang.
Natürlich sind der Fantasie keine Grenzen gesetzt, um
Hindernisse für die Abschiebepraxis zu errichten. So ist
die Forderung der Grünen, die Abschiebehaft dürfe keinesfalls die Dauer von sechs Monaten überschreiten,
wohlfeil. Schnelle Entscheidungen schaffen Klarheit für
alle. Leider haben die Grünen keine Vorschläge gemacht,
wie die Abschiebeverfahren beschleunigt werden können.
Bereits im Koalitionsvertrag 1998 hatten die Grünen unterschrieben, die Praxis der „Abschiebehaft im Licht der
Verhältnismäßigkeit zu prüfen“. Sie hatten doch sieben
Jahre Zeit dazu, das zu tun und es besser zu machen. Was
ist denn daraus geworden?
Wir stimmen den Grünen aber zu, wenn sie in ihrer Antragsbegründung auf die drei essenziellen Aspekte hinweisen, die die EU-Kommission beschlossen hat. Demnach müssen das Primat der freiwilligen Rückkehr
gestärkt, verfahrensrechtliche Mindestgarantien gesichert und die Verhältnismäßigkeit gewahrt werden. Allerdings vermittelt auch der vorliegende Grünen-Antrag den
Eindruck, schön klingende Forderungen nicht bis in die
letzte Konsequenz durchdacht zu haben - oder diese nicht
offensichtlichen Konsequenzen letztlich sogar zu wünschen. Wer unbegleitete Minderjährige, Behinderte, Alte
und Schwangere insgesamt von Abschiebung vollständig
ausnehmen will, sagt letztendlich: Ihr dürft illegal einreisen - ist zwar nicht erlaubt, aber wir machen nichts dagegen! Organisierte kriminelle Schleuser könnten so zu
einer „Spezialisierung“ neigen, wenn absolute Regelungen in dieser Form geschaffen werden. Wer auf Abschiebung verzichtet, sagt: Ihr könnt zuwandern. Das ist ein
weitgehendes Aushöhlen unserer zuwanderungsrechtlichen Regeln.
Ich halte nichts davon, mit humanitär klingenden Forderungen grundsätzlich den Vollzug des deutschen Ausländerrechts zu untergraben. Wir sollten gemeinsam ein
rationales Verfahren entwickeln, das festlegt, wie viele
Menschen hier derzeit integrierbar sind, welche nach
wirtschaftlichem Bedarf, etwa gemäß dem von der FDP
vorgeschlagenen Punktesystem, zuwandern dürfen und
welche Zuwanderer wir aus humanitären Gründen aufnehmen wollen. Gerade im letzten Punkt müssen wir das
Individuum achten. Das ist ehrlicher, als immer wieder
neue Anläufe zu nehmen, illegalen Migranten die ohnehin
schon nicht recht dichten Türen zur Zuwanderung weiter
zu öffnen.
Unter den Lösungsangeboten der Grünen für die
Sicherstellung humaner Standards bei Rückführungen
überwiegt leider die weitgehende Erschwerung oder der
generelle Verzicht auf Abschiebungen. Damit ist niemandem gedient, insbesondere den Menschen nicht, die legal
und unter Beachtung der Gesetze der Bundesrepublik
Deutschland hierher eingewandert sind und sich rechtmäßig im Lande aufhalten. Eine individuelle Bewertung
ist notwendig. Institutionalisierte und automatische
Nachsicht mit denen, die sich nicht an unsere Rechtsordnung halten, kann das Ansehen aller Zuwanderer beeinträchtigen und die Rechtstreue im Alltag aushöhlen. Auch
deswegen bleibt die Abschiebehaft ein letztes, aber legitimes Mittel, den Abschiebevollzug sicherzustellen.
Die Fraktion der Grünen legt heute einen Antrag zur
Abstimmung vor, für den es eigentlich schon zu spät ist.
Denn just heute hat das Europäische Parlament den Entwurf der so genannten Abschiebe-Richtlinie angenommen, der leider von den hier geforderten Standards weit
entfernt ist. Beispielsweise soll nun EU-weit eine Abschiebehaft von bis zu 18 Monaten möglich sein.
Schlimmer noch: Nach der ersten Debatte über diesen
Antrag vor über einem Jahr hat die Koalition von Union
und SPD noch weitere Verschärfungen bei der Abschiebehaft vorgenommen. Sie wurde erstens ergänzt um die
Durchbeförderungshaft für Überstellungen im Rahmen
der Dublin-Verfahren. Zweitens wurde für den sogenannten Transitgewahrsam in Flughäfen eine 30-Tage-Frist
eingeführt, nach der dieser Gewahrsam überprüft werden
muss. Damit wurde diese Form der Inhaftierung überhaupt erst mal reglementiert. Aber der eigentliche Skandal, dass man Menschen am Flughafen festhält, ohne sie
einreisen zu lassen, der ist geblieben. Den größten
Klopper hat sich die Koalition aber mit der Inhaftierungsbefugnis für die Ausländerbehörden geleistet. Die
Ausländerbehörde wird nach über 40 Jahren wieder zur
Fremdenpolizei. Sachbearbeiter ohne jede juristische Befähigung können Menschen in Haft nehmen lassen, weil
sie glauben, dass diese sich einer Abschiebung entziehen
könnten. Erst im Anschluss muss ein Richter darüber entscheiden.
Das ist aber auch keine ausreichende Sicherung gegen
eine fehlerhafte Einweisung in Abschiebehaft. Mehrere
Untersuchungen belegen, dass Urteile von Amtsgerichten
zur Verfügung von Abschiebehaft oft fehlerhaft sind. Aber
den Betroffenen werden systematisch die Mittel verweigert, sich dagegen juristisch zur Wehr setzen zu können.
Mit der nun von der Koalition in die Wege geleiteten Reform der Freiwilligen Gerichtsbarkeit wurde der Rechtsschutz ausgehebelt, indem die Berufungsmöglichkeiten
faktisch abgeschafft wurden und den Betroffenen der Weg
zum Oberlandesgericht versperrt bleibt.
Und es muss auch noch einmal darauf hingewiesen
werden, dass mindestens ein Drittel der Abschiebehäftlinge entlassen wird, ohne abgeschoben zu werden. In
diesen Fällen ist die Abschiebehaft ganz klar rechtswidrig und mit rechtsstaatlichen Prinzipien nicht vereinbar.
In einem Rechtsstaat gilt die Zweckbindung von Gesetzen. Die Abschiebehaft gilt der Durchsetzung der Abschiebung. Offensichtlich werden aber Menschen in Abschiebehaft genommen, obwohl man gar nicht weiß, ob es
überhaupt zu einer erfolgreichen Abschiebung kommt.
Das ist ganz klar ein willkürliches Verhalten der Behörden!
Abschiebehaft wird mehr und mehr als Druckmittel
der Ausländerbehörden eingesetzt. Mit der Länge der Abschiebehaft steigt der Anreiz für die Behördenmitarbeiter,
Zu Protokoll gegebene Reden
diese als Druckmittel einzusetzen. Und zwar gerade gegen Menschen ohne Passpapiere, die damit zur Kooperation bei der Passbeschaffung gezwungen werden sollen.
Ich will am Schluss noch auf zwei ganz dunkle Kapitel
der deutschen Abschiebehaft zu sprechen kommen. Man
kann nicht oft genug daran erinnern, dass zwischen 1993
und 2006 50 Menschen in deutschen Abschiebegefängnissen infolge von Hungerstreik oder Selbstmordversuchen ums Leben gekommen sind. 399 Abschiebehäftlinge
haben sich in dieser Zeit beim Versuch, sich umzubringen,
ernsthaft verletzt. Das zeigt, in welche Verzweifelung die
deutsche Abschiebepolitik die Betroffenen treibt.
Der zweite Punkt, den ich am Schluss meiner Rede ansprechen möchte, betrifft minderjährige Flüchtlinge.
Aufgrund des deutschen Asylverfahrensrechts können
16- und 17-jährige Minderjährige in Abschiebehaft genommen werden, ohne eine entsprechende jugendgerechte Betreuung. Nach den zuletzt vorliegenden Zahlen
des Bundesinnenministeriums aus 2004 befanden sich
über 300 Minderjährige in Abschiebehaft, im Schnitt
über einen Monat.
Auch wenn wir die Kritik der Grünen an der Abschiebehaft teilen, bleibt es dabei: Wir werden uns bei der Abstimmung enthalten. Denn der Antrag der Grünen akzeptiert grundsätzlich die Abschiebehaft als probates Mittel.
Wir sagen aber: Die Betroffenen haben keine Straftat begangen. Gegen sie wird, aus mehr oder weniger plausiblen Gründen, der Verdacht erhoben, sich in Zukunft einer
Verwaltungsmaßnahme - der Abschiebung - entziehen zu
wollen. Uns wollen keine überzeugenden Argumente einfallen, warum ein Mensch deshalb gleich wie ein Straftäter behandelt werden soll. Wir fordern weiterhin die Abschaffung der Abschiebehaft in Deutschland.
Die EU-Innenminister haben sich heute auf gemeinsame Regeln für die Abschiebung von Flüchtlingen verständigt. Die Abschieberegeln sehen unter anderem vor,
dass Menschen ohne gültige Papiere vor einer Abschiebung in ihre Herkunftsländer bis zu 18 Monate in Haft genommen werden können. Diese Möglichkeit gilt ausdrücklich auch für Minderjährige. Weiterhin wurde eine
Einreisesperre von fünf Jahren für alle Mitgliedsstaaten
der EU nach einer Abschiebung beschlossen.
Dieser Beschluss der EU-Innenminister ist vollkommen unverhältnismäßig. Es ist offensichtlich, dass die
Innenminister die existierenden und mangelhaften Asylverfahrens- und Abschiebehaftregeln einiger Mitgliedstaaten nicht antasten wollten und sich auf den kleinsten
gemeinsamen Nenner geeinigt haben und dieser kleinste
gemeinsame Nenner heißt „Haft statt Asyl“. Damit wird
ein fatal schlechter Standard für den Menschenrechtsschutz in Europa gesetzt. Dass ausgerechnet der deutsche
Parlamentarische Staatssekretär im BMI, Peter Altmaier,
die Beschlüsse auch noch dahin gehend begrüßt, dass
„die Abschiebung von denen, die wir loswerden wollen,
in Zukunft erleichtert“ wird, ist skandalös.
Es ist festzuhalten: Es ist kein Verbrechen, einen Asylantrag zu stellen. Der generelle Vorwurf der illegalen
Einreise ist für von Verfolgung bedrohte Flüchtlinge eine
bodenlose Unterstellung. Auch das Wiedereinreiseverbot
von fünf Jahren - selbst bei Verfolgungsgefahr - ist ein
Verstoß gegen das internationale Flüchtlingsrecht, das
nämlich vielmehr vorsieht, diesen schutzsuchenden Menschen zu helfen. Eine besondere Schweinerei ist die Möglichkeit, auch ausreisepflichtige Minderjährige in Haft
nehmen zu können. Das ist eindeutig ein Verstoß gegen
die UN-Kinderrechtskonvention.
Der ursprüngliche Richtlinienentwurf der EU-Kommission griff Forderungen von Nichtregierungsorganisationen auf und setzte begrüßenswerte Mindeststandards
zum Beispiel für eine freiwillige Ausreisefrist, für das Verfahren, für die Anwendung von Abschiebehaft; hier waren
im Entwurf maximal sechs Monate vorgesehen. Die Verhandlungen in den Ratsarbeitsgruppen haben jedoch
dazu geführt, dass der Entwurf der Richtlinie extrem verschärft wurde. Maßgeblichen Anteil daran hatte die skandalöse deutsche Verhandlungsführung. Staatssekretär
Altmaier sagt jetzt sogar voller Stolz, man habe „sehr viel
von der deutschen Philosophie in den Richtlinientext hineingebracht“. Dies bedeutet nichts anderes, als dass die
Verhängung von Abschiebungshaft nun in allen EU-Mitgliedsstaaten bis zu 18 Monate lang möglich ist - und das
für Personen, die kein Verbrechen begangen haben, sondern einzig und allein einen Asylantrag gestellt haben.
Im vorliegenden Antrag hatten wir die Bundesregierung aufgefordert, im Rahmen der deutschen EU-Präsidentschaft, aber auch darüber hinaus darauf hinzuwirken, dass bei einer europäischen Regelung von
Rückführungen humanitäre Standards gewahrt und ausgebaut werden. Diesem Anspruch ist die Bundesregierung definitiv nicht gerecht geworden. Ich kann nur
hoffen, dass die Abgeordneten des Europäischen Parlaments, denen die Rückführungsrichtlinie am 18. Juni
2008 zur Abstimmung vorliegt, sich mehrheitlich gegen
den Entwurf entscheiden, weil er definitiv menschen- und
flüchtlingsrechtlichen Mindeststandards nicht genügt.
Meine Fraktion setzt sich seit langem dafür ein, die
Anordnungsdauer von Abschiebehaft auf ein Mindestmaß
zu begrenzen. Wir vertreten die Position, dass Abschiebehaft lediglich der Sicherung einer Abschiebung dienen
darf. Das heißt, nur dann, wenn sich jemand der Abschiebung erkennbar entziehen will, darf Abschiebehaft verhängt werden. Wenn das in dieser Art und Weise durchgeführt würde, könnte, nebenbei bemerkt, eine große Anzahl
der in Deutschland befindlichen Abschiebehaftanstalten
geschlossen werden. Des Weiteren setzen wir uns seit langem dafür ein, dass Minderjährige nicht inhaftiert werden dürfen; denn die schwerwiegenden psychischen Folgen, die Haft besonders auf Kinder und Jugendliche
haben kann, sind offensichtlich und bedürfen, glaube ich,
keiner weiteren Erläuterung.
Bei Rückführungen von Flüchtlingen muss aus grüner
Sicht die Einhaltung menschenrechtlicher Normen wirksam gewährleistet sein. Das gilt insbesondere für den
Vollzug der Abschiebehaft und für die Anwendung unmittelbaren Zwangs bei Abschiebungen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Die Bundesregierung hätte bei den Verhandlungen um
eine Rückführungsrichtlinie der EU viel stärker auf die
Gewährleistung folgender Grundsätze hinzuwirken müssen: Schutzbedürftige dürfen nicht abgeschoben werden.
Familien dürfen durch Rückführungsmaßnahmen nicht
getrennt werden. Der Zugang zu wirksamen Rechtsmitteln muss gewährleistet sein. Abschiebehaft muss vermieden und begrenzt werden. Humanitäre Standards bei
Flugabschiebungen müssen verbessert werden. Unabhängige Überprüfung - sogenanntes Monitoring - muss
gewährleistet sein.
Im Interesse des Flüchtlingsrechts und der Menschenrechte bitte ich Sie um Zustimmung zu unserem Antrag.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Innenausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
16/7347, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/4851 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen von Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der Fraktionen Die
Linke und FDP angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({0}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Weißbuch
Gemeinsam für die Gesundheit: Ein strategischer Ansatz der EU für 2008 - 2013 ({1})
KOM ({2}) 630 endg.; Ratsdok. 14689/07
- Drucksachen 16/7575 Nr. 1.5, 16/9412 Berichterstattung:
Abgeordnete Jens Ackermann
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Michael
Hennrich, CDU/CSU, Dr. Wolfgang Wodarg, SPD, Jens
Ackermann, FDP, Dr. Ilja Seifert, Die Linke, Dr. Harald
Terpe, Bündnis 90/Die Grünen, und der Parlamentarischen Staatssekretärin Marion Caspers-Merk.
Mit der Beschlussempfehlung und dem Bericht des
Ausschusses für Gesundheit zu der Unterrichtung durch
die Bundesregierung zum „Weißbuch Gemeinsam für die
Gesundheit: Ein strategischer Ansatz der EU für 2008 bis
2013“ möchten wir ein Zeichen setzen; ein Zeichen, dass
der Bundestag Anteil an der Diskussion auf der europäischen Ebene nimmt und die Europäische Kommission in
Ihrem Bemühen der klaren Kompetenzaufteilung unterstützen möchte.
Dabei ist gleich zu Beginn anzumerken, dass die Gesundheitsstrategie als ein kohärenter Politikansatz der
europäischen Gemeinschaftspolitiken ausdrücklich zu
begrüßen ist und das die effektive Umsetzung der Strategie unterstützt werden soll. Grundlage ist hier aber im
EU-Vertrag vor allem Art. 152. Er stellt klar, dass die Tätigkeit der Gemeinschaft auf dem Gebiet der Gesundheitspolitik die Politik der Mitgliedstaaten ergänzt, die
Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten fördert und deren
Tätigkeit unterstützt. Außerdem wird dort festgestellt,
dass die Verantwortung der Mitgliedstaaten für die Organisation des Gesundheitswesens und die medizinische
Versorgung in vollem Umfang gewahrt wird.
Der Entschließungsantrag entstand aus der Einschätzung von Abgeordneten des Deutschen Bundestages, dass
die Kommission mit Ihrem Ansinnen im Weißbuch Gesundheit stellenweise zu weit gehen und dabei die vorgegebene Kompetenzverteilung, also letztlich das Subsidiaritätsprinzip verletzen könnte. Darauf möchten wir
hiermit aufmerksam machen. Die Regelungen im EU-Vertrag gilt es daher zu schützen, wie Erfahrungen mit der
Dienstleistungsrichtlinie und der Offenen Methode der
Koordinierung deutlich gezeigt haben.
Die Bundesregierung wird mit der vorliegenden Entschließung aufgefordert, bei der Erarbeitung der
Schlussfolgerungen zur Umsetzung die vom Deutschen
Bundestag eingenommene Position zu beachten. Besondere Bedeutung kommt der autonomen Zuständigkeit der
Mitgliedstaaten auf nationaler, regionaler und kommunaler Ebene für den Gesundheitsbereich zu und damit auch
der Beachtung, dass es zu keiner Aushöhlung dieser
Kompetenzen kommt. Diese Kompetenzwahrung steht
nicht im Gegensatz zu einer europäischen Zusammenarbeit, im Gegenteil: Bereits seit langem arbeiten wir mit
den anderen Mitgliedstaaten der EU zusammen und lernen voneinander. Dies geschieht jedoch nicht aufoktroyiert, sondern freiwillig im Rahmen des Best-Practice-Ansatzes.
Für weiter gehende Initiativen stellt sich immer die
Frage nach dem Mehrwert gemeinschaftlichen Handelns.
Aus Sicht des Deutschen Bundestages sollte ein Handeln
auf europäischer Ebene im Gesundheitsbereich nur an
denjenigen Stellen geschehen, wo ebendieser Mehrwert
identifiziert wird - und dann nicht durch Vergemeinschaftung des entsprechenden Bereichs, sondern - wie auch im
EU-Vertrag vorgesehen - durch Einzelermächtigungen in
Bezug auf das konkrete Anliegen. Einzelermächtigungen
haben sich beispielsweise im Arzneimittelsektor als sinnvoll erwiesen. So wird seitdem über die Arzneimittelzulassung auf europäischer Ebene entschieden, was den
Verbrauchern unter anderem günstigere Preise und den
Unternehmen einen größeren Absatzmarkt beschert.
Aber auch hier zeigt sich, dass dies allenfalls eine ergänzende Initiative sein sollte, denn die Diskussion um die
europäische Arzneimittelzulassung sollte nicht zum
Nachteil kleiner und mittlerer Hersteller vonstatten gehen. Deshalb sollte es mit Einschränkungen auch bei nationalen Zulassungsmöglichkeiten bleiben. Daher ist der
geforderte Mehrwert aus deutscher Sicht sozusagen das
Herzstück der europäischen Gesundheitsstrategie und
damit zentraler Bestandteil der Feststellungen des Deutschen Bundestages. Ein gemeinsames Handeln im Gesundheitsbereich ist nur dann notwendig, wenn dies einMichael Hennrich
zelstaatlich nicht erreicht werden kann. Die von der
Bundesregierung signalisierte Bereitschaft, dieses Anliegen in die Ratsberatungen einzubringen, begrüße ich daher sehr.
Der Deutsche Bundestag erkennt an, dass es neue gesundheitliche Herausforderungen gibt, wie auch die
Kommission sie in ihrem Weißbuch beschreibt. Hierzu gehören die demografische Entwicklung samt ihren Folgen,
Gesundheitsgefahren wie Pandemien, übertragbare
Krankheiten, Bioterrorismus und Auswirkungen des Klimawandels sowie die rasche Entwicklung neuer Technologien. Hier müssen neue Wege beschritten und Lösungen
gesucht werden. Ich möchte daher an dieser Stelle der
Kommission danken, dass sie darauf aufmerksam macht
und Lösungsvorschläge unterbreitet. Wir unterstützen die
Europäische Union bei ihrem Tätigwerden auf diesen Gebieten.
Insofern ist das Weißbuch eine gute Grundlage, da aktuelle Herausforderungen darin benannt werden. Es ist
das Ergebnis umfangreicher Konsultationen der Kommission aus den Jahren 2004 bis 2007. Das Weißbuch
stellt einen strategischen Ansatz vor, der für die Jahre
2008 bis 2013 gelten und danach überarbeitet werden
soll. Zum ersten Mal wird hierfür eine einheitliche Strategie festgelegt. Darin sind vier zentrale Prinzipien und
drei strategische Themenschwerpunkte vorgesehen.
Es ist wichtig, uns die zentralen Prinzipien in Erinnerung zu rufen, gemeinsame Werte als Grundlage der Strategie; Gesundheit als Grundvoraussetzung für Wachstum
und Wohlstand; Gesundheit in allen Politikbereichen;
mehr Mitsprache der EU in der globalen Gesundheitspolitik. Konkrete Maßnahmen gibt es dazu viele. Nennen
möchte ich hier beispielhaft die Annahme einer Erklärung über grundlegende Gesundheitswerte, eine stärkere
Einbeziehung von Gesundheitsaspekten in alle Politikbereiche der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten, die
Stärkung des Gemeinschaftsstatuts in internationalen Organisationen und der Zusammenarbeit in Gesundheitsfragen mit strategischen Partnern und Ländern sowie einen Gemeinschaftsrahmen für sichere, hochwertige und
effiziente Gesundheitsdienstleistungen.
Die Kommission plant mit dem Weißbuch des Weiteren
auch die Schaffung eines Mechanismus der strukturierten
Zusammenarbeit zur Einbindung der Mitgliedstaaten und
anderer Stakeholder. Damit soll die Gesundheit verstärkt
in alle Politikbereiche einbezogen werden. Dies würde
der Kommission grundlegend erlauben, bestehende Mechanismen zu ersetzen, Prioritäten zu setzen, Indikatoren
festzulegen, Leitlinien und Empfehlungen auszusprechen
und Fortschritte zu evaluieren. Diesen Mechanismus
beurteilt der Deutsche Bundestag kritisch. Es wird darin
eine zunehmende Vergemeinschaftung des Gesundheitsbereichs, ein weiteres Ausufern der Organisation und Bürokratie sowie ein Übergehen der Bedürfnisse der Mitgliedstaaten befürchtet. Wir haben bereits mit der Offenen
Methode der Koordinierung die Erfahrung gemacht, dass
ein derartiger neuer Mechanismus dazu führen kann,
dass Kompetenzen auf der EU-Ebene konzentriert werden und er sich der parlamentarischen Kontrolle entzieht.
Am besten sichtbar ist dies im Bereich des Sozialschutzes.
Die Regelungen sind dort mittlerweile sehr weitgehend
und greifen in mitgliedstaatliche Kompetenzbereiche ein
ohne dass dies vertraglich so vorgesehen war.
In der vorliegenden Beschlussempfehlung finden sich
zehn Feststellungen und vier Forderungen. Im Folgenden
werde ich daher zunächst auf einige der Feststellungen
eingehen.
Die zentrale Feststellung zielt darauf ab, die im Weißbuch angesprochene originäre Zuständigkeit der Mitgliedstaaten durch deren nationale, regionale und kommunale Ebene zu schützen. Die von der Kommission
angesprochene Verlagerung der Kompetenzen auf die
EU-Ebene hinterfragt der Bundestag - wie bereits angesprochen - gerade auch im Zusammenhang mit dem geplanten Mechanismus der strukturierten Zusammenarbeit kritisch.
Es ist ja nicht so, dass wir nicht bereits zusammenarbeiten würden; denn im nichtharmonisierten Bereich gibt
es bereits eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten, ihre
Politiken zu koordinieren. Ein Tätigwerden der Union
setzt hier daher eine Ermächtigung voraus. Dies ist beispielsweise in der Zusammenarbeit bei Fragen der Aidsstrategie oder beim Themenfeld Ernährung und Bewegung geschehen und wurde dort auch positiv vermerkt.
Der Bundestag begrüßt daher das bewährte und grundlegende Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung. Wir
haben bereits genügend Instrumente, um sinnvoll zusammenarbeiten zu können. Wir brauchen daher die strukturierte Zusammenarbeit im Gesundheitsbereich nicht.
Denn auch hier stellt sich die bereits eingangs skizzierte
Frage nach dem Mehrwert, der klar identifizierbar sein
sollte und keine neuen Gremien schafft. Ich kann diesen
Mehrwert hier nicht erkennen und spreche mich daher
klar gegen diesen neuen Mechanismus aus.
Ein weiterer wichtiger Aspekt bezieht sich auf die Bürokratie. Der Deutsche Bundestag lehnt die zunehmenden
Berichtspflichten ab und fordert eine Verschlankung bestehender Strukturen, eine Verschlankung, die die bestehenden Gremien bündelt und damit die Entscheidungsund Konsultationsprozesse transparenter und sichtbarer
gestaltet und Doppelarbeit vermeidet. Eine - wie von der
Kommission vorgesehen - kohärente Gesundheitsstrategie bietet eine einzigartige Möglichkeit, um bisherige
Strukturen zu überdenken sowie über Zusammenlegungen
und effektivere Nutzungen neu zu ordnen, also um unnötige Bürokratie abzubauen. Hier lohnt es sich, mutig voranzugehen.
Schließlich könnte man sich nun fragen, warum wir
nicht weiter gehen beziehungsweise warum wir gegen
weiter gehende Kompetenzen sind. Hier sind ganz klar
die Komplexität und unterschiedlichen historischen Wurzeln sowie die daraus folgenden Unterschiede der Gesundheitssysteme in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union zu nennen. Sie unterscheiden sich vor allem
in ihren jeweiligen Finanzierungssystemen, dem Kreis
der Versicherten beziehungsweise der Leistungsberechtigten, dem Umfang des Leistungsrahmens sowie den sozial- und gesundheitsökonomisch relevanten Kennzahlen.
Zu Protokoll gegebene Reden
In Europa lassen sich im Wesentlichen zwei Modelle
von Gesundheitssystemen unterscheiden: Das BeveridgeModell, das sich in der Finanzierung primär auf Steuern
stützt, ist in den nordeuropäischen Ländern sowie in Irland und dem Vereinigten Königreich anzutreffen. Auch
südeuropäische Länder wie Spanien, Portugal und Griechenland sind seit den 80er-Jahren eher dieser Gruppe
zuzurechnen. Das Bismarck-Modell mit der gesetzlichen
Krankenversicherung ({0}) ist hingegen in fast allen
mitteleuropäischen und seit etwa zehn Jahren auch in nahezu allen osteuropäischen Ländern verbreitet. Diese
Modelle lassen sich noch ausdifferenzieren hinsichtlich
der genauen Finanzierung. Zu betrachten ist auch die
Möglichkeit in den einzelnen Ländern, sich noch zusätzlich zu versichern als Substitut, Ergänzung oder Zusatz.
Dies enthält aus meiner Sicht zwei wichtige Feststellungen: Zum einen sind diese Systemunterschiede mit
quantifizierbaren Zielen, wie sie im Weißbuch gefordert
werden, nicht vereinbar. Gerade auch angesichts der originär nationalstaatlichen Zuständigkeit ist eine Quantifizierung kritisch zu beurteilen und deshalb nicht möglich
als verpflichtende Form der Zusammenarbeit. Zum anderen hat die Unterschiedlichkeit der Systeme auch Auswirkungen auf die Bildung von Indikatoren auf europäischer
Ebene. So ist die Datenlage oft unbefriedigend, und damit
ist die weitere Verarbeitung und letztlich die Vergleichbarkeit der Daten nicht gewährleistet. Hier ist es bedeutsam, eine bessere Lösung zur Erhebung der Daten und
deren Weiterverwendung zur Definition, Erstellung und
seriösen Interpretation von Indikatoren zu finden. In Gebieten, in denen ein Mehrwert in der Zusammenarbeit auf
europäischer Ebene erkannt wurde, sollten die Mitgliedstaaten dann auch freiwillig vermehrt in den Prozess der
Indikatorenerhebung und -verarbeitung einbezogen werden. Fundierte Daten tragen zu einer besseren Vergleichbarkeit und zu einer größeren Transparenz bei. Dies gilt
es aus Sicht des Deutschen Bundestages zu fördern.
All diese Feststellungen münden schließlich in besagte
vier Forderungen an die Bundesregierung ein, welche
auch zuvor immer wieder angesprochen wurden. Diese
besagen in gekürzter Form letztlich Folgendes: Autonomie im Gesundheitsbereich ohne weitere Aushöhlung der
Kompetenzen; Ablehnung der strukturierten Zusammenarbeit, wenn diese die Schaffung neuer Institutionen beinhaltet; effektivere Nutzung bestehender Strukturen und
Konzentration auf Bereiche, in denen ein europäischer
Mehrwert identifiziert wurde und wo sich grenzüberschreitende Herausforderungen stellen, Ablehnung der
Festlegung quantifizierter Ziele und damit der politischen Bindung der Mitgliedstaaten in einem ihrer originären Kompetenzbereiche. Mit diesen Forderungen soll
möglichen Fehlentwicklungen auf europäischer Ebene
entgegengewirkt und damit ein konstruktiver Beitrag zur
zentralen Stellung der ({1}) Gesundheitspolitik
gelegt werden.
Aus Sicht der CDU/CSU-Fraktion ist die Wahrung der
Souveränität ein Kernanliegen. Zusammenfassend ist
noch einmal zu sagen, dass eine Offenheit für eine Zusammenarbeit im Gesundheitsbereich auf europäischer
Ebene zwar nicht kategorisch ausgeschlossen wird. Diese
wird jedoch nur dann begrüßt, wenn dabei ein Mehrwert
identifiziert werden kann, also beispielsweise in Fällen,
in denen es sich um grenzüberschreitende Herausforderungen handelt. Die Schaffung einer strukturierten Methode der Zusammenarbeit sehen wir - wie bereits zuvor
angeführt - aufgrund der Erfahrung aus der Einführung
der Offenen Methode der Koordinierung, beispielsweise
im Bereich Sozialschutz, sehr kritisch und hinterfragen
die Notwendigkeit. Schließlich wird die Einführung quantifizierter Ziele hinterfragt und stattdessen die bewährte
Methode des gegenseitigen Lernens durch Erfahrungsaustausch befürwortet.
Die Rolle der Europäischen Union im Gesundheitsbereich ist daher aus meiner Sicht hauptsächlich die eines
Moderators und Motivators. Es sollte für sie darum gehen, den Austausch über die jeweiligen Erfahrungen der
Mitgliedstaaten im Gesundheitsbereich voranzutreiben
und im Rahmen des freiwilligen Best-Practice-Ansatzes
Verbesserungen zu erreichen. Dies entspricht einer Hilfe
zur Selbsthilfe. Die EU würde damit die Mitgliedstaaten
in die Lage versetzen, ihre selbst gesetzten gesundheitspolitischen Ziele zu realisieren. In den konkreten Bereichen, in denen im Rahmen dieses Austauschs ein Mehrwert im gemeinsamen europäischen Vorgehen erkannt
wurde, kann die Europäische Union auch ermächtigt
werden, selbst als Akteur in Erscheinung zu treten und ein
gemeinsames Vorgehen zu erarbeiten.
Die Rezeption der Beschlussempfehlung ist eindeutig.
Sie wurde von allen Fraktionen unterstützt und mit nur einer Enthaltung angenommen. Anders ausgedrückt könnte
man auch sagen, dass sie von keiner der Fraktionen abgelehnt wurde. Dies ist ein deutliches Zeichen.
Daher möchte ich zum Schluss nochmals besonders
die Unterstützung durch die Bundesregierung hervorheben. Ich begrüße es persönlich sehr, dass die Bundesregierung dieses Zeichen ernst nimmt und die Position des
Deutschen Bundestages in der Sitzung des Rates für Beschäftigung, Sozialpolitik, Gesundheit und Verbraucherschutz am 9. und 10. Juni 2008 in Luxemburg einbringen
wird. Für die Verhandlungen wünsche ich der Bundesregierung viel Erfolg.
Ich hoffe, dass das Zeichen dieser Entschließung auf
europäischer Ebene wohlwollend aufgenommen wird und
dass die Entschließung einen Beitrag zur Wahrung der
autonomen Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten, einer
klaren Kompetenzverteilung und der nachhaltigen Suche
nach einem europäischen Mehrwert leistet.
Mit der kritischen Bewertung der von der Kommission
vorgeschlagenen sogenannten strukturierten Zusammenarbeit haben wir klargemacht, dass Gesundheit in
Deutschland - wie in den meisten anderen europäischen
Ländern - ein wichtiger Bereich staatlicher Daseinsvorsorge ist und bleiben soll. Die Europäische Union kümmert sich zunehmend auch um den europäischen Binnenmarkt „Gesundheit“, und es ist nicht zu leugnen, dass
sich in Europa längst ein großer Wirtschaftsbereich entwickelt hat, der uns grenzüberschreitend mit Arzneimitteln, Medizintechnik, Hilfsmitteln und zunehmend auch
mit Dienstleistungen versorgt. Auch staatliche GesundZu Protokoll gegebene Reden
heitssysteme, wie die skandinavischen, das spanische
oder das britische, kaufen Leistungen auf diesem überstaatlichen Markt; doch sie organisieren ihr System autonom und, den Prinzipien der Subsidiarität folgend, auf
nationaler Ebene. Diese Länder sind stolz, wenn sie ihre
Bevölkerung auf hohem Niveau gesund halten und alt
werden lassen können und dafür möglichst wenig der so
kostbaren öffentlichen Ressourcen einsetzen müssen.
Wir in Deutschland sind bisher nicht so klar davor:
Wer demnächst die Berliner Gesundheitstage besucht,
wird dort von den Epigonen des boomenden Gesundheitsmarktes belagert werden, die vom „Wachstumsmotor Gesundheitswesen“ sprechen und hierbei von volkswirtschaftlicher Effizienz so wenig hören mögen wie die
Zigarettenindustrie vom Nichtraucherschutz. Effiziente
Gesundheitspflege ist jedoch nicht nur ethisch gebotene
Daseinsvorsorge, sie ist auch die Voraussetzung für einen
nachhaltigen staatlichen Ressourceneinsatz im Wettlauf
der Nationen um globalen Einfluss und wirtschaftliche
Macht. Ein Staat, der wie zum Beispiel Finnland seine
Menschen mit wenig Aufwand auf hohem Niveau gesund
hält, kann die gesparten Mittel in die Bildung stecken und
damit erheblich effizienter sein als sein Konkurrent
Deutschland, der schon einen weit größeren Anteil seiner
Wirtschaftskraft im Gesundheitswesen verpulvert. Der
Markt kann einer effizienten Daseinsvorsorge dienlich
sein. Die Daseinsvorsorge selbst aber nach den Regeln
des Marktes zu bewerten oder gar zu ordnen, das würde
die Staaten Europas schwächen und vor allem der Gesundheit seiner Einwohner abträglich sein - freut sich
doch der Markt über jeden Patienten.
Wir sind in unserem Antrag einen Kompromiss mit dem
Koalitionspartner eingegangen, der die nationale Zuständigkeit für Gesundheit betont und einfordert, der aber
auch gewährleisten soll, dass in Zukunft auf europäischer
Ebene die Gesundheitssysteme sinnvoll miteinander verglichen und evaluiert werden können. Wir wollen, dass
die Nationalstaaten gerade im gesundheitspolitischen
Bereich, das Subsidiaritätsprinzip verteidigen und dass
das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung gewahrt
bleibt. Neue koordinierende Strukturen dürfen nicht dazu
führen, dass eine schrittweise Aushöhlung der mitgliedstaatlichen Kompetenzen bei gleichzeitig minimaler Kontrolle durch das Parlament erfolgt.
Dennoch halte ich den Vorschlag der Kommission in
einem wichtigen Punkt für positiv, und dieser hätte meines Erachtens in dem Entschließungsantrag noch deutlicher zum Ausdruck kommen können: Die Kommission
will innerhalb der Europäischen Union Voraussetzungen
dafür schaffen, dass die europäischen Gesundheitssysteme miteinander verglichen werden können. Unser Ziel
muss doch sein, langfristig einen möglichst gleichmäßig
hohen qualitativen und quantitativen Versorgungsstand
in der Europäischen Union zu erreichen.
So hat zum Beispiel die PISA-Studie einen positiven
Effekt auf die teilnehmenden Länder, da diese gezwungen
werden, sich dezidiert mit den Schwächen des eigenen
Bildungssystems auseinanderzusetzten. Für Deutschland, so verheerend die ersten Ergebnisse auch waren,
hat diese eine breite bildungspolitische Debatte ausgelöst
und zu vielen guten neuen Ansätzen und Qualitätsverbesserungen des Bildungsangebotes geführt.
Es ist wichtig, dass wir den Wettbewerb um die effizientesten Gesundheitsysteme in Europa ermöglichen
und hier eine verbesserte Transparenz nicht scheuen.
Schlechte Erfahrungen bei der Methode der offenen
Koordinierung im sozialen Bereich sollten uns nicht entmutigen. Daher erachte ich eine demokratische Formulierung gesundheitspolitischer Endpunkte und die dazugehörige Indikatorenbildung als einen wichtigen
Mehrwert europäischer Kooperation im Gesundheitsbereich. Es ist mir eine Freude, festzustellen, dass die im
Antrag genannten Ziele auch von einer großen Mehrheit
der Gesundheitspolitikerinnen und -politiker getragen
werden.
Die Europäische Kommission hat im Oktober 2007
das Weißbuch „Gemeinsam für die Gesundheit: Ein strategischer Ansatz der EU für 2008 bis 2013“ vorgelegt,
mit dem der Gesundheit in politischen Strategien mehr
Gewicht gegeben werden soll. Nach der Unterzeichnung
des Lissabon-Vertrages erwartet die Kommission neue
Prioritäten auf Gemeinschaftsebene sowie eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten im
Gesundheitsbereich. Zentrale Herausforderungen sind
demnach die Überalterung der Gesellschaft, neue Gesundheitsgefahren wie Pandemien und die Entwicklung
und Anwendung neuer Technologien der Gesundheitsversorgung. Das Weißbuch ist in diesem Zusammenhang als
ein erster Ansatz einer kohärenten europäischen Politik
zu deuten, deren Ziel die Verankerung von Gesundheitsfrage als Querschnittsaufgabe ist. Dafür hat die Kommission vier Prinzipien entwickelt, von denen sie sich bei der
Formulierung von EG-Maßnahmen im Gesundheitswesen leiten lassen will. Obgleich die Kommission unterstreicht, dass die hauptsächliche Zuständigkeit bei den
Mitgliedstaaten liegt, hebt sie insbesondere im Zusammenhang mit der Unterzeichnung des Lissabon-Vertrages
eine stärkere eigene Kompetenz hervor. Hierzu hat sie
drei Ziele mit insgesamt zehn Maßnahmen vorgeschlagen, die von neuen Leitlinien für Krebsvorsorgeuntersuchungen über die Berücksichtigung von Gesundheitsaspekten der Anpassung an den Klimawandel bis hin zu
einem Gemeinschaftsrahmen für Gesundheitsdienstleistungen gehen. Als Durchführungsmechanismus sieht das
Papier das Verfahren der strukturierten Zusammenarbeit
vor.
Abgesehen von der Tatsache, dass die Kommission
hier auf Grundlage eines Vertrages argumentiert, der
noch nicht endgültig ratifiziert ist und der in Irland kommende Woche noch die Hürde des Referendums nehmen
muss, begrüßt die FDP das Vorhaben, der Gesundheitspolitik mit einem kohärenten Weißbuch einen größeren
Stellenwert zukommen zu lassen.
Allerdings müssen wir sehr genau hinsehen, wie die
Kommission sich die Umsetzung der Ziele und Maßnahmen vorstellt. Hier haben wir einige Bedenken, insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Gesundheitspolitik in
erster Linie Aufgabe der Mitgliedstaaten ist. Ich bin skepZu Protokoll gegebene Reden
tisch, ob das Weißbuch dieser Tatsache ausreichend
Rechnung trägt. Unzweifelhaft ist, dass überall dort, wo
eine europäische Zusammenarbeit zu wesentlich besseren
Ergebnissen führt, als wenn die einzelnen Länder diese
Themen isoliert angehen, eine sinnvolle Koordination gefördert werden muss. Für jedermann einleuchtend ist das
zum Beispiel bei der Abwehr beziehungsweise Bewältigung von Pandemien.
Für die FDP ist aber das Subsidiaritätsprinzip nach
wie vor ganz entscheidend, um gute Politikergebnisse erzielen zu können. Das bedeutet, dass die jeweils höhere
Ebene nur dann tätig werden soll, wenn die unteren Ebenen nicht in der Lage sind, die anstehenden Aufgaben zufriedenstellend zu lösen. Dies gilt auch und noch verstärkt nach der Ratifikation des Lissabon-Vertrages: Die
Gesundheitspolitik ist und bleibt ein nationales Politikfeld. Das muss auch die Kommission wissen. Die von ihr
vorgesehenen Zuständigkeiten bei der Umsetzung der
Zielvorgaben sprechen aber eine andere Sprache: Allein
acht der zehn Maßnahmen sollen ausschließlich in den
Kompetenzbereich der Kommission fallen, darunter Leitlinien für die Krebsvorsorgeuntersuchung und ein Gemeinschaftsrahmen für Gesundheitsdienstleistungen.
Mitgliedstaaten und Europäisches Parlament werden im
Weißbuch nicht ausreichend berücksichtigt.
Ich habe aber den Eindruck, dass hier schleichend ein
nationales Politikfeld erneut auf die europäische Ebene
gehoben werden soll. Insofern begrüßt die FDP auch den
Entschließungsantrag, der noch einmal verdeutlicht, dass
es nicht zu einer ungewollten Aufweichung nationaler
Kompetenzen kommen darf. Darüber hinaus unterstützen
wir die ablehnende Haltung im Hinblick auf den strukturierten Dialog, da dies mit der Bildung neuer europäischer Strukturen einhergeht. Mit dieser Art der sanften
Europäisierung haben wir im Zusammenhang mit der Offenen Methode der Koordinierung bereits Erfahrungen
machen dürfen. Soweit es nur um eine Fokussierung der
europäischen Koordinierung auf grenzüberschreitende
Bereiche kommt, können wir das begrüßen. Mit umfangreichen Berichtspflichten und quantifizierbaren Indikatoren sollte aber äußerst vorsichtig umgegangen werden.
Letztlich muss eine europäische Gesundheitspolitik
auf Bereiche begrenzt bleiben, die einen Mehrwert gegenüber nationalen Regelungen haben und keine neuen
Strukturen oder Europäisierungsprozesse nach sich ziehen. Aufgrund der dargelegten Bedenken unterstützen
wir den Entschließungsantrag.
Die Gesundheitspolitik ist, allen Versuchen, dies zu
ändern zum Trotz, noch immer in nationaler Verantwortung. Die EU kann dazu flankierend tätig werden, aber
nicht die Souveränität der Einzelstaaten unterlaufen.
Dieses Prinzip wird mit unserem gemeinsamen Entschließungsantrag gestärkt. Die Regierungskoalition, die FDP
und Die Linke unterstreichen gemeinsam, dass das Subsidiaritätsprinzip der EU im sozialen Bereich, der nach
Art. 152 des EG-Vertrages in der Verantwortung der einzelnen Mitgliedstaaten verbleibt, nicht unterlaufen werden darf. Insofern stellen wir die „strukturierte Zusammenarbeit“ des Weißbuch-Entwurfs infrage. Denn mit
dieser strukturierten Zusammenarbeit würde es der Kommission gestattet werden, bestehende Mechanismen zu
ersetzen, Prioritäten zu setzen, Indikatoren festzulegen,
Leitlinien und Empfehlungen auszusprechen und Fortschritte zu evaluieren. Einen solchen Eingriff in die Souveränität der Mitgliedstaaten lehnen die Fraktion Die
Linke und der Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundestages ab.
Die Festlegung von Indikatoren klingt zunächst einmal
ungefährlich, aber mit ihnen könnten dann die bisher
nicht näher erläuterten „quantifizierbaren Ziele“ definiert werden. Ohne Beteiligung der nationalen Parlamente bei der Erstellung der Indikatoren kann und soll
Deutschland dem Weißbuch nicht zustimmen. Ansonsten
würde dem wiederholten Ansatz Brüssels, die Souveränität der Mitgliedstaaten für die Gesundheitsversorgung zu
unterlaufen, nachgegeben werden.
Ich möchte aber auch klarstellen, dass das Weißbuch
durchaus gute Ansätze zeigt, die von uns unterstützt werden. So soll das Weißbuch auch dazu dienen, Gesundheit
in allen Politikbereichen zu etablieren, die Bedeutung der
Gesundheit der Bevölkerung als Voraussetzung für
Wachstum und Wohlstand zu begreifen und gemeinsame
Werte zur Grundlage der Gesundheitspolitik zu machen.
Es ist zweifelsohne eine wichtige Aufgabe der Mitgliedstaaten, sich stärker für die geriatrische Versorgung der
Bevölkerung einzusetzen und in gemeinsamen Anstrengungen gegen Infektionskrankheiten vorzugehen.
Da die Zuständigkeit für das Gesundheitswesen bei
den Mitgliedstaaten liegt, sollen sie eng in die Durchführung der Strategie eingebunden werden. Die Kommission
schlägt daher vor, einen neuen Mechanismus der strukturierten Zusammenarbeit im Gesundheitsbereich einzuführen. Dieser soll die Kommission beraten und die
Koordinierung zwischen den Mitgliedstaaten fördern. So
soll der Kooperationsmechanismus der Kommission unter anderem helfen, Prioritäten zu nennen, Indikatoren
festzulegen, Leitlinien und Empfehlungen zu erarbeiten,
den Austausch bewährter Verfahren zu fördern und Fortschritte zu bewerten. Da bleibt Die Linke skeptisch.
Wichtig für uns ist - nicht zuletzt infolge der wettbewerblichen Ausgestaltung der EU - die Beibehaltung des
Subsidiaritätsprinzips im Bereich Gesundheit. Im Weißbuch formulierte Ziele wie insbesondere die Verringerung
der gesundheitlichen Ungleichheit werden von uns unterstützt; wünschenswert wäre jedoch, wenn in einer gesundheitspolitischen Strategie der EU der Grundstein gelegt werden könnte für eine europäische Umverteilung
von Mitteln für den Aufbau funktionierender Gesundheitswesen in allen Mitgliedstaaten. Hiervon könnten vor
allem die neuen Mitgliedstaaten profitieren. Denn solange eine funktionierende Gesundheitsinfrastruktur
nicht gegeben ist, können gemeinsame Vorhaben wie eine
Abstimmung bei der Organspende und die Unterbindung
des Organhandels nicht wirkungsvoll angegangen werden.
Zu Protokoll gegebene Reden
Wenn wir heute über das Weißbuch Gesundheit debattieren, so debattieren wir zunächst einmal über eine Initiative der EU-Kommission, die in einigen Aspekten
durchaus zu begrüßen ist. Eine koordinierte Zusammenarbeit der EU-Mitgliedstaaten ist nämlich in solchen Bereichen sinnvoll, in denen die einzelnen Staaten einem
Problem nicht wirksam begegnen können, wie beispielsweise beim Kampf gegen Pandemien oder gegen den Organhandel. Auch die Formulierung von Gesundheitszielen auf europäischer Ebene kann durchaus sinnvoll sein,
wenn sie von den einzelnen Mitgliedern als Aufforderung
verstanden wird, Defizite im eigenen Land zu bekämpfen
oder positive Erfahrungen aus den europäischen Nachbarländern zu übernehmen. In den letzten Jahren konnten
wir auf EU-Ebene allerdings vielfach Bestrebungen beobachten, auch die Gesundheitspolitik in vielen Bereichen EU-weit zu harmonisieren. Dahinter steckt ein Denken, das das Gesundheitswesen an sich nicht mehr als
einen Teil der Daseinsvorsorge eines Staates, sondern als
Wirtschafts- und Dienstleistungsbranche ansieht, in der
es sämtliche Hindernisse und Unterschiede zu beseitigen
gilt. Davor kann ich nur warnen. Mit diesem Weißbuch
wird ein Konzept vorgelegt, das die Schaffung eines sogenannten einheitlichen strategischen Ansatzes vorschlägt.
Dafür setzt die EU-Kommission unter anderem Themenschwerpunkte fest, die durchaus begrüßenswert sind, beispielsweise die Förderung der Gesundheit in einer alternden Gesellschaft oder den Schutz der Bürger vor
Gesundheitsgefahren. Das Mittel zur Umsetzung, das die
Kommission dafür wählt, geht allerdings weit über eine
einfache koordinierte Zusammenarbeit hinaus, sogar
weit über das hinaus, was der EG-Vertrag in Art. 152 vorsieht. Die Kommission kündigt einen neuen Mechanismus
der „Strukturierten Zusammenarbeit“ an, der die Kommission befähigen soll, „Prioritäten zu nennen, Indikatoren festzulegen, Leitlinien und Empfehlungen zu erarbeiten, den Austausch bewährter Verfahren zu fördern und
Fortschritte zu bewerten“. Damit begibt sie sich in die
Rolle des federführenden Akteurs, der nicht nur - wie vom
EG-Vortrag eigentlich vorgesehen - die Politik der Mitgliedstaaten ergänzt und gegebenenfalls unterstützt. Die
Kommission billigt sich vielmehr selbst - sowohl inhaltlich als auch methodisch - eine Funktion zu, die ihr rechtlich nicht zusteht und die zudem die Gefahr einer ungerechtfertigten Bürokratieerweiterung birgt. Bereits heute
schafft die sogenannte Offene Methode der Koordinierung einen Mechanismus, der die klaren Zuständigkeiten
der Mitgliedstaaten zu verwischen droht und der nahezu
keiner parlamentarischen Kontrolle unterliegt. Noch einmal: Es geht uns nicht um die Ablehnung jeglicher Koordinierungstätigkeit seitens der EU. In Einzelfällen, in denen daraus für die Mitgliedstaaten ein Mehrwert entsteht,
weil die zu bewältigenden Probleme grenzübergreifend
sind, ist dies durchaus sinnvoll. Eine solche Koordinierung kann aber auch im Rahmen von Einzelermächtigungen stattfinden und bedarf keiner umfassenden Übertragung von Kompetenzen für einen Bereich, in dem nach
Art. 152 Abs. 5 die „Verantwortung der Mitgliedstaaten
für die Organisation des Gesundheitswesens und die medizinische Versorgung in vollem Umfang“ gewahrt bleiben soll.
Der ursprüngliche Entwurf des heute abgestimmten
Entschließungsantrags der Koalitionsfraktionen hat
diese Aspekte klar benannt. Leider wurde diese Klarheit
bei der anschließenden Abstimmung mit dem Bundesministerium für Gesundheit sehr reduziert. Aus diesem
Grund sehen sich die Mitglieder meiner Fraktion nicht in
der Lage, diesem Entschließungsantrag in seiner neuen
Form zuzustimmen.
Die Befassung mit dem von der EU-Kommission vorgelegten Weißbuch für eine EU-Gesundheitsstrategie gibt
uns die Gelegenheit, einige ganz wesentliche Punkte anzusprechen. Es geht dabei um die Haltung Deutschlands
zu grundsätzlichen Weichenstellungen für die Gesundheitspolitik auf europäischer Ebene.
Diese Überlegungen haben die die Regierungskoalition tragenden Fraktionen gemeinsam im vorliegenden
Entschließungsantrag zusammengefasst. Aus Sicht der
Bundesregierung möchte ich den Entschließungsantrag
nachdrücklich unterstützen. Es ist überaus erfreulich,
dass Parlament und Regierung bei diesem Thema an einem Strang ziehen.
Wir sind uns einig, dass die Initiative der EU-Kommission für eine Gesundheitsstrategie grundsätzlich die
Chance beinhaltet, den Stellenwert und die Sichtbarkeit
der europäischen Gesundheitspolitik als zentralen Politikbereich zu erhöhen. Gleichwohl muss unmissverständlich klargemacht werden: Die Verantwortung der Mitgliedstaaten für die Gestaltung und Steuerung der
Gesundheitssysteme darf nicht von der Gesundheitsstrategie infrage gestellt werden. Die geltende Kompetenzabgrenzung zwischen den Mitgliedstaaten und der Kommission muss gewahrt bleiben.
Es wird bei der Umsetzung der Gesundheitsstrategie
darauf zu achten sein, dass die Zuständigkeiten auch
nicht durch den beabsichtigten Mechanismus zur strukturierten Zusammenarbeit verwischt werden. Hier gilt genauso wie in der Offenen Methode der Koordinierung,
dass wir insbesondere die Festlegung von quantifizierten
Zielen auf EU-Ebene nicht akzeptieren sollten.
Darüber hinaus wäre der Versuch, die historisch gewachsenen und hochkomplexen Gesundheitssysteme
über verallgemeinerte europäische Zielvorgaben zu steuern, sowieso zum Scheitern verurteilt. So einfach geht das
nicht.
Wir begrüßen hingegen ausdrücklich eine europäische
Koordinierung und Zusammenarbeit in den Bereichen, in
denen ein klarer Mehrwert zu erkennen ist oder sich Herausforderungen grenzüberschreitend stellen, zum Beispiel bei der Bekämpfung von Aids oder bei einem
gemeinsamen Vorgehen zur Förderung von gesunder Ernährung und mehr Bewegung. Hier können wir durch
eine verbesserte europäische Kooperation Vorteile für die
Bürgerinnen und Bürger realisieren.
Zu Protokoll gegebene Reden
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Gesundheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 16/9412, in Kenntnis der Unterrichtung
eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen mit den Stimmen des
restlichen Hauses angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 29 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Bettina
Herlitzius, Cornelia Behm, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Mehr Engagement für eine nachhaltige Tourismusentwicklung - Ausweisung der CO2-Bilanz bei Pauschalreisen
- Drucksache 16/9346 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Tourismus ({0})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Klaus
Brähmig, CDU/CSU, Dr. Reinhold Hemker, SPD, Jens
Ackermann, FDP, Dr. Ilja Seifert, Die Linke, Bettina
Herlitzius, Bündnis 90/Die Grünen.
Der heute zu debattierende Antrag zum Thema „Mehr
Engagement für eine nachhaltige Tourismusentwicklung“ der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zielt vor allem darauf ab, Verbrauchern künftig durch die Ausweisung der mit einer Pauschalreise verbundenen CO2Emissionen die Möglichkeit zu geben, ihre Reiseentscheidung auch nach der Klimabelastung ihrer Reise zu treffen. Deshalb sollen alle Reiseveranstalter verpflichtet
werden, die transferbedingten CO2-Emissionen und alle
anderen klimawirksamen Emissionen von Pauschalreisen
in Katalogen, Broschüren, sonstigen Printmedien sowie
im Internet gut sichtbar auszuweisen. Zur Begründung
wird darauf verwiesen, dass die mit dem Tourismus verbundenen Probleme einen besonderen Stellenwert haben,
da der Tourismus etwa 5 Prozent der weltweiten CO2Emissionen verursacht und sich dieser Anteil aufgrund
hoher Wachstumsraten weiter vergrößern wird.
Die grundsätzliche Idee, den Verbrauchern mehr Informationen über die reisebedingte Umweltbelastung zur
Verfügung zu stellen, ist zu begrüßen. Diese Überlegung
sorgt aber für technische, organisatorische und finanzielle Probleme bei den Anbietern von Pauschalreisen.
Eine solche Auflistung für sämtliche im Rahmen einer
Pauschalreise gebuchten Verkehrsmittel wäre nicht nur
sehr aufwendig, sondern technisch schwer zu erstellen.
Bei der Angebotserstellung von Pauschalreisen stehen
die dabei genutzten Verkehrsmittel noch nicht fest. Dies
betrifft zum Beispiel unterschiedliche Flugzeugtypen
oder die Flugrouten, die vielleicht Zwischenlandungen
beinhalten. Die genaue Umrechnung auf den einzelnen
Passagier und damit auf die einzelne Reise hängt weiter
von der Auslastung sowie dem Frachtanteil des jeweiligen Fluges ab, was ebenfalls vorher nicht absehbar ist.
Dies wäre auch eine einseitige Belastung von Reiseveranstaltern gegenüber den Verkehrsträgern Bus, Bahn
etc., die diese Information nicht liefern müssten. Außerdem würde bei dieser Erhebungspraxis der hohe Anteil
der Geschäftsreisen nicht berücksichtigt.
Dennoch wäre es wünschenswert, wenn für alle Reisen
eine annäherungsweise CO2-Bilanz vorliegen würde.
Diese könnte beispielsweise durch Durchschnittswerte
des Flottenverbrauchs der einzelnen Verkehrsträger Bus,
Schiff, Bahn und Flugzeug errechnet werden. Wir sind allerdings absolut gegen eine gesetzliche Vorgabe, sondern
setzen auf freiwillige Selbstverpflichtung, und das aus gutem Grund: 1994 hat Friedemann Prose in seiner Studie
„Ansätze zur Veränderung von Umweltbewusstsein und
Umweltverhalten aus sozialpsychologischer Perspektive“ darauf hingewiesen, dass Selbstverpflichtungen die
größte Wirksamkeit beim Klimaschutz haben. Dort heißt
es:
Ein Klimaschutz-Marketing, mit dem eine nachhaltige Verhaltensänderung bewirkt werden soll,
müsste direkt und indirekt dazu beitragen, ein Gemeinwohldenken und -handeln sowie ein entsprechendes Problem- und Verantwortungsbewusstsein
zu entwickeln, bestärken und zu fördern.
Das kann nach Proses Ansicht nicht von außen erzwungen werden, sondern nur über die von innen kommende Motivation und die Verinnerlichung entsprechender Werte dauerhaft entstehen. Weiter heißt es dort:
Rein betriebswirtschaftliche Begründungen oder
ausschließliche Berechnungen der individuellen
Kosten/Nutzen-Relation wirken dem Gemeinwohldenken entgegen. Ordnungspolitische und finanzielle
Maßnahmen bedeuten äußeren Zwang bzw. externe
Anreize. Sie sind kaum geeignet, Einstellungen dauerhaft zu verändern und eine innere Motivation aufzubauen.
Selbstverpflichtung, Zielsetzungsprozeduren und Vorbildverhalten haben sich empirisch als wirksamste Instrumente einer langfristigen Verhaltensänderung erwiesen.
Insofern würde ich mir wünschen, dass beispielsweise
der besonders umweltfreundliche Verkehrsträger Reisebus mit der Bereitstellung von solchen Informationen zur
CO2-Bilanz seinen Beitrag zum Klimaschutz noch besser
darstellen könnte. Auch deutsche Fluggesellschaften verfügen aufgrund einer sehr modernen und verbrauchsarmen Flotte über einen Wettbewerbsvorteil gegenüber
vielen ausländischen Konkurrenten. Wenn sich die ersten
Reiseveranstalter mit solchen Angaben freiwillig profilieren, wird das geänderte Umweltbewusstsein automatisch
einen Druck auf die Branche erzeugen und ein langfristiges Umdenken in Gang setzen.
Wir sollten bei der ganzen Diskussion um die Nachhaltigkeit von Reisen nicht damit anfangen, Reiseziele geKlaus Brähmig
geneinander auszuspielen. Die gegenwärtige Debatte um
Einschränkungen bei Flugreisen zugunsten des Klimaschutzes lässt leider die vielen positiven Effekte von Flugreisen völlig außer Acht. Weltweit setzen viele Entwicklungsländer auf den Tourismus zur Armutsbekämpfung
und erwirtschaften damit dringend benötigte Devisen.
Aber auch in Deutschland sichert der Tourismus direkt
und indirekt fast 3 Millionen Arbeitsplätze - zu einem erheblichen Umfang auch durch Auslandsurlaub und Flugreisen. Gute Flugverbindungen sorgen im Übrigen mit
dafür, dass Deutschland große Zuwächse an ausländischen Gästen verzeichnen kann, deren Ausgaben deutlich
über denen der inländischen Gäste liegen.
Außerdem wurde im Luftverkehr durch immer effizientere Triebwerke, Flottenmodernisierungen und eine bessere Auslastung der Flugzeuge eine nachhaltige Reduzierung des Treibstoffverbrauchs erreicht. Ein Verbrauch
von 3 Litern auf 100 Kilometer pro Passagier ist hier
schon oft verwirklicht. Wichtige Schritte zur weiteren Reduzierung des Verbrauchs wären vor allem die Beseitigung von Engpässen in der Verkehrsinfrastruktur, zum
Beispiel im Bereich der Flugsicherung, dem bedarfsgerechten Ausbau von Flughäfen und dem Abbau unnötiger
Warteschleifen.
Weiterhin leistet der Tourismus auch einen wichtigen
Beitrag zur Völkerverständigung. Tourismus ist eine hervorragende Form der Außenpolitik, da das Kennenlernen
anderer Kulturen die Wahrscheinlichkeit feindlicher
Handlungen oder kriegerischer Auseinandersetzungen
wesentlich verringert. Diese Aspekte des Reisens sollten
Sie, liebe Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen, nicht
vernachlässigen. Gerade Sie fordern doch sonst immer
ganzheitliche Politikansätze.
Abschließend möchte ich noch auf die Forderung eingehen, der Bund solle sich als Eigentümer der Deutschen
Bahn AG dafür einsetzen, dass die Bahn künftig ausschließlich Strom aus erneuerbaren Energiequellen bezieht. Die Atomkraft aus Sicht des Klimaschutzes und aus
Kostengründen aus der Betrachtung auszuschließen,
zeigt schon Ihre rein ideologische und nicht von Logik geprägte Denkweise. Die Verteuerung der Bahnfahrkarten
durch Ökostrom wird sicherlich nicht die Attraktivität der
Bahn steigern. Es ist eher zu befürchten, dass der Pkw
dann vergleichsweise doch wieder ein günstiges Verkehrsmittel bleibt. Aber auch hier ist ja noch ein Umdenken
möglich. Vielleicht werde ich noch erleben, dass grüne
Politiker mit Transparenten für den Bau neuer moderner
Atomkraftwerke demonstrieren. Das wäre ein effizienter
Weg, den Klimawandel zu gestalten, und er wird von fast
allen westlichen Ländern - mit Ausnahme Deutschlands beschritten. Zwei Spitzenfunktionäre der Grünen haben
ja nach ihrem Ausscheiden aus dem Parlament das
Potenzial der Atomenergie für sich schon erkannt.
Der vorliegende Antrag befasst sich mit einem Teilaspekt der gesamten Bemühungen für den Klimaschutz, insbesondere durch die Minderung der CO2-Emissionen. In
den Antrag eingearbeitet sind Erkenntnisse, die in den
Berichten der Bundesregierung seit langem vorgelegt
wurden und werden. Im Feststellungsteil werden teilweise
Fakten genannt, auf die sich auch die Bundesregierung
im letzten Tourismusbericht, Drucksache 16/8000, bezogen hat. Dazu gehört die Feststellung, dass der Tourismus nach Schätzung der Welttourismusorganisation,
UNWTO, derzeit etwa 5 Prozent der weltweiten CO2Emissionen verursacht, genauso wie der Verweis auf die
doppelte Verknüpfung von Tourismus und Klimawandel.
Denn zum einen ist eine intakte Umwelt eine der wichtigsten Rahmenbedingungen für einen Tourismusstandort,
zum anderen werden gerade auch durch den Tourismus
Umweltbelastungen verursacht, die zum Klimawandel
beitragen.
Positiv ist an dem Antrag, dass bezogen auf den Bereich Tourismus auf denkbare und bereits existente Initiativen wie zum Beispiel die Initiative von atmosfair eingegangen wird.
Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass eine isolierte
Initiative, wie im Antrag von Bündnis 90/Die Grünen intendiert, nicht losgelöst von dem ambitionierten Gesamtkonzept der Bundesregierung für einen wirksamen
Klimaschutz verfolgt werden sollte. Ziel aller Einzelbemühungen in der Energie- und Umweltpolitik muss die Sicherstellung von Versorgungssicherheit, Wirtschaftlichkeit und Umweltverträglichkeit sein. Das Ziel einer
besseren CO2-Bilanz soll weder die Wettbewerbsfähigkeit
der Unternehmen einschränken noch die Verbraucher
überfordern. Klimaschutz muss Teil und nicht Hemmschuh einer modernen ökonomischen Entwicklung sein.
Durch den Anstieg der Preise für fossile Energie,
durch die Möglichkeiten für Wertschöpfung und Beschäftigung bei der Ausweitung der erneuerbaren Energien
und durch die großen Potenziale der Technik für erneuerbare Energien für neue Exportmärkte erbringt Klimaschutz bereits heute mehr, als dass er „kostet“. Dieser
Tenor sollte in allen Bemühungen zum Klimaschutz herausgestellt werden.
Hingewiesen werden muss ebenfalls darauf, dass einzelne im Antrag von Bündnis 90/Die Grünen erwähnte
Maßnahmen ohnehin bereits zum Beispiel von den Verkehrspolitikern, die Verantwortung im Bereich der Deutschen Bahn AG tragen, im Rahmen ihrer jeweiligen Zuständigkeit verfolgt werden. Das gilt nicht nur für die
Nutzung von Strom aus erneuerbaren Energiequellen,
sondern für die gesamten auf Nachhaltigkeit ausgerichteten Maßnahmen im Bereich der Deutschen Bahn AG.
Regierungsamtlich verordnet werden können solche
Maßnahmen, wie sie im Antrag genannt werden, ohnehin
eher nicht.
Zudem ist die Bundesregierung derzeit dabei, die Empfehlungen der UN-Klimakonferenz auf Bali umzusetzen.
Dazu gehört unter anderem auch die im Antrag von
Bündnis 90/Die Grünen erwähnte europäische Initiative
zur Abschaffung der Steuerbefreiung von Kerosin.
Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass bei den
jetzt laufenden Zwischenabstimmungen für die BaliNachfolgekonferenz im Jahr 2009 in Kopenhagen der Bereich des Flugverkehrs elementarer Bestandteil der Vereinbarungen zur Reduzierung der Treibhausgase wird.
Zu Protokoll gegebene Reden
Dabei werden einzelne Aspekte aus dem Antrag der
Grünen berücksichtigt werden. Es ist auch darauf hinzuweisen, dass zum Beispiel die Einbeziehung des Flugverkehrs in den Emissionshandel als sehr positive Entwicklung bewertet werden muss.
Zusammengefasst: Wichtig ist, dass diejenigen, die
sich um eine nachhaltige Tourismusentwicklung bemühen, das Gesamtkonzept der Bundesregierung mit ihren
jeweiligen Schwerpunkten begleiten und auf die baldige
Verabschiedung des Gesamtkonzeptes drängen. Einzelne,
isolierte Initiativen, die zudem in den Verantwortungsund Ausgestaltungsbereich von Reiseveranstaltern eingreifen, sind nicht zu befürworten. In den Gesprächen mit
dem Deutschen Tourismusverband und der Deutschen
Tourismuszentrale mit einzelnen Reiseveranstaltern sind
die im Antrag genannten Punkte ohnehin immer Gesprächsgegenstand.
Ich freue mich auf die Fachdiskussionen und fruchtbare Anregungen im Ausschuss.
Der Antrag der Grünen „Mehr Engagement für eine
nachhaltige Tourismusentwicklung - Ausweisung der
CO2-Bilanz bei Pauschalreisen“ geht grundsätzlich in
eine richtige Richtung. Leider ist aber die Umsetzung im
Detail nicht so gut gelungen.
So wird in den ersten drei der acht Forderungen an die
Bundesregierung gefordert, die Reiseveranstalter zur
Ausweisung der CO2-Emissionen zu verpflichten, und
zwar für jede Reise, in sämtlichen Medien und Katalogen.
Das ist ein riesiger Mehraufwand für die Veranstalter,
und die dadurch entstehenden Kosten würden mit Sicherheit auf den Endverbraucher umgelegt werden. Dabei
sollte es doch unser gemeinsames Anliegen sein, den Tourismus in Deutschland zu stärken. Die Wachstumsbranche Tourismus hat eine zu große ökonomische Bedeutung,
um sie willentlich mit übertriebener Bürokratie zu bremsen. Wir als FDP sind für den Bürokratieabbau und nicht
für den Bürokratieaufbau. Gerade für ländliche und touristisch kleiner organisierte Veranstalter ist eine weitere
bürokratische Hürde wie die Verpflichtung zur Ausweisung der CO2-Emission enorm blockierend. Daher sind
wir für eine Selbstverpflichtung der Reiseveranstalter.
Das gleiche gilt für Standards wie TREMOD. Warum
sollte man diese zur Verpflichtung machen? TREMOD ist
die allgemein akzeptierte Datengrundlage für Energieund Emissionsdaten aus dem Bereich Verkehr und damit
jetzt schon Grundlage für alle Reiseveranstalter. Warum
sollte man an einer funktionierenden Sache etwas ändern?
Mit der Forderung, die Verbraucher zu informieren,
muss man vorsichtig sein, werden dann doch die Verbraucher, die aufgrund ihrer finanziellen Lage nicht zwischen
ökologisch sinnvollen und preiswerten Reisen unterscheiden können, diskriminiert. Wir dürfen nicht vergessen,
dass mehr als die Hälfte aller Reisenden sich bei der Wahl
ihres Urlaubes stark am Preis orientiert. Umweltschutz
spielt für diese Gruppe nur eine untergeordnete Rolle.
Man darf diesen Teil der Urlauber aber nicht vergessen
und sollte sie behutsam und nicht mit dem Knüppel an einen nachhaltigen Tourismus heranführen.
Daher unterstützen wir auch den Punkt fünf der Forderungen der Grünen, nämlich den eingeschlagenen Weg
zur Stärkung des Deutschlandtourismus konsequent fortzusetzen. Das geht eben nicht von heute auf morgen.
Schwierig wird es bei der sechsten Forderung. Grundsätzlich sind wir als FDP auch für die Abschaffung der
Steuerbefreiung für Kerosin, aber nur, wenn wir weltbzw. mindestens europaweit eine einheitliche Lösung finden. Wir können es uns nicht erlauben, den deutschen
Tourismussektor im Vergleich zu anderen Ländern so
schlechterzustellen. Dies wäre ein klarer Rückschlag für
die gesamte deutsche Tourismusbranche. Derartige nationale oder europäische Alleingänge bringen nichts für
den Klimaschutz, da dies vor allem zu Verlagerungen
führt. Profitieren würde zum Beispiel ein Standort wie
Dubai, der heute schon in den Startlöchern steht und nur
auf solche ideologischen Eigentore aus Europa lauert.
Den Schaden hätte der Luftverkehrsstandort Deutschland bzw. Europa. Das können auch Sie als Grüne nicht
wollen. Denn kaum eine Branche sichert so viele Arbeitsplätze und schafft sogar neue wie der Luftverkehr.
Ich frage mich, ob die Grünen ein besonderes Interesse
an dem Unternehmen atmosfair gGmbH haben. Sie nennen das Unternehmen als einziges Beispiel für einheitliche Regularien zur Leistung eines Beitrages zur Treibhausgasminderung. Dabei gibt es noch mehrere
Angebote von unterschiedlichen Unternehmen, die auf
ähnliche Weise dem ökologisch interessierten Reisenden
Möglichkeiten zur Abgeltung seiner „Ökoschuld“ bieten.
Wir weigern uns, wenn es darum geht, sich auf ein Unternehmen festzulegen, da das dem Wettbewerb sicher nicht
hilft.
Die achte Forderung, dass sich die Bundesregierung
für die ausschließliche Verwendung von Ökostrom einsetzen soll, lehnen wir ab. Die Deutsche Bahn AG wurde,
wie der Name schon sagt, bewusst zur AG, damit sich der
Bund nicht in organisatorische Abläufe einmischt. Auch
hier wäre eine Selbstverpflichtung sinnvoller als jede erzwungene Verpflichtung.
Voraussetzung für eine langfristig ökonomisch erfolgreiche Entwicklung des Tourismus sind neue Ansätze,
aber das weiß die Branche ja selber. Daher gibt es innerhalb der Tourismusindustrie verstärkt Ideen und konkrete
Handlungen, zum Beispiel den Tourismus per Bus und
Bahn. Auch die verstärkte Nachfrage nach Reisen innerhalb Deutschlands zeigt doch, wie stark sich auch das
Reiseland Deutschland etabliert hat. Dass die Reisenden
damit nebenbei die Umwelt schonen, weil sie auf lange
Flüge verzichten, ist doch sehr gut. Daher kann man
grundsätzlich den Antrag der Grünen als Idee gutheißen,
leider mangelt es an der realistischen Umsetzung, da es
zu viel Bürokratie bedeutet und zu teuer ist.
Ja, es stimmt: Die Tourismusbranche wächst weltweit
und auch in Deutschland stärker als viele andere Wirtschaftsbereiche. Mehr Reisende bringen auch ein Mehr
an Belastungen für Klima und Umwelt.
Zu Protokoll gegebene Reden
Trotzdem ist es für die Linke eine Errungenschaft,
wenn nicht nur wenige Reiche, sondern zunehmend mehr
Menschen andere Länder und Kulturen kennenlernen
können. Wenn also der Ferntourismus heute einer breiten
Masse offensteht, halten wir dies für eine Demokratisierung des Zugangs zu interkultureller Erfahrung. Selbstverständlich wissen wir auch um die Bedeutung des
Klimaschutzes und sehen die damit einhergehenden Probleme. Die Situation ist und bleibt janusköpfig.
Den vorliegenden Antrag halte ich vom Anliegen her
zunächst einmal für begrüßenswert. Die geforderte Information über die jeweilige CO2-Emission von Touristikangeboten folgt einem ähnlichen Prinzip der Ermöglichung bewusster Verbraucherentscheidungen wie etwa
die Ausweisung der Inhaltsstoffe von Nahrungsmitteln,
die Warnungen vor Gesundheitsrisiken auf Zigarettenschachteln, die Energiebilanz bei Elektrogeräten oder
andere Beispiele der Produkttransparenz, wie sie heute
bereits zum Standard geworden sind.
Dennoch müssen einige Ihrer Ausgangspunkte und die
daraus vorgeschlagenen Konsequenzen hinterfragt werden. Sie beziehen sich bei der Analyse von CO2-Emissionen der Tourismuswirtschaft lediglich auf die Transfers,
also das Reisen von A nach B, nicht aber auf den Aufenthalt selbst. Innerhalb dieser Transfers zielt Ihr Antrag lediglich auf die Gruppe der Pauschalreisen, mit anderen
Worten: den sogenannten Massentourismus.
Die Linke hält jedoch auch die Ökobilanz des touristischen Aufenthaltes vor Ort für nicht unbedeutend. Hier
zeigt sich, dass die individuelle Umweltbilanz gerade für
Luxusreisende - große vollklimatisierte Suiten, riesige
beheizte Pools, Golfanlagen, private Safaris etc. - weitaus höher ist als die des einzelnen „Massentouristen“,
der sich doch mit verhältnismäßig einfachem Komfort bescheidet. Es ist also unklar, warum sich Ihre Forderung
nur auf den Transfer und dann ausgerechnet auf Pauschalreisen beschränkt.
Selbst wenn man nur den Transport ins Auge fasst - als
einen ersten und wichtigen Schritt vielleicht -, wäre es
zielführender und konsequent, alle Personentransporte
durch die neue Regelung zu erfassen. Warum verpflichteten wir nicht alle Verkehrsträger - Fluggesellschaften,
die Bahn, Busunternehmen, Schiffe -, auf ihren Tickets
die jeweilige CO2-Belastung auszuweisen? Sicherlich
gibt es auch Möglichkeiten, Autofahrer über ihren individuellen CO2-Ausstoß je Fahrt zu informieren. Pauschalanbieter können dann verpflichtet werden, diese Angaben bei ihren Angeboten mit aufzuführen, da sie diese
Angaben beim Einkauf der Transferleistungen vom Verkehrsträger erhalten. All dies würde das Bewusstsein für
Klimafragen schärfen, und hier würde sich auch zeigen,
dass ein Erste-Klasse-Flugticket die Umwelt deutlich höher belastet als eines in der Touristenklasse.
Einig sind wir uns auch in der Frage, dass das Ausweisen der CO2-Bilanz allein nicht für eine nachhaltige Tourismusentwicklung reicht. Notwendig sind unter anderem
die Kerosinsteuer im Flugverkehr und andererseits die
stärkere Förderung des Inlandstourismus, vor allem des
Rad- und Wandertourismus. Ein richtiger Weg wäre, den
öffentlichen Fernverkehr mit Bus und Bahn - auch im
Verbund mit den europäischen Nachbarländern - auszubauen und - verstanden als soziale und umweltbewusste
Aufgabe - weitgehend öffentlich zu finanzieren. Leider ist
die Koalition mit der Bahnprivatisierung den entgegengesetzten Weg gegangen. Es war ihre Entscheidung, die
Bahn profitorientiert statt sozial- und damit klimaorientiert zu entwickeln. Es ist pervers, wenn Menschen innerhalb Deutschlands nur mit dem Flugzeug reisen, weil es
deutlich preiswerter ist als die Bahn. Selbst Reisende mit
Umweltbewusstsein müssen angesichts ihrer Einkommen
auf den billigeren Verkehrsträger zurückgreifen. Ich will
auch nicht das Kind mit dem Bade ausschütten: Jeder
Verkehrsträger hat seine Stärken und Schwächen. Wer
Ferntourismus will - und wir möchten, dass sich Menschen verschiedener Kontinente begegnen -, braucht
auch bezahlbare Flugreisen. Amerika ist mit dem Rad,
dem Bus oder der Bahn von Europa aus nicht zu erreichen. Es geht darum, das aus umweltpolitischer Sicht
jeweils optimale Verkehrsmittel für eine bestimmte Entfernung für den Einzelnen auch ökonomisch zum attraktivsten zu machen.
Natürlich gibt es auch Reisen, deren Sinn mit Blick auf
die Klimabelastungen bezweifelt werden muss. Dazu gehören die Kurzreisen zum Shoppen nach New York, Dubai
oder Mailand ebenso wie manche Geschäftsreise, die vielen unnötigen Beamtenshuttles zwischen Berlin und Bonn
oder die Reisen der Bundeswehr an den Hindukusch.
Wir brauchen eine sozial gerechte und umweltbewusste Tourismuspolitik und keine Tourismuspolitik, bei
der die Klimabilanz aufgebessert wird, indem Menschen
mit niedrigen Einkommen ausgegrenzt werden. Das wäre
unsolidarisch und ist mit der Linken nicht zu machen.
Die Tourismuswirtschaft zählt zu den weltweit am
stärksten wachsenden Branchen. Aber wir alle wissen
auch, dass es durch den Tourismus zu problematischen
Entwicklungen für Natur, Umwelt und bei der Einhaltung
sozialer Standards kommen kann. Das haben wir in diesem Haus bereits mehrfach thematisiert. Der Klimawandel wird Auswirkungen auf den Tourismus haben, auch
das wird der Branche zunehmend bewusster. Leider handelt die Tourismusindustrie aber noch nicht danach, ausgenommen wenige nachhaltige touristische Nischenprodukte.
Mit unserem vorliegenden Antrag „Ausweisung der
CO2-Bilanz bei Pauschalreisen“ wollen wir uns die
Kräfte des Marktes für die von uns Grünen gewünschte
nachhaltige Tourismusentwicklung zunutzemachen. Dabei wollen wir mit unseren politischen Aktivitäten gerade
nicht die touristischen Nischenprodukte ansprechen. In
Zeiten des Klimawandels sollte auch die Massentourismusindustrie Zeichen setzen und verpflichtet werden, bei
ihren Pauschalreiseangeboten die Höhe der transferbedingten CO2-Emissionen auszuweisen. Warum also ausgerechnet die Ausweisung bei Pauschalreiseangeboten?
Pauschal- und Bausteinreisen sind bei den Auslandsreisen mit knapp 60 Prozent die am häufigsten gewählte Art
der Organisation einer Urlaubsreise. Bei der Wahl des
Verkehrsmittels für diese Art der Urlaubsreise liegt das
Flugzeug bei den Auslandsreisen deutlich an erster Stelle.
Sie alle wissen, dass beim Flugverkehr über elfmal mehr
Zu Protokoll gegebene Reden
CO2-Emissionen im Vergleich zum Reisebus oder gar zum
Fernverkehr der Bahn in die Atmosphäre emittiert werden. Flugreisen, Flugverkehr überhaupt sind ein großes
Umweltproblem. Wir Grünen wollen uns dafür stark machen, dass die Verbraucher für die Problematik „Reisen
- Treibhauseffekt - Klimawandel“ sensibilisiert werden.
Tourismus und Mobilität sind eng miteinander verwoben. Tourismus ist abhängig von Mobilität und trägt damit unweigerlich zum Klimawandel bei. Zur Verdeutlichung: Im Tourismus sind 75 Prozent des CO2-Ausstoßes
der Mobilität zuzurechnen. Gerade deshalb steht die
Wahl des Transportmittels bei einer Reise im Mittelpunkt,
wenn man den CO2-Verbrauch einer Reise reduzieren
will. Man kann es nicht oft genug sagen, es gibt große Unterschiede zwischen der Art des für eine Reise gewählten
Verkehrsmittels und den jeweiligen spezifischen CO2-Belastungen. Die Angaben zum CO2-Verbrauch für den
Transport bei einer Pauschalreise sind deshalb ein erster
Schritt zu mehr Transparenz. Mit der von uns Grünen angestrebten Ausweisung hat jede/jeder Reisende selbst die
Möglichkeit, seine Reiseentscheidung auch nach der Klimabelastung der Reise zu treffen. Das trifft den Puls der
Zeit. Und auch der Deutschlandtourismus könnte von einer Ausweisung der CO2-Bilanz bei Pauschalreisen
durchaus profitieren und gestärkt werden.
Die Verbraucher legen immer mehr Wert auf gesellschaftliche und ökologische Verantwortung. Wir wollen
nicht den Sommerurlaub des „kleinen Mannes“ auf
Mallorca oder gar die Fernreise verbieten. Es ist auch
nicht unser Ziel, den moralischen Zeigefinger zu heben.
Wir Grüne setzen auf mehr Augenmerk der Verbraucher
für verantwortungsvolles Reisen. Das lässt sich nur mit
transparenter Informationspolitik erreichen. Dazu bitten
wir um die Unterstützung dieses Hauses.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/9346 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 30 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Michaela
Noll, Antje Blumenthal, Thomas Bareiß, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Angelika Graf ({0}), Renate Gradistanac, Kerstin Griese, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Wirksame Bekämpfung der Genitalverstümmelung von Mädchen und Frauen
- Drucksache 16/9420 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Michaela
Noll, CDU/CSU, Angelika Graf ({2}), SPD, Sibylle Laurischk, FDP, Dr. Kirsten Tackmann, Die Linke,
Irmingard Schewe-Gerigk, Bündnis 90/Die Grünen.
„Was lange währt, wird endlich gut.“ Unter dieses
Motto könnte man unseren Antrag fassen. Wir haben uns
die notwendige Zeit genommen, um zu einem guten Ergebnis zu kommen.
Die langen Verhandlungen mit unserem Koalitionspartner haben sich daher ausgezahlt. Nie zuvor gab es im
Deutschen Bundestag einen solch umfassenden und effektiven Antrag zur Bekämpfung von weiblicher Genitalverstümmelung. Er ist weitreichender und vielseitiger als
alle Oppositionsanträge zusammen. Wir reden nicht nur,
sondern wir handeln.
In über 20 Maßnahmen gehen wir das Thema „Female
Genital Mutilation“, FGM, von allen Seiten an. Der
Handlungsbedarf ist auch wirklich geboten. Denn insgesamt sind weltweit circa 140 Millionen Mädchen und
Frauen an ihren Genitalien verstümmelt. Laut einer
UNICEF-Studie kommen jährlich schätzungsweise 3 Millionen Mädchen im Alter von vier bis zwölf Jahren hinzu.
Schätzungen zufolge sind in Deutschland etwa 30 000
Frauen und Mädchen von Genitalverstümmelung betroffen oder bedroht. Dies können und wollen wir nicht hinnehmen. Genitalverstümmelung ist eine schwerwiegende
Menschenrechtsverletzung, die wir entschieden verurteilen.
Inzwischen hat hier eine Sensibilisierung der Öffentlichkeit stattgefunden, wozu sicherlich auch die Bücher
von Waris Dirie und Fadumo Korn sowie die Medienberichterstattung beigetragen haben. Die Bundesärztekammer hat Empfehlungen zum Umgang mit Patientinnen
nach weiblicher Genitalverstümmelung gegeben, und die
Bundesregierung berücksichtigte die Problematik ausdrücklich in ihrem Aktionsplan zur Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen.
In meiner Rede möchte ich nun unseren Antrag vorstellen und mich dabei auf einige Punkte konzentrieren:
Für Mädchen und Frauen, denen Genitalverstümmelung in Deutschland droht, gilt, dass in Deutschland Genitalverstümmelung in jedem Fall eine Körperverletzung
gemäß § 223 Strafgesetzbuch, StGB, darstellt, unabhängig davon, durch wen sie durchgeführt wird. In den meisten Fällen ist Genitalverstümmelung auch eine gefährliche bzw. schwere Körperverletzung im Sinne des § 224
Abs. 1 Nrn. 2, 4, 5 und des § 226 StGB.
Oftmals wird die Forderung erhoben, Genitalverstümmelungen ausdrücklich in den Tatbestand des § 226 StGB
aufzunehmen. Eine Verurteilung nach dieser Vorschrift
hat bei Ausländerinnen und Ausländern jedoch die Ausweisung zur Folge. Dies führt daher zu einem Auseinanderreißen der Familie. Denn es sind oft die Eltern, die als
Mittäter in Betracht kommen. In der Anhörung haben
verschiedene Sachverständige darauf hingewiesen, dass
eine solche Folge den betroffenen Mädchen nicht hilft.
Viel wichtiger ist es, die jungen Mädchen und ihre Familien darüber aufzuklären, dass FGM in Deutschland
verboten ist. Deshalb wollen wir durch eine konsequente
Öffentlichkeitsarbeit darauf hinwirken, dass die Strafbarkeit der Verstümmelung weiblicher Genitalien als Körperverletzung der breiten Öffentlichkeit und insbesondere
bei den Migrantenorganisationen stärker bekannt gemacht wird, Mädchen und Frauen umfassend über ihre
Rechte und über Beratungs- und Zufluchtsmöglichkeiten
aufgeklärt werden.
Dazu gehört aber auch, die beteiligten Berufsgruppen
entsprechend fortzubilden. Nicht überall ist das Thema
Genialverstümmelung präsent. In unserem Antrag fordern wir daher, in Zusammenarbeit mit den Ländern
Fortbildungs- und Sensibilisierungskampagnen für Polizei und Justiz, Lehrerinnen und Lehrer, Erzieherinnen
und Erzieher, Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Jugend-, Sozial-, und Ausländerbehörden anzubieten.
Was ich wirklich bemerkenswert finde, ist, dass es uns
gelungen ist, eine interministerielle Arbeitsgruppe einzurichten. Diese interministerielle Bund-Länder-NROArbeitsgruppe, IMA, unter der federführenden Koordination des BMZ soll sich an der Struktur und Arbeitsweise
der beiden Bund-Länder-Arbeitsgruppen „Häusliche Gewalt“ und „Frauenhandel“ des Bundesministeriums für
Familie, Senioren, Frauen und Jugend orientieren. Sie
hat drei wesentliche Aufgaben: erstens die bundesweite
zielgruppensensible Aufklärung voranzubringen, zweitens die Vernetzung und einen konstanten interdisziplinären Informationsaustausch der Akteurinnen und Akteure
in allen relevanten Berufsgruppen und Organisationen
sicherzustellen und drittens die fachliche Unterstützung
für Projekte auf Landes- und auf Bundesebene zu leisten.
Soweit zu einigen Maßnahmen auf nationaler Ebene.
Vergessen dürfen wir aber auch nicht die europäische
und die internationale Ebene. Weibliche Genitalverstümmelung ist ein weltweites Problem, dem man auch international begegnen muss. Unser Antrag sieht daher vor,
dass Deutschland sich auf internationaler und europäischer Ebene für den Abbau und die Beseitigung von Gewalt gegen Frauen einsetzt und insbesondere im Rahmen
der Entwicklungszusammenarbeit konsequent auf Maßnahmen zur Bekämpfung geschlechtsbezogener und sexueller Gewalt an Frauen und Mädchen hinwirkt.
All diese Maßnahmen und Bemühungen nutzen jedoch
nur wenig, wenn wir nicht die Herkunftsländer mit einbeziehen. Genitalverstümmelung wird vorherrschend in
afrikanischen Staaten durchgeführt, am häufigsten in Somalia, Ägypten Dschibuti, Sudan und in Guinea. Anhand
der Verteilung wird deutlich, dass die Tradition der Genitalverstümmelung keineswegs einer bestimmten Kultur
oder Religion zuzurechnen ist. In vielen Staaten ist Genitalverstümmelung gesetzlich verboten, wird aber dennoch praktiziert. Unsere Anhörung hat außerdem sehr
deutlich gezeigt, dass die Maxime „Hilfe zur Selbsthilfe“
lauten muss. Denn es macht keinen Sinn, dass wir in diese
Länder gehen und den Menschen vor Ort nahelegen, wie
sie zu leben haben und wie sie die Genitalverstümmelung
zu bekämpfen haben. Dieser Handlungsvorschlag ist
auch explizit mit in unseren Antrag aufgenommen worden. Dort heißt es dazu: Bei allen Maßnahmen im Rahmen der Entwicklungshilfe ist die Zusammenarbeit mit allen Generationen zu gewährleisten und die Maxime
„Hilfe zur Selbsthilfe“ stets zu beachten.
Die Union hat sich in diesem Zusammenhang besonders dafür starkgemacht, dass bei Projekten vor Ort Alternativrituale und Berufsperspektiven für Beschneiderinnen mit berücksichtigt werden. Auch ist es wichtig, die
Männer mit ins Boot zu nehmen. Bei vielen Projekten hat
sich gezeigt: Wenn auch die Männer über dieses grausame Ritual aufgeklärt werden und sie erfahren, was den
Mädchen und Frauen an Körper und Seele angetan wird,
lehnen sie oftmals diese Tradition ab.
„Es muss aufhören, endlich aufhören“, schrieb die
UNO-Sonderbotschafterin Waris Dirie. Mit diesem umfassenden Antrag kommen wir diesem Ziel ein entscheidendes Stück näher.
Genitalverstümmelung ist eine schwere Menschenrechtsverletzung. Wir haben uns schon mehrfach im
Deutschen Bundestag mit dieser grausamen Praxis auseinandergesetzt. Trotz internationaler Ächtung der Genitalverstümmelung, der Verurteilung dieser Praxis durch
zahlreiche internationale Konventionen, trotz langen und
intensiven Engagements von Politikern und Politikerinnen, Nichtregierungsorganisationen, Betroffenen und
Journalistinnen im Kampf gegen die Genitalverstümmelung, trotz umfangreicher Projekte im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit und trotz einer von islamischen Gelehrten ausgerufenen Fatwa - Kairo 2006 - ist
Genitalverstümmelung immer noch ein gravierendes Problem. Insgesamt sind circa 130 bis 150 Millionen Mädchen und Frauen von Genitalverstümmelung betroffen.
Die Zahl der Betroffenen wächst laut einer UNICEF-Studie jährlich um 3 Millionen, das heißt täglich um circa
8 220.
Genitalverstümmelung ist ein Ritus, der viele unterschiedliche Rechtfertigungen kennt: von Initiation bis zur
Kontrolle über die weibliche Sexualität. Eltern lassen
ihre Töchter oftmals aufgrund sozialen Drucks verstümmeln, denn nicht verstümmelte Frauen finden nur schwer
einen Ehemann. Sie tun es nicht, weil sie ihren Töchtern
gezielt Schlimmes antun wollen, sondern weil eine archaisch-grausame Tradition es so vorschreibt. Dennoch ist
ihnen sicher klar, dass die Prozedur brutal ist, viele Mädchen während des Eingriffes oder an den Folgen sterben.
Die Mütter wissen außerdem sicherlich aus eigener Erfahrung, dass ihre Töchter lebenslang gesundheitliche
Beschwerden haben werden und ihnen durch die Verstümmelung ihr Recht auf eine selbstbestimmte und lustvolle
Sexualität genommen worden ist. Wie sich ein Mann fühlt,
der tagaus, tagein den sexuellen Akt mit einer verstümmelten Frau ja oft nur mit Gewalt vollziehen kann - darüber kann man als Frau nur spekulieren.
Zu Protokoll gegebene Reden
Angelika Graf ({0})
Allen, die sich auf politischer Ebene dem Kampf gegen
die Genitalverstümmelung verschrieben haben, ist klar:
Wir brauchen zur Bekämpfung von Genitalverstümmelung einen integrativen Ansatz, der die Eltern von Anfang
an in Aufklärung, Prävention und - wenn die Verstümmelung bereits geschehen ist - in Beratung und Betreuung
mit einbezieht. Das Thema muss bei den Betroffenen aus
der Tabuecke geholt werden. Dies fordern wir in unserem
Antrag ebenso wie die Sensibilisierung derjenigen Berufsgruppen, die, wie Polizei, Justiz, Lehrkräfte, Ärzteschaft sowie Sozial- und Jugendamtsangestellte, von
Amts wegen mit bereits verstümmelten oder von Genitalverstümmelung bedrohten Mädchen und Frauen zu tun
haben.
Obwohl wir bereits einiges über Genitalverstümmelung und ihre Folgen wissen, haben wir immer noch zu
wenig Kenntnis darüber, wie wir Menschen in Ländern
mit der Tradition der Genitalverstümmelung nachhaltig
davon überzeugen können, diese Menschenrechtsverletzung einzustellen. In vielen Ländern insbesondere Afrikas
ist die Genitalverstümmelung bereits heute gesetzlich
verboten. Sie wird dennoch landauf, landab praktiziert.
Deshalb war es uns von der SPD besonders wichtig, die
von wissenschaftlichen Institutionen und Nichtregierungsorganisationen gemachten Vorschläge zu offenen
Forschungsfragen im Bereich der Prävention in den Antrag mit aufzunehmen.
In den letzten Jahren sind zarte Fortschritte gemacht
worden: Es gibt in der Entwicklungszusammenarbeit seit
einigen Jahren die erfolgreiche Erprobung von alternativen Initiationsriten oder Umschulungsmaßnahmen für
Beschneiderinnen. Das sind gute Beispiele. Wir können
von ihnen lernen und müssen sie im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit, von humanitären Maßnahmen sowie von Menschenrechtsdialogen weiter entwickeln.
Aber auch die Frage, wie wir bei uns lebende Eltern
und Mädchen aus denjenigen Ländern erreichen, in denen Genitalverstümmelung weit verbreitet ist - immerhin
30 000 -, müssen wir stärker erforschen, genauso wie die
institutionellen Engagements, die dafür notwendig sind.
Weil wir die ganze Arbeit nicht allein auf zivilgesellschaftliche Organisationen abschieben sollten, bin ich
sehr froh, dass wir von der SPD es geschafft haben, im
Antrag eine interministerielle Bund-Länder-NRO-Arbeitsgruppe unter der federführenden Koordination des
BMZ festzuschreiben. Das ist einer der wirklich innovativen Ansätze in diesem Antrag. Damit machen wir deutlich, dass viele Ressorts bei der Bekämpfung der Genitalverstümmelung gefordert sind.
Diese Arbeitsgruppe sollte sich an der Struktur und
Arbeitsweise der beiden Bund-Länder-Arbeitsgruppen
„Häusliche Gewalt“ und „Frauenhandel“ des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
orientieren. Aufgabe dieser Gruppe könnte dann sein:
erstens die bundesweite zielgruppensensible Aufklärung
voranzubringen, zweitens die Vernetzung und einen konstanten interdisziplinären Informationsaustausch der Akteurinnen und Akteure in allen relevanten Berufsgruppen
und Organisationen sicherzustellen und drittens fachliche Unterstützung für Projekte auf Landes- und auf Bundesebene zu leisten.
Es ist im Allgemeinen eine große Freude für eine
Oppositionsfraktion, zu sehen, wie eigene Vorschläge in
Regierungshandeln umgesetzt werden. So können wir für
uns in Anspruch nehmen, die Bekämpfung der Genitalverstümmelung von Mädchen und Frauen schon seit längerem zu fordern. Wir waren mit unserer Kleinen Anfrage
bereits im April 2006 die Ersten in dieser Legislaturperiode, die dieses Thema auf die Agenda dieses Bundestages
gebracht haben. Die Fakten in der Antwort der Bundesregierung auf unsere Fragen stellen die Grundlage unserer heutigen Diskussion dar. Im Dezember 2006 haben
wir einen entsprechenden Antrag mit einem ausführlichen Maßnahmenkatalog gestellt. Verwunderlich ist es
dabei schon, dass dieser Antrag zusammen mit den Anträgen der anderen Oppositionsfraktionen im Familienausschuss am 12. März 2008 ein ablehnendes Votum erhalten hat, obwohl unsere zentralen Punkte sich im
Koalitionsantrag jetzt wiederfinden. In der Beschlussempfehlung finden sich Äußerungen des Bedauerns der
Koalitionsvertreterinnen, dass kein überfraktioneller Antrag zustande gekommen sei. Hätten Sie doch das Gespräch gesucht, wir haben es immer wieder angeboten,
statt bei uns zum Teil wörtlich abzuschreiben. Schon der
Dezember 2006 wäre ein guter Zeitpunkt für eine überfraktionelle Initiative gewesen. Wir hätten dies begrüßt.
Die Genitalverstümmelung in ihren verschiedenen
Schweregraden stellt eine der gravierendsten Menschenrechtsverletzungen an Frauen und Mädchen dar. Sie ist
nie wieder gutzumachen und führt zu lebenslänglichen
Traumatisierungen, neben körperlichen Auswirkungen
bis hin zum Tod auch zu erheblichen nachhaltigen seelischen Verletzungen. Sie ist an keine Religion gebunden
und immer Ausdruck einer patriarchalischen, oft armen
Gesellschaft mit Bildungsdefiziten, die meint, Frauen
nicht nur in ihren Rechten, sondern auch körperlich beschneiden zu müssen. Die Beschneiderinnen sind zwar
Frauen, aber Täter hinter diesen Täterinnen sind Männer.
Wenn schätzungsweise 30 000 von in Deutschland lebenden Mädchen und Frauen von Genitalverstümmelung
betroffen oder bedroht sind, so ist dies ein Ausdruck auch
mangelnder Integration im Inland; sie soll den Frauen
die Möglichkeit einer Rückkehr in das Heimatland offenhalten.
Von den angekündigten Maßnahmen sind mir folgende
besonders wichtig: Die Sensibilisierung der Jugendämter
und Gerichte hat bislang schon in Einzelfällen dazu geführt, dass bei drohender Genitalverstümmelung im Heimatland der Eltern oder Großeltern das Aufenthaltsbestimmungsrecht der Sorgeberechtigten eingeschränkt
wird. Diese Sensibilisierung muss durch Aus- und Fortbildungsmaßnahmen derjenigen, die mit Genitalverstümmelungsopfern zu tun haben könnten, fortgesetzt und vertieft werden.
Notwendig ist gerade in solchen akuten Bedrohungssituationen, dass Schutzräume in ausreichender Zahl und
Zu Protokoll gegebene Reden
erreichbar vorhanden sind. Frauen- und Kinderschutzhäuser sind also auch aus diesem Grunde finanziell zu sichern. Die Möglichkeit der Stärkung der Opfer durch eine
Verjährungshemmung bis zum Erreichen der Volljährigkeit des Opfers habe ich in der Anhörung der Sachverständigen nachgefragt. Das ist nicht nur generalpräventiv nötig, sondern für die Opfer auch die einzige
Möglichkeit, ihre Traumatisierung durch das Anstoßen
eines Strafverfahrens zu bewältigen. Auch die Überprüfung der Länder Ghana und Senegal im Hinblick auf ihre
Einstufung als sichere Herkunftsländer auf deutscher und
europäischer Ebene halte ich für notwendig.
Die Einrichtung einer interministeriellen Arbeitsgruppe zur Koordination der unterschiedlichen Maßnahmen erscheint durchaus sinnvoll, wenn auch nicht im
BMZ, da sie die in Deutschland zu treffenden Maßnahmen koordinieren soll. Vernünftig wäre es hingegen, die
entwicklungshilfepolitischen Maßnahmen selbst besser
zu vernetzen. Sehr zu begrüßen sind Maßnahmen auch
auf internationaler Ebene bei sonstigen Menschenrechtsverletzungen an Frauen, wie die sogenannten Ehrverbrechen und Zwangsverheiratungen. Sie haben die gleiche
Ursache wie die Genitalverstümmelung: eine patriarchalische Gesellschafts- und Familienstruktur, die Frauenrechte beschneidet.
Weibliche Genitalverstümmelung ist eine schwere
Menschenrechtsverletzung, die Frauen dauerhaft der sexuellen Selbstbestimmung und eines Teils ihrer Persönlichkeit beraubt und das Recht auf körperliche Unversehrtheit in schwerster Form verletzt. Mit der Forderung
nach stärkeren und schärferen Gesetzen zur Strafverfolgung allein wird sich diese menschenverachtende Praxis
nicht - weder hier noch anderswo - verhindern lassen.
Ich bin erfreut, im Antrag der Fraktionen der SPD und
der CDU/CSU zu lesen, dass Sie die Sichtweise unserer
Fraktion übernommen haben und statt der Einführung eines neuen Straftatbestandes lieber darauf einwirken wollen, dass die bereits bestehende „Strafbarkeit der Verstümmelung weiblicher Genitalien als Körperverletzung
der breiten Öffentlichkeit und insbesondere bei den Migrantenorganisationen stärker bekannt gemacht wird und
Mädchen und Frauen umfassend über ihre Rechte und
über Beratungs- und Zufluchtsmöglichkeiten aufgeklärt
werden“. Dass es einigen Expertinnen bei der Forderung
nach einem eigenen Straftatbestand nicht vorrangig um
die Strafverfolgung ging, wurde ja auch in der öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend zu den Anträgen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, der FDP-Fraktion und unserer Fraktion, Die Linke, am 19. September 2007 deutlich. Beispielsweise wurde dafür plädiert, einen eigenen
Straftatbestand „eher aus programmatisch abschreckender Perspektive“ zu schaffen, um die Aufklärungsarbeit
zu erleichtern. Aus unserer Sicht ist es der wirkungsvollere Weg, wenn die Koalitionsfraktionen jetzt die Aufklärungs- und Beratungsarbeit durch umfassende Öffentlichkeitsarbeit unterstützen wollen.
Es ist erst auf den zweiten Blick nachvollziehbar, welche Schwierigkeiten mit einer sensiblen und unbedingt
antirassistischen Aufklärungs- und Beratungsarbeit tatsächlich verbunden sind. Es geht um mehr als ein gesellschaftliches Tabu, das verhindert, über Sexualität zu sprechen. Es geht oft um ganz konkrete, individuelle
Traumata, die eine Gesprächspartnerin erlitten hat.
Während in der europäischen Diskussion davon gesprochen wird, dass die Genitalien der betroffenen Frauen
verstümmelt wurden, bezeichnen sich die meisten Afrikanerinnen als „beschnitten“.
Uns geht es vor allem auch um einen kultursensiblen
Umgang. Das bedeutet, zu verstehen, dass afrikanische
Frauen ihren Töchtern nicht nur nicht schaden wollen.
Vielmehr wollen sie ihnen „etwas Gutes tun“. Denn Genitalverstümmelung ist in vielen ethnischen Gruppen die
Vorbedingung für die Aufnahme von Frauen in die soziale
Gemeinschaft. Nur so erhalten sie die Chance, über eine
Ehe ihren Lebensunterhalt abzusichern. Das kann, nein,
das muss man ächten - aber es erfordert eben auch den
Bruch mit uralten Bräuchen und Ritualen. Im Grunde
geht es um nichts weniger als die notwendige Veränderung der sozialen Stellung der Frau in diesen Gesellschaften und Communities. Der Ruf nach härteren Strafen ist angesichts dieser Herkulesaufgabe ebenso hilfwie erfolglos.
Eine solche anspruchsvolle Beratungs- und Aufklärungsarbeit braucht viel Zeit, Geld und muttersprachliche Mitarbeiterinnen. Bislang wird diese Arbeit von
einzelnen, meist ehrenamtlichen Aktivistinnen und Beratungsstellen geleistet. Ihre Arbeit muss dringend unterstützt und zu einem echten Beratungsnetz ausgebaut werden. Hier sind die Forderungen der Koalitionsfraktionen
allerdings erschreckend dünn ausgefallen. Es ist bei weitem nicht genug, wenn sich die Bundesregierung gemeinsam mit den Bundesländern dafür einsetzt, „dass für
Betroffene Beratungs- und sonstige Unterstützungsleistungen auch weiterhin angeboten werden“. Hier ist die
Bundesregierung vielmehr in der Pflicht, endlich eine
zentrale Stelle zur Koordination und Vernetzung der Initiativen gegen Genitalverstümmelung zu schaffen.
Auch eine weitere wichtige Forderung wurde in der
Anhörung bestätigt: Es ist absolut notwendig, dass Migrantinnen bzw. Migranten beim Arztbesuch kostenfrei
eine Dolmetscherin in Anspruch nehmen können. Es kann
nicht sein, dass etwa männliche Verwandte als „Dolmetscher“ zur gynäkologischen Untersuchung einer genitalverstümmelten Frau hinzugezogen werden. Dazu
schweigt die Regierungskoalition aber lieber, denn dass
hieße ja, sich ernsthafte Gedanken zu machen, wie ein effektives Hilfesystem aufgebaut und finanziell abgesichert
werden kann.
Abschließend komme ich zu einem letzten wichtigen
Punkt, der weit über die notwendige Beratung und Aufklärung hinausgeht. Selbst wenn afrikanische Frauen
über die schwerwiegenden gesundheitlichen Folgen informiert sind und ihre Töchter vor einer Genitalverstümmelung schützen wollen - gegen patriarchale gesellschaftliche Normen können sie sich nur auflehnen, wenn
sie eigenständig für ihre eigene und die Existenz ihrer
Kinder sorgen können. Frau Faduma Korn von Forward
Germany e. V. hat es in der Anhörung auf den Punkt gebracht:
Zu Protokoll gegebene Reden
Mütter aus Afrika beschneiden ihre Kinder nicht,
weil sie Spaß daran haben, sondern weil sie keine
andere Möglichkeit sehen, ihnen eine sichere Zukunft zu geben.
Meine Fraktion, Die Linke, hat in ihrem eigenen Antrag „Weibliche Genitalverstümmelung verhindern Menschenrechte durchsetzen“ - Drucksache 16/4152 daher die Bundesregierung ausdrücklich aufgefordert,
die vorhandene Armut in Ländern, in denen weibliche
Genitalverstümmelung verbreitet ist, durch entsprechende Projekte und Hilfsangebote zu bekämpfen und
durch einen besseren Sozialstandard die Lebenssituation
der von Genitalverstümmelung betroffenen und bedrohten Kinder und Frauen zu verbessern, aber auch, die finanzielle Unabhängigkeit aller sich in Deutschland aufhaltenden betroffenen Frauen und Mädchen zu sichern.
Denn wer diese Menschenrechtsverletzung wirksam
bekämpfen will, muss vor allem dem niedrigen sozialen
Status der betroffenen Frauen und ihrer wirtschaftlichen
Abhängigkeit entgegenwirken, und zwar nicht nur „jenseits in Afrika“, sondern ganz konkret hier und heute in
Deutschland, in Berlin, München und anderswo.
Anderthalb Jahre ist es her, da haben wir Grünen im
Bundestag einen Antrag vorgelegt, mit dem wir die Regierung aufforderten, Frauen und Mädchen auch in
Deutschland besser vor Genitalverstümmelung zu schützen. Fast ein Jahr ist es her, da haben auf einer Anhörung
im Ausschuss die Expertinnen unsere Forderungen weitgehend bestätigt. Vor wenigen Wochen wurde dieser Antrag trotzdem von SPD und CDU/CSU im federführenden
Ausschuss abgelehnt.
Soweit zu unserer Arbeit. Eigene Vorschläge der
Koalition zu dem Thema mussten wir bislang ja vermissen.
Aber jetzt haben Sie es doch noch geschafft, sich zu einem Antrag zusammenzuraufen. Dass Sie dafür anderthalb Jahre brauchten, ist ja zumindest in der Frauenpolitik nichts Neues. Dass Sie diese Schwierigkeiten jetzt
schon in ihren Pressemitteilungen kundtun, hat allerdings
eine neue Qualität.
Auch sonst haben Sie uns mit Ihren vollmundigen Presseankündigungen ja ziemlich neugierig auf Ihren Antrag
gemacht. Weitreichender und vielseitiger als alle Oppositionsanträge zusammen sollte er sein. „Wir reden nicht
nur, sondern handeln“, haben Sie geschrieben - na, das
wäre bei den Frauenrechten aber wirklich einmal etwas
Neues!
Der Antrag ist demgegenüber leider eine ziemliche Ernüchterung. „Viel hilft viel“ scheint Ihr Motto zu sein.
Zahlreiche Zeilen wurden mit schönen Worten gefüllt.
Von den insgesamt 18 Forderungen sind jedoch nur wenige konkret, und bei diesen entdecke ich viele Parallelen
zu unserem grünen Antrag. Das zeigt doch, dass Sie
durchaus lernfähig sind, meine Damen und Herren, und nicht alle Mühen der Opposition vergeblich.
So begrüßen wir, dass Sie unsere Forderung übernommen haben, sicherzustellen, dass Länder, in denen Genitalverstümmelung in einem nicht unerheblichen Ausmaß
stattfindet, nicht als sichere Herkunftsländer einzustufen
sind.
Ausdrücklich nennen Sie Ghana und Senegal. Da wollen Sie prüfen. Aber da Sie ja angekündigt haben, zu handeln, nehmen wir Sie beim Wort und erwarten, dass
zumindest Ghana zügig von der Liste der sicheren Herkunftsländer gestrichen wird.
Auch dass Sie die Verlängerung der Verjährungsfrist
fordern, finden wir gut. Aber dafür müssen die Beteiligten
erstmal wissen, dass Genitalverstümmelung in Deutschland strafbar ist - und hier kommen wir leider zum
Knackpunkt Ihres Antrags: Unserer Hauptforderung, die
Genitalverstümmelung ausdrücklich ins Strafgesetzbuch
aufzunehmen, sind Sie leider nicht gefolgt. Dabei haben
beinahe alle Expertinnen dies bei der Anhörung im Bundestag mit Nachdruck gefordert. Darin waren sie sich
völlig einig: Eine ausdrückliche Nennung im Strafgesetzbuch wäre ein klares Signal an Ärztinnen, Eltern und Opfer: Eine solche Menschenrechtsverletzung wird von unserem Staat nicht geduldet.
Es kann doch nicht sein, dass die Genitalverstümmelung weiter nur als einfache Körperverletzung strafbar
ist. Sie können einen Verstoß gegen das Grundrecht auf
sexuelle Selbstbestimmung nicht mit einer Ohrfeige
gleichsetzen, meine Damen und Herren!
Mit einer Ankündigung haben Sie immerhin recht behalten: Vielseitig ist Ihr Antrag - aber ebenso unkonkret
und wolkig. Herr Singhammer, Frau Noll, Sie haben in
Ihrer Pressemitteilung ja angekündigt, nicht reden, sondern handeln zu wollen. Dann lassen Sie uns aus Ihren
schönen Worten doch auch Taten machen! Im Rahmen
der Ausschussberatungen lässt sich sicherlich noch etwas
konkretisieren. Gerade bei diesem Thema wäre es doch
gut, wenn wir über Parteigrenzen hinweg zusammenarbeiten, um Frauen vor dem grausamen Ritual der Genitalverstümmelung zu schützen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/9420 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss der heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 6. Juni 2008, 9 Uhr,
ein.
Ich wünsche allen Gästen auf den Tribünen, allen
Kolleginnen und Kollegen und auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern einen schönen Abend.
Die Sitzung ist geschlossen.