Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 6/5/2008

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Sitzung ist eröffnet. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alle herzlich und möchte vor Eintritt in unsere Tagesordnung den Kollegen Rolf Hempelmann und Wolfgang Nešković zu ihren 60. Geburtstagen gratulieren und im Namen des Hauses noch einmal alle guten Wünsche übermitteln. ({0}) Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern: ZP 1 Vereinbarte Debatte Bespitzelungsaffäre bei der Deutschen Telekom und Konsequenzen ({1}) ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren ({2}) a)Beratung des Antrags der Abgeordneten Christian Ahrendt, Carl-Ludwig Thiele, Hans-Michael Goldmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Optimaler Darlehensnehmerschutz bei Kreditverkäufen an Finanzinvestoren - Drucksache 16/8548 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({3}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz b)Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus Löning, Michael Link ({4}), Florian Toncar, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Europäisches Parlament stärken - Sitzfrage durch Europaparlamentarier entscheiden lassen - Drucksache 16/9427 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({5}) Haushaltsausschuss c)Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried Hermann, Dr. Anton Hofreiter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vertrag über die Beteiligung von Kapitalanlegern an den Verkehrs-, Logistik- und zugehörigen Dienstleistungsgesellschaften der Deutsche Bahn AG durch externen Sachverstand prüfen lassen - Drucksache 16/9474 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({6}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Haushaltsausschuss ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Burkhardt Müller-Sönksen, Harald Leibrecht, Florian Toncar, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Präsident Medwedew beim Wort nehmen - Drucksache 16/9423 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({7}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ZP 4 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({8}) zu dem Antrag der Abgeordneten Marina Schuster, Dr. Werner Hoyer, Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Die Beziehungen zu Lateinamerika und den Staaten der Karibik stärken und den EU-Lateinamerika/Karibik-Gipfel zu einer ehrlichen Bestandsaufnahme nutzen - Drucksachen 16/9056, 16/9475 Redetext

Not found (Mitglied des Präsidiums)

Abgeordnete Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg Niels Annen Wolfgang Gehrcke Kerstin Müller ({0}) ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Bärbel Höhn, Hans-Josef Fell, Sylvia Kotting-Uhl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Handeln statt Reden - Klimaschutz jetzt - Drucksache 16/9426 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({1}) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ZP 6 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Michael Kauch, Angelika Brunkhorst, Horst Meierhofer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Perspektiven für eine sektorale Ausweitung des Emissionshandels sowie für die Nutzung erneuerbarer Energien im Wärmesektor - Drucksachen 16/5610, 16/7387 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Maria Flachsbarth Dirk Becker Michael Kauch Eva Bulling-Schröter Bärbel Höhn ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael Kauch, Gudrun Kopp, Angelika Brunkhorst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Differenzierte Mengensteuerung zur Förderung erneuerbarer Energien im Stromsektor - Drucksache 16/8408 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({3}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll - so- weit erforderlich - abgewichen werden. Die Tagesordnungspunkte 35 a, 36 b und 37 c werden abgesetzt. Sind Sie mit diesen Änderungsvorschlägen einver- standen? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist das so beschlossen Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b auf: a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Sportausschusses ({4}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung 11. Sportbericht der Bundesregierung - Drucksachen 16/3750, 16/7584 - Berichterstattung: Abgeordnete Klaus Riegert Detlef Parr Winfried Hermann b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Sportausschusses ({5}) zu dem Antrag der Abgeordneten Katrin Kunert, Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Schutz und Förderung des Sports ernst nehmen - Sportförderungsgesetz des Bundes schaffen - Drucksachen 16/7744, 16/9455 Berichterstattung: Abgeordnete Klaus Riegert Detlef Parr Winfried Hermann Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache insgesamt eineinhalb Stunden vorgesehen. - Auch dazu höre ich keinen Widerspruch. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst der Bundessportminister Wolfgang Schäuble. ({6})

Dr. Wolfgang Schäuble (Minister:in)

Politiker ID: 11001938

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Beratung des Sportberichts gibt Anlass, zunächst einmal zu sagen, dass wir in diesem Haus ein Stück weit Gemeinsamkeit hinsichtlich der Unterstützung des Sports und der Förderung des Leistungssports haben und dass wir über die Legislaturperioden hinweg kontinuierlich Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass unsere Sportler auch in der internationalen Spitze mithalten können. In dem Sportbericht geht es ja im Wesentlichen um die Sportförderung in der vergangenen Legislaturperiode. Wir haben die in den zurückliegenden Legislaturperioden auf hohem Niveau geleistete Förderung in dieser Legislaturperiode fortgeführt. Wir haben in den Haushaltsberatungen durch die Bemühungen des Bundestages deutlich erhöhte Ansätze für das Jahr 2008 erreicht. Ich hoffe, dass wir das im Jahre 2009 fortschreiben können, wir befinden uns ja im Augenblick in den Haushaltsberatungen. Ich bedanke mich im Voraus für die Unterstützung. Vielleicht ist es interessant, die Zahlen zu hören: In den Jahren 2002 bis 2005 hat die Sportförderung des Bundes insgesamt 920 Millionen Euro für den Sport zur Verfügung gestellt, davon entfielen allein 700 Millionen Euro auf die Förderung des Spitzensports im Haushalt des Bundesministeriums des Innern. Wie gesagt: Wir werden das fortsetzen. Auch das will ich an dieser Stelle sagen: Wir haben kontinuierlich und zunehmend auch die Förderung des Behindertensports in die Sportförderung einbezogen. Das ist richtig und notwendig, was man auch an dem Stellenwert erkennt, den die Paralympischen Spiele und auch die Weltspiele für Behinderte national und international gewonnen haben. Bei der Gelegenheit möchte ich auch darauf hinweisen, dass sich die Bundesregierung - auch ich persönlich sehr dafür einsetzt, dass die Rahmenbedingungen - auch hinsichtlich der beruflichen Möglichkeiten - für Behindertensportler verbessert werden. Deswegen bemühen wir uns, in der Bundesverwaltung, auch in den Ministerien der Bundesregierung, für behinderte Sportler Beschäftigungs- und Ausbildungschancen zu schaffen. Auch das ist richtig. ({0}) In diesem Zusammenhang weise ich darauf hin, dass es neben der Sportförderung generell wichtig ist, mit der Stiftung Deutsche Sporthilfe, aber auch sonst die Bemühungen um das, was man als duale Karriere bezeichnet, fortzusetzen und zu intensivieren und für junge Menschen, die sich einen wesentlichen Teil ihrer Jugend- und jüngeren Erwachsenenzeit darauf konzentrieren, Spitzensport zu treiben, zugleich Ausbildungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten für das Leben nach der Konzentration auf Leistungssport zu schaffen. Dies kann der Staat allein nicht leisten. In einer freiheitlichen Gesellschaft soll er dies auch nicht. Umso wichtiger ist es, dass wir die Gesellschaft und die Wirtschaft immer wieder daran erinnern. Im Übrigen bin ich ganz sicher, dass es für vielerlei Arten von Tätigkeiten kaum qualifiziertere Menschen gibt als die Männer und Frauen, die sich Jahre ihres Lebens darauf konzentriert haben, neben Ausbildung und Beruf Spitzenleistungen im Sport zustande zu bringen. Dies erfordert ein Maß an Konzentrationsfähigkeit und an Disziplin, das man in jedem Lebensbereich dringend gebrauchen kann. ({1}) In diesem Zusammenhang: Die finanzielle Ausstattung der Stiftung Deutsche Sporthilfe wird uns in den kommenden Jahren zunehmend beschäftigen. Ich werbe dafür, dass wir bei dem Grundgedanken bleiben, dass die Stiftung Deutsche Sporthilfe ein Sozialwerk unserer freiheitlich verfassten Gesellschaft und nicht etwas ist, das der Steuerzahler zu finanzieren hat. Aber es ist wichtig, was die Stiftung Deutsche Sporthilfe für die soziale Absicherung und die Herstellung gleicher Wettbewerbschancen von Leistungssportlern auf internationalem Niveau leistet; das ist unersetzbar und muss auch unter veränderten Rahmenbedingungen fortgesetzt werden. Dieses Thema wird uns in den kommenden Jahren zunehmend beschäftigen. Zu dem Großartigen unseres Sports und seiner gesellschaftlichen Bedeutung - das ist bereits oft gesagt worden, und ich will dies nochmal unterstreichen - gehört die Freiheit: Die Freiheit für Sportler, die Freiheit unserer Sportorganisationen und das ehrenamtliche Engagement sind entscheidende Rahmenbedingungen dafür, dass unser Spitzensport mit seiner Vorbildwirkung für den Breitensport und der Sport insgesamt in allen gesellschaftlichen Bereichen so Großartiges leisten können. Deswegen müssen wir diese freiheitliche Sportorganisation auch unter dem Aspekt der Subsidiarität immer wieder verteidigen. Selbst wenn wir es als Politiker gut meinen, sollten wir die vorrangige Entscheidungszuständigkeit des Sports und ihrer gewählten Repräsentanten respektieren und akzeptieren. Das ist die Voraussetzung für eine freiheitliche Sportorganisation. ({2}) Verehrte Kolleginnen und Kollegen, dies bedeutet, dass wir uns - übrigens zunehmend auch auf europäischer Ebene - darum bemühen müssen, dem freiheitlichen Sport in den Rahmenbedingungen den notwendigen Freiraum zu verschaffen. Sobald der Lissabon-Vertrag in Kraft getreten sein wird, wird der Art. 165 des EU-Vertrags, der die gesellschaftspolitische Bedeutung des Sports anerkennt, auf europäischer Ebene eine Grundlage dafür schaffen, dass man die Autonomie und die besondere gesellschaftliche Eigenart des Sports stärker berücksichtigt und in Europa nicht mehr alles nur unter den Regeln der wirtschaftlichen Grundfreiheiten des Binnenmarkts betrachtet. Deswegen setze ich mich dafür ein, dass wir das im Weißbuch der EU für den Sport auf europäischer Ebene stärker berücksichtigen und dass wir bei Fragen, die die Selbstorganisation des Sports betreffen, uns auf europäischer Ebene einsetzen und bei allen europäischen Institutionen um Verständnis werben, dass wir das Großartige im Sport erhalten, wozu auch seine Selbstorganisation gehört. Ähnliches gilt im Hinblick auf das nationale und europäische Wettbewerbsrecht für die Rahmenbedingungen des professionell organisierten Sports und seiner Vermarktung. Sie kennen die aktuelle Debatte, die nicht einfach ist. Aber wem die Freiheit und die gesellschaftspolitische Bedeutung einer freien Sportorganisation am Herzen liegen, der muss wissen, dass nicht alles über einen Leisten geschlagen werden darf. In diesem Falle gefährdeten wir zu viel von dem Großartigen des Sports und seiner Selbstorganisation. Deswegen nutze ich die Gelegenheit, dafür zu werben. ({3}) Wir haben im Übrigen auch in der Steuerpolitik der Bundesregierung in dieser Legislaturperiode die Rahmenbedingungen für ehrenamtliches Engagement im Sport weiter verbessert. Das heißt, wir reden nicht nur bei Sportdebatten über die Grundsätze, sondern wir han17486 deln auch in den konkreten Schritten nach diesen Prinzipien. Das ist entscheidend wichtig. Ich habe von den Rahmenbedingungen für den Leistungssport auf internationaler Ebene gesprochen. In diesem Zusammenhang möchte ich festhalten: Wenn wir jungen Menschen die Chance bieten, im internationalen Wettbewerb mitzuhalten, und wenn wir uns auch für die soziale Absicherung und für die duale Karriere einsetzen, dann ist dies das Beste, was wir tun können, um den Missbrauch von Doping zu bekämpfen. Denn wer gute Trainingsbedingungen hat und über eine hinreichende soziale, berufliche Absicherung verfügt, ist weniger anfällig für die Versuchung, durch den Missbrauch leistungssteigernder Mittel die Fairness im Sport zu untergraben. Die schlimmste Gefahr für den Sport ist, dass die Regeln nicht mehr beachtet werden. Wir müssen für Fair Play eintreten, sonst würde der Sport das verlieren, was ihn so großartig macht. ({4}) Wir haben in diesem Bundestag das Gesetz zur Verbesserung der Bekämpfung des Dopings im Sport verabschiedet. Wir haben die rechtlichen Grundlagen geschaffen. Wir haben die finanziellen Mittel der Dopingbekämpfungsagentur erhöht. Auch dieser Weg muss fortgesetzt werden. Aber allein mit gesetzlichen Maßnahmen und Kontrollen ist das nicht zu schaffen. Gestatten Sie mir eine Bemerkung zu den Olympischen Spielen, die dieses Jahr in Peking stattfinden werden. Wir haben in den vergangenen Wochen viele und auch nicht gerade einfache Debatten zu diesem Thema geführt. Ich habe bei meinem Besuch in Peking mit meinem chinesischen Kollegen sehr ausführlich und intensiv über dieses Thema gesprochen. Wir haben Vereinbarungen über die Zusammenarbeit in der Sportwissenschaft - übrigens insbesondere im Bereich der Dopingbekämpfung - geschlossen. China hat in den letzten Jahren in der Dopingbekämpfung beachtliche Anstrengungen unternommen. Ich glaube, wir haben nicht nur national, sondern auch international eine Chance, im Kampf für faire Bedingungen und für das Verbot von Doping erfolgreicher zu sein, als wir es in den vergangenen Jahren waren. Ich bin alles andere als naiv; es wird weiter Verstöße geben. Wir müssen den Kampf gegen Doping weiterhin ernst nehmen, aber ich glaube, dann besteht eine gute Chance, dass wir Spiele miterleben dürfen, bei denen wir Freude an den Leistungen der Athleten haben können. Ich hoffe, dass die chinesische Führung besser versteht, dass die Olympischen Spiele vor allem Spiele der Freude sein sollen, ein Fest und eine Begegnung der Völker - etwas, was China von den Olympischen Spielen genauso erwartet, wie wir es uns in Deutschland von der Fußballweltmeisterschaft erwartet und auch erreicht haben. Das gibt einem Land die Chance, sich stärker zu öffnen. Das muss man nicht fürchten; dem muss man sich vielmehr anvertrauen. Die Vorbereitungen, die China getroffen hat, sind respekterheischend. Dass es Probleme gibt, ist wahr. Darüber haben wir bereits gesprochen. Man darf dem nicht ausweichen. Das liegt auch im Interesse Chinas selbst. Ich glaube, dass wir insgesamt bei allen schwierigen Diskussionen auf einem zuversichtlich stimmenden Weg sind. Die Fußballeuropameisterschaft liegt unmittelbar vor uns. Manche sind sicherlich in Gedanken schon bei dem Spiel in Klagenfurt am Sonntagabend. Wir müssen aber in einer Debatte über die Bedeutung des Sports immer daran erinnern, dass wir alles tun müssen, um Gewalt im Sport - insbesondere in Fußballstadien - mit aller Entschiedenheit zu bekämpfen, um den Sport nicht den Gewalttätern, den Radikalen und den Krawallmachern zu überlassen. Ich habe großen Respekt und Dankbarkeit gegenüber dem Engagement und der Verantwortung der zuständigen Verbände, insbesondere des Deutschen FußballBundes. Die Polizeien in Bund und Ländern unterstützen sie nach Kräften. Wie Sie wissen, haben wir bei der Fußballweltmeisterschaft die Unterstützung von Polizisten aus allen europäischen Ländern bekommen. Bei der Fußballeuropameisterschaft in der Schweiz und in Österreich werden insgesamt 1 700 Polizisten Deutschlands aus Bund und Ländern im Einsatz sein. Eine vergleichbare Größenordnung hat es zuvor nie gegeben. Das zeigt erstens, dass wir in der internationalen polizeilichen Zusammenarbeit wirklich vorankommen, und zweitens, dass alle Länder - auch unsere Nachbarstaaten sehr froh sind, dass wir in Deutschland in Bund und Ländern eine so gute Polizei haben. Es zeigt drittens, dass die Polizei, wie alle Sicherheitsorgane - das sage ich auch im Hinblick auf andere Debatten, die wir diese Woche geführt haben -, Freiheit und Friedlichkeit schützt und dafür notwendig ist. Die Anstrengungen, die wir in der Politik - Gesetzgeber, Parlament, Regierung und Verwaltung - unternehmen, ist etwas, was sich nicht nur auf die Fußballeuropameisterschaft, sondern auch auf viele andere nationale und internationale Wettbewerbe in der Vergangenheit oder in der Zukunft wie die Hockeyweltmeisterschaft und die Handballweltmeisterschaft in den vergangenen Jahren oder die Leichtathletikweltmeisterschaft im nächsten Jahr, auf die wir uns freuen, bezieht. Es dient dem Ansehen unseres Landes und der Steigerung der Lebensfreude in unserem Land. Sport ist etwas von dem Schönsten, was wir haben. Die Qualität, die Leistungen und die Attraktivität der Wettbewerbe auf höchstem internationalen Niveau motivieren zugleich viele Menschen, selber Sport zu treiben und damit ein Stück weit glücklicher zu werden und bessere Chancen auf ein erfülltes Leben zu haben. Deswegen bin ich sicher, dass die Bemühungen, die wir gemeinsam - auch in der Verantwortung für Steuergelder in der Sportpolitik unternehmen, mit das Beste sind, was wir für die Nachhaltigkeit unserer freiheitlichen Ordnung tun können. Herzlichen Dank. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Detlef Parr, FDPFraktion. ({0})

Detlef Parr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001676, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Minister, herzlichen Dank für Ihr leidenschaftliches Plädoyer für die Freiheit und die Schönheit des Sports. Damit sprechen Sie uns Liberalen aus dem Herzen. Hier haben wir viele Gemeinsamkeiten. Der Auslöser für die heutige Grundsatzdebatte war allerdings ein anderer. Monatelang bestimmten Schlagzeilen über Medikamentenmissbrauch, Gewalt und Rassismus, Betrug, Leistungsmanipulationen, Verdächtigungen, Boykottdrohungen und Maulkörbe für Athleten das öffentliche Bild des Sports, zum Teil sogar aus diesem Hohen Hause befördert. Durch diese Dominanz der Katastrophenmeldungen entstand der Eindruck, der Sport bewege sich am Abgrund, ein Zerrbild, das aber ein Gutes hat: Wir denken über die gesellschaftliche Bedeutung des Sports neu nach und stellen seine Strukturen auf den Prüfstand. Wir erkennen, dass der Sport Teil eines gesamtgesellschaftlichen Netzes, gleichsam ein Spiegel des Zustands unserer Gesellschaft ist. Missstände sind vor dem Hintergrund von 27 Millionen Menschen in 90 000 Vereinen plus unzähliger nicht organisierter Sporttreibender nicht die Regel, wie manche Berichterstattung glauben machen will. Sie sind vielmehr das unbeabsichtigte Ergebnis des Zusammenwirkens unterschiedlicher Interessen aus Leistungssport, Wirtschaft, Wissenschaft, Politik, Massenmedien und Publikum. Daraus ergibt sich folgende, etwas plakativ dargestellte Handlungskette: Das Publikum will Rekorde, Spannung, Unterhaltung, Brot und Spiele. Die Medien greifen dieses Bedürfnis auf und berichten vorzugsweise über die Erfolgreichen. Diese wecken das Interesse der Wirtschaft, die über Sponsoring den Sport als attraktives Werbemedium unterstützt. Die Wissenschaft entwickelt - teilweise am Rande des Erlaubten - innovative Methoden, um die Athleten zu Höchstleistungen zu animieren. Die Politik subventioniert den Spitzensport - wenn wir ehrlich sind - auch, um Begleitaufmerksamkeit herzustellen und Profil zu gewinnen. Wir müssen zugeben: All diese Akteure - auch wir - haben ihren Anteil an der Entstehung der Probleme, an denen ein Teil des Sports heute leidet. Deshalb müssen wir den Sport neu denken, müssen wir auch Verantwortung neu und anders einfordern und uns von den strukturellen Zwängen so weit wie möglich lösen. Wir dürfen nicht bei jedem Kritikpunkt gleich „Skandal“ rufen. Ein bisschen mehr Gelassenheit und Sachlichkeit tun auch dem Sport gut. ({0}) Willi Weyer, der unvergessene Präsident des ehemaligen Deutschen Sportbundes, hat vor vielen Jahren in seiner burschikosen Art gesagt: „Sport ohne Leistung ist Kappes!“ Recht hat er. Aber darf Leistung angesichts der Entwicklung der Ergebnisse etwa in der Leichtathletik oder beim Schwimmen immer nur absolut gesehen werden, mit dem manischen Blick auf die Anzeigentafel und der Gier nach neuen, absoluten Höchstleistungen? So können und dürfen wir nicht länger das olympische Motto „schneller, höher, stärker“ auslegen. Wir müssen vielmehr Zuschauern, Medien, der Wirtschaft, der Wissenschaft und auch uns selbst als verantwortlichen Sportpolitikern klarmachen: Die wachsende Nachfrage nach immer hochkarätigeren Leistungen hat in vielen Disziplinen längst ihre Grenzen an den körperlichen und psychischen Möglichkeiten des Einzelnen erreicht. Wir alle dürfen keine Beiträge mehr leisten, die dazu führen, dass Körper und Psyche unserer Athletinnen und Athleten überfordert werden und zu hohe Erwartungen entstehen. Die Bedeutung des Wettkampfes muss über dem Rekordgedanken stehen. Anreize wie Rekordprämien oder der Einsatz von sogenannten Hasen als Tempomacher müssen der Vergangenheit angehören. Das gilt auch für die Einblendungen von Rekordzeiten im Fernsehen oder ihrer Veröffentlichung in Programmheften. Wir müssen einen neuen Anfang wagen. Wir müssen uns auf Werte des Sports zurückbesinnen, die verschüttet wurden. ({1}) Nun zur Sportförderung. Wir als Bundestag sind der größte Geldgeber des Spitzensports. Im engen Schulterschluss mit dem DOSB und den Fachverbänden werden die Mittel leistungsorientiert eingesetzt. Bundeswehr, Bundespolizei und Zoll geben unseren Hochleistungssportlern den erforderlichen Rückhalt. Darüber dürfen wir aber die zweite wesentliche Säule nicht vergessen, die Herr Minister Schäuble auch angesprochen hat, nämlich die Sponsoren aus der Wirtschaft. Die herausragende Bedeutung der Stiftung Deutsche Sporthilfe ist uns erneut am vergangenen Wochenende bei der Verleihung der Goldenen Sportpyramide vor Augen geführt worden. Das Sponsoring muss weiter wachsen. Nicht nur für den Spitzensport, sondern auch für die kleinen Vereine ist in Zeiten knapper Kassen die Beteiligung der privaten Wirtschaft unabdingbar geworden. Die FDP beobachtet allerdings mit Sorge, dass die Bundesregierung mit ihrem fatalen Hang zum Aufbau einer Verbotsrepublik ({2}) Deutschland die Rahmenbedingungen für eine gute Sportförderung durch die Wirtschaft deutlich verschlechtern will. Staatliche Überreglementierung, neue Werbeverbote in den Medien oder im Internet, Verkaufsverbote und Konsumverbote prägen die aktuelle Situation, zum Beispiel die Diskussion über Tabak- und Alkoholprävention oder Ernährungsfragen. Bei allem Verständnis für einen fürsorgenden Staat: Er darf die Menschen in ihrem privaten Bereich nicht übermäßig bevormunden. Aufklärung und Information im Zusam17488 menwirken mit der Industrie, auch Selbstverpflichtungen im Bereich des Kinder- und Jugendschutzes führen zu besseren Ergebnissen und sichern zugleich die Möglichkeiten des Sponsorings auch als soziale Leistung. Auch darauf hat der Sportminister hingewiesen. ({3}) An die Substanz der Sportförderung geht der neue Glücksspielstaatsvertrag. Viele Millionen Euro aus den Erlösen flossen bisher über die Länder in die Vereine und Verbände. Die Antworten auf erste Anfragen meiner Landtagskollegen nach Inkrafttreten des Vertrages sind alarmierend. In Schleswig-Holstein gingen die Einnahmen aus der Oddset-Sportwette in den ersten vier Monaten bei der Kombiwette um 40 Prozent und bei der Topwette um 50 Prozent zurück, in Sachsen um 52 Prozent. Zusammengerechnet sind das 4,5 Millionen Euro. Im Lottobereich verzeichnen wir in beiden Ländern insgesamt 12,5 Millionen Euro Mindereinnahmen, unter anderem wegen der Restriktionen für gewerbliche Spielvermittler. Das geschieht in einem Glücksspielbereich, in dem das Suchtverhalten am unproblematischsten ist, wie die Drogenbeauftragte der Bundesregierung gestern noch im Gesundheitsausschuss bestätigt hat. Wir sind auf dem falschen Weg. Bereits im Februar 2006 hatte eine Kommission „Sportwetten der Bundesländer“ erstaunliche Erkenntnisse, die die FDP in zwei Anträgen hier in das Haus eingebracht hat. Sie weist bei einer möglichen Neuordnung des Rechts der Sportwetten auf die Erschließung von bislang dem Sport nicht zugänglicher Wertschöpfung hin. Sie zieht eine Konzessionierung gewerblicher Anbieter in Erwägung und fordert - ich zitiere - „bei der Zulassung gleiche Bedingungen für alle Bewerber, auch für die bisherigen staatlichen Sportwettanbieter, die sich gegebenenfalls zusammenschließen könnten, um ein konkurrenzfähiges Angebot abgeben zu können.“ Ich fordere die Regierungen in Bund und Ländern auf: Schluss mit dieser Vogel-StraußPolitik! Nehmen Sie die Realitäten wahr! Ordnen Sie europarechtskonform die Sportwetten neu, wie es Großbritannien, Österreich und Spanien vorgemacht haben und Frankreich es künftig tun wird. ({4}) Dann könnten wir auch anderen wichtigen Bereichen des Sports, die bisher eher stiefmütterlich behandelt wurden, wie dem Deutschen Behindertensportverband oder Special Olympics, der Vereinigung, die für die geistig Behinderten und ihre Sportmöglichkeiten eintritt, neue Quellen eröffnen und für eine gesichertere Zukunft sorgen. Ich danke Ihnen fürs Zuhören. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun die Kollegin Dagmar Freitag, SPD-Fraktion. ({0})

Dagmar Freitag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002655, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die heutige Debatte über den Sportbericht ist mit einer Debatte über einen Antrag der Linksfraktion verbunden. Frau Kollegin Kunert, zu Beginn eine positive Bemerkung hierzu: Wir freuen uns, dass Sie sich der Forderung meiner Fraktion nach Aufnahme des Sports ins Grundgesetz angeschlossen haben. ({0}) Damit endet aber auch bereits die Übereinstimmung. Ihrem propagierten Anliegen, den Sport in Bund, Ländern und Gemeinden auf eine solidere Basis zu stellen, erweisen Sie mit dem vorliegenden Antrag jedenfalls keinen guten Dienst. Jeder Verfassungsrechtler hätte Ihnen erklären können, dass der Bund keine hinreichende Gesetzgebungskompetenz hinsichtlich Ihrer Forderungen hat. Andere Bestandteile hat die Regierungskoalition längst abgearbeitet - ich nenne nur die Stärkung des Ehrenamtes -, und das im Übrigen weit über den Sport hinaus. Auch da unterscheiden wir uns von Ihnen. Sie hätten unserem Gesetzentwurf einfach nur zustimmen müssen. ({1}) Wie auch immer, der vorliegende Antrag ist jedenfalls nicht dazu angetan, die Sportförderung in Deutschland zu verbessern. Die verfassungsrechtlichen Probleme tun ein Übriges. Deshalb werden wir diesen Antrag ablehnen. ({2}) Die rot-grüne Koalition war diejenige, die die Dopingbekämpfung auf die Tagesordnung gehoben hat - nach langen Jahren beschwichtigender Untätigkeit der Vorgängerregierung. Wir haben eine teilweise heftig geführte öffentliche Debatte angestoßen. Massive Widerstände, insbesondere vonseiten des organisierten Sports, haben damals verhindert, dass es schon in der rot-grünen Zeit zu einer schärferen gesetzlichen Regelung kam. Das hat die Große Koalition mittlerweile nachholen können. Ich bleibe bei meiner damaligen Einschätzung: Die Verweigerungshaltung war nicht zum Nutzen, sondern zum Schaden des deutschen Sports. ({3}) Eine konsequente Dopingbekämpfung war und bleibt von existenzieller Bedeutung für die Zukunft des Spitzensports. Das haben aber noch immer nicht alle verstanden. So hat der Deutsche Eishockey-Bund noch im März dieses Jahres geglaubt, man könne Dopingvergehen getrost abseits geltender Regularien sanktionieren. Er hat gegen einen Dopingprobenverweigerer statt einer obligatorischen Sperre eine Ministrafe verhängt. Das war ein Schlag ins Gesicht der Verbände, die ihren AthDagmar Freitag leten in vergleichbaren Fällen eine solch zweifelhafte Unterstützung nicht gewähren. ({4}) In diesem Zusammenhang möchte ich ausdrücklich die konsequente Haltung von NADA und Bundesinnenministerium hervorheben. Gemeinsam haben wir erreichen können, dass der Deutsche Eishockey-Bund eingelenkt hat und die Angelegenheit vor einem unabhängigen Schiedsgericht nachverhandeln lässt, leider - auch das sollte gesagt werden - erst nach langem Zögern und Taktieren. Machen wir uns nichts vor: Ohne unsere konsequente Haltung wäre es hierzu nicht gekommen. Deshalb erneuere ich an dieser Stelle die ausdrückliche Forderung meiner Fraktion an die deutschen Spitzenverbände: Unterwerfen Sie sich dem nationalen unabhängigen Schiedsgericht! Einige Verbände - allerdings viel zu wenige - haben das bislang getan. ({5}) Dieses Signal sollte nun wirklich endgültig verstanden worden sein. Für Verbände, die die Dopingbekämpfung nicht ernst nehmen, kann es keine staatliche Förderung geben. ({6}) Sportpolitik ist vor allem, doch nicht nur eine Sache des Sportministeriums. Ein Beispiel: Für meine Fraktion hat der Sport in der auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik einen ausgesprochen hohen Stellenwert. Allein an der Trainerschule in Mainz sind bislang rund 330 Leichtathletiktrainer aus 80 Ländern ausgebildet worden. Eine Besonderheit dabei ist: Diese Kurse werden auf Deutsch gehalten. Deutschland, unsere Menschen, unsere Kultur, wird den angehenden Trainern dadurch vertraut. Interessant ist: Viele der Absolventen sind heute in Führungspositionen in Sport und Politik in ihren Heimatländern. Wann und wo auch immer man diese Menschen trifft: Die Zeit in Deutschland wird von ihnen als Highlight in der persönlichen und beruflichen Entwicklung geschildert. Daher wird es niemanden verwundern, dass Außenminister Steinmeier unsere ausdrückliche Unterstützung für diese und andere Maßnahmen hat, ({7}) seien es die Kurz- und Langzeitprojekte in Afrika oder Maßnahmen zum Wiederaufbau der Sportstrukturen in Afghanistan. ({8}) Das Auswärtige Amt leistet an dieser Stelle einen unverzichtbaren Beitrag zum Aufbau zivilgesellschaftlicher Strukturen in vielen Ländern. Sportförderung durch Bund, Länder und Kommunen erreicht einen großen Teil der Menschen in unserem Land. Der in den Vereinen und Verbänden organisierte Sport und seine Mitglieder erfahren ein hohes Maß an Förderung, auch im finanziellen Bereich. Aber wichtig ist an dieser Stelle der Hinweis: Der Sport gibt der Gesellschaft ein Vielfaches davon zurück. Das belegt im Übrigen auch der vorliegende Bericht. Spannende Monate liegen, sportlich gesehen, vor uns. Fußballeuropameisterschaft und Olympische Spiele warten auf ihre Sieger. Da Rückblick und Ausblick immer zusammengehören, stellt sich natürlich auch die Frage, welchen Weg der Sport und die Sportförderung zukünftig gehen werden. Die Antwort kann nicht allein im Zählen von Medaillen und Meistertiteln liegen. Möglichst viele Medaillen und saubere Sportler - diese Gleichung wird in Zeiten des Hightechdopings nicht aufgehen können. Daher muss eines der wichtigsten Ziele deutscher Sportpolitik sein, eine strikte Anti-Doping-Politik auch auf internationaler Ebene einzufordern. ({9}) Ich erinnere hier an das unter großem Beifall der Athleten gegebene Versprechen der Bundeskanzlerin vor der deutschen Leichtathletik-Nationalmannschaft in Osaka, sich auf internationaler Ebene entschieden dafür einzusetzen. Erwartungen auf ein realistisches Maß zurückzuschrauben, ist keine Abkehr vom Leistungsprinzip. Eine Stärkung der Sportwissenschaft ist ein Baustein für eine leistungsorientierte Sportförderung. Daher befürworten wir ausdrücklich eine stärkere Einbeziehung der Sportwissenschaft, allerdings unter der selbstverständlichen Voraussetzung ethischer Grundprinzipien. ({10}) Ich sage ganz deutlich: Freiburg darf sich nicht wiederholen! ({11}) Die Sportförderung in unserem Land ist von einer exzellenten Qualität. Dennoch haben wir sie weiterzuentwickeln. Damit entwickeln wir auch unsere Gesellschaft weiter. Das ist nicht voneinander zu trennen. Die SPDBundestagsfraktion stand und steht an der Seite des Sports. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({12})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Für die Fraktion Die Linke hat Katrin Kunert das Wort. ({0})

Katrin Kunert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003795, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 64 Tage vor Beginn der Olympischen Spiele - später folgen noch die Paralympics - in Peking wünscht die Linke allen Sportlerinnen und Sportlern eine optimale Vorbereitung - verletzungsfrei -, das Erreichen der hochgesteckten Normen, viel Erfolg und schöne Spiele. ({0}) Fest steht: Deutschland wird mit einer starken Mannschaft nach Peking fahren. Die Erwartungen sind sehr hoch. Fest steht auch, dass die weitere Förderung durch den Bund maßgeblich vom Abschneiden der Mannschaft abhängen wird. Aber die Förderung des Spitzensports ist nur die eine Seite der Medaille. Die andere Seite der Medaille ist die Förderung des Breitensports. Von daher ist es gut, dass wir vor Olympia den 11. Sportbericht der Bundesregierung und den Antrag der Fraktion Die Linke für ein Sportförderungsgesetz des Bundes beraten. Für die Linke ist klar: Ohne eine bessere Unterstützung des Breitensports wird der Spitzensport in Zukunft auf der Strecke bleiben. ({1}) Daher muss die Sportförderung im weiten Sinn im frühkindlichen Alter beginnen und bis ins hohe Alter erfolgen. In einer modernen Gesellschaft muss der Sport mehr sein als nur Wettlauf um höhere Leistungen. Durch Sport werden Werte vermittelt und wird die Gesundheit gefördert. Bei großen internationalen Wettkämpfen wie in Peking trägt der Sport zur Völkerverständigung und zum friedlichen Zusammenleben der verschiedensten Nationen bei. Aber nun zum Bericht. Darin heißt es - ich zitiere -: Auch der Spitzensport leistet einen wichtigen Beitrag für die Gesellschaft insgesamt. Erfolgreiche Sportler haben insbesondere für Kinder und Jugendliche oftmals Vorbildfunktion und stehen für Leistungswillen, Ausdauer, Fairness und Teamgeist. Die Förderung des Leistungssports ist deshalb zugleich ein Beitrag zur gesellschaftlichen Wertedebatte. Dem stimmen wir zu. Nur: Über welche Werte reden wir? Welche Werte erfahren die Menschen im Leben? Die zunehmende Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich ermöglicht vielen Menschen die Teilnahme an Sportkursen oder Veranstaltungen erst gar nicht, weil ihnen schlicht und einfach das Geld fehlt, und sie haben auch andere Sorgen. Der Sport hätte das Potenzial, die Gesellschaft zusammenzuhalten, aber das Potenzial wird nicht ausgeschöpft. Deshalb sagt die Linke: Erstens. Alle Kinder und Jugendlichen sowie Erwachsenen bis hin zu den Seniorinnen und Senioren, egal ob mit oder ohne Behinderung, müssen freien Zugang zum Sport haben. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will Ihnen von Bianca erzählen. Sie besucht seit zwei Jahren die Landessportschule in Halle. Sie ist mit Leib und Seele Basketballerin. Ihr großes Vorbild ist Dirk Nowitzki. Sie wurde 2007 deutsche Meisterin, 2008 Landesmeisterin in Sachsen-Anhalt, mitteldeutsche Meisterin, ostdeutsche Meisterin, norddeutsche Meisterin, und vor zwei Wochen wurde sie mit ihrer Mannschaft, den Halle Lions, deutsche Vizemeisterin. Wenn sie so weitermacht, wird sie eines Tages in der Nationalmannschaft für Deutschland spielen. Man könnte meinen, das sei eine steile Karriere. Aber ihr Besuch der Sportschule konnte nur durch private Förderer gesichert werden, da beide Elternteile Arbeitslosengeld II beziehen. ({3}) In dem Regelsatz von 347 Euro sind nun einmal keine Internatskosten enthalten. Liebe Kolleginnen und Kollegen, stellen Sie sich einmal vor: Bürgerinnen und Bürger in diesem Land geben ihr privates Geld, damit ein Kind eine weiterführende Schule besuchen kann, und zum Dank streicht der Staat der Bedarfsgemeinschaft die Leistung für das Kind. Der Staat spart auf Kosten der Bürgerinnen und Bürger. Das ist ein Skandal. Das sage ich Ihnen ganz deutlich. ({4}) Dass der Staat diese Schulen nicht kostenlos zur Verfügung stellt, ist schon ein Armutszeugnis. Aber dass man es den Familien auch noch schwerer macht, wenn sie sich selbst darum kümmern, dass die Kinder solche Schulen besuchen können, ist ein Punkt, über den Sie, wie ich denke, nachdenken sollten. Das ist auch ein Beispiel dafür, dass die Bundesgesetzgebung in die Tiefen des Breitensportes und bis hin zur Basis wirkt. ({5}) Über diesen Punkt sollten wir wirklich reden. An Talenten mangelt es in Deutschland nicht. Aber es ist nur einem Teil der Kinder und Jugendlichen möglich, sich sportlich weiterzuentwickeln. Genau wie in der schulischen Bildung hängen die Chancen der Kinder in erster Linie vom Geldbeutel der Eltern ab. Schon die Mitgliedschaft in manchen Sportvereinen stellt für viele Kinder eine finanzielle Hürde dar. Zweitens. Im Schulsport liegt vieles im Argen, und das seit Jahren: Sportstunden werden gestrichen; es gibt nicht genügend Sportlehrerinnen und Sportlehrer; die Aus- und Weiterbildung ist absolut unzureichend, und der Schwimmunterricht wird privatisiert. ({6}) Dabei ist gerade der Schulsport ein wichtiges Bindeglied zwischen gesunder Lebensweise, Bewegung und Lernfähigkeit. Wir können punktgenau sagen, wie hoch die Gesundheitskosten später sein werden, weil Kinder zu dick sind, sich falsch ernähren oder sich nicht ausreichend bewegen und damit krankheitsanfälliger sind. Eine gute Sportpolitik ersetzt jede Gesundheitsreform. ({7}) In den Kindertagesstätten und Schulen müssen gesunde Ernährung und Bewegung als Ganzes vermittelt werden. Wir fordern bundeseinheitliche Qualitätsstandards zur Weiterentwicklung des Schulsports. Die dritte Sportstunde muss überall, also in jedem Bundesland und in jeder Schule, zur Pflicht werden. ({8}) Nur so kommen wir aus dem Dilemma der Streiterei um die Zuständigkeiten zwischen Bund und Ländern heraus. Gleiche Bildungsstandards, liebe Kolleginnen und Kollegen, tragen ja auch zur Angleichung der Lebensverhältnisse in Deutschland bei - ein Ziel, das wir uns einmal gestellt haben. ({9}) Drittens. Der Zustand vieler Sportstätten ist mangelhaft. Im Sportbericht wird die stolze Zahl von 63 Millionen Euro genannt, die im Rahmen des Bundesprogramms „Goldener Plan Ost“ von 1999 bis 2005 zur Sanierung und zum Neubau von Sportstätten ausgegeben worden sind. ({10}) Aber im eigentlichen Berichtszeitraum, also von 2002 bis 2005, waren es nur noch 26 Millionen Euro, und im Haushalt für 2008 stehen ganze 2 Millionen Euro. Das bezeichne ich als einen Witz. In der letzten Debatte über den Haushalt haben Sie unseren Antrag, diesen Betrag wenigstens auf 10 Millionen Euro anzuheben, abgelehnt. ({11}) Die Grünen haben leider sogar signalisiert, dass sie diese Förderung am liebsten ganz abschaffen wollen. Kluge Sportpolitik sieht aber anders aus, meine Damen und Herren. ({12}) Fest steht: 70 Prozent der Sportanlagen im Osten und 40 Prozent der Sportanlagen im Westen sind sanierungsbedürftig. Für die Sanierung werden nach Auskunft von Fachleuten 40 Milliarden Euro benötigt, davon entfallen 20 Milliarden Euro auf die öffentlichen Träger, also in erster Linie auf die Kommunen. Auch wenn wir heute über Sport reden, stelle ich fest: Die Finanzausstattung der Kommunen steht unter keinem guten Stern. Es gibt bei den Kommunen große Unterschiede zwischen Arm und Reich. Das sieht man auch am Zustand der Sportstätten. ({13}) Die Linke fordert, auch die Sportstätten am Aufschwung in Deutschland teilhaben zu lassen. ({14}) Das heißt im Klartext: Mindestens 20 Millionen Euro in das Programm „Goldener Plan“ einstellen und dieses auf die alten Bundesländer ausdehnen. Im gleichen Kontext sage ich auch: Die Finanzausstattung der Kommunen muss vom Kopf auf die Füße gestellt werden, damit die Sportinfrastruktur auch nachhaltig verbessert werden kann. Vielleicht, liebe Kolleginnen und Kollegen, gelingt es Ihnen auch noch, in der Föderalismusreform II die Entschuldung der Kommunen unterzubringen. Das ist nämlich genauso wichtig. ({15}) Viertens. Der Sport braucht insgesamt noch mehr Anerkennung und Verbindlichkeit. Die Linke unterstützt deshalb den Vorschlag des DOSB, Sport als Staatsziel in das Grundgesetz aufzunehmen. Mit einem Sportfördergesetz des Bundes muss die derzeitige Förderung des Spitzensportes mit der des Breitensportes zusammengeführt werden. Sport als aktives Gesundheitsprogramm und als Instrument zur Integration und Chancengleichheit für Frauen und Menschen mit Behinderungen muss in einem Sportfördergesetz festgeschrieben werden. Ihre föderalen Hinderungsgründe und Ihr Hinweis, dafür seien wir nicht zuständig, greifen eben nicht immer. In den Haushalten des Innenministeriums, des Verteidigungsministeriums, des Gesundheitsministeriums, des Familienministeriums oder des Auswärtigen Amtes sind entsprechende Gelder eingestellt und werden zum Teil als Bundesprogramme bis in die Kommunen und Einrichtungen ausgereicht. Ein Sportfördergesetz bietet die Chance, alle Maßnahmen, die den Sport betreffen, zu bündeln und aufeinander abzustimmen. Fünftens. Das bürgerschaftliche Engagement muss weiter gestärkt werden. Die Anhebung der Übungsleiterpauschale und steuerrechtliche Vergünstigungen können nur ein erster Schritt sein. Viele Studentinnen und Studenten, Rentnerinnen und Rentner, Arbeitslose und Menschen mit einem geringen Einkommen leisten wertvolle ehrenamtliche Arbeit. Diese haben aber nichts von Steuervergünstigungen. ({16}) Die Linke fordert daher nach wie vor, dass diese Ehrenamtlichen finanzielle Anerkennung bekommen müssen. Tatsächliche Kosten müssen erstattet werden. ({17}) In diesem Zusammenhang will ich noch auf ein Problem hinweisen. Vor kurzem ist das Einkommensteuerrecht geändert worden. Für die Beschaffung von geringwertigen Wirtschaftsgütern ist die Grenze von 400 Euro auf 150 Euro gesenkt worden. Das stellt sich in den Sportvereinen jetzt als Problem dar. ({18}) Wir sollten überlegen, ob wir hier nicht nachjustieren sollten, damit diese Beeinträchtigung der Sportvereine nicht fortbesteht. Sechstens. Öffentlich geförderte Beschäftigung bringt den Sport und den Arbeitsmarkt in Schwung. Frau Freitag, eine öffentlich geförderte Beschäftigung lehnen Sie mit dem Hinweis ab, es würde gegen die Autonomie der Sportorganisationen verstoßen. ({19}) - Gestern haben Sie zu diesem Thema gesprochen. - Ich muss Sie fragen, ob Sie überhaupt die Realität in den Sportvereinen kennen. Derzeit haben viele Menschen dank ABM in Sportvereinen Arbeitsgelegenheiten. Im Landkreis Stendal sind es allein 80 Menschen. Wir fordern, diese Beschäftigung in versicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse mit Mindestlöhnen umzuwandeln. Den gemeinnützigen Sport zum öffentlich geförderten Beschäftigungssektor auszubauen, ist eine lohnenswerte und notwendige Aufgabe für den Sport und für die Betroffenen. ({20}) Sie heben immer darauf ab, dass es fraktionsübergreifend einen großen Konsens gibt, was die Sportförderung angeht. Das ist punktuell richtig. Wir aber sagen: Mit einem generell festgeschriebenen Sportfördergesetz kann man viele Ungerechtigkeiten und Ungereimtheiten ausräumen. Man kann bestimmte Aktivitäten vom Bund aus bündeln. ({21}) Es gibt nach wie vor große Unterschiede in der Förderung des Frauen- und Männersports. Ich nenne als Beispiel den Fußball. Es gibt auch nach wie vor große Unterschiede bei der Förderung des Spitzensports von Menschen mit und ohne Behinderung; dazwischen liegen Welten. Diese Punkte müssen auf den Prüfstand und müssen in einem Sportfördergesetz neu geregelt werden. ({22}) Ausgehend von der gestrigen Sitzung des Ausschusses sage ich: Wir wollen nicht Freibier für alle. ({23}) Wir wollen sehr viele Menschen in diesem Land glücklich machen. Das ist richtig. Aber in erster Linie wollen wir dieses Land gerechter gestalten, und das beginnt mit dem Sport. Schönen Dank. ({24})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Um jedem möglichen Missverständnis vorzubeugen: „Freibier für alle“ müsste außerhalb des Plenarsaals angeboten werden; hier drinnen ist es sicherlich nicht zulässig. ({0}) Nun hat der Kollege Winfried Hermann das Wort für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Winfried Hermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003147, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Sportausschuss, so pflegen wir zu sagen, gibt es viele Gemeinsamkeiten. Die Sportpolitikerinnen und Sportpolitiker haben Spaß und Freude am Sport. Deswegen gibt es auch viele gemeinsame Vorstöße. Obwohl es viele Gemeinsamkeiten gibt, gibt es auch Differenzen und Unterschiede. Das ist auch gut so. Auch der Sport braucht eine politische Debatte. ({0}) Im Sportbericht, der Anlass unserer Debatte ist, findet man ganz am Anfang beschrieben, welche unglaublich vielfältige Dimensionen der Sport hat. Er hat eine soziale, eine integrative und eine leistungsfördernde Funktion. Er spielt inzwischen auch in großen Bereichen der Wirtschaft eine wichtige Rolle. Ich nenne beispielsweise den Tourismus. Der gesamte Bericht spiegelt wider, wie großartig und wie vielfältig Sport ist, wie er in dieser Gesellschaft wahrgenommen wird und was er für sie bedeutet. Darin sind wir uns einig. Die Frage ist jetzt nur, ob die Politik selber diese Vielfalt, die der Sport bietet, auch in ihren Akzenten, in dem, was sie tut, widerspiegelt. In diesem Zusammenhang möchte ich ein paar kritische Dinge ansprechen. Herr Minister, Sie sagen, das Prä der Sportpolitik liege natürlich beim Sport. Da besteht kein Dissens. Aber wenn man sich nur an dem orientiert, was die Sportorganisationen machen, dann läuft die Politik Gefahr, dass sie nur darauf antwortet und keine selbstständigen Initiativen in Gang setzt. Wir Grüne meinen, Sportpolitik muss auch eigenständige Akzente setzen und dafür sorgen, dass alles in den richtigen Bahnen läuft. ({1}) Ein Beispiel. Es muss skeptisch stimmen, wenn zum Beispiel beim Landessporttag in Baden-Württemberg der Tenor der Debatte ist: „Der DOSB nimmt den Breitensport nicht wahr, nicht ernst“ oder wenn, wie im Sportausschuss, die nichtolympischen Sportverbände sagen: Wir bekommen kaum Fördermittel; alles konzentriert sich auf den olympischen Sport. - Dazu sage ich: Hoppla, es könnte sein, dass falsche Zeichen gesetzt werden, dass wir bei der Konzentration auf den Spitzensport, dessen Bedeutung durchaus nicht bestritten wird, vergessen, dass es auch Breitensport und Sport auf LanWinfried Hermann desebene und in den Kommunen gibt. Auch dies müssen wir in unsere sportpolitischen Überlegungen mit einbeziehen. Unsere Forderung ist, sich mehr in diese Bereiche hineinzudenken. ({2}) Herr Minister, meine Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, Sie haben die Mittel für den Spitzensport zu Recht erhöht; ({3}) denn sie waren über Jahre gedeckelt. Aber die Mittel für Breitensportaktivitäten, für Modelle, die dort möglich sind, sind nicht in gleicher Weise erhöht worden. ({4}) Wir sagen eindeutig: Wir wollen auch in diesem Bereich mehr tun. ({5}) Der Breitensport braucht eine Lobby - so der Landessportverband Baden-Württemberg; auch andere könnte man zitieren. Nun sagen Sie: Da haben wir doch keine verfassungsgemäße Zuständigkeit. ({6}) Die ist in der Tat beschränkt. Aber Sie sollten in Ihrer Argumentation konsequent sein: Die meisten von Ihnen vertreten die Auffassung, dass Sport als Staatsziel in das Grundgesetz aufgenommen werden soll. ({7}) Warum? Weil Sie sagen: Breitensport, Gesundheitssport, soziale Funktionen des Sports, all das ist wichtig. Wir wollen das im Grundgesetz verankert sehen. - Wenn man das für richtig hält, dann muss man diese breitensportliche Dimension aber auch in seine politischen Überlegungen, in seine Konzeption mit einbeziehen. ({8}) Das zum Ersten. Zum Zweiten hat der Bund natürlich in den Bereichen Gesundheit, Prävention und Altersvorsorge jede Menge Kompetenzen, sodass er zumindest modellhaft Dinge anstoßen kann, damit sich sportliche Organisationen und die Sportförderung weiterentwickeln können. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, überlegen Sie sich einmal, welche Initiativen, Gedanken, Ideen und Modelle Sie zum Bereich des Breitensports in den letzten zwei Jahren eingebracht haben. Dazu fällt Ihnen nichts ein. ({9}) Ich bin die Sache extra noch einmal durchgegangen. Es ist nichts geschehen. Ich meine, moderne Sportpolitik müsste da mehr zu bieten haben. ({10}) Ich war vor zwei Wochen mit einer kleinen Gruppe des Parlamentarischen Beirats für Nachhaltige Entwicklung in Norwegen. Wir haben uns um Nachhaltigkeit bemüht. Da ist mir etwas Interessantes begegnet: Bei jedem Besuch eines Ministeriums fand man an der Eingangstür ein Plakat vor: Benutze deine Beine zur Arbeit! ({11}) Durch diese Kampagne in Norwegen werden die Leute aufgefordert, sich zu bewegen und schon morgens zur Arbeit zu laufen oder mit dem Rad zu fahren. ({12}) - Das ist eine gute Idee. - Aber wo ist die Initiative der Bundesregierung, auch einmal so ein Konzept vorzulegen, dass die Politik, die Verwaltung vorbildlich zeigen: „Wir wollen uns bewegen; wir fahren Fahrrad. Fahren Sie mit!“? ({13}) - Ich merke, einige sind erregt. ({14}) Kollege Gienger, der nur eine Radlrutsch hat, tut sich schwer mit dem Radfahren; ich weiß. Es gibt übrigens ein Ministerium, das so eine Kampagne fördert: Das ist das Verkehrsministerium, das dafür wirbt, mit dem Fahrrad zur Arbeit zu fahren. Wenn man für Bewegung in der Gesellschaft mehr tun will, dann müsste so eine Kampagne breiter gefasst werden, dann müssten alle mitmachen. Dann müsste das Innenministerium ganz vorne dabei sein. ({15}) Jetzt komme ich zum Thema „Vorbereitung auf die Olympischen Spiele in Peking“. Wir haben darüber schon viel gesprochen. Ich will nicht in aller Breite darüber sprechen, aber auf zwei Punkte eingehen: erstens auf die Bekämpfung von Doping und die Voraussetzungen dafür in China. Der Herr Minister hat gestern im Ausschuss und auch heute gesagt, dass sich in China in letzter Zeit einiges getan hat. Das will ich nicht bestreiten, das ist wahr. Aber gemessen an der Zahl der Menschen in China, die Leistungssport treiben, sind 8 000 Proben pro Jahr - das sind etwa doppelt so viele wie in Deutschland - eine sehr bescheidene Maßnahme und viel zu wenig. Wir wissen, dass es in China viele Labors und jede Menge Eliteschulen und Fördereinrichtungen gibt, die in dieses Kontrollsystem noch nicht eingebunden sind. Es ist unsere Aufgabe, über die internationalen Sportorganisationen darauf hinzuwirken, dass auch in China mehr gegen Doping getan wird. ({16}) Zweitens: das Thema Menschenrechte. Herr Minister, ich habe Sie gestern bewusst gefragt: Was halten Sie von diesem blau-grünen Bändchen mit der Aufschrift „Sports for Human Rights“, das ich am Arm trage? ({17}) - Der Kollege Parr nennt das Symbolpolitik. Für mich ist die Frage, ob es möglich ist, sich bei den Olympischen Spielen zu den Menschenrechten zu bekennen, und zwar nicht propagandistisch, sondern aus persönlicher Überzeugung heraus. ({18}) Kann man so etwas tragen, um sich zu den Menschenrechten zu bekennen, oder ist das Propaganda, die verboten ist? Das IOC tut so, als sei so etwas verboten. Der DOSB übernimmt diese Haltung. Der Minister erklärt, das sei so im Sport und das müsse man so akzeptieren. Wir meinen, das ist inakzeptabel. Ein Bekenntnis zu Menschenrechten muss erlaubt sein. Das ist keine Propaganda, sondern eine pure Selbstverständlichkeit. ({19}) Lassen Sie mich noch etwas zur Aufarbeitung des Dopingproblems im deutschen Sport sagen. Über die Anti-Doping-Kommission des Ministeriums, die sich mit der Aufarbeitung beschäftigt, über den Einsatz der Mittel wacht und prüft, ob die Verbände die Auflagen umsetzen, haben wir Einblick in das bekommen, was wir in Deutschland noch tun müssen. Tatsächlich hat diese Kommission dazu beigetragen, dass in den Verbänden aufgeräumt wurde ({20}) und dass man sich an bestimmte Regeln hält. Das ist gut so. Aber jetzt müssen wir dranbleiben und konsequent sein: Dort, wo Verbände diese Auflagen verletzen, darf es keine staatliche Förderung für den Sport geben. ({21}) Das passiert schon beim Deutschen Eishockey-Bund; das ist gut so. Aber jeder andere Sportverband muss wissen: Diese Auflagen müssen erfüllt werden. Angesichts der Kriterien, die deutlich machen, was alles zu machen ist, wird klar, dass viele Verbände noch etwas tun müssen. Denen muss man signalisieren: Tut es, und zwar schnell und sorgfältig! ({22}) Ich komme zum Fall der Universität Freiburg. Inzwischen arbeitet die Untersuchungskommission in BadenWürttemberg die Verstrickungen und Finanzierungen von Doping an der Universität in Freiburg auf. Aber diese Aufarbeitung betrifft auch den Bund, weil auch Bundestrainer im Einsatz waren und Bundesmittel geflossen sind. Deswegen sind wir vonseiten des Bundes in der Pflicht, nachzuschauen, was schiefgelaufen ist und welche Konsequenz zu ziehen ist. Dabei werden wir Sie unterstützen. ({23}) Ich komme zum Schluss. Was der Sport braucht, ist nicht nur Unterstützung durch die Politik; vielmehr braucht er auch Anregungen und Denkanstöße. Das gilt insbesondere dann, wenn man den Eindruck hat, dass der Sport selbst zu sehr auf den Spitzen- und Hochleistungssport konzentriert ist. Das ist die Aufgabe der Politik. Wir stehen für eine breite Sportpolitik, nicht nur für eine Breitensportpolitik. Wir wollen eine Politik, die Bewegung und Sport in der Gesellschaft und in den Sportverbänden fördert: an der Spitze wie in der Breite. Vielen Dank. ({24})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Eberhard Gienger, CDU/CSU-Fraktion.

Eberhard Gienger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003534, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte zunächst einmal auf Frau Kunert eingehen, die ein Sportförderungsgesetz gefordert hat. Ich darf Ihnen sagen, Frau Kunert: Das, was Sie zu Papier gebracht haben, erinnert mich sehr an den Staatssport der DDR. Ich darf hinzufügen: Die Gerechtigkeit, die Sie gefordert haben, wurde in der DDR in ganz geringem Maße umgesetzt. ({0}) Dabei ging es darum, Leistung zu erbringen, und um nichts anderes. Ein Wort zu dir, Wini Hermann. Der Bund unterstützt den Sport mit relativ geringen Mitteln. Im Jahr 2003 betrugen die Ausgaben für den Sport 3,9 Milliarden Euro. Davon haben die Kommunen 80 Prozent getragen, also ungefähr 3,1 oder 3,2 Milliarden Euro, die Länder etwa 650 Millionen Euro. Der Bund hat sich mit bescheidenen 108 Millionen Euro beteiligt. Das war ein ganz geringer Anteil für den Spitzensport. Ich glaube, dass diese Gewichtung richtig ist. Sport spielt in der Bundesrepublik Deutschland eine herausragende Rolle. Das gilt insbesondere für die Bereiche Gesundheit, Kinder, Integration, Umwelt und Naturschutz, aber auch für die Behindertenarbeit. Hochleistungssport ist wichtig, weil er, wenn Sie so wollen, ein Lehrmeister für Athletinnen und Athleten ist. Was kann man im Spitzensport alles lernen? Man kann lernen, erfolgreich sein zu wollen. Man lernt Disziplin und Flexibilität. Man lernt, seine Leistung morgens um acht oder, wenn es sein muss, auch einmal um Mitternacht zu erbringen. Man lernt, mit Sieg und Niederlage umzugehen. Man lernt, aus Talsohlen herauszufinden und nach Siegen nicht abzuheben. Man lernt, dem Trainer, dem WeiEberhard Gienger seren, zuzuhören und seine Vorgaben umzusetzen. Man lernt Teamfähigkeit. All das sind Erfahrungen, die man auf das private und berufliche Leben - das gilt zum Beispiel für die Ausbildung -, aber auch auf das politische Leben übertragen kann. Aus diesem Grund und wegen der Repräsentationsund Vorbildwirkung des Sports hat sich der Bund entschlossen, die Sportler stärker zu unterstützen. Die internationale Konkurrenz wird immer größer. Die Bundesrepublik Deutschland steht in Konkurrenz zu vielen anderen Nationen, die bei Olympischen Spielen ebenfalls erfolgreich sein wollen, die sich dafür vorbereitet haben. In Korea, Großbritannien - die Olympischen Spiele finden 2012 in London statt -, Frankreich, Japan und vor allem in Australien wird erfolgreich Geld in den Spitzensport investiert. Dieses Parlament hat im vergangenen Jahr dankenswerterweise die bis dahin gedeckelten Beträge um immerhin etwas mehr als 17,1 Millionen Euro aufgestockt, was dem Sport guttut. Seit 1992 hat sich die Anzahl der Disziplinen bei Olympischen Spielen um 30 Prozent erhöht. Auch die Zahl der teilnehmenden Nationen ist angewachsen. Im kommenden Jahr rechnet man in Athen mit 205 teilnehmenden Nationen, also mit mehr Nationen, als die UN Mitglieder hat. Es sind also gute Rahmenbedingungen geschaffen worden. Allerdings ist auch klar, dass der Spitzensport wegen des Dopings - dieses Thema ist schon angesprochen worden - in einer seiner größten, vielleicht sogar der größten Krise überhaupt steckt. Durch Gesetzesänderungen ist es gelungen, Veränderungen herbeizuführen. Das Wirken der NADA - Präventions- und Aufklärungsmaßnahmen sowie unangemeldete Trainings- und Wettkampfkontrollen - hat zumindest bei den Betroffenen ein gewisses Maß an Sensibilität bewirkt. Ich möchte an dieser Stelle eines sagen: Die Athletinnen und Athleten müssen berücksichtigen, dass sich die Zeiten geändert haben, dass sie in einer neuen Zeit leben. Genauso wie sich die Flugreisenden heutzutage auf allen Flughäfen kontrollieren lassen müssen, weil ein paar wenige Terroristen das Gemeinwohl bedrohen, müssen auch die Athletinnen und Athleten davon ausgehen, dass zu ihrem Sport - beim Training und Wettkampf - eine Dopingkontrolle gehört. ({1}) Das mag zwar lästig sein, gehört in Zukunft aber zum Training und zum Wettkampf. Frau Kollegin Freitag, Ihre Bemühungen um eine ordentliche Gesetzgebung im Rahmen des DIS - Deutsches Institut für Sportgerichtsbarkeit - hierzu kann ich nur begrüßen. Ich werde das natürlich forcieren. Ich möchte einen weiteren Punkt ansprechen: Sport ins Grundgesetz. Der Deutsche Olympische Sportbund hat im Oktober 2006 für die Aufnahme des Sports ins Grundgesetz plädiert und ein entsprechendes Papier vorgelegt. Wie Sie wissen, hat sich die CDU/CSU mit diesem Thema beschäftigt, sich aber nicht für eine Aufnahme des Sports als Staatsziel ins Grundgesetz ausgesprochen. Als ehemaliger Leistungssportler und Mitglied des Präsidiums des Deutschen Olympischen Sportbundes einerseits und Abgeordneter der CDU/ CSU-Fraktion andererseits schlagen zwei Herzen, ach, in meiner Brust: Auf der einen Seite würde mit der Verankerung des Sports als Staatsziel im Grundgesetz die besondere Bedeutung des Sports für unsere Gesellschaft gewürdigt. ({2}) Auf der anderen Seite muss man allerdings anerkennen, dass es gute Argumente für eine andere Einstellung zu diesem Thema gibt. Es gibt nämlich sehr wohl Interessenten, die auch andere Staatsziele, wie Kinderrecht oder Nachhaltigkeit verankert wissen möchten. ({3}) Wir müssen uns die Frage stellen: Brächte das Staatsziel Sport dem Sport das, was er sich erhofft, brächte es den Sport weiter? Diese Frage sollte Auslöser dafür sein, neue Gespräche darüber zu führen. Was meine Person anbetrifft, so würde ich gerne den Sport im Grundgesetz sehen. Ich habe aber auch Verständnis für die Argumentation der anderen. ({4}) Ich möchte noch einige Anmerkungen zur Sinnhaftigkeit der Fusion von Deutschem Sportbund und NOK zum Deutschen Olympischen Sportbund machen. Ich gebe zu, dass auch ich damals kein großer Freund der Fusion war. Ich habe aber zugestimmt, nachdem das Argument vorgebracht wurde, dass der Sport dann mit einer Stimme sprechen könnte. Dadurch sind wir jetzt in einer anderen Situation. 1980, als es um einen Boykott der Olympischen Spiele in Moskau ging, hat sich der Sport gegenseitig zerfleischt: NOK gegen DSB, dazwischen die Deutsche Sporthilfe. Jetzt hat man erreicht, dass der deutsche Sport mit einer Stimme spricht. Aus diesem Grunde wundere ich mich, weshalb dem Deutschen Olympischen Sportbund so viel Kritik entgegenschlägt, er habe als Interessenvertreter seiner Athleten seine Meinung, an den Olympischen Spielen in Peking teilzunehmen, sehr früh bekannt gegeben. ({5}) Dies hat er in erster Linie getan, weil sich der DalaiLama selbst gegen einen Boykott ausgesprochen hat. ({6}) Winfried Hermann, vielleicht noch eines zu den Bändchen.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das muss jetzt aber ganz knapp erfolgen.

Eberhard Gienger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003534, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme zum Schluss, nur noch einen Satz. - Das IOC hat in Regel 51 Abs. 3 der Olympischen Charta ganz klar festgelegt, dass es nicht erlaubt ist, politische oder religiöse Demonstrationen durchzuführen, dass die Athletinnen und Athleten aber das Recht haben, sich bei Pressekonferenzen, in öffentlichen Gesprächen und in der Mixed Zone zu äußern. Ich denke, dies ist eine gute Lösung. Somit können auch die Athletinnen und Athleten ihr Scherflein zu den Menschenrechten in China beitragen. Vielen Dank. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Joachim Günther für die FDP-Fraktion. ({0})

Joachim Günther (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000750, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Sportbericht der Bundesregierung und Sie, Herr Minister, haben einen Überblick über die Vielfältigkeit dieses Bereichs in unserem Lande gegeben. Deshalb kann jeder von uns nur ein Segment herausgreifen, zu dem er hier seine Gedanken darstellt. Ich möchte auf die Themen Doping und Sportstätten eingehen. Das Gesetz zur Verbesserung der Bekämpfung des Dopings im Sport hat einen langen Weg hinter sich. ({0}) Frau Kollegin Freitag, ich kann mich sehr gut daran erinnern, dass vieles, das auch von Ihnen angekündigt wurde, sich am Ende leider nicht im Gesetz wiedergefunden hat. ({1}) Deshalb ist es interessant, zu sehen, wie wir mit diesem Gesetz umgehen, vor allem, wie wir mit Personen umgehen, die bereit sind, über die Dopingpraxis öffentlich auszusagen. Der Bayerische Rundfunk hat in seiner Sendung Report München am 2. Juni dieses Jahres Jörg Jaksche interviewt. Ich weiß nicht, wer von Ihnen die Sendung gesehen hat. Die Überschrift sagt eigentlich schon alles: Alle lieben den Verrat, keiner liebt den Verräter. Jaksche, ein Radprofi, hat reinen Tisch gemacht. Er hat das flächendeckende Doping angesprochen und die Namen der Hintermänner genannt. Er hat damit einen Tabubruch begangen: Er hat die Mauer des Schweigens durchbrochen. Aber was ist jetzt? Er steht ohne Vertrag da. Niemand will ihn in seinem Rennstall haben. Lassen Sie mich ein Zitat von Jörg Jaksche vortragen, das meines Erachtens alles sagt: Es ist eine Zweitwelt, in der man lebt im Radsport, die komplett abgeschottet ist vom normalen Leben. Also, das heißt, man erzählt, man lügt den Journalisten, der Familie und so weiter eigentlich offenen Auges ins Gesicht und sagt: „Nein, das ist alles im Radsport nicht so.“ Natürlich ist das im Radsport so. Meine lieben Freunde, es ist schon bedrückend, wenn man so etwas hört. Der Bayerische Rundfunk hatte Rückfragen an sportliche Leiter anderer Mannschaften gestellt. Diese hatten überhaupt kein Interesse daran, auf dieses Thema einzugehen. Da muss man sich doch fragen: Wie weit sind wir bei der Austrocknung des Dopingsumpfes? Wir sollten deshalb mit Blick auf die Olympiade vorsichtig sein, wenn wir mit dem Dopingfinger auf gewisse aufsteigende Nationen - ich möchte das einmal vorsichtig umschreiben - zeigen. Wir alle im Haus sind uns darin einig, dass wir die internationale Zusammenarbeit auf diesem Gebiet deutlich erweitern und verbessern müssen. ({2}) Herr Minister, Sie haben recht. Wir müssen die finanzielle Grundlage, die bei uns durch die NADA schon verbessert wurde, aus meiner Sicht auf ganz andere Füße stellen. Man muss den Mut haben, über neue Dinge nachzudenken. Ich gebe nur einen Anstoß: Vielleicht könnte man einen gewissen Teil aller Spenden und aller Sponsorings im Sport für den Dopingbereich verwenden; ich denke hier an 0,3 bis 0,5 Prozent. ({3}) Die NADA leistet gute Arbeit. Wir müssen sie so stärken, dass sie auch international gut ankommt. ({4}) Einige kurze Bemerkungen zum Thema „Sportstätten in Deutschland“. Der DOSB hat vor zwei oder drei Jahren einen Sanierungsbedarf in Höhe von rund 40 Milliarden Euro angegeben; diese Zahl wurde heute schon genannt. Das ist eine gigantische Summe, die niemand auf einmal schultern kann. Das erwartet auch niemand. Wir sollten die Sanierungsfälle jedoch zum Anlass nehmen, die Chance zu nutzen, zukunftsorientierte Konzepte zu erarbeiten. Dabei ist die Berücksichtigung der demografischen Entwicklung in diesem Land unerlässlich. In den letzten Jahren haben wir mit dem Goldenen Plan zusätzlich 2 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Damit wurden vorrangig im Osten Sportstätten gefördert. Ich glaube, es ist auch im Westen dringend notwendig, dass auf diesem Gebiet etwas geschieht. ({5}) Wir sollten uns Gedanken darüber machen, wie wir in diesem Sinne einen gesamtdeutschen Plan auf den Weg bringen. Ich glaube, wir alle aus dem Sportbereich sind dazu bereit. Gehen wir diese Aufgabe konsequent an, vielleicht auch über Parteischranken hinweg. Dann haben wir die Chance, dass die Sportstätten und der Sport, das Hauptargument für eine gesunde Entwicklung in unserem Land, erhalten bleiben. Herzlichen Dank. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Volker Beck das Wort.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Gienger, dies ist eine zentrale Debatte im Rahmen der Debatten über die in Peking stattfindenden Olympischen Spiele. Es geht um die Frage, was Sportler dort tun dürfen, um deutlich zu machen, dass sie einerseits am sportlichen Wettkampf der Olympischen Spiele teilnehmen wollen, sich andererseits aber trotzdem zu den Menschenrechten bekennen und auch ein deutliches Signal an die chinesische Regierung senden wollen. Wir als Deutscher Bundestag sollten klarmachen, dass ein Bekenntnis zu den Menschenrechten kein Widerspruch zur Olympischen Charta sein kann. ({0}) Wenn Sportler das Bändchen mit der Aufschrift „Sports for Human Rights“ tragen oder wenn sie in den Sportstätten ein T-Shirt tragen, wie ich es in der Debatte zu Tibet gezeigt habe, auf dem „Human Rights“ auf Chinesisch und auf Englisch steht, dann kann das keine Verletzung der Olympischen Charta sein. Das darf keine Verletzung der Olympischen Charta sein. ({1}) Wir müssen die Zivilcourage der Sportlerinnen und Sportler, der Olympioniken, unterstützen. Wir müssen ihnen den Rücken stärken, statt zu sagen: So etwas muss außen vor bleiben. Niemand käme auf die Idee, sich daran zu stören, wenn Sportlerinnen und Sportler zu ihrer nationalen Mannschaftstracht noch ein Kreuz am Hals trügen. Nach der Olympischen Charta würde man ein Bekenntnis zur eigenen Religion nicht ahnden. Genauso wenig kann ein Bekenntnis zu den Menschenrechten geahndet werden. Das ist etwas anderes als der Ausspruch „Freiheit für Tibet“ oder ein Bekenntnis gegen Atomkraft. Die Menschenrechte und die Völkerverständigung sind Grundlagen der olympischen Idee. Ich finde, wir als Deutscher Bundestag sollten deutlich machen, dass wir an der Seite derjenigen stehen, die das auch in Peking zum Ausdruck bringen werden. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Zur Erwiderung erhält der Kollege Gienger das Wort.

Eberhard Gienger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003534, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Kollege Beck, die Aussagen, die Sie getroffen haben, sind nicht neu. Es gibt im Sport Regeln. Regel 51 Abs. 3 der Olympischen Charta besagt eindeutig, dass politische ({0}) und religiöse Demonstrationen nicht erlaubt sind. Das bedeutet, ein solches Bändchen ist ähnlich zu werten wie der Handschuh, den die Sprinter bei der Siegerehrung der Olympischen Spiele im Jahre 1968 in die Höhe gehalten haben. Es ist so zu werten, als ob ein Teilnehmer mit dem Foto seines Staatspräsidenten einmarschiert. Sie haben als Beispiel das Tragen eines Kreuzes erwähnt. Im Fußball ist es nicht erlaubt, solche Schmuckstücke zu tragen. Es gibt Regeln, die in Leichtathletikstadien gelten, es gibt Regeln, die in Fußballstadien gelten, und es gibt Regeln, die im Deutschen Bundestag gelten. Den Zuschauern und Gästen ist es beispielsweise nicht erlaubt, auf der Tribüne zu demonstrieren. Diese Regel ist eine sehr gute Regel. Allerdings muss man auch die Sportler schützen, die ihre politische Meinung nicht in Form einer Demonstration zum Ausdruck bringen wollen. Ich habe gerade gesagt: Auf Pressekonferenzen, in Interviews und in Gesprächen ist es erlaubt, seine persönliche Meinung zu artikulieren. In diesem Rahmen hat jeder Sportler, jeder Funktionär und jeder Teilnehmer einer Olympiamannschaft die Möglichkeit und das Recht, sich zu artikulieren und seine politische Meinung kundzutun. Ob das letztlich zu einer Veränderung der Menschenrechtslage in China beiträgt oder nicht, sei dahingestellt; aber es gibt diese Möglichkeit. Ich glaube, das ist eine gute Lösung. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Martin Gerster für die SPD-Fraktion.

Martin Gerster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003758, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Minister Schäuble! Wenn man die 124 Seiten des 11. Sportberichts der Bundesregierung - ein gutes Pfund Papier - liest und feststellt, was sich hinter den Ergebnissen und Tabellen, die Tag für Tag in Sportzeitungen abgedruckt sind, verbirgt, dann stellt man sehr schnell fest, dass der Sport wesentlich mehr ist als körperliche Ertüchtigung. Der Sport leistet einen Beitrag dazu, dass verschiedene Generationen zusammenkommen und dass zwischen Menschen, die sich ohne den Sport vielleicht nie kennengelernt hätten, ein Zusammenhalt entsteht, unabhängig von ihrer Herkunft, ihrer sozialen Zugehörigkeit und ihrer Hautfarbe. Sport ist sozialer Kitt in unserer Gesellschaft. Ich denke, das ist die eigentliche Botschaft, die vom Sport und auch vom 11. Sportbericht der Bundesregierung, den wir heute diskutieren, ausgeht. ({0}) Umso schlimmer ist es, dass einige Gruppen den Sport missbrauchen wollen, um Gewalt zu provozieren und Rechtsextremismus in unsere Gesellschaft zu tragen. Es ist wichtig, dass von uns, der Politik, das klare Signal ausgeht: Wir wollen nicht, dass der Sport für Ziele, die nichts mit Sport zu tun haben, missbraucht wird. ({1}) Deshalb ist es notwendig, dass die Bundespolitik die Fanprojekte im Sport, insbesondere im Fußball, unterstützt. ({2}) Ich finde es gut, dass die Bundesregierung und wir, das Parlament, die Koordinierungsstelle für Fanprojekte in Frankfurt mit Mitteln in Höhe von 165 000 Euro unterstützen. Allerdings ist dieser Betrag das untere Limit dessen, was wir hierfür bereitstellen könnten. Eigentlich müssten wir diese Mittel aufstocken. ({3}) Außerdem müssen wir endlich eine gemeinsame Initiative auf den Weg bringen, um dafür zu sorgen, dass auch das einzige Bundesland, das sich bisher nicht beteiligt, nämlich Baden-Württemberg, ({4}) einen Beitrag dazu leistet, dass beim VfB Stuttgart ein Fanprojekt zur Bekämpfung von Gewalt und Extremismus im Fußball unterstützt wird. ({5}) Ob eine Gesellschaft solidarisch ist oder nicht, lässt sich daran messen, wie sie mit Menschen, die ein Handicap haben, die also benachteiligt oder behindert sind, umgeht. ({6}) Wir müssen deutlich machen, dass der Bund den Deutschen Behindertensportverband und die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Paralympics unterstützt. ({7}) 65 Prozent der Ausgaben im Bereich des Behindertensports, des Leistungssports, des Breitensports und der Rehabilitation, werden vom Bund getragen. Wir müssen zum Ausdruck bringen, dass wir in diesem Bereich eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe erfüllen, die sonst womöglich niemand wahrnehmen würde. Das ist auch ein Kennzeichen dafür, dass wir in Deutschland eine solidarische Gesellschaft aufgebaut haben, dass uns diese Menschen wichtig sind. Ich glaube, die behinderten Sportlerinnen und Sportler sind wahre Vorbilder für unsere Gesellschaft. ({8}) An dieser Stelle möchte ich den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Verteidigungsministeriums meinen Dank aussprechen, die unkompliziert gehandelt haben, als Verena Bentele, eines unserer Aushängeschilder, einen Begleitläufer suchte - sie ist von Geburt an blind und zu klären war, wo dieser Begleitläufer arbeiten kann, wenn er gleichzeitig mit Verena Bentele trainieren soll. Es ist gelungen, den Begleitläufer in einer Fördergruppe der Bundeswehr unterzubringen. Herzlichen Dank noch einmal, auch im Namen von Verena Bentele, an das Verteidigungsministerium! Dass das geklappt hat, ist ein Zeichen dafür, dass wir den Behindertensport unterstützen. ({9}) Ich war dabei, als Minister Schäuble letzte Woche im Hilton zahlreichen Sportlerinnen und Sportlern das Silberne Lorbeerblatt verliehen hat. Es wurde deutlich, welche Vielfalt es im deutschen Sport gibt: Er besteht nicht nur aus Fußball, Handball, Basketball, nein, 4 Millionen Menschen, organisiert in 27 Spitzenverbänden, engagieren sich in den sogenannten nichtolympischen Sportarten. Auch von diesen Menschen wurden letzte Woche viele für ihre Leistung ausgezeichnet. Wir müssen darüber nachdenken, ob es richtig ist, dass bei Treffen des DOSB die nichtolympischen Verbände - sie erhalten gerade einmal 2,5 bis 4 Prozent Förderung - als „die Skontoverbände“ abgetan werden; diese Förderung geht nicht zulasten der olympischen Verbände. Wir müssen darüber diskutieren, wie eine entsprechende Würdigung dieser Sportarten erfolgen kann, auch im Hinblick darauf, dass Deutschland, Düsseldorf 2013 Gastgeber der World Games sein wird. Herr Minister Schäuble, ich hoffe, dass es in Zusammenarbeit mit Ihrem Hause gelingt, die Finanzierungsgrundlagen hierfür zu schaffen. Es heißt, dass die olympischen Sportarten vorrangig zu bedienen sind. Daran gibt es keinen Zweifel. Das heißt aber nicht, dass die anderen nachrangig sind und nur noch das bekommen, was als Rest übrig bleibt. ({10}) Ich will den Bogen zum Ehrenamt schlagen. Es wird ja oft kritisiert, der Spitzensport werde gefördert, der Breitensport aber vernachlässigt. Eine Säule aller Aktivitäten im Sport ist das Ehrenamt. Vom Spitzensport gehen hier wichtige Signale aus. In meiner Heimatstadt Biberach fand letztes Jahr zum ersten Mal ein großes Leichtathletikmeeting statt, und in wenigen Wochen wird das zweite stattfinden. Der Sportkreis Biberach und die zahlreichen Sportvereine mit ihren Ehrenamtlichen machen jetzt einen Fackellauf durch die ganze Region, an dem sich Tausende von Freizeitsportlern beteiligen. Das ist das, was wir wollen: dass der Spitzensport Anreize gibt, Motivation gibt, sich sportlich zu betätigen, um weitere Aktivitäten und Aktionen entfalten zu könMartin Gerster nen. Deswegen ist es gut, dass wir auf Initiative der Bundesregierung das Gesetz zur weiteren Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements auf den Weg gebracht haben. Wir würdigen durch die Erhöhung des Steuerfreibetrags die Leistung der vielen Ehrenamtlichen und wertschätzen die Vereine. Lieber Detlef Parr, du hast vorhin auf die Thematik der Sportwetten hingewiesen. Ich war am Samstag bei einer Veranstaltung des Württembergischen Landessportbundes. Auf dieser Veranstaltung hat auch FDPMinister Goll ausdrücklich gelobt, dass wir uns auf den Staatsvertrag geeinigt haben. ({11}) Bei all dem, was ich höre, kann ich nur die Frage stellen: Warum macht die FDP in den Ländern das Gegenteil von dem, was die FDP-Bundestagsfraktion fordert? Herzlichen Dank. ({12})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Stephan Mayer, CDU/CSU.

Stephan Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003589, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Ich möchte mich mit einem Ereignis beschäftigen, das angesichts der Jahreszeit und angesichts des Zeitpunktes, zu dem es stattfinden wird, noch nicht im Fokus der öffentlichen Wahrnehmung steht, das aber insbesondere aufgrund des gedrängten Zeitplans voller Konzentration bedarf. Wir haben die herausragende Chance, im Jahr 2018 erstmals seit 1972 auf deutschem Boden wieder die Olympischen Spiele auszurichten, und zwar in München. ({0}) Die Bewerbung Münchens birgt enorme Chancen in sich. Es wäre ein Novum in der olympischen Geschichte, wenn in einer Stadt sowohl Olympische Sommerspiele als auch Olympische Winterspiele stattfänden. Die Bewerbung Münchens ist aber nicht nur eine Bewerbung Bayerns, sondern eine deutsche Bewerbung. Gerade deshalb bin ich dem Deutschen Olympischen Sportbund sehr dankbar dafür, dass er sich auf seiner Mitgliederversammlung am 8. Dezember letzten Jahres einstimmig - wohlgemerkt einstimmig - hinter die Bewerbung Münchens gestellt hat. Ich weiß, es war nicht einfach. Letztendlich aber haben sich alle bereit erklärt, die Bewerbung zu unterstützen. ({1}) Bayern ist Wintersportland. Es hat schon vielfach gezeigt, dass es ein hervorragender Austragungsort für sportliche Großwettkämpfe ist. Letztmals war dies im Jahr 2005 der Fall, als dort die Nordische Ski-WM in Oberstdorf stattgefunden hat. Im Jahr 2011 wird die Alpine Ski-WM in Garmisch-Partenkirchen stattfinden. Ich denke, dass wir auch gut daran täten, die Bewerbungen von Inzell für die Eisschnelllauf-WM 2011 und von Ruhpolding für die Biathlon-WM 2012 zu unterstützen. Die Olympiabewerbung Münchens für das Jahr 2018 birgt hervorragende Vorteile in sich. Ein ganz entscheidendes Kriterium - meines Erachtens sogar das wesentliche Kriterium - ist: Die Bevölkerung in München und im übrigen Bayern steht hinter dieser Bewerbung. Über 80 Prozent der Bevölkerung unterstützen die Bewerbung Münchens für die Olympischen Winterspiele. Über 90 Prozent der gesamten Bevölkerung Bayerns wissen bereits von der Bewerbung Münchens. ({2}) Dies ist ein enormer Vorteil. Erinnern Sie sich nur einmal an die Bewerbung Salzburgs für die Winterolympiade 2014. Nach den Bekundungen des IOC war die Bewerbung Salzburgs zum Scheitern verurteilt, weil die österreichische Bevölkerung - insbesondere die Salzburger - leider Gottes nicht hinter der Bewerbung stand. Ich glaube, ganz Deutschland wäre gut beraten, hinter der Bewerbung Münchens bzw. Bayerns für die Winterolympiade 2018 zu stehen. ({3}) Ein weiteres wesentliches positives Kriterium ist, dass Bayern, das Alpenvorland, über professionelle und weltweit anerkannte Wettkampfstätten verfügt. ({4}) Wir werden ein ökologisches, ein nachhaltiges Nutzungskonzept aufstellen. Der größtmögliche Anteil der Wettkampfstätten wird nach den Olympischen Winterspielen weiter genutzt werden können. Sehr verehrter Kollege Hermann, mit einer Austragung der Olympischen Winterspiele würden wir ganz neue Maßstäbe hinsichtlich des Themas „Sport und Klimaschutz“ setzen. Gerade deshalb glaube ich, dass es sehr schön wäre, wenn die Bewerbung Münchens erfolgreich wäre. ({5}) Ein weiterer wesentlicher Vorteil ist, dass die Bewerbungskosten von ungefähr 30 Millionen Euro, die zunächst anfallen, größtenteils von der Privatwirtschaft getragen werden. Die öffentliche Hand - sowohl der Freistaat Bayern als auch der Bund - wird also zunächst nicht zur Kasse gebeten. Weiterhin verfügt das Alpenvorland über eine hervorragende Verkehrsinfrastruktur, die hier und da natürlich noch ausgebaut und verbessert werden muss. Die erforderliche Verkehrsinfrastruktur, sowohl im Bereich Straße als auch im Bereich Schiene, ist aber bereits vorhanden. ({6}) Die Bewerbung Münchens birgt auch enorme Chancen für Bayern - und natürlich auch für Deutschland als Tourismusland, weil die Besucherinnen und Besucher, die Gäste der Olympischen Winterspiele nicht nur in München bleiben, sich nicht nur in Bayern bewegen, Stephan Mayer ({7}) sondern natürlich ganz Deutschland erkunden und besichtigen werden. Die nächsten Schritte stehen an. Zunächst einmal gilt es, dass München Candidate City wird, also in den engeren Bewerberkreis kommt. Dies wird im Juli 2010 der Fall sein. Der entscheidende Punkt ist, dann bei der Vergabe im Juli 2011 zum Zuge zu kommen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, im Jahr 2006 hatten wir mit der Fußballweltmeisterschaft ein Sommermärchen.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege!

Stephan Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003589, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir haben nun die hervorragende Möglichkeit, ein Wintermärchen im Jahr 2018 anzuschließen. ({0}) In der olympischen Hymne heißt es:

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege, die können Sie jetzt aber nicht mehr komplett vortragen.

Stephan Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003589, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ebenen, Berge und Meere leuchten von dir Wie ein weißer und purpurfarbener großartiger Tempel … Sehr geehrter Herr Präsident, Sie werden mir mit Sicherheit recht geben: Mit diesem Zitat kann nur Bayern gemeint sein. Lassen Sie uns die Bewerbung Münchens deshalb mit viel Leidenschaft, aber auch mit viel Kraft und Elan unterstützen. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Mayer, ich gebe Ihnen ausdrücklich recht, dass sich dieses Zitat vorzüglich als Einstieg in die Rede geeignet hätte. Aber es ist immer hochgradig riskant, es für einen Zeitpunkt zurückzustellen, der schon jenseits der gewährten Redezeit liegt. ({0}) Nun erhält die Kollegin Petra Heß das Wort. ({1})

Petra Heß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003553, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Mayer, wir haben jetzt fast Glück gehabt, dass Sie die olympische Hymne nicht noch gesungen haben. ({0}) Im Übrigen ist auch Thüringen ein hervorragendes Wintersportland. Deutschland ist eine sportbegeisterte Nation. Die steigende Zahl der Übergewichtigen in unserem Land zeigt aber auch, dass diese Begeisterung oftmals passiv gelebt wird. Man schaut halt gern zu, wenn sich andere schinden. Dabei stellt der deutsche Schriftsteller Martin Kessel fest: Der Sport ist eine Tätigkeitsform des Glücks. Ich freue mich, dass ich dem 11. Sportbericht der Bundesregierung viel Positives entnehmen konnte, so bei Spitzensport und Bundeswehr. Beides ist untrennbar miteinander verbunden. Es ist mir daher ein besonders Anliegen, auf den Bereich Sportförderung innerhalb der Bundeswehr und der Bundespolizei einzugehen. Der 11. Sportbericht stellt fest, dass Sport und Sportausbildung einen hohen Stellenwert bei Bundeswehr und Bundespolizei genießen. Das stimmt. Für die Einsatzfähigkeit der Streitkräfte und der Bundespolizei ist die körperliche Leistungsfähigkeit der Soldaten und Bundespolizisten unerlässlich. Eigens ausgebildete Sportausbilder bzw. Sportleiter stehen den Soldaten und Bundespolizisten hierbei zur Seite. Bundeswehr und Bundespolizei verfügen über gute materielle Voraussetzungen, wobei ich aber an dieser Stelle nicht unerwähnt lassen möchte, dass gerade bei der Bundeswehr in den alten Bundesländern Nachholbedarf besteht. Im Rahmen des Sonderprogramms „Sanierung Kasernen West“ werden in den nächsten Jahren 645 Millionen Euro aufgewendet, die natürlich auch zu einer Verbesserung der Sportinfrastruktur beitragen werden. Dies allein wird aber nicht genügen und ist sicher auch nicht der alleinige Grund dafür, dass es um die Fitness unserer Soldaten nicht ganz so gut bestellt ist. Ursächlich sind nach Meinung des Wehrbeauftragten zu wenig Zeit für den Sport im Dienst sowie zu wenige Sportlehrer und Übungsleiter. Hier muss die Bundeswehr als Dienstherr gegensteuern und dafür sorgen, dass die eigens geschaffene Zentrale Dienstvorschrift „Sport in der Bundeswehr“ an allen Standorten gelebt wird. ({1}) Hier sind insbesondere die Vorgesetzten gefordert. So getrübt das Bild bei der allgemeinen Fitness unserer Soldaten ist, umso besser stellt sich die Bundeswehr bei der Spitzensportförderung dar. Als Partner des Deutschen Olympischen Sportbundes nimmt die Bundeswehr eine herausragende Stellung ein. Über 700 Sportsoldaten leisten in derzeit 18 Sportfördergruppen ihren Dienst, die grundsätzlich in der Nähe von Olympiastützpunkten bzw. deren Außenstellen und Bundesleistungszentren eingerichtet sind. Durch diese räumliche Nähe findet ein ständiger Austausch zwischen den verschiedenen Leistungsträgern statt. Die Sportsoldaten tragen mit beachtlichen Ergebnissen bei Olympischen Spielen sowie Welt- und Europameisterschaften zu einem hohen Ansehen Deutschlands bei. Bei der Winterolympiade 2006 in Turin stellte die Bundeswehr 45 Prozent der Sportler, die wiederum 66 Prozent der Medaillen erkämpften. Ein ähnlich gutes Bild gab es bei der Sommerolympiade 2004 in Athen. In wenigen Wochen werden in Peking die Olympischen Sommerspiele 2008 beginnen. Die Bundeswehr wird auch diesmal wieder stark vertreten sein und circa ein Drittel der Athleten stellen. Doch zurück zum aktuellen Sportbericht: Hier wird noch von einer Reduzierung der Plätze für Spitzensportler bei der Bundeswehr von 744 im Jahr 2006 auf 664 im Jahr 2010 ausgegangen. Diese Absenkung der Stellen wird nicht erfolgen, und das ist gut so. ({2}) Im Gegenteil: Die Plätze für Spitzensportler werden auf 784 angehoben. Hierfür gebührt dem Verteidigungsminister mein ausdrücklicher Dank. Lieber Kollege Kossendey, geben Sie es bitte weiter. Durch die Förderung von Spitzensportlern der Bundeswehr ist es auch möglich, mit leistungsstarken Mannschaften an Sportwettkämpfen mit Streitkräften anderer Nationen teilzunehmen. Auch hier werden beachtliche Erfolge erzielt. Aber nicht nur die Bundeswehr, sondern auch die Bundespolizei betreibt eine erfolgreiche Spitzensportförderung. So werden bei der Bundespolizeisportschule in Bad Endorf 81 Beamtinnen und Beamte in elf olympischen Wintersportarten und im Bundespolizeileistungssportprojekt Cottbus beim Olympiastützpunkt Cottbus/ Frankfurt an der Oder 53 Beamtinnen und Beamte in drei Sommersportarten trainiert. Auch diese Ergebnisse können sich sehen lassen. Es konnten zum Beispiel im Zeitraum 2002 bis 2005 bei Olympischen Spielen 17 und bei Weltmeisterschaften 41 Medaillen erkämpft werden. Da ist ebenfalls eine eindrucksvolle Bilanz. ({3}) Gestatten Sie mir noch einige Worte zur beruflichen Ausbildung unserer Sportlerinnen und Sportler. Hier gibt es derzeit noch sehr unterschiedliche Modelle. Während die Polizei im Regelfall auf Wunsch nach dem aktiven sportlichen Dienst die Übernahme in den Polizeidienst anbietet und parallel zur sportlichen auch die bundespolizeiliche Ausbildung gewährleistet, findet dies in dieser Form in der Bundeswehr nicht statt. Nun hinkt zwar der Vergleich, Herr Minister Schäuble, da bei der Bundeswehr der Anteil der Sportler ungleich höher ist; ({4}) trotzdem muss die Bundeswehr nach praktikableren oder flexibleren Verfahrensweisen suchen, die einen besseren, einen gleitenderen Einstieg in das künftige Berufsleben möglich machen. ({5}) Hierbei sollten die verschiedenen staatlichen Institutionen ähnliche Verfahrensweisen anbieten. Dazu wird es noch Gespräche geben müssen. Auch die Dienstzeitverlängerung für die Sportsoldaten der Bundeswehr um jeweils immer nur ein Jahr sollte noch einmal auf den Prüfstand. Gestatten Sie mir, dass ich zum Abschluss noch eine Forderung an die Verbände loswerde. Sie wissen, die Bundesrepublik ist der größte Sponsor des Spitzensports. Allein die Bundeswehr gibt Jahr für Jahr circa 25 Millionen Euro für den Spitzensport aus. ({6}) Was die Verhandlungen zwischen Verbänden und Sponsoren angeht, bitte ich Sie, geeignete Möglichkeiten zu finden, um die Sportlerinnen und Sportler in die Lage zu versetzen, zum Ausdruck zu bringen, wer ihr Dienstherr ist, der ihnen diese sportlichen Voraussetzungen erst ermöglicht. Die geförderten Sportler sind nun einmal unsere Multiplikatoren, die Sympathieträger der Polizei, des Zolls und der Bundeswehr. So sollte es auch möglich sein, dass sie das mit einem gewissen Stolz in die Welt tragen. ({7}) Ein kleines Logo bei Wettkämpfen - Herr Kollege Gienger, das könnten Sie auch an den DOSB weiterleiten tut nicht weh. Diese Leistungssportler demonstrieren nämlich, wie schön Sport und vor allen Dingen sauberer Sport sein kann. Ich wünsche unseren Teilnehmern bei den Olympischen Spielen in Peking faire Wettkämpfe und vor allen Dingen tolle Ergebnisse für unser schönes Land. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Klaus Riegert ist der nächste Redner für die CDU/ CSU-Fraktion.

Klaus Riegert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001847, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In einer außerordentlichen Hauptversammlung im Jahre 1912 wurde im Protokoll verzeichnet: Georg Rau verkündet Freibier für alle. - Warum, weiß ich nicht, aber es wurde einstimmig beschlossen. ({0}) Auf den Antrag der Linken möchte ich nicht näher eingehen, sondern nur feststellen: Eine Verstaatlichung des Sports ist mit uns nicht zu machen. Die in Ihrem Antrag erhobenen Forderungen nach „Schaffung von öffentlich finanzierter Beschäftigung im Bereich des gemeinnützigen Sports“ und einer „Einführung einer zweckgebundenen Abgabe auf Umsätze aus Sportwerbung für die Sportförderung“ sowie die übrigen zehn Punkte lesen sich wie ein Verstaatlichungsprogramm für Sport. Das ist mit unserem Gesellschaftsverständnis und der Autonomie des Sports unvereinbar. ({1}) Lassen Sie mich einige Sätze zum Sportbericht sagen. Wir haben gemeinsam beschlossen, dass der nächste Bericht auch einen Ausblick auf die zukünftige Sportpolitik gewähren soll. Der Kollege Mayer hat uns den weitesten Ausblick bereits gegeben. Auch Stuttgart und BadenWürttemberg freuen sich auf München 2018. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Riegert, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Bunge?

Klaus Riegert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001847, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gerne.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Bitte schön.

Dr. Martina Bunge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003743, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Kollege Riegert, Sie setzen das Sportfördergesetz mit der Verstaatlichung des Sportes gleich. Ist Ihnen bekannt, dass es in Mecklenburg-Vorpommern - also auf Landesebene - seit acht Jahren ein Sportfördergesetz gibt, das viele Regelungen enthält, die zur Verstetigung des Sports beitragen? Meinen Sie, dass dort jetzt der Kommunismus ausgebrochen ist? ({0})

Klaus Riegert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001847, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Liebe Frau Kollegin, mir ist sehr wohl bekannt, dass es in einigen Bundesländern - nicht nur in den neuen, sondern auch in den alten - Sportfördergesetze gibt. ({0}) Aber Sie sollten die zwölf Punkte in Ihrem Antrag genau lesen. Ihr Antrag trieft regelrecht vor Verstaatlichung des Sports. Es geht nicht um Autonomie und Selbstbestimmung. Sie wollen offensichtlich starken staatlichen Einfluss haben. Das lehnen wir deutlich ab. ({1}) Herr Kollege Hermann, ich komme nun auf Sie zu sprechen. Wenn ich Reden und Taten vergleiche, stelle ich fest: Viele schöne Reden wurden gehalten. Aber es gibt offensichtlich nur wenig zu kritisieren. Ich erinnere Sie aber daran, dass Sie in sieben Jahren Regierungszeit nicht einen Gesetzentwurf in diesem Bereich vorgelegt haben. Sie haben zwar sieben Jahre ein Antidopinggesetz gefordert, aber nicht eine Zeile zu Papier gebracht. Da war völlige Fehlanzeige! ({2}) Ähnlich sieht es in der auswärtigen Kulturpolitik aus. Ihr Außenminister Joschka Fischer hat Jahr für Jahr die Ansätze nach unten gefahren. Wir haben das jetzt korrigiert und sie erhöht. Sie sollten Reden und Taten stärker vergleichen. Wir, Bund und Länder gemeinsam, haben immerhin 490 Millionen Euro in die Hand genommen. Ich nenne als Stichworte nur „Hilfen für Helfer“, das Gemeinnützigkeitsrecht und das Stiftungsrecht. Wir haben sehr viel für den Breitensport getan. Sport eint, im Gegensatz zur Sportpolitik. Sport integriert. Sport hält gesund. Sport bildet. Sport aktiviert. Menschen, die Sport treiben, tun das oft in Vereinen. So unterstützt der Sport etwas, was für unsere Gesellschaft in den vor uns liegenden Jahrzehnten von grundlegender, entscheidender Bedeutung sein wird: den Zusammenschluss und das Zusammenwirken von Menschen. Die Gesellschaft muss noch stärker als bisher auf den Individuen, den Bürgern, und den von ihnen gebildeten Vereinigungen, Verbänden und Stiftungen ruhen. Die Autonomie des Sports darf nicht angetastet werden. ({3}) - Danke schön, Herr Gienger. Breitensport und Spitzensport sind kein Gegensatz, keine Konkurrenz. Sie stehen in einem komplementären Verhältnis zueinander. Beide brauchen einander. Ich nenne fünf Punkte, die zeigen, dass wir auch in Berlin Politik für den Breitensport machen. Erster Bereich: Vereine und Ehrenamt. Der deutsche Sport mit seinen über 87 000 Vereinen und den sie tragenden Organisationen ist Spiegelbild unserer Gesellschaft. Die über 2,5 Millionen ehrenamtlich Tätigen übernehmen gesellschaftliche Aufgaben, die der Staat in dieser Komplexität und Qualität nicht leisten könnte und nach unserem Verständnis auch nicht leisten sollte. Ehrenamtliche Tätigkeit ist Teil des Lebens, gibt Lebenssinn und steigert die Lebensqualität. Der Sport und seine Vereine sind gesellschaftliche Selbstorganisationen, in denen sich bürgerschaftliches Engagement als Teil einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft entwickelt. Mit diesen gewachsenen Strukturen leisten Sportvereine einen bedeutenden Beitrag auf dem Weg in eine Bürgergesellschaft. Für dieses Engagement gebührt den ehrenamtlich Tätigen besonderer Dank, Anerkennung und Unterstützung. ({4}) Zweiter Bereich: Bewegungserziehung und Schulsport. Der vorschulischen Bewegungserziehung und dem Schulsport kommen eine hohe Bedeutung zu. Wir sagen Ja zu täglichen Bewegungszeiten in der vorschulischen Erziehung und in der Grundschule. Wir wollen Qualität und ein Mindestmaß an Bewegung. Lieber Detlef Parr, der Sportausschuss wird auch in Zukunft - obwohl er hierfür nicht zuständig ist - immer wieder den Finger in die Wunde legen. ({5}) Dritter Bereich: Gesundheit und Prävention. Ich begrüße das Engagement des Sports, seiner Organisationen und Vereine bei Gesundheitserziehung, Gesunderhaltung und Prävention. Sie leisten damit einen wichtigen Beitrag zur Erhaltung der Gesundheit. Vierter Bereich: Senioren. Die steigende Zahl älterer Menschen in Sportvereinen ist erfreulich. Immer mehr älter werdende Menschen beugen Alterungsprozessen, chronischen Erkrankungen und Behinderungen durch Sport und Bewegung vor. Vereine, Verbände und Einrichtungen der Seniorenarbeit und Altenpflege sind aufgefordert, entsprechende Angebote zu entwickeln. Fünfter Bereich: Sportstättenbau/Sportinfrastruktur. Es bleibt eine vorrangige Aufgabe der Länder und Kommunen, den Sportstättenbau und die Sportinfrastruktur zu verbessern und in ganz Deutschland den Sanierungsstau abzubauen, aber bitte mit eigenem Geld, das wir durch eine gute Haushalts- und Finanzpolitik und durch die Schaffung guter Rahmenbedingungen den Ländern und Kommunen zur Verfügung stellen. Meine Damen und Herren, es ist schon mehrfach angesprochen worden: Es steht uns ein großer Sportsommer bevor: die Fußballeuropameisterschaft in Österreich und der Schweiz und die Olympischen Spiele in Peking. Wir wünschen allen Teams und allen Athletinnen und Athleten viel Erfolg! ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Peter Danckert, SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Peter Danckert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003066, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Herr Präsident! Ich versuche, nach § 33 Satz 1 der Geschäftsordnung zu verfahren. Wir diskutieren heute den 11. Sportbericht und einen Antrag der Fraktion Die Linke. Zunächst zu dem Antrag und der Sprecherin der Linken, Katrin Kunert. Gegen den Feststellungsteil im Antrag ist wenig zu sagen. Darüber findet sich hier sicherlich breiter Konsens. Was die Forderungen an die Bundesregierung angeht, so fehlt es schlicht an der verfassungsrechtlichen Grundlage. Man kann vieles fordern, aber solange wir die nicht haben, geht der Antrag leider ins Leere. Deshalb müssen wir ihn ablehnen. Jetzt zu dem Sportbericht, der eigentlich im Zentrum steht. Ich möchte zunächst einmal den Geschäftsführern unserer Fraktionen danken, dass sie uns in der Kernzeit die Gelegenheit geben, das Thema Sport breit zu diskutieren, und das ist gelungen; sonst sind wir immer erst am späten Nachmittag an der Reihe. ({0}) Der zweite Dank gilt dem Sportminister und seinem Hause. Das will ich ausdrücklich sagen; denn Sie, Herr Minister, haben mit dem Sportbericht die Grundlage für unsere Diskussion heute gelegt, obwohl - ich komme darauf noch zurück - davon wenig Gebrauch gemacht worden ist. Nur vereinzelt ist er angesprochen worden, obwohl er eigentlich heute im Zentrum stehen sollte. Die Mitarbeiter Ihres Hauses haben wirklich sehr viel Interessantes und Lesenswertes zusammengetragen. Ich möchte diese Gelegenheit nutzen, mich bei einem Mann zu bedanken, der über viele Jahre für den Sport in Ihrem Hause zuständig war: Klaus Pöhle. ({1}) Klaus Pöhle hat sich um den Sport verdient gemacht und uns die Zusammenarbeit erleichtert. Er ist jetzt nach vielen Jahren, die er in diesem Amt war, ausgeschieden. Richten Sie ihm den Gruß bitte noch aus. ({2}) Es ist wirklich sehr erfreulich, wenn man auf der Arbeitsebene - da sind häufig die Ansprechpartner - mit Menschen zu tun hat, bei denen man spürt, dass sie nicht nur eine Funktion wahrnehmen, sondern dass es ihnen wichtig ist, etwas für den Sport zu tun. Soweit der Dank an die Berichtsverfasser. Ich glaube, wir haben heute hin und wieder etwas zu diesem Thema gehört. Ich finde es interessant, wie man den 11. Sportbericht diskutieren kann. Am besten hat mir die Rede von Stephan Mayer zur Bewerbung Münchens 2018 gefallen. ({3}) Es war wirklich genial, wie du die Kurve gekriegt hast. In Bayern werden sie dich ewig dafür loben, dass du eine solche Parlamentsdebatte nur dafür genutzt hast, dich für die Bewerbung einzusetzen. ({4}) Ich empfehle, dass dieser Beitrag an alle IOC-Mitglieder versandt wird. Das wird sich sicherlich lohnen. Wir haben hier nicht zu entscheiden, aber wir unterstützen die Bewerbung. Die IOC-Mitglieder sind die eigentlichen Personen, die das wissen müssen. ({5}) - Ja, die Stimmung in Bayern ist so, dass 90 Prozent - du hast es uns gesagt - dafür sind. Ich bin davon überzeugt, nach der Rede sind es 99 Prozent. Das wird sich vermutlich auch auf das Ergebnis deiner Partei bei den Landtagswahlen positiv auswirken. Da bin ich ganz sicher. ({6}) Ich muss allerdings ein kritisches Wort zu dem sagen, was mein Freund Eberhard Gienger gesagt hat. Das kann ich mir nicht ersparen. Ich meine das Thema Menschenrechte. Ich hatte gehofft, dass wir es heute nicht berühren müssen. Das Thema Menschenrechte steht über allem, was wir tun - hier im Parlament, im Land und in der Welt. Ich finde es sehr merkwürdig, dass das IOC und einzelne Repräsentanten des IOC versuchen, dieses Thema so tief wie möglich zu hängen. Wir können doch nicht übersehen, was in Tibet geschehen ist. Wenn die Weltgemeinschaft davor die Augen verschließt, dann hat sie ihre Aufgabe nicht erfüllt. ({7}) Um es klar zu sagen: Ich erwarte vom Sport nicht, dass durch ihn diejenigen Probleme gelöst werden, die die Politik und die Wirtschaft nicht lösen können. An dieser Stelle zu schweigen, ist aber völlig verkehrt. ({8}) Nun komme ich zu etwas ganz besonders Kritischem. Der Fraktionskollege Winfried Hermann von den Grünen hat ein bestimmtes Band um den Arm. Um die Aufschrift darauf lesen zu können, muss man dicht herangehen, oder man kennt sie. Liebe Freunde, dieses Band ist keine Demonstration politischer Art, sondern ein Bekenntnis zu Menschenrechten. ({9}) Wenn der DOSB oder das IOC das Tragen eines solchen Bandes mit Sanktionen versehen sollte, dann sitzen wir an dieser Stelle nicht mehr in einem Boot. Dafür habe ich überhaupt kein Verständnis.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Riegert beantworten?

Dr. Peter Danckert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003066, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr gerne.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Bitte sehr.

Klaus Riegert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001847, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Danckert, stimmen Sie mir zu, dass für die IOC-Regeln das IOC und nicht der Deutsche Bundestag zuständig ist? Stimmen Sie mir zum Zweiten zu, dass es schwierig ist, Regeln moralisch auszulegen? Denn man ist sehr schnell in dieser Gefahr, wenn man zu dieser Regel und dem Bändchen sagt: „Da steht etwas völlig Harmloses drauf; das ist doch gut; das ist moralisch okay“, damit aber die Regeln aushöhlt, weil ein anderer auf seinem Bändchen draufstehen haben könnte: „Ich liebe Jesus“ oder „Ich liebe meinen Präsidenten Soundso“ -

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Anregung ist angekommen. Ich bedanke mich. ({0})

Klaus Riegert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001847, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die Kernfrage: Glauben Sie als Jurist nicht auch, dass es sehr schwierig ist, Regeln moralisch auszulegen?

Dr. Peter Danckert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003066, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Zu dem ersten Teil dieser interessanten Zwischenfrage sage ich: Natürlich sind wir als Deutscher Bundestag und damit als Gesetzgeber nicht für die Regeln des IOC zuständig. Das ist doch gar keine Frage; das hat auch niemand behauptet. Ich lasse mir an dieser Stelle als Parlamentarier allerdings nicht das Recht nehmen, mich dazu zu äußern, welche Bedeutung die Menschenrechte haben und auch für das IOC haben müssten. ({0}) Ich verstehe das an dieser Stelle nicht. Es geht doch gar nicht um die Frage einer moralischen Interpretation. ({1}) Das ist überhaupt nicht das Thema. Das hat mit juristischen Spitzfindigkeiten überhaupt nichts zu tun. ({2}) Von dem IOC gibt es ein Bekenntnis zu den Menschenrechten; das ist eigentlich lobenswert. Ich will, dass das an jeder Stelle deutlich wird. Jemand, der ein solches Bändchen um den Arm trägt und sich damit zu Menschenrechten bekennt, ({3}) macht etwas ganz Selbstverständliches, was eigentlich über allem schwebt. Wenn das kritisiert wird und wenn das zu Sanktionen wie Ausschlüssen führen würde, dann hätte ich dafür überhaupt kein Verständnis. Das IOC würde sich damit diskreditieren und seinen Anspruch, etwas Gutes zu tun, verwirken. ({4}) An dieser Stelle kann es also eigentlich gar keine Meinungsverschiedenheiten geben. ({5}) Ich verstehe nicht, dass das sowohl der Freund Detlef Parr als auch der Freund Eberhard Gienger als auch viele andere infrage stellen. ({6}) Die Diskussion darüber ist sehr interessant. Es muss deutlich sein, dass das Bekenntnis - nicht die Demonstration - zu Menschenrechten jederzeit und jedem erlaubt sein muss, auch den Sportlern. Ich erwarte von keinem Sportler, dass er sich ausdrücklich dazu bekennt. Diejenigen, die es nicht tun wollen, sind mir genauso lieb. Ich stelle mich nur vor diejenigen, die bereit sind, ihre Meinung an dieser Stelle zu äußern. Das muss erlaubt sein. Das darf nicht verboten sein. ({7}) Jetzt noch zu der Frage, ob der Sport als Staatsziel ins Grundgesetz aufgenommen werden soll. Das ist schon mehrfach angesprochen worden, und das hängt auch ein bisschen mit dem Sportförderungsgesetz zusammen. Ich finde, das ist eine ganz wichtige Aufgabe. Wir alle anerkennen die große Bedeutung des Sports in unserer Gesellschaft im Hinblick auf Gesundheit, Integration und Ernährung; niemand zieht diese Funktion des Sports in Zweifel. Dann aber wird gesagt: Den Sport als Staatsziel ins Grundgesetz aufzunehmen, das stimmt mit unserer prinzipiellen Auffassung zur Reinheit des Grundgesetzes nicht überein. Was sollen wir denn noch alles ins Grundgesetz aufnehmen? - Diese Worte kenne ich. Wir haben uns für den Tierschutz ausgesprochen; ({8}) daran habe ich sogar mitgewirkt. Wenn man das im Verhältnis zur Bedeutung des Sports in unserer Gesellschaft sieht, dann ist es überfällig, dieser Forderung nachzukommen; dann muss das geschehen. Ich bitte Sie, liebe Freunde von der Union - sonst besteht ja ein parteiübergreifender Konsens -: Bedenken Sie doch noch einmal, ob das nicht doch notwendig, machbar und überfällig ist! Die Väter unseres Grundgesetzes hatten 1948/49 ganz andere Probleme, und deshalb haben sie nicht daran gedacht. Wenn sie damals geahnt oder gewusst hätten, welche Bedeutung dem Sport in unserer Gesellschaft eines Tages zukommen würde, dann hätten sie ihn mit Sicherheit als Grundrecht oder als Staatsziel in die Verfassung aufgenommen. Wenn man sich das genau ansieht, dann stellt man fest: Die Verfassung gibt nur über den Art. 2 und möglicherweise über den Art. 9 des Grundgesetzes eine Grundlage für die Sportförderung - darin besteht ein Teil unserer Probleme -; die gesamtstaatliche Bedeutung des Sports rechtfertigt unsere Sportförderung. Ich finde, das ist keine ausreichende verfassungsrechtliche Grundlage. Wir sollten uns dazu durchringen, dieses Generalthema, das heute das Haus beschäftigt hat, mit weitgehender Einigkeit über die Parteigrenzen hinweg, aufzunehmen und das Ganze auf eine neue verfassungsrechtliche Grundlage zu stellen, um so dem Sport insgesamt Hilfe zu geben. Es ist unverkennbar, dass wegen der unterschiedlichen Zuständigkeiten der Kommunen, der Länder und des Bundes ein ziemliches Durcheinander besteht. Das sollten wir ordnen. Ich wünsche mir, dass es eines Tages nicht nur einen Innenminister gibt, der für den Sport zuständig ist, sondern einen Sportminister. Damit würde endgültig deutlich, welche Bedeutung der Sport in unserer Gesellschaft hat. Vielen Dank Ihnen, Herr Schäuble, und Ihnen, meine Kolleginnen und Kollegen. ({9})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nun hat die Kollegin Kunert um das Wort zu einer Kurzintervention gebeten. Bitte schön.

Katrin Kunert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003795, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich denke, Sie sollten es sich trotzdem anhören, Herr Kollege. Herr Kollege Danckert, Sie haben gesagt, aufgrund der föderalen Strukturen in der Bundesrepublik sei es gar nicht möglich, dem Antrag der Linken zuzustimmen und ein Sportförderungsgesetz zu verabschieden. Dazu muss ich festhalten: Der Bund hat in der Vergangenheit immer mehr Kompetenzen an die Länder abgegeben. Deshalb darf er sich heute nicht darüber beschweren, dass wir über Themen wie den Schulsport zwar debattieren, aber nicht mehr entscheiden können. ({0}) Ich will ein paar Beispiele dafür nennen, dass man trotz der föderalen Strukturen bestimmte Regelungen beschlossen und dann auch einfach praktiziert hat. Ich denke an das Programm zum Ausbau der Kindertagesstätten gerade im Westen, um einen Versorgungsstand zu schaffen, wie wir ihn im Osten seit Jahren haben. Man hat festgestellt, dass die Arbeitsstrukturen im Bereich SGB II/SGB XII, die der Bundestag beschlossen hat, eigentlich gegen das Grundgesetz verstoßen. Vonseiten der SPD wurde gegen unseren Antrag vorgebracht, die öffentlich geförderte Beschäftigung gebe es bereits, nämlich die 1-Euro-Jobs und die ABM. Wir sagen aber: Es soll eine öffentlich geförderte Beschäftigung sein, bei der Mindestlöhne gezahlt werden, sodass die Menschen von dieser Arbeit leben können. ({1}) Dann habe ich noch eine Bitte, lieber Kollege Danckert: Wenn Sie mit unseren Ansätzen ein inhaltliches Problem haben, dann sagen Sie es, aber verstecken Sie sich nicht hinter den föderalen Strukturen. ({2})

Dr. Peter Danckert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003066, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich habe ja in der Rede deutlich gemacht, dass aus meiner persönlichen Sicht der Feststellungsteil in Ihrem Antrag weitgehend okay ist. Ich habe allerdings auch deutlich gemacht, dass man, bevor man ein Sportförderungsgesetz wie Sie in Ihrem Antrag fordern kann, zunächst einmal die verfassungsrechtlichen Grundlagen schaffen muss. All das, was Sie fordern, ist in einem Sportförderungsgesetz nicht unterzubringen. Dafür haben wir leider keine verfassungsrechtliche Kompetenz. Das ergibt sich aus Art. 30 unseres Grundgesetzes. ({0}) Insofern müssen wir erst dafür sorgen - für diesen Schritt setze ich mich ja gemeinsam mit vielen anderen ein -, dass Sport als Staatsziel ins Grundgesetz aufge- nommen wird. Dann müssen wir die Kompetenz des Bundes für bestimmte Sportmaßnahmen festschreiben. Dann ist auch ein Sportförderungsgesetz möglich. Das ist die richtige Reihenfolge.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Sportaus- schusses zur Unterrichtung durch die Bundesregierung über ihren 11. Sportbericht. Es handelt sich um die Drucksachen 16/3750 und 16/7584. Der Ausschuss emp- fiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- lung? - Wer stimmt dagegen? - Wer möchte sich der Stimme enthalten? - Dann ist, einem möglichen gegen- teiligen Eindruck der Debatte zum Trotz, diese Be- schlussempfehlung vom Deutschen Bundestag einstim- mig angenommen. Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 3 b: Hier geht es um die Beschlussempfehlung des Sportausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel: „Schutz und Förderung des Sports ernst nehmen - Sport- förderungsgesetz des Bundes schaffen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa- che 16/9455, diesen Antrag der Fraktion Die Linke ab- zulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist die Beschlussempfehlung mit Mehrheit angenommen. Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 c auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Miriam Gruß, Sibylle Laurischk, Ina Lenke, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion der FDP Existenz von Kindern sichern - Familien stär- ken - Drucksache 16/9433 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ekin Deligöz, Markus Kurth, Brigitte Pothmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kein Kind zurücklassen - Programm gegen Kinderarmut auf den Weg bringen - Drucksache 16/9028 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0}) Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Gesundheit c) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Jörn Wunderlich, Klaus Ernst, Dr. Martina Bunge, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Unterhaltsvorschussgesetzes - Drucksache 16/7889 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({1}) - Drucksache 16/9440 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Eva Möllring Ina Lenke Ekin Deligöz Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind auch für diese Aussprache 90 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst die Kollegin Miriam Gruß für die FDP-Fraktion. ({2})

Miriam Gruß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003760, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es gibt eine gute Nachricht und eine schlechte Nachricht. Die gute Nachricht vorneweg: Wir unterhalten uns heute, an diesem Donnerstag, hier im Deutschen Bundestag zur Kernzeit über das Thema Kinderarmut. Das ist die gute Nachricht. Es gibt aber auch eine schlechte Nachricht: Die Tatsache, dass wir uns in Deutschland überhaupt über das Thema Kinderarmut unterhalten müssen, ist die schlechte Nachricht. Reiches Deutschland - arme Kinder! ({0}) Kommen wir zu den Fakten. Der Kinderschutzbund hat uns die Zahlen genannt: 2,4 Millionen Kinder in Deutschland leben in Armut. Danach lebt inzwischen jedes sechste Kind in Deutschland in Armut. Es gibt aber auch noch andere Zahlen. Damit komme ich zum ersten wunderlichen Aspekt dieser Debatte. Es gibt nämlich anderslautende Zahlen des Bundesarbeitsministers Scholz, und es gibt anderslautende Zahlen der Bundesfamilienministerin von der Leyen. Wer weiß schon, welche Zahlen die richtigen sind? Die Frage ist auch, ob mit den Aussagen gewisser Studien nicht politische Schlussfolgerungen herbeigerufen werden sollen. Wie auch immer, in diese Debatte will ich jetzt nicht einsteigen. Ich gehöre zur Opposition und kann die Zahlen nicht nachprüfen. Ich weiß allerdings: Jedes arme Kind in Deutschland ist ein Kind zu viel. ({1}) Neben der materiellen Armut gehen mit Armut nämlich auch schlechtere Gesundheit, größerer emotionaler Stress, der sich sogar auf die Bildungschancen von Kindern auswirkt, und schlechtere Teilhabechancen von Kindern in Deutschland einher. Schauen wir uns die Antworten der Bundesregierung an. Damit kommen wir, meine Damen und Herren, zu einem zweiten wunderlichen Aspekt: Meines Erachtens findet hier nämlich ein ganz wunderliches „Rechte Tasche, linke Tasche“-Spiel statt. Auf der einen Seite wird uns im Ausschuss gesagt, der Kinderzuschlag wurde erhöht. Das hat man aber nicht gescheit gemacht; denn ansonsten wäre auch der bürokratische Aufwand vermindert worden. Nun profitieren die, die tatsächlich den Kinderzuschlag erhalten, nur so marginal und minimal, dass es der Rede gar nicht wert ist. ({2}) Außerdem wird auf die uns vorgelegten Konzepte zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie verwiesen. Wir wissen allerdings heute noch nicht, ob nicht durch Einführung des Betreuungsgeldes all die guten Dinge, die hierdurch auf den Weg gebracht werden, entsprechend konterkariert werden. Damit würde den Kindern wiederum die Möglichkeit geraubt, von Anfang an Bildungschancen wahrzunehmen. Auf der anderen Seite - das zu „Rechte Tasche, linke Tasche“ - zieht die Bundesregierung den Eltern durch die größte Steuererhöhung der Bundesrepublik Deutschland das Geld aus der Tasche. ({3}) Von den 19 Steuererhöhungen sind vor allem die Eltern betroffen, die das Geld am dringendsten brauchen. Familien sind diejenigen, die am schnellsten in die Bedürftigkeit abrutschen. Die Antwort der Bundesregierung sind immer weitere Steuererhöhungen, von denen die Familien am meisten betroffen sind. Ich nenne beispielsweise die Erhöhung der Mehrwertsteuer, die Reduzierung bei der Pendlerpauschale und Abschaffung der Eigenheimzulage. ({4}) Unsere Antworten sehen anders aus. Wir wollen keine Verteilungspolitik, sondern Hilfe für die wirklich Bedürftigen, die zielgenau und bedarfsgerecht sein muss. Wir schauen nicht nur auf die Erwachsenen, sondern auch auf die Kinder. Wir müssen nämlich beide Gruppen im Blick haben. Was tun wir für die Kinder? Wenn wir im Bundestag über Kinder reden, dann müssen wir beachten, dass natürlich auch die Länder beteiligt sind. An dieser Stelle würde ich mich freuen, wenn die Länder sich mehr an den Investitionen in die frühkindliche Bildung beteiligen würden. ({5}) Chance auf Teilhabe heißt Chancengleichheit von Beginn an. Es ist ein Faktum, welches nicht wegzureden ist, dass das am Besten über die frühkindliche Bildung geht. Wir kümmern uns um die Teilhabe, um die Beteiligung von Kindern in Deutschland. An dieser Stelle möchte ich den Jugendverbänden ein großes Lob und Dankeschön aussprechen, die tagtäglich viel ehrenamtliche Arbeit leisten und sich dafür einsetzen, dass alle Kinder in Deutschland Beteiligung erfahren dürfen. ({6}) Mit Blick auf die Erwachsenen sind meines Erachtens drei Dinge ganz wichtig. Der wichtigste Punkt ist ein Arbeitsplatz. Denn ein Arbeitsplatz schützt vor Armut. Deswegen müssen wir alle Anstrengungen unternehmen, die Arbeitslosigkeit weiter zu reduzieren. ({7}) Des Weiteren ist es wichtig, die Aufnahme einer Arbeit durch eine verbesserte Vereinbarkeit von Beruf und Familie überhaupt zu ermöglichen. ({8}) Es ist zwar richtig, in Richtung des Ausbaus der Betreuungsplätze für unter Dreijährige zu gehen, aber die Anstrengungen dürfen an dieser Stelle nicht aufhören. Auch hier müssen die Länder mit ins Boot geholt werden. Kinderbetreuung wird nicht überflüssig, wenn die Kinder älter als drei Jahre sind. Wir müssen für alle Altersgruppen Betreuung gewährleisten, und zwar eine qualitativ hochwertige Betreuung. Bis jetzt habe ich in diesem Hause viel über den quantitativen Ausbau gehört, aber leider noch viel zu wenig über den qualitativen Ausbau der Betreuung von Kindern aller Altersstufen. ({9}) Natürlich müssen wir - das ist der dritte Punkt - die Steuern und Abgaben für die Familien senken. Die FDP-Bundestagsfraktion hat das familienfreundlichste Steuerkonzept von allen Fraktionen im Deutschen Bundestag: ({10}) Steuersätze von 10, 25 und 35 Prozent, ein höheres Kindergeld von 200 Euro, eine verbesserte steuerliche Absetzbarkeit von Kinderbetreuungskosten in Höhe von 12 000 Euro und ein Bürgergeld, das den wirklich Bedürftigen zugute kommt. Wir haben die Antworten auf die Kinderarmut in Deutschland. ({11}) Fakt ist: Der Nutzen von Kindern wird in Deutschland gerne generalisiert; die Kosten werden nach wie vor individualisiert. Das darf nicht sein. Ich bin gespannt auf Ihre Antworten. ({12})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Johannes Singhammer von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Johannes Singhammer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002800, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Kollegin Gruß, es gibt eine gute Nachricht: 1 600 000 neue Arbeitsplätze für Mütter und Väter seit 2005 sind effektiver für die Bekämpfung der Kinderarmut als jeder Antrag, egal ob er einen Umfang von 12, 13 oder 16 Seiten hat. ({0}) Es ist richtig: Wer Kinderarmut bekämpfen will, muss den Eltern mehr Netto in die Hand geben. Wer die Existenz von Kindern nachhaltig sichern will, muss die Eltern stark machen. Kinder wollen und brauchen liebevolle und starke Eltern. Eltern sind vor allem dann stark, wenn die ökonomische Existenz ihrer Familie gesichert ist. ({1}) Wir haben in der Großen Koalition das Elterngeld aus der Taufe gehoben, damit junge Eltern nach der Geburt eines Kindes nicht deutlich ärmer sind als vor der Geburt. Wir haben die Verdreifachung der Kindertagesbetreuung angepackt; denn viele Familien können nur als Doppelverdiener überleben. ({2}) Deshalb werden wir den Kinderzuschlag zum 1. Oktober dieses Jahres erhöhen, um weitere 150 000 Kinder aus dem statistischen Armutsbereich zu befreien. ({3}) Deshalb haben wir den Rechtsanspruch auf eine Kindertagesbetreuung und das Betreuungsgeld beschlossen. Wir haben in der Familienförderung einen Turbo angeworfen. Wir wissen genau: Ein täglicher finanzieller Kleinkrieg in den Familien ist mit das Schlimmste und Belastendste, was Familien treffen kann. Deshalb warne ich vor jedem Stillstand - mit uns wird es den auch nicht geben - in der Familienförderung.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Singhammer, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Deligöz?

Johannes Singhammer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002800, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gerne.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön.

Ekin Deligöz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003068, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Singhammer, eigentlich hatte ich einen Zuruf gemacht; aber der war wahrscheinlich zu leise. Deshalb stelle ich jetzt eine Zwischenfrage. Ich bin schon etwas überrascht darüber, dass ausgerechnet Sie von Doppelverdienern reden. Denn soweit ich weiß, ist das Betreuungsgeld aus Ihrer Feder, weil Sie nicht wollen, dass Mütter und Väter gleichzeitig arbeiten. Ihr präferiertes Modell ist doch, dass Mütter zu Hause bleiben. ({0})

Johannes Singhammer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002800, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Liebe Frau Kollegin Deligöz, Ihre Frage zeigt, dass Sie sich im Irrtum über das befinden, was wir wollen und welche Pläne wir haben. ({0}) Ich darf es Ihnen nochmals erklären: ({1}) Wir sind für Wahlfreiheit. Wahlfreiheit bedeutet, dass diejenigen Eltern, diejenigen Mütter und Väter, die verdienen müssen, die arbeiten und entsprechend ihrer Ausbildung tätig sein wollen, dies können und dass diejenigen Eltern, die sich anders entscheiden, weil ein Elternteil für eine bestimmte Zeit oder dauerhaft zu Hause bleiben will, im Rahmen des Betreuungsgeldes genauso eine Förderung erhalten. Das ist Wahlfreiheit. ({2}) In den nächsten Wochen wird der Existenzminimumsbericht des Bundesfinanzministers erscheinen. Weil in den vergangenen sieben Jahren eine Vielzahl von Dingen - von den Lebensmitteln bis hin zur Energie - teurer geworden ist, würde es jeden wundern, wenn dabei keine Steigerung herauskäme. Eine Erhöhung des Existenzminimums bedingt aber - das stelle ich hier fest - eine Erhöhung des Kindergelds. Alles andere wäre höchst ungerecht. Deshalb sage ich an dieser Stelle: Wir wollen eine Erhöhung des Kindergelds im kommenden Jahr. ({3}) Das ist auch eine Förderung der Mittelschicht, derjenigen, die arbeiten, die etwas leisten und für die es immer enger wird. Es wäre ungerecht, es nicht zu tun. Warum? Weil diejenigen, die über das Existenzminimum eine Steuerrückzahlung bekommen, im Regelfall einen Gegenwert von 203 Euro im Monat erhalten. Diejenigen, die Hartz IV erhalten, bekommen über das Sozialgeld im Regelfall einen Gegenwert, der ebenfalls über 200 Euro liegt. Diejenigen, die Kindergeld bekommen, erhalten bis zum dritten Kind jetzt 154 Euro und ab dem vierten 179 Euro. Um hier Symmetrie zu schaffen, ist eine Kindergelderhöhung notwendig. Welche Familien brauchen besonders nötig eine solche Kindergelderhöhung? Es sind die Alleinerziehenden, und es sind die Familien mit mehr Kindern. Es gibt nämlich noch Mehrkinderfamilien. ({4}) Angesichts der Diskussion über Energiepreis- und Spritpreiserhöhungen erinnere ich mich an ein Gespräch, das ich vor kurzem mit einer Mutter geführt habe, die neun Kinder hat. ({5}) - Auch mit dem Vater, Frau Künast, keine Angst. - Als die Frage aufkam: „Können Sie denn die Spritpreise noch zahlen?“, hat die Mutter - in diesem Fall nicht der Vater, sondern die Mutter, Frau Künast - geantwortet: Für uns sind weniger die Spritpreise von Bedeutung - wir haben gar kein Auto -, aber umso mehr die Milchpreise. Denn ich brauche nicht 95 Liter Sprit im Monat, sondern 95 Liter Milch für die Großfamilie. - Deshalb beschweren mich, so hat sie erklärt, besonders die Milchpreise. ({6}) In der Familienpolitik brauchen wir nicht nur einen finanziellen Ausgleich, sondern auch die Anerkennung einer solchen Leistung. Deshalb - das sage ich auch an dieser Stelle - habe ich kein Verständnis dafür, wenn Familien mit Misstrauen begegnet wird, so als seien sie nicht in der Lage, eine Transferleistung des Staates richtig und dem Wohl ihrer Kinder entsprechend einzusetzen. Nein, die Familien wissen am besten, was ihre Kinder brauchen. ({7}) Die meisten Mütter und Väter legen sich krumm, um etwas für ihre Kinder zu tun. Diese Familien wollen wir unterstützen. Natürlich wollen wir auch - das ist ganz wichtig -, dass Misshandlung und Verwahrlosung von Kindern mit allen Möglichkeiten nicht nur geahndet, sondern vor allem von vornherein vermieden werden.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Singhammer, erlauben Sie auch eine Zwischenfrage der Kollegin Gruß?

Johannes Singhammer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002800, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, gerne.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön, Frau Gruß.

Miriam Gruß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003760, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Es tut mir leid, dass ich Sie an dieser Stelle der Rede unterbrechen muss, ich hatte mich schon vorher gemeldet. Ich möchte Sie etwas fragen. Gerade haben Sie davon gesprochen, wie wichtig es Ihnen ist, dass Familienarbeit anerkannt wird. Glauben Sie ernsthaft, Herr Singhammer, dass Sie mit 150 Euro Betreuungsgeld im Monat die Familienarbeit anerkennen, also den Job einer Mutter oder eines Vaters, die oder der sieben Tage die Woche arbeitet und für die Kinder 365 Tage im Jahr da ist? Noch einmal: Glauben Sie, dass Sie mit 150 Euro im Monat diese Familienarbeit anerkennen? ({0})

Johannes Singhammer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002800, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Gruß, zunächst sage ich ganz klar: Sie haben recht. Die Leistung, die Mütter und Väter für ihre Kinder erbringen, kann gar nicht genug anerkannt werden. Sie liegt außerhalb einer ökonomisch bewertbaren Anerkennung. Aber die allermeisten Eltern empfinden es sehr wohl als ein Zeichen der Anerkennung und des Respekts ihrer Leistung, wenn sie zumindest 150 Euro Betreuungsgeld im Monat bekommen; ({0}) denn sie brauchen dieses Geld. Deshalb sind wir parallel zum Rechtsanspruch auf Kindertagesbetreuung klipp und klar für die Einführung eines Betreuungsgelds. Ich weiß aus vielen Gesprächen, dass die allermeisten Familien darauf warten. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Erlauben Sie eine weitere Zwischenfrage der Kollegin Gruß?

Johannes Singhammer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002800, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich möchte jetzt gern den Gedanken, den ich begonnen habe, fortführen, Frau Kollegin Gruß. - Weil wir dem Bereich Elternbildung neben allen finanziellen und ökonomischen Absicherungen der Familien einen so hohen Stellenwert zumessen, ist es wichtig, dass wir uns um die wenigen Familien kümmern, die offensichtlich selber nicht mehr in der Lage sind, Werte und Bildung weiterzugeben, ({0}) weil sie ihnen vielleicht von ihren Eltern nicht mehr in ausreichendem Umfang vermittelt wurden. Deshalb wird es unser Hauptanliegen sein, diesen Teufelskreis bei den wenigen Eltern ohne Orientierung - ich warne davor, das Regel-Ausnahme-Verhältnis auf den Kopf zu stellen - zu durchbrechen. Lassen Sie mich zu einer Fraktion hier im Deutschen Bundestag kommen, die in Bezug auf Versprechungen nicht zu überbieten ist, die so genannte Linkspartei. Das Kindergeld soll auf einen Schlag um die Gesamtsumme von 19 Milliarden Euro im Jahr erhöht werden. Der von der Linkspartei geforderte Zuschuss für die Förderung von Studenten würde 17 Milliarden Euro im Jahr kosten. Die familienpolitische Sprecherin der Linken, mit der Sie sich offensichtlich nicht ganz einig sind, Christa Müller, fordert ein Betreuungsgeld von immerhin 116 Milliarden Euro im Jahr. Man gönnt sich ja sonst nichts. Wenn ich allein diese drei Leistungen zusammenzähle, komme ich auf 152 Milliarden Euro im Jahr. Über die Finanzierung schweigt man sich aus. Selbstverständlich sollen die Reichen diese Summe aufbringen. Ich sage Ihnen, was bei Ihren utopischen Forderungen herauskommen wird: Die Reichen, die in Monaco ihren Steuersitz haben, werden Sie nicht erwischen. Aber einer derjenigen, der unter der dann entstehenden Steuererhöhungsorgie leiden wird, wird der Facharbeiter mit zwei Kindern sein, der sich ein kleines Häuschen geleistet hat. Ihm werden Sie das Geld aus der Tasche ziehen müssen, sonst werden Sie diese Riesensumme nicht hereinbekommen. Damit wird aber nicht die Kinderarmut bekämpft; vielmehr wird die Kinderarmut bei diesen Familien noch größer. Ich wäre Ihnen sehr dankbar für eine Antwort auf die folgende Frage: Was ist der Grund dafür, dass die Kinderarmut in der Stadt, in der Sie mitregieren, wo sicherlich schwierige Verhältnisse herrschen, in Berlin, in den letzten Jahren um 32 Prozent gestiegen ist? ({1}) Wie hängt das zusammen? Was ist der Grund dafür? Sie sind in Berlin an der Regierung beteiligt. Sagen Sie doch einmal etwas dazu. Ich sage an dieser Stelle: Wir brauchen keine Familienpolitik der ungedeckten Schecks, sondern ({2}) eine Familienpolitik des klaren Kurses. ({3}) Wir müssen die Politik, die unsere Familienministerin, Frau von der Leyen, begonnen hat, fortsetzen. Wir werden sie unterstützen, damit sie weitere Schritte unternehmen kann. Vielen Dank. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Elke Reinke von der Fraktion Die Linke. ({0})

Elke Reinke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003829, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Werte Gäste! Immer mehr Kinder haben immer weniger. Mit der Agenda 2010 und Hartz IV wurden Armut und Ausgrenzung per Gesetz beschlossen. Die Zahl der armen Kinder hat sich seit Einführung von Hartz IV auf über 2,5 Millionen verdoppelt. Dass die Kinderarmut in den letzten Jahren dramatisch gestiegen ist, belegen zahlreiche Studien und Berichte: der Kinderreport 2007, der Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, der UNICEF-Bericht „Lage von Kindern in Deutschland“, die Prognos-Studie „Armutsrisiken von Kindern und Jugendlichen in Deutschland“ und viele weitere wissenschaftliche Erhebungen. Besonders stark von Armut betroffen sind Kinder von Alleinerziehenden, Kinder in Hartz-IV-Familien und Kinder mit Migrationshintergrund. Trotz der vorliegenden, alarmierenden Zahlen dreht die Bundesregierung Däumchen und wartet auf den nächsten Bericht. Der Existenzminimumbericht soll im Herbst 2008 erscheinen. Erst danach soll darüber beraten werden, ob die Kinderregelsätze erhöht werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Betroffenheit, die viele von Ihnen hier an den Tag legen, die ich den meisten sogar abnehme, reicht nicht. ({0}) Ebenso wenig hilfreich sind Ihre in Hochglanzbroschüren bejubelten Maßnahmen. Das Warten muss endlich aufhören. Es müssen sofort Taten folgen. ({1}) Sorgen Sie dafür, dass der Kinderzuschlag mehr Betroffenen hilft. Erhöhen Sie ihn für unter 14-Jährige auf 200 Euro und für über 14-Jährige auf 270 Euro. ({2}) Die Höhe des Kinderzuschlags muss vom Alter der Kinder abhängen. Über 14-Jährige dürfen nicht in Armut rutschen, nur weil sie eigene, altersbedingte Bedarfe haben. In der Anhörung zum Kinderzuschlag am vergangenen Montag waren sich fast alle Expertinnen und Experten einig: Kinder von Alleinerziehenden werden weiterhin deutlich benachteiligt und ausgegrenzt. Nehmen Sie die Meinungen der Expertinnen und Experten bitte endlich ernst. ({3}) Wir brauchen einen eigenständigen Kinderregelsatz, der die Bedarfe realitätsnah abbildet. Deshalb fordert meine Fraktion eine Anhebung des Kinderregelsatzes im ersten Schritt auf mindestens 300 Euro. Ebenso notwendig ist es, das Kindergeld auf mindestens 200 Euro zu erhöhen. Zur Erinnerung: Das Kindergeld wurde das letzte Mal 2002 erhöht. ({4}) Besser wäre natürlich gleich eine bedarfsgerechte, eigenständige Kindergrundsicherung; auch das kam in der Anhörung zur Sprache. Unsere Vorstellung kennen Sie: 420 Euro für jedes Kind. Eines sollte klar sein: Um Kinderarmut ernsthaft bekämpfen zu können, muss man zusätzliches Geld ausgeben. Das Geld ist da; das sage ich Ihnen nicht zum ersten Mal. Mit einem gerechten Steuer- und Sozialsystem kann all dies finanziert werden. Diese Meinung vertreten auch viele Sozialverbände und Gewerkschaften. ({5}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, in Ihrem Antrag findet man erfreulicherweise viele unserer Forderungen. ({6}) Man sieht: Die Linke wirkt auch hier. Auf den neun Seiten des Feststellungsteils ist aber leider nicht zu lesen, dass auch während der sieben Jahre grüner Regierungsverantwortung die Kinderarmut enorm angestiegen ist. ({7}) Vieles, was Sie kritisieren - niedriger Kinderregelsatz, fehlende Schulbedarfe oder spezielle Bedarfe für Jugendliche -, haben Sie selbst mitbeschlossen. Sie sind sehr vergesslich, wie ich feststellen muss. ({8}) Auf den Antrag der FDP möchte ich gar nicht näher eingehen. ({9}) Nur so viel: Neben vielen anderen Bereichen wollen Sie auch die Kinderbetreuung stärker privatisieren. In das gleiche Horn bläst die Bundesregierung mit ihrem Kinderförderungsgesetz. Das ist mit der Linken nicht zu machen. ({10}) Meine Damen und Herren der Koalition, Sie stehen sich immer mehr selbst im Weg. Die SPD fordert einen Mindestlohn, will aber keine Erhöhung des Hartz-IVSatzes für Kinder und kein höheres Kindergeld. Die Union ruft nach mehr Kindergeld, will aber keinen gesetzlichen Mindestlohn. Doch gerade das zusammen brauchen wir. ({11}) Das geht übrigens auch ganz deutlich aus dem aktuellen Positionspapier des DGB hervor. Das kann man nachlesen. Es ist ebenfalls notwendig, die Einkommensarmut der Eltern zu bekämpfen. Ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn darf nicht nur gefordert, sondern muss auch beschlossen und umgehend eingeführt werden. ({12}) Noch einmal in Richtung Regierungsbank. Sie schmücken sich mit Armutsberichten, ohne zu bemerken, dass genau diese Studien Ihnen ein Armutszeugnis ausstellen. Da alle Medien brav mitspielen, sagt keiner, dass der Kaiser bzw. in diesem Fall die Kaiserin eigentlich nackt ist. ({13})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Reinke, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Fischbach?

Elke Reinke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003829, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich bin bei meinem letzten Satz. Ich würde gern in meiner Rede fortfahren. Auf den Punkt gebracht heißt das: Unsere Kinder haben das Recht - dafür muss ein Sozialstaat sorgen -, gesund aufzuwachsen, freien Zugang zu guter Bildung zu haben und gleichberechtigt am täglichen Leben teilzuhaben. Vielen Dank. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Wolfgang Spanier von der SPD-Fraktion. ({0})

Wolfgang Spanier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002803, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine erste Rede als Bundestagsabgeordneter vor etwa 13 Jahren war zum Thema Armut. Damals hat die SPDBundestagsfraktion in der Opposition einen Armuts- und Reichtumsbericht gefordert. Das wurde von der damaligen Koalitionsmehrheit im Deutschen Bundestag mit folgender Begründung abgelehnt: Wir haben die Sozialhilfe, das sei bekämpfte Armut. Darüber hinaus gebe es keine Armut. Also sei so ein Bericht überflüssig. Ich kann erfreut feststellen, dass sich - auch in den Köpfen - vieles geändert hat. Wir in diesem Haus sind uns mittlerweile einig, dass es Armut gibt. Wir nehmen die Wirklichkeit wahr; wir sind angekommen. Wir nehmen ebenfalls wahr, dass es nicht nur um materielle Armut geht, sondern auch um Ausgrenzung, um Lebenslagen, Gesundheit, Wohnen und Bildung. Auch da sind wir uns einig. Wir sind uns ebenso einig, dass Kinderarmut im Grunde genommen Elternarmut ist. Das hört sich banal an, ist aber, wenn man die Konsequenzen betrachtet, durchaus wichtig festzuhalten. Es ist, glaube ich, richtig, dass wir uns hier nicht in Debatten über Zahlen und Statistiken verlieren; da gebe ich Frau Gruß recht. Manchmal sollte man auf die eine oder andere Pressekonferenz verzichten, um nicht - vielleicht ungewollt - zusätzliche Verwirrung zu stiften. ({0}) Wir sind uns auch einig - vielleicht sollte ich vorsichtig sagen: weitgehend einig - hinsichtlich der Ursachen von Armut und speziell Kinderarmut. Diese sind nun einmal die Arbeitslosigkeit, die besondere Situation der Alleinerziehenden sowie die besondere Situation der Migrantinnen und Migranten. Ursache ist auch - da sind wir uns vor allen Dingen bezüglich der Konsequenzen noch nicht einig - der stetig und immer schneller wachsende Niedriglohnsektor. Das müssen wir zur Kenntnis nehmen. ({1}) Es hat ein bisschen lange bedauert, bis die eine oder andere Fraktion in diesem Hause erkannt hat, dass wir ein Zuwanderungsland sind und dass die Integration eine der großen gesellschaftlichen Aufgaben in Deutschland ist. ({2}) In beiden vorliegenden Anträgen - es gibt entsprechende Programme und Entwürfe aller Fraktionen in diesem Haus - geht es um ein Gesamtkonzept. Sie wissen, dass ich da immer ein bisschen misstrauisch bin. Aber in diesem Fall ist es in der Tat richtig, dass wir nicht nur versuchen, mit punktuellen Maßnahmen gegen Kinderarmut vorzugehen, sondern dass wir dies auch in einen größeren Zusammenhang stellen. Es geht um die Bekämpfung materieller Armut und vor allen Dingen um die Teilhabe an Bildung. Dies ist nicht nur Aufgabe des Staates. Staat und Gesellschaft müssen sich dieser zentralen gesellschaftspolitischen Aufgabe widmen. Diese Aufgabe muss auf allen staatlichen Ebenen - Bund, Länder und Kommunen - angepackt werden. Das macht die Sache nicht einfacher. Hier geht es nicht darum, sich Zuständigkeiten zuzuschieben, sondern darum, dass man abgestimmt mit einem gemeinsamen Maßnahmenpaket vorgeht. Es gibt Beispiele. Ich greife einmal das Land Schleswig-Holstein heraus. Dort hat man gerade ein Handlungskonzept zur Bekämpfung der Kinderarmut vorgelegt. Ein erster konkreter Schritt ist die Aktion „Kein Kind ohne Mahlzeit“. ({3}) Ich denke, das ist ein richtiger Ansatz. Entscheidend ist aber das Zusammenwirken aller staatlichen Ebenen. Ein weiterer Punkt: Das ist eine Querschnittsaufgabe. Das ist nicht die Aufgabe eines Ressorts; das ist nicht nur eine familienpolitische Aufgabe. Hier muss vielmehr vieles zusammenkommen. Frau Ministerin, wir müssen zum Beispiel aufpassen, dass wir das Thema des Niedriglohnsektors und der Mindestlöhne nicht ausklammern. Dieses Thema hat mindestens den gleichen Stellenwert wie familienpolitische Aufgaben. Da gebe ich dem DGB mit seiner Kritik durchaus recht. ({4}) Im Antrag der Grünen heißt es, wir hätten untätig zugeschaut. Nein, das ist nicht richtig. Wir sind vorangekommen. Ob ich das als Turbo bezeichnen würde, weiß ich nicht. Bei einem Turbo gibt es auch immer ein Turboloch. Das ist aber nicht so wichtig. Wir sind entscheidend vorangekommen, zumindest ein großes Stück. Die Arbeitsmarktpolitik wurde genannt. Gleiches gilt für die Förderung von sozial Benachteiligten. Gleich, im Anschluss an diese Debatte, werden wir in diesem Haus ein solches Förderprogramm beschließen. Dabei geht es um die Ausbildung der jungen Leute, die sich schon seit zwei, drei Jahren in Warteschleifen befinden, die keinen Hauptschulabschluss haben usw. Das ist vernünftig. ({5}) - Frau Reinke, das ist nun einmal so. Wir diskutieren heftig über die Einführung der Mindestlöhne. Ich hoffe und erwarte, dass wir das, was wir vereinbart haben, auch möglichst bald umsetzen. Wir wissen, dass der Schlüssel zur Prävention von Armut in erster Linie Bildung ist. Ich glaube, wir sind uns einig, dass wir mit dem Rechtsanspruch auf die Betreuung der unter Dreijährigen ein ehrgeiziges Programm beschlossen haben. Es ist in der Tat wichtig, dass wir das auch umsetzen. Entscheidend ist: Wir als Sozialdemokraten bekennen uns zur öffentlichen Verantwortung für Bildung und frühkindliche Förderung. ({6}) Hier gibt es immer noch konservative Positionen - ich drücke mich vorsichtig aus -, die das ein Stück weit anders sehen. Im Herbst dieses Jahres werden wir den Existenzminimumbericht erhalten. Für die materiellen Leistungen ist in erster Linie der Bund zuständig. Ich räume gern ein, dass wir den Mix aus Steuerfreibeträgen, Elterngeld und Leistungen nach SGB II noch einmal im Zusammenhang betrachten müssen. Es ist richtig: Hier gibt es Verwerfungen. Wir sind fest davon überzeugt, dass wir uns noch einmal mit den Regelsätzen auseinandersetzen müssen. Das Ganze ist so, wie es jetzt ist, nicht befriedigend; das räume ich hier gern ein. Wir haben aber auch Verwerfungen bei der Vielzahl der familienpolitischen Leistungen. Frau Ministerin, bei aller Anerkennung der guten Zusammenarbeit und dem, was wir gemeinsam in dieser Großen Koalition geleistet haben, möchte ich doch anmerken, dass wir darüber enttäuscht sind, dass das, was Sie angekündigt haben, nämlich eine Bestandsaufnahme aller familienpolitischen Leistungen sowie eine Bewertung und Gewichtung, bisher nicht vorliegt. Das brauchen wir dringend. ({7}) Wir brauchen dies dringend, wenn wir zielgerichtet an die materiellen und finanziellen Leistungen herangehen wollen. Hier muss ich der FDP schlicht und einfach zustimmen. ({8}) Meine Damen und Herren, beide Anträge - sowohl der von den Grünen als auch der von der FDP - bringen sicherlich eine ganze Menge an Anregungen für die wichtige Diskussion im Herbst; ich habe heute meinen versöhnlichen Tag. Eine kritische Anmerkung muss ich aber in die Richtung der Fraktion Die Linke machen: Das ist ein Mix aus Betroffenheitsrhetorik, moralisierenden Anklagen und völlig nebulösen und fantastischen finanziellen Versprechungen, der langsam die Grenze des für mich persönlich Erträglichen überschreitet. ({9}) Ich unterstelle Ihnen nicht, keine ehrenwerten Absichten zu haben; das sage ich ausdrücklich. So aber, wie Sie die Themen angehen, ist das, glaube ich, verantwortungslos. ({10}) Wenn Sie in der Verantwortung wären, dann würden Sie so etwas nicht zu Papier bringen. ({11}) Das muss ich Ihnen sagen, obwohl ich wiederhole, dass ich das Anliegen, das Sie vertreten, durchaus ernst nehme und im Grundsatz in dieser Frage mit Ihnen übereinstimme. So geht es nicht. Wir Sozialdemokraten werden dieses Problem ganz nüchtern lösen. Wir werden in den nächsten Wochen einen Kindergipfel starten, um deutlich zu machen, dass die sozialdemokratisch regierten Bundesländer und Kommunen

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege.

Wolfgang Spanier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002803, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

- und die SPD-Bundestagsfraktion an einem Strang ziehen. Herzlichen Dank und Entschuldigung für die Überziehung der Redezeit. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Bundesministerin Ursula von der Leyen. ({0})

Dr. Ursula Leyen (Minister:in)

Politiker ID: 11004092

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Diese Debatte zeigt zunächst einmal: Kinderarmut treibt uns um. Diese Debatte zeigt - Herr Spanier, Sie haben das gerade sehr schön dargelegt -: Kinderarmut hat sehr viele Gesichter. Diese Debatte zeigt natürlich auch, dass die Kinderarmut nicht in einer einzigen Statistik zu erfassen ist. Dennoch müssen wir uns mit Statistiken beschäftigen. ({0}) Ich möchte meinen Blick zunächst einmal auf den internationalen Vergleich richten. Denn es ist wichtig, immer auch zu überprüfen, wo wir im Vergleich zu anderen Ländern, insbesondere im Vergleich zu anderen europäischen Ländern stehen. Im internationalen Vergleich zeigt sich, dass es Deutschland ganz gut gelingt, die Kinderarmut zu bekämpfen. Wir liegen im oberen Drittel. Bedürftige Kinder werden in Deutschland finanziell besonders stark gefördert. Sie erhalten um ein Drittel höhere Leistungen als Kinder, die oberhalb der Armutsgrenze aufwachsen. Damit verfügt Deutschland von allen Mitgliedsländern der EU-15, also der alten Mitgliedstaaten, über die am stärksten an armen Kindern ausgerichteten Förderungen. ({1}) Dennoch gibt es in Schweden, Dänemark und Finnland deutlich weniger Kinderarmut als in Deutschland. Unser Ziel ist, die Kinderarmut nachhaltig zu senken. Warum sind andere Länder noch erfolgreicher als wir? ({2}) Es gibt nicht nur ein einziges Erfolgsrezept, sondern es kommt auf einen klugen Mix von Maßnahmen an. Zusätzlich zur notwendigen finanziellen Unterstützung, die absolut unbestritten ist, investieren die erfolgreicheren Länder auch in Maßnahmen, die dazu beitragen, dass beide Elternteile erwerbstätig sein können. Wir dürfen beim Kampf gegen Kinderarmut also nicht nur die Kinder im Blick haben - das wurde in der heutigen Debatte sehr deutlich -, sondern wir müssen auch die Situation der Eltern berücksichtigen. Aus diesem Grunde möchte ich meinen Blick jetzt nach innen, auf die Situation in unserem Land, richten. Wenn wir die Frage stellen, wie sich Kinderarmut zusammensetzt und welche Grundmuster sie hat, stellen wir fest, dass alle statistischen Erhebungen dieselben Grundmuster aufweisen. Erstens leben Kinder dann in Armut, wenn ihre Eltern keine Arbeit haben. Es ist also nicht etwa so, dass Kinder arm machen. Vielmehr leben Kinder dann in Armut, wenn ihre Eltern keine Arbeit haben. ({3}) Zweitens - das ist ein sehr wichtiger und meiner Meinung nach besonders bedrückender Punkt - leben Kinder dann in Armut, wenn sie in kinderreichen Familien aufwachsen, in denen die Eltern Mühe haben, für die vielen Köpfe genug Einkommen zu verdienen; in diesen Fällen sind staatliche Leistungen von existenzieller Bedeutung. Hinzu kommt: Kinder bleiben in Armut, nämlich in Teilhabearmut, wenn sie keine Chance auf Bildung und Entfaltung ihrer eigenen Fähigkeiten bekommen. Das wird auch an den vorliegenden Zahlen deutlich. Es gibt drei Hauptgruppen, die wir im Hinblick auf Kinderarmut zu berücksichtigen haben: erstens die Kinder von Alleinerziehenden, 800 000 Kinder, zweitens die Kinder aus kinderreichen Familien, 400 000 Kinder, und drittens die Kinder mit Migrationshintergrund, rund 520 000 Kinder. Auf diese drei Gruppen müssen wir unseren Fokus vor allen Dingen richten. Hier setzt das Konzept der Bundesregierung an. Eltern brauchen Arbeit. Das heißt, sie brauchen Arbeitsplätze. Eine gute Konjunktur schafft Arbeitsplätze. Wie wir sehen, ist die Zahl der unter 15-jährigen Kinder in den Bedarfsgemeinschaften der Grundsicherung für Arbeitsuchende seit Anfang 2007 rückläufig. Das ist zwar nur ein erster Teilerfolg, aber ein wichtiger Erfolg. Inzwischen sind 1,6 Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen worden. Das wirkt sich unmittelbar auf die Situation in den Familien aus. Wir dürfen uns aber nicht nur auf die Konjunktur verlassen, sondern wir brauchen auch eine gezielte Familienpolitik. Wie Sie wissen, haben wir gemeinsam ein stimmiges Grundkonzept entwickelt. Dazu gehört erstens das Elterngeld. Es ist vor allem für Alleinerziehende ein wichtiger Baustein, der sicherstellt, dass sie mit der Geburt eines Kindes nicht in die Armut rutschen. Der zweite wichtige Aspekt ist der verbesserte Kinderzuschlag. Wir haben an der kritischen Grenze zur Armut, an der Empfänger von Transferleistungen leben, angesetzt. Diese staatliche Leistung, der Kinderzuschlag, ist genau das richtige Instrument, um Familien, in denen die Eltern ihr eigenes Einkommen verdienen, in denen das Geld aber nicht für alle Kinder ausreicht, zu unterstützen. Wegen der Kinder sollen diese Familien nicht in Hartz IV sein. Durch den Kinderzuschlag sollen sie in die Lage versetzt werden, auf eigenen Beinen zu stehen. Mit dem neuen Kinderzuschlag, den wir entwickelt haben, erreichen wir im Zusammenspiel mit der Wohngeldreform 250 000 Kinder; vorher waren es nur 100 000 Kinder. Insofern sind wir auch hier einen Schritt vorangekommen. Berechtigterweise wird immer wieder eine Wirkungsanalyse gefordert. Wir sind mitten dabei, die Wirkung der verschiedenen Leistungen zu analysieren. Das geht aber nicht über Nacht. Wenn die Wirkungsanalysen vorliegen, werden wir - davon müssen wir ausgehen - neue Erkenntnisse haben. Die entscheidende Frage ist: Wie gehen wir um mit Familien, die in der Mitte der Gesellschaft sind, die kleine Einkommen haben, die keine Steuern zahlen und damit von einer Erhöhung der Freibeträge nicht profitieren, die keine staatlichen Transferleistungen beziehen? Wie helfen wir diesen Familien, wenn ein weiteres Kind geboren wird? Für diese Familien ist das Kindergeld entscheidend. Wir haben das Kindergeld lange vernachlässigt, ({4}) wir haben die Bedeutung dieser Leistung unterschätzt. Das Kindergeld hat - das zeigt sich insbesondere im internationalen Vergleich - einen hohen armutspräventiven Charakter. ({5}) Wir dürfen das Kindergeld nicht kleinreden. Wenn es im Herbst zu einem höheren Existenzminimum für Kinder kommt und die Freibeträge erhöht werden, werden wir auch über eine Erhöhung des Kindergeldes sprechen müssen. Ich werbe dafür, den Blick dann darauf zu richten, wer diese Erhöhung vor allem braucht. ({6}) Das sind die kinderreichen Familien, und das sind die Alleinerziehenden mit mehreren Kindern, insbesondere wenn das dritte Kind kommt. Seit 1995 ist das Kindergeld für das dritte Kind nicht mehr erhöht worden. Wir haben das dritte Kind in der öffentlichen Debatte fast vergessen. ({7}) Deshalb werbe ich nachdrücklich dafür, das Kindergeld zu staffeln, auch im Lichte der Erkenntnisse der Wissenschaftler, die uns gesagt haben, dass wir hier nicht lockerlassen dürfen. ({8}) Wir wollen mit der Kaskade Elterngeld, Kinderzuschlag, Kindergeld die Familien in der Mitte der Gesellschaft halten, wollen verhindern, dass Familien in Armut abrutschen. Natürlich sind auch Bildung und Förderung entscheidende Bausteine. Den vierten Baustein haben wir letzte Woche mit dem Kinderfördergesetz beraten. Ich bin stolz darauf und danke von Herzen, dass es gelungen ist, in außergewöhnlich kurzer Zeit - Februar 2007 Beginn der Diskussion über den Ausbau der Betreuung von unter Dreijährigen, April 2008 Gesetzentwurf im Kabinett, Mai 2008 Gesetzentwurf im Parlament - einen Konsens von Bund, Ländern, Kommunen und Parteien herzustellen. Wir diskutieren jetzt nicht mehr darüber, ob wir einen Ausbau der Betreuung brauchen, wir diskutieren nur noch darüber, wie wir es am besten machen. Es ist Konsens, konsequent nachzuholen, besser zu werden, die Infrastruktur auszubauen. Entscheidend ist für Eltern, dass sie arbeiten können, dass sie ein Einkommen haben. Für Kinder, gerade für Kinder aus benachteiligten Familien, ist der Zugang zu Förderung, zu Bildung von Anfang an die beste Prävention gegen Armut. Danke an das Parlament, danke an alle, die daran mitgearbeitet haben! ({9}) Kinderarmut hat viele Gesichter. Es gibt nicht das Rezept, die Leistung, um Kinderarmut zu bekämpfen. Noch einmal: Wir sind im internationalen Vergleich nicht schlecht; uns darf aber nicht ruhen lassen, dass wir innerhalb des Landes im Vergleich dazu, wie wir anderen Gruppen helfen, bei der Bekämpfung der Kinderarmut besser werden können. In den letzten 30, 40 Jahren ist viel versäumt worden; die Kinderarmut ist schließlich nicht über Nacht entstanden. Ich nenne als Stichworte nur die mangelnde Vereinbarkeit von Beruf und Familie und das Vergessen der kinderreichen Familie, also des dritten Kindes. Lange wurde nicht wahrgenommen, dass frühe Bildung für Kinder mit Migrationshintergrund, für Kinder aus Familien, in denen Bildung wenig zählt, die Chance ist, aus der Armut herauszukommen. Wir haben Jahre gebraucht, um hier auf den internationalen StanBundesministerin Dr. Ursula von der Leyen dard zu kommen. Jetzt haben wir gemeinsam die Chance, zu handeln. Die Fakten in den Berichten rütteln uns wach; in den Berichten werden uns aber auch Möglichkeiten aufgezeigt, zu handeln. Deshalb noch einmal meine Bitte: Bleiben wir bei diesem Thema bei der guten Tradition, die sich in unserem Ausschuss, aber auch hier im Parlament entwickelt hat, nämlich gemeinsam konsequent für dieses Thema zu streiten. Vielen Dank. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Renate Künast von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Renate Künast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003576, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Ministerin, Sie mögen sich einiges zugutehalten - ich will das der Fairness halber ja gar nicht ganz abstreiten -, ({0}) aber zu sagen, dass Kinder- und Bildungspolitik und der Kampf gegen die Kinderarmut vorher vernachlässigt und unter Ihrer Ägide quasi zu einer Lichtgestalt wurden, muss ich nun wirklich zurückweisen. ({1}) Wir haben kein Kurzzeitgedächtnis, sondern wissen, dass das Kindergeld vor Ihrer Regierungszeit durch eine rot-grüne Koalition und gegen den Widerstand der CDU/ CSU zweimal um insgesamt 37 Prozent erhöht wurde. Das ist die Wahrheit. ({2}) Wir wissen auch, dass wir uns viel Mühe gegeben haben - gegen den erbitterten Widerstand zumindest der CDU/CSU-Ministerpräsidenten -, als es darum ging, den Ländern Geld für den Ausbau der Tagesbetreuung und von Ganztagsschulen zu geben. Auch dadurch wird Armut bekämpft. Die nächtlichen Auftritte von Herrn Koch vergesse ich nicht. ({3}) Die Frage ist doch, wonach wir unser Handeln ausrichten. Auf dieser Basis will ich einmal Ihren Redebeitrag und Ihre Politik betrachten. Wir sagen: Jedes Kind - ich könnte jetzt einfach ein Ausrufezeichen machen und damit aufhören - in diesem Land hat unabhängig von irgendwelchen internationalen Vergleichen, die mich in dieser Sache gar nicht interessieren, das Recht auf Entwicklung, die Entfaltung seiner Persönlichkeit, kindgerechte Lebensbedingungen, Schutz und die Sorge der Gemeinschaft, also des ganzen Bundestages und aller Mitglieder dieser Gesellschaft, ob sie Kinder haben oder nicht. Das muss der Faden unserer Politik für Kinder sein. ({4}) Wir wissen: Die armen Kinder befinden sich in einer Verstrickung von materieller Armut, kultureller Armut und sozialer Armut, aus der sie nicht herauskommen. Wir haben ein Betreuungs- und Bildungssystem, bei dem es den Mittelschichtlern und den reicheren Eltern immer noch möglich ist, Defizite auszugleichen. Andere können das aber nicht. Frau Ministerin, Sie haben Zahlen vorgelegt. Ich prophezeie Ihnen, dass die Lage noch schlimmer und schwieriger wird. In Berlin haben 50 Prozent der Nullbis Zweijährigen einen Migrationshintergrund. Dabei sind die Kinder aus den bildungsfernen Schichten noch nicht mitgerechnet. Hinsichtlich der Zukunft des Landes und der Kinder wird die Luft in jeder Hinsicht brennen, wenn wir nicht jedem Kind eine Chance geben. Darum muss es gehen. ({5}) Deshalb reicht es einfach nicht, nur hier und da ein bisschen zu reagieren. Frau von der Leyen, Sie sagten, Sie wollten die familienpolitischen Leistungen ein Jahr lang von einer Kommission überprüfen lassen. Auch das reicht nicht. Jetzt ist Mut gefragt, das irgendwann auch einmal auf den Tisch zu legen und zu sagen: Wir stellen fest, dass sich das, was hier passiert, zwar familienpolitisch nennt, aber bei der Erziehung von Kindern und zur Verbesserung der Erziehungssituation in Wahrheit nicht weiterhilft. ({6}) Wir sagen ganz klar: Das gestaffelte Kindergeld ist keine vernünftige Antwort. Frau von der Leyen, Ihre eigenen Zahlen - sie stammen aus Ihrem Hause - besagen ja, dass die ärmsten Familien die Ein-Kind-Familien von Alleinerziehenden sind. Wenn Sie ein gestaffeltes Kindergeld einführen, dann bedeutet das, dass ungefähr 94 Prozent der Kinder von Alleinerziehenden null Euro davon haben. ({7}) Das sind nach Ihrer eigenen Darstellung aber die ärmsten Kinder. ({8}) Warum wollen Sie ein gestaffeltes Kindergeld einführen? Wollen Sie einer Ideologie folgen - insbesondere der der CSU - oder wollen Sie wirklich Armut bekämpfen? Dann müssten Sie eine andere Entscheidung treffen. ({9}) - Wenn wir systematisch vorgehen wollen, dann sollten wir doch da anfangen, wo die meisten Probleme bestehen. ({10}) Wir als Grüne wollen Kinderregelsätze für die armen Kinder und mehr als das gesetzlich zwingend Notwendige tun. Wir wollen, dass Kinder Geld haben, um ein Leben in Würde zu führen. Das schließt das Mittagessen, die Mitgliedschaft im Sportverein, um kulturell im Dorf bzw. in der Stadt verankert zu sein, und den Unterricht an der Musikschule ein. Dafür brauchen wir etwas; da reichen 60 Prozent vom Regelsatz nicht. Wir bräuchten also eher eine Kommission, die das soziokulturelle Existenzminimum von Kindern berechnet. ({11}) - Diese FDP-Zurufe liebe ich. Sie waren auch einmal in der Regierung. Ich weiß nicht, welchem Mutterbild Sie damals gefrönt haben. Wir wollen endlich die Sachleistung. Herr Müntefering von der SPD hat im November 2007 gesagt, es solle schnell darüber entschieden werden. Ich hatte eigentlich gehofft, er habe gemeint, es werde im November 2007 schnell entschieden.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Künast, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Thiele?

Renate Künast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003576, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Nein, danke. ({0}) - Ich möchte jetzt die letzte Minute dazu nutzen, meine Rede zum Abschluss zu bringen. Meine Damen und Herren, wir wollen einen Betreuungsausbau und eine frühkindliche Bildung. Sollte dies erst 2013 kommen, wären viele derjenigen, die heute klein sind, wieder einmal mit Defiziten in die Schule gekommen. An dieser Stelle folgen wir Ihnen, Frau von der Leyen, bei dem Satz, das Betreuungsgeld sei eine bildungspolitische Katastrophe. Damit haben Sie mir aus dem Herzen gesprochen. ({1}) Wir sehen nicht nur, dass 150 Euro zu wenig sind. In Thüringen erleben wir, dass die falschen Eltern sagen, sie bekämen Betreuungsgeld und sparten die Kitagebühren und hätten dadurch 200 Euro mehr. Wir sind aber darauf angewiesen, dass die Kinder nicht auf das falsche Gleis kommen, sondern sozialisiert werden. ({2}) Wir brauchen endlich ein Qualitätssiegel für die Kinderbetreuung. Heute gibt es noch Kindergartengruppen mit 25 Kindern und einer Erzieherin und einer Hilfskraft. Das sind die Kinderverwahranstalten, vor denen Sie uns mit Ihrem alten Familienbild immer warnen wollten. Wir brauchen den guten und gesunden Kindergarten, und dazu brauchen wir ein Qualitätssiegel.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Künast, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Fischbach?

Renate Künast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003576, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Jetzt habe ich zu Herrn Thiele Nein gesagt. ({0}) - Nein, das hat nichts mit Feigheit zu tun. Ich möchte versuchen, meine Rede jetzt geschlossen zu Ende zu bringen. Ansonsten lasse ich gern Zwischenfragen zu. Meine Damen und Herren, als letzten Gedanken bringe ich noch Folgendes in diese Debatte ein: So, wie wir den Aufbau Ost gemeinsam finanziert und umgesetzt haben, müssen wir jetzt das Thema Bildung als gesamtstaatliche und gesamtgesellschaftliche Aufgabe begreifen. Wir brauchen Geld für Kreativität, Personalausstattung und eine gute Personaleingruppierung. Ab 2010 werden die Zahlungen aus dem Solidaritätszuschlag an die neuen Länder abgeschmolzen. Jetzt sollten wir die Entscheidung treffen, das, was wir beim Aufbau Ost konnten, für Kinder zu tun. Dieses Land muss den Solizuschlag nehmen und aus ihm für jedes Kind in diesem Land einen Bildungssoli machen. Das wäre sinnvoll. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Carl-Ludwig Thiele das Wort.

Carl Ludwig Thiele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002315, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Frau Künast, Sie haben die Frage in den Raum gestellt, was denn seinerzeit von der FDP gekommen sei. Ich weise darauf hin, dass auf Initiative der FDP im Jahr 1996 Kindergeld als negative Einkommensteuer eingeführt wurde. ({0}) Wir hatten bis dahin für das erste Kind ein Kindergeld von 70 DM, danach ein Kindergeld von 200 DM. So stellen wir uns das Bürgergeld auch vor. Das Kindergeld ist keine Gnadenleistung des Staates an die Bürger, sondern die Bürger haben das Recht darauf, den Lebensunterhalt ihrer Kinder aus unversteuertem Einkommen bestreiten zu können. ({1}) Dieser Systemwechsel war nicht einfach zu erreichen. Ich bin der SPD, die damals in der Opposition war, nach wie vor dankbar, dass sie diesem Systemwechsel im Deutschen Bundestag zustimmte; denn dieser Systemwechsel war die Voraussetzung dafür, dass das KinderCarl-Ludwig Thiele geld auf 220, 250 und 300 DM weiterentwickelt und dann auch in dieser Höhe in Euro umgerechnet werden konnte. Die zentrale Frage ist hier: Gibt der Staat eine Gnadenleistung an die Familien, oder haben die Familien nicht ein Recht darauf, den Unterhalt ihrer eigenen Kinder aus unversteuertem Einkommen zu bestreiten? Sofern das Kindergeld darüber hinausgeht - so haben wir es gesetzlich festgelegt; so ist es im Einkommensteuergesetz geregelt -, dient es der zusätzlichen Förderung der Familie. Wir stehen zu diesem Weg und wollen ihn weiter ausbauen. Ich glaube, dies war die Schnittstelle dafür, dass für die Familien in unserem Lande viel mehr geschehen ist, als es vorher der Fall war. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Zu einer weiteren Kurzintervention erteile ich der Kollegin Fischbach das Wort. Frau Künast, Sie können dann bitte auf beide Kurzinterventionen zusammen eingehen.

Ingrid Fischbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003117, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Künast, ich habe eine kurze Zwischenfrage, die Sie schnell beantworten können. Da Sie mir während Ihrer Rede nicht die Möglichkeit gegeben haben, diese Frage zu stellen, mache ich es auf diesem Weg. Ihre Feststellung, dass die falschen Eltern das Betreuungsgeld - zu dem man stehen kann, wie man will - bekommen, war sehr interessant. Das drückt indirekt aus, dass die richtigen Eltern es durchaus bekommen sollten. ({0}) Unsere Fraktion und auch die Eltern vor den Fernsehgeräten haben ein Anrecht darauf, von Ihnen zu erfahren, wen Sie für die falschen Eltern halten. Dann wüssten wir auch, wer die richtigen sind. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Künast zur Erwiderung.

Renate Künast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003576, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich fange mit der zweiten Frage an. Es gibt in diesem Zusammenhang keine falschen oder richtigen Eltern; ({0}) vielmehr sind es die Falschen, die das Betreuungsgeld nutzen. Wie ist das zu begründen? Wir gehen davon aus, dass durch Bildung die Armut bekämpft werden kann und dass Bildung jedem Kind Chancen bietet, sich in seinem Leben weiterzuentwickeln und seine Potenziale zu entfalten. Ich bin davon überzeugt, dass die Falschen das Betreuungsgeld nutzen - das zeigt auch das Beispiel Thüringen -, weil gerade Eltern aus bildungsfernen und finanziell schwachen Schichten ihr Kind nicht im ersten, zweiten oder dritten Lebensjahr in den Kindergarten bringen, sondern das Betreuungsgeld lieber sparen wollen. ({1}) - Das glaube ich nicht nur, sondern das belegen auch die Zahlen aus Thüringen. Ich kann sie Ihnen gerne heraussuchen. ({2}) Es geht mir beim Betreuungsgeld nicht um die Frage, was wir den Eltern zukommen lassen. Für mich geht es vielmehr darum, dass die Kinder in diesem Land einen Anspruch haben, sich entwickeln zu können. Diese Entwicklung soll nicht daran scheitern, dass die Eltern an der Stelle Geld sparen wollen. Jedes Kind soll sich entwickeln können. Die Hälfte der Kinder kommen aus Migrantenfamilien; in manchen Stadtteilen Berlins zum Beispiel ist der Anteil noch höher. Viele von ihnen können zum Zeitpunkt ihrer Einschulung weder richtig Türkisch noch Deutsch. Es wäre eine bildungspolitische Katastrophe, wenn wir gerade diesen Eltern Geld dafür geben, dass sie ihren Kindern faktisch keine Chance bieten. Dafür sollten keine Steuergelder eingesetzt werden. ({3}) Jetzt komme ich zu Ihrer Kurzintervention, Herr Thiele. Ihre Variante der negativen Einkommensteuer würde nur Eltern betreffen, die auch Steuerzahler sind. ({4}) Den ärmeren Eltern würden Sie damit keine Hilfestellung geben. Ich muss leider auch daran erinnern, dass die FDP in der Vergangenheit die Erhöhung des Kindergeldes und der Regelsätze für die ärmsten Kinder abgelehnt hat. In Ihrem Redebeitrag gab es durchaus gute Ansätze. Es gibt auch hier und da Gemeinsamkeiten. Ich wünschte mir aber, dass Sie auch den Mut haben, festzustellen, dass das Ehegattensplitting abgeschmolzen werden muss. Denn es ist falsch, zum Beispiel die kinderlose Ehe weiter steuerlich zu privilegieren, statt das Geld gezielt zugunsten jedes einzelnen Kindes einzusetzen. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Sybille Laurischk von der FDP-Fraktion. ({0})

Sibylle Laurischk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003580, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist bemerkenswert, dass die Bundesfamilienministerin in einer solchen Debatte bereits den Saal verlassen hat, gerade weil sie offensichtlich sehr kontrovers verläuft. ({0}) Damit komme ich zu Ihnen, Frau Künast. Wenn Sie meinen, dass Migrantenkinder zu geringe Bildungschancen haben, dann frage ich mich, welche Maßnahmen während der rot-grünen Regierungszeit wirkungsvoll waren. ({1}) Ich glaube, dass die Defizite auch in dieser Zeit zu finden sind. Zum Beispiel sind auch der Spracherwerb und die Kenntnis der deutschen Sprache nicht ausreichend behandelt worden. Wir haben dieses Thema auf die Agenda gesetzt ({2}) und verlangen von Ihnen entsprechende Anstrengungen im Rahmen des Integrationsprozesses. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Laurischk, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Singhammer?

Sibylle Laurischk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003580, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich möchte in meiner Rede fortfahren. Herr Singhammer hatte schon Gelegenheit, seine Vorstellungen darzulegen. Die FDP hat auf ihrem Bundesparteitag am vergangenen Wochenende klare familienpolitische Beschlüsse getroffen. Wir wollen einen Freibetrag in Höhe von 8 000 Euro für jedes Familienmitglied und ein Kindergeld in Höhe von 200 Euro für jedes Kind. ({0}) Wir haben uns darüber hinaus mit familienpolitischen Fragen befasst, über die in der Bundesregierung noch immer kontrovers diskutiert wird. Die FDP lehnt ein Betreuungsgeld ab. Wenn man sich die Überschriften der Anträge anschaut, dann stellt man fest, dass es noch um einen anderen Aspekt des Familienrechts und der Familienpolitik geht, nämlich um den Unterhaltsvorschuss. Wir schreiben das Jahr eins nach der Unterhaltsrechtsreform. Diese Reform hat die FDP gefordert, um Kindern den Vorrang bei der Unterhaltsberechtigung zu geben, und zwar vor dem Unterhalt des betreuenden Elternteils, meistens der Mütter. Damit haben wir alle im Deutschen Bundestag ein sehr klares Signal gesetzt, dass Kinder in der Fürsorge ihrer Eltern - auch in der finanziellen - unbedingten Vorrang haben. Wer im Familienrecht tätig ist, weiß, dass die unsägliche Berechnung sogenannter Mangelfälle damit endlich ein Ende haben soll; denn sie dokumentieren nur, was den Kindern letztlich nichts nutzt, nämlich die Verteilung des Mangels. Immer dort, wo die Einkommenssituation der Eltern nicht ausreicht, soll zumindest die Sicherung der Existenz der Kinder Vorrang haben. Wir haben uns zudem dafür ausgesprochen, dass die Unterhaltsberechtigung der Erwachsenen, also der Eltern, hier zurückstehen muss. Damit wollen wir die Bereitschaft der Unterhaltsverpflichteten, meistens der Väter, fördern, den Kindesunterhalt tatsächlich zu zahlen. ({1}) Dies ist nach wie vor ein großes Problem. In vielen Fällen ist der Unterhalt zwar durch ein Urteil festgestellt, wird aber nicht gezahlt. Neben der Zwangsvollstreckung gibt es verschiedene Lösungsmöglichkeiten. Eine ist der breiten Öffentlichkeit so gut wie nicht bekannt, obwohl sie recht gravierend ist. Das Nichtzahlen des Kindesunterhalts und das Belassen der Kinder in Armut durch die Eltern sind ein Straftatbestand nach § 170 StGB. Im Rahmen einer Kleinen Anfrage hat sich die FDP-Bundestagsfraktion mit der Auswirkung dieser Vorschrift auseinandergesetzt. Wir mussten feststellen, dass im Jahr circa 20 000 Fälle angezeigt und ermittelt werden, dass allerdings nur in 5 000 Fällen ein Urteil ergeht. Meistens wird dann gezahlt. Die Strafanzeige kann also ein wirkungsvolles Instrument sein. Das ist aber familienpolitisch sicherlich unbefriedigend. Deswegen gibt es noch eine andere Problemlösungsmöglichkeit, nämlich das Unterhaltsvorschussrecht. Jährlich haben rund 500 000 Kinder in der ganzen Bundesrepublik Anspruch auf Unterhaltsvorschussleistungen. Diese Möglichkeit der staatlichen Hilfe im Fall des Nichtzahlens des Kindesunterhalts wird also breit in Anspruch genommen. Es handelt sich um eine Überbrückung, um gerade bei durch Trennung der Eltern eintretender Unterhaltsbedürftigkeit einen Puffer zu haben. So war das Gesetz mit einer Anspruchsberechtigung von maximal 36 Monaten ursprünglich konzipiert. Mittlerweile ist die Anspruchsdauer auf 72 Monate angehoben worden. Völlig unverständlich ist aber die Tatsache, dass dieser Anspruch nur für Kinder bis zwölf Jahren und nicht bis zum 18. Lebensjahr gilt. Das Familienkompetenzzentrum attestiert - wir sind auf die Lösungen gespannt älteren Kindern und Jugendlichen alleinerziehender Eltern ein höheres Armutsrisiko als jüngeren Kindern. Kinder und Jugendliche im Alter zwischen 15 und 18 Jahren stellen fast 30 Prozent der von Armut betroffenen Kinder. Das Familienkompetenzzentrum liefert die Begründung gleich mit: Es liege unter anderem daran, dass der Unterhaltsvorschuss nur bis zur Vollendung des zwölften Lebensjahrs geleistet wird, ohne dass im Anschluss eine vergleichbare Leistung verfügbar sei. Hier ist dringend Abhilfe zu schaffen. ({2}) Wir verlangen, dass die Leistungsberechtigung auch auf Kinder bis zum 18. Lebensjahr ausgedehnt wird. Wer Bedenken wegen der Finanzierung hat, kann unseren Vorschlag aufgreifen, die ursprüngliche Berechtigungsdauer von 36 Monaten wieder einzuführen, sodass ein haushaltstechnisches Problem gelöst wäre. Die Hilfestellung würde dann alle unterhaltsbedürftigen Kinder erreichen, zumindest für die Übergangszeit, also bis ihr Unterhaltsanspruch geklärt ist. Insgesamt brauchen wir ein Umdenken in dieser Gesellschaft dahin gehend, dass das Leisten von Kindesunterhalt so selbstverständlich ist wie das Versorgen von Kindern. ({3}) Es geht nicht an, dass es von Fall zu Fall geradezu mit einem Achselzucken kommentiert wird, wenn Väter - diese sind es in der Mehrzahl der Fälle - ihr Nichtzahlen von Unterhalt damit kommentieren, dass die Mutter gar keinen Pfennig mehr bekommen soll. Es geht uns um die Kinder. Erst wenn wir dies in den anstehenden Reformen umsetzen, können wir eine Stimmung in Deutschland wecken, die es möglich macht, Kinder als den eigentlichen Reichtum unserer Gesellschaft zu begreifen, die vor Armut geschützt werden müssen. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Zu einer Kurzintervention erteile ich zunächst dem Kollegen Johannes Singhammer und anschließend dem Kollegen Beck das Wort.

Johannes Singhammer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002800, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Laurischk, Sie haben den Eindruck zu erwecken versucht, als sei die Ministerin aus Interesselosigkeit nicht mehr hier im Plenum des Deutschen Bundestags anwesend. Ich möchte diese völlig falsche Unterstellung zurückweisen. Die Ministerin ist derzeit bei der Festveranstaltung „Generationsübergreifende Freiwilligendienste“. Das war bekannt, und das wussten alle anderen. ({0}) Deshalb empfinde ich es nicht nur als unsachlich, sondern auch als falsch, wenn Sie mit dieser Art von Unterstellung arbeiten. Im Übrigen ist die Bundesregierung durch den Staatssekretär bestens vertreten. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Jetzt hat zu einer Kurzintervention der Kollege Volker Beck das Wort.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sie wussten nicht, was wir unter Rot-Grün für Migrantenkinder gemacht haben. Dazu kann ich Ihnen sagen: Wir haben im Zuwanderungsgesetz unter Rot-Grün erstmals die Integration überhaupt bundesrechtlich geregelt. Hätten Sie das in den 16 Jahren vorher während der Kohl/Genscher-Ära gemacht, hätten wir viele Probleme heute nicht zu lösen, die wir dadurch, dass die Integrationspolitik während Ihrer Regierungsära verschlafen wurde, auf dem Tisch haben. ({0}) Aber das war nicht das Einzige, was wir gemacht haben: Wir haben das Ganztagsschulprogramm aufgelegt. Das hilft gerade Kindern aus Migrantenfamilien, um soziale Benachteiligungen auszugleichen. Wir haben das U-3-Programm gemacht, und wir haben ein Programm - das kennen Sie vielleicht nicht, weil Sie damals im Rechtsausschuss gewesen sind - „Entwicklung und Chancen“ aufgelegt, das besonders Jugendhilfeprojekte für Migranten fördert. Das zeigt, dass wir eine ganze Menge gemacht haben. Das alles reicht nicht aus, und darauf kann man sich nicht ausruhen, aber dass Sie diesen ganzen Politikbereich offensichtlich vier Jahre im Parlament verschlafen haben, zeigt, wie wichtig Ihnen die Integrationspolitik für Migrantenkinder ist. Das sieht man Ihren steuerpolitischen Vorschlägen ja auch an. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Zur Erwiderung Frau Laurischk.

Sibylle Laurischk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003580, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Beck, für mich war im Zuge der integrationspolitischen Debatte besonders eindrucksvoll, dass ich zu dem Thema „Deutsch auf den Schulhöfen Berlins“ von grünen Abgeordneten die Mitteilung bekam, das sei eine Zumutung. Mittlerweile hat sich glücklicherweise die Einsicht breit gemacht, dass Deutsch als Verständigungsmöglichkeit in Schulen selbstverständlich ist. ({0}) Ich glaube, dass die Grünen damals zu Beginn dieser Debatte noch gar nicht begriffen haben, welche bildungspolitische Bedeutung der Erwerb der deutschen Sprache hat. ({1}) Im Übrigen möchte ich Herrn Singhammer antworten: Ich habe die Mitteilung bekommen, dass sich die Ministerin nicht die ganze Debatte hier aufhalten wird, aber noch zu Beginn meiner Rede da sein wird. Sie war es nicht. Ich stelle fest, dass jetzt auch schon Frau Künast gegangen ist. So viel zur Aufmerksamkeit hinsichtlich der Debatte zur Familienpolitik, die wir angeregt haben. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Dieter Steinecke von der SPD-Fraktion. ({0})

Dieter Steinecke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003885, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Gäste! Kinder sollen mutig, neugierig und fröhlich ins Leben gehen. Arme Kinder können das nicht. Kinderarmut bedeutet gesellschaftliche Ausgrenzung. Es ist eine Grundaufgabe der Gesellschaft, allen unseren Kindern ein anständiges Leben zu ermöglichen und ihnen Perspektiven für ihre Zukunft zu eröffnen. Wir Politiker müssen dafür sorgen, dass die Rahmenbedingungen stimmen. Wir Sozialdemokraten sind überzeugt, dass dies in einer insgesamt wohlhabenden Gesellschaft weiß Gott nicht zu viel verlangt ist. ({0}) Eines muss uns allen klar sein: Wer glaubt, dass sich Armut von Kindern allein durch direkte Transferleistungen wirksam bekämpfen lässt, der springt zu kurz. ({1}) Sicherlich muss den Kindern und Jugendlichen, die von Armut jetzt unmittelbar betroffen sind, geholfen werden - das ist überhaupt keine Frage -; ({2}) doch struktureller Armut kann man nur mit strukturellen Maßnahmen begegnen. Es ist schon vielfach gesagt worden: Es gibt verschiedene Gründe für Armut und Ausgrenzung. Deshalb muss an verschiedenen Stellen angesetzt werden, um die Ursachen zu bekämpfen. Drei dieser Stellen ragen heraus - in dieser Reihenfolge -: Erstens: Bildung. Zweitens: Ausbildung. Drittens: Sozialtransfers. Arbeit zu haben, ist - das klingt banal - die beste Hilfe zur Selbsthilfe. Darum geht es im Wesentlichen bei der Bekämpfung der Armut. Am Arbeitsmarkt geht es momentan bergauf. Es gilt eben, diese Erfolge zu verstetigen und strukturell zu sichern. Doch Arbeit schützt nicht immer vor Armut. In unserem Land gibt es etliche Menschen, die arbeiten gehen, und zwar Vollzeit, und davon doch nicht anständig leben können. Das wird von manchen Parteien sehenden Auges hingenommen. Umso energischer müssen wir unsere Forderung vertreten: gutes Geld für gute Arbeit; gesetzlicher Mindestlohn in allen Branchen. ({3}) Auch auf einem sich bessernden Arbeitsmarkt haben nur Menschen Chancen, die über eine anständige Bildung und Ausbildung verfügen. Durch einen ungerechten Zugang zur Bildung verfestigt sich Armut, und das darf nicht sein. Was die Bildung anbelangt, stehen vor allem auch die Länder in der Pflicht. Man mag es begrüßen oder auch bedauern: Bildung ist Ländersache. Doch obwohl wir es nicht müssten, eigentlich nicht einmal dürften, haben wir beträchtliche Bundesmittel in die Hand genommen, um Bildung und Ausbildung in diesem Land auszubauen. Weil Bildung nicht erst am Tag der Einschulung beginnt, haben wir eine Offensive für frühkindliche Betreuungs- und Lernangebote gestartet. Erst vor kurzem wurde ein umfangreiches Sondervermögen zum Ausbau der Tagesbetreuung für unter Dreijährige errichtet. Ohne dies wären die Bundesländer sicherlich nicht in dem Maße tätig geworden, ohne dies blieben die Ausbauziele vielfach reine Utopie. Dem essenziell wichtigen Bereich der frühkindlichen Bildung droht meiner Meinung nach übrigens eine Katastrophe: Einige Landesregierungen und einige Köpfe in diesem Hause plädieren für ein sogenanntes Betreuungsgeld; darüber ist schon vielfach gesprochen worden. Dies hätte eine verheerende Konsequenz. Gerade jene Kinder, die wir erreichen wollen und müssen, würden aus einer entscheidenden Entwicklungs- und Lernerfahrung gewissermaßen herausgekauft. ({4}) Ein Blick nach Thüringen sollte reichen, um solche Pläne schnell und nachhaltig zu verwerfen. ({5}) Auch das schulische Angebot kann verbessert werden. Wie Frau Ministerin von der Leyen bin ich ein großer Anhänger der echten Ganztagsschule, flächendeckend, sofort. Ich bin froh, dass ich die Ministerin an meiner Seite habe. Auch hier hat der Bund den Ländern mit einem milliardenschweren Programm auf die Sprünge geholfen - oder dies zumindest versucht. ({6}) - Darüber können wir nachher gern diskutieren. Ich will keine Ganztagsschule light, sondern eine echte, Herr Goldmann. ({7}) Von einem pädagogisch sinnvollen Ganztagsschulkonzept sind die meisten Länder weit entfernt. Das ist schade für unsere Kinder, weil in den Ländern vielfach nur in Beton investiert worden ist und nicht in eine vernünftige Ausstattung, beispielsweise mit Lehrerstunden. Auch sonst ist die autonome Bildungspolitik der Länder oft alles andere als glanzvoll. Die Bandbreite der weiteren Sünden reicht von Abschaffung der Lernmittelfreiheit bis hin zur Einführung von Studiengebühren für das Erststudium. Auch dies sind Maßnahmen, die gerade diejenigen treffen, über deren Belange wir heute sprechen. Es sind Maßnahmen, die die Bildungsschere weiter und weiter öffnen und strukturelle Armut verfestigen. Auch wer sich um die berechtigten Anliegen und Bedürfnisse Benachteiligter einen Dreck schert - entschuldigen Sie diesen harten Ausdruck -, kann diese Entwicklung nicht wollen: Unzureichende Bildung und Ausbildung bedeuten nicht nur Chancenungerechtigkeit; sie sind auch volkswirtschaftlicher Wahnsinn. Zum einen können wir es uns als Wissensgesellschaft nicht leisten, Potenziale brachliegen zu lassen, und zum anderen kosten uns Transferleistungen und Flickschusterei an Folgeschäden ein Vielfaches von dem, was wir investieren müssten, um ein leistungsfähiges und gerechtes Bildungssystem für alle Kinder und Jugendlichen in unserem Land zu schaffen. Zur Leistungsfähigkeit Folgendes: Die wirklich allergeringste Anforderung an Schule muss sein: Wer in die Schule geht, kann Deutsch; wer rauskommt, hat einen Abschluss. ({8}) Das ist die Minimalanforderung. Wenn wir das erreichen würden, hätten wir schon eine ganze Menge geschafft. Wie dem auch sei: Alle Anstrengungen zum Ausbau und zur Verbesserung von Betreuung, Bildung und Ausbildung, wie gut sie auch sein mögen, tragen erst in ferner Zukunft Früchte. Die Erfolge unseres bisherigen Regierungshandelns, von denen ich überzeugt bin, werden erst in Jahren zu sehen sein. Bis dahin - ich sagte dies müssen wir mit Sozialtransfers, über deren Form und Höhe man sicherlich diskutieren muss, die Not lindern und den betroffenen Menschen jetzt helfen. Und es ist ja beileibe nicht so, dass wir in dieser Hinsicht bislang untätig waren. Meine Vorredner haben dies ja allzu deutlich gemacht: Unser Sozialstaat trägt wesentlich dazu bei, dass Armut vermindert wird. Wir Sozialdemokraten werden unseren Weg weiter beschreiten - unseren Weg zu mehr Beschäftigung, zu fairen Bildungschancen und zu sozialem Ausgleich. Schönen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Jörn Wunderlich von der Fraktion Die Linke. ({0})

Jörn Wunderlich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003867, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde das toll: Alle reden von Kinderarmut und darüber, wie sie bekämpft werden kann/sollte/ müsste und was man früher alles gemacht hat; aber wenn es um etwas Konkretes geht, dann kneifen alle. Anders kann ich mir nicht erklären, dass über den Gesetzentwurf der Linken, der auch auf der Tagesordnung steht, nämlich zur Änderung des Unterhaltsvorschussgesetzes, bislang so gut wie kein Wort verloren worden ist; bei der FDP war das nur ansatzweise der Fall. ({0}) Unterhaltsvorschuss bekommt ein Kind, wenn es bei einem Elternteil lebt und der andere Elternteil keinen Unterhalt zahlt. Ich will Ihnen einmal einen Fall aus dem Leben schildern, der die Linke zur Vorlage dieses Gesetzentwurfs bewegt hat: Ein Kind lebt bei seiner Mutter; der Vater zahlt keinen Unterhalt; das Jugendamt leistet Unterhaltsvorschuss. Die Mutter hat einen Verkehrsunfall und stirbt; denkbar wäre auch: Sie wird psychisch krank, hat eine Depression und wird in eine Einrichtung eingewiesen. Zum Vater kann das Kind nicht. Das Kind soll ins Heim kommen, wird aber von der Großmutter aufgenommen: Es ist ja schließlich ihr Enkelkind. Und wozu ist Familie da? - Was macht das Jugendamt daraufhin? Es stellt die Zahlung des Unterhaltsvorschusses ein. Ich weiß - wir haben es im Ausschuss erörtert -, so ein Fall ist für die CDU nicht vorstellbar. ({1}) Frau Möllring kennt aus Ihrer Erfahrung nicht einmal einen Fall, bei dem ein Kind nicht bei einem Elternteil lebt. Dieses Kind lebt nicht mehr bei einem Elternteil, sondern bei einem Großelternteil. Deshalb gibt es per Gesetz, so wie es gegenwärtig ist, kein Geld mehr. Gerade das soll mit unserem Gesetzentwurf geändert werden. ({2}) - Nein, Marlene, heute nicht. Was kann die Großmutter sonst machen? Für die Doppelbelastung anderer Personen als des Elternteils stehen die allgemeinen Jugendhilfeleistungen zur Verfügung. Diese Argumentation - das ist auch die Argumentation des Ministeriums - trägt aber nur teilweise.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Wunderlich, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Rupprecht?

Jörn Wunderlich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003867, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Das besprechen wir im Ausschuss.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Wollen Sie die Zwischenfrage jetzt zulassen oder nicht?

Jörn Wunderlich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003867, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Nein. - Pflegeltern beispielsweise erhalten nach § 39 SGB VIII sogenanntes Pflegegeld, sodass kein Bedarf hinsichtlich eines Unterhaltsvorschusses entstehen kann. ({0}) - Zu Ihnen, Herr Singhammer, komme ich noch. - Zu diesem Personenkreis gehört die Großmutter aber in aller Regel nicht, weil sie ihr Enkelkind aus innerfamiliärer Hilfsbereitschaft - es ist ja schließlich ihr Enkelkind aufnimmt. ({1}) Ich weiß, solche innerfamiliäre Hilfsbereitschaft geht der SPD ab. Sie ist der Meinung, § 39 SGB VIII greife immer. Aber selbst wenn dieser Paragraf greift, kann das Pflegegeld aufgrund bestehender Unterhaltsverpflichtungen seitens der Großmutter nach § 1601 BGB - da steht: „Verwandte in gerader Linie sind verpflichtet, einander Unterhalt zu gewähren“ - angemessen gekürzt werden. In jedem Fall bleibt die Tatsache, dass das Kind seinen Anspruch auf Gewährung von Unterhaltsvorschuss verliert, wenn ein Großelternteil an die Stelle der Mutter tritt. Insoweit stellt sich schon die Frage, ob die alleinstehende Großmutter der belastenden Situation ausgesetzt werden soll, die das Unterhaltsvorschussgesetz eben vermeiden will. ({2}) Nun kann bei Bedürftigkeit Sozialhilfe in Anspruch genommen werden. Anspruchsinhaber auf den Unterhaltsvorschuss ist aber das Kind. Insoweit ist eine Bedürftigkeit der Großmutter nicht von Bedeutung. ({3}) Da sich weder der juristischen Literatur noch der Rechtsprechung Argumente entnehmen lassen, die einer Ausweitung des Berechtigtenkreises des § 1 Abs. 1 Unterhaltsvorschussgesetz entgegenstehen, sollte die Koalition ihre Meinung zu den Voraussetzungen, um zum Berechtigtenkreis nach § 1 Abs. 1 Unterhaltsvorschussgesetz zu gehören, in diesem begrenzten Sinne, wie es der Gesetzentwurf, vorsieht, einmal überdenken. ({4}) Die Linke will den in solchen Fällen betroffenen Kindern helfen. Helfen Sie mit! Da spreche ich jetzt insbesondere die SPD an. ({5}) Stimmen Sie dem Gesetz zu und lassen Sie diese Hilfe nicht wieder an der Kinderfeindlichkeit der Großen Koalition und Ihrer Hörigkeit in dieser Koalition scheitern! Hören Sie doch endlich einmal auf, der CDU/CSU immer hinterherzuhecheln! ({6}) Nun noch ganz kurz zum Antrag der FDP, die Altersgrenzen anzuheben. Das wird ja von der Linken schon seit eh und je gefordert. Insoweit ist das gut. ({7}) - Tun Sie nicht so erstaunt. Wir haben das schon oft im Ausschuss gefordert. Es gab dazu sogar einen Antrag von uns, der abgelehnt worden ist. Frau Laurischk, wo waren Sie bei diesen Ausschusssitzungen? ({8}) Die entsprechenden Anträge sind also bisher immer abgelehnt worden. Die FDP versucht jetzt das Gleiche noch einmal, aber gleichzeitig unter Kürzung der Bezugsdauer. Dazu kann ich nur sagen: Nicht mit uns! ({9}) Wenn bei Ihnen schon im Feststellungsteil der Kinderzuschlag erwähnt und bemängelt wird, frage ich mich, warum im Forderungskatalog keine entsprechenden Forderungen auftauchen. Ich kann dazu nur wieder feststellen: Auch hier hat die FDP wieder einmal kein eigenes Konzept. Eigentlich schade; denn es geht ja um die Kinder. Nun zu Ihren Ausführungen, Herr Singhammer, zum Erziehungsgehalt: Kommen Sie einmal in der Realität an! ({10}) Es gibt einen Bundesparteitagsbeschluss der Linken vom 25. Mai, der ein solches Erziehungsgehalt eindeutig ablehnt, ({11}) auch wenn das Ihren Wünschen und Vorstellungen - es ist ja eine alte Zielvorstellung der CSU: Frauen an den Herd und sie dafür ordentlich bezahlen - nicht entspricht. ({12}) Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({13})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort der Kollegin Marlene Rupprecht.

Marlene Rupprecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003000, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich hätte dieses Problem eigentlich gerne durch eine Zwischenfrage gelöst. Herr Kollege Wunderlich, wir arbeiten sonst eigentlich sehr kollegial zusammen, wenn es um Kinder geht. Man sollte aber zumindest die Rechtslage kennen. Ich lese Ihnen einmal § 27 Abs. 2 a des SGB VIII - Kinder- und Jugendhilfe - vor: Ist eine Erziehung des Kindes oder Jugendlichen außerhalb des Elternhauses erforderlich, so entfällt der Anspruch auf Hilfe zur Erziehung nicht dadurch, dass eine andere unterhaltspflichtige Person - unterhaltspflichtige Personen gibt es nur in direkter Linie, also Eltern und Großeltern, mehr nicht bereit ist, diese Aufgabe zu übernehmen; die Gewährung von Hilfe zur Erziehung setzt in diesem Fall voraus, dass diese Person bereit und geeignet ist, den Hilfebedarf in Zusammenarbeit mit dem Marlene Rupprecht ({0}) Träger der öffentlichen Jugendhilfe nach Maßgabe der §§ 36 und 37 zu decken. Weitere Paragrafen, die hier zutreffen, sind die §§ 33, 36 und 39. Unterhaltspflichtige, die für ein Kind aufkommen müssten, werden also vom Jugendamt gefordert, wobei das Jugendamt die Fremdunterbringung bezahlen muss. Wenn hier irgendjemand etwas anderes sagt, dann ist klar, dass er die entsprechenden Gesetze zur Jugendhilfe und das Unterhaltsvorschussgesetz nicht kennt. ({1}) Der Unterhaltsvorschuss ist keine Ersatzleistung bei außerhäusiger Unterbringung. Für den Fall, dass ein Kind außerhäusig bei Großeltern untergebracht wird, haben wir mit der letzten Reform der Jugendhilfe im § 27 SGB VIII den Abs. 2 a eingeführt, um damit die Verwandtenpflege abzusichern, also um dafür zu sorgen, dass Großeltern, die dazu bereit sind, nicht bestraft werden. Dabei kann dann die Unterhaltspflicht der Großeltern anteilig mitberücksichtigt werden, aber mehr nicht. Das Kind bekommt einen nach dem Alter abgestuften Barbetrag darüber hinaus. Ich bitte, dies einmal zur Kenntnis zu nehmen. ({2}) Es ist schon wichtig, dass man Gesetze liest, bevor man im Bundestag entsprechende Anträge stellt. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Wunderlich zur Erwiderung.

Jörn Wunderlich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003867, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Kollegin Rupprecht, der Anspruch auf Unterhaltsvorschuss entfällt in dem Falle; es ist halt so. Die übrigen Leistungen werden ersetzt. Am Ende ist von Ihnen in einem konzilianten Nebensatz erwähnt worden, dass die Unterhaltsverpflichtungen der Großeltern bestehen und dass sie angerechnet werden können. Sie werden auch angerechnet. So sind die Fälle in der Praxis, und gerade um diese Fälle geht es in unserem Gesetzentwurf. Es soll ein minimaler Punkt angepasst werden, um diese kleine Regelungslücke zu schließen. Trotzdem sträuben Sie sich ohne Ende. Jedes Mal, wenn es eine konkrete Problemlösung gibt - es handelt sich um Fälle aus der Praxis -, dann zieht diese Koalition nicht mit. Große Worte, keine Taten, das kennzeichnet die Kinderund Familienpolitik dieser Regierung im Hinblick auf Kinderarmut. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Rupprecht, Sie können darauf nicht erwidern. Andere Redner Ihrer Fraktion können darauf noch eingehen. Das Wort hat jetzt die Kollegin Elisabeth Winkelmeier-Becker von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Elisabeth Winkelmeier-Becker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003865, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Überschriften der Anträge von Grünen und FDP lassen eigentlich einiges erhoffen. Aber leider kommt beim Weiterlesen schnell die Ernüchterung. Von einem Gesamtkonzept zur Vermeidung von Kinderarmut kann hier nicht die Rede sein. Im Antrag der Grünen steht unter Punkt 2 - von der Linken wurde es gerade wiederholt -: Das Ausmaß der Kinderarmut wächst und die Regierung schaut untätig zu. Da kann ich nur sagen: Sie haben einige Dinge einfach nicht mitbekommen. Werfen Sie doch einmal einen Blick in den neuen Armuts- und Reichtumsbericht von Minister Scholz. Er zeichnet das Bild der Armut anhand der Daten von 2004 und 2005. ({0}) Das ist der Zeitraum nach sieben Jahren grüner Regierungsmitverantwortung. ({1}) Ich finde es aber für diese Debatte nicht erhellend, wenn wir uns mit gegenseitigen Schuldzuweisungen beglücken. Ich finde es auch nicht gut, wenn mit dem Gestus der Empörung die Folgen von privaten Entscheidungen komplett der Regierung vor die Hütte gekippt werden. ({2}) Wenn es beispielsweise auf privaten Entscheidungen beruht, dass die Familien der türkischen Community eine höhere Geburtenrate haben, ({3}) dann bedeutet das zwar, dass wir uns besonders darum kümmern müssen, aber die Folgen sind der Regierung nicht von vornherein anzulasten. Deshalb finde ich es falsch, wenn dieses Thema mit dem Gestus großer Aufregung vorgetragen wird. ({4}) - Nein, das ist nicht die Konsequenz. Es hat vor allem nicht die Konsequenz - das dürfen Sie nicht falsch verstehen -, dass wir uns diesem Problem nicht widmen wollen. Aber dass bestimmte private Entscheidungen zu bestimmten Problemen führen, darf nicht von vornherein der Politik angelastet werden. ({5}) Seit 2005 haben sich die maßgeblichen Parameter für die Erwerbstätigkeit von Eltern durchweg verbessert. Wir haben die Vereinbarkeit von Familie und Beruf verbessert, ({6}) das Elterngeld eingeführt, die Absetzbarkeit von Kinderbetreuungskosten verbessert sowie den massiven Ausbau der Kinderbetreuung beschlossen und finanziert. Wir stellen endlich auch die richtigen Weichen bei der Fortentwicklung des Kinderzuschlags, vor allem mit einer geringeren Transferentzugsrate, was dazu führt, dass von zusätzlichem Einkommen auch tatsächlich mehr übrig bleibt. Wir kümmern uns verstärkt um den Wiedereinstieg von Frauen in den Arbeitsmarkt. Dank der guten Konjunktur - das zeigen die Zahlen - gibt es eine höhere Chance, dass mehr Menschen eine bezahlte Arbeit finden. Das ist das Maßnahmenpaket, mit dem wir Eltern zu mehr Einkommen verhelfen und damit Kinder aus der Kinderarmut herausholen können. ({7}) Ihnen fällt dazu nur ein, noch mehr Ausbau der Kinderbetreuung und mehr Rechtsansprüche zu fordern. Finanziert werden soll das durch Einsparungen beim Ehegattensplitting in Höhe von 5 Milliarden Euro. Sie möchten also Familien mit Kindern, die nachweislich am meisten vom Ehegattensplitting profitieren, das Geld wegnehmen, ({8}) und zwar unter der Überschrift: Vermeidung von Kinderarmut. ({9}) Das ist doch nicht logisch. ({10}) Als zweiten Punkt wollen Sie den Regelsatz für Erwachsene auf 420 Euro erhöhen. Gleichzeitig sollen diese Familien aber kein Betreuungsgeld erhalten; denn das würde den Anreiz setzen, Mütter vom Arbeitsmarkt fernzuhalten. So ist Ihre Argumentation, die gerade noch einmal vorgetragen wurde. Aber in der Argumentation ist doch ein klarer Bruch. Wenn Sie in Bezug auf das Betreuungsgeld kritisieren, dass es gerade für die Falschen lukrativ sei und den Anreiz zur Arbeit abschwäche - auch beim Ehegattensplitting wird häufig so argumentiert -, ({11}) dann erzielen Sie doch genau den gleichen Effekt, wenn die Transferleistungen erhöht werden, die es ohne eigene Erwerbstätigkeit und Anstrengung gibt. Wenn wir diese baren Transferleistungen einfach nur deutlich erhöhen, dann schwächt das die eigene Initiative, finanziell wieder selbstständig zu werden.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kurth von den Grünen?

Elisabeth Winkelmeier-Becker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003865, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, bitte.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön.

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank. - Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass die Erhöhung des Regelsatzes dazu dient, das Existenzminimum zu sichern, und wie bewerten Sie den einstimmig gefassten Beschluss des Bundesrates vom 23. Mai 2008, in dem die Bundesländer feststellen: Der Bundesrat fordert die Bundesregierung auf, die Regelleistung für Kinder nach dem SGB II sowie die Regelsätze nach dem SGB XII unverzüglich neu zu bemessen und als Grundlage dafür eine spezielle Erfassung des Kinderbedarfes vorzusehen. Dabei ist auch sicherzustellen, dass die besonderen Bedarfe der Kinder im Hinblick auf die Mittagsverpflegung in Ganztagsschulen oder Schulen mit einem Bildungs- und Betreuungsangebot am Nachmittag … sowie bei der Beschaffung von besonderen Lernmitteln für Schülerinnen und Schüler … abgedeckt werden. Die Verhandlungsführung hatte - Sie kommen ja aus Nordrhein-Westfalen - Herr Laumann.

Elisabeth Winkelmeier-Becker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003865, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Hätten Sie mich in meiner Rede fortfahren lassen, wäre ich genau darauf zu sprechen gekommen, dass dies alles für die Kinder durchaus anders bewertet werden kann. Der Punkt, den ich gerade ausgeführt hatte, betraf zunächst den für die Erwachsenen vorgesehenen Regelsatz. Wenn sich aus dem Existenzminimumbericht, dessen Vorlage wir im Herbst erwarten, Handlungsbedarf ergibt, dann haben wir eine andere Faktenlage und dann wird daraus eine Konsequenz zu ziehen sein. Lassen Sie mich am besten einfach in meiner Rede fortfahren und damit auf die Regelsätze für Kinder zu sprechen kommen! ({0}) Ich stimme Ihnen nämlich ausdrücklich darin zu, dass wir darüber nachdenken müssen, ob die sehr schematische Bedarfsberechnung mit 60 Prozent und 80 Prozent richtig ist. Denn als Mutter weiß ich, wie viel Kinder verputzen können und was das bei den ansteigenden Preisen bedeutet. Weitergehende Barhilfen halte ich aber für kontraproduktiv; denn sie würden genau das subventionieren, was politisch nicht gewollt ist: das dauerhafte Verharren in der Arbeitslosigkeit und das Vererben von Armut. Da wären Sachleistungen und Gutscheine im Prinzip die bessere Alternative. Ich könnte mir da übrigens auch einen Anwendungsfall für das Betreuungsgeld vorstellen, der Ihre Bedenken aufgreifen könnte. Darüber hinaus kostet das alles aber Geld, und zwar für Aufgaben, für die primär die Länder zuständig sind. Auf Bundesebene gibt es im Moment wenig Spielraum. Der Charme dieses Instruments wird aber auch in den Reihen der Union gesehen. Noch einen Bruch in Ihrer Argumentation muss ich aufgreifen. - Ich sehe gerade, dass es hier blinkt.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich blinke, weil die Redezeit zu Ende ist.

Elisabeth Winkelmeier-Becker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003865, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

In Deutschland sprechen wir allgemein bei einem Einkommen von unter 50 Prozent des Medianeinkommens von Armut. Sie aber beschreiben Kinderarmut anhand der Zahlen von Leistungsbeziehern. Das impliziert, dass das Beziehen von Leistungen mit Armut gleichzusetzen ist. Aber umgekehrt wird doch ein Schuh daraus: Der Sozialstaat funktioniert. Gerade mit diesen Leistungen holen wir die Leute aus der Armut heraus. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Jetzt müssen Sie aber zum Schluss kommen.

Elisabeth Winkelmeier-Becker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003865, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Schade. So kann ich auf die positiven Vorschläge der FDP zum UVG leider nicht mehr eingehen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Ekin Deligöz vom Bündnis 90/Die Grünen.

Ekin Deligöz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003068, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Winkelmeier-Becker, ich will direkt mit Ihrer Kritik anfangen. Das Problem der jetzigen Koalition ist, dass Sie im Moment Kinderarmut gar nicht vernünftig konzeptionell angehen. ({0}) Ihnen liegen ein Bericht von Herrn Scholz und ein Bericht von Frau von der Leyen vor. Frau von der Leyen bezweifelt die Zahlen von Herrn Scholz, Herr Scholz die von Frau von der Leyen, und Herr Glos bezweifelt einfach alle Zahlen. Sie führen eine reine Zahlendebatte. Das hat aber überhaupt nichts damit zu tun, wie man Kinderarmut konkret bekämpft. ({1}) Anstatt diese Zahlendebatte zu führen, sollten Sie sich mit den Instrumenten beschäftigen. Das müssen Sie sich vorwerfen lassen. ({2}) Wir brauchen ein Gesamtkonzept. Dieses Gesamtkonzept wird von zwei Säulen getragen. Das eine ist die Kinderbetreuung zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie und damit zum Schutz gegen Kinderarmut. Das andere sind die materiellen Leistungen. Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist wichtig. Ja, Herr Singhammer, auch wir sind für Wahlfreiheit. Aber Kinderbetreuung dient nicht nur der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Kinderbetreuung ist auch die frühe Förderung von Kindern, sei es in der Sprache, sei es in weiteren Kernkompetenzen. Vor allem für benachteiligte Kinder ist frühe Förderung wichtig. Wenn das Geld zu Hause knapp ist und die Eltern dann vor der Entscheidung stehen, dann entscheiden sie sich lieber für das Geld als für die frühe Förderung ihres Kindes. ({3}) Das ist das Manko Ihres Betreuungsgelds. Sie können das noch so sehr verneinen: Die Einführung des Betreuungsgelds wird dazu führen, dass Kinder eben nicht früh gefördert werden, weil ihnen diese Förderungsinstrumente vorenthalten werden. Das ist nichts anderes als eine reine Ideologiepolitik, die Sie hier durchzusetzen versuchen. ({4}) Kommen wir zu dem anderen Instrument, das Sie vorschlagen, dem Kinderzuschlag. Wir hatten dazu im Ausschuss eine Anhörung. Wissen Sie, was ich von dieser Anhörung mitgenommen habe? Dass der Kinderzuschlag nichts anderes als eine Mogelpackung ist. ({5}) Er ist Symbolpolitik, weil Sie nicht dazu bereit sind, ausreichend Geld in die Hand zu nehmen, um in diesem Land wirklich etwas zu verändern. In diesem Fall sollten Sie es lieber ganz lassen. Machen Sie keine Versprechungen, die Sie mit Ihren Taten nicht einhalten können. ({6}) Ich komme nun zu dem, was Sie gesagt haben, Herr Wunderlich. Sie tun so, als ob Sie mit einer minimalen Änderung im Unterhaltsvorschussgesetz Armut in Deutschland bekämpfen könnten. Der Bezug des Unterhaltsvorschusses ist in Deutschland auf sechs Jahre begrenzt. Unser Problem ist aber nicht das Unterhaltsvorschussgesetz. Unser Problem ist, dass zwei Drittel derjenigen, die unterhaltspflichtig sind, unterhaltssäumig sind und das Geld erst gar nicht zahlen. Da müssen wir sehen, wie wir die Menschen dazu bringen, den Unterhalt zu finanzieren und zu bezahlen. ({7}) Die komischen Vorschläge, die Sie machen, gehen komplett an der Realität vorbei. ({8}) Mit dem Instrument des Unterhaltsvorschusses können Sie die Armut nicht bekämpfen; das wissen Sie. Dieser Vorschlag macht sich vielleicht in Ihren Wahlkreisbüros gut, um sich in ein positives Licht zu rücken, aber mit Armutsbekämpfung hat er rein gar nichts zu tun. ({9}) Ich komme zum Vorschlag der FDP. Sie schlagen vor, die Freibeträge zu erhöhen. Wer profitiert davon? Davon profitieren doch nur diejenigen, die Steuern zahlen, um die Freibeträge nutzen zu können. ({10}) Das sind aber nicht die Menschen, die von Armut betroffen sind oder das ALG II beziehen. Wer profitiert davon, wenn das Kindergeld, wie Sie es fordern, auf 200 Euro erhöht wird? Schließlich ist auch Ihnen aufgefallen, dass die Freibeträge nur von einem Bruchteil der Menschen in Anspruch genommen werden können. ({11}) Wie finanzieren Sie das? Woher nehmen Sie das Geld? Wissen Sie überhaupt, was das kostet? Sie haben gerade der Linken und auch uns vorgeworfen, wir wüssten nie, wie wir unsere Forderungen finanzieren. ({12}) Wie Sie Ihre „Träume“ finanzieren, sagen Sie uns aber nicht. ({13}) Ich komme zu einem weiteren Punkt, der immer wieder angesprochen wird, das Ehegattensplitting. Über dieses Thema werden wir noch lange diskutieren. In allen Fraktionen gibt es dazu verschiedene Positionen. Aber eines müssen wir festhalten: Das Ehegattensplitting fördert nicht die Familie, sondern das Ehegattensplitting fördert die Ehe. ({14}) 60 Prozent der Familien haben nichts, aber auch gar nichts vom Ehegattensplitting. Es gibt nun einmal verschiedene Lebensformen in Deutschland, nehmen Sie das zur Kenntnis. Es gibt nun einmal Verheiratete und Unverheiratete mit Familie. ({15}) Es gibt Doppelverdiener, die aber nicht viel verdienen. Sie profitieren überhaupt nicht vom Ehegattensplitting. ({16}) Dafür gibt es aber Menschen, die hervorragend verdienen und vom Ehegattensplitting maximal profitieren. ({17}) Dass diese Menschen dann bis zu 8 000 Euro mehr als Nichtverheiratete bekommen, liegt daran, dass sie sich für ein bestimmtes Lebensmodell entschieden haben. Es darf uns aber nicht darum gehen, bestimmte Lebensmodelle zu bevorzugen, sondern wir müssen Kinder und das Leben mit Kindern fördern. Dafür ist das Ehegattensplitting das falsche Instrument. Daran gibt es nichts zu zweifeln. ({18}) Zusammengefasst sage ich Folgendes: Der Kampf gegen Kinderarmut beruht auf zwei Säulen. Wir brauchen die Infrastruktur, wie den Ausbau der Kinderbetreuung für die unter Dreijährigen, qualitativ hochwertige Angebote und eine bessere Qualifizierung unserer Erzieherinnen. Wir brauchen die Ganztagsschulen, deren Förderung aber 2009 ausläuft und die dank der Föderalismusstrukturreform nicht fortgesetzt werden kann. Wenn es um die Fortführung der Ganztagsschulförderung geht, ist auch die FDP gefordert. Wir brauchen all dies, darüber hinaus brauchen wir aber auch eine materielle Sicherung, vor allem auf der untersten Ebene: Die ALG-II-Leistungen für Kinder müssen neu berechnet werden. Vor allem müssen wir aber eine Neustrukturierung der Leistungen ins Visier nehmen; denn die gegenwärtige Leistungsstruktur dient vor allem den Gut- und Besserverdienenden. Dafür steht der Antrag der Grünen. Uns geht es nicht darum, ein bestimmtes Familienmodell zu unterstützen, sondern darum, Kinder direkt und effizient zu unterstützen. ({19})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Helga Lopez von der SPD-Fraktion. ({0})

Helga Lopez (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003803, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich zu Beginn meiner Rede das Wort an Herrn Wunderlich richten. Ich konnte vorhin leider keine Zwischenfrage stellen; da ich jetzt rede, kann ich diesen Punkt aber jetzt anbringen. Eines ist noch nicht gesagt worden - Marlene Rupprecht hat es vorhin angedeutet -: Das Pflegegeld beträgt in der untersten Stufe roundabout 650 Euro. Sie können doch nicht erwarten, dass zusätzlich Unterhaltsvorschuss gezahlt wird. Das ist nun wirklich nicht notwendig und deswegen auch nicht vorgesehen. ({0}) - Ich weiß nicht, wo der Fall, den Sie skizziert haben, aufgetreten ist. Ich würde Ihnen empfehlen - schließlich sind Sie Bundestagsabgeordneter -, zur Behörde zu gehen. Ich kenne einen solchen Fall nicht. ({1}) - Nein. Ich kann Ihnen schon jetzt sagen: Da stimmt etwas nicht. Gehen Sie zur Behörde und klären Sie das. Dahinten sitzt Rolf Stöckel. Er kennt die Rechtslage aus dem Effeff und kann Ihnen nachher bestätigen, dass auch er einen solchen Fall noch nicht erlebt hat. Zur Debatte über die vorliegenden Anträge: Den Antrag der FDP haben wir erst gestern erhalten, vor ziemlich exakt 24 Stunden. Wir hatten aber genug Zeit, um ihn aufmerksam zu lesen. Eine Stelle in Ihrem Antrag hat mir besonders gut gefallen. Im Antrag der Grünen gibt es eine ähnliche Formulierung. Ich lese die beiden Stellen einmal vor, weil sie eine Herzensangelegenheit von mir betreffen; das gilt nicht erst seit heute. Im Antrag der Grünen heißt es: So sind Kinder auch nicht per se arm, sondern die Familien, in denen sie leben. Im Antrag der FDP heißt es: Kinder und Jugendliche sind arm, weil die Familien, in denen sie leben, arm sind. Das kann ich unterschreiben. Das trifft den Kern. Deswegen sollten wir aufhören, von Kinderarmut zu sprechen. Familienarmut ist der treffendere Begriff. ({2}) Der Begriff Kinderarmut suggeriert leider - das will ich deutlich sagen -, dass Eltern ihren Kindern nicht das geben, was ihnen zusteht bzw. das Geld unverantwortlich ausgegeben wird. Das gilt für die weitaus größte Zahl aller Fälle mitnichten. ({3}) Ich komme aus einem rein ländlichen Gebiet. Dort sind viele Leute arbeitslos geworden, weil Firmen abgewandert oder in Konkurs gegangen sind. Die Zahl der Arbeitslosen nimmt zwar auch dort inzwischen ab, aber - und das ist der eigentliche Skandal in diesem Land innerhalb von zwei Jahren ist die Zahl der Bedarfsgemeinschaften - das sind Familien, die Zuzahlungen benötigen, obwohl die Eltern arbeiten gehen - von 1 200 auf über 3 000 gestiegen. Ich sage es noch einmal: Das ist ein Skandal. Dort, wo ich lebe, schämen sich arbeitslose, insbesondere langzeitarbeitslose, Menschen für ihre unverschuldete Situation. Sie tun alles, wirklich alles, damit wenigstens ihre Kinder nicht auf alles verzichten müssen. Für sie bedeuten 5 Euro Kindergelderhöhung nicht eine Packung Zigaretten, sondern ein paar Liter Milch. Aber - auch das will ich sagen - sie bedeuten hier und da auch die Möglichkeit, auf dem Flohmarkt eine gebrauchte Markenklamotte, vielleicht sogar einen gebrauchten Nintendo Gameboy zu kaufen. Denn Teilhabe bedeutet in dieser Gesellschaft nicht nur die wichtige Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, sondern leider auch Teilhabe an Statussymbolen. Diese Eltern wollen nicht, dass ihre Kinder gehänselt und stigmatisiert werden, dass sie „Assi“ genannt werden; so ist der Sprachgebrauch unter Jugendlichen. Das ist schlimm und bleibt für diese Kinder leider nicht folgenlos. Wenn man sich also anschaut, woher Armut in Deutschland kommt, ist man unweigerlich und sofort bei den prekären Beschäftigungsverhältnissen. ({4}) - Nicht bei der schlechten Politik, die wir machen. Sie können das tausendmal wiederholen. Ich sage Ihnen: Schauen Sie sich Berlin an. Dort sind Sie an der Regierung beteiligt. Verbessern Sie die Situation dort. ({5}) Wenn ich schon dabei bin, möchte ich noch sagen: Die ersten privatgewerblichen Kindergärten gibt es in Berlin. ({6}) Sie sind also mitverantwortlich; Sie können sich nicht rausreden. Ich war gerade bei prekären Beschäftigungsverhältnissen, bei Dumpinglöhnen und bei den allgemein schlechteren Bedingungen für Alleinerziehende. Ich frage mich, Kolleginnen und Kollegen von der FPD: Wo ist bei Ihnen die Forderung nach einem Mindestlohn? ({7}) Sie fordern die Einführung von Bürgergeld. Mir ist nie klar geworden - ich habe viel dazu gelesen -, wem Bürgergeld nutzt. Ich habe den Eindruck, es nutzt nicht den Bürgern, sondern den Unternehmen, die dann noch einfacher Dumpinglöhne zahlen können. ({8}) Sie sagen auch nicht, wie Sie das finanzieren wollen. ({9}) Wenn Sie den Umsatzsteuersatz auf 40 Prozent erhöhen wollen, dann fordern Sie weiterhin ein Bürgergeld! Ich weiß nicht, wie Ihre Forderungen finanziert werden sollen. Wir sollen den Staat entschulden, fordern Sie; das ist eine vernünftige Forderung. Zeitgleich legen Sie jetzt das größte Steuersenkungspaket auf, das ich bisher gesehen habe. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Lopez, kommen Sie bitte zum Schluss.

Helga Lopez (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003803, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Einen Satz noch.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ja, bitte.

Helga Lopez (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003803, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wer den höchsten Steuersatz auf 35 Prozent senkt - das fordern Sie -, hat kein Geld, um die Familien ernsthaft zu fördern. Das ist Fakt. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Jetzt hat das Wort die Kollegin Katharina Landgraf von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Katharina Landgraf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001278, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Anträge bzw. der Gesetzentwurf der drei Parteien sehen, zumindest wenn man die Überschriften betrachtet, eigentlich gut aus. Man muss dafür sein. Denn die Existenz von Kindern zu sichern und Familien zu stärken, ist auf jeden Fall gut. Ich habe mir jetzt vor allen Dingen die Anträge der Grünen und der FDP angeschaut. Ich stelle zum Beispiel fest, dass im Grünen-Antrag ein Mischmasch von Zuständigkeiten vorherrscht. Die Verantwortung der Eltern fehlt. Darüber steht dort überhaupt nichts. ({0}) Am meisten ärgere ich mich darüber, dass unter Punkt 2 im Antrag der Grünen steht, die Regierung schaue untätig zu. ({1}) Ich muss fragen: Haben Sie nichts erkannt? Haben Sie nichts gemerkt? Waren Sie nie anwesend, oder wollen Sie das aus strategischen Gründen verschweigen? Die Behauptung ist falsch, und wir können nachweisen - meine Vorredner haben das schon gesagt -, was alles getan wird und was wir weiterhin vorhaben. ({2}) Es wird zum Beispiel von zentralen Barrieren gesprochen, ohne das Wort zu erklären. Ich frage mich, was Sie damit meinen. Meinen Sie eine bundespolitische Barriere? Mir ist so etwas nicht bekannt. Beim Antrag der FDP sieht es schon besser aus. Sie haben einen besseren Bezug zu den Kompetenzebenen der Länder und der Kommunen gefunden. Ebenso wie bei den Grünen fehlt aber auch bei Ihnen die direkte Ansprache der Eltern. Haben diese eine Verantwortung? ({3}) - Das steht aber nicht definitiv im Antrag. ({4}) Auf Seite 2 steht ein interessanter Satz: Die soziale Lage der Eltern darf nicht über den Bildungsweg der Kinder und Jugendlichen entscheiden. Das stimmt. ({5}) Wir kommen jedoch nicht darum herum, zuzugeben, dass die soziale Lage der Eltern letztlich doch entscheidet. Unsere Aufgabe ist es, die Eltern zu stärken und ihnen Kompetenzen an die Hand zu geben, damit die Kinder einen besseren Zugang zur Bildung erhalten. ({6}) Nun komme ich zu Aspekten, von denen ich hoffe, dass andere sie noch nicht in dem Sinne angesprochen haben. Ich denke aber ähnlich wie Sie, Frau Lopez. Wir müssen mehr für die Eltern tun. Wir müssen die Kompetenz der Eltern erhöhen, denn wir dürfen nicht nur an den Symptomen der viel beklagten Kinderarmut herumdoktern. Eltern brauchen Deutschland als ein familienfreundliches und kindergerechtes Land. Sie brauchen ebenfalls familienfreundliche Gemeinden, Landkreise und Bundesländer. Wir müssen hier klar äußern: Betreuungsangebote sind Ländersache. Die Kommunen haben ebenso viele Kompetenzen. Durch unseren Gesetzentwurf zur Förderung von Kindern unter drei Jahren eröffnen wir die Möglichkeit, gemeinsam mit den Kommunen und den Ländern etwas für die Eltern zu tun. Auf diesem Wege haben wir die Möglichkeit, den Kindern die frühkindliche Bildung zuteil werden zu lassen, die uns vorschwebt. Eltern brauchen das Angebot einer hochkarätigen frühkindlichen Bildung. In meinem Heimatland Sachsen wurden in diesem Bereich schon erste Schritte getan. Wie ich gehört habe, gilt das auch für andere Bundesländer, die auch die Mittel für die Weiterbildung von Erzieherinnen und Erziehern, die schon in Arbeit sind, erhöht haben. Es wurde ebenfalls ein neues Programm für die Ausbildung von Erzieherinnen aufgelegt. Ich finde es toll, dass im FDP-Antrag auch von Erziehern die Rede ist. Ich finde es super, dass man auch die Männer in diesem anspruchsvollen Beruf anspricht. Es tut unseren Kindern gut, wenn sich auch Männer an ihrer Ausbildung und Betreuung beteiligen. Das soll auch ein Signal unserer heutigen Debatte sein. ({7}) In Sachsen wird übrigens auch das Ganztagesschulprogramm weiter gefördert. Dort steht nicht nur das Bundesprogramm im Blickfeld. Wir haben ein Landesprogramm, und Schulen werden mit Mitteln für Honorare ausgestattet und können entscheiden, welche ehrenamtlich Tätigen und welche Experten weitere Nachmittagsangebote an Ganztagsschulen anbieten. Ich finde das gut. ({8}) - Lehrer auch, aber auch andere von außen, zum Beispiel aus den Vereinen. ({9}) Eltern brauchen eine familienfreundliche Arbeitswelt. Sie brauchen familienfreundliche Arbeitsplätze und familienfreundliche Arbeitszeiten. Es gilt kein Anwesenheitsmythos. Vielmehr muss die Arbeitszeit vereinbart werden. Dann ist die Motivation junger Eltern am größten. Auch die Unternehmer haben Vorteile, das müssten diese erkannt haben. Wir brauchen auch eine Arbeitsagentur, die auch Mütter mit mehreren Kindern vermitteln kann und will. Wir brauchen Netze, die zum Beispiel durch Mehrgenerationenhäuser, Nachbarn, Freunde, Paten, Großeltern und ehrenamtlich Tätige gebildet werden. ({10}) - Nein, das ist nicht ein Wegschieben von Verantwortung. Liebe Frau Reinke, alle müssen sich dazu bekennen. Vielleicht haben Sie es selbst nicht erlebt, aber wir praktizieren es und tragen dazu bei, dass Umfeld und Netz funktionieren. Die Grünen haben in ihrem Antrag von Eltern-Kind-Zentren gesprochen. Unser Mehrgenerationengedanke geht noch einen Schritt weiter, denn er umfasst eine Generation mehr. Das müssen wir in unserer modernen Zeit mit ihrer mobilen Arbeitswelt fördern. ({11}) Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf wird es den Eltern ermöglichen, ihren Kindern eine verantwortliche Erziehung angedeihen zu lassen und ihnen aus der Familie heraus Selbstbewusstsein zu vermitteln. Die Familie pflanzt das ein, was ein Kind braucht, nämlich die Neugier auf die Welt und einen Wissensdurst, der zuerst in der Familie akzeptiert werden muss, um dann später von uns, von der Öffentlichkeit, weiter gefördert zu werden. Vielen Dank. ({12})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Rolf Stöckel von der SPD-Fraktion. ({0})

Rolf Stöckel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003240, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als einer der letzten Redner in dieser Debatte möchte ich hervorheben, dass heute wohltuend viele Gemeinsamkeiten deutlich geworden sind. Wir teilen die Erkenntnisse, dass das Thema Kinderarmut auf der Tagesordnung bleiben muss und dass wir alle - das gilt nicht nur für die Mitglieder dieses Hauses, sondern auch für alle staatlichen Ebenen und gesellschaftlichen Institutionen sowie für die Menschen im Lande - Verantwortung dafür tragen, die Kinderarmut in diesem reichen Land konsequent zu bekämpfen. ({0}) Es darf nicht immer nur darum gehen, welche Armutsrisiken in 20, 30 Jahren auf die Rentner zukommen, weil wir unsere Hausaufgaben nicht gemacht und versäumt haben, heute die notwendigen Investitionen in die zukünftigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu tätigen. Es gibt Übereinstimmung, was die strukturellen Veränderungen betrifft. Uns ist klar, dass wir die Kinderarmut nicht nur durch materielle Transferleistungen bekämpfen können. Mit Ausnahme der Linken haben wir deutlich gemacht, dass die Länder bei Bildung, Frühförderung, Elementarerziehung und Kinderbetreuung Zuständigkeiten haben, dass wir aber gewillt sind, ihnen zu helfen. Vor allen Dingen die alten Bundesländer sind noch weit von der Erfüllung der Standards in diesem Bereich entfernt. Deshalb müssen unsere Anstrengungen verstärkt werden. Zur materiellen Existenzsicherung. Wir haben zugesichert, dass wir im Herbst dieses Jahres auf der Grundlage der Existenzminimumberichte über die Neufestlegung der Steuerfreibeträge für Kinder und damit auch über die Höhe des steuerfreien Existenzminimums und der Regelsätze der Grundsicherung, über die Pfändungsfreigrenzen usw. diskutieren. All dies muss dann angepasst werden. Man kann sich darüber streiten, ob die Art und Weise, wie die Transferleistungen erbracht werden, optimal ist. Im Rahmen der Arbeitsmarktmaßnahmen und des Grundsicherungssystems für Arbeitsuchende wird allerdings evaluiert, wie diese Maßnahmen wirken. Daher ist es folgerichtig, auch dies zu überprüfen. Ich möchte davor warnen, all die Maßnahmen, die im Hinblick auf den Bürokratieabbau und die Herstellung von Leistungsgerechtigkeit durch Pauschalierungen zu Fortschritten geführt haben - das ist damals von allen Seiten gefordert worden -, jetzt aus populistischen Gründen zurückzunehmen. Ich bin der Meinung, dass es Öffnungsklauseln für individuelle Hilfen und für Sachleistungen geben sollte. Diese sollten denjenigen zugute kommen, die darauf angewiesen sind. Allgemeine Rechtsansprüche nach dem Gießkannenprinzip einzuführen, lehne ich allerdings ab. Ich denke, dass es nicht hilft, in einen Wettbewerb über die Höhe der Transferleistungen einzutreten. ({1}) Mir ist kein Vorschlag bekannt, weder von den Linken noch von den Wohlfahrtsverbänden noch vom DGB noch von anderen, nach dem durch eine Erhöhung der Transferleistungen eine Senkung des Armutsrisikos - auf der Grundlage der EVS liegt die Armutsrisikogrenze bei 936 Euro pro Monat - erreicht würde. Wir haben die Grundsicherungssysteme als Armutsbekämpfungsinstrumente eingeführt. Uns ist klar, dass die Hauptursache für die Armut von Kindern die Tatsache ist, dass ihre Eltern arbeitslos sind oder in prekären Beschäftigungsverhältnissen arbeiten. Es ist richtig, in diesem Bereich die vernünftige Politik, die die rot-grüne Koalition in den letzten Legislaturperioden betrieben hat und die wir Agenda 2010 genannt haben, fortzuführen; denn sie hat zu positiven Ergebnissen geführt. Herr Singhammer, die beste Botschaft lautet in der Tat: Die Arbeitslosigkeit sinkt. ({2}) Wir müssen allerdings auch dafür sorgen, dass die Menschen, die arbeiten, vernünftige Löhne bekommen. ({3}) Bei allen Gemeinsamkeiten muss ich Ministerin von der Leyen Folgendes sagen - sie ist im Moment zwar nicht hier, aber vielleicht wird ihr das überbracht -: Wenn man als Familien-, Frauen- und Jugendministerin gute Arbeit und staatliche Mindestlöhne ablehnt, dann betreibt man eine Politik, die vor allen Dingen gegen erwerbstätige alleinerziehende Frauen gerichtet ist. ({4}) Das zeigt die Erfahrung in Großbritannien: Zu 80 bis 90 Prozent kommt dieses Instrument alleinerziehenden erwerbstätigen Frauen zugute. Frau Gruß, ich finde in Ihrem Antrag viele richtige Ansätze. Ich möchte Ihnen das Angebot machen, dass wir uns zusammensetzen und das, was in der Tat nicht nur im Bereich der Bildung und Förderung, sondern auch im Bereich der Jugendhilfe an Strukturverbesserungen notwendig ist, gemeinsam mit der FDP umsetzen. Am Samstag hat Ihr Parteivorsitzender, Guido Westerwelle, in München eine Rede gehalten und sich groß darüber ausgelassen, dass Nächstenliebe von den Menschen ausgeht, dass der Staat sie nicht ersetzen kann, dass er das nicht leisten kann. Gleichzeitig fordern Sie in Ihrem Antrag nicht nur von der Bundesregierung, sondern vom Staat insgesamt, noch größere Anstrengungen als bisher zu unternehmen. Dabei gab es unter Rot-Grün und gibt es auch jetzt unter der Großen Koalition mehr an staatlichen Familienleistungen als jemals zuvor. Entweder haben Sie den falschen Vorsitzenden, ({5}) oder Ihr Antrag ist eigentlich kein FDP-Antrag - diesen Widerspruch müssen Sie in Ihrer Partei lösen! ({6}) Ich habe nicht mehr viel Redezeit, will aber noch anbringen: Ich respektiere Ihre Arbeit und die Ihrer Kolleginnen und Kollegen in der Kinderkommission des Deutschen Bundestages. Es ist mir, der ich einmal Mitglied der Kinderkommission war, wichtig, darauf hinzuweisen, dass der konsensorientierte Ansatz einer Arbeit für Kinder und Kinderrechte in diesem Hause notwendig ist. Ich vermisse Ihre Initiative, aber auch eine gemeinsame Initiative aller Fraktionen, für ein Antragsrecht der Kinderkommission in diesem Hause. ({7}) Ich vermisse - schließlich wollen Sie mit Ihrem Antrag etwas für die materielle Sicherung von Kindern tun -, dass Sie sich für eine Ausweitung der Rechte von Kindern aussprechen. Das heißt ganz klar: für die Einführung eines Kinderwahlrechts ab Geburt. Ich weiß, dass da nicht alle klatschen können.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Stöckel, ich habe Ihnen jetzt einen ausreichenden Kinderzuschlag gegeben; aber Sie müssen jetzt zum Ende kommen.

Rolf Stöckel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003240, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Damit komme ich zum Schluss, Herr Präsident. - Es reicht nicht aus, materielle Forderungen zu erheben. Man muss Kindern und Familien die Rechte einräumen, die andere selbstverständlich für sich in Anspruch nehmen. Deshalb gehören das Kinderwahlrecht und ein Antragsrecht der Kinderkommission auf die Tagesordnung, und die Kinderrechte gehören ins Grundgesetz. ({0}) Wir werden noch lange über diese Fragen diskutieren. Herzlichen Dank. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort der Kollegin Miriam Gruß.

Miriam Gruß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003760, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Stöckel, als ehemaligem Mitglied der Kinderkommission darf ich Ihnen in Erinnerung rufen, dass wir in der Kinderkommission über ein Antragsrecht der Kinderkommission im Deutschen Bundestag beraten haben, dort aber das Einstimmigkeitsprinzip gilt. Ich darf Ihnen mitteilen: Ich bin ebenso wie meine Fraktion dafür. Ich kann Ihnen auch drei andere Fraktionen nennen, die dafür sind. Jetzt bleibt es dem Publikum und Ihnen überlassen, zu überlegen, welche Fraktion in der Kinderkommission nicht dafür ist und warum ich mich ausgerechnet auf Ihren Redebeitrag zu Wort melde. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Stöckel zur Erwiderung. ({0})

Rolf Stöckel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003240, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Frau Gruß, ich begrüße, dass die Unterstützung für dieses berechtigte Anliegen gewachsen ist. Ich hoffe natürlich, dass das auch in meiner Fraktion so ist. ({0}) Aber ich rede hier als Sozialpolitiker, nicht nur als jemand, der einmal Kinderbeauftragter seiner Fraktion war. Die Beachtung der Kinderrechte muss natürlich auch dazu führen, dass sich die materiellen Bedingungen für Kinder verbessern, vor allen Dingen für diejenigen, die es am nötigsten haben. Das muss durchgesetzt werden. Insofern begrüße ich Ihre Haltung, und ich biete Ihnen meine Zusammenarbeit gerne an. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt hat nun die Kollegin Petra Hinz von der SPD-Fraktion das Wort.

Petra Hinz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003768, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gerade all diejenigen, die im Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zu Hause sind, werden sich sicherlich wundern, dass ich als Haushälterin jetzt hier zu Wort komme. Erst einmal möchte ich mich bei meiner Fraktion ganz herzlich dafür bedanken, dass ich die Möglichkeit dazu habe. Wir wollen damit deutlich machen, dass das, was hier heute besprochen worden ist - Vorschläge, Initiativen usw. - auch umgesetzt werden muss. Wir haben für uns die Marschrichtung, dass all die heutigen Lippenbekenntnisse des einen oder anderen bei den nächsten Haushaltsberatungen in Form von Anträgen Widerhall finden müssen. Es muss fiskalisch wiederzuerkennen sein. Wenn ich das heute hier richtig verstanden habe, dann sind wir uns darin einig, dass wir zur Beseitigung der Armut deren Wurzeln bekämpfen müssen. Für mich haben sich hier heute zwei Lösungen herauskristallisiert: Erstens ist das die Erwerbsarbeit für Eltern. Es ist viel über den Mindestlohn, über die Verantwortung für die Alleinerziehenden und diejenigen, die wieder in den Beruf einsteigen wollen, gesprochen worden. All diese Themen haben wir auch in den zurückliegenden Haushaltsberatungen auf den Weg gebracht. Zweitens. Ich habe mir einmal die Mühe gemacht, herauszusuchen, welche Maßnahmen gegen Kinderarmut wir auf den Weg gebracht haben, um das hier heute im Plenum deutlich zu machen: Kinderzuschlag, Elterngeld, Erziehungsgeld, Unterhaltsvorschuss. Im Gegensatz zur Regierung - in diesem Fall zur Ministerin - war das Thema Kindergeld für uns kein Ruhekissen, sondern ganz im Gegenteil - Frau Künast hat das vorhin schon gesagt -: Während unserer Regierungsverantwortung ist das Kindergeld gestiegen. Das möchte ich hier auch noch einmal deutlich machen. Allerdings sagen wir Sozialdemokraten nach den vielen Debatten, die im Fachausschuss stattgefunden haben, auch Ja zur Förderung von Familien und Kindern, aber nicht mit der Gießkanne. Erreichen wir das, was wir wollen, tatsächlich durch eine Kindergelderhöhung, ({0}) oder müssen wir in diesem Bereich nicht noch wesentlich mehr auf den Weg bringen? Die Devise muss doch sein: Das eine tun, ohne das andere zu lassen. Dies werden wir im Rahmen der Haushaltsberatungen auch tun. Wir waren es, die für einen Rechtsanspruch auf Betreuung gesorgt haben. Das Kinderbetreuungsfinanzierungsgesetz ist auf den Weg gebracht und verabschiedet worden. Ich sage es hier noch einmal: 4 Milliarden Euro stehen zum Beispiel für den Ausbau der Betreuungsinfrastruktur und die Finanzierung von Betriebskosten zur Verfügung. ({1}) Wir, der Bund, haben Wege gefunden, die Kommunen und die Träger über das Land zu finanzieren und zu fördern. ({2}) Wie sehen denn die Wirklichkeit und die Praxis aus? In meiner Kommune, der Stadt Essen, ziehen sich einige kirchliche Träger gerade aus der gesellschaftlichen Verantwortung, die wir alle haben, zurück. Aufgrund von Finanz- und Wirtschaftsplänen aus dem Jahre 2001 schließen sie gerade Kindertageseinrichtungen in nicht unerheblicher Zahl. Dies tun sie nicht, weil kein Bedarf vorhanden ist, weil keine langen Wartelisten bestehen oder aufgrund des Finanzierungskonzeptes, sondern weil von den Bewerbern nicht der entsprechende Glaube vertreten wird. All diejenigen, die angemeldet worden sind, sind Muslime, Nichtgläubige oder wie auch immer. ({3}) Sie haben eine gesellschaftspolitische Verantwortung. ({4}) Wir waren diejenigen, die hier Fördergelder zur Verfügung gestellt haben. Das Land und vor allem die Kommunen müssen finanziell entsprechend ausgestattet werden. Schauen Sie sich an, was alles beim Land klebrig hängen bleibt, ({5}) dass das Land Nordrhein-Westfalen das KiBiz auf den Weg gebracht hat, die Finanzierung aber im Prinzip den Petra Hinz ({6}) Trägern überlassen wird, und dass dort Eltern, die möglicherweise nicht zu den Begünstigten gehören, ihren Kindern nicht mehr Zeit in Kindertagesstätten kaufen können. Das ist die Wahrheit. Ich erwarte von der Regierung, der Ministerin und auch Ihnen, Herr Staatssekretär Kues, dass Sie im Rahmen der Konferenzen zwischen Bund und Land genau dies thematisieren, damit all die Punkte, die im Kinderarmutsbericht dargestellt worden sind, auch mit Leben erfüllt und umgesetzt werden. ({7}) Wir wollen also keine Förderung mit der Gießkanne, sondern werden im Rahmen der Haushaltsberatungen das fortsetzen, was wir auf den Weg gebracht haben. Wir haben die Programme zum Ausbau der Ganztagsschule, das Ganztagsbetreuungsgesetz und das neue Elterngeld auf den Weg gebracht. All dies kann sich sehen lassen. Aber darauf können wir uns nicht ausruhen. Deshalb freue ich mich sehr auf die Beratung im Haushaltsausschuss. Ich bitte Sie, Herr Staatssekretär Kues, den Fachausschussmitgliedern und den Haushältern eine Auflistung über alle Maßnahmen zu geben, die sich im Haushalt und im Finanzkonzept widerspiegeln und deutlich machen, wo wir gemeinsam gegen Kinderarmut kämpfen. Vielen Dank. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/9433 und 16/9028 an die in der Ta- gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Damit sind die Überweisungen so beschlossen. Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke zur Änderung des Unterhaltsvor- schussgesetzes. Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend empfiehlt in seiner Beschlussemp- fehlung auf Drucksache 16/9440, den Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/7889 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Be- ratung mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Stimmenthal- tung der Fraktionen von Bündnis 90/Die Grünen und FDP abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäfts- ordnung die weitere Beratung. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 36 a sowie die Zu- satzpunkte 2 a bis 2 c auf: 36 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainder Steenblock, Jürgen Trittin, Omid Nouripour, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Die europäische Integration der Republik Moldova unterstützen - Drucksache 16/9358 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({0}) Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ZP 2 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Christian Ahrendt, Carl-Ludwig Thiele, Hans-Michael Goldmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Optimaler Darlehensnehmerschutz bei Kreditverkäufen an Finanzinvestoren - Drucksache 16/8548 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({1}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus Löning, Michael Link ({2}), Florian Toncar, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Europäisches Parlament stärken - Sitzfrage durch Europaparlamentarier entscheiden lassen - Drucksache 16/9427 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({3}) Haushaltsausschuss c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried Hermann, Dr. Anton Hofreiter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vertrag über die Beteiligung von Kapitalanlegern an den Verkehrs-, Logistik- und zugehörigen Dienstleistungsgesellschaften der Deutsche Bahn AG durch externen Sachverstand prüfen lassen - Drucksache 16/9474 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({4}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Haushaltsausschuss Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Vorlage auf Drucksache 16/9358 zu Tagesordnungspunkt 36 a federführend vom Auswärtigen Ausschuss beraten werden soll. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 37 a und 37 b sowie 37 d bis 37 n auf. Es handelt sich um die BeschlussVizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse fassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Tagesordnungspunkt 37 a: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bevölkerungsstatistikgesetzes - Drucksache 16/9040, 16/9079 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({5}) - Drucksachen 16/9319 Berichterstattung: Abgeordnete Kristina Köhler ({6}) Siegmund Ehrmann Jan Korte Silke Stokar von Neuforn Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9319, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksachen 16/9040 und 16/9079 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen aller Fraktionen angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen aller Fraktionen angenommen. Tagesordnungspunkt 37 b: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 8. November 2007 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich Saudi-Arabien zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen von Luftfahrtunternehmen und der Steuern von den Vergütungen ihrer Arbeitnehmer - Drucksache 16/9276 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({7}) - Drucksache 16/9459 Berichterstattung: Abgeordnete Manfred Kolbe Dr. Gerhard Schick Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9459, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/9276 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP bei Stimmenthaltung der Linken und der Grünen angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung: Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie zuvor angenommen. Tagesordnungspunkt 37 d: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({8}) Änderung der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages hier: Vereinbarung zwischen dem Deutschen Bundestag und der Bundesregierung über die Zusammenarbeit in Angelegenheiten der Europäischen Union - Drucksache 16/9400 Berichterstattung: Abgeordnete Bernhard Kaster Dr. Carl-Christian Dressel Jörg van Essen Dr. Dagmar Enkelmann Volker Beck ({9}) Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Tagesordnungspunkt 37 e: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({10}) Sammelübersicht 415 zu Petitionen - Drucksache 16/9323 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 415 ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 37 f: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({11}) Sammelübersicht 416 zu Petitionen - Drucksache 16/9324 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 416 ist bei Stimmenthaltung der Fraktion Die Linke mit den Stimmen der übrigen Fraktionen angenommen. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse Tagesordnungspunkt 37 g: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({12}) Sammelübersicht 417 zu Petitionen - Drucksache 16/9325 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 417 ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der Linken bei Stimmenthaltung der Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 37 h: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({13}) Sammelübersicht 418 zu Petitionen - Drucksache 16/9326 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 418 ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 37 i: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({14}) Sammelübersicht 419 zu Petitionen - Drucksache 16/9327 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen. Tagesordnungspunkt 37 j: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({15}) Sammelübersicht 420 zu Petitionen - Drucksache 16/9328 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 420 ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der Linken bei Stimmenthaltung der Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 37 k: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({16}) Sammelübersicht 421 zu Petitionen - Drucksache 16/9330 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 421 ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der Linken und der Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 37 l: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({17}) Sammelübersicht 422 zu Petitionen - Drucksache 16/9331 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und Linken gegen die Stimmen von FDP und Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 37 m: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({18}) Sammelübersicht 423 zu Petitionen - Drucksache 16/9332 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 423 ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und Grünen gegen die Stimmen von FDP und Linken angenommen. Tagesordnungspunkt 37 n: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({19}) Sammelübersicht 424 zu Petitionen - Drucksache 16/9333 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht ist mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der FDP und der Grünen bei Enthaltung der Linken angenommen. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 5 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Änderung des Dritten Buches Sozialgesetzbuch - Verbesserung der Ausbildungschancen förderungsbedürftiger junger Menschen - Drucksache 16/8718, 16/9238 - Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({20}) - Drucksache 16/9456 Berichterstattung: Abgeordneter Stefan Müller ({21}) - Bericht des Haushaltsausschusses ({22}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 16/9465 Berichterstattung: Abgeordnete Steffen Kampeter Waltraud Lehn Dr. Claudia Winterstein Dr. Gesine Lötzsch Alexander Bonde Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Parlamentarischen Staatssekretär Klaus Brandner das Wort. ({23})

Klaus Brandner (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003053

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Unsere Gesellschaft mit der sozialen Marktwirtschaft lebt davon, dass sie Chancen eröffnet. Wenn sie zulässt, dass junge Menschen, die sich bemühen, auf unüberwindliche Hürden treffen, dann wird sie langfristig ins Wanken geraten, dann ist in unserem Land etwas nicht in Ordnung. Zu diesen Hürden gehört auch, dass junge Menschen in ein Raster eingeteilt werden, ob sie für eine Ausbildung geeignet sind oder nicht. Wenn es um junge Menschen geht, finde ich eine solche Unterscheidung zynisch. ({0}) Jede und jeder verdienen eine Chance. Jede und jeder sollen sich ihren Platz in der Gesellschaft erarbeiten können. Eines muss klar sein: Qualitativ gute Arbeit ist nur durch eine gute Ausbildung möglich. Für die meisten Jugendlichen bleibt die Ausbildung der zentrale Weg in Arbeit. Deshalb bringen wir mit dem Fünften Gesetz zur Änderung des SGB III neue Maßnahmen mit einem wichtigen Anliegen auf den Weg, nämlich die Verbesserung der Ausbildungschancen junger Menschen. ({1}) Ausbildungsbonus und Berufseinstiegsbegleitung sind die Antwort auf zwei Probleme, die immer drängender werden und die für viele zum Stolperstein geworden sind, die schon lange auf einen Ausbildungsplatz warten. Erstens. Zum einen ist es die enorm gestiegene Zahl der Altbewerber. Zweitens. Zum anderen beobachten wir wachsende Schwierigkeiten insbesondere für Jugendliche mit einem Hauptschulabschluss bei der Suche nach einem betrieblichen Ausbildungsplatz. Sicher, wir haben mit dem Ausbildungspakt eine deutliche Steigerung der Zahl der Ausbildungsplätze erreicht. Immerhin gibt es über 625 000 neu abgeschlossene Ausbildungsverträge. Das ist der zweithöchste Wert, den wir seit der Wiedervereinigung zu verzeichnen haben. Über 53 000 erstmalig ausbildende Betriebe sind ein Beleg dafür, ({2}) dass sich die Anstrengungen in unserem Land gelohnt haben. Das ist die gute Nachricht. Die schlechte ist: Es gibt noch immer deutlich zu viele Altbewerber. ({3}) Darum wollen wir eine zeitlich befristete Förderung von Altbewerbern auf den Weg bringen. Bundesregierung und Bundestag stimmen jedenfalls darin überein, dass wir diejenigen Unternehmen unterstützen wollen, die zusätzliche Ausbildungsplätze schaffen und mit Jugendlichen besetzen, die als Altbewerber schon lange nach einem Ausbildungsplatz suchen. ({4}) Wir wollen mit dem Ausbildungspakt und dem Ausbildungsbonus allen eine Chance auf eine Ausbildung geben, damit sich ihre Berufswünsche erfüllen und die Suche nach einem Ausbildungsplatz zu einem guten Abschluss führt. Mit dem Ausbildungsbonus wollen wir in den kommenden drei Ausbildungsjahren 100 000 Altbewerbern eine Chance zum Einstieg in das duale Ausbildungssystem eröffnen. Die Anhörung, die wir am 26. April dieses Jahres dazu durchgeführt haben, hat gezeigt ({5}) - stimmt, es war im Mai; schön, dass wir eine gute Koalition sind, in der man gegenseitig auf das Wesentliche achtet; danke, Herr Kollege Brauksiepe -, dass unser Anliegen, die Ausbildungsplatzlage durch unterstützende Maßnahmen zu verbessern, auf eine grundsätzlich positive Resonanz gestoßen ist. Auch der Bundesrat sieht Handlungsbedarf, wie die von ihm beschlossene Gesetzesinitiative für ein Altbewerbergesetz zeigt. Die Anhörung hat aber auch deutlich gemacht, dass es schwierig ist, eine Lösung zu finden, die Fehlanreize und Mitnahmeeffekte quasi zu 100 Prozent ausschließt. Wenn aber Unternehmen ihrer Verantwortung nicht ausreichend nachkommen, dürfen darunter nicht die jungen Menschen in unserem Land leiden, die heute auf der Straße stehen. ({6}) Deshalb muss jetzt steuernd eingegriffen und mitgeholfen werden, auch für Altbewerber eine Ausbildung zu organisieren. Genau das wollen wir mit dem Gesetz erreichen. Wir haben nach der Anhörung Modifizierungen am Gesetzentwurf vorgenommen und das Anliegen noch klarer und fester verankert. Dabei ist die Förderung mit dem Ausbildungsbonus kein Selbstzweck zur Unterstützung von Arbeitgebern. Wir wollen ausdrücklich allein zusätzliche Anstrengungen unterstützen; denn wir brauchen noch deutlich mehr und zusätzliche betriebliche Ausbildungsplätze für junge Menschen, die schon seit längerem auf eine Chance warten. Nur durch zusätzliche Ausbildungsplätze bleibt gleichzeitig die Chance für Bewerber des aktuellen Schulabgängerjahrgangs erhalten. Ich sage ganz offen, dass im Zusammenhang mit der Förderung oft von Mitnahmeeffekten die Rede ist. Wir haben im Gesetzgebungsverfahren versucht, Mitnahmeeffekte so gut wie auszuschließen. Zu 100 Prozent sind sie nie auszuschließen. Aber sollen wir die Chancen junger Menschen einfach unberücksichtigt lassen, nur weil es Mitnahmemöglichkeiten gibt? Ich denke: Nein. Wir müssen mutig sein. Insofern haben wir konsequent gehandelt. ({7}) Wir haben deshalb den Rechtsanspruch auf eine Förderung auf diejenigen konzentriert, die keinen Schulabschluss, einen Sonderschulabschluss oder einen Hauptschulabschluss haben. Dazu werden Jugendliche berücksichtigt, die sozial benachteiligt oder lernbeeinträchtigt sind. Wir haben die Auszahlungsweise dem Vorschlag der Wirtschaftsverbände angepasst. Der Bonus wird zu 50 Prozent nach der Probezeit und zu 50 Prozent bei der Anmeldung zur Abschlussprüfung gezahlt. Auch damit, dass bei Teilnahme an einer Einstiegsqualifizierung beim selben Arbeitgeber der Förderausschluss durch eine Anrechnungslösung ersetzt wird, sind wir dem Vorschlag der Wirtschaftsverbände gefolgt. Wir erhoffen uns jetzt, dass sie aktiv mithelfen, das Altbewerberproblem zu lösen. Wir verbinden damit die Erwartung einer breiten Zustimmung, und wir hoffen, dass der Weg jetzt frei ist, damit die Agenturen für Arbeit nach der Beratung im Bundesrat im Juli zügig die gesetzlichen Möglichkeiten umsetzen können. Wir haben nämlich einen äußerst ehrgeizigen Zeitplan. Der Ausbildungsbonus soll zu Beginn des Ausbildungsjahres 2008 voll wirken. Auch im Hinblick auf die Berufseinstiegsbegleitung - ein weiteres Element - und die Auswahl der 1 000 Schulen brauchen wir ein schnelles Verfahren, weil der Vorlauf sehr kurz ist. ({8}) Die Berufseinstiegsbegleitung hat im parlamentarischen Verfahren viel positive Resonanz erfahren, aber auch ab und an Skepsis, und zwar deshalb, weil wir mit dieser Initiative auch Gefahr laufen könnten, ehrenamtliche Initiativen zu verdrängen. Ich glaube, wir müssen sehr sorgfältig mit dem Thema umgehen. Ich bin mir aber sicher, dass es im Zuge der Umsetzung vor Ort gemeinsam mit Schulen, Arbeitgebern und all denen, die auf diesem Gebiet bisher schon praktisch wertvolle Arbeit geleistet haben, gelingen wird, mehr Menschen in eine Ausbildung zu bringen. Das Ziel der Integration junger Menschen durch Ausbildung in die Arbeit ist dabei das wesentliche Ziel, das wir uns vorgenommen haben. Deshalb darf ich sagen: Wir wirken mit all denen, die dieses Ziel verfolgen, zusammen und sind auf einem guten Weg. Alle können mit anpacken. Auch die Oppositionsparteien können mit anpacken, indem sie diesem guten Gesetzentwurf ihre Unterstützung nicht versagen. Ich hoffe jedenfalls auf eine breite Unterstützung und darauf, dass viele junge Menschen wieder eine Zukunftschance haben. Herzlichen Dank. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Jörg Rohde, FDP-Fraktion. ({0})

Jörg Rohde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003831, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Staatssekretär, ich habe Ihre Rede sehr aufmerksam verfolgt, und Sie haben ab und zu Beifall über die Fraktionsgrenzen hinweg bekommen, auch von der FDP. ({0}) Wir stimmen im Ziel überein, aber ich habe vermisst, dass Sie darauf hinweisen, wer am Ende die Zeche zahlt. ({1}) Das ist ein entscheidender Punkt, um das in meiner Rede vorweg zu nehmen. Sie hätten schon sagen sollen, wer zahlt. Ich komme darauf zurück. Wir haben im April in erster Lesung gemeinsam über den sogenannten Ausbildungsbonus beraten. Wir Liberale hatten Ihnen von der Großen Koalition signalisiert, dass wir das Ziel Ihres Ansinnens mittragen. ({2}) Auch die FDP hält es für richtig, förderungsbedürftigen Jugendlichen, die schon seit Jahren einen Ausbildungsplatz suchen, durch einen Arbeitgeberzuschuss eine Chance für eine betriebliche Berufsausbildung zu geben. Aber wir haben Ihnen von der Union und der SPD auch unsere Bedenken mitgeteilt. Der Bonus schien uns weder hinreichend zielgenau auf die wirklichen Problemfälle zugeschnitten, noch konnte der Entwurf Mitnahmeeffekte bei den Arbeitgebern wirklich verhindern. Vor allem aber hatten wir von der FDP darauf hingewiesen, dass die Verbesserung der Ausbildungschancen Jugendlicher keine Aufgabe der Arbeitslosenversicherung, also allein der angestellten Erwerbstätigen, ist, sondern dass wir dies als eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe sehen, die ergo aus Steuermitteln zu finanzieren wäre. ({3}) In der folgenden Anhörung des Bundestagsausschusses für Arbeit und Soziales haben die Experten unsere Kritik mehrheitlich bestätigt. Meine sehr geehrten Damen und Herren der Regierungskoalition, die Hausaufgaben für Sie waren glasklar: Erstens. Nur die Jugendlichen fördern, die aus eigener Kraft keine Chance auf einen Ausbildungsplatz haben. Zweitens. Echte Anreize zum Abschluss der Ausbildung setzen und damit Mitnahmeeffekte vermeiden. Drittens. Die Arbeitslosenversicherung nicht mit versicherungsfremden Ausgaben belasten. Werte Kolleginnen und Kollegen von Schwarz-Rot, Ihre gestern im Bundestagsausschuss für Arbeit und Soziales präsentierten Lösungen für diese Aufgaben bleiben weit hinter unseren Erwartungen und auch den Ratschlägen der Sachverständigen zurück. ({4}) Sie erweisen sich leider selbst als lernbeeinträchtigt: Der Anhörung im Ausschuss konnten Sie ganz offensichtlich nicht in Gänze folgen; sonst wären Sie bei der Korrektur Ihres eigenen Gesetzentwurfs nicht auf halbem Wege stehen geblieben. Ich prophezeie Ihnen deshalb: Viele von Ihnen werden in dieser Verfassung die Versetzung in die nächste Legislatur wohl nicht schaffen. Es ist paradox: Die Regierung erwartet von den Betrieben und Unternehmen, dass diese mehr Ausbildungsplätze anbieten, insbesondere für schwer in Ausbildung vermittelbare Jugendliche. Aber wenn die Arbeitgeber in einer Bundestagsanhörung erläutern, wie eine Fördermaßnahme für die betroffene Gruppe aussehen sollte, gehen die Regierungsfraktionen über diese Anregung hinweg. Selbst der Deutsche Gewerkschaftsbund, der nicht gerade als treuer Gefährte der BDA bekannt ist, steht hier eng an der Seite der Arbeitgeber und hat vor der heutigen Debatte noch einmal eindringlich davor gewarnt, den Kreis der Förderberechtigten zu weit zu fassen. ({5}) Statt einer Gießkannenförderung brauchen wir ein Instrument, das eindeutig auf die schwächsten Jugendlichen ausgerichtet ist. Jede andere Lösung wird zur Rosinenpickerei durch die ausbildenden Unternehmen auf dem Markt förderberechtigter Jugendlicher führen. Die Koalition hat mit diesem Gesetzentwurf einige kleine Schritte in die richtige Richtung gemacht. Das erkennen wir ausdrücklich an. Sie haben aber nicht den Mut aufgebracht, einigen Jugendlichen zu sagen: Du hast es aus verschiedenen Gründen nicht leicht, kannst es aber dennoch aus eigener Kraft schaffen. Vor allem von den Kollegen der CSU und der CDU hätte ich hier mehr erwartet. Ihrem Ausbildungsbonus fehlt auch ein wichtiger Erfolgsanreiz. Wir von der FDP haben vorgeschlagen, die zweite Hälfte des Bonus erst dann auszuzahlen, wenn der Auszubildende die Abschlussprüfung absolviert hat. Ausdrücklich wollen wir Liberale die Förderung nicht an ein Bestehen der Prüfung knüpfen; aber es muss gewährleistet sein, dass die Ausbildung abgeschlossen wird. Gerade bei den förderbedürftigen Jugendlichen ist die Quote der Ausbildungsabbrecher sehr hoch. Wir müssen den Unternehmen hier also einen Anreiz bieten, ihre Schützlinge auch wirklich bis zum Ende bei der Stange zu halten. ({6}) Deshalb sollte die letzte Rate des Bonus erst dann ausgezahlt werden, wenn der Auszubildende die Abschlussprüfungen tatsächlich in Angriff genommen hat. Neben diesen inhaltlichen Mängeln ist es aber vor allem ein ordnungspolitischer Fauxpas, der uns Liberale zur Ablehnung dieses Gesetzentwurfs zwingt; ich habe schon darauf hingewiesen. Auch von zahlreichen Sachverständigen haben Sie von Schwarz-Rot sich nicht davon abbringen lassen, das Instrument aus Beitragsmitteln der Bundesagentur für Arbeit finanzieren zu wollen. Wir reden hier von Jugendlichen, die noch nie einen einzigen Cent in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt haben. Wir reden hier von Jugendlichen, die keine adäquaten Schulabschlüsse haben. Wir reden hier von Jugendlichen, die eine Lernbeeinträchtigung haben oder sozial benachteiligt sind. ({7}) Der Ausgleich all dieser Ausbildungshemmnisse ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, ({8}) muss also von allen gestemmt werden, nicht nur von den Beitragszahlern der Arbeitslosenversicherung. ({9}) Nicht nur der FDP, sondern auch der Mehrheit der Sachverständigen in der Anhörung ist schleierhaft, warum die Koalition hier die Kasse der Bundesagentur plündern will. Mit einem solchen Griff ins Portemonnaie der Beitragszahler nehmen Sie von Union und SPD dem Parlament weiteren Spielraum, den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung zu senken und damit den Faktor Arbeit insgesamt von den hohen Lohnnebenkosten zu entlasten. Die FDP hält bei der Arbeitslosenversicherung einen Beitragssatz von weniger als 3 Prozent für möglich. ({10}) Mit dem Gesetz zum Ausbildungsbonus steuert die Bundesregierung nun in die Gegenrichtung. Dies hätten wir gerne vermieden. Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag hat die Zeit zwischen erster und dritter Lesung für eine Umfrage genutzt. 12 000 Unternehmen haben online zum Thema Ausbildungsplätze abgestimmt. Die Ergebnisse der Umfrage dürften Sie von der großen sozialdemokratischen Koalition überrascht haben - für die FDP waren sie absehbar -: 85 Prozent der Unternehmen haben erklärt, dass der Ausbildungsbonus ihre Ausbildungspläne überhaupt nicht beeinflusst. Von den gerade einmal 5 Prozent der Betriebe, die mit dem Bonus einen neuen Ausbildungsplatz schaffen wollen, sind die meisten im Gastgewerbe und im Handel aktiv, also dort, wo ohnehin traditionell schlechter qualifizierte Bewerber ausgebildet, aber häufig nicht übernommen werden. Ich hatte heute Morgen selber einen Anruf von einem Unternehmer. Ich habe ihn direkt gefragt: Wie sieht’s aus? Wirst du mit diesem Instrument arbeiten? Antwort: Nein; ({11}) ich mache Ausbildungsplätze nur dann, wenn sie Aussicht auf Erfolg haben. ({12}) - Das war nicht repräsentativ. Ich konnte nur eine Stichprobe machen. Aber die Umfrage bei den 12 000 war repräsentativ. - Diese ernüchternde Aussage darf aber nicht als Destruktivität der Unternehmen bewertet werden. Klipp und klar haben die Unternehmen erklärt, welche Maßnahmen sie stattdessen von der Politik erwarten. Ganz oben steht dabei der Wunsch nach einer besseren schulischen Vorbildung der Bewerber. Fast zwei Drittel der Unternehmen haben Schwierigkeiten mit dem Bildungsstand der Jugendlichen. Hier liegt das eigentliche Problem: Zu viele Jugendliche verlassen die Schule ohne hinreichende Ausbildungsreife. Wer dieses Problem löst, meine Damen und Herren, braucht sich später keine Gedanken um Ausbildungsplätze und Fachkräftemangel zu machen. ({13}) Ich bringe die Position der FDP in einem Satz auf den Punkt: Die FDP lehnt den Griff in die Kasse der Arbeitslosenversicherung und damit der Beitragszahler ab und wird deshalb bei aller Sympathie für das Anliegen dem vorliegenden Gesetzentwurf nicht zustimmen. Vielen Dank. ({14})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Franz Romer für die CDU/CSUFraktion. ({0})

Franz Romer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001879, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir können mit dem nun vorliegenden Gesetzentwurf zum Ausbildungsbonus zufrieden sein. Damit werden wir den Sockel der Altbewerber zielsicher abbauen, ohne bestehende Ausbildungsplätze zu gefährden. ({0}) Wir werden einem großen Teil der sogenannten Altbewerber die Chance geben, einen Ausbildungsplatz zu finden und den Übergang von Schule zu Beruf zu schaffen. Damit geben wir ihnen vor allem die Möglichkeit, für ihr weiteres Leben Eigenverantwortung zu übernehmen. Kein anderer Faktor führt zwangsläufig so sicher zu Hartz IV und Arbeitslosigkeit wie eine fehlende Berufsausbildung. Es muss unser Ziel sein, jedem Schulabgänger eine Berufsausbildung zu ermöglichen. ({1}) Herr Kollege Rohde, jeder anschließend Beschäftigte leistet dann Beiträge zur Arbeitslosenversicherung ({2}) und bezahlt damit seinen Bonus über die Jahre wieder zurück. Deshalb ist die Finanzierung über die BA auch voll gerechtfertigt. ({3}) Wir alle wissen, dass die Anforderungen der Ausbildungsbetriebe heute sehr hoch sind. Letztlich braucht die Wirtschaft aber auch gut qualifizierte Arbeitskräfte. Mit dem Ausbildungsbonus und der Berufseinstiegsbegleitung vermitteln wir zwischen dem hohen Anspruch der Betriebe und den vorhandenen Fähigkeiten der Schulabgänger. Aus meinem Wahlkreis weiß ich, dass viele Jugendliche die Schule mit nur mittleren oder unterdurchschnittlichen Ergebnissen verlassen. Dann kommt es schnell zu Benachteiligungen bei der Ausbildungsplatzsuche. Das wird nun nicht mehr so leicht passieren. Ich will hier einen wichtigen Punkt ansprechen: Wir müssen sicherstellen, dass nur zusätzliche Ausbildungsplätze gefördert werden. Missbrauch muss verhindert werden. Das Gesetz trägt diesem Problem ausreichend Rechnung. Ein Ausbildungsplatz gilt nur dann als zusätzlich, wenn damit die durchschnittliche Zahl der Ausbildungsplätze der letzten drei Jahre überschritten wird. Bleibt die Zahl der Plätze konstant, wird nicht gefördert. Wir können gut mit den Kammern zusammenarbeiten, um Missbrauch grundsätzlich zu verhindern. Durch den Ausbildungsbonus hat kein Neubewerber schlechtere Chancen gegenüber Altbewerbern. Ich bin sehr froh darüber, dass wir mit diesem Gesetz gleichfalls die Berufseinstiegsbegleitung einführen sowie die vielen ehrenamtlichen Projekte und die Partnerschaften zwischen Betrieben und Schulen unterstützen. Eine konsequente Begleitung bei der Berufswahl, beim Übergang von Schule zu Beruf und zu Beginn der Ausbildung ist besonders für Jugendliche mit mittleren und schlechteren Schulabschlüssen wichtig. ({4}) Mit Beendigung der Schule können sich junge Menschen erstmals nach ihren Fähigkeiten und Leistungen frei für einen Beruf entscheiden. Hier müssen wir im Bedarfsfall in der Lage sein, zu helfen. Dafür schaffen wir nun die Grundlage. In diesem Zusammenhang möchte ich noch einmal betonen, dass wir auch eine Förderung von Zweitausbildungen mit dem Ausbildungsbonus als Ermessensleistung zulassen. Damit kann gerade denjenigen, die während der Ausbildung Probleme hatten, eine neue, zusätzliche Chance gegeben werden, einen passenden Ausbildungsplatz zu finden. Wir können es uns nicht leisten, dass motivierte Auszubildende wegen des Abbruchs einer Ausbildung, die ihren Fähigkeiten und Interessen vielleicht nicht entsprach, ihr Leben lang benachteiligt sind. Die Anhörung zum Gesetzentwurf hat gezeigt, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Die Experten haben das Vorhaben der Koalition begrüßt. Kritisiert wurden aber einzelne Punkte, wie die breite Zielgruppe der Förderung sowie die fehlende Vereinbarkeit von Einstiegsqualifizierung und Förderung. Hier haben wir nachgebessert. ({5}) Das Gesetz sieht nun vor, dass der Ausbildungsbonus für Auszubildende mit mittlerem Schulabschluss nur noch als Ermessensleistung gewährt wird und kein direkter Anspruch auf diese Leistung besteht. Auch bei der Einstiegsqualifizierung beim selben Arbeitgeber gibt es nun eine Anrechnungslösung. Die Auszahlungsbedingungen sind ebenfalls angepasst worden. Nun wird der Bonus zur einen Hälfte nach Ablauf der Probezeit und zur anderen Hälfte nach Anmeldung zur Abschlussprüfung ausgezahlt. So erreichen wir, dass abgebrochene Ausbildungsverhältnisse nicht weiter gefördert werden und für beide Seiten Anreize bestehen, eine Ausbildung auch zu Ende zu führen. Ich bin mit der gefundenen Lösung sehr zufrieden. Der Anteil von mehr als 50 Prozent Altbewerbern ist auf Dauer nicht vertretbar, ({6}) wenn wir international wettbewerbsfähig bleiben wollen. In Deutschland können wir kaum noch rentable Arbeitsplätze halten, die ohne eine hochwertige Ausbildung auszufüllen sind. Also helfen wir nicht nur den Jugendlichen in ihrer individuellen Entwicklung, sondern auch den Betrieben. Für die Zukunft ersparen wir der Allgemeinheit die hohen Kosten der Arbeitslosigkeit und sichern zusätzlich qualifizierte Arbeitskräfte für unsere Wirtschaft. Ich bin überzeugt, dass die Einführung des Ausbildungsbonus günstiger und effizienter sein wird, als eine große Zahl von Bewerbern außerbetrieblich auszubilden. Herzlichen Dank. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Cornelia Hirsch, Fraktion Die Linke. ({0})

Cornelia Hirsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003770, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer ausbildet, soll unterstützt werden; wer nicht ausbildet, soll zahlen. Das ist das ebenso einfache wie gerechte Prinzip einer gesetzlichen Ausbildungsplatzumlage. ({0}) Gerecht ist dieses Prinzip gleich doppelt: Erstens, weil es einen Ausgleich schafft zwischen den Unternehmen, die ausbilden, und den Unternehmen, die nicht ausbilden. Ein Unternehmen, das nicht ausbildet, kann dann nämlich nicht mehr, ohne irgendwelche Konsequenzen befürchten zu müssen, dem Unternehmen, das ausbildet, die fertig ausgebildeten Fachkräfte wegschnappen. ({1}) Gerecht ist es zweitens, weil es Zukunft für die Jugendlichen sichert. Es kann nämlich gesetzlich dafür gesorgt werden, dass es ein auswahlfähiges, also ein ausreichendes Angebot an Ausbildungsplätzen für alle Jugendlichen gibt. Deshalb sagt die Linke weiterhin: Die Forderung nach einer gesetzlichen Ausbildungsplatzumlage ist nicht vom Tisch. Daran halten wir weiter fest. ({2}) Sie legen uns heute den Ausbildungsbonus vor. Dieser Bonus folgt leider geradewegs dem entgegengesetzten Prinzip; er ist gleich doppelt ungerecht. Erstens ist er ungerecht, weil er die Unternehmen für ihre jahrelange Ausbildungsverweigerung auch noch belohnt. ({3}) Man kann sich ein konkretes Beispiel anschauen: Ein Unternehmen hatte letztes Jahr die Bewerbung eines Hauptschülers vorliegen. Aber da es einen Ausbildungsplatz wegrationalisiert hatte, konnte er in dem Jahr nicht ausgebildet werden. In diesem Jahr bekommt das Unternehmen eine erneute Bewerbung des Jugendlichen und stellt ihn ein. Dafür bekommt es von Ihnen auch noch eine Prämie zwischen 4 000 und 6 000 Euro überwiesen. ({4}) Da fragen wir uns: Ist es in irgendeiner Form gerecht, ein Unternehmen dafür zu belohnen, dass es einen Jugendlichen ein Jahr einfach so im Regen hat stehen lassen? Das finden wir nicht richtig. Ausbildung ist keine Wohltätigkeit von Unternehmen; Ausbildung ist Pflicht. ({5}) Zweitens ist der Ausbildungsbonus ungerecht, weil er keine nachhaltige Zukunftsperspektive für die Jugendlichen bietet. Denn mit diesem Gesetz tun Sie mal wieder nichts weiter, als an den Symptomen herumzudoktern, anstatt endlich einmal die Ursachen für die Ausbildungsmisere anzugehen. ({6}) Im aktuellen Berufsbildungsbericht steht die erschreckend hohe Zahl von 385 000 Jugendlichen, die mindes17540 tens - zum Teil deutlich länger - ein Jahr auf der Suche nach einem Ausbildungsplatz sind. Diese erschreckend hohe Zahl von 385 000 Jugendlichen ist kein Zufall oder hat ihre Ursache in der Dummheit der Betroffenen, sondern sie ist das konkrete Ergebnis der Ausbildungspolitik der letzten Jahre. ({7}) Deswegen kann es nicht heißen: Wir machen einfach weiter mit dem Pakt. - Denn dieser Pakt ist gescheitert; er ist für diese hohe Zahl von Jugendlichen ohne Ausbildungsplatz verantwortlich. Man kann auch nicht nach dem Motto „Weiter so!“ fortfahren, nichts gegen die Warteschleifen zu unternehmen. Denn Jugendliche brauchen Ausbildungsplätze. ({8}) Es gibt natürlich noch eine zweite Lesart für diesen Ausbildungsbonus. Man kann ihn auch als ein Förderinstrument verstehen. Zumindest versuchen Sie, dies deutlich zu machen; denn schließlich trägt der Gesetzentwurf den Titel „Verbesserung der Ausbildungschancen förderungsbedürftiger junger Menschen“. Das Problem daran ist nur, dass diese Förderung zwar im Titel enthalten ist, aber der Inhalt des Gesetzes dies nicht widerspiegelt. Wiederum ganz konkret: Wenn Ihre Zielgruppe wirklich die Jugendlichen sind, die förderungsbedürftig sind und die demnach einer Unterstützung bedürfen, dann frage ich Sie: Was ist das für eine Unterstützung dieser Jugendlichen, wenn Sie ein paar Tausender an ihre Arbeitgeber überweisen? Das ist keine Unterstützung. Darum halten wir diesen Ansatz als Förderungsinstrument für nicht schlüssig. ({9}) Wenn Sie den Ausbildungsbonus tatsächlich zu einem Förderinstrument hätten ausbauen wollen, dann hätten Sie besser auf die Meinung der Sachverständigen in der Anhörung hören müssen. Das hätte bedeutet: Erstens. Die Zielgruppe wäre deutlicher eingegrenzt, als Sie es tun. Der einzige Punkt, an dem Sie nachgebessert haben, war, die Realschüler aus der Pflicht- in die Ermessensleistung zu nehmen, was aus unserer Sicht in keinem Fall ausreichend ist. ({10}) Zweitens. Sie hätten ausbildungsbegleitende Hilfen ganz klar als verbindlichen Anspruch im Gesetz verankern müssen. Ansonsten klappt es eben nicht, dass der Jugendliche, der in dieses Programm gesteckt wird, auch wirklich die Hilfe erhält, die er braucht. ({11}) Drittens. Sie hätten auch klarstellen müssen, dass für eine zweijährige Ausbildung nicht die gleiche Prämie gezahlt wird wie für eine dreijährige Ausbildung, wie es bisher geregelt ist. Damit wird eine Schmalspurausbildung gefördert. Auch an dieser Stelle macht die Linke nicht mit. ({12}) Aus all diesen Gründen halten wir den Ausbildungsbonus für kein taugliches Förderinstrument. Wir sagen Nein zu diesem ungerechten Ansatz und stehen weiter für das Recht auf Ausbildung, wie es auch in der Petition von über 70 000 Jugendlichen gefordert wurde. ({13}) Diese Woche war sehr ermutigend; denn sie hat gezeigt, dass solche Forderungen durchaus Erfolg haben können. Schauen wir uns die Situation in Hessen an. Die Studierenden haben dort nicht hingenommen, dass Studiengebühren eingeführt wurden. ({14}) Sie haben dagegen protestiert, Autobahnen blockiert und Rektorate besetzt. Das Ergebnis ist, dass der Landtag in Hessen vorgestern mit Mehrheit beschlossen hat, die Studiengebühren wieder abzuschaffen. ({15}) Dazu sagen wir Linke: Was an den Hochschulen klappen kann, das ist im Bereich der Ausbildung ebenfalls möglich. Auch hier muss man für das Recht auf Ausbildung weiterkämpfen. Das heißt in einem ersten Schritt: Nein zu diesem ungerechten Bonus, weg mit dem gescheiterten Pakt und her mit einer gesetzlichen Ausbildungsplatzumlage! Besten Dank. ({16})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Brigitte Pothmer, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Brigitte Pothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003823, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! 100 000 Stellen durch die Jobperspektive, 100 000 Stellen durch den Kommunalkombi, sogar mehr als 100 000 Stellen für junge Menschen mit und ohne Ausbildung - so weit die vollmundigen Ankündigungen. Die Wirklichkeit: Diese drei Programme sind Megaflops. ({0}) Das war zuletzt im Spiegel dieser Woche zu lesen. Die Große Koalition liebt offensichtlich das Gesetz der großen Zahl und kommt jetzt mit dem Versprechen daher, 100 000 zusätzliche Ausbildungsplätze - ich betone: zusätzliche - durch die Gewährung eines Ausbildungsbonus zu schaffen. Ich sage Ihnen: Das wird der nächste Flop. Herr Romer, Sie haben hier deutlich gesagt, es gehe um Zusätzlichkeit. Jetzt will ich Ihnen einmal sagen, was das Bundesinstitut für Berufsbildung errechnet hat: ({1}) Nach den Kriterien, die jetzt in Ihrem Gesetzentwurf stehen, würden bis auf den öffentlichen Dienst alle Wirtschaftsbereiche bei der gleichen Zahl von Neuverträgen wie 2007 eine Förderung bekommen. Wo bleibt da die Zusätzlichkeit? Es ist sogar noch schlimmer, Herr Romer: Es ist sogar möglich, dass mit Ihrem Bonus Unternehmen gefördert werden, die weniger Ausbildungsplätze zur Verfügung stellen als 2007. Sie müssten einmal denjenigen Betrieben, die in der Vergangenheit ihre Ausbildungsverpflichtung trotz wirtschaftlich schwieriger Lage und ohne jede finanzielle Förderung ernst genommen und bis Oberkante Unterlippe ausgebildet haben und jetzt nicht mehr nachlegen können, erklären, warum sie bei Ihrem Ausbildungsbonus leer ausgehen. Sie arbeiten nach dem Prinzip: Die Ehrlichen sind die Dummen. ({2}) Das können Sie niemandem erklären. Dieses Konzept ist eine krasse Fehlsubventionierung. Dieses Konzept ist im Übrigen Schmu, weil Sie Ausbildungsplätze als zusätzlich zählen werden, die keineswegs zusätzlich sind. ({3}) Was mich am meisten quält, ist: Das ist das falsche Konzept, zumindest für diejenigen, für die Sie vorgeben etwas tun zu wollen und die auch tatsächlich die meiste Unterstützung brauchen. ({4}) Das sind ja nicht einfach Jugendliche, die aufgrund der Tatsache, dass es wenige Ausbildungsplätze gab, keinen Ausbildungsplatz bekommen haben. Das ist doch eine Gruppe, die nicht nur eine mangelnde schulische Bildung mitbringt, sondern die auch sonst eine ganze Reihe von Problemen mit sich herumschleppt. Ich spreche von mangelndem Durchhaltevermögen, von einer geringen Frustrationsschwelle und von mangelnden sozialen Kompetenzen. ({5}) An diesen geht der Ausbildungsplatzbonus doch komplett vorbei. Oder glauben Sie wirklich, dass Sie die Arbeitgeber mit ein paar Tausend Euro Schmerzensgeld davon überzeugen können, solchen Jugendlichen einen Ausbildungsplatz zu geben? ({6}) Die Arbeitgeber wissen doch ganz genau, dass diese Jugendlichen ganz andere Hilfen brauchen; auch das ist in der Anhörung deutlich geworden. ({7}) Liebe Frau Nahles, Sie haben in Ihrer Presseerklärung zur Entscheidung gestern im Ausschuss gesagt - ich lese Ihre Presseerklärungen sehr aufmerksam -, die Umsetzung dieses Ausbildungsplatzbonus sei die Einlösung eines Kernversprechens sozialdemokratischer Politik: ({8}) Aufstieg durch Bildung. - Mein Gott, wie bescheiden Sie geworden sind! ({9}) Ich kann mich an Zeiten erinnern, da waren die Sozialdemokraten in der Tat ambitionierter in dem, was sie in dieser Gesellschaft verändern wollen. ({10}) Frau Nahles, Sie haben gesagt, dass der von Olaf Scholz angekündigte Rechtsanspruch auf einen Hauptschulabschluss Teil eines Gesamtkonzeptes sei, der einen „Aufstieg durch Bildung“ garantieren würde. Ich will Ihnen einmal sagen, was es mit diesem Rechtsanspruch auf sich hat. Die jungen Menschen können diesen Rechtsanspruch nur im Rahmen einer Maßnahme geltend machen. Sie müssen vorher Warteschleifen durchlaufen haben, also Berufsvorbereitungsjahr oder Berufsgrundbildungsjahr. Außerdem können sie den Hauptschulabschluss nur dann machen, wenn vorher klar ist, dass sie ihn auch schaffen. ({11}) Es wird leichter sein, einen Sechser im Lotto zu bekommen, als dieses Versprechen zu realisieren. ({12}) Bis jetzt war es im Rahmen von § 16 Abs. 2 SGB II ganz leicht möglich, einen Hauptschulabschluss nachzumachen. Dieses gute Instrument haben Sie gestrichen. Sie sollten es wieder in Kraft setzen. Damit würden Sie wirklich etwas für die Jugendlichen tun. ({13}) Ganz grundsätzlich gilt: Wenn Sie für die Jugendlichen etwas tun wollen, dann sollten Sie nicht die Betriebe, sondern die Jugendlichen unterstützen. Das geht am besten mit den ausbildungsbegleitenden Hilfen. Zunächst einmal müssten Sie die 3,5 Milliarden Euro, die jährlich in dieses Übergangssystem fließen, mit dem den Jugendlichen in keiner Weise geholfen wird, zum Umbau nutzen. Ich spreche von Modulen, die Teil einer insgesamt modularisierten Ausbildung sein sollten. Sie werden die Situation für die Altbewerber nur dann ernsthaft verbessern, wenn Sie strukturelle Veränderungen vornehmen. ({14}) All das finden wir aber nicht in Ihrem Programm. Es geht wirklich nicht, dass das Recht auf eine Ausbildung für Jugendliche davon abhängt, ob das Konjunkturbarometer gerade steigt oder fällt. Der Ausbildungsbonus hilft denen nicht, die ihn am dringendsten brauchen. Der Ausbildungsbonus bewirkt erhebliche Mitnahmeeffekte. Bezahlt - da hat die FDP recht - wird er ausschließlich durch die Beitragszahler. Ich finde, das sind drei von sehr vielen Gründen, die hinreichend dafür sind, dass dieser Ausbildungsbonus jedenfalls von uns abgelehnt wird. Ich danke Ihnen. ({15})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Christel Humme für die SPD-Fraktion. ({0})

Christel Humme (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003155, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Wenn wir gleich das Gesetz zum Ausbildungsbonus verabschieden, dann haben wir uns ganz klar an die Seite der jungen Menschen gestellt. ({0}) Wir fördern mit dem Ausbildungsbonus Bildungsabschlüsse, keine Warteschleifen. Das ist in der Tat gerechter - das sage ich in alle Richtungen - als dogmatisches Nichtstun. ({1}) Zugegeben: Das parlamentarische Verfahren war recht zäh und mühselig. Für junge Menschen, die sich um ihre Zukunftschancen betrogen sehen, ist das sicherlich völlig unverständlich. Worum geht es? 22 Prozent der Menschen zwischen 25 und 35 Jahren sind heute ohne einen beruflichen Bildungsabschluss. ({2}) 22 Prozent sind fast ein Viertel dieser Altersgruppe. Für eine Wirtschaftsnation, wie wir es sind, halte ich das, gelinde gesagt, für einen Skandal. ({3}) Was bedeutet das - darauf haben schon viele hingewiesen - für die jungen Menschen? Sie haben weniger Chancen auf eine gute Arbeit und existenzsichernde Löhne. Sie haben weniger Chancen auf Teilhabe. Sie haben weniger Chancen auf Unabhängigkeit und individuelle Persönlichkeitsentfaltung. Darüber hinaus haben sie ein höheres Risiko, arbeitslos zu werden, und ein deutlich höheres Risiko, in die Abhängigkeit von staatlichen Transferleistungen zu geraten. Genau das ist jetzt die Situation. Deshalb müssen wir alle Anstrengungen unternehmen, die Zahl junger Menschen, die heute ohne Abschluss sind, zu verringern. ({4}) Für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ist klar: Wir wollen Ausbildung für alle. Alle haben das Recht auf Ausbildung. In den letzten Jahren sind wir diesem Ziel etwas nähergekommen. ({5}) Wir hatten 2007 eine relativ gute Ausbildungssituation. 2007 - der Staatssekretär hat das bereits erwähnt - war eines der besten Ausbildungsjahre, und 2008 wird ebenfalls ein gutes Ausbildungsjahr werden. In jüngster Zeit war zum Teil nicht mehr von einer Lehrstellenlücke, sondern von einer Bewerberlücke die Rede. Ich möchte die Diskutanten bitten, etwas ehrlicher zu sein, wenn sie die Analyse des Ausbildungsmarktes betreiben. ({6}) - Es wäre gut, wenn Sie ein bisschen weniger schreien könnten. - Fakt ist: Es gelingt nach wie vor nur jedem zweiten Jugendlichen, direkt nach der Schule einen Ausbildungsplatz zu finden. Es landen noch immer viele Jugendliche in sinnlosen Warteschleifen, Herr Rohde. ({7}) Die Hälfte derjenigen, die einen Ausbildungsplatz suchen, ist seit einem Jahr oder länger vergeblich auf der Suche. 625 000 Ausbildungsplätze geben zwar ein gutes Bild ab, aber das sind trotzdem weit mehr als 100 000 zu wenig. Ich finde, hier steht die Wirtschaft in der Verantwortung; denn bedauerlicherweise bildet nur die Hälfte der ausbildungsfähigen Betriebe aus. Da ist richtig viel Potenzial vorhanden. Auch das gehört zu einer ehrlichen Analyse. Wir in der Großen Koalition haben uns gefragt, wie wir den jungen Menschen, die vor diesem Problem stehen, besser unter die Arme greifen können. Ich sehe viele junge Menschen auf der Tribüne sitzen. Niemand kann ernsthaft glauben, dass der Streit, den wir hier über die Finanzierung führen, einen Jugendlichen interessiert. ({8}) Wir haben es geschafft, ein - so nenne ich es einmal Chancenverbesserungspaket zu schnüren. Wir schlagen zwei Fliegen mit einer Klappe: Erstens unterstützen wir die benachteiligten Jugendlichen, die schon länger einen Ausbildungsplatz suchen, mit einem Ausbildungsbonus, und zweitens haben wir mit der Berufseinstiegsbegleitung ein Instrument geschaffen - das ist sehr wichtig -, mit dem wir Schulabgängern unter die Arme greifen können. Die Jugendlichen sollen nach der Schule direkt eine Ausbildung aufnehmen können und gar nicht erst zu Altbewerbern werden. ({9}) Ich möchte einen letzten Punkt ansprechen. Aus bildungspolitischer Sicht habe ich eine Debatte der letzten Wochen überhaupt nicht verstanden: Es wurde immer wieder gefragt, welche Jugendlichen gefördert werden sollen. Viele Politiker hatten das Ziel, diese Gruppe so klein wie möglich zu halten. Ich habe immer wieder versucht, mir vorzustellen, wie diese Debatte, die wir geführt haben, auf den einzelnen Jugendlichen wirken muss. Was sagen wir ihm? Wenn sich diejenigen, die vorhatten, die Gruppe kleinzuhalten, durchgesetzt hätten, dann hätte zum Beispiel eine 19-jährige Arbeitslose mit Hauptschulabschluss, die seit drei Jahren vergeblich einen Ausbildungsplatz sucht, gar keine Förderung erhalten. Was hätten wir dieser Frau sagen sollen? Ich kann dazu nur sagen: Für diese Zielgruppendiskussion, die wir auch mit den Gewerkschaften führen mussten, werden die Jugendlichen kein Verständnis aufbringen. Dafür wiederum habe ich Verständnis. ({10}) Ich bin sehr froh, dass es uns gelungen ist, dieses Paket im Sinne der Jugendlichen zu schnüren. Die Entscheidung, die wir gleich treffen werden, ist mehr als die Verabschiedung eines Gesetzes. Das ist eine Botschaft an die jungen Menschen. Sie lautet: Wir nehmen euch und eure Sorgen ernst. Wir tun nicht so, als gäbe es eure Probleme nicht. Wir wollen und wir brauchen euch in der Gesellschaft. Deswegen lassen wir euch nicht im Regen stehen. - Ich danke allen, die das ermöglicht haben. Herzlichen Dank. ({11})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Stefan Müller, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Stefan Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003597, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine erfolgreiche Berufsausbildung ist der Schlüssel für ein erfolgreiches berufliches Leben, weil sie Sicherheit bietet und die Möglichkeit gibt, das eigene Leben selbstbestimmt und selbstbewusst zu gestalten und zu bestreiten. Ich finde, wir können froh sein über die Erfolge, die wir in den letzten Jahren haben zur Kenntnis nehmen dürfen. Der starke Wirtschaftsaufschwung und die erfolgreiche Arbeitsmarktpolitik dieser Großen Koalition haben zum größten Rückgang der Arbeitslosigkeit und zu einer Zunahme der Beschäftigung geführt. ({0}) Es hat auch dazu geführt, dass die Ausbildungszahlen in unserem Land deutlich besser geworden sind. ({1}) Die Arbeitsmarktzahlen für den Mai dieses Jahres belegen das. Es gibt 61 000 Arbeitslose unter 25 Jahren weniger als im Mai 2007. Zwischen dem 1. Oktober 2006 und dem 30. September 2007 wurden insgesamt 625 000 neue Ausbildungsverträge abgeschlossen. Das sind fast 50 000 Ausbildungsverträge mehr als im Vorjahr. Das zeigt, dass unser duales Ausbildungssystem funktioniert. Ich wehre mich dagegen, dass es auch in diesem Haus Kolleginnen und Kollegen gibt, die das duale Ausbildungssystem immer wieder infrage stellen. Es funktioniert; das belegen die Zahlen. ({2}) Es gibt erstmals seit dem Jahr 2001 über 600 000 neue Ausbildungsverträge. Das sind Zahlen, über die man sich, wie ich finde, zu Recht freuen kann. ({3}) Das alles ist Ergebnis der Politik dieser Großen Koalition. Bei aller Freude über diese Zahlen muss ich dennoch sagen: Es gibt immer noch zu viele, die nicht profitieren, die ohne Erfolg Hunderte Bewerbungen schreiben und das Gefühl haben, nicht gebraucht zu werden. Das sind vor allem diejenigen, die lernbeeinträchtigt sind, die aus einem schwierigen sozialen Umfeld kommen und als sozial benachteiligt gelten. Genau für diese Jugendlichen, die sich in den vergangenen Jahren vergeblich bemüht haben, eine Lehrstelle zu finden, schaffen wir mit dem Ausbildungsbonus das richtige Instrument, um ihnen zielgenau zu helfen. ({4}) Wir wollen ihnen damit eine Chance auf eine Ausbildung, eine Beschäftigung und auf ein selbstbestimmtes Stefan Müller ({5}) Leben geben. Nur wer gut ausgebildet ist, hat dauerhaft eine berufliche Perspektive. Genau da wollen wir heute ansetzen. ({6}) Ziel einer erfolgreichen Arbeitsmarktpolitik muss sein, möglichst frühzeitig denen unter die Arme zu greifen, die unsere Hilfe brauchen. Das zeichnet unser Sozialsystem aus. Wir alle wissen: Je länger die Wartezeit ist, bis junge Leute einen Ausbildungsplatz bekommen, und je länger die Verweildauer in der Arbeitslosigkeit ist, desto schwieriger wird die Integration in ein reguläres Arbeitsleben und desto höher sind auch die Folgekosten für unsere Sozialsysteme. Wir tun gut daran, uns mit diesem neuen Instrument um die zu kümmern, die es besonders schwer haben. Ziel des Ausbildungsbonus ist es, zusätzliche - ich betone: zusätzliche - Ausbildungsstellen zu schaffen, ({7}) und zwar vor allem für diejenigen, die bisher noch nicht vom Aufschwung profitiert haben, die als lernschwach gelten oder sozial benachteiligt sind. ({8}) Frau Pothmer, da Sie hier immer das Kriterium der Zusätzlichkeit anführen - gestern im Ausschuss haben Sie das auch getan -, will ich es wiederholen: Die Ausbildung erfolgt zusätzlich, wenn bei Ausbildungsbeginn die Zahl der Ausbildungsverhältnisse … in dem Betrieb aufgrund des mit dem Auszubildenden abgeschlossenen Ausbildungsvertrages höher ist, als sie es im Durchschnitt der drei vorhergehenden Jahre jeweils am 31. Dezember war. Ich habe aus dem Gesetzentwurf vorgelesen; das hätten Sie dort nachlesen können. ({9}) Natürlich lassen sich Mitnahmeeffekte nie ausschließen, wenn es direkte finanzielle Leistungen an Unternehmen gibt. ({10}) Ich glaube aber, dass wir dem mit der Definition der Zusätzlichkeit, so wie sie im Gesetzentwurf steht, und auch aufgrund der Tatsache, dass die Industrie- und Handelskammern und die Handwerkskammern die Zusätzlichkeit bescheinigen müssen, Rechnung getragen haben und Mitnahmeeffekte weitgehend ausschließen können. ({11}) Ein weiteres Thema im Zusammenhang mit Mitnahmeeffekten ist die Frage des förderfähigen Personenkreises. Ich gebe zu, Herr Kollege Rohde, man hätte an der einen oder anderen Stelle sicherlich noch mehr machen können; ich kenne die Stellungnahmen. Wie auch immer: Wir haben Vorschläge der Sozialpartner in unsere Änderungsanträge aufgenommen, zum Beispiel hinsichtlich der Eingrenzung des förderfähigen Personenkreises und auch hinsichtlich der Möglichkeit, EQJPraktikanten im gleichen Betrieb zu fördern. Ich bin mir sicher, dass wir durch die jetzige Definition des förderfähigen Personenkreises Mitnahmeeffekte ausschließen können, jedenfalls mehr als durch den alten Wortlaut des Gesetzentwurfes. Herr Rohde, ich möchte gerne auf einen Punkt eingehen, den Sie angesprochen haben. Sie haben von einem Telefonat berichtet, das Sie heute mit einem Unternehmer geführt haben. Diesen Unternehmer haben Sie gefragt, ob er zusätzlich ausbilden würde. Er hat dies verneint. Gut, es gibt immer Unternehmen, die es für sich - aus welchen Gründen auch immer - ausschließen, mehr auszubilden. Ich darf Ihnen trotzdem etwas aus der heutigen Frankfurter Allgemeinen Zeitung vorlesen. Dort wird unter anderem über die heutige Beratung über den Ausbildungsbonus berichtet, jedoch auch von einer Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach im Auftrag der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft. Dort heißt es: Annähernd zwei Drittel der Unternehmer befürworten jedoch, dass Betriebe einmalige Zuschüsse erhalten, wenn sie Ausbildungs- oder Arbeitsplätze für gering qualifizierte Jugendliche schafften. Damit unterstützen sie die von der großen Koalition geplante Einführung eines Ausbildungsbonus. So ist es, liebe Kollegen von der FDP. Wir haben im Grundsatz die Zustimmung für diesen Ausbildungsbonus. Ich finde, das muss einmal gesagt werden. Sie täten gut daran, das zuzugeben. ({12}) Frau Pothmer, Sie haben vorhin an dieser Stelle sehr viel kritisiert. Sie haben alles Mögliche genannt, was man ansprechen könnte. Man kann ja in der Sache unterschiedlicher Meinung sein. Ich habe von Ihnen aber keine Alternativen gehört. ({13}) Die FDP hat sich zumindest die Mühe gemacht, einen eigenen Änderungsantrag vorzulegen. ({14}) - Herr Kollege Rohde, wenn Sie noch einen Moment warten, können Sie Ihre Zwischenfragen gebündelt loswerden; denn ich komme noch zu Ihnen. - Im Änderungsantrag der FDP heißt es, der Ausbildungsbonus solle nicht aus Mitteln der Bundesagentur für Arbeit, sondern aus Steuermitteln finanziert werden. Sie haben das schon oft im Ausschuss gesagt. ({15}) Stefan Müller ({16}) Ich habe Ihnen schon gestern im Ausschuss die Frage gestellt: Wenn Sie der Auffassung sind, dass gesamtgesellschaftliche Aufgaben über Steuern finanziert werden müssten, dann frage ich mich, warum Sie dies nur auf den Ausbildungsbonus beziehen. Wenn Sie konsequent wären, dann würden Sie sich hier hinstellen und sagen, alle Leistungen zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit müssten aus Steuermitteln bezahlt werden und nicht wie heute aus der Arbeitslosenversicherung. Damit wären alle berufsvorbereitenden Maßnahmen, alle Maßnahmen der vertieften Berufsorientierung und vieles andere mehr eingeschlossen. Sie haben gerade davon gesprochen, dass wir über die Beitragszahler etwas für Jugendliche finanzieren, die noch nie etwas in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt haben. Das würde auch für alles andere gelten, was die Bundesagentur in diesem Bereich macht. Wir reden hier über eine Größenordnung von 1 Milliarde Euro. ({17}) Ich frage Sie: Wären Sie so konsequent, zu sagen, dass bei uns in Erlangen zum Beispiel das Projekt „Straße ins Leben“, das zur Hälfte aus Mitteln der Bundesagentur finanziert wird, ebenfalls nicht mehr durch die Bundesagentur unterstützt werden kann?

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, gestatten Sie jetzt die Zwischenfrage?

Stefan Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003597, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte, Herr Rohde.

Jörg Rohde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003831, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Herr Kollege Müller. Es ist zwar eher üblich, dass das Plenum Fragen an den Redner stellt, aber ich komme gerne auf Ihre Fragen zurück. Fangen wir mit dem letzten Punkt an, mit dem Projekt „Straße ins Leben“. Wir haben die Möglichkeit, die Steuermittel gezielt einzusetzen. Wir als FDP sagen, dass wir alle versicherungsfremden Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung herausnehmen wollen, um den Beitragssatz für die Beitragszahler so gering wie möglich zu halten und mehr Jobs in Deutschland zu generieren. Das ist die Zielrichtung. Wir haben gestern im Ausschuss schon mit der Diskussion darüber begonnen. Wir sind gerne bereit, noch in dieser Legislaturperiode gemeinsam mit Ihnen eine Initiative durchzuführen. Wir sind nicht nur konsequent; wir sind auch pragmatisch. Wir befinden uns leider gerade in der Rolle der Opposition. Aber den Vorschlag, versicherungsfremde Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung herauszunehmen, können wir gerne gemeinsam umsetzen. Ich möchte noch auf die FAZ zurückkommen. Es muss dort mehrere Redakteure geben; denn eine Überschrift lautet: Umfrage des DIHK „Der Ausbildungsbonus ist Geldverschwendung“. ({0}) So weit gehen wir mit unserer Kritik gar nicht. Wir wenden uns nur dagegen, dass Beitragsmittel verwendet werden. Wir haben eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Niemand bestreitet, dass es Altbewerber gibt und dass man deshalb Maßnahmen ergreifen sollte. Wir streiten um den Weg, und das ist eine gute Sache. Herr Müller, stimmen Sie mit mir darin überein, dass die FDP wie Sie etwas für diese Zielgruppe tun möchte, dass wir uns nur im Weg unterscheiden? ({1})

Stefan Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003597, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Rohde, zunächst zum FAZ-Artikel. Ich gebe Ihnen gleich den Artikel, den ich habe; ({0}) dann können Sie das nachlesen. ({1}) Bei dieser Gelegenheit fällt mir ein: Herrn Kolb habe ich versprochen, ihm das Steuerkonzept der CSU nachzureichen; auch das werde ich noch tun. ({2}) Herr Rohde, ich habe mir Ihr Steuerkonzept bereits angeschaut; leider habe ich keine Zeit mehr, es inhaltlich zu bewerten, so gern ich das auch tun würde. Auf Ihrem Parteitag am vergangenen Wochenende in München haben Sie ein Steuerkonzept beschlossen ({3}) und sogar von Gegenfinanzierungsvorschlägen gesprochen. Gegenfinanzierungsvorschläge kann ich in Ihrem Konzept allerdings nicht finden. Das, was dort zum Thema Gegenfinanzierung steht, ist wirklich halb virtuell. ({4}) Ich lasse Ihnen nicht durchgehen, dass Sie den Menschen einerseits in Aussicht stellen, die Steuern zu senken - allerdings ohne Gegenfinanzierungsvorschläge zu machen -, ({5}) und andererseits zu fordern, dass alles Mögliche über Steuermittel finanziert wird. So geht das nicht. ({6}) Ich bin davon überzeugt, dass wir mit dem Ausbildungsbonus das richtige Instrument entwickelt haben, um endlich auch denen eine Chance zu geben, die vom Aufschwung am Arbeitsmarkt noch nicht profitiert haben. Um diese Menschen müssen wir uns dringend küm17546 Stefan Müller ({7}) mern. Ich lade Sie ein, uns auf diesem Weg zu unterstützen. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Katja Mast für die SPD-Fraktion.

Katja Mast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003804, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Heute ist ein guter Tag für vorsorgende Arbeitsmarktpolitik. ({0}) Heute ist Chancentag im Bundestag. Es ist Chancentag, weil wir den Weg für 100 000 zusätzliche Ausbildungsplätze in den Betrieben freimachen. ({1}) Es ist Chancentag, weil wir uns um die Jugendlichen kümmern, die seit über einem Jahr vergeblich eine Lehrstelle suchen, um die Jugendlichen, die täglich eine Absage im Briefkasten haben, in Warteschleifen verharren und so langsam den Glauben verlieren, dass sie in unserem Land gebraucht werden. ({2}) Es ist Chancentag, weil wir ihnen mit dem Ausbildungsbonus für Altbewerber eine Perspektive geben. Wir lassen sie nicht allein. Aber auch die Betriebe wissen uns an ihrer Seite. Wer zusätzlich einen Altbewerber ausbildet, kann damit rechnen, den Bonus für Ausbildung, der zwischen 4 000 und 6 000 Euro beträgt, zu erhalten. Die Bundesagentur für Arbeit geht noch einen Schritt weiter. Wo notwendig, bietet sie sozialpädagogische Begleitung in Form von ausbildungsbegleitenden Hilfen an. Denn nur beides gemeinsam, der Bonus für Ausbildung und sozialpädagogische Begleitung, wird dazu führen, dass eine Ausbildung erfolgreich abgeschlossen wird. ({3}) Das zeigen uns die Erfahrungen aus der Praxis, so auch in meiner Heimatstadt Pforzheim und im Enzkreis, wo es einen solchen Bonus schon gibt. Ich erinnere nur an Aishe - ich habe dieses Beispiel in meiner letzten Rede erwähnt -, die nach 80 Absagen schon geglaubt hatte, keinen Ausbildungsplatz mehr zu finden. Durch den Bonus der Bundesagentur und die Hilfe eines Jobcoachs, der ihr über die gesamte Ausbildungsdauer hinweg zur Seite stand, hat sie ihre Lehre als Einzelhandelskauffrau im letzten Jahr im zweiten Anlauf abgeschlossen. Von dieser Praxiserfahrung ließ sich die Große Koalition bei der Erarbeitung dieses Gesetzentwurfes leiten. ({4}) Natürlich spielten bei den letzten kleinen Änderungen auch die Auffassungen der Sachverständigen, die in der Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Soziales geäußert wurden, sowie die Anregungen des Bundesrates eine Rolle. Das hat zum Beispiel dazu geführt, dass wir die Ausbildungsabbrecher aus Insolvenzunternehmen mit aufgenommen haben. Im vorliegenden Gesetzentwurf ist eine Befristung auf drei Jahre vorgesehen. ({5}) Das hat seinen Grund. Denn seit kurzem ist auf dem Ausbildungsmarkt eine Trendwende zu verzeichnen. Im Jahre 2007 wurden 625 000 Ausbildungsverträge abgeschlossen, so viele wie seit 1999 nicht mehr. Wir können aber nicht länger mit ansehen, dass die Zahl der abgeschlossenen Ausbildungsverträge steigt, während die Chancen der Altbewerber auf einen Ausbildungsplatz sinken. ({6}) Wie wir heute zur Genüge gehört haben, wird auch bei diesem Chancengesetz Kritik laut. Die einen wollen mehr, die anderen wollen weniger, wieder andere verlieren sich in Grundsatzdebatten. Das ist der beste Beweis dafür, dass dieses Gesetz zielgerichtet ist, dass dieses Gesetz die Jugendlichen erreicht. ({7}) Den Kritikern rufe ich zu: Bedenken Sie, dass für den Bonus zwei Kriterien erfüllt sein müssen: Erstens. Der Betrieb muss einen zusätzlichen Ausbildungsplatz schaffen. Grundlage der Bewertung ist dabei die Zahl der Ausbildungsplätze im Betrieb in den letzten drei Jahren. Zweitens. Der Betrieb muss einen Altbewerber einstellen. Wo da der Anreiz zu flächendeckender Mitnahme liegen soll, müssen Sie mir auch nach der heutigen Debatte noch glaubhaft begründen. ({8}) Ich fordere die Wirtschaft auf, mitzumachen und zu helfen, dass die Betriebe die Chancen, die dieses Gesetz bietet, nicht etwa ausnutzen, sondern nutzen. ({9}) Meist sind es Jugendliche mit Hauptschulabschluss, Sonderschulabschluss oder ganz ohne Schulabschluss, die längere Zeit keinen Ausbildungsplatz finden. Sie bekommen mit diesem Gesetz einen Rechtsanspruch auf den Bonus für Ausbildung, sofern für sie ein zusätzlicher Ausbildungsplatz geschaffen wird. Das gibt den Jugendlichen und den Betrieben Sicherheit; das ist das, was die Große Koalition will. Altbewerber mit einem höheren Schulabschluss können den Bonus ab dem nächsten Ausbildungsjahr ebenfalls erhalten, sofern der Bundesrat zustimmt. Aufstieg durch Bildung, das ist sozialdemokratische Ausbildungs- und Arbeitsmarktpolitik. ({10}) Wir schaffen Chancen, wo vorher Frust war. Wir wollen, dass jeder ausgebildet wird, wenn möglich im Betrieb. Eines ist doch uns allen klar: Wer morgen Fachkräfte braucht, muss sie heute ausbilden. Es sind der Mittelstand und das Handwerk, die Vorbilder in Sachen Ausbildung sind. Aber das reicht nicht. Jeder Jugendliche muss ausgebildet werden. Politik ohne Ausbildungszwang setzt voraus, dass die Unternehmen ihrer Verantwortung für den Nachwuchs solidarisch gerecht werden. ({11}) Der Bonus - ich bleibe dabei - ist ein Musterbeispiel für vorsorgende Arbeitsmarktpolitik. Chancentag im Bundestag - das war heute nicht das letzte Mal. Die Reform der arbeitsmarktpolitischen Instrumente steht noch in dieser Legislatur an. ({12}) Wir von der SPD-Bundestagsfraktion wollen gemeinsam mit unserem Arbeitsminister Olaf Scholz die Kultur der zweiten Chance verankern: Jeder soll das Recht bekommen, seinen Hauptschulabschluss nachzuholen. Nur so gilt „Aufstieg durch Bildung“, nur so bekommen wir den nächsten Chancentag im Bundestag. Stimmen Sie heute dem Chancentag im Bundestag zu! ({13})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Fünften Gesetzes zur Änderung des Dritten Buches Sozialgesetzbuch Verbesserung der Ausbildungschancen förderungsbedürftiger junger Menschen. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9456, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/8718 - Unterrichtung durch die Bundesregierung auf Drucksache 16/9238 - in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie zuvor angenommen. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe nunmehr die Tagesordnungspunkte 6 a bis 6 d auf: a) - Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({1}) zu dem Antrag der Bundesregierung Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der internationalen Sicherheitspräsenz im Kosovo auf der Grundlage der Resolution 1244 ({2}) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen vom 10. Juni 1999 und des Militärisch-Technischen Abkommens zwischen der internationalen Sicherheitspräsenz ({3}) und den Regierungen der Bundesrepublik Jugoslawien ({4}) und der Republik Serbien vom 9. Juni 1999 - Drucksachen 16/9287, 16/9461 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg Dr. Werner Hoyer Monika Knoche Marieluise Beck ({5}) - Bericht des Haushaltsausschusses ({6}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 16/9462 - Berichterstattung: Abgeordnete Herbert Frankenhauser Lothar Mark Jürgen Koppelin Roland Claus b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({7}) zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Dr. Rainer Stinner, Dr. Karl Addicks, Uwe Barth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP zu dem Antrag der Bundesregierung Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der internationalen Sicherheitspräsenz im Kosovo auf der Grundlage der Resolution 1244 ({8}) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen vom 10. Juni 1999 und des Militärisch-Technischen Abkommens zwischen der internationalen Sicherheitspräsenz ({9}) und den Regierungen der Bundesrepublik Jugoslawien ({10}) und der Republik Serbien vom 9. Juni 1999 - Drucksachen 16/9287, 16/9369, 16/9463 Berichterstattung: Abgeordnete. Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg Dr. Werner Hoyer Monika Knoche Marieluise Beck ({11}) c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({12}) zu dem Antrag der Abgeordneten Monika Knoche, Wolfgang Gehrcke, Dr. Norman Paech, Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Konflikte zwischen Serbien und Kosovo-Albanern reduzieren - UN-Resolution 1244 uneingeschränkt umsetzen sowie faire und ergebnisoffene Verhandlungen ermöglichen - Drucksachen 16/6034, 16/7583 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg Harald Leibrecht Marieluise Beck ({13}) d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({14}) zu dem Antrag der Abgeordneten Monika Knoche, Paul Schäfer ({15}), Inge Höger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Unverzüglicher Rückzug der Bundeswehr aus dem Kosovo - Drucksachen 16/8779, 16/9151 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg Dr. Werner Hoyer Marieluise Beck ({16}) Über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung werden wir später namentlich abstimmen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Johannes Jung, SPD-Fraktion, das Wort. ({17})

Johannes Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003779, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich komme gerade von einem Gespräch mit den diesjährigen Teilnehmern des Stipendienprogramms des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft, das den Namen des ermordeten ehemaligen serbischen Ministerpräsidenten Zoran Djindjic trägt. Ich würde hier natürlich sehr gerne über die Potenziale und Chancen der Region sprechen, die wir heutzutage den westlichen Balkan nennen, so wie ich das auch mit diesen jungen Leuten getan habe. Leider bietet dieser Tagesordnungspunkt aber nur wenig Gelegenheit dazu. Vielmehr ist es notwendig, hier ungeschminkt auf die harte Realität im Kosovo einzugehen. Ich glaube, man muss leider feststellen - um das in einem Satz zusammenzufassen -: Wer sich heute für seine Kinder im Kosovo eine bessere Zukunft wünscht, der hat Schwierigkeiten, das zu erreichen, wenn er sich nach unseren Maßstäben rechtsstaatskonform verhält. - Es war und ist in Kosovo traditionell leider schlecht möglich, beides miteinander zu vereinbaren. Die internationale Gemeinschaft hat in den letzten Jahren sicherlich zu viel toleriert. Um auch einmal Namen zu nennen: Führungspersonal wie der famose USGeneral Shook stellt eben keine Lösung des Problems dar, sondern ist selbst ein Problem, wenn es darum geht, ein Gebiet wie Kosovo international aufzurichten. Wir sprechen bekanntlich von einem Landstrich mit knapp 2 Millionen Einwohnern. Das spricht noch nicht gegen die internationale Anerkennung. Kleine Länder können erfolgreich sein. Luxemburg und, um in der Region zu bleiben, Montenegro, sind erfolgreiche Beispiele dafür. Nun wird seit Jahren darauf hingewiesen, Kosovo sei ein Sonderfall. Das stimmt ganz gewiss; denn Kosovo erfüllt - einzigartig in Europa - alle Kriterien eines Entwicklungslandes. Was machen wir aber aus diesem Sonderfall? Es ist beschämend, dass die Mission EULEX so schwer aus der Vorbereitungsphase herauskommt, was keineswegs nur an Komplikationen mit Russland liegt. Die Mission KFOR im Kosovo ist leider weiterhin notwendig. Sie muss auf unserem Schirm bleiben, wie man heute sagt; daran besteht angesichts der Sicherheitslage und der Tatsache, dass das Jahr 2008 ein Jahr des Übergangs im Kosovo ist, kein Zweifel. Recht ist für die Menschen da. Für manche auf dieser Welt, so auch für die Damen und Herren von der Linkspartei, PDS, wird es niemals ein Völkerrecht geben können, das sie ruhigen Gewissens in ihrer Isolation leben lässt. Von Solidarität keine Spur - mit niemandem, auch nicht in dieser Frage, über die wir heute zu entscheiden haben. Sie verschanzen sich an dieser Stelle erneut hinter Ihrer notorischen Interpretation des Völkerrechts. Wen und wie viele Sie Ihres notorisch guten Gewissens wegen hängen lassen, ist Ihnen egal. Ich möchte auch beim nächsten Mal, wenn es um Massenmord geht, nicht auf Sie angewiesen sein. Wir müssen allerdings mehr bieten als Halbherzigkeit. Offensichtlich ist der Nationalismus im Kosovo auf allen Seiten dominant. Vernünftige Menschen wie Veton Surroi von der albanischen Seite und Oliver Ivanovic von der serbischen Seite, um auch hier Namen zu nennen, sind derzeit leider nicht gefragt. Werden wir das noch ändern können? Werden die derzeitigen politischen Führer im Kosovo einen demokratischen und europäischen Weg gehen, weg von traditioneller Unterdrückung in einer in weiten Teilen vormodernen Gesellschaft und weg von organisierter Kriminalität? Gerade weil darauf jedenfalls heute nicht mit Ja geantwortet werden kann, sind KFOR und EULEX bitter notwendig. Das führt zu der Frage, ob die Menschen dort in unserem Sinne europäisch sein wollen. Reicht es, Demokratie und Wohlstand zu versprechen? Wie glaubwürdig ist dieses Versprechen, wenn Sicherheit und Gewaltmonopol fehlen? Wer kann denn garantieren, dass am Ende die gemeinsame europäische Zukunft steht, die wir uns Johannes Jung ({0}) hier wünschen? Woher nehmen wir diesen Glauben? Uns muss klar sein: Wer nicht in dieser Generation in die Europäische Union kommt, der wird weiterhin ein nationalistisches Projekt betreiben. Seit langer Zeit versuche ich klarzustellen, dass die Lage im Nachbarland Mazedonien prekärer ist als in Kosovo und Serbien. In Kosovo und Serbien ist die Separation längst vollzogen; wir haben sie hier bestätigt. In Mazedonien exerziert die internationale Gemeinschaft eine Strategie des Ethnoproporzes, die genau wie in Bosnien-Herzegowina erkennbar nicht funktioniert. ({1}) Die größere der beiden Albanerparteien soll wieder nicht mit der größten slawisch-mazedonischen Partei koalieren. Es ist das gute Recht beider Parteien, sich ihre Koalitionspartner selbst zu wählen; aber aufgrund der Spielregeln, die wir mit aufstellen, kann die größte albanische Partei in Mazedonien die in dieser Gesellschaft an sie gestellten klientelistischen Ansprüche eben nicht befriedigen. Das kann nur eine Regierungspartei. So führt Nationalismus zu dem, was wir jetzt beobachten müssen: zur Selbstzerfleischung in derselben Volksgruppe, als wäre die Zugehörigkeit zur selben Volksgruppe per se ein politisches Problem oder Kriterium. Was tun wir? Wir sind nicht bereit, Sicherheit für alle Staatsbürger Mazedoniens über die NATO zu ermöglichen, was der einzige Weg wäre. Ein schwerer Fehler! Ein Blick in den Norden Kosovos: Wir haben bereits genügend Erfahrungen mit extralegalen Staatstrukturen. In den 90er-Jahren gab es die Quasirepublik Serbische Krajina auf kroatischem Territorium, die Quasirepublik Herceg-Bosna als kroatische Teilstruktur in BosnienHerzegowina. Können wir im Nordkosovo das pragmatisch ignorieren, was sich dort abspielt? Vielleicht wäre es ehrlicher, zu sagen, dass wir plan- und hilflos danebenstehen und das akzeptieren, was es dort seit Jahrzehnten gibt. Jedenfalls sehe ich niemanden, der im Sinne dessen, was KFOR und EULEX eigentlich erreichen sollen, die Zustände im Nordkosovo dramatisch ändern möchte. Ich füge hinzu: Es ist auch ratsam, dies zu unterlassen. Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss. Der europäische Einsatz ist sowohl bei KFOR als auch bei EULEX notwendig, um allen Seiten im Kosovo Sicherheit zu geben, aus sogenannten Volksgruppen vielleicht doch endlich Staatsbürger zu machen und der nächsten Generation ein besseres Leben zu ermöglichen. Vielen Dank. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Rainer Stinner für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Rainer Stinner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003640, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Balkan-Blues - Europas ungelernte Lektionen“ ist der Titel der neuesten Ausgabe der Zeitschrift Internationale Politik vom Juni dieses Jahres. Dieser Titel spiegelt genau das wider, was wir gegenwärtig bedauerlicherweise auf dem Balkan erleben. Ich fordere uns alle auf, hier und auch draußen von der Beschönigung der Situation abzusehen und der Realität im Kosovo ins Auge zu schauen. In dem angesprochenen Heft dieser Zeitschrift stehen Überschriften wie „Drohendes Desaster im Kosovo“, „Krampf ums Kosovo“, „Gedankenlose Neuordnung“ etc. All diese Beschreibungen sind leider durchaus realistisch. In diesem völlig unbefriedigenden Umfeld stehen wir heute vor der Frage der Verlängerung des KFOR-Mandates. Hier sage ich ganz deutlich: Gerade weil die Situation so unbefriedigend ist und die Dinge sonst nicht laufen, ist es ungeheuer wichtig, dass wir heute gemeinsam das KFOR-Mandat verlängern. Die KFOR-Mission ist gegenwärtig der einzige stabile Anker in dieser Region. ({0}) Die KFOR-Mission macht jede Entwicklung erst möglich. Ohne die KFOR-Mission gingen wir das Risiko ein, dass das Land in ein unerträgliches Chaos gerät. Das können wir doch nicht wollen. Deshalb muss jeder in diesem Raume, liebe Kolleginnen und Kollegen, dem wirklich an den Menschen in der Region liegt, diesem KFOR-Mandat hier und heute zustimmen. ({1}) Wir wissen alle, dass das Mandat eine notwendige, aber keine hinreichende Voraussetzung für das ist, was im Kosovo geschehen muss. Die KFOR alleine bringt den Kosovo keinen Millimeter weiter; sie verhindert nur Schlimmeres. - Ein Nebensatz, sehr verehrter Herr Minister Jung: Die KFOR nimmt im Kosovo auch polizeiliche Aufgaben wahr, um hier nur ganz kurz eine andere Debatte anzuführen. Was braucht die Republik Kosovo? Sie braucht erstens die europäische Rechtsstaatsmission EULEX, über die wir sprechen, damit Stabilität herbeigeführt, ein Rechtsstaat aufgebaut und notwendige Strukturen entwickelt werden können. Wir müssen feststellen - auch das gehört zu einer kritischen Analyse -, dass die acht Jahre dauernde UNMIK-Mission nicht die erwarteten Ergebnisse gebracht hat. Acht Jahre unbeschränkte Vollmachten der internationalen Gemeinschaft haben zu einem unbefriedigenden Ergebnis geführt. Das muss nachdenklich stimmen. ({2}) Daraus muss die EULEX-Mission lernen. Ich stelle infrage, ob es sinnvoll ist, dass an der EULEX-Mission mehrere Tausend Personen beteiligt sind. Die Erfahrung mit internationalen Missionen hat gezeigt, dass in einem solchen Fall die Selbstbeschäftigung eher zunimmt. Die EULEX-Mission muss aber schlagkräftig sein. Bei der Vorbereitung der Mission erleben wir ein weiteres Trauerspiel: Die EU ist eben nicht in der Lage, die Vorbereitung konsequent zu betreiben. Sie ist ins Stocken geraten, und das wirft ein schlechtes Licht auf uns. ({3}) Zweitens braucht das Kosovo die Einbindung in regionale Strukturen. Auch das gestaltet sich gegenwärtig außerordentlich schwierig. Ich spreche nicht nur über Serbien - die Schwierigkeiten in diesem Zusammenhang sind ein Sonderfall -, sondern auch über die anderen regionalen Partner. Bei der Einbindung des Kosovo in regionale Strukturen kommt es darauf an, dass sie von der Europäischen Union bzw. von Deutschland aktiv vorangetrieben wird. Hierbei sehe ich relativ wenige Impulse der deutschen und europäischen Politik. Drittens. Auch das Kosovo braucht eindeutig die europäische Perspektive. Die Zeitschrift Internationale Politik formuliert prägnant und auch etwas süffisant: „… wir tun so, als wollten wir sie aufnehmen, und sie tun so, als würden sie uns das glauben …“ Das beschreibt die unbefriedigende gegenwärtige Situation. Die Glaubwürdigkeit der EU hat in der Region leider sehr stark abgenommen. Das muss man erkennen. Wir haben seitens der EU heroisch hohe Hürden aufgebaut, unter denen wir dann aber ganz schlank weggelaufen sind. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die Zusammenarbeit mit Den Haag in Serbien und an die Polizeireform in Bosnien-Herzegowina. In beiden Fällen wurden hohe Hürden aufgebaut, beide Male schlank darunter weggelaufen. Das erhöht unsere Glaubwürdigkeit in der Region leider überhaupt nicht. ({4}) Das schadet dem Balkan, und das schadet auch Europa. Eine kohärente europäische Balkanpolitik ist leider nicht erkennbar. Ich sage noch deutlicher: Man kann den Eindruck haben, dass die Balkanpolitik in Brüssel eher lustlos administriert wird, als dass sie mit Herz, Realitätssinn und Nachdruck politisch gestaltet wird. Alle diese Punkte machen deutlich: Auch im Kosovo liegt die Lösung - das wissen wir alle - nicht im Militärischen; es müssen die politischen Voraussetzungen geschaffen werden. Das Militär kann nur die Grundlagen dafür schaffen. Leider beschränkt sich der Antrag der Bundesregierung, dem wir aus vollem Herzen zustimmen, formalistisch-minimal auf die Forderung, das Militär einzusetzen, und nimmt die Komplexität der politischen Entwicklung in keiner Weise wahr. Deshalb haben wir seitens der FDP unseren Antrag eingebracht, um wenigstens auf einige inhaltliche Punkte hinzuweisen. Ich darf Ihnen ehrlich sagen, ich war gestern im Verteidigungsausschuss ein bisschen erschüttert darüber, mit welchen wirklich fadenscheinigen, primitiven Gründen unser Antrag, dem Sie eigentlich alle zustimmen, abgelehnt worden ist. Ich sehe hier zwei Fraktionsvorsitzende der Großen Koalition. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie werben um unsere Stimmen für die Zustimmung zur Fortsetzung des Mandats. Das bedenken wir, und wir werden auch zum großen Teil zustimmen, wie Sie wissen. Wir können dann aber auch erwarten, dass Sie mit unseren inhaltlichen Anträgen, die unsere Zustimmung begleiten, ernsthafter umgehen, als Sie es in diesem Fall getan haben. ({5}) Ich hoffe auf Ihre Lernwilligkeit und Lernfähigkeit und gehe deshalb davon aus, dass Sie heute unserem Antrag zustimmen. Vielen Dank. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Ruprecht Polenz für die CDU/CSUFraktion.

Ruprecht Polenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002751, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Unionsfraktion wird dem Antrag der Bundesregierung, das Mandat für KFOR zu verlängern, zustimmen. Nach den Beratungen im Auswärtigen Ausschuss können wir auch davon ausgehen, dass die Zustimmung auch vom Bündnis 90/Die Grünen und von der FDP, also von einer breiten Mehrheit im Deutschen Bundestag, getragen wird. Das hat auch gute Gründe; denn jeder, der sich mit der Lage im Kosovo befasst, weiß - Herr Stinner hat darüber gerade gesprochen -, dass die KFOR für den Aufbau eines sicheren Umfeldes für alle Bewohner und die weitere Unterstützung beim Aufbau demokratischer und rechtsstaatlicher Strukturen im Kosovo unverzichtbar ist. Wahr ist, dass der eigentlich sorgfältig vorbereitete Weg, beim Kosovo zu einer Statusänderung zu kommen, nicht zu einer einvernehmlichen Lösung geführt hat. Aber der Zustand war auch nicht länger haltbar. Denjenigen, die sagen - ich spreche hier vor allem die Linksfraktion an -, es sei falsch gewesen, dass die Bundesrepublik Deutschland den anderen Ländern, die die Unabhängigkeit des Kosovo anerkannt haben, gefolgt sei, möchte ich sagen, dass eine einvernehmliche Lösung nicht mehr zu erwarten war. ({0}) 25 Monate ist verhandelt worden, zuerst unter Ahtisaari, dann im UN-Sicherheitsrat, dann unter Beteiligung der Troika von Russland, den USA und der Europäischen Union sowie von Wolfgang Ischinger. Alles war ergebnislos. Der Status quo war nicht länger tragbar. Insofern sind wir nun bei der zweitbesten Lösung. Damit müssen wir umgehen. Über die zweitbeste Lösung zu sprechen, bedeutet gerade angesichts des Besuchs des russischen Präsidenten in Berlin, zwei, drei Sätze zur Rolle Russlands in diesem Prozess zu sagen. Russland hat seinerzeit eine Resolution des UN-Sicherheitsrats für eine Intervention verhindert, obwohl Genozidgefahr bestand. Russland hat dann eingelenkt und die UN-Resolution 1244 mitgetragen. Russland hat dem Mandat für Ahtisaari zugestimmt. Ich selber habe mit Ahtisaari zu Beginn seiner Verhandlungsmission gesprochen. Er, der ein erfahrener Politiker ist, hat damals den festen Eindruck gehabt, dass die Ziele, die er in sogenannten Private Messages nach Priština und Belgrad vermittelt hat, von allen ständigen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrates geteilt werden. Russland ist dann irgendwann ausgeschert und hat mit dem internationalen Konsens gebrochen. Deshalb haben wir nun das Problem, einen Übergang von UNMIK, der Mission der Vereinten Nationen im Kosovo, die eine Art Protektoratsregime innehatte, zu einer von der Europäischen Union und der EULEX-Mission überwachten und kontrollierten Unabhängigkeit des Kosovo zu finden. Es wird nicht so laufen wie geplant. Dazu sage ich gleich noch etwas. Es gibt nun die neue Aufgabe, die Einheit des Kosovo sicherzustellen. Es gibt den serbisch besiedelten Norden, den Serbien gerne als Hebel zur Durchsetzung seines Anspruchs auf das Kosovo nutzen möchte. Nicht nur die Parlamentswahlen, sondern auch die Kommunalwahlen, die Serbien rechtswidrig beispielsweise in Mitrovica hat durchführen lassen, haben gezeigt, dass sich daraus noch ein Problem ergeben könnte. Falls in Belgrad die Europabefürworter die Regierung bilden werden, haben sie das Problem, dass es sich aus serbischer Sicht bei den Vertretern in Mitrovica um Hardliner in Amt und Würden handelt, die möglicherweise den ganzen Prozess noch weiter erschweren. Es besteht die Gefahr, dass sich im Norden ein Machtvakuum bildet und dass Priština den Anspruch erhebt, die Unabhängigkeit des ganzen Kosovo erklärt zu haben. Nun kann man auf Zeit spielen. Es wird uns auch nicht viel anderes übrig bleiben, gerade wenn es um den Übergang von UNMIK zu EULEX geht. Angesichts der Kürze der Debatte nur so viel: Wahrscheinlich wird entgegen den Planungen UNMIK bleiben, und EULEX wird unter dem Dach von UNMIK ein Pfeiler. Eine andere Lösung kann ich mir nicht vorstellen. Aber beim zeitlichen Aspekt müssen auch die Nebenwirkungen in der Region beachtet werden. Damit bin ich bei Mazedonien, Herr Jung. Ich glaube, wenn in Mazedonien angesichts der jetzigen Lage der Eindruck entsteht, der Norden des Kosovo sei auf einem erfolgreichen Weg, sich abzuspalten, wird die Versuchung für die albanische Minderheit in Mazedonien sehr stark wachsen, darüber nachzudenken, ob man das auch machen könnte. Deshalb ist es ganz wichtig, dass auch die deutsche Regierung und vor allem die Europäische Union den Namensstreit zwischen Mazedonien und Griechenland als ein erstrangiges Problem wahrnehmen. ({1}) Denn für die Stabilisierung Mazedoniens sind die Mitgliedschaft in der NATO und die EU-Perspektive, die es ohne die Lösung des Namensstreites natürlich nicht gibt, essenziell. Mein Eindruck, gerade auch in der Vorbereitung des NATO-Gipfels, war, dass die meisten gemeint haben, Griechenland vertrete eine aberwitzige Position und werde schon einknicken. Ich will die griechische Position gar nicht bewerten. Nur, eines will ich Ihnen sagen: Jeder, der auch nur drei Stunden in Athen war, hätte erkennen können, dass es für jede griechische Regierung völlig unmöglich war, im Namensstreit nachzugeben. Und dass Griechenland einige Erfahrungen damit hat, EU-Entscheidungen zu blockieren, wissen wir aus anderen Zusammenhängen. Also, hier bitte mehr Aufmerksamkeit auch der deutschen Politik für diesen Namensstreit. Wir müssen sehen, dass wir ihn in diesem Jahr vom Tisch bekommen. Eine letzte Anmerkung: Wir werden auch Wert darauf legen müssen, Russland und Serbien so gut es geht irgendwie wieder in die Prozesse einzubeziehen. Hier kommt die OSZE als eine Möglichkeit ins Spiel, über die wir stärker nachdenken müssten, als das vielleicht bisher geschehen ist. Die OSZE ist als ziviler Stabilisierungsfaktor im Land dabei - 800 Mitarbeiter in allen Gemeinden des Kosovo -, den Aufbau demokratischer Institutionen zu fördern, zum Beispiel mit Monitoringaufgaben, was Menschenrechte, Minderheitenschutz und die Medienentwicklung in Kosovo angeht. Sie unterstützt die Dezentralisierung, und sie betreibt Polizei- und Gerichtsmonitoring, sogar eine eigene Polizeischule. Jetzt kommt der politische Aspekt. Die OSZE arbeitet unter der Prämisse der Statusneutralität und könnte dadurch eine Klammer in der jetzigen Frage zu Russland und zu Serbien darstellen. Es ist ganz wichtig, dass gerade Deutschland deutlich macht, dass wir nach wie vor eine wichtige Rolle der OSZE wünschen. Nach dem, was man hört, könnte demnächst ein Wechsel an der Spitze der OSZE-Mission anstehen. Ich möchte gerade von dieser Stelle die Anregung geben, dass Deutschland sich um eine Übernahme dieser Führungsposition bemüht, zumal die Position von Herrn Rücker bei UNMIK demnächst auslaufen wird und wir zu den Ländern gehören, die ein besonderes Interesse am Kosovo haben, dann aber in keiner Führungsposition mehr bei den internationalen Organisationen vertreten sein würden. Das wäre auch ein Signal dafür, dass wir den Weg des Kosovo weiter begleiten wollen, auch weil es in unserem Interesse liegt, diesem Armenhaus des früheren Jugoslawiens, dem Armenhaus des jetzigen Europas, zu helfen. Es ist reich an Bodenschätzen - die drittgrößten Braunkohlenreserven Europas liegen dort, und es gibt viele Erz- und Mineralvorkommen, die sehr wichtig sind. Eine allerletzte Bemerkung: 13 Prozent des kosovarischen Bruttosozialprodukts bei einer Arbeitslosigkeit von 50 Prozent kommen von den Überweisungen von Exilkosovaren in ihre Heimat. Ich finde es etwas widersinnig, dass wir mit sehr viel Geld vor Ort tätig sind, aber eine Politik der Rückführung von Kosovaren, die hier gut integriert sind, die hier ihre Wohnung und ihren Arbeitsplatz haben - die Arbeitgeber kommen sogar mit ihnen in unsere Sprechstunden und sagen, dass diese ihre besten Mitarbeiter seien, und fragen, warum wir die zurückschicken -, ({2}) betreiben und auf diese Weise das Kosovo von einer wirtschaftlichen Einnahmequelle abschneiden, die das Land auf absehbare Zeit noch brauchen wird.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Polenz, gestatten Sie nicht eine Zwischenfrage, sondern eine Nachfrage? Ihre Redezeit ist nämlich schon vorüber.

Ruprecht Polenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002751, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja. Ich weiß.

Marieluise Beck-Oberdorf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002624, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Kollege Polenz, Sie wissen, dass ich Sie sehr respektiere und wir in diesem Punkt Ihre Haltung absolut teilen. Kann man aufgrund Ihrer jetzigen Aussage davon ausgehen, dass die Regierung und Sie als Teil der Koalitionsfraktionen sich massiv vor allen Dingen an die Innenministerkonferenz wenden werden, weil diese Entscheidungen nicht vom Außenministerium getroffen werden, sondern von den Innenministern, die in unverantwortlicher Weise genau diese Widersinnigkeit, die Sie eben beschrieben haben, von Jahr zu Jahr fortführen? ({0})

Ruprecht Polenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002751, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Liebe Frau Kollegin Beck, ich muss ehrlich sagen: Das weiß ich nicht. Was ich hoffe, ist, dass dieser Zusammenhang, über den wir, glaube ich, alle zu wenig diskutiert haben, deutlich wird und zu einer Korrektur des Verhaltens führt. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Norman Paech, Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Norman Paech (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003822, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Linke wird der Mandatsverlängerung nicht zustimmen, ({0}) und zwar aus ganz einfachen Gründen: Die UN-Sicherheitsratsresolution 1244 von 1999 taugt nicht mehr als Rechtsgrundlage für eine Verlängerung des Bundeswehreinsatzes. Die Umstände haben sich mit der einseitigen Unabhängigkeitserklärung des Kosovo im Februar 2008 grundlegend und entscheidend verändert. Diese Unabhängigkeitserklärung war völkerrechtswidrig, ebenso die anschließende Anerkennung durch die Bundesregierung. Das haben Sie - das ist das Interessante - in der Debatte vor einem Jahr genauso gesehen, und das möchte ich Ihnen in Erinnerung rufen. Die Bundesregierung, Herr Steinmeier, hat damals in ihrem Antrag auf Verlängerung des Mandats die Hoffnung ausgedrückt, „dass der VN-Sicherheitsrat seiner Aufgabe gerecht wird und möglichst bald eine neue Resolution verabschiedet, die … die bisherige Resolution 1244 ({1}) des VN-Sicherheitsrates ablöst und die Grundlage für die neue internationale Präsenz schafft“. Sie betonte damals, dass eine „derartige Folgeresolution ... eine Neumandatierung des Bundeswehreinsatzes im Rahmen einer konstitutiven Befassung des Deutschen Bundestages notwendig machen wird“. Kollege Polenz, erinnern Sie sich noch an das, was Sie in der Debatte am 21. Juni 2007 gesagt haben? Folgendes: Die jetzige Rechtsgrundlage … ist die Sicherheitsratsresolution 1244. Es ist klar, dass bei einer Veränderung eine rechtzeitige neue Befassung des Bundestages erfolgen muss. Es ist genauso klar, dass der Bundeswehreinsatz in jedem Fall und zu jedem Zeitpunkt eine eindeutige rechtliche Grundlage haben muss. Sie können doch jetzt nicht behaupten, dass diese rechtliche Grundlage nun gegeben ist. ({2}) Frau Kollegin Zapf, erinnern Sie sich noch an Ihre Worte am 21. Juni 2007? Sie sagten: Ich finde allerdings, dass eine einseitige, unkonditionierte Anerkennung des Kosovo … über den Horizont des Denkens hinausgeht. Eine solche Anerkennung kann nicht infrage kommen. Meine Frage an Sie: Hat sich Ihr Horizont jetzt erweitert? ({3}) Zur FDP. Sie stellte in ihrem Entschließungsantrag damals ganz unmissverständlich Folgendes fest: Innerhalb des Kosovo mehren sich die Stimmen, die eine einseitige Unabhängigkeitserklärung fordern. Völkerrechtlich wäre eine solche Erklärung ein Bruch der Resolution 1244. ({4}) … Mit dem Bruch der Resolution 1244 würden beide Institutionen - KFOR wie UNMIK ihre Legitimitätsbasis verlieren. Sie, Kollege Stinner, wiederholten das in Ihrer Rede fast wörtlich. Schließlich zu den Grünen. In ihrem Entschließungsantrag, aus dem ich zitiere, sagten sie: Grundlage dafür - für die weitere Stationierung der Bundeswehr Dr. Norman Paech ist das Beharren auf einer neuen UN-Resolution, die Resolution 1244 ersetzt. Eine Unabhängigkeitserklärung der kosovarischen Regierung kann ebenfalls nur auf dieser Grundlage erfolgen. Sollte eine dieser Bedingungen oder beide nicht mehr erfüllt sein, wäre die völkerrechtliche Grundlage für das KFOR-Mandat und die UNMIK-Mission entfallen. ({5}) So haben Sie sich im Juni 2007 geäußert. All diesen Reden zum Trotz ist nach der Unabhängigkeitserklärung im Februar 2008 genau das Gegenteil geschehen: Die Bundesregierung hat weder ihre KFORTruppen zurückgerufen noch eine neue Resolution als Grundlage für die weitere Präsenz der Bundeswehr im Kosovo gefordert. Stattdessen hat sie den Bundestag schlichtweg übergangen, das Völkerrecht missachtet und das Kosovo anerkannt. ({6}) Waren diese Ihre Worte eigentlich nur das Geschwätz vom vergangenen Jahr, das Sie heute nicht mehr kümmert? Herr Kollege Polenz, Sie warnten vor einem Jahr, dass sich einseitige Schritte in Priština „wie der Funke an einem Pulverfass auswirken“ könnten. Was ist eigentlich mit den vielen anderen Pulverfässern dieser Welt, ({7}) in Abchasien, Südossetien, bei den Basken, den Kurdinnen und Kurden, in Tibet? Wollen Sie bei der Lösung all dieser Konflikte nach Gutsherrenart, nach dem Prinzip der politischen Willkür verfahren? Ich sage Ihnen eines: Die Missachtung von Völkerrecht löst keine Probleme, sondern wird immer weitere Probleme schaffen. ({8}) Deswegen rate ich Ihnen: Kehren Sie zum Völkerrecht zurück, und holen Sie die deutschen Truppen aus dem Kosovo zurück! Danke schön. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Marieluise Beck, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Marieluise Beck-Oberdorf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002624, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sprechen über den gesamten Balkan, wenn wir über das Kosovo sprechen. Wir haben es mit einer Realität zu tun, die sich durch Argumentationen, die man immer wiederholt, nicht verändern lässt. Die Realität ist: Der Staat Jugoslawien ist in seine Teile zerfallen. Wenn wir heute über das Kosovo sprechen, haben wir es immer noch zu tun mit dem Bewältigen von auch völkerrechtlich schwierigen Situationen, die durch diesen Staatszerfall entstanden sind und die mit der Unentschiedenheit der Europäischen Union und der internationalen Staatengemeinschaft zusammenhängen. Herr Jung, Sie haben das angesprochen: Wir haben uns - das kann man insbesondere an Bosnien-Herzegowina sehen - auf einen schmalen Grat begeben, indem wir ethnische Zugehörigkeit als Teil des Verfassungsrechts anerkannt haben. Wir wissen, dass die Länder, die aus dem ehemaligen Jugoslawien hervorgegangen sind, bis zum heutigen Tag an den Folgen dieser sehr prekären Entscheidungen herumlaborieren. Noch einmal kurz zu der völkerrechtlichen Frage, Herr Paech. Jawohl, wir alle hätten uns eine einvernehmliche Lösung gewünscht. Es ist lange daran gearbeitet worden. Nachdem es Vertreibung gegeben hatte, Völkermord gedroht hatte und die Autonomie durch Milosevic genommen worden war, war es dem Kosovo nicht mehr zuzumuten, noch einmal unter das Dach dieses Staates zurückzukehren. Wir alle wussten, dass das Kosovo das nie tun würde. Wir haben die Resolution 1244, die die Staatengemeinschaft dazu verpflichtet, den Schutz aller Ethnien vor Ort zu gewährleisten. Das ist die Aufgabe der KFOR-Soldaten. ({0}) Sie haben sich vor einigen Tagen in der Berliner Zeitung fragen lassen müssen: Wäre es denn politisch zu verantworten, die verfeindeten Kosovo-Albaner und Kosovo-Serben miteinander allein zu lassen? Sie geben keine Antwort darauf. Was Sie hier sagen, heißt in der Konsequenz aber: Jawohl, wir lassen sie alleine. - Dann gäbe es aber eine große Krise. Deswegen müssen unsere Soldaten dort bleiben. Sie haben bisher verhindert, dass diese Krise ausbricht und es wieder zu Vertreibung und Gewalt kommt. Das also ist Ihre Konsequenz. Sie werden Sie nie unter der Überschrift „Menschenrechte“ verkaufen können. Die Resolution 1244 ist sehr eindeutig. Sie verpflichtet dazu, vor Ort für Gewaltvermeidung zu sorgen. Diese Maßgabe der Resolution 1244 besteht fort. ({1}) Nun also gilt es, nach vorn zu schauen, was als Nächstes zu tun ist. Das ist die EULEX-Mission als Rechtsstaatsmission. Das ist der schwierige Weg, im Kosovo Institutionen aufzubauen, damit die Menschen endlich wieder eine Perspektive bekommen, damit es Justiz und Polizei gibt, damit die Chance auf Investitionen besteht, damit sich in dem Land wirtschaftliche Tätigkeit entwickeln kann und nicht auf Dauer der Import der lebenswichtigen Ressourcen von außen notwendig bleibt. Es geht auch darum, organisierte Kriminalität zu verhindern. Trafficking vom Balkan betrifft auch uns in unseren Staaten. Wir haben also ein Interesse daran, dass im gesamten kosovarischen Gebiet der Weg hin zum Rechtsstaat eingeschlagen wird, und zwar nicht von Marieluise Beck ({2}) außen aufgesetzt, sondern in Eigenverantwortung der Kosovo-Albaner. ({3}) Es geht um den schwierigen Weg des Nation-Building. Kosovo ist das bisher anspruchvollste Vorhaben der gemeinsamen Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Es steht unter schwierigen Vorzeichen, weil es ein Nebeneinander von UNMIK und EULEX gibt. Vermutlich wird aber - davon ist auszugehen - in der nächsten Woche der Generalsekretär der Vereinten Nationen in dieser Frage eine Klärung herbeiführen. Wir sollten uns hier klarmachen, dass Gewalt und Vertreibung auf dem Balkan unendlich viel Leid hervorgerufen haben. Natürlich - da haben Sie recht, Herr Stinner - dauert die Mission schon acht Jahre. Das ist eine lange Zeit. Aber in Bosnien dauert sie zum Beispiel noch viel länger, nämlich 15 Jahre. Wir lernen aber da-raus, dass das Wiederherstellen von Staatlichkeit und Rechtsstaatlichkeit gerade dann, nachdem Nationalisten so lange freies Spiel hatten und es so viel Gewalt unter den Menschen verschiedener Ethnien gegeben hat, sehr mühselig ist. Es ist also ein langer und schwieriger Weg, das wieder aufzubauen, was vorher durch Gewalt und Vertreibung zerstört worden ist. Es gibt keine Alternative zu diesem sehr mühseligen Weg. Wir als Grüne nehmen die Herausforderung an. Wir setzen auf EULEX und werden der Verlängerung der KFOR-Mission zustimmen. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kurt Rossmanith für die CDU/ CSU-Fraktion.

Kurt J. Rossmanith (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001887, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute in der Tat über einen Teil des Balkans, nämlich über das Kosovo, ein Land, das, wie Sie, Frau Kollegin Beck, richtigerweise hingewiesen haben, ein Teil des zerfallenen Jugoslawiens war. Wir müssen leider auch mit dem Fakt leben, dass in den neun Jahren nach Beendigung des Krieges die diplomatischen Bemühungen nicht zum Erfolg geführt haben, sodass im Endeffekt am 17. Februar dieses Jahres gar nicht viel anderes zu erwarten war, als dass das Kosovo sich zum selbstständigen Staat erklärt. Die Bundesrepublik Deutschland hat in Form der Bundesregierung vier Tage später, am 21. Februar, diesen Staat als solchen anerkannt und damit auch Verpflichtungen übernommen. Ich danke Ihnen, Frau Beck, dass Sie auf Flucht, Vertreibung und all die Mühsal sowie auf all die Verbrechen, die dort geschehen sind, hingewiesen haben. Daher frage ich - das ist schon fast nicht einmal mehr als rhetorische Frage zu verstehen -, was man von einer Partei halten kann, muss oder soll, die auf diese Frage nichts anderes zu sagen weiß, als auf Rechtspositionen hinzuweisen, die völlig falsch sind. Herr Gysi hat ja das Bundesverfassungsgericht angerufen. Ich wünsche ihm dabei sehr viel Erfolg. Jeder blamiert sich so gut er kann, kann ich dazu nur sagen. Es nützt auch nichts, Kollege Stinner, wenn wir nur auf die Vergangenheit schauen und all das beklagen, was geschehen ist. Es ist richtig, dass wir bislang Hilfen in Höhe von 2 Milliarden Euro für den Wiederaufbau der Wirtschaft geleistet haben. Dennoch liegt die Arbeitslosigkeit über 50 Prozent. Für den Aufbau der Energieversorgung im Kosovo haben wir über 1 Milliarde Euro gegeben. Nach wie vor fällt die Stromversorgung dort aber stundenlang aus. Überweisungen aus dem Ausland tragen zu 13 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt des Kosovo bei. Darauf hat Kollege Polenz hingewiesen. Man kann die Situation auch folgendermaßen betrachten: Die Investitionsneigung im Kosovo ist momentan äußerst gering. Daher können wir von den Fachleuten aus dem Kosovo, die Krieg, Flucht und Vertreibung nicht erleben mussten, weil sie bei uns in Sicherheit leben konnten, schon erwarten, dass sie ihr in Deutschland erworbenes Fachwissen in ihrem Heimatland ihren Mitbürgerinnen und Mitbürgern zugute kommen lassen und einen entsprechenden Beitrag zum Wiederaufbau der Wirtschaft leisten. ({0}) Ich bin dankbar, dass die Bundesregierung den Antrag eingebracht hat, unser Mandat zu verlängern. Aufgabe der KFOR ist ja die Demilitarisierung, Stabilisierung, Leistung von humanitärer Hilfe und von Rückkehrhilfe für Flüchtlinge und für Vertriebene, um sie wieder eingliedern zu können. Natürlich hoffen wir, dass die zivile Rechtsstaatsmission EULEX - das wäre zwingend notwendig - zum Tragen kommt. Dies ist ein ganz wichtiger Pfeiler. Gerade deshalb benötigen wir weiterhin den Schutz durch die KFOR. Es wäre geradezu verrückt und würde ein großes Maß an Inhumanität zeigen, wenn wir sagen würden: Die Soldaten ziehen sofort wieder ab. Wir hatten fast 7 000 Soldaten im Kosovo. Jetzt sind es noch 2 800. Wir wollen die Zahl weiter auf 2 200 reduzieren. Die Bundesregierung und die sie tragende Koalition verhalten sich, was diese Mission betrifft, sehr korrekt. Das Mandat ist unbegrenzt; es wäre also gar nicht erforderlich gewesen, dass die Bundesregierung es erneuern lässt. Aber die Koalition aus den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD war der Meinung: Wir wollen nach der Unabhängigkeit des Kosovo die Verlängerung dieses Mandats im Parlament bestätigen. Die Verlängerung des Mandats ist wichtig für die Bürgerinnen und Bürger im Kosovo. Denn sie können so mit unserer Hilfe und mit dem Beistand unserer Soldaten am Aufbau ihres Heimatlandes mitwirken. Ich sage dies auch im Interesse unserer Soldaten, denen ich ausdrücklich im Namen meiner Fraktion - ich bin überzeugt: auch im Namen des ganzen Hauses - einen Dank für ihre hervorragende Leistung ausspreche, die sie dort unter wirklich schweren Bedingungen erbringen. ({1}) Ich bitte um Zustimmung für diesen Antrag. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie darum, eine solche Ruhe herzustellen, dass wir auch dem letzten Redner in dieser Debatte noch zuhören können. Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Dr. HansPeter Bartels das Wort.

Dr. Hans Peter Bartels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003031, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es gibt im Augenblick zwei große NATO-Missionen: KFOR und ISAF. Während in Afghanistan um den Erfolg noch gerungen werden muss - auch um den Erfolg einer militärischen Absicherung -, können wir für das Kosovo sagen: KFOR ist ein Erfolg und leistet das, wofür wir das Mandat 1999 und die folgenden Mandate gegeben haben. ({0}) Die Sicherheitslage ist ruhig. Wir haben die Präsenz unserer Soldaten Schritt für Schritt reduzieren können. Das ist ein Zeichen dafür, dass die Sicherheitslage mit immer weniger internationaler Präsenz stabil gehalten werden kann. Die Zahl der NATO-Soldaten wurde von über 45 000 auf jetzt 16 000 verringert. Der deutsche Anteil wurde von anfänglich 6 500 Soldaten auf 2 200 Soldaten im Normalfall verringert. Auch daran, dass mit immer weniger militärischer Absicherung das gleiche Sicherheitsergebnis erreicht wird, kann man den Erfolg messen. Die Unabhängigkeit ist so, wie sie erreicht wurde - auch das ist schon gesagt worden -, nicht die erste Wahl und somit nur das zweitbeste Ergebnis gewesen. Die sich daraus ergebende Situation muss jetzt gestaltet werden. Die Ausschreitungen, die es zu Anfang in Mitrovica gegeben hat, sind schnell unter Kontrolle gebracht worden. Auch das ist ein Erfolg von KFOR. Dank KFOR kam es nicht zu einem Flächenbrand. ({1}) Die Institutionen eines demokratischen Kosovo sind im Aufbau. Die internationalen Organisationen arbeiten in einem sicheren Umfeld. Flüchtlinge sind in den vergangenen Jahren nach und nach in das Kosovo zurückgekehrt. Deutschland ist das Land - auch das ist angesprochen worden -, das das größte Interesse daran hat, dass hier eine gute Zukunft gestaltet wird. Denn heute leben 300 000 Kosovo-Albaner in Deutschland. 100 000 sind schon in das Kosovo zurückgegangen. Das heißt, Deutschland hat im Vergleich zu allen anderen europäischen Ländern die engsten Beziehungen zum Kosovo. Die starke, stabile Kraft im Kosovo ist heute noch KFOR. Die dritte Linie hinter der kosovarischen Polizei und der UNMIK-Polizei - in Zukunft EULEX - sind Soldaten. Sie müssen aber nur dann eingreifen, wenn die anderen Kräfte versagen würden, und sie versagen immer weniger. Da wir immer den deutschen Soldaten danken, sollten wir auch einmal den 130 bis 140 deutschen Polizisten Dank sagen, die heute ihren Dienst im Kosovo tun. ({2}) Über deren Einsatz beschließen wir ja nie in Form von eigenen Mandaten. Das gilt auch für manche, die in der Aufbauhilfe tätig sind. Wir reden immer nur über die Militärmandate. Aber es sind auch Polizisten mit exekutiver Befugnis in einem fremden Land. Das ist kein leichter Dienst. Wir werden dafür sorgen müssen, dass es beim Übergang von UNMIK zu EULEX kein Machtvakuum gibt. Die Verhandlungen - das ist angesprochen worden sind im Gange. Der UNO-Generalsekretär hat sich eingeschaltet. Wir sollten darauf vertrauen, dass keine gefährlichen Situationen entstehen; wir sollten diese aber auch nicht herbeireden. Aber für den Fall, dass gefährliche Situationen entstehen, ist die starke Kraft, die im ganzen Land akzeptiert wird und die dahintersteht, die KFOR. KFOR ist - ich habe mich bei einem Besuch Anfang dieser Woche davon überzeugen können - auch auf Eventualitäten gut vorbereitet. Sie wird nicht so leicht von Ereignissen überrollt und überrannt werden können, die möglicherweise hier oder da geplant werden, die aber den Friedensprozess in diesem Land nicht mehr rückgängig machen können. Alle Konfliktparteien vertrauen der NATO mit ihrer KFOR-Mission. Das ist ein hohes Gut. Alle vertrauen darauf, dass KFOR unparteiisch ist und schützt - auch in kritischen Situationen wie beim Inkrafttreten der Verfassung, was in wenigen Tagen, am 15. Juni, der Fall sein wird, und beim Übergang von UNMIK zu EULEX. Die Vertrauensarbeit in diesem Land muss weitergehen. Auch in diesem jetzt unabhängigen Staat muss Vertrauen zwischen Mehrheit und Minderheit sowie zwischen Kosovo und Serbien geschaffen werden. In der UNO muss Russland für einen konstruktiven Weg gewonnen werden. In der NATO muss die Türkei für einen konstruktiven Weg gewonnen werden. Auch als Parlamentarier können wir in Deutschland und Europa möglicherweise etwas zum Aufbau des Vertrauens in die neuen kosovarischen Institutionen beitragen. Es gibt bisher nur die deutsch-südosteuropäische Parlamentariergruppe, womit im Moment auch Kosovo gemeint ist. Wir haben schon Parlamentariergruppen mit Kroatien, Slowenien und Bosnien-Herzegowina. Ich wäre dafür, dass wir jetzt eine Parlamentariergruppe Deutschland-Kosovo einrichten. Das wäre ein vertrauenschaffendes und integrierendes Signal an diesen jungen Staat auf dem Weg zur Demokratie. Wir werden gewiss noch einige Jahre finanzielle, personelle und auch militärische Beiträge zur Absicherung der Entwicklung leisten müssen, die wir im südlichen Osteuropa wollen, für eine Entwicklung, die wir dem Kosovo gönnen und die der Kosovo braucht. Das wird nicht ohne KFOR gehen. Wir werden noch einen langen Atem brauchen, der jedenfalls so lange halten muss, bis es dann ganz ohne fremde Hilfe geht. Das wird einige Jahre dauern. Aber diesen langen Atem sollten wir haben. Ich bitte Sie, dem Antrag der Bundesregierung zuzustimmen. Schönen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärti- gen Ausschusses auf Drucksache 16/9461 zu dem An- trag der Bundesregierung zur Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der internationalen Sicherheitspräsenz im Kosovo. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 16/9287 anzunehmen. Wir stimmen nun über die Beschlussempfehlung na- mentlich ab. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schrift- führer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Sind alle Schriftführerinnen und Schriftführer an den vorgese- henen Plätzen? - Das ist der Fall. Ich eröffne die Ab- stimmung. Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme noch nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schrift- führerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben. Während der Abstimmung haben das Präsidium Er- klärungen zum Abstimmungsverhalten nach § 31 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestags der Kolle- gin Sylvia Kotting-Uhl, der Kollegin Monika Lazar, des Kollegen Hans-Christian Ströbele und des Kollegen Dr. Harald Terpe erreicht. Wir nehmen diese Erklärun- gen entsprechend unseren Bestimmungen zu Protokoll.1) Wir setzen die Abstimmungen fort. Dazu bitte ich Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, wieder die Plätze ein- zunehmen. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärti- gen Ausschusses zu dem Entschließungsantrag der Frak- tion der FDP zu dem Antrag der Bundesregierung zur Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der internatio- nalen Sicherheitspräsenz im Kosovo. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck- sache 16/9463, den Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/9369 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfeh- lung ist gegen die Stimmen der FDP-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Zustimmung der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion und der Fraktion Die Linke angenommen. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärti- gen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke 1) Anlage 2 mit dem Titel „Konflikte zwischen Serbien und Ko- sovo-Albanern reduzieren - UN-Resolution 1244 un- eingeschränkt umsetzen sowie faire und ergebnisoffene Verhandlungen ermöglichen“. Der Ausschuss emp- fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck- sache 16/7583, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/6034 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer möchte sich enthalten? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion, der FDP-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grü- nen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke ange- nommen. Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Unverzüglicher Rückzug der Bundeswehr aus dem Ko- sovo“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- empfehlung auf Drucksache 16/9151, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/8779 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Gibt es Stimmenthaltungen? - Das ist nicht der Fall. Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion, der FDP-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke angenom- men. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a bis 7 c auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Wolfgang Nešković, Ulla Lötzer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Steuerhinterziehung bekämpfen - Steueroasen austrocknen - Drucksache 16/9168 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({0}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Haushaltsausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Dr. Axel Troost, Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und der Fraktion DIE LINKE Steuermissbrauch wirksam bekämpfen - Vorhandene Steuerquellen erschließen - Drucksache 16/9166Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({1}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Christine Scheel, Kerstin Andreae, Birgitt Bender, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Keine Hintertür für Steuerhinterzieher - Drucksache 16/9421 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({2}) Rechtsausschuss Vizepräsidentin Petra Pau Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion Die Linke fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Für die Fraktion Die Linke hat die Kollegin Dr. Barbara Höll das Wort. ({3})

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am Samstag beginnt die Fußballeuropameisterschaft. Das ist ein großes Ereignis, das viele Menschen begeistern wird. Ich hoffe auf interessante Spiele. Möge die Mannschaft mit der schönsten Spielkultur gewinnen. Vielleicht kann die deutsche Nationalmannschaft der Männer an die Erfolge der Frauen anknüpfen. ({0}) Man wird natürlich nicht nur schöne Spiele zu sehen bekommen, sondern auch Franz Beckenbauer. Der Botschafter und ungekrönte Kaiser des deutschen Fußballs wird als willkommener und allseits gefragter Kommentator auf allen Kanälen zu sehen sein. Herr Beckenbauer lebt seit 1982 in Österreich, um Steuern zu sparen, während er beruflich all die Zeit schwerpunktmäßig in Deutschland tätig war und ist. Er muss nur aufpassen, dass er im Jahr nicht mehr als 183 Nächte in Deutschland verbringt. Herr Zumwinkel bekam den Hals nicht voll genug. Er war dank Erbschaft schon Millionär, bevor er seine Einkünfte als Chef der Deutschen Post gewaltig vermehren konnte. Allein 2006 steigerte er seine Gesamtbezüge gegenüber dem Vorjahr um 26 Prozent auf sage und schreibe 4,24 Millionen Euro. Aber all diese Millionen waren noch nicht genug für ihn. Nein, er musste auch noch Steuern über die Steueroase Liechtenstein hinterziehen. ({1}) In der aktuellen Werbung von Banken und Kreditinstituten wimmelt es nur so von Vorschlägen und Aufmachern, wie die im nächsten Jahr kommende Abgeltungsteuer umgangen werden kann. Sogar die Tageszeitung Die Welt titelte am 14. Mai dieses Jahres: „Banken schüren Angst vor Abgeltungssteuer“. Die Finanzbranche warnt ausgerechnet vor der Steuer, deren Einführung Bundesfinanzminister Steinbrück letztes Jahr hier im Plenum noch so begründete: 25 Prozent von x sind besser als 42 Prozent von nix. Diese Aussage ist leider bezeichnend für die Strategie der Bundesregierung - die gerade nicht anwesend ist -, wenn es um Steuerhinterziehung geht. ({2}) Sie entlasten die Einkommen, bei denen sich Steuerhinterziehung lohnt, nämlich die hohen Kapitaleinkommen. Damit verknüpfen Sie die Hoffnung, dass weniger hinterzogen wird. Diese Strategie geht bisher nicht auf, da Sie offenbar Folgendes unterschätzen: In Deutschland sind Steuerumgehung, also das legale Ausnutzen von Lücken im Steuerrecht, und illegale Steuerhinterziehung en vogue. Es gibt hierzulande geradezu eine Kultur des exzessiven Steuersparens, nach der es heldenhaft ist, dem Staat möglichst wenig zu überlassen. Das lehnen wir ab. ({3}) Rituale der öffentlichen Empörung nach jedem aufgedeckten Steuerhinterziehungsskandal sind absolut überflüssig, solange ihnen kein Handeln folgt. In Bundesregierung und Koalition bedarf es offensichtlich eines Umdenkens bezüglich wirksamer Strategien gegen Steuerhinterziehung und -umgehung. Die Steuersenkungen, die Sie veranlasst haben, sind hierzu das völlig falsche Instrument. ({4}) Wir brauchen stattdessen einen Ausbau der Kontrollmöglichkeiten und die Durchsetzung der bestehenden Gesetze. Dazu bedarf es mehr Ressourcen und mehr Personal für die Steuerverwaltung. Die bestehenden Probleme in diesem Feld, die sich aus der föderalen Kompetenzverwaltung ergeben, müssen endlich angegangen werden. Es muss Schluss damit sein, dass die Bundesländer Standortwettbewerb mittels laxen Steuervollzugs betreiben. Die Bekämpfung der internationalen Steuerhinterziehung braucht auf nationaler Ebene dringend zusätzliche Kontrollmöglichkeiten. Daher schlagen wir vor, eine Meldepflicht bei Kapitalbewegungen ins Ausland ab einem jährlichen Betrag in Höhe von insgesamt 100 000 Euro einzuführen. Wir brauchen weitere gesetzliche Regelungen, zum Beispiel eine gesetzliche Anzeige- und Registrierpflicht für aggressive Steuermodelle. Das sind Konstrukte, die extra dafür geschaffen werden, Gewinne nicht aus Wertschöpfung, sondern aus dem Sparen von Steuern zu erreichen. Mit der deutschen Vorreiterrolle beim internationalen Steuersenkungswettbewerb muss Schluss sein. ({5}) Weitere Wettbewerbsrunden, beispielsweise durch die Unternehmensteuerreform, einzuläuten, ist falsch. Es wäre langfristig viel sinnvoller, wenn sich die Bundesregierung für mehr Steuerharmonisierung auch auf europäischer Ebene einsetzen würde. ({6}) Dafür bestehen ja Chancen. Die Bundesrepublik als größte Volkswirtschaft verfügt über das dafür notwendige politische Gewicht. Natürlich geht es auch darum, die Steueroasen endlich auszutrocknen. Dass das machbar ist, hat das Verhalten der USA gegenüber Liechtenstein gezeigt. Die Zinsrichtlinie auf EU-Ebene muss dringend reformiert werden. Sie sollte in Zukunft alle Kapitaleinkünfte erfassen. Wir brauchen unbedingt gesetzliche Neuregelungen bezüglich der Quellensteuervereinbarung auch mit Steueroasen wie Luxemburg, Österreich, Belgien und der Schweiz. Dabei darf die Quellensteuer aber nicht auf natürliche Personen begrenzt sein, sondern muss auf juristische Personen ausgedehnt werden. Ich fordere Sie auf: Nehmen Sie unsere Anträge zur Hand. Lassen Sie uns darüber diskutieren. Belassen Sie es nicht bei der öffentlichen Empörung, sondern handeln Sie endlich, wo es möglich ist. Ich bedanke mich. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Bevor ich nun dem Kollegen Manfred Kolbe für die Unionsfraktion das Wort gebe, komme ich zu Tagesordnungspunkt 6 a zurück und gebe das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung zur Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der internationalen Sicherheitspräsenz im Kosovo bekannt: Abgegebene Stimmen 559. Mit Ja haben gestimmt 499, mit Nein haben gestimmt 57. Drei Kolleginnen und Kollegen haben sich enthalten. Die Beschlussempfehlung und damit der Antrag der Bundesregierung ist angenommen. Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 559; davon ja: 499 nein: 57 enthalten: 3 Ja CDU/CSU Ulrich Adam Ilse Aigner Peter Albach Dorothee Bär Thomas Bareiß Norbert Barthle Günter Baumann ({0}) Veronika Bellmann Otto Bernhardt Clemens Binninger Renate Blank Peter Bleser Antje Blumenthal Dr. Maria Böhmer ({1}) Wolfgang Bosbach Michael Brand Helmut Brandt Dr. Ralf Brauksiepe Georg Brunnhuber Cajus Caesar Gitta Connemann Leo Dautzenberg Alexander Dobrindt Thomas Dörflinger Marie-Luise Dött Maria Eichhorn Dr. Stephan Eisel Anke Eymer ({2}) Ilse Falk Dr. Hans Georg Faust Enak Ferlemann Hartwig Fischer ({3}) Dirk Fischer ({4}) Axel E. Fischer ({5}) Dr. Maria Flachsbarth Klaus-Peter Flosbach Herbert Frankenhauser Dr. Hans-Peter Friedrich ({6}) Erich G. Fritz Jochen-Konrad Fromme Dr. Michael Fuchs Hans-Joachim Fuchtel Dr. Jürgen Gehb Norbert Geis Ralf Göbel Peter Götz Dr. Wolfgang Götzer Reinhard Grindel Hermann Gröhe Michael Grosse-Brömer Markus Grübel Manfred Grund Monika Grütters Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg Olav Gutting Gerda Hasselfeldt Ursula Heinen Uda Carmen Freia Heller Jürgen Herrmann Bernd Heynemann Ernst Hinsken Peter Hintze Christian Hirte Robert Hochbaum Klaus Hofbauer Joachim Hörster Hubert Hüppe Susanne Jaffke-Witt Dr. Peter Jahr Dr. Hans-Heinrich Jordan Andreas Jung ({7}) Dr. Franz Josef Jung Bartholomäus Kalb Steffen Kampeter Alois Karl Bernhard Kaster Siegfried Kauder ({8}) Volker Kauder Jürgen Klimke Julia Klöckner Jens Koeppen Kristina Köhler ({9}) Norbert Königshofen Dr. Rolf Koschorrek Hartmut Koschyk Thomas Kossendey Michael Kretschmer Gunther Krichbaum Dr. Günter Krings Dr. Martina Krogmann Dr. Hermann Kues Dr. Karl Lamers ({10}) Andreas G. Lämmel Helmut Lamp Dr. Max Lehmer Paul Lehrieder Ingbert Liebing Eduard Lintner Dr. Klaus W. Lippold Patricia Lips Dr. Michael Luther Stephan Mayer ({11}) Wolfgang Meckelburg Dr. Michael Meister Dr. Angela Merkel Friedrich Merz Laurenz Meyer ({12}) Maria Michalk Philipp Mißfelder Dr. Eva Möllring Marlene Mortler Carsten Müller ({13}) Stefan Müller ({14}) Dr. Gerd Müller Hildegard Müller Bernd Neumann ({15}) Dr. Georg Nüßlein Franz Obermeier Eduard Oswald Henning Otte Rita Pawelski Ulrich Petzold Dr. Joachim Pfeiffer Sibylle Pfeiffer Ronald Pofalla Daniela Raab Hans Raidel Dr. Peter Ramsauer Eckhardt Rehberg Katherina Reiche ({16}) Dr. Heinz Riesenhuber Johannes Röring Dr. Norbert Röttgen Albert Rupprecht ({17}) Peter Rzepka Anita Schäfer ({18}) Hermann-Josef Scharf Hartmut Schauerte Dr. Andreas Scheuer Karl Schiewerling Norbert Schindler Bernd Schmidbauer Christian Schmidt ({19}) Andreas Schmidt ({20}) Ingo Schmitt ({21}) Dr. Andreas Schockenhoff Dr. Ole Schröder Bernhard Schulte-Drüggelte Uwe Schummer Wilhelm Josef Sebastian Kurt Segner Bernd Siebert Thomas Silberhorn Jens Spahn Erika Steinbach Christian Freiherr von Stetten Gero Storjohann Andreas Storm Max Straubinger Thomas Strobl ({22}) Lena Strothmann Michael Stübgen Hans Peter Thul Dr. Hans-Peter Uhl Arnold Vaatz Vizepräsidentin Petra Pau Volkmar Uwe Vogel Andrea Astrid Voßhoff Gerhard Wächter Marco Wanderwitz Kai Wegner Marcus Weinberg Peter Weiß ({23}) Gerald Weiß ({24}) Ingo Wellenreuther Karl-Georg Wellmann Anette Widmann-Mauz Klaus-Peter Willsch Elisabeth WinkelmeierBecker Dagmar Wöhrl Wolfgang Zöller SPD Dr. Lale Akgün Niels Annen Ingrid Arndt-Brauer Rainer Arnold Ernst Bahr ({25}) Doris Barnett Klaus Barthel Sören Bartol Sabine Bätzing Dirk Becker Klaus Uwe Benneter Dr. Axel Berg Petra Bierwirth Lothar Binding ({26}) Volker Blumentritt Kurt Bodewig Clemens Bollen Gerd Bollmann Dr. Gerhard Botz Bernhard Brinkmann ({27}) Edelgard Bulmahn Marco Bülow Ulla Burchardt Martin Burkert Christian Carstensen Dr. Peter Danckert Karl Diller Dr. Carl-Christian Dressel Elvira Drobinski-Weiß Garrelt Duin Sebastian Edathy Siegmund Ehrmann Hans Eichel Petra Ernstberger Karin Evers-Meyer Elke Ferner Rainer Fornahl Gabriele Frechen Peter Friedrich Iris Gleicke Renate Gradistanac Angelika Graf ({28}) Dieter Grasedieck Monika Griefahn Gabriele Groneberg Achim Großmann Wolfgang Grotthaus Hans-Joachim Hacker Bettina Hagedorn Klaus Hagemann Michael Hartmann ({29}) Nina Hauer Hubertus Heil Rolf Hempelmann Dr. Barbara Hendricks Gustav Herzog Gabriele Hiller-Ohm Stephan Hilsberg Iris Hoffmann ({30}) Frank Hofmann ({31}) Klaas Hübner Lothar Ibrügger Brunhilde Irber Johannes Jung ({32}) Josip Juratovic Johannes Kahrs Ulrich Kasparick Ulrich Kelber Christian Kleiminger Astrid Klug Walter Kolbow Fritz Rudolf Körper Karin Kortmann Anette Kramme Ernst Kranz Nicolette Kressl Volker Kröning Angelika Krüger-Leißner Dr. Hans-Ulrich Krüger Jürgen Kucharczyk Ute Kumpf Dr. Uwe Küster Christine Lambrecht Christian Lange ({33}) Dr. Karl Lauterbach Waltraud Lehn Gabriele Lösekrug-Möller Dirk Manzewski Lothar Mark Katja Mast Petra Merkel ({34}) Ulrike Merten Ursula Mogg Marko Mühlstein Detlef Müller ({35}) Gesine Multhaupt Franz Müntefering Andrea Nahles Thomas Oppermann Holger Ortel Heinz Paula Johannes Pflug Joachim Poß Dr. Wilhelm Priesmeier Florian Pronold Mechthild Rawert Steffen Reiche ({36}) Dr. Carola Reimann Christel RiemannHanewinckel Walter Riester Sönke Rix René Röspel Dr. Ernst Dieter Rossmann Karin Roth ({37}) Michael Roth ({38}) Ortwin Runde ({39}) Anton Schaaf Axel Schäfer ({40}) Dr. Hermann Scheer Marianne Schieder Otto Schily Ulla Schmidt ({41}) Silvia Schmidt ({42}) Heinz Schmitt ({43}) Carsten Schneider ({44}) Olaf Scholz Ottmar Schreiner Reinhard Schultz ({45}) Swen Schulz ({46}) Ewald Schurer Frank Schwabe Dr. Angelica Schwall-Düren Dr. Martin Schwanholz Rolf Schwanitz Rita Schwarzelühr-Sutter Jörg-Otto Spiller Dr. Ditmar Staffelt Andreas Steppuhn Ludwig Stiegler Christoph Strässer Dr. Peter Struck Joachim Stünker Dr. Rainer Tabillion Jella Teuchner Jörn Thießen Franz Thönnes Simone Violka Jörg Vogelsänger Dr. Marlies Volkmer Hedi Wegener Andreas Weigel Petra Weis Gunter Weißgerber Gert Weisskirchen ({47}) Dr. Rainer Wend Lydia Westrich Dr. Margrit Wetzel Andrea Wicklein Heidemarie Wieczorek-Zeul Dr. Dieter Wiefelspütz Engelbert Wistuba Waltraud Wolff ({48}) Heidi Wright Manfred Zöllmer Brigitte Zypries FDP Dr. Karl Addicks Daniel Bahr ({49}) Uwe Barth Rainer Brüderle Ernst Burgbacher Patrick Döring Mechthild Dyckmans Jörg van Essen Ulrike Flach Otto Fricke Paul K. Friedhoff Horst Friedrich ({50}) Dr. Edmund Peter Geisen Dr. Wolfgang Gerhardt Miriam Gruß Joachim Günther ({51}) Heinz-Peter Haustein Birgit Homburger Dr. Werner Hoyer Dr. Heinrich L. Kolb Gudrun Kopp Heinz Lanfermann Harald Leibrecht Sabine LeutheusserSchnarrenberger Michael Link ({52}) Markus Löning Patrick Meinhardt Jan Mücke Burkhardt Müller-Sönksen Dirk Niebel Hans-Joachim Otto ({53}) Cornelia Pieper Jörg Rohde Frank Schäffler Dr. Konrad Schily Vizepräsidentin Petra Pau Dr. Hermann Otto Solms Dr. Rainer Stinner Florian Toncar Dr. Claudia Winterstein Hartfrid Wolff ({54}) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Marieluise Beck ({55}) Volker Beck ({56}) Birgitt Bender Alexander Bonde Dr. Thea Dückert Dr. Uschi Eid Hans Josef Fell Kai Gehring Britta Haßelmann Priska Hinz ({57}) Bärbel Höhn Fritz Kuhn Undine Kurth ({58}) Anna Lührmann Nicole Maisch Jerzy Montag Kerstin Müller ({59}) Winfried Nachtwei Brigitte Pothmer Claudia Roth ({60}) Krista Sager Manuel Sarrazin Elisabeth Scharfenberg Irmingard Schewe-Gerigk Dr. Gerhard Schick Rainder Steenblock Silke Stokar von Neuforn Dr. Wolfgang StrengmannKuhn Jürgen Trittin Josef Philip Winkler Nein CDU/CSU Willy Wimmer ({61}) SPD Gregor Amann Petra Hinz ({62}) FDP Jürgen Koppelin DIE LINKE Dr. Dietmar Bartsch Karin Binder Dr. Lothar Bisky Heidrun Bluhm Eva Bulling-Schröter Roland Claus Sevim Dağdelen Dr. Diether Dehm Werner Dreibus Dr. Dagmar Enkelmann Klaus Ernst Dr. Gregor Gysi Hans-Kurt Hill Inge Höger Ulla Jelpke Dr. Hakki Keskin Monika Knoche Katrin Kunert Oskar Lafontaine Ulla Lötzer Dr. Gesine Lötzsch Ulrich Maurer Dorothée Menzner Kornelia Möller Kersten Naumann Petra Pau Bodo Ramelow Paul Schäfer ({63}) Volker Schneider ({64}) Dr. Herbert Schui Dr. Petra Sitte Frank Spieth Alexander Ulrich Sabine Zimmermann BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Monika Lazar Hans-Christian Ströbele fraktionslos Enthalten CDU/CSU Dr. Wolf Bauer BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Dr. Anton Hofreiter Nun hat das Wort der Kollege Manfred Kolbe für die Unionsfraktion. ({65})

Manfred Kolbe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001172, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Um es vorab klarzustellen, sage ich: Auch die Unionsfraktion bekämpft Steuerhinterziehung energisch. Auch die Bundesregierung bekämpft die Steuerhinterziehung energisch. Wir bekämpfen sie aber auf vernünftige Art und Weise. Frau Höll, bloße Forderungen nach Steuererhöhungen, Meldepflichten und Abgabepflichten sind keine Lösung. ({0}) Deshalb darf ich kurz sachlich darstellen, was wir auf diesem Gebiet bereits geleistet haben. Dies tue ich, weil Sie das unterschlagen haben. Wir haben in den letzten Jahren viel gegen die Steuerhinterziehung getan. Seit 2005 gilt die EU-Zinssteuerrichtlinie. Diese gab es vorher nicht. Sie ist maßgeblich auf deutsches Drängen hin eingeführt worden. 22 Staaten wenden diese Zinssteuerrichtlinie an. Es ist allerdings bedauerlich, dass bei einigen dieser Staaten die überseeischen Gebiete nicht dabei sind, die gerade interessant wären. Bei Großbritannien fehlen Anguilla, Bermuda und die Virgin-Islands. Aber immerhin: 22 Staaten wenden diese Richtlinie an. Wir drängen auf eine weitere Ausdehnung. Belgien, Luxemburg, Österreich, die Schweiz und Liechtenstein verweigern bisher die Teilnahme und führen lediglich eine Quellensteuer ab. Das heißen wir nicht gut. ({1}) Wir treten für eine Ausdehnung der Zinssteuerrichtlinie ein. Sie darf nicht nur für Privatpersonen gelten, sie muss auch für Körperschaften gelten. Sie darf nicht nur für Zinserträge gelten, sie muss auch für andere Erträge gelten. Noch ist das ein Käse mit vielen Löchern. (Christine Scheel ({2}): So ist es! - Dr. Barbara Höll ({3}): In dem Punkt können Sie uns dann zustimmen? - Dr. Ilja Seifert ({4}): Stimmen Sie doch einfach unserem Antrag zu!) Sie wurde im Jahr 2005 eingeführt. Die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen arbeiten daran. Lassen Sie mich zur Amtshilfe kommen. Angesichts der zunehmenden internationalen Verpflichtungen ist die Zusammenarbeit im Verwaltungsvollzug immer wichtiger. Deshalb sehen auch die Art. 26 und 27 des OECDDBA-Musterabkommens den Austausch von Bankinformationen und die Gewährung von Betreibungshilfe vor. Wir arbeiten weiter daran, dies zu verbessern. Das Ganze ist im Augenblick noch nicht optimal. Nach einem Bericht des Bundesministeriums der Finanzen vom 18. März 2008 ist es bisher aber nicht einmal gelungen, mit allen westeuropäischen OECD-Mitgliedstaaten Bankinformationen nach Maßgabe des OECD-Musterabkommens auszutauschen; hier wären erneut eine Reihe von Ländern zu nennen. Die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen sind jedoch an vorderster Linie dabei, Frau Kollegin Höll. Lassen Sie mich bei der Bekämpfung der internationalen Steuerhinterziehung zu den Doppelbesteuerungsabkommen kommen. Auch diese Doppelbesteuerungsabkommen eröffnen durch die Begrenzung der Besteuerungsrechte der einzelnen Staaten gewisse Gestaltungsmöglichkeiten. Wir versuchen, diese durch Vorbehaltsklauseln in den DBA oder durch einseitige nationale Maßnahmen wie zum Beispiel § 50 d Abs. 3 Einkommensteuergesetz in der Fassung des Jahressteuergesetzes 2007 einzugrenzen. Hier sind wir weiter tätig. Alles in allem können wir in diesem Bereich aber nicht allein handeln. Wir brauchen dazu auch Vereinbarungen mit den anderen Europäern. Das alles ist nicht so einfach. Auf nationaler Ebene ist der Umsatzsteuerbetrug das größte Problem. Nach Schätzungen des Ifo-Institutes haben wir allein im Jahr 2007 einen Einnahmeausfall in Höhe von 11,3 Milliarden Euro erlitten. Hier muss etwas getan werden. Wir haben auch schon einiges getan: Wir haben im Jahr 2001 das Umsatzsteuerverkürzungsbekämpfungsgesetz verabschiedet. Wir haben das Steueränderungsgesetz 2003 verabschiedet. Wir haben im letzten Jahr die Telekommunikationsüberwachung bei der bandenmäßigen Umsatzsteuer- und Verbrauchsteuerhinterziehung eingeführt. Bis dahin gab es im Bereich des Steuerrechts keine Telefonüberwachung. Wenn von Telefonüberwachung die Rede ist, dann gibt es hier einige, die gleich den ganzen Rechtsstaat in Gefahr und den Abhörstaat kommen sehen. ({5}) Im Bereich der bandenmäßigen Umsatzsteuer- und Verbrauchsteuerhinterziehung hat diese Bundesregierung erstmalig die Möglichkeit einer Telekommunikationsüberwachung geschaffen. Wir müssen das Umsatzsteuersystem generell reformieren, um es weniger betrugsanfällig zu machen. Frau Staatssekretärin Kressl, unsere augenblicklichen Bemühungen auf europäischer Ebene sind an einem Punkt angelangt, an dem es mit Reverse-Charge wohl nicht weitergeht. Wir überlegen jetzt auf nationaler Ebene, wie wir das System weniger betrugsanfällig gestalten können. ({6}) - Ja, die FDP ist natürlich dabei. Wir können doch über alles reden, Herr Wissing. Die FDP war schon etliche Jahrzehnte an der Regierung beteiligt, aber auch Ihnen ist das bisher noch nicht geglückt. Daran zeigt sich: Es ist nicht ganz einfach, dieses dicke Brett zu bohren. Auf nationaler Ebene ist das Thema Steuerhinterziehung durch die Verhaftung von Klaus Zumwinkel am 14. Februar dieses Jahres und die anschließende deutschlandweite Aktion der Steuerfahndung Wuppertal in den Fokus der Öffentlichkeit geraten. Wir haben damals gesagt - das sagen wir auch heute noch -: Steuerhinterziehung ist kein Kavaliersdelikt und wird von uns energisch bekämpft. Der Fall Zumwinkel darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Steuerfahndung in Deutschland alles in allem erfolgreich ist. Es gibt pro Jahr rund 40 000 Verfahren, rund 17 000 Strafverfahren, und die Mehreinnahmen betragen im Schnitt 1,5 Milliarden Euro. Das ist eine beachtliche Leistung der Steuerfahnder. Auch was die Verhaftung von Klaus Zumwinkel angeht, hieß es nicht etwa, man habe zu wenig energisch gehandelt, sondern es hieß eher, man habe vielleicht sogar zu energisch gehandelt, da man zum Beispiel die Hilfe des BND in Anspruch genommen habe. Daran wird deutlich: Steuerhinterziehung wird energisch verfolgt. Was kann noch getan werden? Gelegentlich wird die Forderung nach einer Erhöhung des Strafmaßes erhoben. Wir glauben, dass das Strafmaß von bis zu zehn Jahren Freiheitsentzug ausreichend ist. Eine weitere Erhöhung würde wenig bringen, zumal das Strafmaß von bis zu zehn Jahren bisher kaum ausgeschöpft wurde. Auch die Abschaffung der strafbefreienden Selbstanzeige, die gelegentlich gefordert wird, würde wenig bringen, da diese Selbstanzeige eine Folge der Mitwirkungspflicht des Steuerpflichtigen ist. Würde man die strafbefreiende Selbstanzeige abschaffen, würde sich niemand korrigieren können, ohne die Einleitung eines Strafverfahrens zu riskieren; auch derjenige nicht, der nur irrtümlich einen Fehler in seiner Steuererklärung gemacht hat. An einem Punkt gibt es unserer Meinung nach aber einen Wertungswiderspruch: Derjenige, der seine Steuern ordnungsgemäß deklariert und lediglich bei der Zahlung einige Tage in Verzug gerät, muss einen Säumniszuschlag von 1 Prozent pro angefangenem Monat zahlen. Wenn man seine Steuern also ordnungsgemäß deklariert und lediglich verspätet zahlt, hat man auf das Jahr gerechnet einen Strafzins in Höhe von 12 Prozent zu entrichten. Derjenige hingegen, der seine Steuern nicht deklariert, der sie also hinterzieht, zahlt nach den §§ 235 und 238 AO lediglich Hinterziehungszinsen in Höhe von 6 Prozent pro Jahr. Das ist unseres Erachtens ein Wertungswiderspruch, über den wir einmal nachdenken sollten. Die Besserstellung eines Steuerhinterziehers gegenüber einem bloß säumigen Zahler scheint mir nicht angebracht zu sein. Abschließend sage ich: Missbrauchsbekämpfung und Bekämpfung der Steuerhinterziehung sind die eine Seite der Medaille. Die andere Seite der Medaille ist ein gerechtes und von den Bürgerinnen und Bürgern akzeptiertes Steuersystem. ({7}) Je höher die Steuern sind und je mehr an der Steuerschraube gedreht wird, desto eher sieht der eine oder andere als vermeintlichen Ausweg - ich sage ausdrücklich: als vermeintlichen, nicht als berechtigten Ausweg - die Steuerhinterziehung. Deshalb müssen wir genauso energisch, wie wir die Steuerhinterziehung bekämpfen, für ein gerechtes und akzeptiertes Steuersystem kämpfen. ({8}) Sie, meine Damen und Herren von der Linken, haben bis 1989 in einem Teil Deutschlands regiert. Dort gab es eine Einkommensteuer, die erdrosselnd war: Ab einem Einkommen von 20 000 Mark waren in der DDR 80 Prozent Steuern fällig. Steuerflucht und Globalisierung gab es aufgrund der bekannten einengenden Umstände nicht. Das Ergebnis war nicht mehr Wohlstand und eine größere staatliche Leistungsfähigkeit. Das Ergebnis war eine Revolution, die alles hat zusammenbrechen lassen. Wir müssen also einen vernünftigen Mittelweg finden. Wir brauchen ein gerechtes und akzeptiertes Steuersystem, und die Steuerhinterziehung muss energisch bekämpft werden. Dafür wird sich die Unionsfraktion einsetzen. Danke. ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Dr. Volker Wissing das Wort. ({0})

Dr. Volker Wissing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003702, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Über Steuerhinterziehung haben wir schon oft gesprochen, sind aber keinen Schritt weitergekommen. ({0}) Angesichts der Qualität der heutigen Anträge ist damit auch nicht zu rechnen. ({1}) Ich gehe auf den Antrag der Grünen ein. Die Grünen schreiben: Die große Koalition hat viel zu lange stillgehalten und damit Steuerhinterziehung gedeckt. Die Wahrheit ist: Die Große Koalition regiert seit drei Jahren, die Grünen haben vorher sieben Jahre regiert und genauso stillgehalten. Nach Ihrer Logik, Frau Kollegin Scheel, haben Sie Steuerhinterziehung doppelt so lange gedeckt wie die Große Koalition. Herzlichen Glückwunsch! ({2}) Sie schreiben in Ihrem Antrag weiter: Die Bundesregierung soll in der Föderalismuskommission II darauf hinwirken, dass das Personal bei Betriebsprüfung und Steuerfahndung deutlich aufgestockt wird. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, in der Sache haben Sie recht; aber warum wirken Sie nicht selbst in der Föderalismuskommission II darauf hin? ({4}) - Sie sollten einmal mit Herrn Kuhn sprechen; er sitzt ja in der Kommission. - Bevor Sie hier nach der Unterstützung der Bundesregierung rufen, sollten Sie in der Föderalismuskommission II das, was Sie in Ihrem Antrag fordern, vortragen. Im Übrigen hat die FDP in der Föderalismuskommission II wiederholt auf diesen Punkt hingewiesen. Wenn Sie uns dabei unterstützen wollen, sind wir bei diesem Punkt schon morgen ein Stück weiter. Am Ende wird Ihr Antrag richtig skurril. Sie schreiben, Staatsanwälte würden Steuerstrafsachen aus Kapazitätsmangel nicht bei den zuständigen Strafkammern der Landgerichte, sondern bei den Amtsgerichten erheben, die nur maximal vier Jahre Freiheitsstrafe verhängen dürfen. Liebe Frau Scheel, die Zulässigkeit einer Anklage wird in Deutschland von unabhängigen Richterinnen und Richtern geprüft. ({5}) Es ist absurd, Amtsrichtern zu unterstellen, sie würden Hauptverfahren in Steuerstrafsachen eröffnen, obwohl die Landgerichte zuständig sind. Mich würde wirklich interessieren, wie Sie auf solche unhaltbaren Vorwürfe kommen. ({6}) Sie schöpfen aus dem Vollen, Sie schreiben in Ihrem Antrag, deutsche Gerichte würden aus Kapazitätsmangel Steuerstrafsachen oft einstellen, anstatt die Angeklagten zu verurteilen. Ich finde, das ist bodenlos. 2006 wurden von den Gerichten in Deutschland 14 Prozent der allgemeinen Strafsachen eingestellt, bei Steuerstrafsachen lag die Einstellungsquote bei nur 9,3 Prozent, also deutlich niedriger. ({7}) Ich frage Sie: Was veranlasst Sie eigentlich dazu, in Ihrem Antrag derart schwerwiegende Vorwürfe gegen die deutsche Justiz zu erheben? ({8}) Es ist eine Zumutung, dass Sie uns Anträge mit haltlosen Vorwürfen vorlegen. ({9}) Sie zeichnen ein Bild, das mit der Realität nichts zu tun hat. ({10}) Wenn Sie sich, bevor Sie Anträge schreiben, einmal informieren wollen, wie sich das mit den Steuerstrafsachen verhält, empfehle ich Ihnen, die Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der FDP zu lesen; darin können Sie die Zahlen nachlesen. ({11}) Dann werden Sie feststellen, dass Steuerstrafsachen von der deutschen Justiz schärfer verfolgt werden als allgemeine Straftaten. Hören Sie auf, einen solchen Popanz in Ihre Anträge zu schreiben! Das ist, gelinde gesagt, unseriös, Frau Scheel. ({12}) Nun zu den Anträgen der Linken. Liebe Kollegin Höll, was mich an Ihrem Ansatz stört, ({13}) ist, dass er rein reaktiv ist. Sie fordern regelmäßige Berichte des Finanzministers über Steuergestaltungsmodelle. Sie wollen Steuergestaltungsmodelle verbieten. Besser wäre es, Steuergestaltungsmodelle von vornherein zu verhindern. ({14}) Wenn Sie ehrlich sind, müssen Sie zugeben, dass Steuergestaltungsmodelle vor allem dort entstehen, wo das Steuerrecht zu kompliziert ist, wo es undurchsichtig ist, wo es von den Menschen nicht akzeptiert wird. Herr Kollege Kolbe, ich bin ganz Ihrer Meinung, wenn Sie sagen, es sind viele Löcher im Käse. Auch die FDP ist der Meinung, dass das deutsche Steuerrecht ziemlicher Käse ist. ({15})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Dr. Wissing, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Dr. Höll?

Dr. Volker Wissing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003702, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Kollege Wissing, ich bin irritiert. Unser Antrag trägt den Titel „Steuermissbrauch wirksam bekämpfen Vorhandene Steuerquellen erschließen“. Wir setzen uns darin explizit mit Maßnahmen gegen aggressive Steuersparmodelle auseinander. Wir haben das Punkt für Punkt aufgeführt. Man kann das so machen, wie wir das vorschlagen, man kann das auch anders machen; aber man muss etwas machen. Zu einer Form haben wir uns sehr konkret geäußert, nämlich zu den Steuergestaltungsmodellen. Hier sollen Anzeigepflichten eingeführt werden. Sie müssen bei der ersten oder zweiten Zeile aufgehört haben, unseren Antrag zu lesen.

Dr. Volker Wissing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003702, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich sage es Ihnen noch einmal, Frau Kollegin Höll: Ich halte Ihren Ansatz für schwach, weil er rein reaktiv ist. Es wäre vernünftiger, dort anzusetzen, wo die Probleme entstehen. Sie liegen in einem viel zu komplizierten Steuerrecht begründet. Sie versuchen immer wieder, die Dinge im Nachhinein zu flicken. Sie können dann neue Löcher in den Käse hineinschneiden, aber das Ganze bleibt ein löchriger Käse. Das Steuerrecht würde vor allen Dingen mit der Umsetzung Ihrer Vorschläge Käse bleiben. Sie führen nämlich neue Bürokratielasten ein und machen es noch komplizierter. Das halte ich schlicht und einfach für die falsche Lösung. Ein besserer Lösungsansatz wäre es, das Steuerrecht zu vereinfachen, es gerechter zu gestalten und niedrigere Steuersätze einzuführen, damit die Menschen das akzeptieren und die Fehlanreize zur Schaffung von Steuerausnahmen in Deutschland beseitigt werden. Genau das habe ich gesagt. Dazu stehe ich auch. Das ist die Meinung der FDP. ({0}) Bezeichnenderweise findet sich in den Anträgen der Oasenaustrockner kein einziges Wort dazu. Statt inhaltlich mit eigenen Konzepten in die Offensive zu gehen, wollen Sie nur reagieren. Ehrlich gesagt langweilt mich an dieser Debatte langsam, dass immer wieder so getan wird - die Grünen sind darin ja auch immer sehr stark -, als gäbe es hier im Haus einige, die für Steuerhinterziehung sind, während andere sie bekämpfen wollen. Ich finde diesen Popanz ehrlich gesagt ziemlich albern und will noch einmal sagen: Wenn wir gemeinsam etwas tun wollen, dann müssen wir dort ansetzen, wo die Probleme entstehen. Diese entstehen aufgrund der Komplexität und der mangelnden Transparenz unseres Steuersystems. Die FDP ist gerne bereit, mit Ihnen über Maßnahmen zur Bekämpfung von Steuerhinterziehung zu reden; aber allein damit werden wir uns nicht zufriedengeben. Wir wollen mehr. Wir wollen etwas Konkretes, nämlich ein einfaches und gerechtes Steuersystem mit niedrigen Steuersätzen für die Mitte unserer Gesellschaft, die seit Jahren abkassiert wird. ({1}) - Frau Scheel, Sie erheben hier laut Ihre Stimme. ({2}) - Herr Kollege Poß, da Sie von „billig“ reden, sollten Sie einmal Ihren Zwischenruf im Protokoll nachlesen. Der ist nicht nur billig, sondern den kann ich Ihnen auch gleich schenken und zurückgeben. Frau Kollegin Scheel, ich sage Ihnen ganz offen: Sie kommen mit Ihren Vorschlägen nicht weiter. Wer etwas gegen Steuerhinterziehung tun will, der muss dort ansetzen, wo die Probleme entstehen. Das ist bei unserem Steuerrecht. Deswegen wollen wir eine Politik für die Mitte machen, die hier abkassiert wird.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Wissing, achten Sie bitte auf das Zeichen vor Ihnen. Die Redezeit ist überschritten.

Dr. Volker Wissing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003702, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sie haben das angefangen, die Große Koalition hat das fortgesetzt. Wenn dieses Steuersystem nicht gerechter wird, dann werden Sie die Probleme nicht lösen. ({0}) - Ich bedaure nicht, dass Sie keine Frage mehr stellen können, aber wir hören nachher ja noch Ihre Ausführungen zu Ihrem nicht ganz sorgfältig ausgearbeiteten Antrag. Vielen Dank. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Lothar Binding das Wort. ({0})

Lothar Binding (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003050, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr verehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eigentlich hat jetzt auch der Letzte gemerkt, dass wir etwas gegen Steuerhinterziehung, internationale Steuergestaltung und Steuerbetrug machen müssen, also auch die PDS, die Linke, die LafontainePartei. ({0}) Es ist schon wichtig, etwas zu tun, man darf aber nicht verschweigen, dass schon sehr viel getan wurde. Wir wissen, dass die Steueroasen schon ein paar Jahre existieren. Herr Wissing hat uns vorgetragen, wie lange jetzt verschiedene Koalitionen existieren und wie lange die Fraktionen in der Regierung waren. Schauen Sie sich an, wie alt die Steueroasen schon sind, und bedenken Sie, dass auch die FDP 39 Jahre lang an der Regierung beteiligt war, ohne sich so darum zu kümmern. Andernfalls hätten wir uns heute gar nicht mehr darum kümmern müssen. Daran erkennen Sie, wie schnell sich Ihre Aussagen relativieren. ({1}) Ich will ein Grundproblem nennen, mit dem ich andeuten kann, dass unsere Regierung ein gigantisches Lob verdient hat. Es geht um das Verdienst, sich um internationale Verhandlungen über ein faires Steuermodell zu kümmern. Das geschieht international in der OECD und in der EU ganz intensiv. Trotzdem haben wir noch Probleme. Deshalb haben die SPD und die CDU/CSU einen eigenen großen und seriösen Antrag in den Blick genommen. Wir wollen die Lücken, die es noch gibt, genauer untersuchen, immer mit Blick auf die internationale Einbindung. Solange die Unterschiede bei den Steuersystemen und den Steuersätzen zwischen den Ländern so groß sind, können wir nicht alles erreichen, was wir wollen. Angenommen, ich habe in Deutschland ein x-beliebiges Vermögen. Sagen wir, es sind 3 Milliarden Euro. Ich denke an eine Institution, an ein Unternehmen oder an eine Partei. Angenommen, ich würde Gefahr laufen, dass ich dieses Geld steuerlich irgendwie zur Geltung bringen muss. Das würde mich ärgern. Was würde ich also machen? Ich würde möglicherweise - Österreich wurde von Euch ja schon genannt - eine Rudolfine Steindling aus Österreich kennen, die zu 60 verschiedenen Banken engste Kontakte pflegt und weltweit über ein ehemals noch über die SED existierendes Unternehmensnetz gewisse Dinge tun kann. Was würde ich also mit meinem Geld in Deutschland tun? Ich würde ausländische Firmen finden, die meiner inländischen Firma, die das Geld hat, eine Rechnung ausstellen würden. Die Rechnung würde für Consulting, also Beratung, ausgestellt. Ich kann gute Beratung gut oder schlecht bezahlen, ich kann schlechte Beratung gut oder schlecht bezahlen, ich kann natürlich auch gar keine Beratung gut bezahlen. Jetzt sieht man sofort das Problem: Ich bekomme die Rechnung auf den Tisch und bezahle sie, was in Deutschland eine ganz normale Ausgabe ist. Das Geld ist dann grenzüberschreitend weg, es ist an einem wohlüberlegten, sicheren Ort in einem Land, in dem vielleicht keine Steuern erhoben werden. Falls doch, fällt mir bestimmt die nächste Grenze ein - bis dieses Geld in einer Steueroase angekommen ist. Wenn wir uns richtig erinnern, ist das deshalb so kompliziert, weil ich selbst dann, wenn die anderen Staaten wohlmeinend wären, die Firma, die mir die Rechnung schreibt, umgründen, in Konkurs gehen lassen, verschmelzen oder neu gründen kann. Ich nenne ein Beispiel: Die SED geht in die PDS über, diese verschmilzt mit der WASG und gründet Die Linke neu. Hier haben wir genau diese klassische Umgründung, Verschmelzung und Neugründung erlebt, Lothar Binding ({2}) ({3}) die wir auch in der Unternehmenswelt vorfinden. Deshalb empfinde ich euren Antrag als essenziell wichtig. Wir werden sogar einzelne Dinge, speziell diejenigen, die die Zinsrichtlinie betreffen, in unseren Antrag aufnehmen. Die Zinsrichtlinie ist tatsächlich verbesserungsbedürftig. Da ich gerade Herrn Bisky sehe, füge ich an: Dass meine Untersuchung eben gerade nicht ganz verkehrt war, kann ich auch damit begründen, dass Sie sogar ein Ordnungsgeld in Kauf genommen haben, allerdings nicht, um Transparenz zu erzeugen, sondern möglicherweise deshalb, um Aussagen nicht machen zu müssen, die Transparenz geschaffen hätten. Vornehm formuliert, nennt man dies Verschleierung. ({4}) Von daher muss man ein bisschen genauer hingucken und fragen, was dort gemacht wird. Man muss auch etwas genauer auf das gucken, was im Antrag steht. Zu Ihrem Vorschlag, die Doppelbesteuerungsabkommen abzuschaffen, habe ich drei Fragen. Wissen Sie, dass es etwa 40 000 bis 50 000 Grenzgänger zur Schweiz gibt, deren Einkommen in Deutschland versteuert werden? Haben Sie sich überlegt, welche Konsequenzen es für uns hätte, wenn wir darauf verzichteten? Natürlich gilt dies immer symmetrisch. Überlegen Sie sich also, was das für unser Steueraufkommen, aber auch für die Menschen bedeutete, die als Grenzgänger Arbeitnehmer in der Schweiz sind. Haben Sie sich auch einmal überlegt, wie eigentlich die Beziehungen etwa in der chemischen Industrie zwischen Schweizer Unternehmen und wichtigen Töchtern in Deutschland sind und welche Konsequenzen es etwa für die Besteuerung von Lizenzzahlungen hätte, wenn wir Ihrem Vorschlag zu den Doppelbesteuerungsabkommen folgten? Daran merken wir, dass Ihr Vorschlag sehr unüberlegt ist. Diese Unüberlegtheit zeigt sich insbesondere an einem kleinen Satz in Ihrem Antrag: - der Verzicht auf die Einführung der Kapitalabgeltungsteuer: Kapitalerträge werden auch zukünftig dem persönlichen Steuersatz unterworfen; Dies heißt eigentlich nichts weiter als Folgendes: Machte eine Aktiengesellschaft einen Gewinn von, sagen wir, 100 Euro, und zahlte sie auf diese 100 Euro 30 Euro Steuern, bekämen Sie als Anteilseigner 70 Euro und müssten darauf, weil Sie reich sind, wie wir gerade gehört haben, 40 Prozent Steuern zahlen. Am Ende hätten Sie möglicherweise von dem Gewinn allenfalls noch 35 bis 40 Prozent übrig. Wollen Sie dies wirklich, und haben Sie sich überlegt, was das für Investitionstätigkeit, Ansiedlungspolitik und Standortfragen bedeutet? Dessen bin ich mir nicht sicher; ich vermute, dass Sie sich diesen Vorschlag nicht besonders gut überlegt haben. Es gibt in Ihrem Antrag noch ein paar andere Vorschläge, zum Beispiel den „Ausschluss von Bankinstituten aus nicht kooperierenden Staaten“. Welchem Recht unterliegen eigentlich Filialen ausländischer Banken in Deutschland? Diese Filialen unterliegen deutschem Recht. Was passierte, wenn sie geschlossen würden? Dann gäbe es immer noch internationale Banktransfers. Es würde immer noch eine Dividende in die Clearstream Banking AG als Sammelbecken fließen, die das dann über ihr Korrespondenzkonto komplett auf eine andere Bank überweisen würde. Wie würden Sie dieser Anonymität Herr werden? Insofern wäre eine echte kleine Tochtergesellschaft einer ausländischen Bank oder eine Filiale vorzuziehen, die nach deutschem Recht beaufsichtigt wird und Transparenz wahren muss. Der Kollege Kolbe hat bereits darauf hingewiesen, dass es eine ganze Reihe von Kontrollmitteilungen gibt. Möglich ist zum Beispiel eine Kontenabfrage, um herauszufinden, ob jemand Konten verschleiern wollte. Wir können auch die Stammdaten und die Anzahl der Konten erheben. Ich halte die Diktion in Ihrem Antrag insgesamt für falsch. Mit den von Ihnen vorgeschlagenen Maßnahmen wäre es nicht möglich, Erträge aus Vermögen, die sich heute im Ausland befinden, aufzuspüren. ({5}) Denn wenn sich das Vermögen erst einmal im Ausland befindet, dann kann man die sich daraus ergebenden Erträge international anlegen, ohne jemals mit einer deutschen Bank bzw. dem deutschen Fiskus zu tun zu haben. In Ihrem Antrag sind keine Möglichkeiten vorgesehen, auf solche Erträge zu stoßen. Das ist ein Fehler. Wir wollen Ihren Antrag zum Anlass nehmen, uns mit dem Thema zu befassen und mit unserem Antrag, den wir bereits formuliert haben, der Stoßrichtung in diesem Punkt zu folgen. Ich glaube, dann können wir zu einem guten Ergebnis kommen. Sie haben uns aufgefordert, Ihrem Antrag zuzustimmen. Ich fordere Sie auf: Stimmen Sie unserem Antrag zu! Er ist wohlüberlegt. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die Kollegin Christine Scheel das Wort.

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es wäre schön, wenn wir einem Antrag vonseiten der SPD und der CDU/CSU zustimmen könnten, wenn es ihn denn gäbe. Es gibt ihn aber nicht. ({0}) Das Problem besteht darin, dass innerhalb der Großen Koalition anscheinend sehr individuell gearbeitet wird. Die einen arbeiten in einer AG an einem Antrag; die anderen haben andere Arbeitszusammenhänge und setzen andere Prioritäten. Ich befürchte, dass es zum Thema Steuerhinterziehung in dieser Legislaturperiode keinen gemeinsamen Antrag der Großen Koalition geben wird. Das ist bedauerlich. Aus diesem Grund haben wir vom Bündnis 90/Die Grünen einen konkreten Antrag mit Handlungsmöglichkeiten vorgelegt. ({1}) - Der Inhalt ist richtig. Herr Wissing, Sie sind von Beruf Jurist. Der Antrag der Grünen ist nicht so zu verstehen, als ob wir Staatsanwälten oder Richtern einen Vorwurf machen würden, wie Sie ihn interpretiert haben. Im Gegenteil: Die Grünen sind der Meinung, dass die Richter und Staatsanwälte im Zusammenhang mit Ermittlungstätigkeiten regelmäßig in Verfahren ertrinken. Deswegen wollen wir mehr Effizienz und eine Personalaufstockung mit einer Schwerpunktsetzung in diesem Bereich, wie es sie derzeit nicht gibt. ({2}) Wir fordern ebenso wie bei der Wirtschaftskriminalität die Einrichtung von Schwerpunktstaatsanwaltschaften. Es geht nicht an, dass in der Bundesrepublik Deutschland viele Verfahren nicht so zügig bearbeitet werden können, wie es diejenigen gerne täten, die sie zu bearbeiten haben.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Scheel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Wissing?

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Gern.

Dr. Volker Wissing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003702, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin Scheel, Sie haben eben festgestellt, dass das, was in Ihrem Antrag formuliert ist, richtig sei. Sie schreiben in Ihrem Antrag, dass aus Kapazitätsmangel beim Amtsgericht angeklagt wird, obwohl an sich die Wirtschaftsstrafkammern des Landgerichtes zuständig sind. Teilen Sie mit mir die Auffassung, dass diese Aussage falsch ist, weil nach deutschem Recht nicht frei entschieden werden kann, wo man Anklage erhebt, und dass es dienstrechtlich für Staatsanwälte in Deutschland nicht zulässig ist, in Kenntnis der Zuständigkeit des Landgerichtes beim Amtsgericht Anklage zu erheben? Teilen Sie mit mir die Auffassung, dass Staatsanwälte in Deutschland nicht gegen diese gesetzliche Regelung verstoßen?

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Wissing, Sie lenken ab. Der entscheidende Punkt ist, dass wir die Situation, die Anlass zum Bedauern gibt, verändern wollen. Es gibt solche Fälle, wie ich sie beschrieben habe; das wissen Sie. Die Juristinnen und Juristen in meiner Fraktion haben in der Praxis der Lebenswelt festgestellt, dass es Probleme gibt. Wir möchten die Probleme lösen, indem wir dem Personal mehr Hilfestellung geben, zum Beispiel durch das Aufstocken der Stellenzahl. Dann kann mehr passieren. Das wäre im Hinblick auf unser Ziel gut, Steuerhinterziehung zu bekämpfen. Das ist der entscheidende Punkt, nicht mehr und nicht weniger. ({0}) Sie wollen ein einfaches und faires Steuersystem und das Problem durch Senkung der Steuersätze lösen. Damit liegen Sie falsch. Nehmen wir den Fall des Postchefs Klaus Zumwinkel. Er hat viele Jahre bei der Liechtensteiner LGT Bank etwa 10 Millionen Euro angelegt und hat auf die Zinserträge keine Steuern gezahlt. Ich frage Sie: Verhindern Sie solche Fälle, in denen jemand irgendwo Geld anlegt und null Zinserträge angibt, obwohl er sie angeben müsste, wenn Sie das Einkommensteuerrecht durch entsprechende Änderungen vereinfachen und die Sätze senken? Sie können noch so sehr vereinfachen, aber solche Fälle, in denen jemand bewusst keine Steuern zahlen will, verhindern Sie so nicht. Sie müssten den Satz schon auf null senken, um vielleicht Ihr Ziel zu erreichen. Das kann aber nicht im Interesse des Allgemeinwesens liegen und wird der Situation in der Bundesrepublik Deutschland nicht gerecht. Das wäre völliger Quatsch; das wissen Sie auch. Sie lenken mit Ihrer Zwischenfrage nur ab. ({1}) Die Spitze des Eisbergs ist nun ein Stück weit abgetragen. Aber der Eisberg ist ziemlich breit und groß. Nach Angaben der Deutschen Steuer-Gewerkschaft sind etwa 400 Milliarden Euro im Ausland versteckt. Um den Bürgerinnen und Bürgern die Relation deutlich zu machen: Das ist das Eineinhalbfache dessen, was der Bund ausgeben kann. Allein der Steuerschaden liegt im zweistelligen Milliardenbereich. Aus diesem Grund haben wir strategische Überlegungen angestellt. Unser wirksames Maßnahmenpaket auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene finden Sie in unserem Antrag. ({2}) Wir wollen alle Chancen nutzen. Ich verweise nur auf die Löcher bei der europäischen Zinssteuerrichtlinie und bei Doppelbesteuerungsabkommen. Wir wollen zum Anrechnungsverfahren übergehen. Das alles und vieles mehr lässt sich in unserem Antrag finden. Wir werden in Zukunft darüber weiter diskutieren können, wenn die Koalition denn einen Antrag vorlegt. Ich hoffe sehr, dass sie es bald tun wird. Unser Antrag liegt bereits vor. Die Ideen sind richtig. Die Maßnahmen sind gut. Deswegen bitten wir, unseren Antrag zu unterstützen. Danke schön. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/9168, 16/9166 und 16/9421 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeVizepräsidentin Petra Pau schlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Laurenz Meyer ({1}), Dr. Heinz Riesenhuber, Dr. Michael Fuchs, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Ute Berg, Dr. Rainer Wend, Doris Barnett, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Das neue Zentrale Innovationsprogramm Mittelstand ZIM optimal ausgestalten und konsolidierungskonform finanzieren - Drucksachen 16/8905, 16/9471 Berichterstattung: Abgeordnete Ute Berg Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Dr. Heinz Riesenhuber für die Unionsfraktion.

Prof. Dr. Dr. Heinz Riesenhuber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001849, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen! Über Steuerhinterziehung haben wir gerade gesprochen, jetzt reden wir über den ehrlichen Mittelstand, der vielfältig in Deutschland seine Arbeit tut und der seine Steuern zahlt. Der Mittelstand hat in den letzten Jahren den größten Anteil an neuen Arbeitsplätzen geschaffen. Es waren Hunderttausende. Der Aufbau von Arbeitsplätzen fand insbesondere im innovativen Mittelstand statt. Die Welt besteht aus Hightech, Lowtech und Notech, aber der Bereich, in dem am schnellsten Neues entsteht, ist der technisch-innovative Mittelstand. In diesem Bereich gibt es in Deutschland gut hunderttausend Unternehmen. Man muss ehrlich einräumen, dass rund die Hälfte von diesen Unternehmen gar nicht forscht, 30 000 mit großer Stetigkeit forschen und der Rest gelegentlich. Jeder ist willkommen. Es gibt viele, die im Wesentlichen von Imitationen leben. Das ist zulässig, solange sich das in den Grenzen dessen bewegt, was die Gesetze erlauben. Es gibt andere, die Ideen zu technologischen Dienstleistungen zur Marktreife bringen und dabei aus frei verfügbarem Wissen schöpfen. Auch dies ist gut. Was hier entsteht, ist eine große Landschaft, die allerdings in den letzten Jahren nicht ganz die Dynamik hatte, die wir uns immer gewünscht haben. Wir konstatieren eine Stagnation der Forschungsaufwendungen in den mittelständischen Unternehmen bei nur geringen Schwankungen. Dies ist in Zeiten, die sich immer schneller ändern und in denen immer mehr auf Forschung basiert, eine gefährliche Strategie. Zum Mittelstand gehören auf der anderen Seite die Gründungen. Die Zahl der Neugründungen von Hightechunternehmen stieg bis 2000 Jahr für Jahr, dann nahm die Zahl ab, anschließend gab es eine leichte Erholung, und 2005 ging die Zahl wieder zurück. Die Situation ist durchaus schwierig. Schauen Sie sich die ganze Landschaft an. Von den 300 forschungsstärksten Unternehmen der Welt sind 55 nach 1960 gegründet worden, zwei in Europa, eins davon in Deutschland, 53 in den USA. Wenn wir die Dynamik erreichen wollen, die wir mit der Lissabon-Strategie beschlossen haben, dann müssen wir einen neuen Anlauf nehmen. Das macht die Bundesregierung. Deshalb hat sie die Ziele gesetzt. Das 6-Milliarden-Euro-Programm ist inzwischen durch die Weisheit und Güte des Finanzministers aufgestockt worden. Wir hoffen, dass es so weitergeht. Ich nenne weiterhin die Hightech-Strategie und die Programme, die den Mittelstand in den einzelnen Bereichen voranbringen. Es gibt die Fachprogramme des Forschungsministeriums und des Wirtschaftsministeriums. Eine große Stärke aber liegt in den technologieoffenen Programmen, die der Wirtschaftsminister aufgelegt hat. Hier setzt jetzt ZIM an, der neue Vorschlag, über den wir jetzt diskutieren. Das ist eine Weiterentwicklung von Programmen, die wir haben, eine Zusammenführung und Vereinfachung. ZIM bedeutet Zentrales Innovationsprogramm Mittelstand, nur damit wir uns nicht mit Kürzeln erschlagen. Ich habe das jetzt einmal gesagt und darf es deswegen künftig einsparen. Dieses ZIM fasst mehrere Programme zusammen, die sich bewährt haben. Nach 1990, nach der deutschen Einheit kam eine Reihe von Programmen, die sich in den alten Bundesländern bewährt hatten, in die neuen Länder. Manche wurden modifiziert. Inzwischen haben sich diese und andere, neue Programme in den neuen Ländern bewährt. Mit ZIM soll das, was gut ist, zu einem einzigen Programm für ganz Deutschland zusammengeführt werden. Die Scheidung in Ost und West kann nicht der vernünftige Weg sein. Dabei handelt man in dem klaren Bewusstsein, dass der Anteil der Mittel, die in die neuen Bundesländer gehen, weiter steigt und immer überproportional hoch bleibt. Das ist notwendig für die Dynamik in diesem Bereich. Was geschieht im Einzelnen? Ich beschreibe jetzt nicht die Programme, die uns allen, wie ich vermute, wohlvertraut sind. Pro Inno betrifft die Zusammenarbeit zwischen Unternehmen und wissenschaftlichen Instituten. Das ist mit über 200 Millionen Euro ein starkes Programm. Damit werden Kooperationen aufgebaut. InnoNet fördert Netzwerke zwischen kleinen und mittleren Unternehmen und Forschungseinrichtungen. Diese Kooperationen brauchen wir so, dass das selbstverständlich wird. NEMO steht für: Netzwerkmanagement Ost. Es war eine gute Idee, einen Förderwettbewerb zum Aufbau von Netzwerken zwischen mittelständischen Unternehmen und Forschungseinrichtungen durchzuführen. Aus dem Programm Inno-Watt soll die einzelbetriebliche Förderung von Unternehmen in den neuen Bundesländern in ZIM integriert werden. Damit haben wir das Konzept. Was ändert sich? Neu ist, dass die Programme für ganz Deutschland gelten. Neu ist, dass die Antragsverfahren einfacher werden. Neu ist, dass man bei all diesen Programmen den einzelnen Adressaten nicht hinterherlaufen muss; vielmehr gibt es eine einzige zentrale Ansprechstelle. Neu ist die Schnelligkeit der Bearbeitung. Ein Mittelständler muss schnell über die Entscheidung informiert werden. Neu sind außerdem einige Inhalte. Bis jetzt galt beispielsweise eine beachtliche Altersgrenze. Es gibt aber keinen vernünftigen Grund, warum erfahrene Forscher nicht weiterarbeiten sollen, solange sie Ideen haben. Bis jetzt war es auch so, dass die Geschäftsführer nicht mitmachen durften. Bei einem mittelständischen Unternehmen, das forscht, ist aber der Geschäftsführer in der Regel das „Frontschwein“, das die ganze Arbeit zu machen hat. Das heißt, wir versuchen Barrieren zu beseitigen, sodass die Sache schnell, dynamisch und erfolgreich ist. Wir sorgen für ein einziges geschlossenes Programm für ganz Deutschland. ({0}) Dazu brauchen wir hier neben der vorzüglichen Arbeit des Wirtschaftsministers die Unterstützung des Finanzministers. Ich kann hier nicht voraussagen, was es kostet. Es heißt, dass wir in diesem Jahr mit den Mitteln hinkommen, dass wir im nächsten Jahr 80 Millionen Euro und in den Folgejahren, je nach Entwicklung, 100 Millionen bis 200 Millionen Euro mehr brauchen könnten. Es sind also sehr beachtliche Beträge. Wir haben bis jetzt die Erfahrung gemacht, dass uns der Finanzminister, der heute zufällig nicht da ist, mit Herzlichkeit durch die Jahre begleitet hat. Wir vertrauen fest darauf, dass das so bleiben wird. ({1}) Die Frage des Finanzministers, warum er Forschung fordern soll, ist ungefähr 150 Jahre alt. Damals fragte der englische Finanzminister Gladstone, wofür Elektrizität gut sei. Die klassische Antwort war: Sie können sie eines Tages besteuern. Nichts ist bezaubernder für einen Finanzminister, als dass er einmal besteuern kann. Wenn es mehr neugegründete Unternehmen gibt, dynamische Unternehmen, die durch Forschung neue Arbeitsplätze schaffen, dann profitiert davon der Finanzminister. Ihn glücklich zu machen, ist das größte Ziel. Auf dieser Grundlage könnten wir dann arbeiten. Wir werden daran in den nächsten Jahren arbeiten. Wir brauchen zum Start dieses Programms das grüne Licht des Finanzministers jetzt; denn am 1. Juli soll die erste Stufe starten, und am 1. Januar nächsten Jahres soll der betriebsspezifische Teil von Inno-Watt dazukommen. Das ist ein wichtiger Schritt, auch wenn es nicht alles ist. Wenn die Forschungspolitik gut ist, entstehen immer neue Forschungsprogramme. Alte Forschungsprogramme werden eingestellt, neue werden begonnen, und vorhandene werden umstrukturiert. Das muss ein lebendiger Prozess sein. Wenn ein Forschungsprogramm erfolgreich ist, dann muss man sich fragen, ob man es weiterführen muss. Wenn es erfolglos ist, dann darf man nicht gegen den Markt fördern. Entscheidend ist, eine Strategie zu finden, durch die Neues angeregt wird, Ideen in den Markt eingebracht werden, die Menschen begeistert werden und fröhlicher Unternehmungsgeist unter den Menschen wächst. Da haben wir noch einen langen Weg vor uns. Über vieles diskutieren wir. Noch mehr tut die Bundesregierung, worüber wir stolz und glücklich sind. Uns wird ein Vorschlag zur steuerlichen Forschungsförderung gemacht werden. Über Wagniskapital werden wir in der nächsten Stufe wieder reden. Wir werden in vielen Bereichen das Neue angehen. Dann entsteht eine Landschaft, über die vor allem der Finanzminister glücklich sein kann, weil er dadurch zusätzliche Steuereinnahmen erzielt. Herr Staatssekretär, bitte, richten Sie ihm meine herzlichen und verbundenen Grüße aus. ({2}) Vorher müssen wir dafür sorgen, dass das Neue entsteht und wächst. Der Staat kann die Zukunft nicht vorhersehen, aber er kann die Voraussetzungen dafür schaffen, dass die Menschen, die etwas davon verstehen, die die Arbeit tun und die Verantwortung tragen, die unsere Bürgergesellschaft ausmachen -

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Riesenhuber, auch wenn Sie darüber hinwegsehen: Dieses Licht dort bedeutet, dass Sie weit über Ihre Redezeit sind. Ich weiß, dass Sie das immer irritiert.

Prof. Dr. Dr. Heinz Riesenhuber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001849, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin, ich bedanke mich für den Hinweis. Ich freue mich sehr, dass Sie mich so liebevoll begleiten. ({0}) Wir werden deshalb mit Fröhlichkeit, Unternehmungsgeist und Entschlossenheit unter Begleitung der Präsidentin in eine neue unternehmerische Zukunft aufbrechen. Wenn die Frau Präsidentin uns dabei wohlwill - genau wie der Finanzminister -, dann ist das für uns alle nützlich. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Martin Zeil für die FDPFraktion. ({0})

Martin Zeil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003868, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Trotz der wie immer eindrucksvollen Vortragsweise, Herr Kollege Riesenhuber, geht es uns mit dem Antrag der Koalitionsfraktionen so wie mit einem Luftballon, der nicht ganz dicht ist: Je länger man ihn in Händen hält, desto mehr schnurrt er zusammen. ({0}) Sie haben einen einfachen haushaltstechnischen Vorgang genutzt, um wunderschöne Sätze und SelbstverMartin Zeil ständlichkeiten aufzuschreiben und eindrucksvoll das Hohelied des Mittelstands zu singen. Eine besondere politische Substanz können wir dem leider nicht entnehmen. Vielleicht erklärt das auch Ihr Verhalten gestern im Ausschuss, wo der Antrag entgegen allen parlamentarischen Gepflogenheiten einfach durchgepeitscht wurde, ohne dass die Fragen unserer Fraktion vor der Abstimmung beantwortet worden waren. Offenbar sahen Sie Ihren eigenen Antrag als nicht so recht diskussionswürdig an. Gegen die Bündelung der Fördermaßnahmen für den Mittelstand ist grundsätzlich auch nichts einzuwenden, falls dadurch Effizienzpotenziale gehoben und vor allen Dingen mehr Transparenz für die Förderungsempfänger erreicht werden können. Jedoch darf die Förderung nicht zu einem simplen Geschenketopf für alle werden. Die Förderrichtlinien müssen klar formuliert werden. Die Maßnahmen müssen endlich von einer unabhängigen Instanz bewertet werden. ({1}) Leider halten Sie sich erneut nicht an Ihre eigenen Subventionsrichtlinien. Im Subventionsbericht der Bundesregierung heißt es - ich zitiere -: Neue Finanzhilfen werden nur noch befristet und grundsätzlich degressiv ausgestaltet. In Ihrer verspäteten Antwort auf unsere Fragen heißt es stattdessen: Innerhalb der Laufzeit werden die … Fördersätze im Programm stabil gehalten, um bei den Nutzern Planungssicherheit zu gewährleisten. Aber nur die degressive Förderung verhindert die Abhängigkeit vom Subventionstropf und fördert die Initiative der Empfänger, eigene Finanzquellen zu erschließen. ({2}) Aber für alles das hätte es dieses Antrags nicht bedurft. Sie haben angesichts der anhaltenden Kritik aus dem Mittelstand an Ihrer Politik - Stichwort Ziel- und Orientierungslosigkeit - einmal wieder einen Anlass gesucht, sich selbst zu loben. Sie schreiben im Antrag: Nur an der Spitze des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts kann Deutschland auch in Zukunft im globalen Wettbewerb bestehen und damit Wachstum, Arbeitsplätze und Wohlstand in Deutschland sichern. ({3}) - Wer wollte dem nicht zustimmen, Herr Kollege Wend? Sie reden von vielen forschenden und innovativen Unternehmen in unserem Land. Haben Sie sich eigentlich einmal gefragt, wie lange die sich das Forschen nach Ihrer mittelstandsfeindlichen Politik noch leisten können? Ich erinnere an die Debatte um die Besteuerung der Funktionsverlagerung im Zusammenhang mit der Unternehmensteuerreform. ({4}) Herr Kollege Riesenhuber, das ist gerade für die innovativen Unternehmen, die jungen Unternehmen ein ganz gravierender Hemmschuh. ({5}) Das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung hat richtig festgestellt, dass die kleineren Unternehmen sich noch zu wenig an diesem Innovationsprozess beteiligen. Das wirft doch die Frage auf: Warum? Die Antwort ist gar nicht so schwer: Es sind Ihre Politik des Stillstands, der mittelstandsfeindlichen Erbschaftsteuerreform, der Steuererhöhungen, der hochgetriebenen Energie- und Lohnnebenkosten sowie die Bewegungslosigkeit bei der Reform des Arbeitsmarkts und eine nach wie vor belastende Bürokratie, die diese Schritte behindern. ({6}) Solange Sie eine mittelstandsfeindliche Politik machen, solange Sie damit immer mehr gut ausgebildete junge Menschen ins Ausland treiben, solange werden auch die gutgemeinten Programme und ihre Zusammenlegung nichts bewirken. Noch ist die Lage unserer Wirtschaft gut. Die Alarmzeichen am Horizont sind aber nicht zu übersehen. Gerade deshalb ist es so verantwortungslos, wenn sich die schwarz-rote Koalition mehr und mehr vom Regieren verabschiedet und sich nur noch mit Wahlkampfscharmützeln bis zum nächsten Wahltermin schleppen will. ({7}) Wir befinden uns in einer Vertrauenskrise: Viele Menschen vertrauen der Finanzwirtschaft wegen der aktuellen Krise nicht mehr; viele Marktteilnehmer vertrauen einander nicht mehr; viele Menschen trauen der Regierung nicht mehr; Teile der Regierung trauen sich untereinander nicht mehr. Die Regierung betreibt aber keine Politik, die das Vertrauen wieder stärken könnte. ({8}) Vertrauen gewinnt man nur mit einem klaren Kurs zurück, der am Kompass der sozialen Marktwirtschaft ausgerichtet ist. ({9}) Lassen Sie mich abschließend sagen: Sie sollten sich gerade anlässlich Ihres Antrages folgenden Satz des deutschen Familienunternehmers Hans Knürr hinter die Ohren schreiben: Belässt man dem Mittelstand die notwendigen Mittel, hat er ohne staatliche Hilfe einen unglaublich festen Stand. Ich danke Ihnen. ({10})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Ute Berg für die SPDFraktion.

Ute Berg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003504, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach der larmoyanten Rede von Herrn Zeil ({0}) möchte ich wieder Optimismus in die Runde bringen und auch mit ein wenig Stolz zurückblicken. Wir haben Deutschland unter Rot-Grün im Bereich Forschung und Entwicklung gut aufgestellt. ({1}) - Ja, ich sagte aber auch: „und auch mit ein wenig Stolz zurückblicken“. Gedulden Sie sich! Mit Edelgard Bulmahn an der Spitze des Forschungsministeriums wurden die Ausgaben für Bildung und Forschung um fast 38 Prozent erhöht. Sie erinnern Sie sich vielleicht an einen gewissen Herrn Rüttgers, der auch einmal Forschungsminister war. Ich erinnere nur einmal kurz daran, dass unter ihm der Etat zweimal zurückgeschraubt wurde. Bei uns war das anders. ({2}) Ohne unser klares sozialdemokratisches Bekenntnis zur Innovationspolitik, ({3}) ohne den Pakt für Forschung und Innovation, ohne die Exzellenz-, Gründer- oder IT-Forschungsinitiativen, den Hightech-Masterplan, um nur einige Projekte zu nennen, stünden wir definitiv nicht so gut da. ({4}) Da unser jetziger Koalitionspartner das leider nicht herausstellt - man sieht das ja deutlich -, müssen wir das eben hin und wieder auch einmal selber tun. Die erfolgreiche Politik setzen wir nun aber auch in der Großen Koalition fort. Die Ausgaben des Bundes für Forschung und Entwicklung haben wir im Jahr 2007 mit rund 10 Milliarden Euro auf einen Höchststand angehoben. Dieser Betrag wird in diesem Jahr mit voraussichtlich 11 Milliarden Euro sogar noch getoppt. Das sind gut angelegte Gelder. Wir bestreiten ein Drittel unseres weltweiten Handels mit forschungs- und entwicklungsintensiven Gütern. Den jetzigen Aufschwung hätten wir ohne unsere Spitzenposition bei Technologieexporten nicht erlebt - so die Expertenkommission Forschung und Innovation in ihrem ersten Gutachten 2008 für die Bundesregierung. Vor zwei Jahren haben wir die Hightech-Strategie gestartet - Herr Riesenhuber hat schon darauf hingewiesen -, um Deutschland an die Spitze der wichtigsten Zukunftsmärkte zu bringen. Ressortübergreifend zieht diese Regierung dabei an einem Strang. Unsere Ziele sind, aus Ideen schneller marktfähige Produkte zu machen, Wirtschaft und Wissenschaft noch enger miteinander zu vernetzen und dabei besonders die kleinen und mittelständischen Betriebe im Auge zu haben. Sie sind nämlich der Motor unserer wirtschaftlichen Entwicklung. Das ist bekannt. Fast 30 000 von ihnen betreiben kontinuierlich Forschung, circa 110 000 bringen regelmäßig innovative Produkte und Dienstleistungen auf den Markt und sorgen damit für einen enormen Beschäftigungszuwachs. Die Wettbewerbsfähigkeit des Standortes Deutschland wird maßgeblich durch diese Unternehmen beeinflusst. Die eben erwähnte Expertenkommission erklärte uns, dass mit der Hightech-Strategie ein neuer, vielversprechender Weg beschritten wurde, und sie forderte den Bund auf, den eingeschlagenen Weg konsequent fortzusetzen, Herr Zeil. Das werden wir tun. Aber nicht nur der Staat unternimmt verstärkte Anstrengungen, auch die privaten Investitionen ziehen inzwischen nach. Laut Stifterverband sind seit 2006 deutliche Zuwächse zu verzeichnen. Damit tun sich die Unternehmen, die forschen und entwickeln, selbst den größten Gefallen. Sie schaffen sich nämlich in aller Regel gute Positionen im nationalen, aber auch im internationalen Wettbewerb. Die Unternehmensberatung Ernst & Young hat in ihrer aktuellen Studie „Siegerstrategien im deutschen Mittelstand 2008“ 100 besonders erfolgreiche mittelständische Unternehmen unter die Lupe genommen und nach dem Geheimnis ihres Erfolgs gesucht. Das Ergebnis war: Die Entwicklung innovativer Produkte gilt als wichtigster Schritt zum Erfolg. Es folgen Bildungsaktivitäten, Orientierung an Kundenwünschen und Motivation durch gesellschaftliches Engagement. Aber wo viel Licht ist, ist natürlich auch Schatten. Ich habe mich bisher auf die innovativen Mittelständler konzentriert. Leider ist auch das Realität in Deutschland: Zwei Drittel der Unternehmen, die das IW, das Institut der deutschen Wirtschaft Köln, in seinem Zukunftspanel befragt hat, forschen oder entwickeln überhaupt nicht. Herr Riesenhuber hat schon darauf hingewiesen. Das hat natürlich unterschiedliche Gründe: Den einen fehlt schlicht und ergreifend das Geld für FuE-Aktivitäten, die sich in der Regel erst mittel- oder langfristig auszahlen, und die anderen haben häufig keine Kenntnis davon, welche Forschungsergebnisse, die vermarktet werden können, die Hochschulen und Forschungsinstitute hervorbringen. In jedem Fall bleiben riesige Potenziale ungenutzt. Das muss sich schnellstens ändern. Deshalb hat das BMBF das Programm „KMU-innovativ“ aufgelegt, um Spitzenforschung im Mittelstand zu fördern. Deshalb startet das BMWi das ZIM, das Zentrale Innovationsprogramm Mittelstand, das - wie Sie schon gehört haben technologieoffen angelegt ist. Vier Programme des Bundesministeriums für Wirtschaft werden zu einem Dachprogramm zusammengelegt. Mit dieser Reform sollen die schon in der Vergangenheit durchaus erfolgreiche Innovationsförderung des Mittelstandes noch effektiver gestaltet und ein transUte Berg parentes, zielgenaues und leicht zugängliches Unterstützungsangebot gemacht werden. Die wichtigsten positiven Veränderungen noch ganz kurz im Überblick: Die Forschung wird ausgeweitet. Es wurde schon erwähnt, dass NEMO, das Netzwerkprogramm-Ost, das sich früher nur auf Ostdeutschland bezog, auf die gesamte Bundesrepublik ausgedehnt wird. Im zweiten Schritt geschieht das für das Programm InnoWatt, welches hinsichtlich der Förderung von Forschung und Entwicklung bei innovativen Wachstumsträgern im Osten Deutschlands erfolgreich funktioniert hat. Auch noch andere Programme werden, wie gesagt, unter diesem Dach vereinigt. ({5}) - Eben. Effektivität kann nicht schaden. Die dritte Veränderung: Transparenz und Nutzerfreundlichkeit werden erhöht. Die Förder- und Antragsbedingungen werden vereinfacht. Die vierte Veränderung: Die Innovationsprogramme - das hatte ich am Anfang schon angedeutet - sind in die Hightech-Strategie eingebettet. Damit fließen umfangreiche Mittel in dieses Programm, das von einer Erhöhung der Fördermittel von 450 Millionen Euro in 2005 auf 670 Millionen Euro bis zum Jahre 2009 profitiert. Die ressortübergreifende Beratungsstelle ist sicherlich auch von großem Interesse für die KMU; denn bisher mussten sie sich an die unterschiedlichsten Stellen wenden und haben damit sehr viel Zeit vergeudet. Es wurden bürokratische Hürden geschaffen, die jetzt abgebaut werden. Das heißt, die eine Beratungsstelle informiert nicht nur über die Programme des Bundes, sondern auch über Programme der Länder und der EU und gibt zusätzlich Hinweise, an welche Anlaufstellen bzw. an welche Projektträger sich die kleinen und mittelständischen Unternehmen wenden müssen. Das bringt Licht in den Förderdschungel und ist gerade für die kleineren Unternehmen extrem wichtig, die weder Zeit noch Geld und schon gar kein zusätzliches Personal haben, um mühsam auf eigene Faust das für sie geeignete Programm samt Anlaufstelle zu recherchieren. So gut das alles klingt, möchten wir als Parlament weiterhin informiert und beteiligt werden und - wo nötig - auch nachjustieren. Selbstverständlich wollen wir auch eine vernünftige Evaluation, die im Übrigen in der Vergangenheit bei den einzelnen Programmen schon stattgefunden hat. ({6}) - Auch von Unabhängigen. Daher fordern wir die Bundesregierung auf, uns jährlich über den Erfolg der Technologieförderung im Mittelstand zu unterrichten, insbesondere natürlich über das künftige Kernstück: das ZIM. Mit Blick auf die weitere Entwicklung kleiner und mittelständischer innovativer Unternehmen möchte ich noch einen Aspekt ansprechen, der maßgeblich zum Erfolg aller Unternehmen, besonders aber der kleinen innovativen beiträgt. Gerade für diese ist es entscheidend wichtig, dass hochqualifiziertes Personal vorhanden ist. Daher trifft sie der Ingenieur- und Fachkräftemangel insgesamt besonders hart. Die Zahlen des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft verdeutlichen dies: 2005 waren ungefähr 300 000 Arbeitnehmer in Forschung und Entwicklung tätig. Für 2007 wurden dann schon 310 000 prognostiziert. Neuere Zahlen liegen noch nicht vor. Es ist aber ganz klar: Die Zahlen in diesem Bereich werden steigen; die Nachfrage wird steigen. Auf dem Arbeitsmarkt kommen aber nicht genügend hochqualifizierte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer an.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Berg, achten Sie bitte auf die Zeit.

Ute Berg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003504, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich komme zum Schluss. Durch gezielte Anstrengungen im gesamten Bildungsbereich Verbesserungen herbeizuführen, muss unser aller Herzensanliegen sein. Daher ein abschließender Appell: Lassen Sie uns gemeinsam für eine gute Zukunft des Mittelstands und des Standorts Deutschland arbeiten - mit Zukunftsinnovationen in Forschung und Entwicklung, mit dem weiteren Abbau unnötiger Bürokratie, mit intelligenten Investitionen in unsere Infrastruktur und mit einer Kraftanstrengung im Aus- und Weiterbildungsbereich. Davon haben dann alle Bürgerinnen und Bürger etwas. Sie profitieren von guten Arbeitsplätzen, mehr Wirtschaftskraft und höherer Lebensqualität. Vielen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin Dr. Petra Sitte das Wort. ({0})

Dr. Petra Sitte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003848, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Danke schön. - Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben schon gehört: Es werden mehrere Mittelstandsprogramme des Ministeriums für Wirtschaft und Technologie in ein Zentrales Innovationsprogramm Mittelstand überführt. Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Ich bin ganz froh, dass dies nicht nur eine Zusammenführung bedeutet. Als Aufsichtsratsmitglied eines kleinen, aber feinen Technologiegründerzentrums freut es mich, dass es auch Erweiterungen gibt, dass auch marktvorbereitende Maßnahmen wie beispielsweise klinische Studien oder die Fertigung von Prototypen förderfähig werden. Das war eine Blindstelle bisheriger Förderpolitik. Denn oft genug haben wir zwar mit öffentlichen Mitteln Innovationen gefördert. Aber dann ist nicht nur die Markteinführung gescheitert, sondern schon vorher auch die Produktionseinführung. Gerade diese Maßnahmen bedürfen nochmals erheblicher finanzieller Aufwendungen. Diese haben dann oftmals gefehlt. Wir haben also mit öffentlichem Geld eine Entwicklung gefördert; dabei sind aber keine Arbeitsplätze entstanden und, Herr Riesenhuber, noch weniger Steuereinnahmen angefallen. Zusammengeführt werden auch Programme, die vorher ausschließlich für den Mittelstand Ost galten. Wir haben im Osten sehr wichtige Erfahrungen für strukturschwache Gebiete bundesweit gesammelt. Das heißt, das Zentrale Innovationsprogramm richtet sich jetzt nicht nur an den Osten, sondern an alle strukturschwachen Gebiete der Bundesrepublik. Alle Regionen können sich unterschiedslos für dieses Programm bewerben. Wenn wir aber nicht in Rechnung stellen, dass es ganz unterschiedliche Ausgangsbedingungen gibt, kann es zu einem ungleichen Wettbewerb kommen. Wenn diese Regionen gleichermaßen Chancen haben sollen, müssten die Mittel für dieses Programm eigentlich insgesamt nochmals aufgestockt werden. Denn bei Konkurrenz von strukturschwachen und starken Regionen sind die Hauptnutznießer - wir kennen schon jetzt das Ergebnis; das haben wir bei der Exzellenzinitiative gesehen - die stärkeren, insbesondere dann, wenn sich zeigt, dass der Topf zu klein ist, um den sich alle drängen. ({0}) Wir müssen also verhindern, dass strukturschwache Regionen hinten herunterfallen. Wir müssen auch daran denken: Strukturschwache Gebiete im Osten sind in der Dimensionierung nicht mit strukturschwachen Gebieten im Westen gleichzusetzen. Deshalb ist durchaus zu überlegen, ob in diese Programmlinien eine Quote nicht nur für strukturschwache Regionen insgesamt, sondern auch für den Osten eingeführt wird. ({1}) Ansonsten vergrößert sich der Abstand zwischen strukturschwachen und -starken Regionen, zwischen Ost und West. Ich möchte kurz zeigen, warum die Innovationsförderung für den Osten so wichtig ist. Bundesweit - das ist schon angeklungen - liegt der Anteil der Ausgaben für Forschung und Entwicklung in kleinen und mittelständischen Betrieben an den Gesamtausgaben bei 12 bis 14 Prozent; hingegen beträgt der Anteil dieser Ausgaben bei Betrieben im Osten 50 Prozent, aber nur 8 Prozent der innovativen Unternehmen haben dort ihren Sitz. Deshalb ist es für uns so wichtig, jetzt nicht nur A, sondern auch B zu sagen. Ein wichtiger Bestandteil ist aus unserer Sicht die Forschungsprämie, die bislang Hochschuleinrichtungen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen zur Verfügung stand, sofern sie mit Mittelständlern Entwicklungen umgesetzt haben. Bei uns im Osten gibt es jedoch gemeinnützige GmbHs - Forschungs-gGmbHs -, die für die Substanz der dortigen Forschung und damit auch für den Strukturwandel ausgesprochen wichtig sind. Nunmehr, seit Anfang des Jahres, können auch diese gGmbHs an der Forschungsprämie partizipieren. ({2}) - Es haben so viele daran mitgewirkt, bis es am Ende dazu gekommen ist: auch wir, aber auch die anderen. ({3}) - Da bin ich mir nicht so sicher. - Diese ForschungsgGmbHs erwirtschaften Beträge, die ähnlich wie bei den Fraunhofer-Instituten sehr hoch sind; aber sie werden nicht gleichermaßen kontinuierlich gefördert. Deshalb ist es aus unserer Sicht notwendig, im Zusammenhang mit dieser Programmlinie darüber nachzudenken, diese ebenso kontinuierlich zu fördern wie andere außeruniversitäre Forschungseinrichtungen. Fazit: Es ist positiv, dass es eine solche zentrale Programmlinie gibt. Für kleine und mittelständische Unternehmen werden Verbesserungen erreicht. Wir müssen aber aus den Erfahrungen lernen. Dazu gehört, die unterschiedlichen Zugangsmöglichkeiten, die unterschiedlichen Voraussetzungen der Mittelständler in den Regionen in Rechnung zu stellen. Dann besteht die Möglichkeit, einen Strukturwandel zu erreichen und damit am Ende Arbeitsplätze und letztlich - ich komme auf Herrn Riesenhuber zurück - Steuern zu generieren. Danke schön. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die Kollegin Kerstin Andreae das Wort.

Kerstin Andreae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003493, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bevor ich auf die Inhalte des Antrags eingehe, möchte ich kurz sagen: Es hat uns sehr enttäuscht, dass wir im Wirtschaftsausschuss über die Angelegenheit nicht debattieren konnten. ({0}) Uns wurde erzählt, es gebe einen Fragenkatalog der FDP. Dem Protokoll der Wirtschaftsausschusssitzung ist zu entnehmen: Die Parlamentarische Staatssekretärin Wöhrl hat zugesichert, aufgrund der vorangeschrittenen Zeit die schriftlich ausgearbeiteten Antworten den Ausschussmitgliedern im Laufe des Tages per E-Mail zuzusenden. Das war gestern. Es ist nicht geschehen. Wir mussten heute extra nachfragen, damit wir die Antworten bekommen. Ich bitte, dass das abgesprochene Verfahren eingehalten wird. Wir haben ein Recht auf die Antworten auf diese Fragen. Es ist notwendig, dass wir sie bekommen, damit wir eine ausführliche, sinnvolle Debatte führen können. ({1}) Ich möchte jetzt einige Punkte zu den Inhalten des Antrags sagen. Ich stimme mit Ihnen darin überein, dass es wichtig ist, hier Bürokratieabbau zu betreiben. Sie wollen die Programme zusammenfassen. Das ist gut; es wird einfacher. Der Antrag ist aber noch sehr unkonkret und kommt blass daher. Es gibt viele Möglichkeiten, im Bereich der KMU Forschungs- und Technologieförderung zu betreiben. Sie müssen aber viel dezidierter und klarer äußern, was Sie denn wollen und in welche Richtung Ihre politische Arbeit geht. Das wäre sehr wichtig. Ein Beispiel: Unternehmensteuerreform und Wagniskapital. Der erste Entwurf zum Venture Capital war ein totaler Rohrkrepierer. Er wurde in der Anhörung von den Sachverständigen auseinandergenommen. ({2}) - Das Urteil war sogar vernichtend. - Jetzt haben Sie einen neuen Entwurf angekündigt. Meines Wissens hätte er vor der Sommerpause verabschiedet werden sollen. Das werden wir jetzt nicht mehr wirklich schaffen. Im Übrigen ist meine Prognose, dass wir es in dieser Legislaturperiode überhaupt nicht mehr schaffen werden, die Programme zum Venture Capital auf neue Beine zu stellen. ({3}) Zweites Thema: Forschungsprämie. Sie haben die Forschungsprämie eingeführt. Das ist eine gute Sache; wir finden das richtig. Es geht darum, die Zusammenarbeit zwischen KMU und Hochschulen zu fördern. Untersuchen Sie aber einmal, warum nur 20 Prozent der Mittel überhaupt abgefragt wurden. Wenn Sie solche Programme auflegen und solche Prämien einführen, müssen Sie doch auch schauen, was mit den Mitteln passiert. Warum liegen 80 Prozent der Mittel brach? Warum werden sie nicht genutzt? Solcher Fragen müssen Sie sich annehmen. Mein drittes Thema - auch hier finde ich Ihr Vorgehen viel zu unambitioniert -: Klimaschutz, Umwelttechnologien und effiziente Technologien. Wir haben schon im Zusammenhang mit der Hightech-Strategie angemahnt, dass ein Leitbild „nachhaltiges Wirtschaften“ fehlt. Sie hätten die Möglichkeit gehabt, eine politische Ausrichtung der Technologieförderung und -forschung vorzunehmen. Wir brauchen wesentlich stärkere Anstrengungen in den Bereichen Effizienztechnologien, erneuerbare Energien und Einsparpotenziale. Ich gebe zu, dass Sie im Haushalt mehr Mittel für Klima- und Energieforschung bereitgestellt haben. Sie müssen aber auch deutlich mehr Marktanreizprogramme auflegen, damit die Forschungsergebnisse als Produkte bzw. Produktionsprozesse in den Markt überführt werden können. Das ist es, was wir brauchen, was Sie aber nicht machen. Die Klimapolitik der Bundesregierung besteht nur aus schönen Worten. Da steckt nicht viel hinter. Morgen führen wir eine lange Debatte über das Klimapaket, über das IKEP. Da steckt nicht viel hinter, was Marktanreizprogramme oder die Schaffung von Märkten angeht, damit das, was erforscht wird, auch tatsächlich einmal auf dem Markt angeboten werden kann. Wir müssen marktreife Produkte entwickeln und Anreizprogramme schaffen, sonst sind die meisten Mittel im Forschungsbereich nutzlos. ({4}) Viertes Thema: IT. Es gab einen IT-Gipfel. Es bestand die große Hoffnung, dass die Bundeskanzlerin auf diesem IT-Gipfel ankündigt, dass die Einkommensschwelle für ausländische Fachkräfte gesenkt wird, weil sie zu hoch ist. Ich werde nicht müde, es zu sagen: Wenn Sie verlangen, dass eine ausländische Fachkraft aus dem Nicht-EU-Ausland in Deutschland ein Einkommen von 85 000 Euro pro Jahr nachweist, dann werden Sie diese Kraft nicht bekommen. ({5}) Sie stehen einer Fortentwicklung in den Bereichen Technologieentwicklung, Forschung und Innovation, in denen wir auf das Know-how von anderen angewiesen sind, im Weg, weil Sie eine diesbezügliche Änderung nicht herbeigeführt haben. Das war eine Riesenenttäuschung auf dem IT-Gipfel. Wenn Sie wenigstens solche Maßnahmen umsetzen würden, wären wir schon deutlich weiter. Fazit: Das ist ein oberflächlicher, blasser Antrag, der mehr Fragen aufwirft, als er Antworten liefert. ({6}) Statt den Kritikpunkten, die im Übrigen auch von der eigenen Expertenkommission geäußert wurden, nachzugehen, verzetteln Sie sich in Prosa. Auch im Wirtschaftsausschuss fand keine Debatte darüber statt. Da wir es im Prinzip sinnvoll finden, dass Sie die Programme zusammenfassen, werden wir uns bei der Abstimmung heute enthalten. Vielen Dank. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- schusses für Wirtschaft und Technologie zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD mit dem Ti- tel „Das neue Zentrale Innovationsprogramm Mittel- stand ZIM optimal ausgestalten und konsolidierungs- konform finanzieren“. Der Ausschuss empfiehlt in Vizepräsidentin Petra Pau seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9471, den Antrag der Fraktion der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/8905 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der SPD-Fraktion bei Enthaltung der FDP-Fraktion, der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a und 9 b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker Beck ({0}), Marieluise Beck ({1}), Alexander Bonde, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Eine kohärente und konsistente Menschenrechtspolitik gegenüber China entwickeln - Drucksache 16/9422 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({2}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung b) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Volker Beck ({3}), Winfried Hermann, Marieluise Beck ({4}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Menschenrechtslage im Vorfeld der Olympischen Sommerspiele 2008 in Beijing - Drucksachen 16/6175, 16/7273 Zu der Großen Anfrage liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Volker Beck für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank, Frau Präsidentin! Wenn wir gegenwärtig nach China schauen, dann bewegt uns alle, glaube ich, hier in Deutschland wie in Europa die schwierige Situation, in der sich die chinesische Volksrepublik aufgrund der Folgen des Erdbebens befindet. Wir versichern der Volksrepublik China all unsere Solidarität und Unterstützung für das chinesische Volk zur Bewältigung der schweren Folgen dieser Katastrophe. ({0}) Ich denke, es ist ein gutes Zeichen, dass die chinesische Regierung gesagt hat, dass sie Hilfe aus dem Ausland annimmt. Denn kein Volk dieser Welt kann die Folgen solcher Naturkatastrophen allein und ohne die Unterstützung der Völkergemeinschaft bewältigen. Wir haben uns als Fraktion schon im letzten Jahr mit der Menschenrechtslage in China verstärkt beschäftigt, weil wir gesagt haben: Wir müssen beobachten, wie sich die Situation im Vorfeld der Olympiade entwickelt. Die Hoffnungen und Erwartungen aufgrund der Vergabe der Olympischen Spiele an Peking waren groß. Wir haben feststellen müssen: Die Hoffnungen haben sich in den letzten Wochen und Monaten leider nicht erfüllt. Über anderthalb Millionen Menschen sind im Zusammenhang mit der Errichtung der olympischen Stätten enteignet worden, viele davon ohne jegliche Entschädigung und unter Anwendung von Zwang. Wir haben in den letzten Wochen und Monaten auch erlebt, dass nicht nur in Tibet, sondern auch in Zentralchina alle Kritik durch eine Verschärfung der Repressionen gegen politische Dissidenten und gegen religiöse und kulturelle Minderheiten niedergedrückt wird. Das haben wir eigentlich nicht erwartet. Deshalb hoffe ich, dass heute mit der Zustimmung zu unserem Entschließungsantrag ein einheitliches Signal des Deutschen Bundestages ausgeht. Wir bitten die Bundesregierung, die chinesische Regierung aufzufordern, alle politischen Gefangenen bis zum Beginn der Olympiade in China freizulassen. Ich hoffe, dass wir in dieser Frage im Hause großer Einheit haben. ({1}) Bezüglich des Applauses muss man in der Debatte vielleicht noch etwas nacharbeiten. ({2}) Ich glaube, wir sollten hier nicht auseinanderfallen, wenn es um eine klare Sprache zur Verteidigung der Menschenrechte geht. Dass das Haus, insbesondere die Bundesregierung, bei der Chinapolitik ständig auseinanderfällt, ist eine Malaise. Wir haben das an den Diskussionen im Zusammenhang mit dem Besuch des DalaiLama bei Angela Merkel und auch beim letzten Besuch des Dalai-Lama hier im Deutschen Bundestag erlebt. Mit dieser Art von Politik dient man weder den Menschenrechten noch den außenpolitischen Beziehungen zur Volksrepublik China. Wir brauchen eine konsistente Menschenrechtspolitik, die sich nicht in Symbole flüchtet, sondern eine klare Linie hat, auf Gespräche und Dialog setzt und eine klare Sprache im Dialog findet. In unserem Antrag haben wir Vorschläge zu den Punkten, über die es hier zu reden gilt, gemacht. Im Antrag werden die entscheidenden Punkte genannt. Wir müssen zum Beispiel mit den Chinesen im Dialog über die Todesstrafe weiterkommen. Da haben wir erste Erfolge erzielt. Es ist ganz wichtig, dass wir diese Erfolge gegenüber den chinesischen Partnern betonen. Die chinesische Volksrepublik hat mit ihrer neuen Gesetzgebung eine Reduzierung der Zahl der Vollstrekkungen der Todesstrafe bewirkt. Das ist gut. Aber damit erfüllt sie weder unsere Hoffnung auf eine völlige Abschaffung noch unsere Vorstellungen von den Mindeststandards, die der Zivilpakt von den Staaten verlangt. Die chinesische Volksrepublik hat mit der Wahl zum Volker Beck ({3}) Menschenrechtsrat versprochen, den Zivilpakt zu unterzeichnen. Auch das hat sie bis heute nicht vollzogen. Wenn sie ihn ratifizieren würde, müsste sie Veränderungen vornehmen und nur noch bei schweren Verbrechen die Todesstrafe verhängen. Vielleicht entscheidet sie sich dann auch aufgrund von Dialogen mit uns, aber auch mit Ländern wie den USA - auch dort gibt es noch die Todesstrafe - für die Abschaffung der Todesstrafe. ({4}) Ich glaube, es gibt keine Alternative zum Dialog mit China. Wir brauchen China bei der Lösung von menschenrechtlichen Konfliktfeldern wie zum Beispiel beim Konflikt in Darfur. Wir brauchen China auch bei der Bewältigung der verheerenden Situation in Birma, wo die Menschen Opfer einer Naturkatastrophe geworden sind und ein Regime so kaltschnäuzig und diktatorisch ist, dass es internationale Hilfe behindert, statt den Menschen zu helfen. Ich finde, die Chinesen könnten darauf verweisen, wie sie mit den Folgen des Erdbebens umgehen; das könnte ein Vorbild für Birma sein. ({5}) Ein letztes Wort, da dies unmittelbar die Beziehungen des Deutschen Bundestages zur Volksrepublik China betrifft. Die chinesische Volksrepublik hat es für richtig befunden, den Menschenrechtsausschuss vor seinem Besuch in der nächsten Woche zum zweiten Mal auszuladen. Wir haben heute im Ältestenrat darüber gesprochen und gesagt: Wir protestieren dagegen, und wir erwarten von den Chinesen, dass sie im Rahmen des Menschenrechtsdialogs auch mit dem Menschenrechtsausschuss des Deutschen Bundestages in Gespräche eintreten und dass wir in der nächsten Zeit eine definitive Einladung erhalten. Dass die Chinesen allein vor dem Wort Menschenrechte Angst haben, kann man an einer Mail sehen, die mich von einer Bürgerin erreicht hat.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Kollege Beck!

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Noch einen Satz, Frau Präsidentin. Sie erinnern sich vielleicht: Ich hatte in meiner Rede zur Tibet-Debatte dieses T-Shirt hochgehalten. ({0}) Bürgerinnen und Bürger haben es bestellt. Eine Bürgerin der Bundesrepublik Deutschland ist damit nach Peking auf den Platz des Himmlischen Friedens gereist. Ihre gesamte Reisegruppe wurde festgehalten. Erst nach einer Befragung durch die Polizei und nach der Bedeckung des T-Shirts haben die Chinesen die Leute weiterlaufen lassen. Das ist kein gutes Signal für die Olympiade. Ich hoffe, dass die Chinesen, die Mitglied des Menschenrechtsrats sind, keine Angst mehr vor dem Wort Menschenrechte haben und es dulden, wenn Bürgerinnen und Bürger sich weltweit - auch in China - für die Menschenrechte einsetzen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Beck, ich bitte Sie jetzt wirklich um Ihren letzten Satz.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank für Ihre Geduld, Frau Präsidentin. Die Menschenrechte brauchen manchmal ein paar Worte mehr. Das sollten sie uns wert sein. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Holger Haibach das Wort.

Holger Haibach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003546, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dass die Menschenrechte uns einiges wert sind, sieht man auch daran, dass Herr Beck fünf Minuten Redezeit bekommen hat. Offensichtlich hat er das etwas falsch verstanden. Ich hatte den Eindruck, er meinte, sieben Minuten zur Verfügung zu haben. Zumindest hat er sich so lange ausgelassen. Der Anlass ist wichtig. Die Beantwortung der Großen Anfrage, für die ich der Bundesregierung danke, ist deutlich und zeigt die Defizite auf, die Kollege Beck hier auch genannt hat. Ich finde, es lohnt sich aber, sich genauer mit dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen auseinanderzusetzen, der uns heute vorliegt. Ich würde das gern anhand von zwei Leitfragen tun. Die erste Leitfrage lautet: Stimmt das, was in diesem Antrag steht? Die zweite Leitfrage lautet: Ist das wirklich etwas Neues? Wir sollten uns hier eigentlich nur dann mit Themen beschäftigen, wenn wir erkennbare Veränderungen sehen oder wenn wir an der einen oder anderen Stelle erkennbare Fortschritte sehen. Wenn ich mir diesen Antrag anschaue, dann habe ich da Zweifel. ({0}) - Ich weiß, dass dies ein Dauerthema ist, Frau Kollegin, aber auch Dauerthemen werden dadurch, dass man sie immer wieder neu zusammenfasst, nicht besser. Sie werden vor allem nicht entschieden besser. Zu Beginn Ihres Antrags heißt es, die Bundesregierung sei in der Frage, wie man mit China in der Zukunft umgehen solle, gespalten; im Übrigen verlören die Bundesregierung und die Koalition sich in Symbolpolitik. Dazu muss ich sagen: Hier können Sie auf Ihre eigene Regierungszeit verweisen. Ich bin immer wieder überrascht darüber, wie schnell Sie sich in die Opposition verabschiedet haben. Ich kann mich daran erinnern, dass es auch unter Rot-Grün solche Diskussionen gegeben hat, nämlich als es um die Frage eines Waffenembargos ging. Trotzdem haben Sie hier im Bundestag als Koalitionsfraktion abgestimmt. Es mag sein, dass wir an der einen oder anderen Stelle unterschiedlicher Meinung sind, lieber Herr Kollege Beck, aber tun Sie nicht so, als sei das etwas Besonderes. Akzeptieren Sie es als das, was es ist, nämlich ein Meinungsstreit in der Demokratie. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Haibach, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Beck?

Holger Haibach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003546, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Mit großer Freude.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Da Sie einige Erinnerungslücken aufgewiesen haben, frage ich Sie: Sind Sie dann, wenn ich Ihrer Erinnerung nachhelfe, bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass wir in der Frage des Waffenembargos zwar eine Diskussion hatten, dass wir in unserer Fraktion aber keine Veränderung der Position hatten und dass wir während unserer Regierungszeit im Ergebnis weiterhin für die Beibehaltung des Waffenembargos gegenüber China waren?

Holger Haibach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003546, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Kollege Beck, das habe ich nie bestritten. Ich habe nur darauf hingewiesen, dass es innerhalb der Koalition vielleicht unterschiedliche Meinungen zu diesem Thema gegeben haben könnte. ({0}) Das ist etwas, was wir in Demokratien des Öfteren erleben. Ich finde, man muss an einer Stelle, an der keine Symboldebatte existiert, auch keine eröffnen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, wenn man einmal das ganze Brimborium beiseite schiebt, muss man sagen: Jeder von uns kann seine eigene Meinung haben. An dieser Stelle möchte ich auf eines hinweisen: Wir haben begrüßt, dass Frau Merkel den Dalai-Lama empfangen hat, und vielleicht hatten wir an der einen oder anderen Stelle eine andere Meinung als Sie. Das bedeutet aber nicht, dass wir nicht der Meinung sind, konstruktive Gespräche, Kompromisse und Dialoge seien notwendig. Allerdings denke ich, man kann das eine tun, ohne das andere zu lassen. Wir sollten daraus keinen Glaubenskrieg machen. Denn es ist wichtig, dass wir insgesamt vorankommen. Das werden wir aber nur schaffen, wenn wir alle Mittel, die uns zur Verfügung stehen, gleichermaßen einsetzen. ({1}) In Ihrem Antrag steht - auch das hat mich sehr überrascht -, dass wir China jetzt loben und keine Symbolpolitik betreiben sollten. Ich möchte daran erinnern, dass Kollege Trittin, der der heutigen Debatte auch beiwohnt, damals ausdrücklich gelobt hat, dass Frau Merkel den Dalai-Lama empfangen hat. Er sagte, das sei eine richtige Maßnahme. Ich finde, man kann nicht in der Vergangenheit das eine getan haben und heute das genaue Gegenteil in einen Antrag schreiben. Auch das ist letztlich nicht gerade glaubwürdig. Man muss überlegen: Wo besteht in dieser Angelegenheit eigentlich die Kohärenz? Wenn man Ihren Antrag, in dem viel Richtiges steht - das will ich überhaupt nicht bestreiten; darum geht es aber nicht -, liest, dann muss man feststellen: Man findet darin nichts, was wir nicht schon an anderer Stelle gefordert bzw. schriftlich niedergelegt haben. ({2}) Weil ich wusste, dass wir uns heute mit diesem Thema beschäftigen, habe ich mir das ein bisschen genauer angesehen. Sie erheben in Ihrem Antrag zum Beispiel die Forderung nach Zugang zu den Haftanstalten und Lagern; hier verweise ich Sie auf unseren gemeinsamen Antrag zur Verurteilung der Laogai-Lager. Außerdem fordern Sie eine Reform der Gefängnisse und der Haftlager; auch an dieser Stelle verweise ich Sie auf unseren Antrag zu den Laogai-Lagern. Falls Sie mir nicht glauben: Ich habe alle Anträge mitgebracht und kann sie Ihnen gerne zeigen. ({3}) Zur Presse- und Meinungsfreiheit gibt es ebenfalls einen Antrag der Koalition, und auch mit dem Thema Tibet haben wir uns nicht nur einmal beschäftigt; hoffentlich werden wir uns vor der Sommerpause noch einmal damit befassen. Das macht das, was in Ihrem Antrag steht, nicht falsch. Nichtsdestoweniger muss ich sagen: Auf der einen Seite fordern Sie eine kohärente Außenpolitik und eine kohärente Menschenrechtspolitik ein. Auf der anderen Seite wiederholen Sie aber nur das, was ohnehin schon „common sense“ bzw. gemeinsame Ansicht dieses Hauses ist. ({4}) Das ist wirklich nicht besonders originell. Ich finde, dass Sie sich sehr überschätzen, wenn Sie sagen, Ihr Antrag sei besonders toll. Sie haben recht, dass es einer differenzierten Betrachtung der Menschenrechtssituation in China bedarf. Heute ist China sicherlich ein anderes Land als vor 25 oder 30 Jahren; ({5}) das ist gar keine Frage. Heute gibt es dort gewisse Freiheiten, die man früher mit Sicherheit nicht hatte. Aber die Defizite sind weiterhin klar erkennbar. Ich stimme Ihnen auch zu, dass die Hoffnungen, die mit der Vergabe der Olympischen Spiele an China verbunden waren, nicht erfüllt wurden. Über dieses Thema haben wir schon einmal in einer Aktuellen Stunde gesprochen. Ich möchte aber deutlich machen: Hier sind auch die internationalen Sportverbände gefordert. Wer sich auf der einen Seite dafür einsetzt, dass die Olympischen Spiele in China stattfinden, der muss auf der anderen Seite auch kontrollieren, ob dort Fortschritte gemacht werden ({6}) und darf nicht einfach sagen: Die Spiele sind unpolitisch. - Die Olympischen Spiele waren nie unpolitisch. Es ist heuchlerisch, wenn man das behauptet. ({7}) Wahr ist auch, dass wir China als internationalen Partner in der Menschenrechtspolitik, aber auch in der Außenpolitik brauchen; das ist gar keine Frage. Bei den Ereignissen in Birma, aber auch, als es um Nordkoreas Atomprogramm ging, haben wir erlebt, was erreicht werden kann, wenn sich China zu einer konstruktiven Haltung bereiterklärt. Wir würden uns wünschen, dass das viel öfter geschieht. Ich will nur daran erinnern: Wenn die Chinesen keinen Druck auf Nordkorea ausgeübt hätten, hätte in diesem Konflikt wahrscheinlich keine Einigung erzielt werden können. Daran wird deutlich, dass wir die Chinesen brauchen. Uns allen muss völlig klar sein, dass wir unsere menschenrechtlichen Standards nicht senken dürfen. Sie müssen weiterhin gelten, gegenüber China und gegenüber allen anderen Staaten. Das bedeutet aber auch: Wir müssen so miteinander umgehen, dass wir uns in Zukunft noch ins Gesicht schauen können. Ich möchte noch eine letzte Bemerkung machen - denn wir diskutieren heute auch über einen Entschließungsantrag -: Ich glaube, jeder von uns würde sich wünschen, dass die chinesische Regierung noch vor den Olympischen Spielen alle politischen Gefangenen entlässt. ({8}) Aber wer würde sich nicht wünschen, dass es keine Vertreibungen mehr gibt? Wer würde sich nicht wünschen, dass es Verhaftungen wegen der Religion nicht mehr gibt? Wer würde sich nicht wünschen, dass es Verhaftungen von Journalisten nicht mehr gibt, dass es Presse- und Meinungsfreiheit gibt? Wer würde sich nicht wünschen, dass es keine Internetzensur mehr gibt? ({9}) Ich könnte Ihnen fünfundzwanzig, dreißig, vierzig Themen aufzählen, die man in einen Entschließungsantrag aufnehmen kann. Nur, man muss sich fragen, ob das die Methode der Wahl ist. Nichtsdestoweniger will ich einräumen, dass dies ein wichtiges Thema ist. Jenseits des Antrags und der Großen Anfrage der Grünen ist es für mich wichtig, dass wir mit dieser Debatte an die Herrscher in China das Signal senden, dass die Menschenrechte nicht etwas sind, was man gewähren kann oder eben nicht. Ich komme deshalb darauf, weil, als Herr Medwedew kürzlich zum Staatsbesuch in Peking war, es zu einem gemeinsamen Kommuniqué von Herrn Medwedew und der chinesischen Seite gekommen ist. Die Neue Zürcher Zeitung hat dies am 24. Mai 2008 wie folgt kommentiert und dabei aus dieser Erklärung zitiert: Auch gegen westliche Menschenrechtskritik wehren sich Russland und China gleichermassen. Menschenrechte sollten nicht politisiert werden oder als Vorwand dienen, sich in die inneren Angelegenheiten anderer Länder einzumischen, hiess es in der gemeinsamen Erklärung. Jeder Staat habe das Recht, die Menschenrechte „auf der Grundlage seiner eigenen Bedingungen und Eigenschaften zu ermutigen und zu schützen“. Diese Einstellung ist falsch. Die Menschenrechte sind nicht etwas, was jemandem zuerkannt werden könnte, die Menschenrechte hat jeder Mensch von Geburt an. Wenn wir einen grundsätzlichen Beitrag zur Achtung der Menschenrechte leisten wollen, müssen wir dafür sorgen, dass dieser Gedanke in China und auch sonst wo auf der Welt Einzug hält. Herzlichen Dank. ({10})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Florian Toncar. ({0})

Dr. Florian Toncar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003856, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte zum Ausdruck bringen, dass wir alle hier angesichts der furchtbaren Erdbebenkatastrophe mit dem chinesischen Volk fühlen, und unser Beileid aussprechen. ({0}) Wir wollen aber auch darauf hinweisen, dass das nicht genügt. Wir wünschen uns, dass Deutschland, wo es kann, schnell und effektiv Hilfe leistet. Im Erdbebengebiet in China sind derzeit schätzungsweise 5 Millionen Menschen obdachlos, und das wird sich bis zum Winter wahrscheinlich nicht wesentlich ändern. Die chinesische Zeltproduktion läuft auf Hochtouren; aber es ist unmöglich, dass China aus eigener Kraft in kürzester Zeit Zelte für 5 Millionen Menschen herstellt. Herr Staatsminister, ich glaube, dass die 900 Zelte, die das Auswärtige Amt bzw. die Bundeswehr zur Verfügung gestellt hat, nicht alles sind, was wir tun können. Wir Freien Demokraten wünschen uns, dass mehr getan wird. ({1}) Der Umgang der Behörden und der Medien mit dem Erdbeben hat, wie wir wahrnehmen konnten, eine neue Qualität angenommen. Erstmals ist der Wert des einzel17578 nen Menschenlebens öffentlich anerkannt und dokumentiert worden: Die Regierung hat Anteilnahme am Schicksal einzelner Familien gezeigt, die Medien konnten vergleichsweise offen berichten. Das sind Dinge, die uns Mut machen. Die chinesische Führung hat offensichtlich verstanden, dass Transparenz wertvoll und den chinesischen Interessen dienlich ist. Das ist das Bindeglied zur Menschenrechtspolitik, es ist die Voraussetzung dafür, dass wir China gegenüber deutlich machen können, dass Öffnung, dass selbstständig, eigenständig denkende Menschen nicht etwa Stabilität kosten, sondern Stabilität und Fortschritt bringen. Dieser Paradigmenwechsel ist das Entscheidende in unserem Verhältnis zu China. ({2}) Deswegen bin ich ein Anhänger des Konzepts der Einbindung Chinas in internationale Verantwortung, der Zusammenarbeit und des direkten Dialogs. Man muss sich nur die Situation in Birma oder in Nordkorea anschauen, um zu sehen, was in völlig abgeschotteten Ländern die Realität ist. In den Gesprächen mit China müssen Gemeinsames und Trennendes offen erörtert werden können, ohne Übertreibungen, aber genauso wenig ohne Beschönigung der Situation. Der Antrag der Grünen trifft diesen Duktus weitgehend. Er wird den Fortschritten Chinas im Menschenrechtsbereich gerecht; genauso wird zu Recht auf die weiterhin bestehenden massiven Probleme in einzelnen Bereichen hingewiesen. Ich glaube, das ist die richtige Linie. ({3}) Es ist vollmundig, wenn der Bundesregierung Konzeptlosigkeit vorgeworfen wird. Aber ich bin da nicht so zurückhaltend wie der Kollege Haibach. Was hat sich hier vor drei Jahren abgespielt, als über eine Aufhebung des Waffenembargos diskutiert worden ist: Nicht nur Bundeskanzler Gerhard Schröder, auch Außenminister Joschka Fischer haben an diesem Pult die Meinung vertreten - ich habe das im Protokoll nachgelesen -, es sei der Integration der Volksrepublik China in die Weltgemeinschaft dienlich, das Waffenembargo fallen zu lassen. Diese Einstellung ist verkehrt und bestimmt kein Ausdruck konzeptioneller Klarheit. ({4}) - Herr Kollege Beck, ich verstehe, dass Sie das trifft. ({5}) Die heutige Bundesregierung hat ebenfalls kein Konzept für eine stimmige Menschenrechtspolitik gegenüber der Volksrepublik China. Das gilt insbesondere für das Verhältnis zwischen der Bundeskanzlerin und dem Außenminister, die das alles ja offen austragen. Eine Rollenverteilung, bei der die eine für die publikumswirksamen Auftritte und der andere für die stille Diplomatie zuständig ist, ist schlecht. Diese Rollenverteilung hilft uns nicht; sie ist unglücklich und schadet deutschen Interessen. ({6}) Wir brauchen ausdrücklich auch gegenüber Staaten wie China, bei denen wir diese Defizite sehen, öffentliche Signale. In Deutschland gelten die Regeln offener Gesellschaften. Diejenigen, die zum Beispiel sagen, dass Gespräche mit dem Dalai-Lama eine Gefahr für die Stabilität Chinas seien, haben aus meiner Sicht eine überkommene Vorstellung von Stabilität. Sie führen gerade keinen Dialog auf Augenhöhe, sondern passen sich von vornherein chinesischen Erwartungen an und müssen sich schlussendlich fragen lassen, was wir denn tun sollen, wenn wir keine Gespräche führen sollen. Ich glaube, dass wir öffentliche Signale brauchen. ({7}) Letztendlich ist es aber eine schiere Selbstverständlichkeit, dass solche auch öffentlichkeitswirksamen Treffen und Termine die Diplomatie, vertrauliche Gespräche und den Rechtsstaats- und Menschenrechtsdialog, der ein wirklich gelungenes Instrument ist, nicht ersetzen können. Es ist völlig klar, dass beides miteinander einhergehen muss. Aus meiner Sicht hat sich der Bundesaußenminister deshalb unnötigerweise in einen menschenrechtspolitischen Hungerturm zurückgezogen, aus dem er jetzt - vielleicht auch aus Gründen verletzten Stolzes - nicht mehr so leicht herauskommt. Das sagt nicht nur einiges über das Verhältnis zwischen der Kanzlerin und dem Außenminister, sondern auch über den Zustand der Koalition insgesamt aus. ({8}) Liebe Koalition, liebe Grünen, um noch auf diesen Punkt einzugehen: Ich finde das, was Sie aufgeschrieben haben, in weiten Teilen zustimmungsfähig. Beim Streit über die Menschenrechtspolitik ist entscheidend, worüber wir genau streiten; denn wir streiten ja nicht über die Geltung von Menschenrechten, sondern wir streiten hier politisch darüber, wie man Menschenrechten möglichst effektiv zur Durchsetzung und Förderung verhilft. Ich glaube, dass es in einem Land wie Deutschland selbstverständlich ist, dass man auch darüber streiten darf. Streit ist etwas Normales, und ich finde, dass er noch wichtiger ist, als Pluralismus zu fordern.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Toncar, achten Sie bitte auf die Zeit.

Dr. Florian Toncar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003856, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin, jetzt hätten Sie fast meinen Schlusssatz unterbrochen. ({0}) Ich komme sofort zum Ende. Es war einer der letzten Sätze. Noch wichtiger, als Pluralismus zu fordern, ist es aus meiner Sicht, ihn vorzuleben. Das schwächt unsere Position in Deutschland auch nicht, sondern das verschafft uns zusätzliche Glaubwürdigkeit. Insofern wünsche ich mir auch über Menschenrechtsthemen einen konstruktiven und sinnvollen Streit. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die Kollegin Herta Däubler-Gmelin hat jetzt für die SPD-Fraktion das Wort. ({0})

Dr. Herta Däubler-Gmelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000347, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Toncar, ich stimme Ihnen voll und ganz zu: Diskussion und Streit sind in der Tat die Lebenselemente jedes Parlaments. ({0}) Dass man sich manchmal wünschen würde, der Anlass wäre dem angemessen, gehört freilich auch dazu. Wenn ich mir vor Augen führe, wie häufig und wo überall wir uns mit China, der Politik der Bundesregierung oder auch dieses Parlaments gegenüber China, den Menschenrechten oder auch den Olympischen Spielen beschäftigt haben, dann weiß ich nicht so recht, ob wir hier heute eigentlich mehr als nur künstliche Gegensätze haben. Ich sage das hier ganz offen, weil wir uns sehr häufig mit diesen Fragen auseinandergesetzt haben. Weil viele unserer Zuschauerinnen und Zuhörer das gar nicht wissen können, darf ich noch einmal daran erinnern: Bereits im Januar hat der Menschenrechtsausschuss zusammen mit dem Sportausschuss eine sehr gute Anhörung durchgeführt, bei der es um Menschenrechte, die Olympischen Spiele und im Speziellen übrigens auch um das Selbstverständnis des Sports und um den Teil der Olympischen Charta ging, der sich mit Menschenrechten befasst. An dieser Anhörung haben Sportlerinnen und Sportler, Vertreter des Deutschen Olympischen Komitees und des Deutschen Olympischen Sportbunds, Journalisten mit sehr langer China-Erfahrung und Vertreterinnen und Vertreter der Menschenrechtsorganisationen teilgenommen. Wie es bei uns Brauch ist, haben alle Fraktionen Anhörungspersonen und Experten benennen können. Die Statements bei dieser Anhörung waren durchweg nicht sehr unterschiedlich und vor allen Dingen nicht so schrill, wie es der eine oder andere Beitrag heute hier vermuten lässt. ({1}) Es war eine inhaltlich interessante Anhörung, weil wir die Zeit hatten, die unterschiedlichen Gesichtspunkte und Aspekte breit zur Sprache zu bringen. Wir haben uns nicht nur auf die Befürchtungen oder das fokussiert, was der eine oder andere gerade in den Medien gesehen hatte, sondern es war uns möglich - das macht eben das ganze Bild aus -, auch die Fortschritte in China zu sehen. Eine Darstellung dieser Fortschritte finden Sie übrigens ebenfalls in der Antwort auf Ihre Große Anfrage. Ich greife einige heraus, die man einfach zur Kenntnis nehmen muss: Dass in jedem Jahr zwischen 9 und 10 Millionen junge Leute in China von den Universitäten kommen, ist ein Potenzial für das Selbstverständnis, für das wachsende Selbstbewusstsein, für die Veränderung einer Gesellschaft hin zu mehr Menschenrechten und mehr Menschenrechtsschutz. Hier sehe ich eine große Chance, durch Gespräche die ganz praktische Umsetzung der Menschenrechte zu unterstützen. In diesem Punkt stimme ich Ihnen ausdrücklich zu, lieber Herr Toncar. ({2}) In den letzten Jahren - ich bin dankbar, dass auch dies zur Kenntnis genommen wird - hat es bei allen Mängeln und bei allem, was uns stört und was wir selbstverständlich kritisieren, mehr Meinungsfreiheit, Bewegungsfreiheit sowie Vertrauens- und Eigentumsschutz gegeben. Übrigens lohnt es sich, beides, die Mängel, die wir kritisieren, und die Fortschritte, zur Kenntnis zu nehmen, weil es zeigt, dass unsere Menschenrechtsarbeit - ich sage es einmal etwas weniger ambitioniert: dass auch unsere Menschenrechtsarbeit - tatsächlich Erfolge zeitigt. Darauf sollten wir stolz sein. Hier kann man nicht nur das Parlament, sondern auch die Bundesregierung loben. ({3}) Ob man jetzt den einen oder die andere mehr oder weniger mag, hat damit eigentlich gar nichts zu tun. Ich gebe an dieser Stelle noch einmal den Rat, die Materialien zu dieser Anhörung nachzulesen. Sie stehen der Öffentlichkeit zur Verfügung und können auf der Internetseite des Menschenrechtsausschusses des Deutschen Bundestages in voller Länge abgerufen werden. Ich halte es für sehr gut, dass Herr Beck und Herr Toncar ebenso wie Herr Haibach - ich tue es jetzt auch auf die schreckliche Zeit, die die Menschen in Sichuan durchmachen, auf die enormen Probleme, die sich dort gestellt haben, und auf die unglaublich tolle Hilfsarbeit der Organisationen in China und bei uns hingewiesen haben. Dass die Unterbringung dieser vielen Millionen Obdachloser in Zelten nicht möglich ist, weil es auf der gesamten Welt nicht so viele Zelte gibt, wie allein in Sichuan gebraucht würden, ändert daran nichts. Ich jedenfalls bin dem Roten Kreuz in China, den Helferinnen und Helfern in China, aber auch den Helferinnen und Helfern bei uns in Europa und überall in der Welt für ihren Einsatz ausgesprochen dankbar. ({4}) Folgenden Gesichtspunkt, der hier auch schon erwähnt worden ist, muss man deutlich unterstreichen: Die chinesischen Medien haben von Anfang bis Ende berichtet; sie berichten auch heute noch sehr stark. Der Fokus der Berichterstattung zielte eindeutig weniger darauf ab, die Taten der Regierung ins Bild zu rücken, als darauf, das Leiden der Menschen und vor allem den Wert eines jeden einzelnen Menschenlebens und den Kampf um jedes einzelne Menschenleben abzubilden. ({5}) Wir haben hier also nicht nur Lob im Vergleich zu den schrecklichen Verhältnissen in Myanmar auszusprechen, sondern können auch zur Kenntnis nehmen, wie die Hilfsbereitschaft und der veränderte Fokus eine Gesellschaft zum Guten verändern. Manchmal habe ich den Eindruck, wir sollten im Plenum daran erinnern, dass sich der Menschenrechtsausschuss, der sich mit der Umsetzung der Menschenrechte und vor allem mit dabei vorhandenen Mängeln befasst, nicht nur mit China beschäftigt. Diesen Eindruck könnte man manchmal gewinnen, wenn man den einen oder anderen Antrag liest. Das hat mit den Olympischen Spielen zu tun, und es ist auch legitim, Herr Beck, dass man ein solches Großereignis nutzt, um die Aufmerksamkeit auf die Menschenrechte zu richten. ({6}) Ich möchte jedoch erinnern, dass Menschenrechte nicht nur bei großen öffentlichen Auftritten interessant sind, sondern auch dann, wenn die Olympischen Spiele vorbei sind. Menschenrechte sind auch in einem Land interessant, das wir zu unseren Freunden rechnen. Die Glaubwürdigkeit Ihrer beiden Anträge wäre nicht verletzt worden, wenn man zum Beispiel Simbabwe mit aufgenommen hätte, wo gestern der Oppositionsführer Tsvangirai verhaftet worden ist, oder wenn darin ein kleiner Hinweis auf das Waterboarding oder Guantánamo enthalten gewesen wäre. ({7}) Das alles wäre im Sinne unserer gemeinsamen Arbeit, Herr Beck. Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie im Menschenrechtsausschuss über die Fraktionsgrenzen hinweg diesen Ansatz teilen. ({8}) - Lieber Herr Beck, wenn Sie sich mit Kollegen auseinandersetzen wollen, dann haben Sie im Zweifel immer meine Unterstützung. Ich erinnere daran, dass der Menschenrechtsausschuss über die Parteigrenzen hinweg immer wieder darauf aufmerksam gemacht hat, welche Sorgen uns zum Beispiel die Einschränkung der Pressefreiheit in verschiedenen Ländern macht, und die Bundesregierung und alle anderen, die dazu in der Lage sind, aufgefordert hat, ihren Beitrag zu leisten. Das ist auch dann notwendig, wenn es wieder darum geht, das Waterboarding zu ächten. Auch dazu wird heute Abend Gelegenheit sein. Wir sollten nicht nur die Balken in den Augen der anderen sehen - obwohl wir sie kritisch wahrnehmen sollten -, sondern auch gelegentlich die Splitter bei uns selbst, zum Beispiel die illegal bei uns lebenden Menschen, für die die Menschenrechte auch gelten müssen. Dann wird das, was wir tun, sinnvoll und immer wichtiger. Ganz herzlichen Dank. ({9})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Michael Leutert hat jetzt das Wort für die Fraktion Die Linke. ({0})

Michael Leutert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003800, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Kollegin Däubler-Gmelin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unsere Fraktionen bewegen sich im Bereich der Menschenrechtspolitik langsam aufeinander zu. Nach Ihrer Rede hätte ich fast geklatscht. Wir beraten heute auch eine Große Anfrage der Grünen. In ihrer Antwort darauf kommt die Bundesregierung zu dem Gesamturteil: Die Menschenrechtslage in China gibt - trotz einiger Verbesserungen - weiterhin Anlass zur Besorgnis. Diese Einschätzung wird auch von meiner Fraktion geteilt. Ich möchte das kurz begründen. In der Volksrepublik China hat nach der Kulturrevolution eine rasante Veränderung eingesetzt, die die unterschiedlichsten Bereiche - insbesondere Wirtschaft, Politik und Recht - erfasst hat und China auch heute noch weiter verändert. In den letzten Jahren sind mehr und mehr Defizite auch in den Bereichen Sozialpolitik, soziale Spannungen, Wanderarbeiter, Umweltbelastungen oder Ausbildung des Rechtssystems zutage getreten. Das sehen nicht nur wir, sondern das sieht auch der Botschafter der Volksrepublik China so, wie in seiner schriftlichen Stellungnahme zur öffentlichen Anhörung im Sportausschuss nachzulesen ist. Trotz alledem ist festzustellen, dass die Erfolge messbar sind, sowohl nach ökonomischen als auch nach rechtlichen Kriterien. Aber ganz sicher wird diese Entwicklung dann scheitern, wenn dieser Weg der Stabilität verlassen wird. Diese Stabilität im Wandel ist unseres Erachtens davon abhängig, ob es der chinesischen Regierung gelingt, zivilgesellschaftliche LösungsstrateMichael Leutert gien zu entwickeln und auf Repressionsmechanismen zu verzichten. Darin sehen wir die Perspektive, einen gemeinsamen Nenner in der deutschen und der chinesischen Politik zu finden, weil die Reformkräfte in der Kommunistischen Partei Chinas an dieser Stabilität und diesem Wandel und damit auch an zivilgesellschaftlichen Lösungsstrategien inklusive der Menschenrechte interessiert sind. Das gilt meines Wissens auch für alle Fraktionen in diesem Hause und die Bundesregierung. Wir sind der Auffassung, dass Instrumente wie der deutsch-chinesische Rechtsstaatsdialog und der Menschenrechtsdialog die geeigneten Mittel sind, um dieses Ziel zu erreichen, weil sie vernünftig sind. Das heißt, sie sind dialog- und kooperationsorientiert. ({0}) Alternativ dazu kann natürlich Menschenrechtspolitik im Sinne moralischer Appelle verstanden werden. Damit haben wir uns hier schon mehrfach auseinandergesetzt. Diese Politik ist sicherlich billig zu haben, wird aber letztendlich keinen Erfolg haben. Sie blendet aus, dass China 15-mal mehr Einwohner hat als Deutschland, Deutschland aber ein 15-mal höheres Bruttoinlandsprodukt pro Kopf aufweist als China. ({1}) Genau das ist der objektive Rahmen, in dem sich die Reformpolitik in China bzw. sich unsere Politik bewegt. Zum Antrag der Grünen bleibt Folgendes zu sagen: Ob China auch nur einen einzigen politischen Gefangenen freilässt oder nicht freilässt, hat sehr wenig mit den Olympischen Sommerspielen zu tun, sehr viel aber mit dem rechtsstaatlichen Charakter des Strafrechts in China. Veränderungen im Strafrecht sind nur durch Dialog zu erreichen, nicht durch Symbolpolitik vor den Sommerspielen. Deshalb werden wir uns bei der Abstimmung über den Antrag enthalten. Ich freue mich, dass die Linke in dieser Debatte das letzte Wort hatte. Danke. ({2})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/9422 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlos- sen. Tagesordnungspunkt 9 b: Wir kommen zur Abstim- mung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zu ihrer Großen Anfrage. Zu dieser Abstimmung liegt eine Erklärung des Kollegen Arnold Vaatz nach § 31 unserer Geschäftsordnung vor.1) Wer stimmt für den Entschließungsantrag auf Drucksache 16/9489? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? ({0}) Wir können uns im Präsidium nicht darauf einigen, wer die Mehrheit hat. ({1}) Deswegen werden wir noch einmal abstimmen. Wer ist für den Entschließungsantrag? ({2}) Wer ist dagegen? ({3}) Wer enthält sich? ({4}) Es ist nach wie vor so, dass sich die Schriftführerinnen in der Frage nach den Mehrheitsverhältnissen unterschiedlich verhalten. ({5}) Deswegen bitte ich die Geschäftsführer nach vorne. ({6}) Unsere Geschäftsordnung - das will ich sagen - sieht vor, dass man, wenn es Uneinigkeit im Präsidium gibt, nichts anderes machen kann, als einen Hammelsprung durchzuführen. Hier besteht Uneinigkeit. Deshalb möchte ich Sie bitten, den Saal zu verlassen. Das übrige Prozedere kennen Sie. ({7}) Natürlich muss ich die Kolleginnen und Kollegen bit- ten, den Saal zu verlassen. Verlegen Sie Ihre Bespre- chungen bitte nach draußen. Ich bitte die Schriftführerin- nen und Schriftführer, sich an den Türen einzufinden. - Ich muss Sie nun dringend bitten, den Saal zu ver- lassen und die Besprechungen und Telefonate, die hier drin sowieso nicht erlaubt sind, nach draußen zu verle- gen. - Wie ich sehe, sind genügend Schriftführerinnen und Schriftführer da. Offensichtlich haben alle den Saal verlassen. Wir können also den Hammelsprung durch- führen. Ich bitte, jetzt mit der Auszählung zu beginnen. 1) Anlage 3 Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt Sind draußen noch Abgeordnete, die zur Tür hereinkommen möchten, um ihre Stimme abzugeben? - Das scheint noch immer der Fall zu sein. Dann warten wir noch einen Augenblick. Ich sehe von hier oben Winksignale. Das heißt wohl, dass die Schriftführerinnen und Schriftführer mir signalisieren wollen, dass alle, die hereinkommen wollten, drin sind. Ist das richtig? - Das scheint mir der Fall zu sein. Dann schließe ich die Abstimmung. Ich gebe jetzt das Ergebnis der Abstimmung bekannt. Es ging um den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zu ihrer Großen Anfrage. Für diesen Antrag auf Drucksache 16/9489 haben 83 Abgeordnete gestimmt, dagegen haben 283 Abgeordnete gestimmt, und 24 Abgeordnete haben sich enthalten. Damit ist der Entschließungsantrag abgelehnt. ({8}) Bevor ich den nächsten Tagesordnungspunkt aufrufe, möchte ich all diejenigen, die noch in den Gängen stehen und sich über den vergangenen Tagesordnungspunkt unterhalten, bitten, entweder Platz zu nehmen oder den Saal zu verlassen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetzes - Drucksache 16/9415 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({9}) Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Verteidigungsausschuss Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Zwischen den Fraktionen ist verabredet worden, eine halbe Stunde zu debattieren. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Als erster Rednerin gebe ich der Kollegin Ingrid Fischbach das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. ({10})

Ingrid Fischbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003117, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte diejenigen, die anwesend sind, bitten, doch Platz zu nehmen. Dann können sie erfahren, an welchen Stellen wir Veränderungen durchführen und wie wir damit etwas Gutes noch besser machen wollen. Sie erfahren all das, was wir beim Elternzeitgesetz ändern wollen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Fischbach, ich habe Ihre Redezeit angehalten. Denn im hinteren Teil des Saals stehen noch einige Kollegen, die anscheinend kein starkes Interesse an dieser Debatte haben. Ich möchte diese Kollegen bitten, den Saal zu verlassen. ({0}) - Es sind in der Tat alles Männer. ({1}) Auch die könnten an dieser Debatte eigentlich teilnehmen. ({2}) Bitte, Frau Kollegin Fischbach.

Ingrid Fischbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003117, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als wir das Elterngeld auf den Weg gebracht haben, hat niemand - bei allem Optimismus, den wir hatten - daran geglaubt, dass es ein solcher Erfolg wird. Das muss man einfach feststellen. Denn die Zahlen, die uns schon nach gut einem Jahr vorliegen, überraschen alle. Ich selber gebe zu: Auch ich war etwas skeptisch. Ich gehörte nicht zu den großen Optimistinnen, war aber von dem überzeugt, was wir auf den Weg gebracht haben. Die Zahlen sprechen für sich: Das Elterngeld ist ein Erfolg. Es ist gerade für junge Familien der richtige Weg, ihren Wunsch nach Kindern zu erfüllen und die Möglichkeit zu haben, ohne große finanzielle Belastungen in die Familienphase zu kommen. Das war die richtige Entscheidung, der richtige Weg. Deshalb kann man an dieser Stelle ganz deutlich sagen: Das Elterngeld ist ein Erfolg der Regierungskoalition. ({0}) Aber wie das bei vielen großen Erfolgen ist: Manchmal gibt es Änderungswünsche. Wir haben damals gesagt: Wir bringen ein ganz neues Projekt auf den Weg. Wir werden es evaluieren. Den Bericht über diesen Evaluationsprozess werden wir zum 1. Oktober 2008 vorgelegt bekommen. ({1}) - Frau Lenke, Sie sind schon wieder so aufgeregt. Hören Sie doch erst einmal zu! Vielleicht sind ja noch ein paar Dinge dabei, die Sie noch gar nicht gelesen haben. Ich kann Ihnen versichern, dass wir im Oktober, wenn der Gesamtbericht vorliegt, ({2}) viel intensiver diskutieren werden müssen. Das ist gar keine Frage; das wissen wir. Aber nichtsdestotrotz sollten wir die Chancen, die wir jetzt haben, nutzen, die Dinge, die sich schon jetzt abzeichnen und die wir schnell ändern können, auf den Weg zu bringen und Änderungen vorzunehmen, die dann diejenigen, die vom Elterngeld profitieren, noch besser stellen. ({3}) Ich zähle die Bereiche auf, die wir heute - dies ist die erste Lesung - auf den Weg bringen wollen. Dazu gehört zum einen der Bezug des Elterngeldes für Wehrdienstund Zivildienstleistende. Sie wissen, dass diejenigen, die den Wehrdienst oder den Zivildienst ableisten, nichts dafür können, dass sie dann auch weniger verdienen. Das ist im Wehrpflichtgesetz festgesetzt. Deshalb müssen wir darauf Rücksicht nehmen, dass diese Personen, wenn sie dann Eltern werden, aufgrund ihres Wehrdienstleistens oder Zivildienstleistens bei der Berechnung des Elterngeldes nicht benachteiligt werden. Wir sagen: Hier muss die Möglichkeit bestehen, in Bezug auf den Verdienst auf weiter zurückliegende Monate zurückzugreifen, damit für Wehrdienstleistende und Zivildienstleistende keine Verluste eintreten. Wir wollen hier eine Änderung vornehmen. Ich glaube, das ist gut und wichtig. Wir wollen, dass alle Familien profitieren, auch die, die ihren bürgerlichen Pflichten nachkommen. ({4}) Der zweite große Bereich, der jetzt geändert werden soll, ist der Bereich der Großeltern. Wir haben an anderer Stelle über vermehrte Teenagerschwangerschaften debattiert. Wir haben festgestellt, dass es mehr junge Menschen, mehr Minderjährige, ja Kinder gibt, die Mütter bzw. Eltern werden. Diese Kinder, wenn sie denn selber Eltern werden, müssen die Chance haben, ihre Schulausbildung oder auch eine begonnene Berufsausbildung abzuschließen. Damit sie das tun können, wollen wir, dass die Elternzeit auf die Großeltern übertragen werden kann. Das heißt, dass sich Großeltern, die, vor allem wenn es sich um minderjährige Kinder handelt, ihrer Verpflichtung nachkommen - sie haben ja noch eine eigene Erziehungspflicht ihren Kindern gegenüber; diese sind ja noch nicht 18 Jahre alt -, freistellen lassen können, also in Elternzeit gehen können. Wir wollen mit dem vorliegenden Gesetzentwurf auf den Weg bringen, ({5}) dass Großeltern eingreifen und mithelfen können ({6}) - Herr Tauss, herzlichen Dank für Ihre Unterstützung -, und zwar nicht nur bei minderjährigen Kindern. Auch gerade junge Volljährige, die in der Berufsausbildung sind - sie sind ja von der Lebensphase her nicht anders aufgestellt als Minderjährige -, sollen die Möglichkeit haben, ihre Berufsausbildung abzuschließen. Den Großeltern soll es möglich sein, statt der jungen Volljährigen Elternzeit zu nehmen, um das Enkelkind zu betreuen, damit die jungen Leute in Ruhe ihre Berufsausbildung, auf die letzten beiden Ausbildungsjahre beschränkt, abschließen können. Ich glaube, auch das ist richtig und wichtig. Dabei gilt es allerdings bestimmte Voraussetzungen einzuhalten, etwa dass das Kind im Haushalt leben muss. Ich glaube, es ist, wenn wir über Generationen reden, ein gutes, wichtiges Zeichen, zu sagen: Die Großeltern haben die Möglichkeit, hier mitzumachen. Das halte ich für einen wichtigen Punkt. ({7}) Damals, bei Einführung des Elterngeldes, haben wir gedacht: Wenn besondere Härtefälle auftreten - Tod oder eine schwere Krankheit -, sollen junge Familien die Möglichkeit haben, die einmal beim Antrag getroffene Entscheidung, wer das Elterngeld bezieht, zu ändern. Wir sagen jetzt: Die Erfahrungen zeigen, dass es auch andere Gründe gibt, den Bezugspartner zu ändern. Wenn zum Beispiel jemand, der in der Elternzeit ist, plötzlich erwerbslos wird und eine neue Arbeitsstelle angeboten bekommt, muss es den jungen Familien möglich sein, kurzfristig den Bezugspartner zu ändern, also einen neuen Antrag zu stellen. Wir sagen: Es muss möglich sein, einmal ohne Begründung einen Antrag auf Änderung zu stellen; das hat auch etwas mit Verwaltungsvereinfachung zu tun. Weiterhin besteht in einem besonderen Härtefall die Möglichkeit - das bleibt unberührt -, den Bezugspartner ein zweites Mal zu ändern. Dies ist eine wirksame Regelung, damit die Familien das Elterngeld viel effektiver in Anspruch nehmen können. ({8}) Wir haben damals - Sie erinnern sich - Partnermonate ermöglicht; die Ministerin spricht gerne vom Wickelvolontariat. ({9}) Das heißt: Wenn sich beide Elternteile die Elternzeit teilen, wird die Bezugsdauer beim Elterngeld um zwei Monate verlängert. Wir haben damals nicht daran gedacht, dass es unterschiedliche Grundvoraussetzungen gibt: Wenn beide Eltern erwerbstätig sind, hat die Mutter schon die Grundvoraussetzung für die Partnermonate erfüllt; dann könnte der Vater seine Verpflichtung in nur einem Monat Elternzeit erfüllen. Wir sagen: Die Bindung von Vater und Mutter zum Kind - sie ist wirklich nötig - soll zum Wohle des Kindes möglichst intensiv sein. Deshalb soll der Partner mindestens zwei Monate in Elternzeit gehen. Ich glaube, es ist gut fürs Kind, wenn sich der Vater zwei Monate lang an das Kind gewöhnen kann. ({10}) Ich glaube, der Vater bleibt noch einen Monat länger beim Kind, weil es einfach schön ist, mitzuerleben, wie das junge, kleine Kind wächst und gedeiht. Auch hier werden wir also eine Änderung vornehmen. ({11}) - Frau Lenke, Sie können gerne eine Zwischenfrage stellen; dann darf ich länger reden. ({12}) - Gut, rufen Sie zwischen! Es gibt eine weitere, eher formale Änderung bei der Arbeitgeberbescheinigung. Bisher wurde die Bescheinigung des Arbeitgebers über die Höhe des Verdienstes, der Sozialabgaben und dergleichen an den Arbeitnehmer ausgegeben; der musste sie wiederum an die zuständigen Behörden weiterleiten. Wir sagen: Ähnlich wie beim Unterhaltsvorschussgesetz und beim Bundeskindergeldgesetz muss der Arbeitgeber diese Bescheinigung sofort an die Behörde schicken. Das heißt, wir sparen Wege, Zeit und Verfahren. Das ist richtig und wichtig. Wir machen mit den ersten Änderungen, über die wir heute debattieren, deutlich, dass wir die Entscheidung der jungen Menschen für Kinder, für Familie und den damit verbundenen Auftrag sehr ernst nehmen und genau hinschauen, was von uns Politikern bei der Weiterentwicklung des Elterngeldes erwartet wird. Es ist unbestritten, dass kein Gesetz, so wie es verabschiedet wird, in seiner Wirkung wirklich hundertprozentig bei den Menschen ankommt. Man muss bereit sein, ein Gesetz weiterzuentwickeln. Das tun wir heute mit der ersten Vorlage, mit den Punkten, die ich gerade genannt habe. Dabei ist die Großelternzeit sehr wichtig. Wir machen damit deutlich, dass wir Erziehungsverantwortung ernst nehmen und sie wirklich anerkennen wollen. Ich kann Sie, vor allem die Kolleginnen und Kollegen in den Oppositionsfraktionen, nur bitten, sich diesen wichtigen, kleinen Weiterentwicklungsschritten nicht in den Weg zu stellen. ({13}) - Frau Lenke, ich habe gerade gesagt, dass dies die ersten Schritte sind, die wir kurzfristig gehen können. Eine große Debatte wird folgen. Sie werden sich - ich kenne Sie ja - dort einbringen. Diese Debatte kann folgen, wenn uns im Oktober der Evaluationsbericht vorliegt. Jetzt haben wir die Möglichkeit, für die Bezieher von Elterngeld wichtige Schritte, auch wenn sie klein sind, zu tun. Sie sollten sich nicht verweigern, sondern mitmachen. ({14})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die Kollegin Ina Lenke hat jetzt das Wort für die FDP-Fraktion. ({0})

Ina Lenke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003170, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Frau Fischbach, wir machen mit, aber anders. Die halbe Stunde, die wir hier über diese Änderungen diskutieren, ist wirklich verschenkte Zeit. Sie haben gesagt, dass die Geburtenzahl im letzten Jahr gestiegen ist. Sie wissen doch, dass man die Elternschaft planen kann. Dafür gibt es die Pille. Sie glauben doch nicht wirklich, dass die Menschen nicht auf das Jahr 2007 gewartet haben. Damit ist dieser Berg, die höhere Geburtenrate, zu erklären. Dieser „Berg“ wird sich aber wieder „normalisieren“, und dann haben wir wieder die „weite Fläche“. Das war eine sehr subjektive Betrachtung, Frau Fischbach. Angesichts der Tatsache, dass Sie neun Minuten Redezeit hatten, der vorliegende Gesetzentwurf aber nur wenig Substanz hat, blieb ihnen vermutlich nichts anderes übrig, als auch dies als Begründung anzuführen. ({0}) Dieser Gesetzentwurf bedeutet keine Weiterentwicklung des Gesetzes. Das Gesetz enthält Fehler, und Sie verändern diese Fehler nur. ({1}) Die Ministerin hat ganz deutlich gesagt, dass vergessen wurde, die Oma-und-Opa-Regelung, die Teil des alten Gesetzes war, in das neue Gesetz aufzunehmen. Das ist die Veränderung, und jetzt meinen Sie, dass das etwas Superneues ist. Dazu kann ich nur sagen: Sie haben beim ersten Gesetz Fehler gemacht, die Sie jetzt korrigieren wollen. Was soll das? Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU und der SPD, Sie haben die Chance verpasst, die Macken, die das Elternzeitgesetz hat, auszubessern. Wir von der FDP müssen nicht auf den Evaluationsbericht warten. Sie müssen das anscheinend. Dabei müssten Sie ebenso wie ich Briefe aus der Bevölkerung bekommen, die die Macken dieses Gesetzes aufzeigen. Dazu möchte ich einige Dinge sagen: Sie wollen Flexibilisierung nur bei Härtefällen. Die Härtefälle haben Sie folgendermaßen definiert: wenn ein Ehepartner stirbt, wenn jemand behindert ist usw. Nur dann soll eine Flexibilisierung möglich sein. Wissen Sie, was wir wollen? Wir wollen die Entscheidung den Eltern überlassen. Die Eltern sollen sich mit dem Arbeitgeber einigen. Der eine könnte zum Beispiel drei Tage und der andere zwei Tage arbeiten, oder der eine arbeitet drei Wochen und der andere sieben Wochen. Über ein Budget könnten wir das sehr gut entbürokratisieren. Warum gibt es diese Möglichkeiten nicht? Warum feiern Sie es als Supererfolg, dass sich diese Eltern innerhalb der Elternzeit ein zweites Mal umorientieren können? Wo sind wir eigentlich? ({2})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Lenke, Frau Fischbach würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage stellen. Möchten Sie das zulassen?

Ina Lenke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003170, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Wenn Sie das gerne möchten, Frau Fischbach.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Bitte schön.

Ingrid Fischbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003117, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Lenke, geben Sie mir recht, dass es eine Flexibilisierung ist, wenn wir den Familien die Möglichkeit geben, innerhalb des Jahres, in dem sie Elterngeld beziehen, ohne Begründung eine Veränderung vorzunehmen? Sie sind doch immer für Verwaltungsvereinfachung. Glauben Sie, die Unternehmen und die Behörden würden es begrüßen - Stichwort: Papierkrieg -, wenn die Eltern ständig - sie sprachen von wöchentlich drei Stunden und dann vier Stunden - wechseln könnten? ({0}) Sie müssten das dann generell freigeben. Sie können ja nicht sagen: Dreimal oder viermal im Jahr darf geändert werden. Wenn, dann muss man das generell tun dürfen. Wenn alles ständig geändert werden kann, wie soll die Angelegenheit unbürokratisch, einfach und schnell, was im Sinne der Eltern ist, geregelt werden? Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mir erklären könnten, wie das ohne Mehrkosten und ohne mehr Verwaltungsaufwand geregelt werden soll. ({1})

Ina Lenke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003170, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Viel Beifall hat Ihre Rede ja nicht hervorgerufen. ({0}) Frau Fischbach, in der Debatte zum ersten Elternzeitgesetz haben Sie gesagt: Das geht nicht anders, weil der Bürokratieaufwand sonst zu groß würde. Deswegen wollten Sie nur einen einmaligen Wechsel ermöglichen. Jetzt haben Sie festgestellt, dass das gar nicht praktikabel ist, weil es Sonderfälle des Lebens gibt. Sie haben den Kreis der Sonderfälle, bei denen eine zweite Änderung möglich sein soll, sehr eng gefasst. Warum sollen die Eltern nicht ein Budget bekommen, wenn die Arbeitgeber der Eltern und die Eltern selbst sagen: „Wir wollen das anders regeln“? Die in Ihrem Gesetzentwurf vorgesehene Regelung ist immer noch zu starr. Das ist immer noch zu wenig Flexibilität. Ich glaube, wir könnten hier im Bundestag gemeinsam zu der Auffassung gelangen, dass ein Budget weniger Bürokratie mit sich bringen würde. Die Eltern könnten dieses Budget untereinander aufteilen, ohne dass die Politik sich einmischt. Dass es insgesamt bei einer Bezugsdauer von 14 Monaten bleiben muss, darüber sind wir uns einig. Ich finde - das meine ich ganz ernst -, das ist zu wenig Flexibilität. ({1}) Ich würde Ihnen gerne ein Beispiel aus der Praxis nennen. In meiner Bürgersprechstunde wurde mir von folgendem Fall berichtet: Der Vater, der Elternzeit nimmt, muss an einem Tag im Monat im Betrieb erscheinen. Wissen Sie warum? Weil er sonst nach dem Tarifvertrag weniger Urlaubs- und Weihnachtsgeld bekommt. Wir sind eine völlig verregulierte Gesellschaft. Ich sage es noch einmal: Wir brauchen Wahlfreiheit für junge Eltern. Elterngeld sollte Lohnersatz sein. Wir wissen aber, dass ein Drittel des Elterngeldes Sozialleistungen und nicht Lohnersatzleistungen sind. Sie müssen sich also einmal überlegen, was Sie als Koalition falsch gemacht haben. ({2}) Ich komme noch einmal auf die Nachteile für teilzeitbeschäftigte Ehefrauen zu sprechen. Die Lohnersatzleistung bemisst sich nach dem Nettogehalt. Jeder, der in Steuerklasse V ist, weiß: hohes Brutto, niedriges Netto. Nach diesem niedrigen Netto wird das Elterngeld berechnet. Wir hatten einen guten Vorschlag gemacht, bevor das Elterngeld eingeführt wurde. Wenn der Bruttolohn berücksichtigt worden wäre - mit einer Pauschale -, würden alle gleich behandelt, egal welche Steuerklasse sie haben. Ich finde weiterhin, dass das eine sehr gute Idee ist. ({3}) Sie haben zwar etwas für Wehrpflichtige getan, aber nichts für Mütter, die selbstständig sind. Der Deutsche Journalisten-Verband kritisiert das. Ich kann dies aus Zeitgründen nicht ausführen, lege Ihnen aber ans Herz, die Broschüre zu lesen. Ich kann sie Ihnen gerne zusenden. Wenn ein Umsatz für eine zurückliegende Beschäftigung im Zeitraum des Bezugs von Elterngeld auf dem Konto der Mutter eingeht, bekommt sie deswegen weniger Elterngeld. Ich frage mich, ob das gerecht ist. ({4}) Sie müssen sich mehr um Selbstständige kümmern. Die Bild-Zeitung hat uns darüber aufgeklärt, dass man vom Elterngeld Steuern zahlen muss. Ich war sehr erschrocken, als ich die Zahlen sah. ({5}) Man verliert über 10 Prozent, also einen Monat Elterngeld. Wer als Elternteil die 101 Seiten der Broschüre durchgearbeitet hat - das hat übrigens auch etwas mit Bürokratie zu tun -, hat das sicherlich gelesen. Ich muss sagen: Wenn die Ministerin immer nur von 1 800 Euro und 67 Prozent vom Netto spricht, aber darüber nicht aufklärt und nicht sagt, dass das Elterngeld, was die Progression angeht, teilversteuert werden muss - ich drücke es einmal laienhaft aus -, dann sind die Bürger natürlich hinterher enttäuscht. Daran sind Sie schuld und nicht das Elternzeitgesetz. ({6}) Ich will zum Schluss kommen. Ich rate Ihnen: Schauen Sie sich unseren alten Antrag zum Elterngeldgesetz an. Sie werden sehen, dass er gute Ideen enthält, die Sie übernehmen können, damit das Elterngeld endlich allen Lebenslagen von Frauen und Männern gerecht wird. Wir werden wieder einen Antrag stellen. Der Evaluationsbericht wird hoffentlich nicht subjektiv, sondern objektiv sein. Sie werden noch vieles finden, um das Elterngeldgesetz weiter zu verändern; denn ordentlich gemacht ist es nicht. Ich warte mit Freude auf die Evaluation, damit wir konstruktiv darüber streiten können. ({7}) Vielen Dank. ({8})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die Kollegin Caren Marks spricht jetzt für die SPDFraktion. ({0})

Caren Marks (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003587, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Frau Lenke, eine kleine Anmerkung vorweg: Natürlich ist das Bessere stets der Feind des Guten. Aber dazu kann ich Ihre Vorschläge überwiegend leider nicht zählen. ({0}) Zu Frau Fischbach möchte ich Folgendes sagen: Sie haben vorhin vom Wickelvolontariat gesprochen. Ich möchte, weil ich weiß, dass Sie genauso wie ich von den Partnermonaten überzeugt sind, darauf hinweisen, dass wir den Begriff Wickelvolontariat nicht gebrauchen sollten; denn das war ein Kampfbegriff von Herrn Ramsauer, der sich damals gegen die Partnermonate ausgesprochen hat. Es ist mir wichtig, darauf hinzuweisen. ({1}) Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten haben den Familien im Wahlkampf 2005 ein Elterngeld versprochen. Wir haben dieses Versprechen zum 1. Januar 2007 eingelöst. Wir haben das bisherige Erziehungsgeld durch ein modernes Elterngeld nach skandinavischem Vorbild abgelöst. Das Elterngeld ist eine neue Leistung für Familien. Mit dem heute vorliegenden Gesetzentwurf wollen wir kurzfristig auf Hinweise reagieren, die uns aus der Praxis erreicht haben. Hinweis Nummer eins: Teenager, die Kinder bekommen, wollen ihre Ausbildung beenden. Die Großeltern, die sie dabei unterstützen möchten, haben jedoch gegenüber ihren Arbeitgebern bisher keinen Anspruch auf Elternzeit. Hinweis Nummer zwei: Aktuell kann der Elterngeldantrag nur in Härtefällen wie Krankheit oder Tod geändert werden. Wenn sich aber die Erwerbssituation verändert, konnten Mütter und Väter ihre Elterngeldmonate bisher nicht flexibel anpassen. Das haben wir verändert. Hinweis Nummer 3: In Einzelfällen gibt es Nachteile für Wehr- und Zivildienstleistende bei der Berechnung des Elterngeldes. Auch das wurde verändert. Hinweis Nummer 4: Vereinzelt musste Elterngeld für weniger als zwei Monate bewilligt werden. Das war nicht zielführend. Frau Lenke, diesen vier Hinweisen tragen wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf Rechnung. Damit verbessern wir die Wirkung der Elternzeit und des Elterngeldes. Wir verbessern insgesamt die Vereinbarkeit von Familie, Ausbildung und Beruf. Die Initiative zur Einführung der sogenannten Großelternzeit bei Teenagerschwangerschaften kam aus den Reihen der Sozialdemokratinnen. Es freut uns, dass es uns in der Großen Koalition gelungen ist, dies umzusetzen. Teenagereltern unterstützen wir mit diesen Neuregelungen, sodass sie ihre Ausbildungen abschließen können. Schul- und Bildungsabschlüsse sind für ihre späteren Berufschancen von immenser Bedeutung. ({2}) Frau Lenke, das ist für Sie vielleicht spannend: Im Herbst wird die Bundesregierung eine erste umfassende Evaluation zum Elterngeld vorlegen. Das wird die Datenbasis für eine sinnvolle Weiterentwicklung des Elterngeldes sein. Zusammenfassend kann man sagen: Das Elterngeld wirkt. Junge Eltern müssen in Deutschland nicht mehr befürchten, dass die Geburt eines Kindes für sie mit erheblichen Einbußen verbunden ist. Beiderseits erwerbstätige Paare profitieren dadurch, dass das wegfallende Nettoeinkommen zu 67 Prozent ersetzt wird. Geringverdienerinnen und -verdiener bekommen einen höheren prozentualen Einkommensersatz. Paare mit einem Verdiener erhalten das Elterngeld on top. Auch sie profitieren von einem insgesamt höheren Familieneinkommen. Familien, die von Leistungen der Grundsicherung leben, bekommen das Elterngeld ebenfalls on top; denn das Elterngeld wird nicht auf die existenzsichernden Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II angerechnet. Diese Wirkungen sind sozial gerecht. Die zweijährige Bezugsdauer des früheren Erziehungsgeldes wurde in der Fachwelt als Falle für Frauen bezeichnet, und zwar zu Recht. Zu viele Frauen haben nach der bezahlten Elternzeit von zwei Jahren den Wiedereinstieg in den Beruf nicht geschafft. Sie mussten einen Teil ihrer Lebenswünsche aufgeben und auf eine eigenständige soziale Absicherung verzichten. Meine sehr geehrten Damen und Herren von der Linken, Ihre Forderung nach einer Verlängerung des Bezugszeitraums zeigt, dass sich das traditionelle Familienbild von Christa Müller bei Ihnen leider mehr und mehr durchsetzt. ({3}) Wir hingegen setzen auf eine moderne Frauen- und Familienpolitik. Das entspricht den Wünschen der jungen Männer und Frauen in diesem Land. Dafür steht auch das Elterngeld. Wir wollen mehr Männer, die sich Familienarbeit mit ihren Partnerinnen teilen. Das haben wir erreicht. Heute gehen dreimal so viele Väter in Elternzeit wie im Jahr 2006, und die Tendenz ist steigend. Rund 40 Prozent von ihnen nehmen sie länger als zwei Monate. Die Orientierung des Elterngeldes am NettoeinkomCaren Marks men und die Partnermonate sind ein wirksamer Anreiz. Sie erleichtern gemeinsame Erziehungsverantwortung. Es hat sich gelohnt, dass wir diese gezielte Starthilfe für Mütter und Väter durchgesetzt haben. Mit dem Elterngeld, mit dem Ausbau der Kinderbetreuung und mit familienfreundlichen Arbeitsbedingungen schaffen wir echte Wahlfreiheit für Familien.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Sie müssen bitte zum Ende kommen.

Caren Marks (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003587, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lassen Sie uns diese Instrumente gemeinsam weiterentwickeln. - Das war der letzte Satz. Ich bedanke mich. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich erteile jetzt dem Kollegen Jörn Wunderlich für die Fraktion Die Linke das Wort. ({0})

Jörn Wunderlich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003867, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Elterngeld - nur wenige Eltern profitieren“, „nur wenige kommen über 1 000 Euro“, „Elterngeld der Realität anpassen“, „familienfreundliche Arbeitswelt sieht anders aus“. ({0}) - Nein, das ist nicht von mir. Das sind Schlagzeilen und Meldungen der letzten Wochen. Verbände diskutieren mit Eltern, Wissenschaftlern, Juristen und Arbeitgebern über die Frage: Was hat ein Jahr Elterngeld gebracht? Im Ergebnis wird festgestellt: Das war eine wunderbare Kür, aber vom Staat wird mehr Pflicht verlangt. Fazit: Das Reförmchen ist wieder einmal mehr Schein als Sein. Eltern wünschen sich tatsächlich mehr. Da, wo Änderungsbedarf besteht - eine Erhöhung des Mindestelterngeldes bei gleichzeitigem Teilelterngeldbezug -, wird nichts gemacht. Das Elterngeld bleibt auch nach dem vorliegenden Gesetzentwurf eine sozialpolitische Mogelpackung, die für die Mehrheit der Eltern nicht hält, was sie verspricht. Das Elterngeld benachteiligt Eltern mit niedrigem oder gar keinem Einkommen. Im Wissen darum, dass jedes siebte Kind in Deutschland auf einem Einkommensniveau lebt, das es von einer angemessenen sozialen und gesellschaftlichen Teilhabe ausschließt, verschärfen Sie die Kinderarmut weiter. ({1}) Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf halten Sie an der Unausgewogenheit und an der Umverteilung von Arm nach Reich fest. Herr Singhammer, die Zahlen sprechen für sich: Die Mehrheit der Eltern erhält ein Elterngeld von weniger als 500 Euro, 32 Prozent bekommen sogar nur das Mindestelterngeld in Höhe von 300 Euro. Um noch eins draufzusetzen: Die Auswirkungen auf Alleinerziehende sind statistisch gar nicht zu ermitteln, weil das Gesetz diesbezügliche Erhebungen nicht vorsieht. Dazu kann man nur sagen: Gratulation! Sind das die Wahlversprechen, die die SPD im Wahlkampf gemacht hat - Frau Marks hat sie gerade erwähnt -, wollte man den Eltern nach der Wahl weniger geben? ({2}) Das ist wie mit euren Steuerversprechen: Es wird viel versprochen, aber nichts wird gehalten. ({3}) Eine Bemerkung zur Großelternzeit. Unsere Kritik richtet sich darauf, dass der Anspruch auf das Zeitrecht ohne Anspruch auf Elterngeld gewährt werden soll, ganz nach dem Motto: Oma wird es schon richten. Das Argument, dass die Eltern das Mindestelterngeld erhalten, greift zu kurz. ({4}) - Mehrwertsteuererhöhung - ohne uns; das war euer Wahlversprechen. Ich sage nur: Versprecht ruhig weiter! Wenn ihr 3 Prozent weniger bekommt und wir 3 Prozent mehr bekommen, dann haben wir euch überholt. ({5}) Eine Bemerkung am Rande: Die Großeltern, um die es hier geht, die Eltern der Teenie-Eltern, sind heute zwischen 40 und 50 Jahren, also noch nicht im Rentenalter. Wie sollen sie mit einem Zeitanspruch aussteigen, wenn sie noch im Berufsleben stehen? Das Recht und die Möglichkeit auf eine Ausstiegszeit bringen wenig, wenn nicht klar ist, woher in dieser Zeit das Geld kommen soll. ({6}) Aus gleichstellungspolitischer Sicht - auch diese Perspektive ist von Bedeutung - ist das Ganze ohnehin kontraproduktiv, weil es wieder die Frauen sind - ich sage nur: Steuerklasse V -, auf deren geringeres Einkommen eher verzichtet wird. ({7}) Ich wiederhole: Oma wird es schon richten. Großelternzeit nur den Großeltern zu gewähren, und das auch nur, wenn sie mit dem betreuenden Kind in einem Haushalt leben, das ist uns zu wenig. Die Linke will den Anspruch auf andere Verwandte bis zum dritten Grad ausdehnen, auch dann, wenn sie nicht mit dem Kind in einem Haushalt leben. Außerdem wollen wir Solidarität auch außerhalb von Verwandtschaftsbeziehungen anerkennen; denn es sind nicht immer nur Verwandte, die helfen. Deshalb schlagen wir vor, auch Dritten, die mit Eltern und Kind nicht verwandt sind, einen entsprechenden Anspruch zu gewähren. Die Linke steht für eine sozial gerechte Kinder- und Familienpolitik und fordert eine stärkere Übernahme öffentlicher Verantwortung für Kinder und Familien. Wir fordern die sofortige Anhebung des Mindestelterngeldes auf 450 Euro ({8}) und die Verlängerung des Anspruchs auf Elterngeld ({9}) - Frau Marks, hören Sie mir doch einmal zu, bevor Sie hier Unwahrheiten verbreiten! - auf zwölf Monate pro Elternteil, nämlich auf zwölf Monate für die Mutter und auf zwölf Monate für den Vater. ({10}) Wenn Sie unsere Konzepte vertreten, dann vertreten Sie sie bitte richtig! Wir wollen einen zwölfmonatigen Anspruch auf Elterngeld auch für die Väter, um sie stärker in die Pflicht zu nehmen. ({11}) Insbesondere fordern wir in diesem Zusammenhang eine öffentliche, gut ausgebaute und qualitativ hochwertige Kinderbetreuung mit entsprechend ausgebildeten Erzieherinnen und Erziehern, wobei ich die Schwerpunkte auf „öffentlich“ und „gut ausgebaut“ lege. Die öffentlichen Träger und der Bundesjugendverband haben gesagt: Der von der Regierung angekündigte Bedarf lässt sich auch mit öffentlichen und gemeinnützigen Trägern umsetzen. - Frau Lenke hört gerade leider nicht zu, obwohl das ganz besonders an sie gerichtet ist. ({12}) Es kann also auf gewerbliche und profitorientierte Träger verzichtet werden. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({13})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jetzt hat die Kollegin Ekin Deligöz für das Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Ekin Deligöz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003068, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man ein Instrument wie das Elterngeld einführt, dann hat das zwangsläufig zur Folge, dass nach einem Jahr Korrekturund Verbesserungsbedarf besteht, weil man im Laufe der Zeit vieles lernt. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll die Feinkorrektur dieses neuen Instruments vorgenommen werden. Ich muss allerdings darauf hinweisen, dass dem Parlament bis zum 1. Oktober dieses Jahres ein erster Bericht vorgelegt werden soll, in dem die Folgen und der Wirkungsbereich der Einführung des Elterngeldes dargestellt werden. Eigentlich wäre es sinnvoll gewesen, mit den Korrekturen zu warten, bis dieser Bericht vorliegt. ({0}) Dann hätte man daraus Konsequenzen ziehen und die Instrumente dementsprechend anpassen können. Sie wollten aber nicht bis zum Herbst dieses Jahres warten, und wir wissen auch, warum. ({1}) Wir wissen, dass in der Koalition schnelle, einvernehmliche familienpolitische Verfahren Seltenheitswert haben. ({2}) Spätestens mit der Vorlage des Wirkungsberichts zum Elterngeld hätten Sie sich darauf einigen müssen, wie es mit den Vätermonaten weitergeht. Die Ministerin hat die Debatte darüber ja schon eröffnet. ({3}) Aber Sie möchten das lieber zu einem Wahlkampfthema machen, als hier etwas Konkretes vorzulegen. ({4}) Die Familienministerin hat, was die Ausweitung der Partnermonatsregelung angeht, eine konkrete Positionierung mehrfach vermieden. Sie hat selber gesagt, das überlasse sie der Diskussion, die sich sicher entwickeln wird. So redet jemand, der sich entweder nicht festlegen will oder nicht festlegen kann. ({5}) Womöglich gibt es nicht nur innerhalb der Koalition, sondern sogar innerhalb der CDU/CSU-Fraktion Differenzen. ({6}) Dass Sie darauf beharren, Bericht und Korrekturen zu trennen, lässt darauf schließen, dass Sie den Bericht als Wahlkampfschlager verwenden möchten. Ich sage Ihnen: Das wird Ihnen nur bedingt gelingen. ({7}) Das, was jetzt gemacht werden soll, ist Klein-Klein, ja klitzeklein, und ab Herbst wird der Wahlkampf toben. Bis dahin gibt es mit dem Gesetzentwurf ein paar Vorschläge, die grundsätzlich nicht schlecht sind: Die Einführung einer Mindestbezugsdauer für die Partnermonate kann man begrüßen, genauso, dass Wehr- und Zivildienst bei der Einkommensermittlung ausgeklammert werden sollen. Zur Revidierung der Leistungsaufteilung muss ich sagen: Eigentlich gibt es keinen Grund, warum, wenn man eine Leistungsaufteilung im Härtefall zugesteht, dies nur einmalig möglich sein soll. ({8}) Härtefälle können schließlich öfters vorkommen. Auch der Vorschlag einer sogenannten Großelternzeit ist nachvollziehbar. Gerade im Falle von Teenagerschwangerschaften ist jede Hilfe willkommen und sinnvoll. ({9}) Ich glaube, dass die Großelternzeit in Anspruch genommen werden wird, Herr Wunderlich. Die Großeltern könnten zum Beispiel auf Teilzeitarbeit übergehen; auch in diesem Sinne ist Elternzeit möglich. Das Problem ist aber: Was passiert, wenn sich die Großeltern mit den Eltern nicht einigen können? Die ersten Experten sagen schon, dass diese Regelung Konflikte nicht aus dem Weg räumt, sondern womöglich vertieft bzw. neue Konflikte schafft. Darüber werden wir in der Anhörung, die die Oppositionsfraktionen verlangen, noch zu sprechen haben. Abgesehen davon erschließt es sich mir nicht, warum Sie sich, wenn Sie schon eine solche Öffnung vorsehen, auf die Großeltern konzentrieren. Man könnte doch sagen: In einer modernen Welt, in der es verschiedene Familienformen gibt, gibt es auch andere Konstellationen des Zusammenlebens, des Miteinander-VerantwortungÜbernehmens. ({10}) Auch diesen Konstellationen sollte man eine solche Möglichkeit eröffnen. Das Ziel ist doch, dass die Teenager auch mit Kind ihre Schule oder Ausbildung fortführen und beenden können. ({11}) Wir machen jetzt Klein-Klein. Die großen Reformen, die Änderungen, die auf jeden Fall anstehen, werden uns dann im Herbst beschäftigen. ({12})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jetzt ergreift Kerstin Griese das Wort für die SPDFraktion. ({0})

Kerstin Griese (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003440, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zwei Anmerkungen vorneweg. Erste Bemerkung: Liebe Ekin Deligöz, es sind zwar kleine Änderungen; aber es sind Änderungen, die den Menschen im realen Leben helfen. Deshalb wird das Gesetz dadurch besser. ({0}) Meine zweite Anmerkung: Herr Wunderlich, wenn eine Meisterschaft im Versprechen-Abgeben ausgerufen würde, wären Sie mit den 157 Milliarden Euro - diese Summe umfassen die Versprechen der Linkspartei; diesen Geldsegen würden Sie gern verteilen - schon jetzt der Gewinner. Im Versprechen-Abgeben sind Sie die Größten, eine Gegenfinanzierung haben Sie allerdings nicht. ({1}) Wir reden heute über etwas Erfolgreiches. Dass Sie das stört, kann ich verstehen; nichtsdestotrotz ist das Elterngeld ein großer Erfolg. Wir von der SPD sind froh, dass wir unseren Koalitionspartner davon überzeugen konnten. ({2}) Wir haben das Elterngeld gemeinsam verwirklicht. Darauf können wir stolz sein. Ich sage das ausdrücklich; damit alle Seiten klatschen können. Die Zustimmung in der Bevölkerung ist enorm: Zwei Drittel der Bevölkerung halten das Elterngeld für eine gute Sache. Sicherlich nicht nur durch dieses Gesetz - auch durch viele andere Maßnahmen -, aber auch durch dieses Gesetz wurde der Geburtenrückgang zum ersten Mal seit 1990 gestoppt. Bei den Männern gibt es ein Umdenken. Vielleicht haben diejenigen, die früher einmal von einem Wickelvolontariat gesprochen haben, dazugelernt. Bereits im letzten Quartal des letzten Jahres ging jede achte Bewilligung des Elterngeldes an einen Mann. Zwei Drittel dieser Väter haben zwei Monate lang Elterngeld in Anspruch genommen. Knapp jeder fünfte dieser Väter ist sogar für zwölf Monate ganz oder teilweise aus dem Beruf ausgestiegen, um sich um das Kind zu kümmern. Es findet also ein echtes Umdenken in der Gesamtbevölkerung statt: bei den Männern und auch in der Wirtschaft. Eine aktuelle Umfrage zeigt, dass das Verständnis der Personalverantwortlichen für Familien deutlich gestiegen ist. 61 Prozent befürworten es, wenn auch Väter Elternzeit nehmen. Das waren vor ein paar Jahren noch viel weniger. Alles in allem ist die Bilanz des Elterngeldes erfolgreich. ({3}) Es ist schon gesagt worden: Wir werden zum 1. Oktober 2008 eine umfassende Evaluation erhalten. Das ist auch gut so. Nichtsdestotrotz kann man einige Dinge schon vorher ändern. Ich will mich ganz ausdrücklich beim Diakonischen Werk des Evangelischen Kirchenbezirks Baden-Baden und Rastatt bedanken; denn wir wurden vor etwas über einem Jahr, im April 2007, mit einem Brief an unsere Kollegin Nicolette Kressl darauf aufmerksam gemacht, dass es in der Tat das Problem gibt, dass keine Großelternzeit mehr möglich ist. Vonseiten der SPD haben wir uns dann sehr schnell für die Wiedereinführung der Großelternzeit stark gemacht. Ich sage ganz ehrlich: Wir hätten das gerne noch schneller auf den Weg gebracht - wir haben häufig darüber gesprochen; es gab aber viel abzustimmen, auch mit dem Bereich Bildung -; denn wir wollen, dass Großeltern in dieser Notsituation einspringen können. Wir wollen, dass Großeltern eine Auszeit nehmen können mit der Garantie für eine Rückkehr in ihren Job, wenn ihre Kinder Eltern werden und sie ihre Enkelkinder betreuen wollen. ({4}) Ich glaube, diese Änderung entspricht der Lebenswirklichkeit. Es geht um Teenager, die selber Eltern werden. Daneben wollen wir, dass die jungen Eltern, die in der Schule, in der Ausbildung oder vielleicht sogar schon im Studium sind, ihren Abschluss machen können; denn wir wissen, dass die beste Prävention von Kinderarmut - wir reden viel über Kinderarmut, auch heute Morgen hier im Parlament - die Erwerbstätigkeit der Eltern ist. Erwerbstätig kann man nur sein, wenn man einen Schul- und Ausbildungsabschluss hat. ({5}) Wir haben diese Regelung auch deshalb eingeführt, um Teenagern in dieser schwierigen Situation wirksam helfen zu können. Heute werden etwa sechs von 1 000 13- bis 17-jährigen Mädchen in Deutschland schwanger. Etwa drei von diesen Mädchen, also die Hälfte, bekommen ein Kind. Die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche in der gleichen Altersgruppe ist ein klein wenig höher als die der Geburten. Wir sprechen über etwas mehr als 7 000 Kinder von 13- bis 17-jährigen Teenagern, die in Deutschland pro Jahr geboren werden. Diese Teenager können die Hilfe ihrer Eltern mit der neuen gesetzlichen Regelung leichter in Anspruch nehmen. Hinzu kommen noch diejenigen, die schon volljährig sind, aber vor ihrem 18. Geburtstag mit einer Ausbildung begonnen haben. Auch für sie ist diese neue Regelung im Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz positiv. ({6}) Fakt ist also: Wir verbessern die Möglichkeiten im Rahmen der Elternzeit weiter und schaffen eine lebensnahe Lösung für ganz junge Eltern, wodurch ihnen geholfen wird, Schule und Ausbildung zu Ende zu machen. Damit helfen wir den Familien ganz konkret. Ich bitte Sie alle nicht nur um Zustimmung, sondern auch um zügige Zustimmung, damit diese wirklich gute Lösung sehr schnell in Kraft tritt und die Großeltern, die es wollen und können, ihren Kindern und Enkelkindern gleichermaßen helfen können. Vielen Dank. ({7})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Damit schließe ich die Aussprache. Zwischen den Fraktionen ist verabredet worden, den Gesetzentwurf auf Drucksache 16/9415 an die in der Ta- gesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. - Damit sind Sie einverstanden. Dann ist das so beschlos- sen. Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 11 a und 11 b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gisela Piltz, Christian Ahrendt, Ernst Burgbacher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika über die Vertiefung der Zusammenarbeit bei der Verhinderung und Bekämpfung schwerwiegender Kriminalität neu verhandeln - Drucksache 16/9094 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({0}) Auswärtiger Ausschuss Rechtsausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Wieland, Volker Beck ({1}), Alexander Bonde, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kein uferloser Datenaustausch mit den USA - Drucksache 16/9360 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({2}) Auswärtiger Ausschuss Rechtsausschuss Es ist verabredet, über diese beiden Anträge insgesamt eine halbe Stunde zu debattieren. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin Gisela Piltz für die FDP-Fraktion das Wort. ({3})

Gisela Piltz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003667, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Als „Albtraum“ hat der europäische DatenschutzGisela Piltz beauftragte Peter Hustinx das Vorantreiben der EU-weiten Ausdehnung des Prümer Vertrags bezeichnet und hinzugefügt, die mit dem Vertrag verknüpften Datenschutzbestimmungen seien ein „kompliziertes Flickwerk“. Der Prümer Vertrag ist damit für uns alles andere als ein gutes Vorbild. Trotzdem geht die Bundesregierung noch einen Schritt weiter und handelt ein Sicherheitsabkommen mit den USA zum Austausch von Daten aus, ohne sich wenigstens an diesen zugegebenermaßen flickwerkartigen Datenschutzbestimmungen zu orientieren. Dann verkauft uns diese Bundesregierung das auch noch als politischen Erfolg und stellt die Vorreiterrolle Deutschlands heraus. Der Prümer Vertrag selbst ist in Europa bis heute nicht umgesetzt, eine Evaluierung gibt es auch nicht. Aber wir müssen wieder einmal mit gutem Beispiel vorangehen. Für uns ist das eher ein schlechtes Beispiel. ({0}) Es wäre sinnvoll gewesen, die Erfahrungen aus dem Prümer Vertrag erst einmal abzuwarten und auszuwerten, anstatt ihn unter einem anderen Namen über den Atlantik zu exportieren. Wer sensible Daten wie die politische, religiöse oder sonstige Überzeugung, die Zugehörigkeit zu einer Gewerkschaft, die sexuelle Einstellung und Gesundheitsdaten übermitteln will, ohne dabei Begriffe wie Terrorismus und Kriminalität ausreichend zu definieren, muss sich schon fragen lassen, wo sein Grundrechts- und Bürgerrechtsverständnis geblieben ist. ({1}) - Damit haben Sie völlig recht, Herr Kollege. - Es reicht nicht, dass die Vertragspartner einander notifizieren können, welche Straftaten nach nationalem Recht unter die Begriffe Terrorismus und Kriminalität fallen; denn diese Notifikation ist jederzeit änderbar. Heute hü!, morgen hott! - so kann Rechtssicherheit nicht eintreten. Was hat, bitte schön, die Gewerkschaftszugehörigkeit mit terroristischen Straftaten bzw. schwerwiegender Kriminalität zu tun? Wir haben lange darüber nachgedacht. Weder das englische noch das deutsche Wort geben uns dazu Veranlassung. Wenn man aber lange genug bei Google sucht, fallen einem das spanische und das französische Wort für „Gewerkschaft“ auf: el sindicato und syndicat. Hier ergibt sich ein ganz neuer Horizont von Assoziationen. Der Syndikalismus war eine revolutionär-gewerkschaftliche Bewegung, die sich Ende des 19. Jahrhunderts bildete. Mittel der Syndikalisten war nicht nur der Streik, sondern auch die Sabotage. ({2}) - Dass Sie von der Linken das wieder gut finden, ist mir klar. - Parlamentarische Bestrebungen wurden abgelehnt. Im heutigen Kontext würde ein solcher Mitteleinsatz von einigen Ländern vielleicht als Terrorismus bezeichnet werden. Unsere Gewerkschaften in Deutschland bedienen sich aber dieser Mittel nicht. Ich glaube, die Zeiten des Syndikalismus haben wir nun wirklich überwunden. Ich verstehe auch nicht, wie eine Bundesjustizministerin mit SPD-Parteibuch ein solches Abkommen federführend verhandeln konnte. ({3}) Dieses Sicherheitsabkommen stellt die Gewerkschaften an den Pranger. Das haben sie wirklich nicht verdient. ({4}) Es ist schon bezeichnend, wenn die FDP die Gewerkschaften verteidigen muss. Dies ist eine wirklich komische Rollenverteilung. Noch ein Wort zum Verfahren: Entgegen Ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke haben Sie den Innenausschuss des Bundestages im Februar 2007 nicht über die Aufnahme von Vertragsverhandlungen informiert. Ich habe mir extra noch einmal das Wortprotokoll angeschaut. Meinem Fraktionskollegen Ernst Burgbacher haben Sie auf Nachfrage geantwortet, dass die USA dem Vertrag von Prüm nicht beitreten könnten. Dies stimmt natürlich. Sie haben eine formale Antwort gegeben und sich so um die inhaltliche Antwort gedrückt. Sie haben im Ausschuss nicht die Wahrheit gesagt, ({5}) und das kann sich das Parlament nicht bieten lassen. ({6}) Die Regelungen im Sicherheitsabkommen haben Sprengstoff in sich. Europäische Datenschutzstandards haben in den USA überhaupt keinen Bestand, wie wir wissen. Das dortige Datenschutzniveau ist deutlich niedriger. Insbesondere werden in den USA polizeiliche Daten über Jahrzehnte gespeichert: bis zu 99 Jahre. Das Ende der Speicherung seiner Daten wird also kaum jemand erleben. Eine unabhängige Datenschutzkontrolle, wie es in Deutschland der Fall ist, gibt es dort auch nicht. Der automatisierte Austausch soll im sogenannten Hit-/No-hit-Verfahren erfolgen. Die Vertragspartner wollen sich dabei gegenseitig Zugriff auf die sogenannten Fundstellendatensätze ihrer nationalen DNA- und Fingerabdruckdatenbanken gewähren, um diese für den automatisierten Abgleich zu nutzen. Einzelheiten sollen aber Durchführungsvereinbarungen vorbehalten bleiben. Auch da werden wir dann keinen Einfluss haben. Es ist nicht sonderlich klug, wie man in diesem Punkt mit dem Parlament umgeht. Auskunfts- und Berichtigungsansprüche, die einem rechtsstaatlichen Verfahren grundsätzlich immanent sind, sind in dem Abkommen für die Betroffenen vorsichtshalber gar nicht vorgesehen, da nur das Verhältnis zwischen den Vertragsparteien USA und Deutschland gere17592 gelt wird. Wenn ich betroffen bin, brauche ich als betroffene Person einen Auskunftsanspruch. Wir hoffen, dass Sie in dieser Hinsicht noch einmal tätig werden. Uns wäre es sowieso lieber, Sie würden das Ganze zurückziehen. Aber wenn Sie es durchführen, dann müssen Sie sich auch an rechtsstaatliche Verfahren halten. Der Grundsatz des effektiven Rechtschutzes, der jedenfalls nach unserer Auffassung eine tragende Säule unseres Rechtsstaates ist, wird damit einmal mehr über Bord geworfen. Zum Abschluss: Nachdem ich schon versucht habe, den Begriff Syndikat geschichtlich zu erklären, habe ich in der Zitatenkiste gewühlt und ein Zitat aus dem Jahr 1670 gefunden. ({7}) Das liegt so weit zurück, dass es vielleicht für die Bundesregierung unverdächtig ist, auch wenn es von einem Mitglied der liberalen Bundestagsfraktion verwendet wird. Baruch de Spinoza hat gesagt: „Der Zweck des Staates ist in Wahrheit die Freiheit.“ Ich fände es gut, wenn wir uns alle daran halten würden. Herzlichen Dank. ({8})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Christoph Bergner hat jetzt das Wort für die Bundesregierung.

Dr. Christoph Bergner (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003505

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Verehrte Frau Piltz, die Einzelheiten des in Rede stehenden, von der Bundesregierung verhandelten deutsch-amerikanischen Abkommens werden im Zuge der anstehenden vertragsgesetzlichen Ratifizierungen behandelt. Ich werde deshalb darauf verzichten, auf viele der Vorwürfe - Sie nannten Speicherhöchstfristen und anderes - im Einzelnen einzugehen. Ich will vorausschauend so viel zurückweisen - wir haben es sogar im Innenausschuss im Rahmen der Berichterstattung diskutiert, wenn ich mich richtig erinnere -: Die Gewerkschaften und religiöse und sonstige Überzeugungen sind in Art. 12 des Vertrages ausdrücklich wegen der besonderen Schutzwürdigkeit der entsprechenden Daten erwähnt. Das heißt, was von Ihnen als besondere Weitergabe von speziellen Informationen zu denunzieren versucht wird, ({0}) ist in dem Vertrag gerade in den Rahmen einer besonderen Schutzwürdigkeit gestellt worden. Sie sollten sich wenigstens die Mühe machen, in dieser Frage fair zu argumentieren. Ein Weiteres. Mein Kollege Altmaier hat am 28. Februar über die Aufnahme von Gesprächen mit den USA zur Intensivierung des bilateralen Informationsaustausches informiert, damals natürlich noch nicht über Vertragsinhalte. Sie wissen, dass am 9. März ein Berichterstattergespräch stattgefunden hat - an dem Sie, glaube ich, selbst teilnahmen -, in dem mein Kollege Altmaier über den Vertrag informiert hat. Ich will versuchen, auf die allgemeinen Vorwürfe, die das Muster Prümer Vertrag und seine Übertragung auf den Drittstaat USA betreffen, einzugehen. Dabei ist zunächst einmal hervorzuheben, dass der Vorwurf, hier würde ein Ausverkauf des Datenschutzes betrieben, wirklich unbegründet ist. Wer die bisherige Realität und das angestrebte Abkommen nüchtern betrachtet, der wird feststellen müssen: Erstens. Die USA sind und bleiben einer unserer wichtigsten internationalen Verbündeten. Das gilt auch und gerade im Kampf gegen den internationalen Terrorismus. ({1}) Wer hier auf den Informationsaustausch mit den USA verzichten will, verschließt die Augen vor der Realität. Ich erinnere daran, dass der entscheidende Hinweis im Sauerland-Fall gerade von amerikanischer Seite kam. ({2}) Zweitens. Der Datenschutz ist ein Problem bei jeder Art von internationaler Zusammenarbeit. Wer ein Datum an einen anderen Staat übermittelt, muss sich darüber im Klaren sein, dass dort nicht mehr die eigene, sondern die dortige Rechtsordnung gilt. Im Bereich des Datenschutzes gibt es dabei natürlich erhebliche Abweichungen. Mit diesen Abweichungen kann man auf dreierlei Weise umgehen. Erstens. Man übermittelt - das ist möglicherweise die Zielsetzung, von der Sie ausgehen - gar keine Daten an Staaten, die über kein angemessenes Datenschutzniveau verfügen. Diese Ansicht hätte allerdings im Extremfall zur Konsequenz, dass der Datenschutz über das Leben von Menschen gestellt wird, die von einem konkreten Anschlag bedroht sind, wenn der Anschlag durch Übermittlung eines Hinweises hätte abgewendet werden können. Weil dies niemand ernsthaft wollen kann, muss im Einzelfall eine Abwägung zwischen den Belangen des Datenschutzes und dem Zweck der Datenübermittlung stattfinden. Das ist Weg Nummer zwei, der der gegenwärtigen Rechtslage entspricht. Nach § 14 Abs. 7 des Bundeskriminalamtgesetzes muss das Bundeskriminalamt bei einer Datenübermittlung an andere Staaten auch die Angemessenheit des dortigen Datenschutzniveaus berücksichtigen und nach den Umständen des Einzelfalls eine Abwägung vornehmen. Neben der jeweiligen Rechtsordnung im Empfängerstaat kommt es insbesondere auf die konkrete Art der Daten und den Zweck der Übermittlung an. Ein Polizist, der möglicherweise binnen Minuten oder wenigen StunParl. Staatssekretär Dr. Christoph Bergner den entscheiden muss, ob er einen Hinweis an einen Drittstaat geben kann, hat jedoch kaum Zeit, ausführlich die Rechtsordnung des Empfängerstaates zu prüfen und diese in Relation zum Übermittlungszweck zu setzen. Deshalb ist die dritte Lösung, mit den weltweit unterschiedlichen Datenschutzniveaus umzugehen, offenkundig die beste. Sie besteht darin, durch ein Abkommen mit dem Empfängerstaat selbst ein angemessenes Datenschutzniveau für die im Abkommen vorgesehene Übermittlung zu schaffen. Diesen Weg wollen wir nun mit den USA bei der polizeilichen Zusammenarbeit beschreiten. Das Abkommen flankiert die Befugnisse zum Datenaustausch mit einer Reihe von Datenschutzbestimmungen, die im Vergleich zur bisherigen Rechtslage ein deutlich besseres Datenschutzniveau schaffen. Ich denke, das werden wir noch würdigen, wenn wir in die Ratifikation des Vertrages einsteigen. Dies gilt insbesondere für den automatisierten Austausch im sogenannten Hit-/No-Hit-Verfahren. Dies bedeutet, dass jeweils nur Fundstellendatensätze und nicht die eigentlichen Personendaten abgerufen werden können. Wenn ein Treffer erzielt wird und eine Seite weiß, dass die andere über Erkenntnisse zur gleichen DNA oder zum gleichen Fingerabdruck verfügt, muss sie ein Ersuchen um Übermittlung der eigentlichen Personendaten stellen. Diese Ermittlung erfolgt nach den bereits bestehenden allgemeinen Regeln. Das heißt, wir haben dann ein Rechtshilfeverfahren, wie wir es kennen. Dieses Verfahren, das der Prümer Vertrag vorsieht, wurde vom Datenschutzbeauftragten als datenschutzfreundlich gelobt, weil im ersten Schritt keine Personendaten abgerufen werden, sondern lediglich Fundstellen zu DNA- und Fingerabdruckdaten. Nun verkenne ich nicht, dass man sich an der einen oder anderen Stelle - darüber werden wir bei der Vertragsratifikation noch zu befinden haben - aus datenschutzrechtlicher Sicht noch mehr gewünscht hätte. Die Bundesregierung hatte sich insbesondere im Rahmen der Verhandlungen massiv für die Schaffung unmittelbarer subjektiver Rechte der Betroffenen eingesetzt, sodass sich deutsche Bürger wegen Verletzung einer Datenschutzbestimmung direkt an ein US-amerikanisches Gericht hätten wenden können. Die USA hatten dies jedoch unter Hinweis auf ihr innerstaatliches Recht strikt abgelehnt; denn der sogenannte Privacy Act in den USA gibt bisher nur US-Bürgern unmittelbare subjektive Rechte. Der in dem Abkommen, Frau Piltz, gefundene Kompromiss kann sich jedoch aus unserer Sicht sehen lassen; denn mit dem Abkommen werden nun völkerrechtliche Ansprüche der Vertragsparteien auf Auskunft, Berechtigung, Sperrung oder Löschung geschaffen. ({3}) Die jeweiligen Vertragsparteien, also Deutschland und die USA, vermitteln diese Ansprüche nach dem jeweiligen innerstaatlichen Recht ihren Bürgern, Herr Kollege Wieland. Nach innerstaatlichem Recht bestehende subjektive Rechte des Betroffenen auf Auskunft, Berichtigung, Sperrung oder Löschung können also vermittelt durch die jeweilige Vertragspartei wahrgenommen werden. Diese vermittelte Wahrnehmung bedeutet im Ergebnis keine Schwächung der Rechtsposition der Betroffenen. Zugegebenermaßen wird das Verfahren für die Betroffenen möglicherweise etwas komplizierter. Andererseits wird dem Anspruch durch die Geltendmachung seitens der Vertragspartei ein höheres Gewicht verliehen. Meine Damen und Herren, wenn wir die einzelnen Punkte durchgehen, können wir feststellen, dass wir überall zu sehr tragfähigen Ergebnissen gekommen sind. Wer meint, wie es im FDP-Antrag zum Ausdruck kommt, es könne durch Neuverhandlungen zu besseren Ergebnissen kommen, der sollte sich nicht täuschen. Gerade dort, wo sich die Kritik am lautesten entfacht hat - Frau Kollegin Piltz, ich bin schon auf Art. 12 und die Übermittlung sogenannter besonders sensibler Daten eingegangen -, zeigt sich häufig auch ihre Irrationalität. Auslöser hierfür war eine sinnentstellende Presseberichterstattung, die auch bei Ihrer Rede, Frau Piltz, durchdrang, ({4}) und zwar über den Charakter der Regelung als Schutzvorschrift, die ins Gegenteil verkehrt wurde; denn - ich sage es noch einmal - Art. 12 schafft eben gerade nicht die Verpflichtung oder erst die Möglichkeit zur Übermittlung sensibler Daten, sondern er dient ihrem besonderen Schutz. Was hier von vielen Seiten als Ausverkauf des Datenschutzes beklagt wurde, ist genau das Gegenteil.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege, Sie müssten bitte zum Ende kommen.

Dr. Christoph Bergner (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003505

Ja. - Vergleichbare Sonderregelungen gehören zum klassischen Repertoire internationaler Datenschutzbestimmungen. Meine Damen und Herren, wir befinden uns, wie gesagt, noch immer im Vorfeld der vermutlich noch in diesem Jahr beginnenden gesetzlichen Ratifikation des Vertrages, und wir werden dann über alle Einzelheiten sprechen können. Aus Sicht der Bundesregierung sollten beide Anträge, die versuchen, im Vorfeld Stimmungen gegen den Vertragsinhalt zu machen, zurückgewiesen werden. Danke schön. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Jan Korte hat jetzt das Wort für die Fraktion Die Linke. ({0})

Jan Korte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003790, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Staatssekretär Bergner, wir würden gerne Ihre Bemühungen in den Verhandlungen um Datenschutz honorieren und Sie dafür loben, aber wir haben dasselbe Problem wie bei dem Abkommen über Fluggastdaten. Wie Sie sich erinnern, haben wir auch darüber diskutiert. Sie haben in diesem Zusammenhang im Innenausschuss mitgeteilt, dass Sie grundsätzlich über laufende Verhandlungen mit ihren Partnerinnen und Partnern in den USA keine Auskunft geben. Deswegen können wir überhaupt nicht nachvollziehen, wie Ihre Bemühungen gewesen sind. Wir können nicht nachvollziehen, an welcher Stelle die US-Administration sagt: Das ist mit uns überhaupt nicht zu machen. - Das würden wir aber gerne wissen, um Sie unterstützen zu können. Wenn Sie uns das aber nicht rechtzeitig berichten, können wir Sie nicht unterstützen, und das ist das Problem. Die Anträge der FDP und der Grünen sind sehr sinnvoll, weil wir gerade in dieser Woche viele schlechte Erfahrungen gemacht haben, wie es um den Datenschutz bestellt ist. Deswegen ist es wichtig, sozusagen präventiv für die Bürgerrechte zu wirken. Deswegen unterstützen wir ausdrücklich diese Anträge. Ich will kurz zusammenfassen, welche die Hauptkritikpunkte auch der Linken sind. Wir teilen ausdrücklich die Kritik, die in den Anträgen formuliert ist. Ein Punkt steht im Zusammenhang mit der Rendition-Praxis. Da es keine praktische, nachvollziehbare Definition von Terrorismus gibt - auch nicht in diesem Abkommen -, ist der Willkür Tür und Tor geöffnet. Das ist das Hauptproblem. Zur Speicherdauer in den USA - 99 Jahre - ist schon etwas gesagt worden. Wenn wir darüber diskutieren, dass diese Daten - das ist in den USA anders als in der Bundesrepublik - zum Beispiel an die CIA, die NSA, das FBI und was weiß ich, welche Geheimdienste und Halbgeheimdienste es inzwischen dort gibt, weitergegeben werden, dann würde mich interessieren, wie Sie in diesen Verhandlungen darauf hingewirkt haben, dass diese Daten nicht für eine Praxis genutzt werden, die wir nicht mit rechtsstaatlichen Grundsätzen vereinbaren können, die aber in den USA seit 2001 gang und gäbe ist. ({0}) Ich hoffe, dass der Kollege Gunkel heute wieder so trefflich die Vorlage kritisiert, wie er das beim letzten Mal gemacht hat. Darüber würde ich mich sehr freuen. Ich glaube aber, das passiert nicht, weil die Federführung auch bei der Bundesministerin Zypries gelegen hat. Dazu muss man sagen: Es ist nicht nur Herr Schäuble, der Ärger kriegen muss, sondern in diesem Fall auch Frau Zypries. Eines verstehe ich bei der SPD nicht; ich kann es nur wiederholen: Sie erklären auf Ihrem Hamburger Parteitag, dass die SPD wieder die Bürgerrechtspartei in diesem Land sein soll. Beim BKA-Gesetz haben Sie laut angekündigt, dass Sie da nicht mitmachen werden und dass die Onlinedurchsuchung nicht stattfinden werde. Spätestens nächste Woche fallen Sie um und werden alles mitmachen. Im Zweifel sind Sie schon umgefallen. Ich kann gar nicht verstehen - schließlich wollen Sie sich hier wieder als Bürgerrechtspartei profilieren; zumindest bei uns sind Parteitagsbeschlüsse sehr viel wert; wir halten uns immer daran; ich dachte immer, das sei bei Ihnen auch so -, wie man das hier verteidigen kann. Ich hoffe, das passiert nicht. Wir lehnen das ab. Wir fordern, die Ratifizierung zu stoppen, neu zu verhandeln und vor allem den Bundestag in diesen Prozess einzubinden, damit wir mit unseren sachlich orientierten Hinweisen eine Hilfestellung geben können. Danke. ({1})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Für die SPD-Fraktion spricht der Kollege Wolfgang Gunkel.

Wolfgang Gunkel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003762, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Verehrter Kollege Korte, ich muss natürlich zuerst einmal auf das eingehen, was Sie hier kurz angesprochen haben. Die Situation hier ist ein klein wenig anders als zuletzt beim Fluggastdatenabkommen mit den USA. Der wesentliche Unterschied besteht darin, dass man in dieses Abkommen einen Paragrafen eingefügt hat - den bereits erwähnten Art. 12 -, durch den dafür Sorge getragen wird - von der Opposition wird dies anders interpretiert -, dass zum Schutze der Menschen verhindert werden soll, dass diese Daten ohne konkreten Anlass weitergegeben werden. ({0}) - Das ist beim Fluggastdatenabkommen mit den USA aber durchaus möglich. Deswegen habe ich es damals kritisiert. Hier ist das nicht der Fall, und daher kritisiere ich das heute nicht. Was die Onlinedurchsuchungen angeht, brauchen wir gar nicht umzufallen. ({1}) Offensichtlich haben Sie übersehen, dass das Bundesverfassungsgericht dazu ein Urteil gefällt hat. Das Bundesverfassungsgericht hat ausgeführt, dass Onlinedurchsuchungen grundsätzlich möglich sind, allerdings unter sehr schwierigen Bedingungen. ({2}) - Nein, es sagt keiner, dass man es machen muss. ({3}) Man kann aber auch etwas tun, was man nicht unbedingt lassen will. Daher ist es unredlich, zu sagen, wir fielen in irgendeiner Weise um. Wir werden mit den Kollegen der CDU/CSU darüber noch ausführlich diskutieren. Das Kabinett hat einen entsprechenden Entwurf verabschiedet. Seien Sie mit diesen Äußerungen also bitte schön ein bisschen vorsichtig! Ich bemühe mich schon, das Ganze auch kritisch zu betrachten. Was Recht ist, muss allerdings auch Recht bleiben. Dieser Entwurf unterscheidet sich ganz wesentlich von dem, was uns bisher vorgelegt worden ist. Nun zu den einzelnen Punkten. Die Anträge der Grünen und der FDP befassen sich mit dem besagten Abkommen zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika vom 11. März dieses Jahres. Das Abkommen soll die Zusammenarbeit bei der Verhinderung und der Bekämpfung schwerwiegender Kriminalität vertiefen, insbesondere der terroristischen Gefahr. Konkret geht es um Datenaustausch. Geregelt wird in diesem Vertrag, dass Fingerabdrücke und DNA-Daten automatisiert in den Datenbänken beider Länder abgeglichen und dass personenbezogene Daten zu sogenannten terroristischen Gefährdern im Wege der Rechtshilfe übermittelt werden können. Es ist schon mehrmals gesagt worden, dass dieses Abkommen an den Vertrag von Prüm angeglichen worden ist. Dieser Vertrag ist ein Abkommen zwischen den EUStaaten. Es galt bisher zwischen sieben Staaten. Es ist unter deutscher Ratspräsidentschaft in den Rechtsrahmen der EU überführt worden und ist damit verbindlich für alle anderen EU-Mitglieder. Richtig ist - Frau Piltz, das stimmt -, dass es noch nicht alle EU-Mitglieder umgesetzt, das heißt ratifiziert haben. Aber es dauert eben alles seine Zeit. Man hat auch bei uns nicht alles sofort umgesetzt. Glauben Sie mir, dass auch ich über das Zustandekommen dieses Vertrages etwas überrascht war; ({4}) schließlich waren von deutscher Seite ausschließlich das Bundesinnenministerium und das Bundesjustizministerium beteiligt, das Parlament leider nicht. Daran habe ich Kritik zu üben. Man hätte uns vielleicht etwas eher einbinden sollen. ({5}) Die Chance, uns besser einzubeziehen, besteht noch. Wir können darüber im Innenausschuss noch diskutieren, bevor der Gesetzentwurf im Bundestag verabschiedet wird. Aufgrund Ihres Antrags streiten wir auch heute darüber, ob es sinnvoll ist, bestimmte Regelungen zu ändern. Es ist ja noch nie ein Gesetzentwurf so verabschiedet worden, wie er eingebracht worden ist. ({6}) - Ja, Struck’sches Gesetz. Danke für die Hilfestellung, Herr Kollege. - Das ist im Rahmen der demokratischen Gepflogenheiten doch alles ganz normal. Also besteht kein Grund, daran Kritik zu üben. Grundsätzlich bin ich davon überzeugt, dass dieses Abkommen notwendig ist. Angesichts der steigenden terroristischen Gefahren, die wir ohne Zweifel zu verzeichnen haben, muss man eine gute Zusammenarbeit mit den Behörden der Vereinigten Staaten pflegen. ({7}) Wir können nicht so tun, als wenn die USA das Land des Bösen oder Ähnliches wären. Die Hinweise, die aus den USA kamen, haben zumindest wesentlich dazu beigetragen, die Anschläge der Sauerland-Gruppe gegen den amerikanischen Luftwaffenstützpunkt Ramstein sowie gegen amerikanische und usbekische Konsulareinrichtungen im Herbst vergangenen Jahres zu verhindern. ({8}) Dennoch ist an dieser Stelle die Frage zu stellen, ob man eine ausgewogene Balance zwischen Sicherheit und Freiheit geschaffen hat. Wie Sie wissen, sollte man aus meiner Sicht immer zugunsten der Freiheit entscheiden, wenn es denn geht. ({9}) Die personenbezogenen Daten, um die es hier geht, unterscheiden sich vom Fluggastdatenabkommen, weil in den USA ohne Anlass gesammelt wird. In Deutschland wird aber nur aus einem bestimmten Anlass gesammelt. Qualitativ gesehen ist das ein Unterschied. In Art. 10 handelt es sich um personenbezogene Daten wie den Namen, das Geburtsdatum und Ähnliches. Daran kann ich nichts Verwerfliches erkennen. Interessant wird es, wenn zusätzliche Daten übermittelt werden. Der Staatssekretär hatte die Richtlinien, die dafür gelten, bereits genannt: das Verfassungsschutzgesetz und das BKA-Gesetz. An dieser Stelle kann ich nur sagen: Hier wird ganz konkret darauf abgestellt, dass die Personen dem terroristischen Umfeld zugerechnet werden, zu den sogenannten Gefährdern zählen oder andere Ermittlungen ausgelöst haben. Der Grundsatz, der da besteht, ist, dass diese Daten nur in solchen Fällen überhaupt übermittelt werden können. Die politische Weltanschauung, die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft oder Auskünfte über Gesundheit und Sexualleben, die in Art. 12 beschrieben werden, können nur unter bestimmten Voraussetzungen herausgegeben werden. ({10}) - Ich habe sie gerade genannt. Wenn es sich um Gefährder handelt oder wenn sich Personen in einem Ausbildungslager befinden. Das sind alles Personen, die mehr oder weniger in die staatlichen Maßnahmen einbezogen sind. ({11}) - Ich sagte gerade, dass diese Daten nur übermittelt werden, wenn sie relevant sind und für die Ermittlungen von Bedeutung sind. Es liegt auch auf der Hand, dass dies überwiegend nicht der Fall ist. Zur berühmten Gewerkschaftszugehörigkeit habe ich ein Beispiel: ({12}) Wenn jemand, der des Terrorismus verdächtigt ist, zufällig Gewerkschaftsmitglied ist, ist es nicht zwingend, dass Letzteres übermittelt wird. Denn dazu muss ein relevanter Anlass bestehen. Lassen Sie die Kirche doch im Dorf! ({13}) Diese Vorschrift kommt nur in den seltensten Fällen zur Anwendung. ({14}) Wenn dieses Gewerkschaftsmitglied einer konspirativen Gruppe angehört, die einen Anschlag vorbereitet, dann wäre zum Beispiel zu prüfen, ob man das übermittelt. Dies wäre der Fall, wenn die Schlussfolgerung gezogen werden könnte, dass die Gewerkschaftsgruppe die konspirative Gruppe ist; aber auch das ist höchst unwahrscheinlich. Ich glaube nicht, dass dies so bedeutend ist, dass man hier ein Konstrukt ablehnt, welches insgesamt der Terrorismusbekämpfung dient. Die Bedenken hinsichtlich des Datenschutzniveaus kennen wir. Die amerikanischen Verhältnisse haben wir schon beim Fluggastdatenabkommen erlebt. Die amerikanischen Bestimmungen sind natürlich nicht wie die deutschen Bestimmungen, das ist ganz klar. Sie haben das benannt, Frau Kollegin Piltz: Es handelt sich um Aufbewahrungsfristen, um Übermittlungsfristen oder Übermittlungsmöglichkeiten. Es ist sicherlich zu kritisieren, dass das nicht ausreichend geregelt ist. Vielleicht besteht die Möglichkeit, da noch etwas nachzubessern. Die Kritik hält sich deshalb vonseiten unserer Fraktion in engen Grenzen. Nach den schwierigen Verhandlungen - mit den Amerikanern ist es sicherlich nicht ganz so einfach zu realisieren - ist ein Werk vorgelegt worden, ({15}) das zwar noch zu diskutieren ist, das aber für die Kriminalitätsbekämpfung erst einmal hilfreich ist. Aus den Gründen, die ich genannt habe, kommen wir zu der Auffassung, dass wir die Anträge zunächst zurückweisen. Wir setzen darauf, dass wir das Abkommen im Gesetzgebungsverfahren, wenn es in den Innenausschuss kommt, noch einmal ausführlich behandeln können und die eine oder andere Änderung oder Verbesserung vornehmen können. In diesem Sinne danke ich für die Aufmerksamkeit. ({16})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Wolfgang Wieland spricht jetzt für das Bündnis 90/ Die Grünen.

Wolfgang Wieland (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003863, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Heute hätte ich mir fast gewünscht, dass der Kollege Gehb zu diesem Thema spricht. Gestern hat er über Mammografie gesprochen. Ich hätte es mir gewünscht, weil er immer versucht, uns die rechtliche Einordnung von sexuellen Dingen zu präsentieren. ({0}) Ob es passt oder nicht: Er versucht es immer. Die Frage, was nun Sexualdaten mit der Abwehr terroristischer Gefahr zu tun haben, hat hier noch niemand erklären können; auch der Kollege Gunkel nicht. ({1}) Es wird immer gesagt, dass es sich um eine Schutzvorschrift handelt. Damals in der Fragestunde hat Herr Bergner zu den Fragen, wer die Daten sammelt und in welcher Datei sie zu finden sind, nichts sagen können. Wenn dieser Art. 12 wirklich eine Schutzvorschrift wäre, müsste er wie folgt lauten: Personenbezogene Daten, aus denen die Rasse oder ethnische Herkunft, politische Anschauungen, religiöse oder sonstige Überzeugungen oder die Mitgliedschaft in Gewerkschaften hervorgeht oder die die Gesundheit oder das Sexualleben betreffen, dürfen nicht übermittelt werden. Das wäre eine klare Schutzvorschrift. ({2}) Stattdessen wird hier gesagt: nur wenn die Daten besonders relevant sind. Was soll denn das? Werden denn sonst irrelevante Daten übermittelt? Natürlich sollen nur relevante Daten übermittelt werden, und irgendwelchen Amtsleuten ist es vorbehalten, sexuelle Orientierung, Gewerkschaftszugehörigkeit oder sonst etwas an die USA zu übermitteln. Ihr Gewerkschaftsvorsitzender Michael Sommer liegt da richtig, das GdP-Mitglied Wolfgang Gunkel liegt da leider völlig falsch. ({3}) Die allererste Frage, die sich einem stellt, lautet doch: Warum macht das die Bundesrepublik im Alleingang? Wie hat man sich den Mund zerrissen, als die Tschechen ein ähnliches Separatabkommen zum Visumverfahren Ende Februar abgeschlossen haben! Da hieß es: Warum ein Alleingang? Warum nicht im Konzert mit den anderen EU-Staaten? Nun geht man hin, schließt mit den USA ein Abkommen und hat noch die Chuzpe, an dessen Anfang zu schreiben, die anderen EU-Mitglieder sollten sich dieses zum Vorbild nehmen und auch diesen Weg gehen. Gehen Sie einmal nach Brüssel und reden Sie mit den Mitgliedern der Kommission darüber, wie das dort aufgefasst wurde: erstens als Affront und zweitens als Schwächung der europäischen Position gegenüber den USA. Das ganze Ding gehört in den Papierkorb und darf keinesfalls vom Bundestag ratifiziert werden. ({4}) Eine weitere Frage muss man stellen, auch wenn die USA natürlich unsere Verbündeten sind: Gab es da nicht gewisse Probleme in den letzten Jahren? Warum tagt denn hier seit Jahr und Tag ein Untersuchungsausschuss? ({5}) - Sie wussten es einmal besser, Kollege Benneter, und haben da auch einmal sehr kritische Fragen gestellt, zum Beispiel, ob es denn sein kann, dass aufgrund von Datenweitergabe durch deutsche Behörden ein Herr Zammar in Marokko gekidnappt oder anderswie gefangen genommen wird und dann in Damaskus im Gefängnis landet, wo er heute noch sitzt. ({6}) Die Frage ist also, ob wir gegenüber den USA deswegen nicht besondere einschränkende Sicherheitsstandards brauchen. Aber statt hieraus endlich einmal die Konsequenzen zu ziehen, machen Sie das Gegenteil. Sie machen alle Aktenschränke und alle Dateien zugänglich und schlagen ein Abkommen vor, das die Daten hemmungslos fließen lässt. ({7}) Das ist doch geradezu unglaublich. Ein gegenteiliges Verhalten wäre gegenüber den USA nötig. ({8}) - Wir werden die Beziehungen zu den USA nicht abbrechen. Es ist sogar richtig, sich über solche Dinge zu unterhalten, aber bitte im europäischen Rahmen und nicht im Alleingang. Von den Rendition-Fällen waren ja auch andere europäische Staaten betroffen. Das Europaparlament, auch Abgeordnete Ihrer Fraktion, hat sich damit deutlich kritischer - ich erinnere an Herrn KreisslDörfler und andere - befasst, als Sie es hier tun. Es ist doch wohl nicht normal, dass Menschen in Europa gekidnappt und irgendwohin verbracht werden, die Europäer dann aber einen Keil zwischen sich treiben lassen und einzeln entsprechende Abkommen mit den USA abschließen. Die USA gehen hier nach dem Motto: „Divide et impera!“ vor, und wir sagen: Bitte, bitte, liebe USA, hier habt ihr unsere Daten. Wir stellen all das, was wir wissen, zur Verfügung. ({9}) So kann es nun wirklich nicht laufen. Dieses Abkommen - ich wiederhole mich - gehört in den Reißwolf. ({10})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/9094 und 16/9360 an die in der Ta- gesordnung vorgesehenen Ausschüsse vorgeschlagen. - Damit sind Sie einverstanden. Dann ist das so beschlos- sen. Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 12 a und b auf: a) Beratung der Unterrichtung durch den Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit Tätigkeitsbericht 2005 und 2006 des Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit - 21. Tätigkeitsbericht - Drucksache 16/4950 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({0}) Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für Kultur und Medien b) Beratung der Unterrichtung durch den Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit Tätigkeitsbericht zur Informationsfreiheit für die Jahre 2006 und 2007 - Drucksache 16/8500 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({1}) Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung Sportausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Verteidigungsausschuss Ausschuss für. Gesundheit Ausschuss für Tourismus Ausschuss für Kultur und Medien Es ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattieren. Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann eröffne ich die Aussprache und erteile das Wort der Kollegin Beatrix Philipp für die CDU/CSU-Fraktion. ({2})

Beatrix Philipp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002750, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich gebe zu, es ist nach der gestrigen Debatte über die Bespitzelungsaffäre bei der Deutschen Telekom schwierig, heute über bereits abgeschlossene Vorgänge aus den Jahren 2005 und 2006 zu sprechen. Hinzu kommt, dass die Vorgänge bei der Telekom von solch ungeheurer krimineller Energie zeugen, dass eigentlich für jeden klar ist: Auch der Gesetzgeber ist nicht in der Lage, jeden Missbrauch und jede Form kriminellen Verhaltens auszuschalten und auszuschließen. Die FAZ hat daher am 3. Juni in bemerkenswerter Offenheit ausgeführt: Auch der Bundesdatenschutzbeauftragte, der die Gelegenheit ergreift, die Vergrößerung seiner Behörde zu fordern, könnte kriminellen Datenmissbrauch mit noch so vielen Kontrolleuren nicht verhindern. Ich glaube, das ist wahr. Aber wir müssen versuchen, Missbrauch so weit wie eben leistbar schwierig bis unmöglich zu machen. Wir müssen außerdem aus dem vorliegenden Bericht Konsequenzen ziehen, ohne irgendwelchen Ergebnissen aus laufenden Untersuchungen vorgreifen zu wollen. Ich weiß nicht, wie Sie auf den Skandal bei der Deutschen Telekom reagiert haben. ({0}) Mir schoss durch den Kopf: Es ist ungeheuerlich, dass in diesem großen Unternehmen mit Tausenden von Mitarbeitern ein so eklatanter Verstoß so lange Zeit unbemerkt geblieben ist. Man kann sicherlich davon ausgehen, dass es eine Reihe von Mitwissern gegeben hat. Diese Tatsache wiederum lässt ein kleines, aber feines Kapitel aus dem vorliegenden Bericht in einem besonderen Licht erscheinen. Ich zitiere aus dem Kapitel 3.3.1 mit dem Titel „Whistleblowing - Richtiger Umgang mit Insidertipps“: Gründe für die Einrichtung solcher Hotlines sind - neben der Umsetzung gesetzlicher Vorgaben auch eigene Unternehmensinteressen an der Aufdeckung rechtswidrigen Handelns und ethisch vorwerfbarer Verhaltensweisen. Der Düsseldorfer Kreis - jetzt wird es spannend - befasst sich mit genau dieser Problematik in einem Arbeitskreis, weil eben auch dieses interne Verfahren - man höre und staune - „datenschutzkonform“ gestaltet werden muss. Es ist fast skurril, dass auch das Meldeverfahren - im Falle der Telekom betrifft dies den kriminellen Umgang mit Daten - dem Datenschutz unterliegt und dementsprechend datenschutzkonform sein muss. Das wirft natürlich schon die Frage auf, ob wir uns generell mit unserer Datenschutzgesetzgebung auf dem richtigen Weg befinden. ({1}) - Herr Tauss, auch das Audit hätte nicht geholfen. Der Datenschutzbeauftragte hat gestern im Ausschuss erklärt, er sei regelmäßig bei der Telekom gewesen und habe regelmäßig überprüft. Sie wissen genauso gut wie ich, dass nur ein Insider die Schwächen und Fehler seines Unternehmens kennt. Es war immer ein Argument von uns gegen das Audit, dass nämlich derjenige, der von außen kommt, sich in einer erheblich schwächeren Position befindet als der Insider. Das Audit hätte nicht geholfen, weil es nur darauf abzielt, sicherzustellen, dass Gesetze eingehalten werden. Dies kann man aber auf anderen Wegen erreichen. Auch das will ich ehrlicherweise sagen: Ein Unternehmen wie die Telekom könnte mit dieser Angelegenheit auf freiwilliger Basis locker umgehen. Wir haben in unserem gemeinsamen Entschließungsantrag gesagt, dass ein Audit freiwillig und unbürokratisch möglich ist. Wenn wir dies aber flächendeckend und für alle verbindlich machen würden, würden wir den Mittelstand in Deutschland in erheblichem Maße belasten. Das würde zu weiteren Standortnachteilen führen. ({2}) Ich will zu der Überlegung zurückkommen, ob wir uns, was die immer engmaschiger werdende Kontrolle im Rahmen des Datenschutzes angeht, auf dem richtigen Weg befinden und ob man nicht einmal in einem Teilbereich einen anderen Weg beschreiten sollte. Wir hatten einmal gemeinsam eine etwas breiter angelegte Anhörung durchgeführt. Damals hat der Sachverständige Professor Dr. Abel einen Gedanken entwickelt, den ich nach wie vor für richtig und für ausgesprochen interessant halte. Er hat eine Konkretisierung des Wettbewerbsrechts dahin gehend gefordert, dass datenschutzrechtliche Verstöße und auch das Unterlassen datenschutzrechtlich erforderlicher Maßnahmen als unlauterer Vorsprung durch Rechtsbruch anzusehen und mit einem wettbewerbsrechtlichen Instrumentarium zu ahnden sei. Dass eine solche Bestimmung nicht zuletzt im Interesse eines redlichen Geschäftsverkehrs liegen würde, würde natürlich ein Grund dafür sein. Ein weiterer Grund wäre, dass dies den bürokratischen Aufwand im Zusammenhang mit dem Datenschutz erheblich reduzieren würde. Meine Damen und Herren, wir haben vor etwas mehr als einem Jahr hier die gemeinsame Entschließung zum 20. Tätigkeitsbericht debattiert. Wir sind auch jetzt auf dem Wege, zu einer gemeinsamen Entschließung zu kommen. Ich finde das bemerkenswert und bin ein bisschen stolz darauf, dass es bei aller Unterschiedlichkeit in der Auffassung vom Datenschutz doch auch Gemeinsames gibt und man der staunenden Bevölkerung eine gemeinsame Auffassung präsentieren kann. ({3}) Dazu gehört sicherlich, dass wir über den für Missbrauchsfälle gültigen Bußgeldrahmen nachdenken und zu einem Ergebnis kommen werden. Gestern hat der Bundesdatenschutzbeauftragte im Ausschuss sehr klar zum Ausdruck gebracht, dass nicht einmal die Bußgeldvorschriften im Bundesdatenschutzgesetz und im Telekommunikationsgesetz einheitlich sind. Das ist nicht in Ordnung. Die Beträge, die wir im geltenden Recht vorgesehen haben, wirken, wie man bei der Telekom sieht, in keinem Falle wirklich abschreckend. Darüber muss also sicherlich diskutiert werden. Wir werden im Hinblick auf die Einführung eines Audits - ich muss nach wie vor sagen, dass die Telekom ein Beweis dafür ist, dass das Audit, anders als es immer verkauft wird, kein Allheilmittel ist - dabei bleiben, es, wie wir es letztens beschlossen haben, freiwillig und unbürokratisch auf den Weg zu bringen. Schließlich: Es gibt eine Menge von Beispielen im Tätigkeitsbericht, den wir im Ausschuss noch intensiv besprechen werden. Beim Fluggastdatenabkommen mit den USA haben wir die Hausaufgaben gemacht. Es wird um das Thema RFID gehen. Dort wird es wieder zu einer Abwägung zwischen dem Nutzen und den Chancen, die mit neuen Technologien verbunden sind, und datenschutzrechtlichen Bedenken kommen. Sicherlich wird wieder die Onlinedurchsuchung auf der Tagesordnung stehen; dazu ist eben schon ausführlich gesprochen worden. Dabei müsste es ein gemeinsames Anliegen sein, der Bevölkerung zu sagen, was mit Onlinedurchsuchungen wirklich verbunden ist. Ich habe heute nur so im Vorbeigehen gesehen, dass es eine Umfrage von Forsa gibt. Es ist ja abenteuerlich, was die Leute glauben, was mit Onlinedurchsuchungen verbunden ist oder verbunden sein kann. Das heißt, dass sie über Details, über die Bedingungen und den engen Rahmen, in dem eine Onlinedurchsuchung überhaupt stattfinden kann, nicht informiert sind. Es müsste eigentlich ein Anliegen aller hier in diesem Hause sein, das deutlich zu machen. Man soll ja nicht mit Kanonen auf Spatzen schießen; aber es ist doch toll, dass sich Innenminister Dr. Schäuble dafür verteidigen muss, dass er sich dafür einsetzt, dass die Durchführung von Onlinedurchsuchungen in Form eines Gesetzes geregelt werden soll, während sein Vorgänger, Innenminister Schily, der Auffassung war, dass eine Verordnung ausreiche. Sie alle wissen, dass wir uns über Wochen und Monate bemüht haben, Staatssekretär Diwell im Innenausschuss zu befragen, wie das eigentlich abgegangen ist. Es ist uns nicht gelungen. ({4}) Ich will es noch einmal sagen: Während Innenminister Dr. Schäuble sagt: „Wir brauchen dafür ein Gesetz“, hat Innenminister Schily die Auffassung vertreten, dass eine Verordnung ohne Beteiligung des Parlamentes für die Durchführung von Onlinedurchsuchungen ausreiche. So lange ist das noch nicht her, als dass uns das nicht noch gut im Gedächtnis wäre. Es ist noch viel zu sagen; aber die Redezeit ist schnell um. Ich möchte noch darauf hinweisen, dass ich es für sehr erfreulich halte, dass der Bundesdatenschutzbeauftragte, der auch für das Informationsfreiheitsgesetz zuständig ist, der Auffassung ist, dass den meisten Informationsbegehren der Bürgerinnen und Bürger stattgegeben wurde. Wie gesagt, es ist noch viel zu diesem Bericht zu sagen. Wir werden das im Ausschuss tun und sind natürlich deswegen mit der Überweisung einverstanden. Vielen Dank. ({5})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächste Rednerin ist die Kollegin Gisela Piltz für die FDP-Fraktion. ({0})

Gisela Piltz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003667, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Verehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Schaar hat gleich zwei Tätigkeitsberichte vorgelegt: einen zum Datenschutz und einen zur Informationsfreiheit. Beide Berichte lassen aus unserer Sicht deutlich erkennen, von welch grundlegender Bedeutung die kritische Begleitung dieser Themen durch eine unabhängige Stelle ist. Ich möchte mich ausdrücklich bei Herrn Schaar sowie bei seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für die geleistete Arbeit bedanken. Wer regelmäßig im Innenausschuss zu Gast war, durfte im Zusammenhang mit den sogenannten Postdaten miterleben: Erst der Bericht des Bundesdatenschutzbeauftragten war fundiert genug, um uns darüber in Kenntnis zu setzen, was da überhaupt passiert ist. Leider war auch nach dreifachem Nachfragen bei den entsprechenden Ministerialbeamten keine Klarheit zu bekommen. Der Behörde gebührt unser herzlicher Dank. ({0}) In einer modernen Informationsgesellschaft ist ein Informationsfreiheitsgesetz unerlässlich. Seit Inkrafttreten dieses Gesetzes im Januar 2006 müssen Bundesbehörden und sonstige öffentliche Stellen des Bundes Bürgern Akteneinsicht bzw. Auskünfte gewähren. Ich bitte diejenigen, die hier zuschauen - vielleicht haben Sie davon noch nicht gehört; die Bundesregierung macht es nicht öffentlich, weil es ihr nicht so ganz in den Kram passt -: Machen Sie davon Gebrauch! Fragen Sie nach, wenn Sie etwas interessiert! Amtsgeheimnisse bzw. beschränkte Aktenöffentlichkeit gehören nicht zu einer modernen Verwaltung. Die geäußerten Befürchtungen haben sich nicht bewahrheitet. Weder ist eine Verwaltung untergegangen noch gab es eine Flut von Anträgen; all das ist nicht eingetreten. Dennoch zeigt sich nach knapp zweieinhalb Jahren, dass das Gesetz verbesserungsbedürftig ist. Dazu gehört aus unserer Sicht auch, dafür zu sorgen, dass sich die Behörden bei Auslegungsfragen nicht scheuen, die Beratungshilfe des Informationsbeauftragten in Anspruch zu nehmen. Wir brauchen eine Fragekultur in den Behörden. Das vermeidet Ärger, geht im Zweifel schnel17600 ler und spart unnötige Bürokratie. Das ist eine gute Sache. ({1}) Im Tätigkeitsbericht zum Datenschutz kommt deutlich zum Ausdruck, dass die Bundesregierung vor allem eine Antwort auf die technischen Entwicklungen hat: möglichst umfassende Überwachung, von der vorwiegend Unverdächtige betroffen sind. Wir haben gerade schon über einen anderen Aspekt gesprochen; hinzu kommen die Vorratsdatenspeicherung, die Fluggastdatenübermittlung, biometrische Daten in Pässen und bald auch in Personalausweisen oder der vorgelegte Entwurf eines BKA-Gesetzes, das die Möglichkeit zu heimlichen Onlinedurchsuchungen schafft. ({2}) Frau Kollegin Philipp, das ist der Unterschied: Die Onlinedurchsuchungen dürfen heimlich sein. ({3}) Das hat es in unserem Rechtsstaat bisher nicht gegeben: heimliche Durchsuchungen. Das ist eine ganz neue Qualität. Das können Sie nicht einfach so abtun. ({4}) Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung wird immer weiter beschnitten. Die Bundesregierung ist auf dem Weg, den gläsernen Bürger zu schaffen. Aus unserer Sicht muss sich der Bundestag dringend mit den rasanten Entwicklungen bei den Technologien auseinandersetzen und ihnen neue Regelungen im Bundesdatenschutzgesetz entgegensetzen. Da muss die Bundesregierung endlich aus ihrem Dornröschenschlaf erwachen. Auch in der Bundesverwaltung müssen Vorkehrungen getroffen werden - das wird im Bericht deutlich -, um vertrauliche Daten ausreichend zu sichern. Das war leider nicht immer der Fall. Nach einer Kleinen Anfrage unserer Fraktion hat sich herausgestellt, dass Hunderte von Festplatten und Computern der Bundesverwaltung einfach verloren gegangen sind. Ich weiß nicht, was Sie machen, wenn Ihnen ein Computer verloren geht. Es verschwinden also nicht nur in Großbritannien, sondern auch hier Daten. Ich möchte gar nicht wissen, wer diese Daten in die Hände bekommen hat. Ich finde, darum muss man sich kümmern. Es ist nicht so, als könne so etwas in Deutschland nicht passieren; es passiert jeden Tag. Ich erwarte von der Bundesregierung, dass sie etwas dagegen tut. Ich begrüße ausdrücklich die umfangreichen Ausführungen im Tätigkeitsbericht zum Sozialdatenschutz. Gerade in diesem Bereich wissen die Betroffenen oft nicht, an wen sie sich wenden sollen. Der Bericht macht deutlich, dass der Datenschutzbeauftragte häufig einen rettenden Anker für die Betroffenen bietet. Wir sollten dafür sorgen, dass kein Rettungsanker nötig ist. Nicht nur der Staat, sondern auch Private sammeln Daten; Kollegin Philipp hat es eben schon gesagt. Durch Einführung eines Datenschutzaudits würde auf jeden Fall ein Teil des verloren gegangenen Vertrauens der Bürgerinnen und Bürger zurückgewonnen werden. Es ist wirklich ein Armutszeugnis, dass es auch die Große Koalition seit fast drei Jahren nicht schafft, es einzuführen. ({5}) Schleswig-Holstein hat es uns vorgemacht: Dort ist das Datenschutzaudit Realität; es funktioniert. Ich teile nicht die Auffassung von Herrn Schaar und des Düsseldorfer Kreises, dass Rechtsanwälte unbegrenzt auskunftspflichtig gegenüber Datenschutzkontrollinstanzen sein sollen; denn aus meiner Sicht kann es nicht sein, dass Datenschutzkontrollinstanzen mehr Rechte haben als Staatsanwalt und Gerichte bei strafrechtlichen Ermittlungen. Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. Datenschutz ist in unserer Informationsgesellschaft wichtiger denn je. Wir fordern das Parlament auf, endlich eine Renaissance des Datenschutzes einzuleiten. Die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes hätten das verdient. ({6})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Jörg Tauss für die SPD-Fraktion. ({0})

Jörg Tauss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002813, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Highlight und Renaissance - ich freue mich über die Vorschusslorbeeren. ({0}) - Frau Piltz, Sie haben bisher noch nichts Nettes gesagt. Sie haben aber noch die Möglichkeit dazu. Wir diskutieren heute über zwei Berichte des Datenschutzbeauftragten zum Datenschutz und zur Informationsfreiheit. Auf Letzteres wird mein Kollege Bürsch eingehen. An dieser Stelle will ich nur sagen: Es besteht Handlungsbedarf. Eine ganze Reihe Abgeordneter nutzt dieses Gesetz. Auch ich gehöre dazu. Es ist interessant, dass wir nicht nur ein Gesetz gemacht haben, sondern mittlerweile auch für die Literatur dazu sorgen. Von einem 17 000-seitigen Vertrag zum Thema Maut bekam ich vom Ministerium zwischenzeitlich vier Seiten. Wen das interessiert, dem gebe ich gern Akteneinsicht. Hier sind die vier Blätter. ({1}) Es gibt noch einiges zu tun, damit wir zu einer bürgerfreundlicheren, offeneren und transparenteren Verwaltung kommen, was im Sinn des Gesetzgebers war. Das war das letzte Gesetz, das wir unter Rot-Grün, übrigens mit Zustimmung der FDP - Dank dafür -, durch Bundestag und Bundesrat gebracht haben. ({2}) - Gelegentlich kann man euch schon loben. Es ist ja nicht alles schlecht, was ihr macht. ({3}) Eure Steuerkonzepte sind nicht so toll, aber in bürgerrechtlicher Hinsicht können wir zueinanderfinden, auch wenn ihr an der einen oder anderen Stelle übertreibt. Der Bericht des Bundesdatenschutzbeauftragten ist ein guter Bericht. Er zeigt, dass der Datenschutz in Deutschland einen hohen Stellenwert hat. Allerdings ist es bedauerlich - so empfinden das vor allen Dingen wir, die wir uns in diesem Bereich seit vielen Jahren engagieren -, dass es eines Skandals wie desjenigen bei der Telekom bedurfte, damit dieses Thema auch öffentlich Konjunktur bekommt. Ich hätte mir diese Öffentlichkeit früher gewünscht. Ich erinnere mich an Begegnungen mit dem einen oder anderen Journalisten; ich vermeide es, jetzt Namen zu nennen. Ich möchte aber darauf hinweisen, dass mir ein Journalist, dem ich mit Datenschutz kam, gesagt hat: Tauss, das hört sich sehr interessant an, aber hast du denn kein Thema, das sexy ist? Im journalistischen Sinn galt Datenschutz nicht als sexy. Ich bedauere sehr, dass auch die Journalisten dazu beigetragen haben, dass dieses Thema nicht öffentlich behandelt wurde. Es gab kein Bewusstsein für die Wichtigkeit dieses Themas. Wenige Journalisten waren die Ausnahme; ich nenne Herrn Prantl. Das Thema hat wieder Konjunktur. Für uns ist das eine Chance, etwas zu verbessern. Liebe Frau Kollegin Philipp, ich höre nicht auf, Sie mit sanfter Stimme zu umwerben. ({4}) Ihre Position zum Thema Datenschutzaudit sollten Sie einmal überprüfen. Es geht hier nicht um Pflicht. Wir sollten uns einfach einmal zusammensetzen; das wäre von Vorteil. ({5}) Das Bundesinnenministerium hat in vorbildlicher Weise angefangen, an einem Gesetzentwurf zu arbeiten. Er liegt im Moment in der Schublade. Herr Staatssekretär Bergner, wir sind damit noch nicht so ganz zufrieden. Die Koalition sollte in den nächsten Tagen zusammenkommen und den einen oder anderen Vorbehalt überwinden. ({6}) - Vielen Dank, an dieser Stelle kann ruhig geklatscht werden, damit Frau Philipp nicht glaubt, Datenschutz sei nur ein Hobby von mir. Beim Datenschutzauditgesetz geht es in der Tat nicht darum, Bürokratie zu schaffen, sondern darum, ein modernes Instrumentarium zu erreichen. Wir wissen, dass wir bei einem in die Jahre gekommenen Bundesdatenschutzgesetz mit der technischen Entwicklung nicht Schritt halten können. Die Entwicklung wird immer schneller sein, als wir Gesetze machen können. Es geht nicht darum, ein Gesetz für diejenigen zu machen, die sich - das ist ja immer selbstverständlich - an die Gesetze halten. Wir wollen vielmehr denjenigen, die in besonderer Art und Weise deutlich machen, dass sie mit den sensiblen Daten, die ihnen übereignet worden sind, verantwortungsbewusst umgehen, denjenigen, die sich mit diesem Thema intensiv beschäftigen, sich Datenschutzkonzepte überlegen und das im Wettbewerb nutzen wollen, einen Wettbewerbsvorteil gegenüber unseriösen Dienstleistern gewähren. Ich glaube, das wäre der beste Weg in Richtung eines besseren Datenschutzes. Das ist das Beste, was wir erreichen können. Da sind wir übrigens mit dem Bundesdatenschutzbeauftragten einer Meinung. Liebe Frau Präsidentin, die Lampe am Rednerpult leuchtet bereits. Meine Redezeit ist also beendet. Lassen Sie mich aber noch leidenschaftlich in den Raum rufen: Wir können hier mehr für Datenschutz tun! Frau Piltz, wenn aus den Ländern, in denen die FDP mitregiert, die Ideen, die Sie hier vorgetragen haben, etwas häufiger oder überhaupt einmal über den Bundesrat vorgelegt würden, dann hätten wir eine zusätzliche Chance für einen besseren Datenschutz in Deutschland. ({7}) An dieser Stelle hoffe ich ausnahmsweise auf die FDP, an anderen Stellen nicht ganz so. ({8}) Sie können bestimmt irgendwann einmal koalieren. Schönen Dank. ({9})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Für die Fraktion Die Linke spricht nun der Kollege Jan Korte. ({0})

Jan Korte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003790, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kollege Tauss, wenn Sie etwas Gutes für den Datenschutz in diesem Lande machen wollen, dann rate ich dringend davon ab, sich in der Koalition zusammenzusetzen. Denn wenn Sie zusammensaßen, ist bisher immer nur Schlechtes für den Datenschutz herausgekommen. Das kann man nach knapp drei Jahren schon beurteilen. Deswegen setzen Sie sich besser nicht zusammen. Interessant an dieser Debatte, die wir jetzt haben, ist, dass es nach den Fällen Lidl, Telekom usw. einen öffentlichen Druck gibt, wie es ihn noch nie gegeben hat. Ich glaube, dass wir hier uns alle darin einig sind, dass wir über die kriminelle Energie empört sind. So weit, so gut. Das Trennende beginnt an dem Punkt, dass ich glaube, dass Ihre Empörung ein Stück weit geheuchelt ist. ({0}) Denn das politische Kernproblem ist, dass Ihre Maßnahmen und Ihre Gesetze, insbesondere die Vorratsdatenspeicherung, die Sie in den letzten drei Jahren verabschiedet haben, durch diese Skandale in Misskredit geraten sind und gesellschaftlich nicht mehr getragen werden. ({1}) Das ist der Kern des Problems. Deswegen finde ich es notwendig, dass wir eine politische Debatte darüber führen, was für eine Sicherheitsarchitektur wir wollen. ({2}) Was für ein Niveau von Datenschutz wollen wir? Das ist eine politische Entscheidung. Der Bundesbeauftragte, Peter Schaar, hat ein paar Vorschläge dazu gemacht. Interessant ist - soweit ich die Berichte gelesen habe -, dass allein in den letzten drei Jahren der Bundesbeauftragte für den Datenschutz dreimal aufgefordert hat, endlich ein Arbeitnehmerdatenschutzgesetz vorzulegen. Nichts ist geschehen, obwohl er dies in den letzten drei Jahren in jedem Bericht gefordert hat. Deswegen glaube ich, dass es in der nächsten Sitzungswoche an der Zeit wäre - Sie haben das BKA-Gesetz, Stichwort „Onlinedurchsuchung“, auf die Tagesordnung gesetzt -, noch einmal in sich zu gehen und - das sage ich insbesondere an die SPD gewandt - zu überlegen, ({3}) ob man das so weiter mitmachen und sich von Minister Schäuble und der Law-and-Order-Fraktion treiben lassen will. Sie müssen entscheiden, was Sie wollen. ({4}) Solche Überlegungen fände ich äußerst interessant. Mit der Union kann ich ja umgehen, weil ich weiß, was kommt. Bei jedem Gesetz, das vorgelegt wird, weiß ich, was darin steht: Es ist nicht gut und bedeutet eine Verschärfung der inneren Sicherheit. Damit kann ich umgehen. Bei der SPD weiß ich es leider nie. ({5}) Das ist ja das Problem. Sie sagen erst, Sie würden etwas nicht mitmachen, machen es dann aber trotzdem. Dadurch wird es schwierig. Der Kern der Auseinandersetzung ist - das ist in der Tat eine Auseinandersetzung mit den Konservativen das Gesellschaftsbild, das man hat. Hat man ein Bild von einer offenen Gesellschaft, von mündigen, aufrecht marschierenden Bürgerinnen und Bürgern, die sich nichts sagen lassen? ({6}) Ist das das Bild, das man will? Oder - das ist das Problem der Konservativen in den letzten 200 Jahren - ist Ihnen die offene Gesellschaft suspekt? ({7}) Misstrauen allseits - das ist das konservative Bild der letzten 200 Jahre. ({8}) Darüber sollten wir streiten. Denn eines ist klar: Wenn man die offene Gesellschaft, den aufrechten Gang, Aufmüpfigkeit und Ungehorsam will - das wollen zumindest wir -, dann muss man die Privatsphäre sichern und schützen, damit die Menschen einen Rückzugsraum haben, in dem sie sich zum Beispiel überlegen können, wie sie in der nächsten Woche in der Gesellschaft aufmüpfig agieren. Das ist Ihnen suspekt. Wir hingegen finden das total klasse. Deswegen trennen sich unsere Gesellschaftsbilder. ({9})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Die Kollegin Silke Stokar von Neuforn hat ihre Rede zu Protokoll gegeben.1) Damit hat als letzter Redner in dieser Debatte das Wort der Kollege Dr. Michael Bürsch für die SPD-Fraktion.

Dr. Michael Bürsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003018, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Werte Freunde und Förderer des Datenschutzes! Ich nehme mit großer Genugtuung zur Kenntnis, dass aus den vier oder fünf, die sich vor zehn Jahren für Datenschutz interessiert haben, jetzt schon fast vierzig geworden sind. ({0}) Das ist ein gutes Zeichen; das ist ein hoffnungsvolles Zeichen für den Datenschutz. Herr Kollege, man darf die Hoffnung nie aufgeben. Die Schweden haben das Informationsfreiheitsgesetz schon vor 200 Jahren gehabt. Die CDU hat es jetzt. Insofern ist die CDU in der Frage der offenen Gesellschaft bei uns. Das entnehme ich zumindest der heutigen Debatte und dem Bericht des Informationsfreiheitsbeauftragten. ({1}) 1) Anlage 6 Wir haben das Informationsfreiheitsgesetz. Ich mache dazu drei Bemerkungen: Erstens. Es ist gut, dass wir das Gesetz haben und dass alle in diesem Haus dieses Gesetz auch befürworten. ({2}) Wir haben damit ein großes Stück des Wegs aufgeholt. Wir waren eines der drei letzten Länder von allen industrialisierten Ländern, die ein solches Gesetz noch nicht hatten. Wir haben es seit dem 1. Januar 2006. Damit ist der uralte Grundsatz der Amtsverschwiegenheit, der vorher lange Zeit galt, durch das Prinzip der Transparenz und auch durch das Prinzip der offenen Gesellschaft ersetzt worden, Herr Kollege Korte. Insofern ist das der Anschluss an die moderne Zeit des 21. Jahrhunderts, den wir damit geschafft haben. ({3}) Zweitens. Das Gesetz hat sich im Prinzip bewährt. Das ist nicht meine eigene Einschätzung. Ich kann mich hier auf eine neutrale Instanz berufen. Das ist die Bewertung des Beauftragten für die Informationsfreiheit, der in Person gleichzeitig der Datenschutzbeauftragte ist. Er hat in seiner ersten Bilanz deutlich geschrieben: Im Prinzip hat sich das Gesetz bewährt. Die Befürchtungen, die damals von vielen Seiten - unter anderem von der Wirtschaft - geäußert wurden, weil sie sich dem vielleicht noch nicht öffnen konnten, haben sich nicht bewahrheitet. Die deutsche Verwaltung wurde nicht lahmgelegt; das war eine der Befürchtungen. Eine weitere Befürchtung war, jetzt rolle eine Riesenwelle von Anträgen auf Information auf die Verwaltung zu und sie könne nichts anderes mehr tun, außer diese Anträge zu bearbeiten. Nein, die Welle war überschaubar. Im Jahr 2006 gab es rund 2 300 Anträge. Im Jahr 2007 waren es nur noch 1 250 Anträge. An dieser Stelle muss man vielleicht der Frage nachgehen, woran dies lag. War dies nur eine sogenannte Delle? Wird im Jahr 2008 wieder eine Aufstockung erfolgen? Ich hoffe nicht, dass es bedeutet, dass im Jahr 2006 schon der Höhepunkt der Nachfrage nach Informationen erreicht wurde. Es wurde ebenfalls die Befürchtung geäußert, die Gebühren könnten abschreckend wirken. Das ist nicht passiert. Zu Beginn gab es ein bis zwei Fälle, in denen deutlich zu hohe Gebühren erhoben worden sind. In diese Fälle hat sich der Beauftragte für Informationsfreiheit eingeschaltet. Das ist inzwischen behoben. Somit ist das eingetreten, was wir 2005 in das Gesetz geschrieben haben: Die Gebühren dürfen in keinem Fall abschreckend wirken. Drittens. Die Umstellung in den Köpfen mag noch Zeit - vielleicht noch einige Jahre - brauchen. Das kann man aus dem Bericht des Informationsfreiheitsbeauftragten ebenfalls herauslesen. Für manche in der Verwaltung ist es schon eine Umstellung, dass jeder Bürger diese Informationen verlangen kann. Hier müssen wir Zeit geben. Weiterhin ist vielleicht ein wenig häufig von den Ausnahmeregelungen Gebrauch gemacht worden. Es wurde darauf verwiesen, dass es sich bei den nachgefragten Informationen um ein Betriebsgeheimnis oder um ein Geschäftsgeheimnis handelte. Bei der Anfrage des Kollegen Tauss ist wahrscheinlich darauf Rücksicht genommen worden, dass ein Abgeordneter vielleicht gerade die Zeit hat, vier Seiten zu lesen, dass er für das Lesen von 17 000 Seiten während seiner aufreibenden Arbeit von 70 Stunden in der Woche wahrlich keine Zeit hat. ({4}) Wir werden hier nachhaken. Lieber Jörg, vielleicht bekommst du jetzt jede Woche vier Seiten. Ich lese sie dann gern mit. Die Ausnahmeregelungen sollen wirklich nur als Ausnahme gehandhabt werden. Meine Überzeugung ist: Informationsfreiheit ist ein Bürgerrecht. Das hat etwas damit zu tun, dass wir eine offene Gesellschaft sind und dass wir Bürgerengagement fördern wollen. Wer eine Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern will, der muss ihnen das Recht auf Information geben. Wer sich beteiligen will, der muss auch wissen, worum es geht. Insofern ist die Informationsfreiheit die andere Seite der Medaille. Ich glaube, wir sind auf einem guten Weg. Wir werden in drei Jahren eine Evaluation vornehmen. Ich hoffe, dann sagen zu können: Das ist - dank der FDP - ein gutes Gesetz, und die CDU ist mit im Boot. Das ist hervorragend, so soll es weitergehen. Danke schön. ({5})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich schließe nun die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/4950 und 16/8500 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Paul Schäfer ({0}), Monika Knoche, Hüseyin-Kenan Aydin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Abzug der Bundeswehr aus Südafghanistan - Drucksache 16/9418 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion Die Linke fünf Minuten erhalten soll. - Ich sehe und höre dazu keinen Widerspruch. Dann werden wir so verfahren. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Paul Schäfer für die Fraktion Die Linke das Wort. ({1})

Paul Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003833, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist kein alltäglicher Vorgang, dass sich der Wehrbeauftragte, wie vor einigen Wochen geschehen, an den Verteidigungsausschuss wendet und von großer Unsicherheit bei Soldaten des Fernmeldebataillons in Wesel berichtet, die sich fragen, ob ihr Einsatz in Kandahar, in Südafghanistan, rechtlich in Ordnung und mit dem Bundestagsmandat in Einklang zu bringen ist. Der Punkt ist: Diese Soldaten sind weit über ein Jahr ununterbrochen im Süden Afghanistans im Einsatz, und die Zweifel, ob noch von einem befristeten Einsatz gesprochen werden kann, sind mehr als berechtigt. Vor allem: Jetzt soll das Mandat wieder verlängert werden, von Juni bis August. Auf meine Nachfrage wurde geantwortet: In NATO-Kreisen geht man natürlich davon aus, dass es weitere Verlängerungen geben wird. Im Mandat des Deutschen Bundestages heißt es aber unmissverständlich, dass deutsche Streitkräfte außerhalb des Verantwortungsbereichs im Norden und außerhalb Kabuls nur für zeitlich und im Umfang begrenzte Unterstützungsmaßnahmen eingesetzt werden dürfen. Daran ist zu erinnern. Das Bundesministerium der Verteidigung hat dem Wehrbeauftragten geantwortet, dass deutsche Soldaten zwar seit dem 16. Oktober 2006 für solche Unterstützungsmaßnahmen im Einsatz seien, dass das aber ein zeitlich befristeter und im Umfang begrenzter Einsatz sei. Außerdem könne die Kriegsführungsfähigkeit der NATO im Operationsschwerpunkt Südafghanistan nur durch den deutschen Beitrag sichergestellt werden. ({0}) Was lernen wir daraus? Erstens. Es gibt Bundeswehrsoldaten, die darauf bedacht sind, dass ihr Einsatz im Rahmen des Rechts und des Bundestagsauftrags erfolgt und die hinterfragen, ob dies tatsächlich in jedem Fall so ist. Das ist gut. ({1}) - Ja, das ist gut so. Das Zweite. Wir haben einen Wehrbeauftragten, der dieses Unbehagen aufgreift und kritische Fragen an die Bundesregierung weiterleitet. ({2}) Auch das ist gut so. Drittens. Aus der Antwort der Bundesregierung ergibt sich, dass man wieder einmal - ich sage es vorsichtig im Grauzonenbereich operiert. Denn die geschilderte Praxis ist meines Erachtens eindeutig nicht mit dem Mandat des Bundestags vereinbar. Natürlich kann man das Mandat immer wieder verlängern, sodass es jedesmal auf zwei oder drei Monate befristet ist, in der Summe aber für eine Dauer von zwei Jahren gilt. Das ist allerdings ein Rosstäuschertrick, den wir Ihnen nicht durchgehen lassen. ({3}) Der vierte Punkt - die betreffenden Soldaten werden das nicht so gern hören; es muss aber gesagt werden -: Die Bundeswehr leistet offensichtlich einen wichtigen Beitrag zur Kriegsführungsfähigkeit der NATO im Süden Afghanistans. Es gilt: kein moderner Krieg ohne Fernmeldeverbindungen. Auch in diesem Fall ist das so. Es gibt dort Fernmelder, denn ohne entsprechende Informationstechnik läuft nichts. Unser Antrag zielt auf zwei Dinge ab. Erstens. Das Parlament entscheidet über die Entsendung der Bundeswehr ins Ausland. Es legt den Auftrag und die Einsatzbedingungen genau fest. Die Praxis der dauerhaften Stationierung von Soldaten in Kandahar steht im Widerspruch zu diesem Mandat. Hier geht es um die Wahrung der Rechte des Parlaments. ({4}) Deshalb wollen wir, dass das Mandat für diesen Fernmeldeeinsatz nicht verlängert wird und dass die deutschen Soldaten unverzüglich zurückgezogen werden. Zum Zweiten - das ist der Hintergrund -: Die verschiedenen Hilfsleistungen der Bundeswehr im Kampfgebiet Afghanistan, vermehrte Transall-Hilfsflüge, mehr Soldaten in den Führungsstäben und die dauerhaft stationierten Fernmelder in den entsprechenden NATO-Bataillonen bezeugen die zunehmende Verstrickung der Bundeswehr in die Kampfhandlungen im Süden des Landes. Deutschland ist, um das zugespitzt zu formulieren, auch Teil des schmutzigen Krieges in Afghanistan, der nach wie vor viele, zu viele zivile Opfer fordert. Nicht zuletzt aus diesem Grund kann die NATO mit dem Militäreinsatz nicht gewinnen. Der Abzug dieser Soldaten ist für uns Linke Teil eins des Ausstiegs Deutschlands aus dem Krieg in Afghanistan, zu dem wir die Bundesregierung auffordern. Wenn die Bundesregierung jetzt andere Signale sendet - der Herr Minister spricht von zehn Jahren oder länger, die der Einsatz noch dauern könnte -, müssen Sie wissen: Sie stärken damit den wachsenden Teil der Afghaninnen und Afghanen, der fürchtet, dass sich die NATO-Truppen dauerhaft in Afghanistan festsetzen. Sie stärken damit auch diejenigen, die daraus den Schluss ziehen, auf die andere Seite überzuwechseln. Ich finde, das ist keine verantwortliche Politik. Es ist doch genau das Problem, dass ein wachsender Teil der Afghanen den Eindruck gewinnt, es mit einer Besatzungsmacht zu tun zu haben. ({5}) - Man kann das ignorieren. Wir finden, man sollte das nicht ignorieren, sondern die richtige Schlussfolgerung daraus ziehen. Sie kann nur darin bestehen, den Abzug der Bundeswehr einzuleiten ({6}) Paul Schäfer ({7}) und stattdessen die wirtschaftliche und politische Aufbauhilfe, diplomatische Bemühungen um Frieden zu stärken. Das ist unsere Position. Vielen Dank. ({8})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Ernst-Reinhard Beck. ({0})

Ernst Reinhard Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003497, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Schäfer, der vorliegende Antrag der Fraktion der Linken ist für mich Teil einer RausKampagne: raus aus Afghanistan, raus aus Kosovo, raus aus der NATO. ({0}) Damit sind Sie allerdings wieder bei einer OhnemichelKampagne; die 50er- und 80er-Jahre der alten Bundesrepublik lassen grüßen. Eine seriöse Auseinandersetzung mit den drängenden Problemen ist dies nicht, von Lösungen ganz zu schweigen. Vordergründig - Sie haben das gerade ausgeführt geht es Ihnen heute um Einsätze in Südafghanistan. Südafghanistan ist eine Region mit hoher Bedrohungslage, eine Region, wo man als Otto Normalverbraucher gemeinhin keine deutschen Soldaten vermutet; dies ist sicherlich richtig. In Wirklichkeit geht es Ihnen aber darum, die gesamte ISAF-Mission infrage zu stellen. ({1}) - Frau Knoche, wenn Sie sagen: „Nein, überhaupt nicht“, nehme ich das mit großer Freude zur Kenntnis. Doch bisher schien der Tenor Ihrer Forderungen in diese Richtung zu gehen. Sie versuchen nämlich den Eindruck zu erwecken, die Bundeswehr bereite systematisch ein Standbein in Südafghanistan vor, sie stationiere heimlich, am Parlament und an der Öffentlichkeit vorbei, größere Truppenteile im Süden und sie verstoße last, but not least - wenn dies zuträfe, wäre das in der Tat ein gravierender Verstoß - gegen das von uns im Deutschen Bundestag beschlossene Mandat. Diese Unterstellungen sind allesamt falsch. ({2}) Ich sage auch, warum. Vielleicht müssen wir auf ein paar Dinge einmal näher eingehen. Wir haben als drittgrößter Truppensteller den Einsatz auf den Norden und auf die Hauptstadt Kabul beschränkt. Diesen Ansatz halte ich nach wie vor für richtig und für erfolgversprechend. Spekulationen über ein Engagement im Süden halte ich für falsch und für abträglich. ({3}) Die Bundeswehr wird im Süden - übrigens auch im Westen und im Osten - nur dann eingesetzt, wenn es um Unterstützungsmaßnahmen geht, und auch das nur, sofern diese zur Erfüllung des Gesamtauftrages der ISAF unabweisbar notwendig und im Umfang regional begrenzt sind. Dies ist die Vorgabe. In diesem Zusammenhang sind die deutschen Anteile an NATO-Verbänden - das Fernmeldebataillon, um das es geht, gehört zu einem NATO-Verband - im Mandat explizit erwähnt. Wir haben es nicht mit einem nationalen Einsatz zu tun, wir haben es mit einem multinationalen Einsatz im Bündnis zu tun. Ich kann mir nicht vorstellen, da Soldaten abzuziehen und zu sagen: Die gehören da nicht hin. Zum Funktionieren eines Einsatzes mit 40 Nationen sind der Verbund und die Multinationalität unbedingt und zwingend erforderlich. Dies ist bei den erwähnten deutschen Soldaten auf dem Kandahar Airfield durchaus der Fall. Die Soldaten sind aus Bündnissolidarität im Süden stationiert. Lieber Kollege Schäfer, sie sind nicht dauerhaft, sondern lediglich zeitweilig dort. Darum wird der Einsatz ja auch immer wieder von Vierteljahr zu Vierteljahr erneuert.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schäfer?

Ernst Reinhard Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003497, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme gleich zu der Zwischenfrage. Ich habe natürlich auch mit dem Wehrbeauftragten gesprochen. Herr Schäfer, möglicherweise beantworte ich damit auch gleich Ihre noch nicht gestellte Frage. Auf Anfrage des Wehrbeauftragten, der die von Ihnen skizzierten Sorgen und Nöte von Soldaten vorgetragen hat, erklärte das Verteidigungsministerium am 25. Februar 2008 - ich zitiere -: Die Erweiterung des ISAF-Operationsgebietes im Jahr 2006 auf ganz Afghanistan und die damit verbundene Aufstellung von fünf Regionalkommandos erforderte die Ausweitung der Informations- und Kommunikationstechnik, um so die Führungsfähigkeit von ISAF umfassend zu sichern. Der Aufbau der dafür erforderlichen Einrichtungen sowie der Betrieb der Systeme wurde durch die NATO an einen zivilen Dienstleister vergeben. Trotz großer Anstrengungen kommt es bis dato vor allem im Raum Kandahar und weiter im Süden Afghanistans zu erheblichen Verzögerungen. Das ist der Grund, weshalb insbesondere im Feldlager Kandahar Airfield die notwendige Führungsunterstützung durch militärisches Personal sichergestellt wird. Dieses militärische Engagement wird bis zur vollständigen Auftragserfüllung durch den zivilen Dienstleister aufrechterhalten. Ich meine, wenn man das nicht im zivilen Bereich schafft und man Führungsfähigkeit braucht, dann ist die einzige Möglichkeit die, dass dies Soldaten tun. Wer sonst als die Fernmelder sollte das denn tun? Herr Kollege Schäfer, ich gebe Ihnen gerne die Möglichkeit, eine Zwischenfrage zu stellen.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, bitte.

Paul Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003833, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Werter Kollege Beck, dann möchte ich Ihnen die Gelegenheit geben, einen Punkt klarzustellen. Sie haben ja gesagt, diese Fernmelder seien Bestandteil eines NATOBataillons, also eines integrierten Verbandes, und man könne sie jetzt nicht beliebig herauslösen. Heißt das Ihrer Meinung nach, dass die Restriktionen, die der Bundestag in seinem Mandat festgeschrieben hat - zum Beispiel hinsichtlich der zeitlichen Befristung -, in diesem Falle nicht gelten und dass man sich einfach darüber hinwegsetzen kann? Diese einfache Frage möchte ich beantwortet haben. ({0})

Ernst Reinhard Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003497, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich habe gerade versucht, klarzustellen, dass im Wechsel und für kurze Zeiträume immer wieder andere Soldaten mit Aufgaben betraut sind. Sie müssen auch Bagram noch hinzurechnen. Zum Teil sind unsere Soldaten ein Vierteljahr lang für diesen Bereich verantwortlich. Dann sind es mehr, nämlich die von Ihnen genannten 38. Wenn ich richtig informiert bin, sind es im Augenblick nur 31. Wenn innerhalb des NATO-Bataillons andere Nationen in dieser Funktion unterstützt werden, dann sind es wesentlich weniger, nämlich nur vier oder fünf. ({0}) Ich möchte zum Schluss noch ein paar Anmerkungen machen. Ich habe festgestellt, dass die Fernmeldesoldaten für diese Aufgabe selbstverständlich ordentlich vorbereitet wurden. Sie unterliegen natürlich - darüber sind wir uns auch im Klaren - einer erhöhten Gefährdung. Wie ich meine, hat die militärische Führung darauf geachtet, die Chancen und Risiken dieses Einsatzes vor jeder Entsendung gewissenhaft abzuwägen. Ihr Vorwurf würde dann zutreffen, wenn man die Kontingente im Grunde genommen ohne eine entsprechende Begrenzung jeweils durcheinanderlaufen ließe. Weil wir uns hinsichtlich der Fürsorge unserer Soldaten sicherlich einig sind: Diese turnusmäßigen Wechsel sind für die Soldaten, die besonders belastet sind - Sie haben darauf hingewiesen, und der Wehrbeauftragte hat nicht umsonst danach gefragt -, natürlich auch im Hinblick auf die Planbarkeit außerordentlich wichtig. Man muss sagen, wann ungefähr wieder ein solcher Bedarf für diese Spezialisten besteht. Neben der gerade beendeten Tätigkeit waren deutsche Soldaten immer wieder lageabhängig und zeitlich ebenfalls befristet zur Verstärkung ihrer NATO-Kameraden in Afghanistan im Einsatz. Sie haben schon gesagt - man muss auch gar kein Geheimnis daraus machen -, aus welchen Bereichen sie kommen. Das sind in der Installation, im Netzwerk, in der Nutzerbetreuung, in der Wartung, in der Reparatur und in der Versorgung eingesetzte Leute. Wenn ich das so sagen darf: Das ist das Parlakom des ISAF-Kommandos im Süden Afghanistans. Es sind Spezialisten, die man auch hier nicht an jeder Straßenecke findet. Ich wiederhole: Alle bislang beantragten und nach ministerieller Prüfung im jeweiligen Einzelfall durch den Bundesminister der Verteidigung genehmigten Einsätze deutscher Führungsunterstützungssoldaten in Südafghanistan waren stets zeitlich befristet und stellten im Umfang begrenzte sowie für den Gesamterfolg der ISAF unabweisbare Unterstützungsmaßnahmen zum Erhalt der Führungsfähigkeit dar. Wenn Sie in Ihrem Antrag schreiben, dass Sie etwas gegen die Führungsfähigkeit hätten, lehnen Sie damit im Grunde die Durchführbarkeit militärischer Operationen völlig ab. Der soeben zu Ende gegangene Einsatz erfüllte die genannten Kriterien, er war mandatskonform und nach meiner Auffassung auch rechtlich zulässig. Nach wie vor ist es das Ziel der NATO, das militärische Personal durch die zivile Komponente zu ersetzen. Persönlich würde ich mich freuen, wenn entsprechend der ursprünglichen Planung möglichst bald zivile Leistungsträger eingesetzt würden. Herr Kollege Schäfer, um es noch einmal zu sagen: Weil die zeitliche Perspektive vorhanden ist, ist der Einsatz grundsätzlich nicht auf Dauer, sondern lediglich für eine Übergangszeit angelegt. Der Einsatz der deutschen Führungsunterstützungssoldaten und ihre Tätigkeit in Südafghanistan werden im internationalen Umfeld sehr hoch eingeschätzt. Ohne diesen Beitrag wäre es wahrscheinlich zu erheblichen Einschränkungen bei der Führungsfähigkeit im Bereich des Regionalkommandos Süd gekommen. Lassen Sie mich mit zwei Bemerkungen schließen. Erstens. Wir stehen zu unseren Bündnisverpflichtungen. Wir bleiben verlässliche Partner. Wir stehen auch zu unserer Verantwortung für die Menschen in Afghanistan, die nämlich wollen, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, dass wir bleiben, weil sie wissen, was die Alternative wäre und was dann auf sie zukäme. Wer jetzt für den Abzug unserer Soldaten plädiert, lässt unsere Verbündeten und damit auch die Menschen in Afghanistan im Stich, und zwar mit unabsehbaren Folgen für unsere eigene Sicherheit, von den Folgen eines Scheiterns für das Bündnis ganz zu schweigen. Zweitens. Der ISAF-Auftrag bezieht sich auf ganz Afghanistan. Wir werden deshalb gemeinsam Erfolg haben - was ich hoffe und wünsche - oder gemeinsam scheitern. Regionale Erfolge wird es hier nicht geben. Es war übrigens kein Politiker der Großen Koalition, sondern der grüne Ex-Außenminister Joschka Fischer, der Anfang Mai vorhersagte, die Bundeswehr werde bald auch im gefährlichen Süden Afghanistans kämpfen müssen. Ich teile diese Einschätzung ausdrücklich nicht. Im Übrigen lehnen wir den Antrag der Fraktion Die Linke ab. Herzlichen Dank. ({1})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Für die FDP-Fraktion spricht nun die Kollegin Birgit Homburger. ({0})

Birgit Homburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000952, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Fraktion Die Linke hat wieder einmal den Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan beantragt. Das ist nichts Neues. Deswegen beschränke ich mich hier auf die Tatsachen. Die erste Tatsache ist, dass es ein Mandat gibt. In diesem ISAF-Mandat ist der Einsatz von Bundeswehrsoldaten außerhalb des Nordgebiets und Kabuls erlaubt, und zwar in der ISAF-Region West sowie in anderen Regionen für zeitlich und im Umfang begrenzte Unterstützungsmaßnahmen, sofern diese zur Erfüllung des ISAFGesamtauftrags unabweisbar sind. So steht es, Herr Kollege Schäfer, im Mandat, und genau so wird es gemacht. Die NATO - das hat der Kollege Beck gerade ausgeführt - hat die Firma Thales beauftragt, ein Kommunikationsnetz für ganz Afghanistan aufzubauen. Leider ist dies bisher nicht fertiggestellt. Deswegen besteht das Problem darin, dass die Fernmeldeverbindungen nicht ausreichen, die aber dringend notwendig sind. Sie dienen der Führungsunterstützung. Dabei geht es um Informationsmanagement und die Versorgung mit Informationen, aber auch um die Gewährleistung von Informationssicherheit, die zwingend erforderlich ist. Es geht auch um die Vernetzung von Feuerleitstellen in Kandahar und Kabul. Damit komme ich zu dem Argument, das Sie vorhin angeführt haben, Herr Kollege Schäfer. Die Vernetzung stellt sicher, dass der Einsatz präzise geplant werden kann. Das wiederum trägt dazu bei, Kollateralschäden zu verhindern. Anders ausgedrückt dient dieser Einsatz dazu, die Planungen so präzise durchführen zu können, dass zivile Opfer vermieden werden. Dieses Anliegen teilen wir alle in diesem Hause. ({0}) Im Übrigen hat nur die parlamentarische Kontrolle dazu geführt, dass das Thema angesprochen wurde. Wir haben uns im vergangenen Jahr in diesem Hause damit befasst. Nicht zuletzt unsere Diskussionen haben dazu geführt, dass dieses Thema auf NATO-Ebene aufgegriffen wurde und dass die Zahl der zivilen Opfer seitdem drastisch zurückgegangen ist. Ich glaube, dass man diese Bemühungen fortsetzen sollte. ({1}) Die Linke ist gegen alles. Der Antrag dient als Mittel, das Thema in den Vordergrund zu rücken und gegen den Einsatz Stimmung zu machen. Das ist nicht nur ungerechtfertigt, sondern auch unfair gegenüber den eingesetzten Soldaten. ({2}) Im Gegensatz zu den Linken hat die FDP mehrheitlich für den Einsatz gestimmt. Voraussetzung dafür war, dass er im Rahmen des Mandats erfolgt. Die FDP hat kürzlich im Zusammenhang mit dem AWACS-Einsatz über der Türkei vor dem Bundesverfassungsgericht eine Stärkung der Parlamentsrechte erreicht. Wir werden auch weiter peinlich genau darauf achten, dass das Parlament nicht übergangen wird. Darum geht es nämlich in diesem Fall. ({3}) Konkret bedeutet das, Herr Kollege Schäfer: Erstens sind die Einsätze bekannt. Sie bekommen Informationen über die wöchentliche Unterrichtung des Parlaments. Sie haben im Februar eine ausführliche schriftliche Information erhalten, und wir sind mehrfach bei den Obleuten unterrichtet worden. ({4}) Zweitens ist der Einsatz zeitlich begrenzt. Das hat mein Vorredner eben sehr ausführlich erläutert. Ich will noch einmal deutlich machen, dass es sich hier um zwei NATO-Fernmeldebataillone handelt, die multinational aufgestellt sind und in deren Rahmen auch deutsche Soldaten zum Einsatz kommen. Sie schreiben in Ihrem Antrag korrekterweise, dass die Bundeswehrsoldaten in Kandahar fast durchgängig stationiert sind, Herr Kollege Schäfer. Das heißt, nicht ganz durchgängig, und genau das ist der Fall: Es ist ein zeitlich befristeter Einsatz. Drittens ist der Umfang des Einsatzes begrenzt. Auch das ist schon erläutert worden. Er ist für den gesamten Auftrag unverzichtbar, da Telekommunikationssysteme für ganz Afghanistan von zentraler Bedeutung sind. Deshalb ist es nicht richtig, dass die Bundeswehrsoldaten stationiert sind, um Führungsunterstützungsaufgaben für die anderen NATO-Staaten im Süden Afghanistans zu leisten, wie Sie in Ihrem Antrag schreiben. Das ist nur die halbe Wahrheit. Es geht um die Führungsfähigkeit in ganz Afghanistan, also auch in der Nordregion. Insofern liegt dieses Thema auch im Interesse der deutschen Soldaten im Norden. ({5}) Für meine Fraktion sage ich in aller Deutlichkeit: Der vorliegende Antrag gibt uns Anlass, beim Bundesminister der Verteidigung nachzuhaken, wann die Firma Thales endlich den ausgeschriebenen Aufgaben nachkommt, die von dieser privaten Firma übernommen wurden. Zurzeit gibt es keine Alternative zu dieser tragfähigen Zwischenlösung. Sie ist im Rahmen des Mandats für alle wichtig, auch für unsere Kräfte in der Nordregion. Die FDP-Bundestagsfraktion wird weiter darauf achten, dass alles, was in Afghanistan geschieht, im Rahmen des Mandats stattfindet und dass die Rechte des Deutschen Bundestags gewahrt werden. Die Bundes17608 wehr ist eine Parlamentsarmee. Dafür werden wir uns weiter einsetzen. Deshalb lehnen wir Ihren Antrag ab. ({6})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächste Rednerin ist die Kollegin Uta Zapf für die SPD-Fraktion.

Uta Zapf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002582, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren von der Linken, Ihre gebetsmühlenartig wiederholte Forderung „Raus mit unseren Soldaten aus Krisengebieten!“ ({0}) - stattdessen wollen Sie alles mit Diplomatie und ähnlich schönen Sachen lösen - regt mich langsam auf. Wie wollen Sie denn die Befriedung, die Stabilität und den Wiederaufbau einer nach 30 Jahren Krieg zerrütteten Gesellschaft sowie den Aufbau eines funktionierenden Staatswesens allein mit Diplomatie und Aufbauhilfe schaffen? Es ist doch richtig, dass es in einer Post-WarConflict-Situation - wie es so schön im Neudeutschen heißt - wie im Kosovo und in Afghanistan nicht ohne eine militärische Absicherung geht. Sonst können wir alle Aufbauanstrengungen schlicht und ergreifend vergessen. Das wissen Sie auch. Sie stellen Behauptungen wider besseres Wissen auf. ({1}) Wir müssen uns natürlich um das Wie kümmern. Das tun wir auch. Wir haben in der SPD eine Arbeitsgruppe, die seit Oktober 2006 versucht, alle möglichen Aspekte zu analysieren, und Verbesserungsvorschläge macht. Eine Frage, über die wir - auch in der NATO - lang und breit diskutiert haben, lautet, wie wir die Interventionen sowohl auf ziviler als auch auf militärischer Seite mit mehr Kultursensibilität angehen können. Hier haben wir alle noch etwas zu lernen. ({2}) Ich möchte einen weiteren Punkt aufgreifen. Paul Schäfer, deine Behauptung, dass praktisch die ganze afghanische Bevölkerung den Abzug verlange und die Truppen als Bedrohung empfinde, ist unseriös. Ich will ein paar Zahlen nennen. In einer breit angelegten Studie von ARD und BBC, die du sicherlich kennst, wird genauso wie in einer noch nicht veröffentlichten neueren Studie festgestellt: 99 Prozent begrüßen die Aktivitäten der Entwicklungsorganisationen. 96 Prozent sind der Meinung, dass sie vom Aufbau und von der Anwesenheit ausländischer Truppen profitieren, auch finanziell. 74 Prozent der Antwortenden sind der Meinung, dass das Militär die lokale Bevölkerung schützt. Darüber kann man sich nicht hinwegsetzen, weil vielleicht insgesamt 10 Prozent der Bevölkerung anderer Meinung sind. Es gibt sicherlich eine interessengeleitete Spaltung der afghanischen Gesellschaft. Was bedeutete denn ein Abzug für das afghanische Volk? Er bedeutete, es im Stich zu lassen. Wenn Sie nach Afghanistan fahren - das hat bislang fast niemand von Ihnen getan - und mit den Menschen dort sprechen würden, würde Ihnen bestätigt werden, dass die Afghanen noch nicht in der Lage sind, ihre eigene Sicherheit zu garantieren. Deshalb bilden wir vermehrt aus. Die Bundeswehr hat die Ansätze für die Ausbilder und die Ausbildungsaufgaben verstärkt. Bei EUPOL findet sogar eine Verdoppelung statt. Die Afghanistan-Konferenz in Paris wird die militärischen wie die zivilen Maßnahmen überprüfen und genau darauf achten, was erreicht wurde und was nicht, wer seine Aufgaben erfüllt hat und wer nicht, was schiefgelaufen ist und welche Gründe es dafür gibt. Nach Beantwortung dieser Fragen müssen wir unsere Strategie notfalls überdenken. Alle Studien, die nun wie Pilze aus dem Boden schießen, besagen, dass etwas verändert werden muss. Eine der geforderten großen Veränderungen ist - ich glaube, darin stimmen wir überein -, noch mehr in den Aufbau zu stecken, ({3}) noch mehr Entwicklungshilfe zu leisten, noch mehr in Straßenbau, Arbeitsplätze, Ausbildungsprojekte und alle Projekte zu investieren, die begonnen wurden und nun verstärkt werden müssen. Nur, dann soll mir doch bitte einer erklären, wie wir das ohne Schutz der Bevölkerung, ohne Schutz der Projekte fertigbringen sollen. ({4}) Ein letzter Punkt. Paul, du hast die zivilen Opfer angesprochen. Schau dir bitte die Statistiken an: ({5}) Es gibt mehr zivile Opfer von afghanischen Warlords, von illegalen Akteuren und von den Taliban, ({6}) als es zivile Opfer durch militärische Angriffe gibt. Das brauche ich jetzt nicht noch einmal auszuführen. Wir haben doch schon diskutiert, welche Strategien von den Taliban insbesondere im Süden angewendet werden; dort nehmen sie die Zivilbevölkerung in Geiselhaft. Die Lage wird nicht dadurch besser, dass Militär abgezogen wird und wir noch eine Straße bauen, sondern die Situation wird nur durch den Aufbau von Polizei und Militär besser, sodass die eigenen Sicherheitskräfte diesen Schutz gewährleisten können. Die zivile Hilfe wird hoffentlich noch viel länger andauern. Wir werden in den Wiederaufbau noch viel länger investieren müssen als in die militärischen Kapazitäten. Aber solange militärische Hilfe notwendig ist, ist eure Forderung einfach absurd. Es tut mir leid. ({7})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Omid Nouripour für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Omid Nouripour (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003881, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir beraten heute einen Antrag der Linksfraktion mit dem Titel „Abzug der Bundeswehr aus Südafghanistan“. Ziel dieses Antrags ist es, etwas zu skandalisieren, was kein Skandal ist. Weil wir wissen, dass Sie diesen Antrag auch stellen, um am Wochenende bei der friedenspolitischen Konferenz in Hannover gut auszusehen, ({0}) möchte ich Ihnen die Erkenntnis zurufen, die sich Grüne und Friedensbewegung gemeinsam erarbeitet haben: Friedenspolitik braucht Fachkompetenz. Leider beweisen Sie diese mit Ihrem Antrag nicht. ({1}) Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie, Herr Kollege Schäfer, sich endlich einen Ruck geben würden und einmal das Hauptproblem beim Namen nennen würden. Wann kommt endlich der Antrag der Linksfraktion mit dem Titel „Abzug der Taliban“? Darauf warte ich, seit ich diesem Hause angehöre, aber dieser Antrag kommt leider nicht. ({2}) Ich möchte zum Gegenstand Ihres Antrags zurückkommen. Wir sind der Ansicht, dass der Einsatz der 38 Fernmelder auf dem ISAF-Stützpunkt in Kandahar durch das vom Deutschen Bundestag vergebene Mandat durchaus gedeckt ist; denn dieser Einsatz ist eine Unterstützungsmaßnahme. Unterstützungsmaßnahmen sind Teil des Mandats. Das schreiben Sie selbst in Ihrem Antrag. Sie schreiben darin völlig zu Recht, dass die Bundesregierung nur dann Soldaten außerhalb der Region Kabul und des Zuständigkeitsbereichs des Regionalkommandos Nord einsetzen dürfe, wenn - ich zitiere - „es um eine Unterstützungsmaßnahme geht, die für die Erfüllung des ISAF-Gesamtauftrags unabweisbar ist, und diese Maßnahme sowohl zeitlich als auch im Umfang begrenzt ist.“ Dass die Fernmelder in Kandahar Unterstützungsaufgaben übernommen haben, schreiben Sie drei Sätze später in Ihrem eigenen Antrag. Dass Unterstützung zwischen den Bündnispartnern jenseits von Kampfeinsätzen selbstverständlich sein muss, ergibt sich einmal aus der Natur des Begriffs „Bündnis“, zum anderen daraus, dass unsere Soldatinnen und Soldaten im Zweifelsfall auch Unterstützung brauchen, wenn es zum Beispiel um Evakuierungsmaßnahmen geht. Also ist Ihr Antrag widersprüchlich. Ich glaube, dass Sie das wissen. ({3}) - Doch, dazu sage ich auch etwas. Das bringt mich leider zu der Konsequenz, zu sagen: Die Ernsthaftigkeit, die das Thema erfordert, haben Sie leider mit Ihrem Antrag verfehlt. ({4}) Der Umfang des Einsatzes hat sich in den letzten Jahren nicht verändert. Wenn ein Bündnispartner oder ein anderer Akteur aus technischen Gründen nicht in der Lage ist, eine Aufgabe zu übernehmen, und deshalb die Bundeswehr diese Aufgabe weiter übernimmt, dann ist das bedauerlich, aber noch lange kein Rechtsbruch. Der Einsatz ist keineswegs entfristet. Das ist nämlich der zentrale Punkt. Es gibt immer wieder die Frage, was nach drei Monaten passiert. Natürlich wünschen wir uns, dass die Bundesregierung eine andere Informationspolitik betreibt, und natürlich wollen wir mehr Transparenz haben. Natürlich bricht sich die Bundesregierung keinen Zacken aus der Krone, wenn das nächste Mal - das fordern und erwarten wir auch - die Fernmelder in das Mandat hineingeschrieben werden. Das ist die transparenteste und sauberste Lösung. Wie Sie wissen, haben auch wir Grüne viel Kritik an der Afghanistan-Politik - „Afghanistan-Strategie“ ist in diesem Fall vielleicht ein zu großes Wort - der Bundesregierung. Natürlich wollen wir einen Strategiewechsel. Natürlich wollen wir auch eine zivile Offensive. Natürlich wollen wir, dass OEF und ISAF nicht mehr unsinnigerweise nebeneinander bestehen. Natürlich wollen wir, dass die US-Regierung auch Druck aus Berlin spürt, einen Kurswechsel vorzunehmen. Sie ersparen uns aber nicht, dass wir Ihre Position hier kritisieren müssen. Sie wollen den sofortigen Gesamtabzug aus Afghanistan, und zwar - das ist meine Vermutung - nicht nur aus außenpolitischen Gründen. Das finden meine Fraktion und ich persönlich unverantwortlich; denn dadurch würden die Menschen in Afghanistan im Stich gelassen. ({5}) Da wir dieser Unverantwortlichkeit nicht beitreten wollen, lehnen wir Ihren Antrag ab. ({6})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Maik Reichel, SPD-Fraktion. ({0})

Maik Reichel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003828, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Von einigen meiner Vorredner ist schon betont worden: Der uns vorliegende Antrag der Fraktion Die Linke ist nahezu gleichlautend mit Anträgen, die wir schon des Öfteren behandelt haben. Das gibt uns noch einmal die Möglichkeit, klarzustellen, was wir in Afghanistan tun und was wir dort nicht tun. Ich denke, dazu sollte immer genügend Zeit sein, auch wenn manche Anträge von vornherein besser durchdacht sein sollten. Ich will auf diesen Antrag unter dem Eindruck meiner Reise nach Afghanistan vor wenigen Tagen eingehen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, als ich zunächst die Überschrift Ihres Antrags „Abzug der Bundeswehr aus Südafghanistan“ gelesen habe - die war zuerst bekannt -, habe ich geglaubt: Okay, die Linke hat sich dem ISAF-Einsatz konstruktiv genähert; sie hat unsere Mission dort zumindest anerkannt. Aber weit gefehlt! Es geht wieder darum, aus Afghanistan insgesamt abzuziehen. Auch meine Vorredner - Kollege Beck, Kollege Nouripour und Frau Homburger - haben deutlich gemacht, unter welchen Bedingungen wir da sind, was wir wollen und was klar sein muss, damit wir dort weiter bleiben wollen. Meine Kollegin Uta Zapf ist darauf entsprechend eingegangen. Frau Homburger, nicht nur die FDP, sondern wir alle - die SPD und die anderen Fraktionen - halten viel davon, genau darauf zu achten, dass die Mandate eingehalten werden; das machen wir auch. Ich möchte das kurz an dem Beispiel Kontingentobergröße erläutern: An diesem Punkt halten wir das Mandat ein, auch wenn es hier und da ein bisschen quietscht, weil wir Managementprobleme haben. Auch da werden wir perspektivisch bis zur nächsten Mandatsverlängerung sicherlich einiges tun. Frau Homburger, was Thales anbetrifft, sind wir ebenfalls auf Ihrer Seite. Wir müssen beobachten, wie sich der Afghanistan-Einsatz dort entwickelt. Er ist anders als vor sechs Jahren. Wohin konkret müssen wir gehen? Wenn die nächste Mandatsverlängerung ansteht, müssen wir über Veränderungen nachdenken. Auch das, worüber wir heute diskutieren, wird dabei eine gewisse Rolle spielen. Ich möchte auf meine Reise vor wenigen Tagen zurückkommen. Daran haben insgesamt acht Kollegen teilgenommen. Vor Ort gewesen zu sein - einige hier haben mich begleitet -, erhöht das Verständnis dessen, was dort passiert. Zwar können Berichte und Bilder einen Eindruck vermitteln, aber wichtiger ist, dorthin zu gehen und mit den Akteuren vor Ort auf allen Ebenen zu reden. ({0}) Lieber Kollege Schäfer, ich glaube, für viele von Ihnen wäre es nötig, einmal dorthin zu fahren - das scheinen Sie nicht zu wollen -, sich mit den Soldatinnen und Soldaten, mit den Polizistinnen und Polizisten und auch mit den Leuten, die dort leben, zu unterhalten, um zu erfahren, was dort passiert; denn man kommt von dort etwas verändert zurück. Man erfährt, was die Soldatinnen und Soldaten beim Aufbau der afghanischen Armee machen. Unser hiesiges Menschenbild ist dort fehl am Platz. Dort gilt ein ganz anderer Maßstab für das, was Erfolg ist. Wir reden zu wenig über die Erfolge, die dort erzielt werden. Natürlich ist die Sicherheitslage prekär; aber sie wird noch prekärer, falls wir unsere Truppen dort abziehen und den Wiederaufbau nicht fortführen. ({1}) Das wollen wir nicht. Man kann dort konkret erleben, was unsere Soldatinnen und Soldaten, unsere Polizisten und auch die zahlreichen Aufbauhelfer dort tun. Ich möchte an dieser Stelle allen, die dort monatelang mit vielen Entbehrungen arbeiten, meinen herzlichsten Dank aussprechen. ({2}) Ich möchte noch auf einige wenige Aspekte eingehen. Seit 2002 wird der Polizeiaufbau dort bilateral durchgeführt; mittlerweile geschieht er unter der Verantwortung von EUPOL. Über 18 000 Polizisten sind dort ausgebildet worden. Momentan werden etwa 35 000 Menschen in der Armee ausgebildet. Diese Zahl soll auf 70 000 ansteigen. Wir sind unterstützend dort - Assistants. Das heißt, wir wollen, dass die Afghanen sich selbst schützen können, ob mithilfe von Polizei, Justiz oder Armee. Das ist das Wichtige; das kann nicht oft genug gesagt werden. Ich kann nur jedem raten: Fahren Sie hin! Sprechen Sie mit den Leuten vor Ort! Zum Abschluss möchte ich noch erwähnen, was Zia Farsin - ein Afghane, der uns begleitet hat - gesagt hat: Afghanistan ist wie ein Mensch, der gefallen ist, der unterstützt wird und dessen Arme hochgehalten werden, unter anderem auch von euch. Er wankt nach vorne und nach hinten. Wenn ihr loslasst, dann fällt er wieder. Das wollen wir nicht. Bleibt hier und helft! Viele Studien - Frau Zapf hat es erwähnt - sprechen dafür. In diesem Sinne, lieber Herr Schäfer: Fahren Sie hin, schauen Sie es sich an, und reden Sie mit den Leuten! Vielen Dank. ({3})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/9418 mit dem Ti- tel „Abzug der Bundeswehr aus Südafghanistan“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Ent- haltungen? - Der Antrag ist bei Gegenstimmen der Lin- ken mit den übrigen Stimmen des Hauses abgelehnt. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 14 a und 14 b auf: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Fakultativprotokoll vom 18. Dezember Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner 2002 zum Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe - Drucksache 16/8249 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({0}) - Drucksache 16/9468 - Berichterstattung: Abgeordnete Ute Granold Sabine Leutheusser-Schnarrenberger Sevim Dağdelen Jerzy Montag b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Volker Beck ({2}), Marieluise Beck ({3}), Alexander Bonde, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Für eine effektive Umsetzung des Zusatzprotokolls zur VN-Anti-Folter-Konvention - Drucksachen 16/8760, 16/9411Berichterstattung: Abgeordnete Holger Haibach Florian Toncar Volker Beck ({4}) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Alfred Hartenbach. ({5})

Alfred Hartenbach (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002669

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrtes Präsidium! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir werden heute die Voraussetzung für die Ratifikation des Vertragsgesetzes zum Fakultativprotokoll zum UN-Antifolterübereinkommen schaffen. Ich möchte dies zunächst zum Anlass nehmen, um mich bei den Kolleginnen und Kollegen aus dem Rechtsausschuss für die zügige Beratung des Vertragsgesetzes zu bedanken. ({0}) Das macht deutlich, dass es der Bundesrepublik Deutschland - Ihnen aus der Legislative wie auch uns aus der Exekutive - mit der Unterstützung dieses neuen völkerrechtlichen Instruments gegen Folter und unmenschliche Haftbedingungen ernst ist. Wie Sie wissen, ist es auch durchaus nötig, dass die Bundesrepublik diese Entschlossenheit hinsichtlich der Einmütigkeit des Bestrebens und des Tempos der Beratungen demonstriert. Denn bei der Ratifikation müssen wir leider die Erklärung abgeben, dass wir unsere nationalen Präventionsmechanismen erst mit einer Verzögerung von bis zu drei Jahren in Kraft setzen können. Das wirkt international sicherlich nicht besonders schön; es ist aber unvermeidlich. Für die Gründung der Länderkommission ist aus verfassungsrechtlichen Gründen nun einmal ein Staatsvertrag nötig. Dieser kann nicht von heute auf morgen ratifiziert werden. In einigen Ländern ist auch eine Parlamentsbeteiligung notwendig. Das dauert seine Zeit. Ich denke, es ist gut, dass auf Länderebene die Parlamente an diesem Gesetzgebungsverfahren beteiligt werden. Immerhin legen wir heute die Rechtsgrundlage, wenn wir den Vertragstext verabschieden. Das ist doch schon etwas. Auch der Text des Staatsvertrages ist bereits in den Ländern konsentiert. Das Verfahren läuft jetzt an. Auch die organisatorischen Vorbereitungen sind schon im Gang. Ich bin sicher, dass neben dem Bundesministerium der Justiz vor allem der Ausschuss der Menschenrechte und Humanitäre Hilfe, lieber Christoph, die Arbeit des nationalen Präventionsmechanismus im Interesse aller Beteiligten aufmerksam und kritisch verfolgen wird. Wir schließen mit diesem Gesetz nichts ab, sondern leiten eine neue Form der präventiven Kontrolle ein, mit der wir den Schutz der Menschenrechte für Personen, die - aus welchem Grund auch immer - in Deutschland in Gewahrsam genommen werden, sichern wollen. Das ist ein Prozess, an dem sich die Regierung ebenso wie das Parlament mit ihren jeweiligen Mitteln beteiligen wird. Beide verfolgen wir das gleiche Ziel: eine arbeitsfähige Institution zu schaffen, die die Ziele der Vereinten Nationen auf diesem Gebiet so umsetzt, wie wir selbst das als Rechtsstaat von uns erwarten. Mit dem heutigen Beschluss werden wir diesen Prozess ein Stück voranbringen. Dafür bedanke ich mich noch einmal und bin sicher, dass wir zu dem Thema miteinander im Gespräch bleiben, auch - jetzt hören Sie gut zu; denn da sind Sie auch gefordert, wenn es so weit ist was die finanzielle und personelle Ausstattung der Gremien betrifft. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich gebe das Wort dem Kollegen Florian Toncar, FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Florian Toncar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003856, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Die parlamentarische Behandlung der Konvention, über die wir heute sprechen, ist ein angenehmer Anlass. Ich glaube aber, wir sind uns einig, dass der Schutz vor Folter ein ernstes, weil ein gegenwärtiges Thema ist und dass wir die Ächtung der Folter als zentrale zivilisatorische Errungenschaft auch weiterhin aktiv verteidigen müssen. Es ist immer wieder unvorstellbar, was Menschen einander antun können. Wir wissen, dass Folter in der Welt heute noch weit verbreitet ist. Selbst dort, wo die Folter offiziell, also nach den Gesetzen eines Landes, abgeschafft ist, herrscht nicht selten ein Klima, in dem es regelmäßig zu Misshandlungen in Gefängnissen oder auf Polizeistationen kommt, ohne dass diese geahndet werden. Lange hat das Völkerrecht gebraucht, um auf diese Probleme eine Antwort zu finden. Die UN-Antifolterkonvention von 1984 stellt dazu den entscheidenden Beitrag dar. Natürlich wissen wir, dass Folter heute hauptsächlich ein Problem von klassischen Unrechtsstaaten ist, die keine entwickelte Justiz haben. Ich möchte aber auch sagen, wie sehr mich beunruhigt, dass etwa im Zuge des Kampfes gegen den Terrorismus auch in entwickelten Rechtsstaaten Folter teils diskutiert und teils - Stichwort „Waterboarding“ - auch praktiziert wird. Das ist eine höchst beunruhigende Entwicklung. ({0}) Ich glaube, dass wir auch dadurch, wie wir heute abstimmen, deutlich machen müssen, dass wir gegen jede Aufweichung des absoluten Folterverbotes in Deutschland und auch in der Welt sind. Natürlich steht die Misshandlung von Menschen bei uns in Deutschland unter Strafe. Natürlich treffen wir bereits heute weiter gehende Maßnahmen, um Folter zu vermeiden. Wir schieben beispielsweise keine Ausländer ab, wenn ihnen dann Folter droht, und wir verwerten durch Folter erlangte Aussagen nicht in Strafverfahren. ({1}) Neu ist aber - das soll heute umgesetzt werden -, dass wir zu einer aktiven Folterprävention kommen. Wir wollen einerseits ein Vorbild für andere Staaten abgeben, die diesem Mechanismus beitreten wollen, indem wir das Zusatzprotokoll in Deutschland vorbildlich umsetzen. Andererseits wollen wir durch aktive Kontrolle und Prävention dafür sorgen, dass Misshandlungen in staatlichen Einrichtungen - bei uns handelt es sich dabei immer nur um Einzelfälle - noch weiter gehender unterbunden werden, als es bislang durch das Strafrecht getan wird. Aus diesem Grund kommt der heute anstehenden Ratifizierung wirklich große Bedeutung zu. Es ist immer gut, wenn eine staatliche Instanz durch unabhängige Experten kontrolliert wird. Das ist kein Ausdruck des Misstrauens gegen die Mitarbeiter in solchen Einrichtungen; ihnen vertrauen wir grundsätzlich. Wir wissen aber auch: Je mehr es in den Grundrechtebereich hineingeht, je sensibler die Bereiche sind - ich nenne beispielsweise Gefängnisse oder Polizeistationen -, umso gründlicher muss die Kontrolle sein, damit auch die wenigen Einzelfälle von Misshandlungen aufgedeckt werden. Dass es dabei immer besser ist, wenn jemand von außen kontrolliert und nicht jemand, der aus dem Apparat bzw. der Behörde selbst stammt, ist, wie ich glaube, uns allen klar. ({2}) Insofern ist die Tatsache, dass das Zusatzprotokoll nunmehr ratifiziert wird, auch für die FDP-Fraktion ein Grund zur Freude. Nichtsdestotrotz gibt es natürlich auch kritische Anmerkungen. Die Vorlaufzeit bis zur Ratifikation war sehr lang; das hing damit zusammen, dass sich Bund und Länder zunächst nicht über die Umsetzung der Konvention in unseren nationalen Präventionsmechanismus einigen konnten. Keiner von uns möchte überflüssige neue Strukturen schaffen. Keiner von uns möchte, dass neu einzustellende Beamte bzw. staatliche Angestellte Dinge tun, die längst getan werden. Darum geht es keinem von uns. Es geht vielmehr darum, dass die Instrumente, die auf Bundesund Länderebene bestehen, vernetzt und koordiniert werden und jemand dafür sorgt, dass keine Schutzlücken entstehen. Das muss sichergestellt sein. In diesem Falle kann man nicht davon reden, dass neue bzw. zusätzliche Bürokratie geschaffen wird. Was wir wollen, wird mit den derzeit vorgesehenen Ressourcen nur schwer zu erreichen sein. Die Länderkommission, die eine ganz wichtige Aufgabe erfüllt, weil sich die meisten Einrichtungen, um die es geht, in Trägerschaft der Länder befinden, ist mit vier Ehrenamtlichen besetzt, die die Kontrollaufgaben übernehmen. Dass diese Ehrenamtlichen in 16 Bundesländern keine ausreichende Präsenz in den vielen Einrichtungen zeigen können, liegt auf der Hand. Der Bund finanziert im Wesentlichen lediglich eine neue Stelle eines wissenschaftlichen Mitarbeiters. Das Gesamtbudget für den Nationalen Präventionsmechanismus beträgt 300 000 Euro. Das ist ausgesprochen wenig. Unter diesen Umständen wird es nicht mehr geben als nur Stichproben. Anders gesagt: Wenn auch nur eine einzige Kontrolle irgendwo im Bundesgebiet stattfindet, geht bei der Koordinierungsstelle nur der Anrufbeantworter an. Wir sind zwar glücklich, dass es Fortschritte gegeben hat, aber wir sehen auch die Defizite. Die FDP-Fraktion möchte, dass das Instrument, das wir jetzt einführen, zügig evaluiert wird. Der Menschenrechtsausschuss wird sich mit Sicherheit auch mit den Personen, die diese Kontrollen konkret vornehmen, zusammensetzen und sich von ihrer Arbeit berichten lassen. Der zum Ratifikationsgesetz vorgelegte Antrag der Grünen nennt notwendige Aspekte - sowohl internationale als auch innerstaatliche -, die wir beachten müssen. Die FDP schließt sich den entsprechenden Forderungen an. Wir selbst haben einen Antrag eingebracht, in dem ähnliche Gedanken aufgegriffen wurden und der im Laufe dieses Jahres im parlamentarischen Verfahren bedauerlicherweise von der Koalition abgelehnt worden ist. Wir werden deshalb dem inhaltlich sehr ähnlichen Antrag der Grünen zustimmen und hoffen sehr, dass wir das Instrument so effektiv wie möglich ausgestalten können. ({3})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Ute Granold, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Ute Granold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003538, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es geht heute um Folter, das heißt um schwere Verstöße gegen die Menschenrechte. Die Union und mit ihr unsere Bundeskanzlerin Frau Dr. Angela Merkel stehen für eine wertegebundene Außenpolitik. Das hat die Bundeskanzlerin unter anderem gezeigt, als sie den Dalai-Lama empfangen hat. Wir treten national und international entschlossen für die Einhaltung der Menschenrechte ein, und legen dort den Finger in die Wunde, wo Menschenrechte eklatant verletzt werden, unabhängig davon, ob das in Russland, Kuba, Venezuela, Nordkorea oder im Iran der Fall ist. In diesem konsequenten Verhalten werden wir uns nicht beirren lassen. ({0}) Deshalb freut es mich sehr, dass wir heute abschließend über den Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Fakultativprotokoll zum Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe beraten. Deutschland war bei der Ausarbeitung dieses Fakultativprotokolls maßgeblich beteiligt. Mittlerweile haben 61 Länder dieses Protokoll gezeichnet, davon haben es 34 ratifiziert. Die Ratifikation ist für Deutschland eine Selbstverständlichkeit. Dieser Schritt ist ein Symbol für die Kontinuität unseres Einsatzes für das absolute Folterverbot - auch im Kampf gegen den internationalen Terrorismus. Nicht nur in bilateralen Gesprächen, sondern auch im Rahmen der Vereinten Nationen und gemeinsam mit unseren EU-Partnern setzen wir uns vehement dafür ein, dass Folter abgeschafft wird. Dabei legen wir den Finger, wie gesagt, in die Wunde. Wir zahlen freiwillig Beiträge in den Fonds der Vereinten Nationen für die Opfer von Folter. Wir treten außerdem dafür ein, dass Drittstaaten dieser Konvention beitreten und sich für die Rechte der Opfer einsetzen. Die Union steht ausdrücklich hinter dem großen Engagement der Bundesregierung zur globalen Durchsetzung des absoluten Folterverbots. Die Forderung im Antrag der Grünen an die Bundesregierung, mehr für die Durchsetzung der Konvention zu tun, ist Schaufensterpolitik. Dieser Antrag ist absolut haltlos; denn die Einhaltung des Grundgesetzes ist für uns auf allen Ebenen immer eine Selbstverständlichkeit gewesen. ({1}) Was das Fakultativprotokoll angeht, sind wir natürlich dafür, auf internationaler und nationaler Ebene dafür einzutreten, dass die Besuchs-, Präventions- und Kontrollmechanismen eingesetzt werden. Lassen Sie mich zu beiden Elementen des Regierungsentwurfs etwas sagen. Mit der Ratifizierung des Fakultativprotokolls wird dieses für die Bundesrepublik bindend und Bestandteil der deutschen Rechtsordnung. Was die Umsetzung angeht, so haben wir auch hier unseren Beitrag geleistet. Wir müssen versuchen - das Lindauer Abkommen verpflichtet uns dazu; hier sind wir in einer schwierigeren Situation als die anderen Nationalstaaten -, die Bundesländer einzubinden, da die Zuständigkeit der Länder berührt ist. Was die Bundesebene angeht, findet eine enge Abstimmung zwischen den Ministerien der Justiz, des Inneren und der Verteidigung statt, um die Bundesstelle zur Verhütung von Folter zu installieren. Was die Länder angeht - Bundeswehr und Bundespolizei -, so gibt es eine vielfältige Zuständigkeit: zum einen im Bereich der Polizei, was den Strafvollzug und die Abschiebehaft angeht, und zum anderen, was Pflegeeinrichtungen und die Psychiatrie angeht. Aufgrund der Vielfältigkeit ist es erforderlich, dass eine Zentralstelle eingerichtet wird, die die Kontrollen durchführt. Herr Hartenbach hat es gerade gesagt: Es gibt einen Staatsvertrag; der Entwurf liegt vor. Wir gehen davon aus, dass in Kürze die notwendigen Umsetzungen erfolgt sind und wir an die Arbeit gehen können. Zur Umsetzung soll ein gemeinsames Sekretariat bei der Kriminologischen Zentralstelle in Wiesbaden eingerichtet werden. Es sind Sach- und Personalkosten in Höhe von 300 000 Euro eingestellt worden. 200 000 Euro davon tragen die Länder, 100 000 Euro der Bund. Wir meinen, dass das in Ordnung ist. Man wird sehen, ob es, wenn diese Stelle arbeitet, erforderlich ist - so der Antrag der Grünen; Sie wollen ja von heute auf morgen mehr Geld einsetzen -, Weiteres zu tun. An dieser Stelle möchte ich ein klares und deutliches Wort zum Thema Folter sagen. Es wird hier so getan, als sei Folter in Deutschland ein Thema, das wir jeden Tag zu bearbeiten hätten. Die Polizei leistet bei uns eine hervorragende Arbeit. ({2}) Sie ist nicht zu kriminalisieren und in die Nähe von Ausländerfeindlichkeit zu rücken. Es wird tagtäglich unter schwierigsten Bedingungen hervorragende Arbeit geleistet. An dieser Stelle möchte ich mich ausdrücklich bei den Polizeibehörden dafür bedanken. ({3}) Wir werden in unserem Kampf zur Durchsetzung der Menschenrechte und zur Prävention, was Folter angeht, nicht nachlassen. Wir werden dafür sorgen, dass auch andere Staaten, bei denen Folter noch ein großes Thema ist, der Konvention beitreten und dass die Mechanismen in den einzelnen Nationalstaaten greifen. Wir wären dankbar, wenn heute alle Fraktionen dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zustimmen würden, damit wir weitere Schritte gehen könnten. Ich denke, hier besteht ein Konsens. Zur Verzögerung bei den Ländern möchte ich noch einen Satz sagen. Wir sind in der Tat ganz erheblich in Verzug. Das liegt aber nicht daran, dass die Länder Bedenken hätten, was die Zielrichtung der Konvention angeht. Dies lag vielmehr einfach daran, dass bei einigen Ländern Bedenken bestanden, dass die Schaffung neuer Stellen zu mehr Bürokratie führt. Diese Bedenken konnten inzwischen ausgeräumt werden. Ich denke, dass wir mit dem jetzt formulierten Vertragsgesetz für Deutschland die Ratifikation und Umsetzung gemeinsam auf den Weg bringen können und so unseren Beitrag zur weltweiten Prävention von Folter leisten. Vielen Dank. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Für die Linke gebe ich das Wort dem Kollegen Michael Leutert. ({0})

Michael Leutert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003800, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Niemand hier wird bezweifeln, dass die Ratifizierung des Zusatzprotokolls der VN-Antifolterkonvention eine Notwendigkeit ist. Allerdings muss man sagen, dass der Gesetzentwurf natürlich lange auf sich hat warten lassen. Die Schuld dafür - das ist hier schon mehrmals gesagt worden - liegt mit Sicherheit nicht bei der Bundesregierung. ({0}) Dies liegt vielmehr an der Länderebene, und zwar an den Ländern Sachsen, Niedersachsen und Sachsen-Anhalt. Wenn ich die Feierlaune etwas trüben darf: Das alles sind CDU-geführte Länder; auch das sollte hier gerechterweise gesagt werden. ({1}) - Moment, wir kommen noch dazu. Der Preis, der dafür gezahlt worden ist, dass diese Verhandlungen mit den Ländern geführt werden mussten, ist ein sehr bitterer, nämlich die Struktur von nur vier ehrenamtlichen Beobachtern, die über 1 000 Einrichtungen zu überprüfen und zu untersuchen haben. Hinzu kommen möglicherweise weitere Gewahrsamseinrichtungen, die nicht zum Bereich der Polizei gehören. Dass das eine defizitäre Struktur ist, wird hier im Hause wohl niemand - auch keiner von der CDU/CSUoder der SPD-Fraktion - bestreiten. Wenn das Argument vorgebracht werden sollte, dass das zumindest ein Einstieg ist, dann kann ich nur sagen: Das ist kein Argument; das ist einfach nur eine Beteuerung. Wir werden uns anschauen, wie weit man in diesem Bereich in den nächsten Jahren vorankommen wird. Schlimm ist meines Erachtens aber etwas ganz anderes: Es wird immer davon gesprochen, dass Deutschland eine größere internationale Verantwortung hat, insbesondere in den Bereichen Terrorismusbekämpfung und militärisches Engagement; das Thema der vorhergehenden Debatte war Afghanistan. Wenn es so ist, dass wir eine größere internationale Verantwortung haben, dann hat das, was vorgelegt wurde, eine maximal negative Signalwirkung und zeigt einen relativen traurigen Zustand unserer Gesellschaft: ({2}) Ein so reiches Land wie Deutschland ist nicht in der Lage, einen Präventionsmechanismus gegen Folter einzurichten. Ich möchte Zahlen nennen - sie müssen einmal genannt werden -: Deutschland investiert jedes Jahr 650 Millionen Euro nur in das Militär in Afghanistan. Das Hauptargument dafür ist immer wieder die gestiegene internationale Verantwortung. Im Bereich der Prävention von Folter sind wir aber nicht einmal in der Lage, 300 000 Euro zu investieren; ({3}) trotzdem reden Sie hier von der gestiegenen internationalen Verantwortung. Wenn es dabei bleibt, bin ich gespannt, wie die Bundesregierung in nächster Zeit auf internationaler Ebene nicht so reichen Ländern erklärt, dass es für sie extrem wichtig ist, einen solchen Präventionsmechanismus einzurichten. ({4}) Gerade im Hinblick auf den außenpolitischen Bereich wäre es notwendig gewesen, eine angemessene materielle Ausstattung zu gewährleisten, um eine Signalwirkung zu erreichen. Wir reden hier über Folter und über das Folterverbot. Gerade im Kampf gegen den internationalen Terrorismus - das wurde heute schon mehrmals erwähnt - ist das Folterverbot in letzter Zeit mehr und mehr aufgeweicht worden. Wir reden hier nicht nur über die USA; wir, der Deutsche Bundestag, haben einen Untersuchungsausschuss eingerichtet, weil die Vermutung im Raume steht, dass deutsche Sicherheitsbehörden unter Anwendung von Folterpraktiken erzielte Ermittlungsergebnisse zumindest verwendet haben. Wenn so etwas schon im Raume steht, wenn solche Vorwürfe existieren, dann sollte das ein ausreichender Grund sein, einen Präventionsmechanismus einzurichten, der materiell ausreiMichael Leutert chend abgesichert ist, um seine Aufgaben in angemessener Form wahrzunehmen. ({5}) Leider begnügt sich die Koalition damit, sich mit einer gewissen Symbolpolitik in der Öffentlichkeit darzustellen. Dennoch werden wir notgedrungen diesem Gesetzentwurf zustimmen. ({6})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Volker Beck, Bündnis 90/Die Grünen.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zunächst einmal möchte ich sagen: Mit der Ratifizierung des Zusatzprotokolls gehen wir heute endlich - es hat elendig lange gedauert - einen guten Schritt. Im Rahmen der Staatengemeinschaft ist es das richtige Signal, dass die Bundesrepublik Deutschland immerhin als 17. Land das Zusatzprotokoll ratifiziert und damit den entscheidenden Schritt geht. Diese Gemeinsamkeit wollen wir festhalten. Ich weiß, wie schwierig es war, die Länder von dieser Lösung zu überzeugen. ({0}) Es ist ein wichtiger Schritt, der aber zu kurz ist. In erster Linie geht es natürlich nicht darum, bei unserer rechtsstaatlich orientierten Polizei und bei der Bundeswehr nachzuprüfen, dass bei uns nicht gefoltert wird. Wir sind zwar, wie der Fall Daschner gezeigt hat, nicht völlig frei von Ausrutschern; so etwas kann auch bei uns vorkommen. Rechtsstaatliche Verfahren führen aber in der Regel dazu, dass so etwas geahndet wird, weil unser Rechtsstaat funktioniert. Die internationale Gemeinschaft hat sich aber für dieses Zusatzprotokoll und den Präventionsmechanismus entschieden, weil es in vielen Staaten keine funktionierenden Mechanismen gibt, weil es keinen Rechtsstaat gibt. Heute senden wir ein Signal an diese Länder - es ist das falsche Signal -: 300 000 Euro, also das Geld für - sagen wir - vier Ehrenamtler und eine Geschäftsstelle, reichen in einem Land mit 82 Millionen Menschen - mit Polizeidienststellen, Heimen, Gewahrsamsanstalten und Abschiebeeinrichtungen - völlig aus, um sicherzustellen, dass es in Deutschland weder Folter noch unmenschliche Behandlung gibt. Bei der Konvention - sie wird kurz Antifolterkonvention genannt - geht es nicht nur darum, zu prüfen, ob bei uns tatsächlich Menschen gefoltert werden, sondern auch darum, zu prüfen, ob Menschen in Heimen, in psychiatrischen Einrichtungen usw. unter unmenschlichen Bedingungen leben. Da können wir nicht sagen: Alles, was bei uns in Altersheimen und psychiatrischen Anstalten passiert, ist super; es bedarf keiner zusätzlichen Kontrolle. ({1}) Ich bin hochunzufrieden damit, dass wir hier nicht weiter gehen. Frau Granold, in unserem Antrag haben wir eindeutig geschrieben, dass wir die Ratifizierung begrüßen, aber meinen, dass ein nächster Schritt folgen muss. Das wollen Sie hier heute ablehnen. Wir fordern die Bundesregierung auf, „gemeinsam mit den Ländern nach der Ratifizierung an einem Ausbau des bisher beschlossenen Präventionsmechanismus zu arbeiten, der eine effektive Umsetzung aller im Zusatzprotokoll vorgesehenen Regelungen zum nationalen Präventionsmechanismus gewährleistet.“ Was kann angesichts der Tatsache, dass Sie alle beteuern, dass wir den nächsten Schritt gehen müssen, der Grund sein, dieses Ansinnen abzulehnen? Wir sollten den Ländern sagen, dass es erbärmlich ist, dass sie darauf bestanden haben, von Länderseite maximal 200 000 Euro dafür zu investieren. In der Anhörung haben alle Fachleute gesagt: Diese Magersuchtlösung ist eine Schande für unsere Republik und unserer Arbeit nicht würdig.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Granold?

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, aber gerne doch.

Ute Granold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003538, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Beck, Sie haben gerade anhand des Falles Daschner ausgeführt, dass unser Rechtsstaat funktioniert. ({0}) Darauf können wir stolz sein. Deutschland ist ein Rechtsstaat, der weltweit seinesgleichen sucht. Können Sie bestätigen, dass, wenn es diesen Kontrollmechanismus gibt, wir für diese Maßnahme 300 000 Euro in den Haushalt einstellen, wir dahin gehend Einvernehmen erzielt haben, dass wir dann eine Evaluation vornehmen wollen, um festzustellen, ob mehr Geld - dem verschließen wir uns nicht - erforderlich ist?

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Es geht um die Grundannahmen. Es geht darum, vor welchem Hintergrund man über diese Frage diskutiert. Selbstverständlich ist Deutschland ein sehr guter Rechtsstaat. Ob er seinesgleichen sucht, weiß ich nicht. In Europa gibt es noch viele andere Rechtsstaaten. Ich glaube, wir sollten nicht überheblich sein und behaupten, dass wir Deutschen auch das viel besser können, weil wir im17616 Volker Beck ({0}) mer alles viel besser können. Ich finde, diese Tonlage ist unangemessen. ({1}) - Wenn Sie diese Tonlage für angemessen halten, ist das Ihre Sache. Das respektiere ich. Ich finde, das ist die falsche Haltung gegenüber unseren europäischen Nachbarn. ({2}) Frau Granold, ich bin noch bei der Beantwortung Ihrer Frage. Deshalb bitte ich Sie, entsprechend den Gepflogenheiten des Hauses stehenzubleiben; denn meine Redezeit läuft sonst gleich ab. Wir müssen das Ganze unter folgender Fragestellung diskutieren: Welches Signal senden wir an andere Staaten aus? Was soll Marieluise Beck sagen, wenn sie nach Russland oder Zentralasien fährt? Soll sie sagen: Ja, wir haben vier Ehrenamtliche dafür!? ({3}) - Das ist die Antwort auf die Frage. Wenn Sie mich fragen, müssen Sie mir die Antwort überlassen. So ist das in der Demokratie. ({4}) Wir müssen den Ländern sagen - das ist das Entscheidende -: Wir machen das so wirkungsvoll, dass ihr das nachmachen könnt. Wenn wir das mangelhaft machen, werden sie sich auch daran orientieren und sich darauf herausreden. Das wird insbesondere für die Länder gelten, die Unterstützung beim Thema Folterprävention eigentlich dringend nötig hätten. Nicht ohne Grund hat uns der UN-Sonderberichterstatter für Folter, Manfred Nowak, heute ins Stammbuch geschrieben, dass er den Gesetzentwurf, den wir auf dem Tisch haben, kritisiert. Ich zitiere aus einer Meldung der Nachrichtenagentur des Evangelischen Pressedienstes: Er bezweifele, ob Deutschland die Konvention zur Folterprävention angemessen umsetzt und genügend bezahltes Personal bereitstellt, sagte Nowak im Deutschlandradio Kultur. „Mit ein paar unbezahlten, freiwilligen Mitarbeitern kann man diese wichtige Aufgabe sicherlich nicht durchführen.“ ({5}) Recht hat er. Stimmen Sie unserem Antrag zu, damit wir eine Blamage Deutschlands bei der Ratifizierung verhindern. Noch ist das möglich. ({6})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Christoph Strässer, SPD-Fraktion. ({0})

Christoph Strässer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003644, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Beck, Sie kennen sicherlich Brehms Tierleben. In einer Parabel steht - ich bekomme sie nicht mehr ganz auf die Reihe -: Je mehr sich der Hahn aufplustert, desto weniger nützt es der Henne. ({0}) Ich begreife Ihre Aufregung nicht. Sie ist der Sache nicht angemessen. Ich darf vielleicht einige Aspekte um der historischen Wahrheit willen aufzeigen: Lieber Kollege Beck, Sie beklagen, dass das alles lange gedauert hat. Ich darf daran erinnern, dass das Zusatzprotokoll, das Fakultativprotokoll zur Antifolterkonvention im Dezember des Jahres 2002 in der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet wurde. Jetzt frage ich Sie und mich - da müssen wir uns beide schämen -, wer eigentlich 2002 und bis 2005 regiert hat. ({1}) Ich bin ein Stück weit stolz darauf, dass in dieser Großen Koalition die Zeichnung durch den Bundesaußenminister im September 2006 endlich erfolgt ist, damit wir hier auf einen vernünftigen parlamentarischen Weg kommen können. ({2}) Das ist die historische Wahrheit an dieser Stelle. Noch etwas gehört zur Wahrheit; das hat mit den Ländern zu tun. Die Wahrheit ist, dass die Bundesländer, die jetzt einen Staatsvertrag abschließen müssen, sich nur bereit erklärt haben, überhaupt über dieses Thema zu reden, wenn sie mit nicht mehr als insgesamt 200 000 Euro belastet werden. Worauf freue ich mich jetzt an dieser Stelle? Bevor wir Anträge, die uns im Moment nicht weiterbringen, im Deutschen Bundestag beschließen, freue ich mich auf die erste Bundesratsinitiative des Stadtstaates Hamburg zur Umsetzung dieser Geschichte auf Landesebene. Darauf bin ich sehr gespannt. ({3}) Kollege Toncar klatscht gerade so laut. Ich kann ihn nur fragen: Wo sind denn die Initiativen aus NordrheinWestfalen, aus Niedersachsen oder aus Baden-Württemberg? ({4}) Da können Sie alle Ihre Hausaufgaben machen. Dann können wir hier in aller Ruhe und verständnisvoll über diese Themen reden. ({5}) - Ja, wir sind dabei, keine Sorge.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Kollege Strässer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Toncar?

Christoph Strässer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003644, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gerne. ({0})

Dr. Florian Toncar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003856, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Strässer, in Kenntnis dessen, dass es noch Bundesländer gibt, in denen die SPD mitregiert, wollte ich fragen, ob ich Ihre Ausführungen so verstehen darf, dass bald von dem einen oder anderen Bundesland eine Initiative zu erwarten ist.

Christoph Strässer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003644, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sie können sich fest darauf verlassen, dass wir dafür sorgen werden. Wir kritisieren ja im Moment an dieser Stelle nicht. Wir sagen vielmehr ganz deutlich: Das, was hier auf den Weg gebracht worden ist, ist ein Fortschritt. Man sollte nicht sofort anfangen, das schlecht- und kaputtzureden. Wir haben dies jetzt in dieser Konstellation auf den Weg gebracht. Wir werden es heute hier wahrscheinlich mit Zustimmung aller ratifizieren. Es ist ein guter Tag für den Schutz der Menschenrechte in Deutschland und in Europa. So ist das. ({0}) Zu den vielfältigen Kommentaren, die hier jetzt im Raume stehen: Kollege Beck, Sie haben eine Fachtagung im Deutschen Institut für Menschenrechte angesprochen, auf der ich Sie gar nicht gesehen habe. Aber man kann ja in den Protokollen nachlesen. Es gibt zum Beispiel einen Vertragsausschuss bei den Vereinten Nationen, der sich mit den WSK-Rechten befasst. Der deutsche Vertreter dort ist Professor Dr. Eibe Riedel; Sie kennen ihn wahrscheinlich. Er hat mir bei der letzten Kuratoriumssitzung des Deutschen Instituts für Menschenrechte klar gesagt, dass das, was wir hier in Deutschland machen, in diesem Vertragsausschuss ausgesprochen begrüßt wird. Denn es kommt nicht in erster Linie auf ein Signal nach außen, auf den konkreten Status an, sondern es geht darum, dass endlich eines der größten Länder Europas diese Ratifizierung durchführt. Das ist die zentrale Botschaft, die von diesem heutigen Tag ausgehen muss. ({1}) Ich will deutlich sagen, dass die Debatte, die wir hier, wie ich finde, mit großem Verantwortungsbewusstsein, sehr fair und in der Sache nach vorne gerichtet geführt haben, ein Stück weit dazu beigetragen hat, dass in unserem Land Sensibilisierungen für die Themen Folter und Antifolterkonvention stattgefunden haben. Ich darf daran erinnern, dass die Antifolterkonvention der Vereinten Nationen eine der Konventionen ist, die am wenigsten gezeichnet worden sind. Das hat damit zu tun, dass große Länder vor diesem Thema ein Stück weit zurückschrecken; sie gehen es nicht offensiv an. Wir müssen diese Fragen demnächst bei uns und anderswo thematisieren. Ich bin auf Einladung von Amnesty International vor drei Wochen in Washington gewesen. Wir haben die amerikanische Administration und alle, die damit zu tun haben, sehr offen, klar und auch sehr massiv darauf hingewiesen - dies bezieht sich auch auf unsere europäische Verantwortung -, dass das, was die Vereinigten Staaten im Kampf gegen den Terrorismus in Gang gesetzt haben, nicht mehr unter die Antifolterkonvention fällt. Diskussionen wie die über das Waterboarding, wie sie auch von Herrn Bush geführt werden, tragen nicht dazu bei, in der Welt den Eindruck zu erwecken, dass unsere westlichen Werte in dieser Art und Weise gut vertreten sind. Ich glaube, diesen Anstoß sollten wir zur Verteidigung der Menschenrechte und zur weiteren Forcierung des Schutzes vor Folter überall aufnehmen. Dafür ist dieser Tag heute ein guter. Mein Dank geht an alle, die daran mitgewirkt haben und insbesondere an die Bundesregierung, die das auf den Weg gebracht hat. Herzlichen Dank. ({2})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Fakultativprotokoll vom 18. Dezember 2002 zum Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe. Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9468, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/8249 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in dritter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Tagesordnungspunkt 14 b: Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Für eine effektive Umsetzung des Zusatzprotokolls zur VN-Anti-Folter-Konvention“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9411, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/8760 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der Opposition angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 15 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Jürgen Trittin, Josef Philip Winkler, Omid Nouripour, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Hilfe für irakische Flüchtlinge ausweiten - im Irak, in Nachbarländern und in Deutschland - Drucksachen 16/7468, 16/9006 Berichterstattung: Abgeordnete Eckart von Klaeden Johannes Jung ({1}) Dr. Werner Hoyer Jürgen Trittin Über die Beschlussempfehlung werden wir später auf Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen namentlich abstimmen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Dr. Rolf Mützenich, SPD-Fraktion. ({2})

Dr. Rolf Mützenich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003599, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ohne die folgenschwere Entscheidung der US-Regierung, im Irak zu intervenieren, müssten wir heute nicht über die Situation der Flüchtlinge reden. ({0}) Noch vor wenigen Tagen hat der frühere Pressesprecher des amerikanischen Präsidenten, McClellan, eingeräumt, dass der Krieg gegen den Irak ein ernsthafter strategischer Missgriff war. Mehr als 4 Millionen Menschen sind noch heute, fünf Jahre nach Beginn des Irak-Kriegs, auf der Flucht. Nach 1948 ist dies die zweite große Flüchtlingswelle in der Region. Allein 2 Millionen Iraker leben in Syrien, Jordanien und dem Libanon. Nur etwa ein Drittel der ehemals 1,2 Millionen Christen im Irak sind heute noch im Land. Fünf von zehn Irakern müssen täglich mit weniger als einem Euro überleben. Das ehemals vorbildliche Gesundheits- und Bildungssystem ist zusammengebrochen. 60 000 Iraker sind inhaftiert, die Mehrzahl von ihnen ohne Prozess oder Anklage. Die schreckliche Bilanz lautet: 1,2 Millionen Menschen sind getötet worden. Genauso viele Menschen wurden verwundet. Die Folgen des Irak-Kriegs sind desaströs. Schlimmer noch: Die angeführten Gründe für den Einmarsch waren eine niederträchtige Manipulation. ({1}) McClellan zieht ein verheerendes Fazit: Der Zusammenbruch der Kriegsgründe hätte keine Überraschung zu sein brauchen. Damit bezichtigt der ehemalige Pressesprecher im Weißen Haus nicht allein seinen ehemaligen Vorgesetzten der Selbsttäuschung. Auch denjenigen, die vor fünf Jahren den US-Streitkräften in den Irak gefolgt waren oder folgen wollten, schreibt er ins Zeugnis, sie hätten es bereits damals besser wissen können. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, deshalb bin ich stolz darauf, dass die von Gerhard Schröder geführte Bundesregierung den Irak-Krieg von Anfang an abgelehnt hat. ({3}) Obwohl einzelne Medien sowie politische und gesellschaftliche Meinungsführer eine Beteiligung Deutschlands forderten, haben wir uns nicht beirren lassen. Damals hat die SPD in einem geschichtlichen Moment wieder richtig gehandelt. ({4}) Auch wenn wir nicht alle furchtbaren Entwicklungen vorhersehen konnten, wussten wir, dass dieser Krieg falsch war. Wir befürchteten auch, dass die Invasion im Irak die Region destabilisieren und die europäische Sicherheit bedrohen würde. Liebe Kolleginnen und Kollegen, obwohl wir gegen den Krieg waren, hat Deutschland sogleich geholfen. Wir haben bisher rund 300 Millionen Euro für den Wiederaufbau und die Stabilisierung des Iraks bereitgestellt. ({5}) In den letzten beiden Jahren haben wir allein für die Flüchtlingshilfe 8 Millionen Euro verausgabt. Im Jahre 2008 sind bereits 4 Millionen Euro in Projekte der humanitären Hilfe geflossen. Ein Großteil der Leistungen kam den Aufnahmeländern direkt zugute. Vor allem Syrien hat irakische Flüchtlinge aufgenommen. Viele der 1,3 Millionen Iraker leben im Großraum Damaskus. Nahezu jeder dritte Bewohner der Hauptstadt ist ein Flüchtling. Man kann sich die daraus erwachsenden Herausforderungen für das Schul- und Gesundheitswesen, für den Wohnungsmarkt und für die Strom- und Wasserversorgung nur ansatzweise vorstellen. Deshalb war es richtig, dass wir in den vergangenen Monaten vor allem Syrien bei der Bewältigung der Flüchtlingsströme geholfen haben. ({6}) Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, die Besuche des Außenministers und der Entwicklungshilfeministerin in Damaskus dienten vor allem diesem Ziel. Deswegen ist es verwunderlich, dass diejenigen, die heute weitere Anstrengungen verlangen, diese Besuche damals kritisiert haben. ({7}) Ich denke, Frank-Walter Steinmeier und Heidemarie Wieczorek-Zeul haben mit ihren Gesprächen und ihren konkreten Hilfszusagen einiges für die Stabilisierung der Situation und der Region getan. ({8}) Neben den staatlichen Instanzen in den arabischen Nachbarstaaten des Iraks haben insbesondere Hilfsorganisationen versucht, die Probleme der Flüchtlinge zu lindern. So haben das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, das Internationale Rote Kreuz und der Rote Halbmond eine Menge bewegen können. Gleichzeitig haben Menschen und private Organisationen in Syrien, Jordanien und Libanon geholfen. Ihnen allen sei hiermit ganz herzlich gedankt! ({9}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sollten in diesem Zusammenhang auch daran erinnern, dass bereits heute 73 000 irakische Staatsangehörige in Deutschland leben, darunter viele Jesiden und Christen. Ich würde mir wünschen, dass weitere Iraker bei uns Schutz finden. ({10}) Wir begrüßen den Vorstoß des Innenministers, sich dafür einzusetzen, dass in Deutschland und in den anderen EU-Mitgliedstaaten weitere irakische Flüchtlinge aufgenommen werden. Jetzt geht es darum, diesen Vorschlag rasch umzusetzen. Im Sinne der notleidenden Menschen wäre es daher wünschenswert, wenn die EUInnenminister bereits auf der morgigen Ratstagung einen Beschluss über die Zahl der aufzunehmenden Flüchtlinge und über die EU-interne Lastenverteilung fassen würden. ({11}) - Das werden Sie uns gleich berichten. Ich freue mich auf Ihre Rede, Herr Innenminister. Die SPD-Fraktion unterstützt Ihre Initiativen. Darüber hinaus tritt die SPDFraktion dafür ein, das Programm zur Wiederansiedlung des UNHCR in Deutschland zu etablieren. ({12}) Nunmehr findet eine Debatte darüber statt, ob wir irakische Christen nach Deutschland holen sollten. Ich bezweifle, dass die Konzentration allein auf irakische Christen den Herausforderungen angemessen ist. ({13}) Verschärft nicht bereits die Aufteilung entlang ethnischer und religiöser Trennlinien die Konfliktsituation im Irak und in der Region? Ist eine Frauenrechtlerin muslimischen Glaubens in Deutschland weniger willkommen als eine engagierte Politikerin christlichen Glaubens? Ist nicht ein Arzt muslimischen Glaubens genauso mit tödlicher Verfolgung konfrontiert wie sein Kollege christlichen Glaubens? ({14}) Dürfen wir die Beweggründe für Flucht anhand des Glaubens relativieren? ({15}) Selbst wenn christlichen Flüchtlingen die Aufnahme in Deutschland erleichtert werden sollte, könnten wir nicht mit der Unterstützung des UNHCR rechnen. Denn ich glaube, dass die Einzelschicksale im Vordergrund stehen und nicht die Zugehörigkeit zu einer Religion. ({16}) Was wir brauchen, ist eine Flüchtlingspolitik, die auf die individuellen Schicksale und nicht auf bestimmte Merkmale Bezug nimmt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Flüchtlingsproblem ist leider nur ein Problem von vielen. Deshalb hat sich Deutschland auf die Ausbildungshilfe im Berufsund Sicherheitssektor konzentriert. Deutsche Institutionen haben irakische Sicherheitskräfte aus- und fortgebildet. Wir haben bei der Minenräumung geholfen. Schließlich haben wir den politischen und administrativen Wiederaufbau unterstützt, bei der Wahlbeobachtung geholfen und die föderale Entwicklung begleitet. Der Schuldenerlass beläuft sich gegenwärtig auf 5 Milliarden Euro. Angesichts der schwierigen Situation sind dies nur geringe Beiträge. Wir sollten uns darauf einstellen, dass die Hoffnungen und Anforderungen gegenüber Deutschland wachsen werden. Es ist gut, dass wir in der vergangenen Woche zwei hochrangige Besucher aus dem Irak empfangen durften. Diese Konsultationen sollten fortgesetzt werden, auch im Irak. Angesichts der Sicherheitslage, aber auch angesichts der engen Beziehungen ist es derzeit durchaus angemessen und sinnvoll, sich auf den kurdischen Teil des Iraks zu konzentrieren. Zweifellos wäre die rasche Eröffnung eines Konsulats in Erbil ein wichtiges Zeichen. Ich würde dies begrüßen. Zugleich wäre es falsch, die anderen Regionen des Landes außer Acht zu lassen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Deutschland hat in den vergangenen Jahren dem Irak geholfen. Wir werden dies auch in Zukunft tun müssen. Wir sollten dabei eine Politik unterstützen, die den ganzen Irak und alle Menschen in den Blick nimmt. Vor allem gegenüber den arabischen Nachbarstaaten und dem Iran sollten wir deutlich machen, dass nur verlässliche, regionale Lösungen einen Sicherheitsgewinn für alle bringen können. Der Irak wird nur in einem so gesicherten Umfeld eine Zukunft haben können. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({17})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Elke Hoff, FDPFraktion. ({0})

Elke Hoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003771, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich finde es gut, dass wir heute, auch wenn es schon so spät ist, im Deutschen Bundestag über das Thema der Flüchtlinge im Irak und außerhalb des Iraks reden. Ich finde es auch gut, dass wir heute namentlich abstimmen. Kollege Mützenich, Sie wissen, dass ich Sie sehr schätze; aber ich muss Ihnen sagen, Sie sind die Erklärung schuldig geblieben, wie sich Ihre Fraktion nachher bei der Abstimmung verhalten wird. ({0}) Darauf bin ich nach Ihren Ausführungen sehr gespannt. Wir alle müssen ein Interesse daran haben, dass die Region, dass der Irak so schnell wie möglich stabilisiert wird. Wir können in der Presse verfolgen und wir wissen auch aus den Gesprächen, die wir mit irakischen Kolleginnen und Kollegen führen, dass es darauf ankommen wird, zwischen den verschiedenen Ethnien und zwischen den verschiedenen religiösen Ausrichtungen eine Balance zu finden. Deswegen kann ich die Intention und die Intonation dessen, was der Innenminister zurzeit auf europäischer Ebene betreibt bzw. was die Kolleginnen und Kollegen von der Union betreiben, nicht verstehen. Wenn Sie von den Schicksalen hören, wenn Sie sich mit den Flüchtlingen unterhalten, hören Sie auch von muslimischen Familien, dass sie bedroht worden sind, dass Mitglieder ihrer Familie massakriert worden sind, dass sie froh sind, es geschafft zu haben, aus dieser fürchterlichen Situation nach Jordanien oder Syrien zu fliehen. Wie könnten wir einer solchen Familie sagen: Ihr habt euer Leben gerettet; aber ihr habt das Pech, dass ihr der falschen Konfession angehört. - Das ist für mich keine christliche Handlungsgrundlage. ({1}) Wir müssen beweisen, dass es uns um mehr geht: dass es uns um die Menschen geht und dass wir als Vertreter einer funktionierenden Demokratie, eines funktionierenden Staatswesens in der Lage sind, die Dinge zusammenzuführen. Kollege Mützenich hat versucht, die Zuwendungen positiv darzustellen. Wir erleben aber, dass irakische Flüchtlinge diese Zuwendung nicht bekommen, dass Frauen und sogar erst zwölfjährige Mädchen gezwungen sind, sich zu prostituieren, ihren Körper zu verkaufen. Das können wir nicht weiter hinnehmen. Die Probleme sind eben nicht gelöst. Es wird zu wenig getan. Der UNHCR hat erhebliche finanzielle Probleme. Wir sollten an dieser Stelle den Ländern Syrien und Jordanien einen Dank dafür aussprechen, ({2}) dass sie die Lasten getragen haben, die wir als westliche Wertegemeinschaft mit verursacht haben. Wir sitzen nicht nur in einem Boot, wenn wir unsere Werte in der Welt verkaufen wollen, wir sitzen auch in einem Boot, wenn wir dafür geradestehen müssen, was im Namen von Demokratie und westlicher Welt passiert ist. Als Demokratin und Mitglied des Deutschen Bundestages fühle ich mich über die konfessionellen und die Parteigrenzen hinweg verpflichtet, so schnell wie möglich einen Beitrag dafür zu leisten, dass die Menschen im Irak eine Perspektive bekommen. Wir müssen heute auch an die Zukunft denken. Bei all den Analysen der Vergangenheit, die wir alle hinreichend kennen und die schrecklich genug sind, müssen wir auch eine Perspektive für die Stabilisierung des Iraks finden, ({3}) das heißt das, was der Kollege Mützenich in Ansätzen schon vorgetragen hat, nämlich den Austausch mit den Institutionen und das Vorantreiben des gemeinsamen Aufbaus von demokratischen Strukturen. Ich begrüße es, dass sich viele Kolleginnen und Kollegen über die Parteigrenzen hinweg die Situation in Syrien und Jordanien angeschaut haben, und ermuntere sie, auch den Weg in den Irak zu finden. Wir setzen dadurch ein Zeichen, dass uns wirklich daran liegt, das, was wir hier verkörpern und wofür wir einstehen, auch den Menschen zukommen zu lassen, die das - unter schlimmsten Bedingungen wollen. Als ich die Gelegenheit hatte, den Irak zu besuchen, haben sie mir gesagt: Wir wollen nicht euer Geld, wir wollen auch keine militärische Hilfe, sondern wir wollen wissen, wie es die Bundesrepublik Deutschland geschafft hat, zu einer blühenden und prosperierenden Demokratie zu werden. Helft uns dabei! - Diese Anliegen, Wünsche und Forderungen kamen über die religiösen, ethnischen und regionalen Grenzen hinweg. Herr Bundesinnenminister, ich begrüße Ihre Initiative zusammen mit den Kollegen Innenministern der Länder auf europäischer Ebene. Es würde mich jedoch sehr freuen, wenn Sie diesen Pfad verlassen und all die Menschen mit einschließen würden, die unsere Hilfe brauchen, weil wir damit beweisen würden, dass wir Demokraten und auch Christen sind. Ganz herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich gebe dem Bundesinnenminister Dr. Wolfgang Schäuble das Wort. ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Minister:in)

Politiker ID: 11001938

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Not und das Elend der Flüchtlinge im und aus dem Irak ist so groß, dass es in der Tat gut ist, dass wir das Thema nicht mit mehr Streit behandeln, als es von der Sache her unvermeidbar ist. Ich bin gerade vom Rat der Justiz- und Innenminister in Luxemburg zurückgekommen. Die Verspätung hier ist gar nicht so schlecht; denn so kann ich Ihnen sagen, wie weit wir dort heute Mittag gekommen sind. Ich würde aber gerne noch ein paar Bemerkungen vorweg machen. Ich bin ganz davon überzeugt, dass es wahrscheinlich eine der größten Herausforderungen sein wird, das Flüchtlingsproblem nachhaltig zu bewältigen, wenn es im Irak bald zu einer besseren Entwicklung kommt, was wir ja alle hoffen. Ich bin auch fest davon überzeugt, dass Europa seinen Beitrag dazu leisten muss. Ein Teil Europas sind auch wir in Deutschland. Wir haben ja auch eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Deshalb ist das richtig. Ich habe mich zunehmend davon überzeugt, dass es nicht ausreichen wird, den Ländern in der Region bei der Bewältigung des Flüchtlingsproblems zu helfen, sondern wir müssen auch dafür eintreten, dass ein Teil der Problematik dadurch gelöst wird, dass Flüchtlinge auch in anderen Teilen der Welt Aufnahme finden. ({0}) Dazu muss auch Europa seinen Beitrag leisten; denn man kann das nicht nur anderen raten, sondern man muss dann auch das Seine tun. Wenn wir sagen, dass Europa seinen Beitrag leisten muss, dann muss auch Deutschland seinen Beitrag leisten, obwohl wir ganz anders als andere in Europa hinsichtlich der Aufnahme von Flüchtlingen Vorbelastungen haben. Ich muss gelegentlich darauf hinweisen, dass Deutschland mehr als die Hälfte aller Flüchtlinge aufgrund der Kriege im ehemaligen Jugoslawien aufgenommen hat und wir noch immer an den Folgen leiden. Damals war die europäische Solidarität und damit die Bereitschaft, einen Beitrag zu leisten, geringer als heute. Aber wir wollen ja, dass die Dinge besser werden. ({1}) Ich will gleich hinzufügen: Das Problem kann nicht dadurch gelöst werden, dass alle Flüchtlinge in anderen Teilen der Welt oder in Europa Aufnahme finden. Ziel muss es sein, dass möglichst viele wieder in den Irak zurückkehren können. Deswegen muss das der entscheidende Punkt der mittel- und langfristigen Perspektive sein. Ich muss folgende Bemerkung machen: Man muss wissen, dass wir in Deutschland nur etwas erreichen können, wenn wir das gemeinsam mit den Ländern tun. Im Übrigen: Die Aufenthaltsgewährung nach § 23 Aufenthaltsgesetz geht nur - das steht auch in der Begründung und ist Praxis -, im Einvernehmen mit den Bundesländern. Deswegen habe ich - auch im Menschenrechtsausschuss des Bundestages - gesagt: Ich bin bereit, bei den Innenministern und -senatoren der Bundesländer dafür zu werben, mir zuzustimmen, dass ich eine solche Initiative auf europäischer Ebene ergreifen kann. Ich bin dankbar, dass die Innenminister und -senatoren aller 16 Bundesländer einstimmig beschlossen haben, sie seien einverstanden, dass der Bundesinnenminister eine solche Initiative ergreift. Dies habe ich im April im Rat der europäischen Justiz- und Innenminister getan. ({2}) Zunächst war es nur eine Ankündigung, und heute haben wir es, weil es auf der Tagesordnung stand, etwas substanzieller beraten. Ich hatte es mit dem schwedischen Kollegen, dem slowenischen Kollegen - der amtierenden Präsidentschaft und dem französischen Kollegen - Frankreich wird die Präsidentschaft - übernehmen beraten. Wir sind auch heute nicht zu einer abschließenden Entscheidung gekommen. Ich bleibe dabei, dass es richtig ist - so war die Beschlussfassung der Konferenz der Innenminister der Bundesländer -, dass wir einen Beitrag im Rahmen einer europäischen Aktion leisten wollen. Davon sollten wir nicht abgehen. ({3}) - Wir haben heute keine Zahlen genannt, geschweige denn beschlossen. So weit sind wir nicht. Weil andere davon sprachen, sie machten bereits etwas und hätten nationale Quoten, habe ich in den Beratungen darauf hingewiesen, dass Deutschland in jedem Monat durchschnittlich mehr als 500 Asylbewerber und Flüchtlinge aus dem Irak aufnimmt. Es ist keineswegs so, dass keine Menschen aus dem Irak nach Deutschland kämen und hier Aufnahme fänden. Trotzdem sollten wir einen weiteren Schritt tun. Heute haben sich all diejenigen, die sich im Rat der Justiz- und Innenminister geäußert haben - auch der zuständige Kommissar und Vizepräsident Barrot; geäußert haben sich Frankreich, Schweden, Großbritannien, die Niederlande, Slowenien usw. -, sehr für unsere Initiative ausgesprochen. Ziel ist es, dass wir spätestens unter französischer Präsidentschaft - möglichst im September, so habe ich es mit dem Kollegen vor zwei Wochen vorbe17622 sprochen - zu einer Beschlussfassung kommen und hierbei mit dem UNHCR zusammenwirken. Natürlich sollen auch die europäischen Mitgliedstaaten, die sich an einer solchen Aktion solidarisch beteiligen, daran mitwirken können, welche Menschen geeignet sind, in welchem Land Aufnahme zu finden, wer besonders verfolgt ist und wer bessere und wer schlechtere Rückkehrperspektiven hat. ({4}) Deswegen ist, mit Verlaub, die Beschlussempfehlung des Ausschusses richtig und der Antrag falsch. Er ist zu schematisch; er löst das Problem nicht. Aber wir sind ja in der Sache nicht auseinander. ({5}) - Sie vielleicht schon. ({6}) - Es gibt doch keine Formeln. Ich habe im Gegensatz zu Ihnen etwas getan. Ich habe ziemlich viel getan, damit wir hier vorankommen und das Problem gelöst wird. ({7}) Ich erläutere Ihnen, wie wir es am besten lösen und einen europäischen Konsens zustande bringen können. Es ist übrigens den Menschen und der Region mehr gedient, wenn es eine gemeinsame europäische Initiative gibt. Dafür habe ich auch das Einvernehmen der Innenminister aller Bundesländer, das ich dazu brauche, was auch richtig so ist. Wir haben gesagt, wir müssten doch denjenigen helfen, die besonders verfolgt sind. Das sind nun einmal die religiösen Minderheiten, wie es im europäischen Sprachgebrauch heißt. Wenn Sie im Irak genau hinschauen, dann glauben Sie kaum, welche religiösen Minderheiten unter den Flüchtlingen besonders bedrängt und verfolgt sind. Besonders schlecht haben es die Christen. Das darf man auch unter der Geltung des Grundgesetzes und der Neutralität sagen. ({8}) Dann muss man bei einer zwischen EU, Aufnahmeland und UNHCR abgestimmten Aufnahmepolitik - Resettlementpolitik - auch bedenken, wer am besten wohin passt und wen man wo aufnehmen kann. Ich sage das mal in meiner alemannischen Art. Natürlich könnte man auch sagen, die Christen sollten möglichst in der Türkei Aufnahme finden, die Muslime möglichst in Mitteleuropa. Ich halte es ein bisschen anders auch für intelligent, wenn ich an die Chance denke, dass die Menschen sich einfügen und zusammenpassen. Deswegen kann ich nicht erkennen, dass es irgendwie diskriminierend sei, wenn sich die christlichen Kirchen in Deutschland dafür einsetzen, dass wir in besonderer Weise Christen helfen, was nicht heißt, dass wir anderen nicht auch helfen. ({9}) Darüber gibt es übrigens in Europa auch großes Einvernehmen. Jedes Mitgliedsland wird sein System nach seinen eigenen Überzeugungen und Erfahrungen auslegen. Verabredet ist, dass jedes Land im Rahmen der europäischen Aktion daran mitwirken kann, zusammen mit dem UNHCR mitzubestimmen, wen wir aufnehmen. Ich habe mit dem Vertreter der Innenministerkonferenz, dem Berliner Innensenator Körting, verabredet, nicht bis zu einer formalen europäischen Beschlussfassung zu warten. Auch das habe ich angekündigt, und ich habe dafür geworben, dass andere Mitgliedstaaten auch so verfahren. Vielmehr haben wir besprochen, ob wir nicht im Vorgriff auf eine europäische Beschlussfassung jetzt schon handeln sollten. Einige Länder sind schon dabei. Herr Kollege Körting und ich werden mit den Innenministern und -senatoren der Bundesländer in dieser Frage in den nächsten Tagen Kontakt aufnehmen. Zwar muss eine europäische Aktion, bei der wir - in Abstimmung mit dem UNHCR - mitreden, wer in Deutschland aufgenommen wird, das Ziel bleiben, aber wir können in Erwägung ziehen, im Vorgriff auf diese Aktion schon jetzt zu handeln. Ich werbe dafür, das zu tun. Wenn wir in diesem Sinne ein starkes Einvernehmen erzielen, dann wird dies auch die Einigkeit der Innenminister und -senatoren der Länder fördern. Ich werbe dafür, dass wir in dem Stil, in dem wir diese Debatte geführt haben, aufeinander zugehen, es gemeinsam angehen und uns nicht wieder durch Profilierungsversuche auseinandertreiben lassen. Herzlichen Dank. ({10})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Ulla Jelpke, Fraktion Die Linke. ({0})

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seit über einem Jahr diskutiert der Innenausschuss über die humanitäre Hilfe für irakische Flüchtlinge. Wir haben damals den Antrag der Linken diskutiert, die ihn zuerst eingebracht hat. Dann folgte der Antrag der Grünen. Die Anträge sind abgelehnt worden. Heute diskutieren wir über Soforthilfe für Flüchtlinge aus dem Irak; es geht nicht um eine Hilfe zu irgendeinem späteren Zeitpunkt. Es wurde bereits angesprochen, dass es um fast 5 Millionen Menschen im Irak geht, die auf der Flucht sind. Etwa 2,2 Millionen Menschen sind innerhalb des Irak auf der Flucht, und 2,7 Millionen Menschen sind in die inzwischen überlasteten Nachbarländer geflüchtet, die es sich nicht mehr leisten können, diese Flüchtlinge zu ernähren. Allein in Deutschland leben zurzeit 25 000 irakische Flüchtlinge, die anerkannt sind. 9 000 sind nur geduldet. Sie müssen täglich davon ausgehen, das Land zu verlassen. Herr Schäuble, zu meinem Erstaunen war heute zumindest zu hören, dass Sie bereit sind, jetzt schon mit der Hilfe anzufangen. Das ist in der Tat eine neue Information. Am Mittwoch hieß es im Innenausschuss noch, dass frühestens unter der französischen Ratspräsidentschaft, möglicherweise im Oktober, damit begonnen werden soll. Die Linke ist der Meinung, dass Soforthilfe nötig ist. ({0}) Nach einem Jahr intensiver Debatte im Innenausschuss ist es ein Armutszeugnis, dass die deutsche Ratspräsidentschaft diesen Punkt nicht aufgegriffen hat. Man muss nicht warten, bis die einzelnen Länder der EU bereit sind, Flüchtlinge aufzunehmen. Die geltende Rechtslage erlaubt es, hier und jetzt mit dem Resettlement-Programm zu beginnen. Das fordern das UNHCR und viele Flüchtlingsorganisationen seit langem. Herr Schäuble hat darauf hingewiesen, dass die Länder mit einbezogen werden müssen. Wie lange soll das denn dauern, wenn erst jedes einzelne Land darüber beraten will, ob es Flüchtlinge aufnimmt? Bisher sind Zahlen zwischen 1 000 und 2 000 Flüchtlingen im Gespräch. Das halte ich für viel zu wenig. ({1}) Die Kirchen haben sich vorbildlich dafür eingesetzt, dass die irakischen Flüchtlinge auch in Deutschland aufgenommen werden. Ich bin sicher, dass die Kirchen nicht der Meinung sind, dass dabei ausschließlich die christliche Minderheit zu berücksichtigen ist, die in der Tat besonders verfolgt wird. Wir treten vielmehr dafür ein, dass die Flüchtlinge unabhängig von ihrer religiösen Einstellung oder ethnischen Herkunft hier aufgenommen werden können. ({2}) Zum Schluss möchte ich einen Punkt ansprechen, der ebenfalls in die Gedanken von Herrn Schäuble einfließen sollte. Sie haben hinsichtlich einer Kleinen Anfrage der Fraktion Die Linke angekündigt, dass im kommenden Jahr der Asylstatus von 12 500 irakischen Flüchtlingen erneut überprüft werden solle. Das bedeutet, dass die betroffenen Menschen Angst vor der Zukunft haben, Angst, möglicherweise in ein Land abgeschoben zu werden, in dem Krieg geführt wird. Das Bundesamt sollte angewiesen werden, keinerlei Überprüfungen vorzunehmen, sondern den Menschen ihren Asylstatus zu belassen. ({3}) Die Linke will eine klare europäische Regelung für die Beteiligung an den Resettlement-Programmen. Das kann gar keine Frage sein. Andere europäische Länder tun das bereits. Es ist wichtig, dass diejenigen, die es nicht tun, überzeugt werden; denn die Flüchtlinge aus dem Irak brauchen unsere Solidarität und vor allen Dingen eine Lösung. Deshalb unterstützen wir den Antrag der Grünen. Ich danke Ihnen. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Kerstin Müller, Bündnis 90/Die Grünen.

Kerstin Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002741, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Debatte hat gezeigt: Wir sind uns über die dramatische Lage der irakischen Flüchtlinge weitgehend einig. Wir sind uns ebenfalls darüber einig, dass Deutschland und die Europäische Union dringend und schnell helfen müssen, und zwar auch bei der Aufnahme von Flüchtlingen. ({0}) Herr Kollege Mützenich, Sie haben eine gute Rede gehalten und sicherlich gesehen, dass wir Grüne Ihnen voll zustimmen. ({1}) Ich bin gespannt, wie Sie sich bei der Abstimmung über unseren Antrag verhalten werden. Nach Ihrer Rede müssten die SPD-Fraktion, aber auch Kolleginnen und Kollegen von der Union unserem Antrag zustimmen. ({2}) Die Aufnahmeländer Syrien und Jordanien dürfen mit den Flüchtlingen nicht alleine gelassen werden. Sie sind an der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit und reagieren teilweise sehr restriktiv auf die Flüchtlinge, zum Beispiel mit Arbeitsverboten, was zur Folge hat, dass die Flüchtlinge in katastrophalen Verhältnissen leben. Herr Vaatz und Frau Steinbach, Sie haben das alles auf Ihren Reisen erfahren. Herr Schäuble, wir begrüßen es sehr, dass die EU-Innenminister auf deutsche Initiative hin endlich darüber beraten haben, wie sich die EU im Rahmen von Resettlement-Verfahren an der Aufnahme iraki17624 Kerstin Müller ({3}) scher Flüchtlinge beteiligen kann. Das ist ein wichtiges humanitäres Signal und eine der zentralen Forderungen unseres Antrags, der deshalb von vielen Kolleginnen und Kollegen unterstützt wird. ({4}) Es muss aber auch gesagt werden - dies haben Sie leider unterschlagen, Herr Schäuble -: Dieses Signal war überfällig. Durch das fast ein Jahr dauernde Hin und Her in der Koalition in der Frage, wie man mit den irakischen Flüchtlingen verfahren soll, wurde eine schnelle Lösung auf der europäischen Ebene verhindert; das ist unverantwortlich. Schon während der deutschen EURatspräsidentschaft hätten Sie die Initiative ergreifen können. ({5})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin Müller, vielleicht warten Sie einen Augenblick. Ich stoppe auch Ihre Zeit. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist vonseiten der Grünen nicht möglich, die Kollegin zu hören. Herr Kollege Reiche, ich bitte Sie, die Gespräche einzustellen oder außerhalb des Saales fortzuführen. ({0})

Kerstin Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002741, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank. - Ich will auf den Grund eingehen. Teile der Union haben lange Zeit gefordert, nur Angehörige christlicher Minderheiten aufzunehmen. Damit wurden eine entsprechende Regelung und eine schnelle Einigung in der Europäischen Union verhindert. Herr Grindel und Herr Uhl von der Union haben noch vor einigen Tagen gesagt, dass es keine Beschlusslage in der Fraktion dazu gebe und dass man sich bei der Aufnahme keinesfalls an den Resettlement-Gruppen des UNHCR orientieren dürfe. Diese Position ist angesichts des Elends der Flüchtlinge unhaltbar. Es darf nicht nach religiöser Zugehörigkeit, sondern es muss nach der Schutzbedürftigkeit der irakischen Flüchtlinge gehen. ({0}) Herr Vaatz, Sie haben es auf Ihrer Reise selbst zu hören bekommen. Der UNHCR in Damaskus hat zu Recht gesagt: Wir weigern uns, nach diesem Kriterium vorzugehen. Ich möchte Ihnen das Beispiel einer sunnitischen Frau nennen, die fünf Kinder hat und in Damaskus in einem Kellerloch lebt. Ich glaube, Sie sind mit diesem Beispiel konfrontiert worden. Sie wurde vertrieben, weil sie zur sunnitischen Minderheit im Irak gehört, und muss ihre fünf Kinder mehrere Stunden am Tag in diesem Kellerloch einsperren, damit sie illegal etwas Geld verdienen kann. Ich frage Sie: Ist diese Frau weniger schutzbedürftig als Angehörige christlicher Minderheiten? Das kann nicht Ihr Ernst sein. ({1}) Herr Schäuble, Sie haben die katholische und die evangelische Kirche erwähnt. Vertreter beider Kirchen waren auf dieser Reise Ihrer Kollegen mit. Ich möchte den von uns allen sehr geschätzten Prälaten, Herrn Jüsten, zitieren. Er hat nämlich nach dieser Reise Folgendes gesagt: Bei Härtefällen ist die Religion zweitrangig. Da gilt die Geschichte vom barmherzigen Samariter. ({2}) Ich kann Ihnen nur sagen: Er hat recht. Das muss die Richtlinie von Christinnen und Christen bei der Aufnahme von Flüchtlingen sein. Insofern hoffen wir, dass es zu einem schnellen Beschluss auf der Ebene der Europäischen Union kommt. Aber ich möchte Sie auch auffordern: Solange die Europäer nicht entscheiden, muss Deutschland mit gutem Beispiel vorangehen - aber nicht, indem nach Christen und Nichtchristen unterschieden wird - und schnell und unbürokratisch irakische Flüchtlinge hier aufnehmen. Dazu fordere ich die Innenminister und die Bundesregierung auf. ({3})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärti- gen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Bünd- nis 90/Die Grünen mit dem Titel „Hilfe für irakische Flüchtlinge ausweiten - im Irak, in Nachbarländern und in Deutschland“. Ich weise die Kolleginnen und Kolle- gen darauf hin, dass uns Erklärungen nach § 31 vor- liegen, die von zahlreichen Kolleginnen und Kollegen unterschrieben wurden.1) Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9006, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/7468 abzulehnen. Wir stimmen nun über die Beschlussempfehlung auf Verlangen der Fraktion Bünd- nis 90/Die Grünen namentlich ab. Ich bitte die Schrift- führerinnen und Schriftführer, ihre vorgesehenen Plätze einzunehmen. Sind die Plätze an den Urnen besetzt? - Das ist der Fall. Ich eröffne die Abstimmung. Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerin- nen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der namentlichen Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben. Wir setzen die Beratungen fort. 1) Anlagen 4 und 5 Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Seelotsgesetzes - Drucksache 16/9037 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0}) - Drucksache 16/9390 - Berichterstattung: Abgeordneter Hans-Michael Goldmann Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. - Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich um die Reden der folgenden Kolleginnen und Kollegen: Enak Ferlemann, CDU/CSU, Dr. Margrit Wetzel, SPD, Hans-Michael Goldmann, FDP, Dorothée Menzner, Die Linke, Rainder Steenblock, Bündnis 90/Die Grünen, und die Parlamentarische Staatssekretärin Karin Roth.1)

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9390, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/9037 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit auch in dritter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Ich rufe den Zusatzpunkt 3 sowie die Tagesordnungspunkte 17 a bis 17 d auf: ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Burkhardt Müller-Sönksen, Harald Leibrecht, Florian Toncar, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Präsident Medwedew beim Wort nehmen - Drucksache 16/9423 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({0}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe 17 a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Werner Hoyer, Sabine Leutheusser-Schnar- renberger, Harald Leibrecht, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion der FDP 1) Anlage 7 Für eine konstruktive Zusammenarbeit mit Russland und einen kritischen Dialog - Drucksachen 16/4165, 16/7907 Berichterstattung: Abgeordnete Manfred Grund Johannes Pflug Dr. Werner Hoyer Marieluise Beck ({2}) b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ({3}) zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Volker Beck ({4}), Marieluise Beck ({5}), Alexander Bonde, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie zu der Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Marieluise Beck ({6}), Volker Beck ({7}), Alexander Bonde, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Aktuelle Entwicklungen in Russland und ihre Auswirkung auf die Beziehungen zwischen der EU und Russland - Drucksachen 16/4932, 16/6241, 16/7187, 16/7873 Berichterstattung: Abgeordnete Erika Steinbach Johannes Jung ({8}) Burkhardt Müller-Sönksen Volker Beck ({9}) c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({10}) zu dem Antrag der Abgeordneten Marieluise Beck ({11}), Volker Beck ({12}), Rainder Steenblock und der Fraktion BÜND-NIS 90/ DIE GRÜNEN Anforderungen an eine strategische Partnerschaft der EU mit Russland - Drucksachen 16/4155, 16/7906 Berichterstattung: Abgeordnete Manfred Grund Markus Meckel Dr. Werner Hoyer Marieluise Beck ({13}) d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({14}) zu dem Antrag der Abgeordneten Marieluise Beck ({15}), Volker Beck ({16}), Alexander Bonde, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Zusammenarbeit der EU mit Russland stärken - Drucksachen 16/8420, 16/9464 17626 Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg Markus Meckel Harald Leibrecht Marieluise Beck ({17}) Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. - Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich um die Reden der folgenden Kolleginnen und Kollegen: Karl-Georg Wellmann, CDU/CSU, Gert Weisskirchen, SPD, Harald Leibrecht, FDP, Wolfgang Gehrcke, Die Linke, Marieluise Beck, Bündnis 90/Die Grünen.1)

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Zusatzpunkt 3. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/9423 an die in der Tagesord- nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Tagesordnungspunkt 17 a. Wir kommen zur Be- schlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Für eine konstruktive Zusammenarbeit mit Russland und ei- nen kritischen Dialog“. Der Ausschuss empfiehlt in sei- ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/7907, den Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/4165 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- lung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Be- schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Linken, der SPD und der CDU/CSU bei Gegenstimmen der FDP und bei Enthaltung der Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 17 b. Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zu dem Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen zur Beratung ihrer Großen Anfrage mit dem Titel „Aktuelle Entwicklungen in Russland und ihre Auswirkung auf die Beziehungen zwischen der EU und Russland“, Drucksachen 16/4932, 16/6241, 16/7187. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/7873, den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der Fraktio- nen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen und bei Ent- haltung der Fraktion der FDP angenommen. Tagesordnungspunkt 17 c. Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Anforderungen an eine strategische Partnerschaft der EU mit Russland“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/7906, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/4155 abzu- lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschluss- empfehlung ist mit den Stimmen der Fraktionen Die Linke, SPD und CDU/CSU bei Gegenstimmen der Frak- 1) Anlage 8 tion Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der Fraktion der FDP angenommen. Tagesordnungspunkt 17 d. Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Bündnis90/Die Grünen mit dem Titel „Zusammenarbeit der EU mit Russland stärken“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9464, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/8420 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? ({0}) Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Fraktionen Die Linke, der SPD und der CDU/CSU bei Gegenstimmen des Bündnisses 90/Die Grünen und der FDP angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 sowie den Zusatzpunkt 4 auf: 18 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({1}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Anette Hübinger, Dr. Christian Ruck, Dr. Wolf Bauer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Sascha Raabe, Gregor Amann, Elvira Drobinski-Weiß, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Die entwicklungspolitische Zusammenarbeit Deutschlands im Rahmen der strategischen Partnerschaft der Europäischen Union mit den Staaten Lateinamerikas und der Karibik zielgerichtet stärken - zu dem Antrag der Abgeordneten Heike Hänsel, Dr. Diether Dehm, Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Zum EU-Lateinamerika-Gipfel in Lima Impulse für solidarische und gleichberechtigte Beziehungen zwischen der EU und Lateinamerika - zu dem Antrag der Abgeordneten Thilo Hoppe, Marieluise Beck ({2}), Volker Beck ({3}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Die strategische Partnerschaft zwischen der Europäischen Union, Lateinamerika und der Karibik durch eine intensive Umweltund Klimakooperation beleben - Drucksachen 16/9073, 16/9074, 16/8907, 16/9458 Berichterstattung: Abgeordnete Anette Hübinger Dr. Karl Addicks Thilo Hoppe Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner ZP 4 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({4}) zu dem Antrag der Abgeordneten Marina Schuster, Dr. Werner Hoyer, Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Die Beziehungen zu Lateinamerika und den Staaten der Karibik stärken und den EU-Lateinamerika/Karibik-Gipfel zu einer ehrlichen Bestandsaufnahme nutzen - Drucksachen 16/9056, 16/9475 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg Niels Annen Wolfgang Gehrcke Kerstin Müller ({5}) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Anette Hübinger, CDU/CSU-Fraktion. ({6})

Anette Hübinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003776, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Vorsitzende! Meine Damen und Herren! Der Gipfel in Lima ist zu Ende. Ich bin der Meinung, dass er den Beziehungen zwischen Lateinamerika und Europa sehr gut getan hat. Bei den zentralen Themen wie Armutsbekämpfung und globalem Klimaschutz gab es rege Diskussionen, die zeigten, dass sowohl Europa als auch Lateinamerika eine enge und ernsthafte Zusammenarbeit wollen, die auf eine strategische Partnerschaft zielt. Dabei sind das klare Bekenntnis der lateinamerikanischen Staaten zu den Millenniums-Entwicklungszielen und der Wille, diese sogar zu übertreffen, ein großer Fortschritt und eine wichtige Grundlage für unsere weitere Zusammenarbeit. Gerade bei der Überwindung der sozialen Ungleichheiten wird es davon abhängen, wie sehr der einzelne Staat bereit ist, diesen Konflikt durch den Aufbau von Instrumenten zu lösen. Denn trotz steigender Sozialausgaben in vielen lateinamerikanischen Staaten in den letzten Jahren und trotz sozialpolitischer Programme wie des brasilianischen Programms „Bolsa Família“ liegt die Entwicklung im sozialen Bereich noch weit hinter dem guten wirtschaftlichen Wachstum der letzten Jahre zurück. Die im Antrag der Koalitionsfraktionen enthaltenen Forderungen zu nachhaltigen Entwicklungen waren in Lima immer wieder wichtige Gesprächsthemen auf multilateraler Ebene sowie in vielen bilateralen Dialogen unserer Kanzlerin. Denn die entwicklungspolitische Zusammenarbeit hat durch den breit angelegten Ansatz in der Armutsbekämpfung und in Fragen des Klimaschutzes eine Schlüsselrolle. So wurde auch in der Gipfelerklärung zu Recht unterstrichen, dass die Möglichkeiten der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit für die Bekämpfung der sozialen Ungleichheiten noch stärker als bisher genutzt werden müssen. ({0}) Aber auch in unserer Arbeit sehe ich noch erhebliches Potenzial, wenn es darum geht, flexibler auf regionale Veränderungen zu reagieren, unsere zahlreichen Aktivitäten im internationalen Bereich besser aufeinander abzustimmen und Schnittmengen zu gestalten. Ich denke an dieser Stelle an internationale Projekte im Forschungs- und Bildungsbereich. Doch auch im Wirtschafts- und Energiebereich gibt es noch viel Potenzial, mit entwicklungspolitischen Instrumenten eine wirklich nachhaltige Entwicklung zu erreichen. Für eine erfolgreiche Zusammenarbeit ist es aber ebenso wichtig, dass wir von den lateinamerikanischen Partnern ganz klare Hinweise bekommen, was genau zu tun ist und welche Unterstützung in welchem Bereich gebraucht wird. Oft müssen keine großen Summen investiert werden, damit die Lebenssituation der Menschen erheblich verbessert werden kann. ({1}) Im Gespräch mit der Bundeskanzlerin wies der peruanische Staatspräsident auf die Notwendigkeit von Rauchabzugsanlagen für den ländlichen Raum hin, damit die Lebens- und Gesundheitssituation der Menschen, die in einem einzigen Raum wohnen und kochen, verbessert werden kann. Dieser gegenseitige Austausch spielt für den Entwicklungserfolg eine ganz entscheidende Rolle; denn jedes Land hat seine eigenen spezifischen Herausforderungen, die wiederum sehr individuelle Ansätze benötigen. Differenzierte Ansätze sind deshalb in unseren Antrag eingeflossen. Wenn wir von Lateinamerika sprechen, dann muss uns klar sein, dass wir einer Vielfalt von Staaten und Völkern gegenüberstehen, die in ihrer Ausprägung nicht unterschiedlicher sein könnten. Diese notwendige Flexibilität muss meines Erachtens auch die EU bei den noch offenen Handels- und Assoziierungsabkommen mit der Andenregion, mit Zentralamerika und mit dem Mercosur deutlich zeigen. Dabei sollte vielleicht - darauf verwies Präsident García meines Erachtens zu Recht - zuerst mit denen begonnen werden, die es auch ernsthaft wollen. In der lateinamerikanischen Vielgestaltigkeit nehmen wir aber auch Entwicklungen wahr, die als sehr kritisch zu bewerten sind, Entwicklungen wie beispielsweise die in Venezuela. Menschenrechtsverletzungen stehen dort zunehmend auf der Tagesordnung, das zeigt zum Beispiel das jüngst per Dekret erlassene Geheimdienstgesetz. Durch staatszentralistische Maßnahmen werden die Ressourcen der venezolanischen Bevölkerung für die eigenen populistischen Zwecke des Staatspräsidenten Chávez missbraucht. ({2}) Meine Damen und Herren von der Fraktion Die Linke, es wäre wirklich an der Zeit, dass Sie sich endlich eingestehen, dass die Politik, die Sie wiederum in Ihrem Antrag verfolgen und auch in anderen Ländern unterstützen, den Menschen keine Zukunft gibt. ({3}) Den Menschen eine Zukunft zu eröffnen, ist ein zentrales Anliegen unserer entwicklungspolitischen Zusammenarbeit. Deshalb werden Themen wie Bildung, Aufbau von Sozialsystemen und rechtsstaatliche Strukturen, die Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung durch Eliten und Unternehmen, die Einführung von gerechten Steuersystemen, Good Governance, aber auch Umweltfragen in unseren politischen Dialogen immer wieder eine große Rolle spielen. Wir wissen nämlich aus eigener Erfahrung, wie wichtig diese Sektoren für den Aufbau einer funktionierenden Gesellschaft und für eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung sind. Gerade wir im ressourcenarmen Deutschland wissen, was ein gutes Bildungssystem bedeutet. Deshalb werden wir auch in den lateinamerikanischen Ländern unermüdlich dafür werben, in die Bildung der Menschen zu investieren. Nur so wird sich das derzeitige wirtschaftliche Wachstum auch in Zukunft nachhaltig entwickeln. ({4}) In diesem Zusammenhang möchte ich als ein gelungenes Beispiel der ressortübergreifenden Arbeit zwischen dem BMZ und dem BMBF in Mexiko den Start eines Masterstudiengangs im Umweltbereich nennen. Kooperationen gerade auch im Umweltbereich werden in Zukunft eine immer größere Rolle spielen. Denn keine Region verfügt über so viele geschützte und ökologisch wertvolle Gebiete wie Lateinamerika. Die größte Herausforderung für uns alle wird meines Erachtens dabei sein, uns gemeinsam bei den globalen Fragen des Klimaschutzes, des Walderhaltes und des Erhalts der Biodiversität der Verantwortung zu stellen und zu international gültigen Regeln zu kommen. Einzelprojekte können hierbei einen wichtigen und wertvollen Beitrag leisten. Als Beispiele wären zu nennen: unsere Unterstützung bei den Regionalprogrammen des Amazonas-Paktes oder das sich in der Prüfung befindliche ITT-Projekt in Ecuador. ({5}) Klar ist auch, dass wir als Industrienation dabei eine Bringschuld haben. Deshalb müssen wir auch eine Vorreiterrolle übernehmen. Die Zusage der Bundeskanzlerin, bis 2012 für den Walderhalt 500 Millionen Euro zusätzlich zur Verfügung zu stellen und danach jährlich den gleichen Betrag, ist ein wichtiger Vorstoß. Auch benötigen wir eine ständige Dialogplattform, um diese wichtigen Themen zu diskutieren. Brasilien wird im November dieses Jahres zu einer internationalen Konferenz einladen, auf der die Fragen Agrartreibstoffe, Nahrungsmittelsicherheit und Klimawandel diskutiert und Lösungsansätze entwickelt werden sollen. Begreifen wir Lateinamerika in seiner Vielfältigkeit so, wie wir im vereinten Europa unsere verschiedenen Kulturen erleben. Es ist unsere gemeinsame Aufgabe, für die großen zentralen Herausforderungen unserer Zeit gemeinsame Lösungen zu finden, damit die Fiktion einer strategischen Partnerschaft zwischen Lateinamerika und Europa auch Realität wird. Die Entwicklungspolitik von deutscher wie auch von europäischer Seite kann dabei wertvolle und unterstützende Arbeit leisten. Herzlichen Dank. ({6})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich gebe nun das Wort der Kollegin Marina Schuster, FDP-Fraktion. ({0})

Marina Schuster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003845, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte zunächst auf meine Vorrednerin eingehen. Ich weiß nicht, welches Gipfeldokument Sie gelesen haben. Ich kann jedenfalls in der 15-seitigen Abschlusserklärung wenig Konkretes finden. Substanzielle Ergebnisse sind ebenfalls ausgeblieben. ({0}) So war dieser Gipfel wie auch die Gipfel zuvor leider eine Veranstaltung mit hohem Symbolcharakter, aber ohne neue Ergebnisse. Das ist wirklich sehr schade. ({1}) Vor fast zehn Jahren, 1999, ist diese strategische Partnerschaft begründet worden. Es ist schon gut, wenn man sich die alten Gipfelerklärungen anschaut. 1999 wurden insgesamt 69 Punkte vereinbart. Man muss schon die kritische Frage stellen, was bisher herausgekommen ist und was bisher umgesetzt worden ist. Die Ergebnisse sind einfach mau. Ich hatte die Hoffnung, dass der Gipfel in Lima neuen Schwung bringt. Deutschland und die EU waren einfach zu wenig engagiert und haben zu wenige ehrgeizige Ziele vereinbart. Das rächt sich zu einem Zeitpunkt, zu dem sich die politische Landkarte in Lateinamerika komplett verändert hat und sehr viel komplexer ist als noch vor zehn Jahren. Jahrelang sind wir wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass wir der natürliche Partner Lateinamerikas sind, weil wir in der Tat viele Werte teilen, ({2}) was die Kultur, die Religion und die Tradition angeht. Aber der große Fehler war, zu glauben, dass uns der Kontinent so nahe ist, dass wir uns nicht mehr aktiv darum bemühen müssen. ({3}) Jetzt wundern wir uns, dass China, Indien und Russland vor Ort an Einfluss gewinnen und dass sie ihre Beziehungen gefestigt haben. Da muss ich auch an die Adresse der Grünen sagen: Wer sich an die Politik von Joschka Fischer erinnert, der muss auch feststellen, dass es in dieser Zeit keine neuen Impulse gab. ({4}) Glücklicherweise ist das Interesse der lateinamerikanischen Staaten an den Beziehungen zu Deutschland und zur Europäischen Union sehr hoch. Wir müssen endlich diese ausgestreckte Hand ergreifen. Die Staaten Lateinamerikas haben ein neues Selbstbewusstsein gewonnen. Der Rohstoffboom und die asiatische Nachfrage nach Energie und Lebensmittel tun das Ihre dazu. In diesem Zusammenhang erwarte ich von der Bundesregierung, dass sie definiert, welche Rolle Lateinamerika für die künftige Energiediversifizierung Deutschlands und der Europäischen Union spielen soll. Zudem müssen wir uns eingestehen, dass sich unsere Hoffnungen auf eine lateinamerikanische Integration nach europäischem Vorbild auf absehbare Zeit wohl nicht erfüllen werden. Dies ist sehr schade. Die Gründe dafür sind aber auch bekannt. Zum einen ist es die nachlassende Bereitschaft der lateinamerikanischen Staaten, nationale Souveränität abzutreten. Dafür ist Mercosur ein gutes Beispiel. Ob die seit Jahren geplanten Assoziierungsabkommen mit dem Mercosur oder auch mit der Anden-Gemeinschaft überhaupt noch zustande kommen, ist die große Frage. Bei der Erklärung der Mercosur/EU-Troika, die jetzt im Internet steht, ist das Deckblatt größer als die Erklärung selbst. Ich glaube, da sind wir auf keinem guten Weg. Zum anderen müssen wir Europäer uns fragen, was unsere neue Initiative ist. Es ist vollkommen richtig, auf den globalen Freihandel zu setzen. Auch wir wünschen uns endlich den Durchbruch bei den Doha-Verhandlungen. Wir müssen aber auch eine ehrliche Bestandsaufnahme vorlegen und überlegen, inwieweit wir EU-weit bilaterale und subregionale Abkommen forcieren müssen, so wie wir das im Falle von Chile und Mexiko gemacht haben. ({5}) Ansonsten verpassen wir den Zug, auf den andere schon längst aufgesprungen sind. Ich begrüße, dass die Kanzlerin Deutschland in Lima prominent vertreten hat und dass sie sich von Chávez nicht hat aus der Ruhe bringen lassen. ({6}) Es ist aber die Frage, mit welchen Initiativen die Bundesregierung jetzt an die Umsetzung herangehen und wie sie zum Beispiel die Außenwirtschaft und den Tourismus forcieren will. Es ist auch ganz drängend, im Bereich der Sicherheitspolitik enger zusammenzuarbeiten. Wir haben Probleme im Bereich der Bekämpfung des Drogenhandels und des Terrorismus, aber auch in der Frage der Abrüstung. Da ist viel zu tun. Außerdem besteht bei der auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik enormer Handlungsbedarf. ({7}) Ich frage mich, welche konkreten Ziele und welchen Zeitrahmen die Bundesregierung vereinbaren will. Denn zu einer strategischen Partnerschaft gehört aus meiner Sicht eine umfassende Zusammenarbeit in allen wichtigen Politikbereichen. Eines darf nicht passieren: dass wir den Begriff „strategische Partnerschaft“ als dauernde Wunschvorstellung in unsere Dokumente schreiben und dass dies nicht Wirklichkeit wird. ({8}) Gerade für Lateinamerika gilt, dass diese Partnerschaft endlich mit Leben erfüllt werden muss. Dafür ist es aus liberaler Sicht höchste Zeit. ({9})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Dr. Sascha Raabe, SPDFraktion. ({0})

Dr. Sascha Raabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wir haben die vorliegenden Anträge vor einigen Wochen in erster Lesung diskutiert. In unserem Koalitionsantrag haben wir einige Anregungen und Wünsche in Richtung Bundesregierung - an der Spitze die Bundeskanzlerin - formuliert, die wir heute nachträglich beschließen. Der Lateinamerika-Gipfel hat ja in der Zwischenzeit stattgefunden. Als Augenzeuge dieser Reise - ich durfte die Kanzlerin für die SPD-Fraktion auf dieser Reise begleiten - kann ich Ihnen sagen, dass sie die wesentlichen Punkte, die wir in dem Antrag der Koalition vereinbart hatten, bei ihren Gesprächen in allen vier Ländern und auf dem Gipfel angesprochen hat. Wir haben in unserem Antrag eine Vertiefung der Beziehungen zwischen der Europäischen Union und Lateinamerika nicht nur allgemein gefordert, sondern das auch mit ein paar konkreten Inhalten gefüllt. Zum Beispiel muss der Umwelt- und Ressourcenschutz auch dazu führen, dass das Erbe, das wir unserer nachfolgenden Generation, den Kindern, im Bereich der biologischen Vielfalt hinterlassen - dazu hat kurz danach die Konferenz in Bonn stattgefunden -, wirkungsvoll geschützt wird. Das geht natürlich nicht, wenn wir den Entwicklungsländern und unseren lateinamerikanischen Partnern - zum Beispiel Brasilien oder Ecuador, wo es große Regenwaldflächen gibt - nur mit dem moralischen Zeigefinger sagen: Ihr müsst euren Wald schützen. - Natürlich müssen diese Länder ihre Verantwortung wahrnehmen. Aber unsere Bundeskanzlerin hat sich im Sinne unseres Antrags dazu bekannt, dass Deutschland weiterhin und verstärkt seinen finanziellen Beitrag dazu leisten wird, dass diese Wälder geschützt werden und dass die lokale Bevölkerung, die um diese Wälder lebt, und die indigene Bevölkerung, die in diesen Wäldern lebt, Ein17630 kommensalternativen erhalten, wenn sie keine Wälder roden. Wir haben schon vor vielen Jahren in Brasilien - das war die erste Station der Reise - das PPG-7-Projekt gestartet, um den amazonischen Regenwald zu schützen. Mittlerweile sagt man in Brasilien oft - das habe ich vor Ort gehört -: Das ist eigentlich das PPG-1-Projekt, weil Deutschland der einzige Geldgeber ist, der dieses Projekt noch wirkungsvoll unterstützt. Deshalb hat man in Brasilien einen großen Respekt und eine große Anerkennung dafür, was wir im Bereich des Tropenwaldschutzes leisten. Vor dem Gespräch, das die Kanzlerin mit dem ecuadorianischen Präsidenten Correa geführt hat, hatte ich Gelegenheit, mit ihr über den Vorschlag der ecuadorianischen Regierung zu sprechen, dass wir in einem besonders wertvollen Abschnitt des Amazonas, in dem die höchste Biodiversitätsdichte der Welt herrscht, in dem also die meisten Pflanzen- und Tierarten vorkommen abgekürzt: im ITT-Gebiet; eine Parlamentarierdelegation hat sich dies zuvor auf einer Reise in das Amazonasgebiet angeschaut -, helfen. Denn unter dem Boden dieses Gebietes liegen die größten Erdölreserven Ecuadors. Ecuador ist ein armes Land; es kann nicht ohne Weiteres auf solche Einnahmen verzichten. Denken Sie daran, welche hohen Erdölpreise wir gerade haben. Da gäbe es viel zu gewinnen, was dieses Land für Infrastruktur, Bildung, Gesundheit und die Armutsbekämpfung einsetzen könnte. Deswegen hat Ecuador gesagt: Wir erkennen unseren Teil der Verantwortung an. Wir verzichten auf die Hälfte der möglichen Einnahmen aus der Erdölförderung, wenn die Weltgemeinschaft die zweite Hälfte kompensiert und wir dieses Geld für die Bevölkerung vor Ort nehmen können, damit sie sich andere Einkunftsquellen erschließen kann. Auch das hat die Kanzlerin in einem Gespräch mit Correa unterstützt. Wir von der Koalition werden gemeinsam mit den Grünen dazu einen Antrag in den Bundestag einbringen, in dem zum Ausdruck gebracht wird, dass wir dieses Projekt unterstützen wollen. Die Kanzlerin hat auch beim Thema Biokraftstoffe das, was wir in unserem Antrag beschrieben haben und auch in vielen anderen Papieren zu lesen ist, sehr differenziert und positiv rübergebracht: Biokraftstoffe, zum Beispiel aus Zuckerrohr gewonnenes Ethanol, können und dürfen nur dann nach Europa eingeführt werden, wenn sie aus nachweislich zertifiziertem Anbau stammen. Es darf also weder zu ökologischen Beeinträchtigungen - auch nicht zu indirekten Beeinträchtigungen, die sich daraus ergeben, dass der Sojaanbau auf Regenwaldflächen verlagert wird - noch zu einer Konkurrenz zur Nahrungsmittelproduktion kommen; denn auch die Ernährungssicherheit ist uns wichtig. Die Kanzlerin hat in Brasilien im Sinne unseres Antrages durchaus den richtigen Ton getroffen. Es ist bekannt, dass Präsident Lula in der Produktion von Biokraftstoffen große Chancen sieht. Es ist berechtigt, dass er diese Chancen wahrnehmen will. Er hat aber schon die Botschaft verstanden, die wir vom deutschen Parlament über unsere Bundeskanzlerin ausgesandt haben: Wir wollen darauf achten, dass die ökologischen und sozialen Kriterien gewahrt bleiben. Apropos soziale Kriterien: Gerade in Lateinamerika, auf einem Kontinent, der hohe wirtschaftliche Wachstumsraten verzeichnet - in den letzten Jahren lag die Wachstumsrate in den meisten Ländern bei 7 bis 8 Prozent; davon können wir nur träumen -, ist es ganz wichtig, dass das Problem der Verteilungsungerechtigkeit gelöst wird. Auf keinem anderen Kontinent gibt es eine solch starke Ungleichverteilung zwischen Arm und Reich. Hier konnten wir, die deutsche Delegation, im Gespräch mit den Unternehmern immer wieder deutlich machen, dass wir in Lateinamerika eine soziale Marktwirtschaft fördern wollen. Das bedeutet, dass die oberen Schichten durch eine gerechte Besteuerung ihrer Verantwortung gerecht werden müssen, damit soziale Sicherungssysteme aufgebaut werden können. Sonst entsteht dort - auch das konnten wir rüberbringen - ein explosiver Sprengstoff, der für den Kontinent nicht gut ist. In einigen Zeitungen und von einigen kritischen NGOs wurde beklagt, dass auf dem Gipfel, was Dokumente anbelangt, keine riesigen Ergebnisse erzielt wurden. Ich glaube, internationale Gipfel haben das an sich. Es ist aber wichtig, dass eine Annäherung zwischen Europa und Lateinamerika in Freundschaft erreicht wurde und dass die Themen richtig besetzt wurden. Jetzt liegt es an uns Parlamentariern in Deutschland, in Europa und in unseren lateinamerikanischen Partnerländern, die benannten Themen mit Leben zu erfüllen und konkrete Ziele zu erreichen, sei es durch Wirtschaftsabkommen mit Lateinamerika, durch verschiedene Assoziierungsabkommen, oder sei es - das würde Europa und Lateinamerika sicherlich helfen - durch einen Durchbruch in der WTO-Runde. Ich möchte ein paar Sätze zur letzten Station unserer Reise, zu Kolumbien, äußern. In erster Lesung haben wir sehr emotional über Kolumbien diskutiert. Auf der einen Seite erkennen wir dort, was die Sicherheit angeht, große Fortschritte. Die Journalisten und die Wirtschaftsdelegation konnten sich davon überzeugen, dass sich viele Verbesserungen ergeben haben: Die Zahl der Morde und der Entführungen sowie das Ausmaß des Terrors sind zurückgegangen. Die größte dort verbliebene Terrororganisation ist die FARC. Sie hält weiterhin viele Geiseln gefangen, und zwar unter schlimmen Bedingungen. Vor einigen Wochen konnten wir in den Medien von einem Computerfund der kolumbianischen Regierung lesen. In der letzten Debatte wurde die Frage gestellt, ob die Daten echt sind oder ob der Computer manipuliert wurde. Mittlerweile wissen wir: Diese Computer sind nicht manipuliert worden. Bei der Auswertung der Daten auf diesem Computer wurden erschreckende Erkenntnisse gewonnen: Die venezolanische Regierung mit Präsident Chávez hat der FARC, einer Terrororganisation, Geld und Waffen angeboten. Zugleich ließ sich Chávez anlässlich der Vermittlung einer möglichen Geiselfreilassung als Friedensengel feiern. Es ist der Gipfel der Heuchelei, die Geiselnehmer zu unterstützen und dann zu sagen, die Geiseln sollten befreit werden. Im Spiegel konnten wir über einen Kollegen im Parlament, Wolfgang Gehrcke von der Linkspartei - er wird hier noch reden -, lesen, dass er sich laut der Daten auf diesem Computer im Jahr 2005 mit dem Sohn des Terroristenführers getroffen hat, um konkret über eine Unterstützung und über Strategien zu verhandeln, wie die Linkspartei/PDS die Terrororganisation FARC unterstützen kann. ({0}) Das Ergebnis war: Herr Gehrcke hat von sich aus dem Sohn des Terroristenführers angeboten, darauf hinzuwirken, dass die FARC von der Terrorliste der EU gestrichen wird. ({1}) Das hat die Linke gleich hier im Parlament umgesetzt; ein entsprechender Antrag wurde dem Parlament vorgelegt. Herr Gehrcke, ich muss sagen: Das ist unter Demokraten ein wirklich erschreckender Vorgang. ({2}) Es war wirklich erschreckend, dass Sie in der letzten Parlamentssitzung tränenrührig gesagt haben: „Liebe Freunde von der FARC“ - na ja, das haben Sie nicht gesagt -, „ich gebe euch einen sozialistischen Rat: Lasst die Geiseln frei!“, Sie aber gleichzeitig die FARC verharmlosen und sagen, dass Sie die FARC von der Terrorliste nehmen wollen. Sie sagen immer, dass man mit den Leuten verhandeln muss. Man muss aber sehen, dass man hier im Grunde in einer Erpressungssituation verhandelt. Wenn ein Entführer eine Pistole an den Kopf des Entführten hält, dann kann die Polizei in dem Moment nur verhandeln und sagen: Bevor du ihn erschießt … Wie Sie das darstellen, klingt das so, als wollten Sie die FARC zu einer sozialen Bewegung machen, mit deren Vertretern man auf Augenhöhe verhandeln kann, um soziale Probleme zu lösen. Sie wollen die FARC nicht kriminalisieren. Die FARC muss aber kriminalisiert werden, weil das eine Mörder- und Terroristenbande ist, die Massaker verursacht und Leid über die Zivilbevölkerung gebracht hat.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, bitte.

Dr. Sascha Raabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sie dürfen nicht immer auf dem linken Auge blind sein. Wir Demokraten müssen alle Terroristen ablehnen, egal ob sie von links oder von rechts kommen. Es ist eine Schande, dass Sie diese Organisation unterstützen, Herr Gehrcke. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich komme zu Tagesordnungspunkt 15 zurück und gebe das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Hilfe für irakische Flüchtlinge ausweiten - Im Irak, in Nachbarländern und in Deutschland“ - Drucksachen 16/7468 und 16/9006 - bekannt: Abgegebene Stimmen 528. Mit Ja haben gestimmt 387, mit Nein haben gestimmt 141, Enthaltungen 0. Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen. Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 527; davon ja: 387 nein: 140 Ja CDU/CSU Ulrich Adam Peter Albach Peter Altmaier Dorothee Bär Thomas Bareiß Norbert Barthle Dr. Wolf Bauer Günter Baumann ({0}) Veronika Bellmann Otto Bernhardt Clemens Binninger Renate Blank Peter Bleser Dr. Maria Böhmer ({1}) Wolfgang Bosbach Michael Brand Helmut Brandt Dr. Ralf Brauksiepe Georg Brunnhuber Cajus Caesar Gitta Connemann Leo Dautzenberg Thomas Dörflinger Marie-Luise Dött Maria Eichhorn Dr. Stephan Eisel Anke Eymer ({2}) Ilse Falk Dr. Hans Georg Faust Enak Ferlemann Hartwig Fischer ({3}) Dirk Fischer ({4}) Axel E. Fischer ({5}) Dr. Maria Flachsbarth Klaus-Peter Flosbach Dr. Hans-Peter Friedrich ({6}) Erich G. Fritz Jochen-Konrad Fromme Dr. Michael Fuchs Hans-Joachim Fuchtel Dr. Jürgen Gehb Norbert Geis Ralf Göbel Josef Göppel Peter Götz Dr. Wolfgang Götzer Reinhard Grindel Hermann Gröhe Michael Grosse-Brömer Markus Grübel Manfred Grund Monika Grütters Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg Olav Gutting Ursula Heinen Uda Carmen Freia Heller Jürgen Herrmann Bernd Heynemann Ernst Hinsken Christian Hirte Robert Hochbaum Klaus Hofbauer Joachim Hörster Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Hubert Hüppe Susanne Jaffke-Witt Dr. Peter Jahr Andreas Jung ({7}) Bartholomäus Kalb Steffen Kampeter Alois Karl Bernhard Kaster Siegfried Kauder ({8}) Volker Kauder Jürgen Klimke Julia Klöckner Jens Koeppen Kristina Köhler ({9}) Norbert Königshofen Dr. Rolf Koschorrek Hartmut Koschyk Thomas Kossendey Michael Kretschmer Gunther Krichbaum Dr. Günter Krings Dr. Martina Krogmann Dr. Hermann Kues Dr. Karl Lamers ({10}) Andreas G. Lämmel Helmut Lamp Dr. Max Lehmer Paul Lehrieder Ingbert Liebing Eduard Lintner Dr. Klaus W. Lippold Patricia Lips Dr. Michael Luther Stephan Mayer ({11}) Wolfgang Meckelburg Dr. Michael Meister Friedrich Merz Laurenz Meyer ({12}) Maria Michalk Dr. h. c. Hans Michelbach Dr. Eva Möllring Marlene Mortler Carsten Müller ({13}) Stefan Müller ({14}) Dr. Gerd Müller Hildegard Müller Bernd Neumann ({15}) Dr. Georg Nüßlein Franz Obermeier Eduard Oswald Rita Pawelski Ulrich Petzold Dr. Joachim Pfeiffer Sibylle Pfeiffer Ronald Pofalla Daniela Raab Hans Raidel Dr. Peter Ramsauer Peter Rauen Eckhardt Rehberg Katherina Reiche ({16}) Dr. Heinz Riesenhuber Johannes Röring Dr. Norbert Röttgen Albert Rupprecht ({17}) Peter Rzepka Anita Schäfer ({18}) Hermann-Josef Scharf Hartmut Schauerte Dr. Andreas Scheuer Karl Schiewerling Norbert Schindler Bernd Schmidbauer Christian Schmidt ({19}) Andreas Schmidt ({20}) Ingo Schmitt ({21}) Dr. Andreas Schockenhoff Dr. Ole Schröder Bernhard Schulte-Drüggelte Uwe Schummer Wilhelm Josef Sebastian Kurt Segner Bernd Siebert Thomas Silberhorn Jens Spahn Erika Steinbach Christian Freiherr von Stetten Gero Storjohann Andreas Storm Max Straubinger Thomas Strobl ({22}) Michael Stübgen Hans Peter Thul Dr. Hans-Peter Uhl Arnold Vaatz Andrea Astrid Voßhoff Gerhard Wächter Marco Wanderwitz Kai Wegner Marcus Weinberg Peter Weiß ({23}) Gerald Weiß ({24}) Ingo Wellenreuther Karl-Georg Wellmann Anette Widmann-Mauz Klaus-Peter Willsch Elisabeth WinkelmeierBecker Dagmar Wöhrl Wolfgang Zöller SPD Gregor Amann Niels Annen Ingrid Arndt-Brauer Rainer Arnold Ernst Bahr ({25}) Doris Barnett Klaus Barthel Sören Bartol Sabine Bätzing Dirk Becker Klaus Uwe Benneter Dr. Axel Berg Petra Bierwirth Lothar Binding ({26}) Volker Blumentritt Kurt Bodewig Clemens Bollen Gerd Bollmann Dr. Gerhard Botz Bernhard Brinkmann ({27}) Edelgard Bulmahn Martin Burkert Christian Carstensen Dr. Peter Danckert Karl Diller Dr. Carl-Christian Dressel Elvira Drobinski-Weiß Garrelt Duin Detlef Dzembritzki Sebastian Edathy Siegmund Ehrmann Hans Eichel Dr. h. c. Gernot Erler Petra Ernstberger Karin Evers-Meyer Elke Ferner Rainer Fornahl Gabriele Frechen Peter Friedrich Iris Gleicke Renate Gradistanac Angelika Graf ({28}) Dieter Grasedieck Monika Griefahn Achim Großmann Wolfgang Grotthaus Hans-Joachim Hacker Bettina Hagedorn Klaus Hagemann Michael Hartmann ({29}) Nina Hauer Hubertus Heil Rolf Hempelmann Dr. Barbara Hendricks Gustav Herzog Gabriele Hiller-Ohm Stephan Hilsberg Petra Hinz ({30}) Iris Hoffmann ({31}) Frank Hofmann ({32}) Eike Hovermann Klaas Hübner Johannes Jung ({33}) Josip Juratovic Johannes Kahrs Ulrich Kasparick Ulrich Kelber Christian Kleiminger Astrid Klug Walter Kolbow Fritz Rudolf Körper Karin Kortmann Rolf Kramer Anette Kramme Ernst Kranz Nicolette Kressl Angelika Krüger-Leißner Dr. Hans-Ulrich Krüger Jürgen Kucharczyk Ute Kumpf Dr. Uwe Küster Christine Lambrecht Christian Lange ({34}) Dr. Karl Lauterbach Waltraud Lehn Gabriele Lösekrug-Möller Dirk Manzewski Lothar Mark Katja Mast Petra Merkel ({35}) Ursula Mogg Marko Mühlstein Detlef Müller ({36}) Gesine Multhaupt Franz Müntefering Andrea Nahles Thomas Oppermann Holger Ortel Heinz Paula Johannes Pflug Joachim Poß Dr. Wilhelm Priesmeier Florian Pronold Mechthild Rawert Steffen Reiche ({37}) Gerold Reichenbach Dr. Carola Reimann Christel RiemannHanewinckel Walter Riester Sönke Rix René Röspel Dr. Ernst Dieter Rossmann Karin Roth ({38}) Michael Roth ({39}) Ortwin Runde Anton Schaaf Axel Schäfer ({40}) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Dr. Hermann Scheer Marianne Schieder Ulla Schmidt ({41}) Silvia Schmidt ({42}) Heinz Schmitt ({43}) Carsten Schneider ({44}) Olaf Scholz Ottmar Schreiner Reinhard Schultz ({45}) Ewald Schurer Frank Schwabe Dr. Martin Schwanholz Rolf Schwanitz Rita Schwarzelühr-Sutter Jörg-Otto Spiller Dr. Ditmar Staffelt Ludwig Stiegler Christoph Strässer Dr. Peter Struck Joachim Stünker Dr. Rainer Tabillion Jella Teuchner Jörn Thießen Franz Thönnes Simone Violka Jörg Vogelsänger Dr. Marlies Volkmer Hedi Wegener Andreas Weigel Petra Weis Gunter Weißgerber Gert Weisskirchen ({46}) Lydia Westrich Dr. Margrit Wetzel Andrea Wicklein Engelbert Wistuba Waltraud Wolff ({47}) Heidi Wright Manfred Zöllmer Brigitte Zypries Nein SPD Otto Schily FDP Dr. Karl Addicks Daniel Bahr ({48}) Uwe Barth Rainer Brüderle Ernst Burgbacher Patrick Döring Mechthild Dyckmans Jörg van Essen Ulrike Flach Otto Fricke Paul K. Friedhoff Horst Friedrich ({49}) Dr. Edmund Peter Geisen Dr. Wolfgang Gerhardt Joachim Günther ({50}) Heinz-Peter Haustein Birgit Homburger Dr. Werner Hoyer Dr. Heinrich L. Kolb Gudrun Kopp Heinz Lanfermann Harald Leibrecht Sabine LeutheusserSchnarrenberger Markus Löning Patrick Meinhardt Jan Mücke Burkhardt Müller-Sönksen Dirk Niebel Hans-Joachim Otto ({51}) Gisela Piltz Frank Schäffler Dr. Konrad Schily Dr. Hermann Otto Solms Dr. Rainer Stinner Christoph Waitz Dr. Claudia Winterstein Hartfrid Wolff ({52}) DIE LINKE Karin Binder Heidrun Bluhm Eva Bulling-Schröter Roland Claus Sevim Dağdelen Dr. Diether Dehm Werner Dreibus Dr. Dagmar Enkelmann Klaus Ernst Dr. Gregor Gysi Hans-Kurt Hill Inge Höger Ulla Jelpke Monika Knoche Michael Leutert Ulla Lötzer Dr. Gesine Lötzsch Ulrich Maurer Dorothée Menzner Kornelia Möller Kersten Naumann Wolfgang Nešković Bodo Ramelow Paul Schäfer ({53}) Volker Schneider ({54}) Dr. Herbert Schui Dr. Petra Sitte Frank Spieth Alexander Ulrich Sabine Zimmermann BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Marieluise Beck ({55}) Volker Beck ({56}) Birgitt Bender Alexander Bonde Dr. Thea Dückert Dr. Uschi Eid Hans Josef Fell Kai Gehring Britta Haßelmann Winfried Hermann Peter Hettlich Priska Hinz ({57}) Bärbel Höhn Sylvia Kotting-Uhl Undine Kurth ({58}) Monika Lazar Nicole Maisch Jerzy Montag Winfried Nachtwei Brigitte Pothmer Claudia Roth ({59}) Krista Sager Manuel Sarrazin Elisabeth Scharfenberg Irmingard Schewe-Gerigk Dr. Gerhard Schick Rainder Steenblock Dr. Wolfgang StrengmannKuhn Hans-Christian Ströbele Jürgen Trittin Josef Philip Winkler fraktionslos Nächster Redner ist der Kollege Wolfgang Gehrcke, Fraktion Die Linke. ({60})

Wolfgang Gehrcke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003130, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Fangen wir gleich mit dem Thema FARC an. Ich wusste ja, dass Sie damit kommen. ({0}) Es war nicht schwer, das zu erahnen. ({1}) Sie haben den Begriff „Fund“ benutzt; bezeichnen wir das einmal so. Bei einer Geheimdienstoperation von Ecuador, also von außerhalb Kolumbiens, wurde der stellvertretende Vorsitzende der FARC ermordet. ({2}) - Passen Sie doch einmal auf. Sie können ja noch nicht einmal richtig aus dem Spiegel zitieren. ({3}) Die Computerdaten - ich kenne den Inhalt dieser Daten nicht im Einzelnen - sind geknackt worden. Spannend ist, dass der Spiegel einen Tag vor unserem Parteitag und meiner Kandidatur diese Daten veröffentlicht hat. Ein Narr ist, wer Schlechtes dabei denkt. ({4}) Im Spiegel stand einzig und allein, dass ich mich mit dem Sohn des FARC-Führers getroffen habe und ich ihm gesagt habe, dass wir dafür sind, die FARC von der Terrorliste zu streichen. ({5}) - Das können Sie ja ablehnen. Das ist meine Position. Ich hatte Gelegenheit, die Friedensprozesse in El Salvador und Guatemala zu begleiten. Ich habe Erfahrungen mit diesem Prozess. Damals wurde das Gleiche über die Frente in El Salvador und Guatemala gesagt. In solchen Gespräche muss man dem Gesprächspartner klipp und klar sagen, was man von ihm erwartet. Das habe ich den FARC-Führern genau so gesagt, wie ich es hier im Bundestag gesagt habe. ({6}) Ich habe gesagt: Ich erwarte von Ihnen, dass Sie die Geiseln sofort freigeben, weil das nichts mit linker Politik zu tun hat. ({7}) Ich glaube, dass es vernünftig ist, die Sache so auszutragen. ({8}) Die FARC hat jetzt die Möglichkeit, die Geiseln ohne Vorbedingungen sofort freizugeben. Ihnen sage ich aber: Wenn Sie einen wirklichen Friedensprozess in Kolumbien wollen, sind Sie schlecht beraten, sich ganz auf die Seite von Präsident Uribe zu schlagen. ({9}) Krieg verdirbt ein ganzes Land, und 40 Jahre Bürgerkrieg bedeuten in einem Land für alle Seiten Zerstörung, Gewalt, Drogen, Waffen und was alles dazugehört. Das prägt Kolumbien. Ich behaupte nicht, dass das nicht auch die FARC prägt. Das ist die konkrete Situation. Wenn Sie da rauskommen wollen, bleibt Ihnen nur der Weg der Verhandlungen. Es wäre sinnlos, einen anderen Weg einzuschlagen. Ein anderer Weg würde nicht zu einem Ergebnis führen. ({10}) Ich weiß gar nicht, warum Sie sich hier so aufregen. Ich habe aus meinen Positionen nie einen Hehl gemacht. Ich habe immer darüber diskutiert. Das hätten Sie nicht erst dem Spiegel entnehmen oder vom Geheimdienst hören müssen; Sie hätten mir nur einmal zuzuhören brauchen. Ich gehe offen damit um. Ich will Ihnen noch etwas sagen, damit wir nicht nur über dieses Problem reden. ({11}) - Das können Sie ja auch. Reden Sie mit sich selbst. Wir haben eh wenig Zeit dafür. ({12}) Herr Raabe, Sie haben das Ergebnis des Gipfels geschönt. Es war ein nichtssagendes, ein schlechtes Ergebnis. Ich Blödkopf habe es mit Ihrem Antrag, den Sie als SPD beschlossen haben, verglichen, um zu sehen, ob sich das ein Stück weit dort wiederfindet. Nichts findet sich dort wieder. Ich sage Ihnen auch mit Blick auf die vergangenen Debatten, in denen Kollege Mützenich gute Reden gehalten hat: Ihre Partei macht kaputt, dass Sie sich völlig entgegen dem verhalten, was Sie hier sagen. Das gilt auch bezüglich Lateinamerika. ({13})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich gebe das Wort der Kollegin Ute Koczy, Bündnis 90/ Die Grünen.

Ute Koczy (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003788, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Freiheit für Ingrid Betancourt - ich denke, das muss die Botschaft sein, dafür müssen wir uns einsetzen. Und an die Linke: Sie haben die Verantwortung, dafür zu sorgen, dass gewalttätige Organisationen - und das ist die FARC - dazu angehalten werden, von der Gewalt abzulassen. ({0}) Sie machen dies auf dem falschen Weg; denn Sie distanzieren sich nicht weit genug. Das ist ein Problem, das dazu beiträgt, die Gewalt zu kontinuieren, zu perpetuieren. Eigentlich müsste man das ganz anders angehen. Aber ich sage ebenfalls: Auch gegenüber der Regierung Kolumbiens haben wir Grüne Forderungen, die wir nicht so einfach unter den Tisch fallen lassen können. Auch die Regierung Uribe hat Dreck am Stecken. Ich komme zurück zum Gipfel in Lima; denn darum geht es hier. Wir wollen bewerten, was der Gipfel gebracht hat. Es ist schlicht übertrieben, wenn man den Gipfel und die Reise der Kanzlerin als Erfolg wertet. Dafür gibt die Abschlusserklärung von Lima viel zu wenig her. Man bekennt sich zu Gemeinplätzen. Man bekundet zwar, auf vielen Feldern zusammenarbeiten zu wollen, aber es wird nicht gesagt, wie diese Zusammenarbeit umgesetzt werden soll ({1}) und welche konkreten Schritte stattfinden sollen, weder bei der Bekämpfung der Nahrungsmittelkrise noch beim Klimawandel, ganz zu schweigen von der Steuerpolitik oder den Agrotreibstoffen, die im Abschlussdokument überhaupt nicht erwähnt werden. Wir haben nach dem Gipfel in Wien vor zwei Jahren kritisiert, dass sich die Ergebnisse in Bekenntnissen zu gemeinsamen Werten erschöpfen und dass sie nichts dazu beitragen, die strategische Partnerschaft zwischen den Regionen mit Leben zu füllen. An den Anträgen der Koalition kritisieren wir, dass alles Lob für die Bundesregierung nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass sich real wenig getan hat. Das ist ein Desaster. ({2}) Die beiden Anträge der Koalition zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass sie mit vielen Worten wenig sagen, vor allem wenig Konkretes, und um den heißen Brei herumgeredet wird. ({3}) Ich möchte hier nur an den Umgang mit den Regierungen von Kolumbien und Venezuela erinnern. Wie groß die Uneinigkeit in der SPD ist und wie unterschiedlich die Einschätzung zu diesen beiden Ländern sein kann, haben Herr Raabe und Herr Mark in der letzten Debatte hierzu vorgeführt. Die Kanzlerin hat ihr Amt erst jetzt nach Lateinamerika geführt, also zweieinhalb Jahre nach ihrem Amtsantritt. Sie hat versucht, in einer Woche all das nachzuholen, was sie in den letzten zweieinhalb Jahren hätte tun müssen. Das kann natürlich nicht gut gehen. Lateinamerika befindet sich in einem Wandlungs- und Wachstumsprozess. Der Kontinent mit seinen 500 Millionen Menschen kommt zusehends zu mehr Handlungsspielräumen und Selbstbewusstsein. Das ist eine Weisheit, die nicht erst in den letzten Wochen vom Himmel gefallen ist. Die gestiegenen Rohstoffpreise und die stärkere Orientierung Lateinamerikas hin zu China, Indien und anderen Staaten des Südens haben sich schon länger abgezeichnet. Die Staaten Lateinamerikas werden im Zuge dieser Entwicklungen politisch und wirtschaftlich unabhängiger, sowohl von den USA als auch von der EU. Gleichzeitig verliert die bestehende regionale Integration an Schwung und damit auch die Strategie der EU für die biregionale Zusammenarbeit. Das spürt man bei den Verhandlungen zu den Assoziations- und Freihandelsabkommen, aber auch in den internationalen Finanzinstitutionen. Wir müssen uns schon die Frage stellen, wie wir die Verhandlungen mit unseren Partnern in Zukunft führen wollen. Der Umgang mit der Andengemeinschaft ist ein gutes Beispiel. Das Bündnis ist wegen interner Probleme geschwächt. Kompromisse fallen schwer. Wenn die EU die regionale Integration stärken will, ist es dann sinnvoll, eine Kooperation in zwei Geschwindigkeiten zu betreiben? - Ich bezweifle das. ({4}) In Zukunft werden Deutschland und die EU aktiv und mit attraktiven Angeboten auf die Staaten Lateinamerikas zugehen müssen. Ein Angebot wäre - Sascha Raabe hat es schon erwähnt -, Ecuador darin zu unterstützen, das Öl im Boden zu lassen. Das ist korrekt. Wir wollen einen gemeinsamen Antrag dazu schreiben. Das wäre meiner Meinung nach innovativ und nach vorn schauend. Hier wäre es auch einmal konkret. Daher denke ich, dass wir zumindest in diesem Bereich auf einem guten Weg sind. Danke. ({5})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Der Kollege Gregor Amann, SPD, hat seine Rede zu Protokoll gegeben.1) Wir kommen zu den Abstimmungen, und zwar zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirtschaftli- che Zusammenarbeit und Entwicklung auf Drucksache 16/9458. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Be- schlussempfehlung die Annahme des Antrags der Frak- tionen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/9073 mit dem Titel „Die entwicklungspolitische Zu- sammenarbeit Deutschlands im Rahmen der strategi- schen Partnerschaft der Europäischen Union mit den Staaten Lateinamerikas und der Karibik zielgerichtet stärken“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschluss- empfehlung ist mit den Stimmen der Koalition bei Ge- genstimmen der Opposition angenommen. Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ableh- nung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Druck- sache 16/9074 mit dem Titel „Zum EU-Lateinamerika- Gipfel in Lima - Impulse für solidarische und gleichbe- 1) Anlage 9 Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner rechtigte Beziehungen zwischen der EU und Lateinamerika“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des Hauses bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke angenommen. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9458 die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/8907 mit dem Titel „Die strategische Partnerschaft zwischen der Europäischen Union, Lateinamerika und der Karibik durch eine intensive Umwelt- und Klimakooperation beleben“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU und FDP bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen. Zusatzpunkt 4. Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Die Beziehungen zu Lateinamerika und den Staaten der Karibik stärken und den EU-Lateinamerika/Karibik-Gipfel zu einer ehrlichen Bestandsaufnahme nutzen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9475, den Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/9056 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist bei Gegenstimmen der FDP mit den Stimmen des restlichen Hauses angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Lukrezia Jochimsen, Dr. Petra Sitte, Dr. Gesine Lötzsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Ehrung für Johann Georg Elser als gesamtgesellschaftliches Anliegen begreifen - Drucksache 16/9419 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien ({0}) Innenausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Wolfgang Börnsen ({1}), CDU/CSU, Dr. Wolfgang Thierse, SPD, Christoph Waitz, FDP, Dr. Lukrezia Jochimsen, Die Linke, Katrin Göring-Eckardt, Bündnis 90/Die Grünen.

Wolfgang Börnsen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000227, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Johann Georg Elser war ein mutiger und ehrenwerter Mann: Im Sommer 1938 entschloss er sich, Adolf Hitler zu ermorden und zwar allein. Sein monatelang geplantes Attentat führte er am 8. November 1939 in München aus, scheiterte aber tragisch. Kurz vor Kriegsende, am 9. April 1945, wurde er im Konzentrationslager Dachau „auf höchste Weisung“ erschossen. Tragisch, skandalös, ein Akt der Barbarei des NS-Staates. Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus hatte kein einheitliches Gesicht: Er kam aus der Arbeiterbewegung, aus bürgerlichen Kreisen, aus den Kirchen, er existierte innerhalb der Wehrmacht. Und es gab die zahlreichen, nicht namentlich bekannten Widerstandskämpfer im Alltag, die einfach menschlich handelten. Ihnen allen gebührt unser tiefer Dank, unser Respekt. Johann Georg Elser war ein Einzelkämpfer, der die Geschichte unseres Landes ändern wollte. Daher ist das Anliegen richtig, seiner zu gedenken, an ihn zu erinnern, ihn nicht der Vergessenheit anheim zu geben. Deshalb auch wird an ihn in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand erinnert. Deshalb gibt es in der KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen, wo er fünf Jahre Einzelhaft erdulden musste, eine Gedenktafel. Deshalb beschäftigt sich mit ihm auch die Topographie des Terrors. Es gibt eine Georg-Elser-Gedenkstätte in Königsbronn, wo er geboren wurde. Sie zeigt neben wertvollen zeitgeschichtlichen Dokumenten auch die Verhörprotokolle vom Dezember 1939 und zeichnet ein umfangreiches Bild der Hintergründe des Attentats. In Heidenheim, wo er entscheidende Vorbereitungen für sein Attentat traf, existiert der engagierte Georg-Elser-Arbeitskreis. In enger Zusammenarbeit haben die Gedenkstätte Deutscher Widerstand, der Georg-Elser-Arbeitskreis Heidenheim und die Gemeinde Königsbronn eine wissenschaftlich fundierte Dokumentation zu Elser und dem Attentat erarbeitet. In Deutschland gibt es 24 Straßen und Plätze, die nach ihm benannt sind. Man kann also nicht davon sprechen, dass Johann Georg Elser in der Öffentlichkeit nicht präsent wäre. Im Gegenteil - und man wünschte sich, dass anderer Widerstandskämpfer ebenso engagiert und vielseitig gedacht würde. Die Rolle des Widerstands gegen den Nationalsozialismus und die Leistungen und den Mut jedes Einzelnen zu würdigen, ihnen den Platz im öffentlichen Bewusstsein zu geben, der ihnen gebührt - das ist eine Aufgabe, die nie abgeschlossen sein wird und die von vielen Seiten wahrgenommen werden muss, auch und in erster Linie von den Ländern. Daher ist das Anliegen unserer Berliner Freunde von der Union begrüßenswert, in Berlin eine Ehrung für Johann Georg Elser vorzusehen, allerdings ist es eine Landesangelegenheit. Nur am Rande sei hier bemerkt, dass die Berliner Linken im Abgeordnetenhaus - als mitregierende Fraktion - eine rasche Ehrung abgelehnt haben und stattdessen einen Prüfauftrag beschlossen haben. Die Reaktion der Berliner Linken jedenfalls ist konsequent, bedenkt man, dass Elser in der DDR von der SED ignoriert wurde, passte er doch nicht in die leninistische Geschichtsschreibung und wurde nicht als Kommunist der reinen Lehre betrachtet. Man könnte daher tatsächlich zu der Ansicht gelangen, dass der uns vorliegende Antrag der Linken im Deutschen Bundestag, wo sie keine Regierungsverantwortung tragen, nicht mehr als ein Schaufensterantrag ist. Seine Zielrichtung geht fehl, und die Unterstellung, es gebe „nicht erinnerte Opfer“ des Nationalsozialismus, zeugt von blankem Unwissen: Die Gedenkstätte Deutscher Widerstand und die Neue Wache Unter den Linden als Wolfgang Börnsen ({0}) Mahnmal für alle Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft leisten diese Erinnerung, in würdiger und bewegender Weise. Auch München hat für eine verantwortungsbewusste Aufarbeitung der NS-Historie in Bezug auf Johann Georg Elser Beispiele gesetzt. Dort, wo er verhaftet wurde und sein Weg ins Konzentrationslager begann, erinnern ein Georg-Elser-Platz, eine Gedenktafel und die GeorgElser-Hallen an den Widerstandskämpfer.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002318, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Am 13. März dieses Jahres haben im Berliner Abgeordnetenhaus die beiden Koalitionsfraktionen SPD und Die Linke einen Antrag beschlossen, der das gleiche Anliegen verfolgt wie der jetzt von der Bundestagsfraktion Die Linke vorgelegte Antrag: nämlich Johann Georg Elsers in Berlin zu gedenken. In der Sache waren sich alle Fraktionen im Berliner Parlament einig, nur über Formulierungen wurde gestritten. Auch der in Berlin für Kultur zuständige Staatssekretär André Schmitz unterstützt das Projekt. Deshalb verstehe ich nicht, warum die Linke diesen Antrag zum jetzigen Zeitpunkt im Bundestag einbringt und nicht erst einmal die von Ihnen im Berliner Abgeordnetenhaus mitbeschlossene Prüfung der „Möglichkeiten zur Errichtung eines Denkzeichens für Johann Georg Elser an zentraler, öffentlich zugänglicher Stelle in Berlin“ abwartet, deren Ergebnisse bis zum 30. Juni 2008 vorgelegt werden sollen. Ich halte es für sinnvoll, dass das Land Berlin in eigener Trägerschaft Elsers gedenkt. Und natürlich ist auch zu überlegen, ob und wie der Bund das Anliegen unterstützen kann. Die Linke fordert in ihrem Antrag auch, im Umfeld des Deutschen Bundestages die bislang nicht erinnerten Opfer des NS-Regimes zu ehren. Sie sollten bei dieser Forderung allerdings berücksichtigen, dass jedes weitere Denkmal den Wert der bestehenden schmälert. In der Sache stimme ich dem Anliegen der Linken zu, das Andenken an den Widerstandskämpfer Johann Georg Elser im öffentlichen Bewusstsein zu stärken. Dafür habe ich als Schirmherr der Berliner Georg-Elser-Initiative mehrfach geworben. Johann Georg Elser blieb viel zu lange die Aufmerksamkeit und die öffentliche Würdigung verwehrt, die ihm gebührt. Das gilt im Übrigen für beide deutschen Staaten gleichermaßen. Das Gegenteil nämlich war der Fall: noch viele Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges hielt sich hartnäckig das Gerücht, Johann Georg Elser sei eine Marionette der Nationalsozialisten gewesen, die durch das Attentat den Mythos des von der Vorsehung beschützten Führers stärken wollten. André Schmitz sprach zu Recht von einer zweiten Hinrichtung: erst durch seine Henker und dann durch die öffentliche Wahrnehmung nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes. Johann Georg Elser war mutiger und weitsichtiger als die meisten anderen Deutschen. „Ich habe den Krieg verhindern wollen“, sagte er in den Verhörprotokollen zu seinem Motiv für das Attentat. Der Anschlag am 8. November 1939 im Münchner Bürgerbräukeller schlug fehl. Das mörderische Regime entfaltete sich unaufhaltsam weiter und kostete vielen Millionen Menschen auf brutalste Weise das Leben. Elser wurde am 9. April 1945, vier Wochen vor Ende des Krieges, hingerichtet. Erst Ende der 1960er-Jahre haben Historiker anhand der Verhörprotokolle der Gestapo die Alleintäterschaft Elsers nachgewiesen. Auch danach dauerte es noch viele Jahre, bis Johann Georg Elser in der offiziellen Gedenkkultur der Bundesrepublik gewürdigt wurde. Zu verdanken ist das den ehrenamtlichen Georg-Elser-Initiativen, von denen es mittlerweile sechs in Deutschland gibt. Ihnen gebührt mein Dank. Dieses dezentrale zivilgesellschaftliche Engagement ist charakteristisch für die Erinnerungskultur in Deutschland. Staatliches Erinnern kann und soll diese Initiativen nicht ersetzen. Erst das Engagement vieler, nicht nur hier in Berlin, sondern auch anderswo in Deutschland, hält das Andenken an Johann Georg Elser und die vielen anderen Widerstandskämpfer wach. Mir ist es wichtig, nicht nur Elsers Tat stärker ins öffentliche Bewusstsein zu heben, sondern ihn auch als Beispiel, als Vorbild für mutiges Eintreten eines einzelnen Menschen gegen staatliche Willkür und Unrecht wahrzunehmen. Die wichtigste Lehre des Widerstandes ist, Unrecht zu bekämpfen, bevor es die Chance erhält, an die Macht zu kommen. Es ist im Sinne von Johann Georg Elser, politisch wach zu sein und Feinde des demokratischen Zusammenlebens frühzeitig zu erkennen und zurückzudrängen. Lassen Sie uns im Ausschuss weiter darüber diskutieren, in welcher Weise und an welchem Ort Johann Georg Elsers gedacht werden kann und gedacht werden sollte und wie der Bund Berlin dabei unterstützen kann. Jede Debatte darüber hält die Erinnerung an diesen mutigen Widerstandskämpfer wach und hilft, Johann Georg Elser den prominenten Platz im kollektiven Gedächtnis einzuräumen, der ihm gebührt.

Christoph Waitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003859, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

1938, als die Nationalsozialisten und Adolf Hitler ihre Macht in Deutschland zementiert, Österreich an das Deutsche Reich angeschlossen und die Tschechoslowakei als Staat zerschlagen hatten, erkannte Georg Elser, dass Hitler und die Nationalsozialisten einen Angriffskrieg vorbereiteten. Er erkannte, wofür viele Zeitgenossen in Deutschland blind waren. Er sah den Krieg mit unvorstellbaren Ausmaßen, der vor Deutschland und Europa lag. Er erkannte für sich, dass nur ein Attentat auf Hitler diese Gefahr bannen konnte. Am 1. September 1939 begann Zweite Weltkrieg. In der Nacht vom 6. auf den 7. November 1939 setze Georg Elser den Zeitzünder der Bombe in Gang. Zu diesem Zeitpunkt war Polen längst überfallen, in die Kapitulation gezwungen und geteilt worden. Großbritannien und Zu Protokoll gegebene Reden Frankreich hatten dem Deutschen Reich den Krieg erklärt. Die Welt stand vor dem Abgrund, der zu über 55 Millionen toten Menschen führen sollte. „Ich habe den Krieg verhindern wollen“, sagte er später, nachdem er unter Folter seine Tat gestanden hatte. 1945, wenige Jahre nach dem Attentatsversuch von Elser, steht Europa am Ende des Zweiten Weltkrieges vor einem Desaster. Millionen von Kriegstoten, Flüchtlingen und Vertriebenen, Millionen von Menschen, die aus rassistischen oder weltanschaulichen Gründen im System der Konzentrationslager aus Hunger, Krankheit oder Entkräftung starben oder Opfer von Massenerschießungen und Vergasung wurden. Gerade im Lichte des millionenfachen Leids wünschte ich, Georg Elser hätte mit seinem Attentat auf Hitler Erfolg gehabt, und ich wünschte, dass diese Tat wirklich die Wirkungskette der Folgeereignisse unterbrochen und das massenhafte Leid und Elend verhindert hätte. Elser beschließt, Hitler zu töten, und bereitet das Attentat sorgfältig vor. Er platziert die Zeitbombe im Münchner Bürgerbräukeller. Er weiß, dass Hitler am 8. Novembers 1939, anlässlich des Vorabends des Hitlerputsches vom 9. November 1923, dort sprechen wird. Die Bombe ist in einer tragenden Säule platziert. Die Detonation bringt Teile der Decke zum Einsturz und begräbt das Rednerpult. Acht Menschen sterben, viele sind verletzt. Doch Hitler selbst verlässt zusammen mit weiteren NaziGrößen wenige Minuten vor der Explosion den Saal. Noch am gleichen Tag wird Elser an der Schweizer Grenze verhaftet und bis zum 9. April 1945, dem Tag seiner Hinrichtung, inhaftiert. Georg Elser verdient unsere Anerkennung für das, was er weitsichtig, selbstlos und unter großer persönlicher Gefahr getan hat. Das von Georg Elser verübte Attentat ist eines der wenigen, das tatsächlich ausgeführt wurde. Viele weitere Attentatspläne kamen über das Planungsstadium nie hinaus. So steht die Tat Elsers historisch neben dem Attentatsversuch vom 20. Juli 1944. Die Besonderheit seiner Tat kam auch durch die Inhaftierung und den Zeitpunkt seiner Hinrichtung zum Ausdruck. Man „hob“ Elser quasi auf, um ihn nach Kriegsende einem Schauprozess zu unterwerfen. Als Deutschland kurz vor der Kapitulation stand, wurde Elser zeitgleich mit Widerstandskämpfern wie Dietrich Bonhoeffer, Wilhelm Canaris und Hans von Dohnanyi hingerichtet. Georgs Elsers Rolle als Widerstandskämpfer wurde früher nicht ausreichend gewürdigt. Deswegen bin ich froh, dass die Heimatstadt von Elser, Königsbronn, die Gedenkstätte Deutscher Widerstand und die ErnstFreiberger-Stiftung die Erinnerung an Elser bewahren und die Leistung und die Motivation Elsers für viele Menschen erfahrbar machen. Heute gibt es bereits eine Vielzahl von Gedenkstätten und Denkmäler für Georg Elser. In der Heimat Elsers sind Straßen, Plätze und Schulen nach ihm benannt. Dort gibt es auch eine Georg-Elser-Gedenkstätte. Die Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin räumt Elser einen zentralen Platz in Ihrer Ausstellung ein, und die ErnstFreiberger-Stiftung errichtet im Rahmen der „Straße der Erinnerung“ ein Denkmal für Georg Elser in der Nähe des Bundesinnenministeriums am Spreebogen, das Ende September 2008 eingeweiht werden soll. Wenn jetzt das Land Berlin die Errichtung eines Denkmals plant, so ist dieses Vorhaben richtig und unterstützenswert. Ich denke, das Vorhaben ist in der Federführung des Landes Berlin auch gut aufgehoben. Der Antrag der Linken leidet an zahlreichen Mängeln. Er vermischt das Gedenken an Georg Elser mit dem Gedenken an andere Opfergruppen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Er entmündigt das Land Berlin selbst in einfachsten Fragen der Denkmalerrichtung. Er vermischt das Gedenken an Georg Elser sachwidrig mit Aspekten, die das in Vorbereitung befindliche Gedenkstättenkonzept des Bundes betreffen. Er bietet bis auf das lose Aneinanderreihen von nicht unmittelbar zusammenhängenden Forderungen keine praktisch verwertbaren Vorschläge. Der Deutsche Bundestag hat sich bereits in vielen anderen Fällen für die Errichtung von Denkmälern und Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus ausgesprochen und eingesetzt. Zuletzt wurde das Denkmal für die ermordeten Homosexuellen in Berlin eingeweiht. Ein Denkmal für die „als Zigeuner verfolgten“ Menschen befindet sich gegenwärtig im Bau. Darüber hinaus existiert eine Vielzahl weiterer Gedenkstätten, die an im Nationalsozialismus ermordete Menschen erinnern. Das Gedenken an den deutschen Widerstand hat in Berlin eine zentrale Stelle gefunden. Die Gedenkstätte Deutscher Widerstand befindet sich am Originalschauplatz im Bendlerblock in der Stauffenbergstraße. Hier haben die Attentäter des 20. Juli 1944 um Graf von Stauffenberg gewirkt, geplant und gehofft, und hier sind sie gescheitert, gefangen und standrechtlich erschossen worden. Die Gedenkstätte wird bereits durch den Bund unterstützt. Es zweifelt niemand daran, dass die Arbeit der Gedenkstätte und der Ort des Gedenkens angemessen sind. Ich verstehe nicht, warum die Linke den vorliegenden Antrag in den Deutschen Bundestag eingebracht hat. Soweit der Antrag über das Gedenken an Georg Elser hinausgeht, betrifft er das Gedenkstättenkonzept des Bundes. Hier sind wir noch mit den Beratungen beschäftigt. Das wissen auch Sie, liebe Kollegin Dr. Jochimsen. Auch wir warten auf die Vorlage des endgültigen Konzepts der Bundesregierung. Hier hat es immer wieder Verschiebungen gegeben. Jetzt soll das Konzept Ende Juni dieses Jahres vorgelegt werden. Der Antrag der Linken hilft aber nicht, die Vorlage des Konzepts zu beschleunigen. Ich schlage Ihnen vor, das Gedenkstättenkonzept abzuwarten und dann konkrete Änderungsvorschläge einzubringen. Dann können diese Vorschläge auch im richtigen Kontext diskutiert werden.

Dr. Lukrezia Jochimsen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003777, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Wer war Georg Elser? Der Sohn eines Bauern und Holzhändlers aus Württemberg, Jahrgang 1903, Volksschüler, Schreinerlehrling, der die Gesellenprüfung 1922 als Jahrgangsbester besteht, Tischler und Uhrmacher. Als Zu Protokoll gegebene Reden die Weltwirtschaftskrise ausbricht, wird er Mitglied im Rotfrontkämpferbund. Ab 1936 ist er Hilfsarbeiter in einer Heidenheimer Armaturenfabrik und erfährt dort von der Rüstungsproduktion im Auftrag der Nationalsozialisten. 1938 erlebt er eine Gedenkveranstaltung der NSDAP zum Hitler-Putsch. Das ist der historische Augenblick für seinen Entschluss, Hitler durch ein Attentat umzubringen. Er allein. „Einer muss es doch machen“, war seine Begründung. Ein Einzelner. Ein Einzelner, der als Erster viereinhalb schrecklich lange Kriegsjahre vor Stauffenberg und der Gruppe des 20. Juli versucht hat, Deutschland von seinem Diktator zu befreien und den gerade begonnen Krieg zu beenden. Das Sprengstoff-Attentat am 8. November 1939 im Münchener Bürgerbräukeller misslingt, weil Hitler wenige Minuten vor der Explosion den Versammlungssaal verlässt. Georg Elser wird noch am gleichen Tag verhaftet und gesteht am 13. November, die Tat allein geplant und durchgeführt zu haben. Zitat aus dem Verhör: „Die seit Herbst 1933 in der Arbeiterschaft von mir beobachtete Unzufriedenheit und der von mir seit Herbst 1933 vermutete unvermeidliche Krieg beschäftigten stets meine Gedankengänge. … Ich stellte allein Betrachtungen an, wie man die Verhältnisse der Arbeiterschaft bessern und einen Krieg vermeiden könnte. Die von mir angestellten Betrachtungen zeitigten das Ergebnis, dass die Verhältnisse in Deutschland nur durch eine Beseitigung der augenblicklichen Führung geändert werden könnten. Unter der Führung verstand ich die Obersten, ich meine damit Hitler, Göring und Goebbels. Durch meine Überlegungen kam ich zu der Überzeugung, dass durch die Beseitigung dieser drei Männer andere Männer an die Regierung kommen, die an das Ausland keine untragbaren Forderungen stellen, die kein fremdes Land einbeziehen wollen und die für eine Verbesserung der sozialen Verhältnisse der Arbeiterschaft Sorge tragen werden.“ Nach dem Eingeständnis der Tat wird Georg Elser vier Jahre lang im KZ Sachsenhausen und im KZ Dachau immer wieder verhört und gefoltert und am 9. April 1945 - einen Monat vor der bedingungslosen Kapitulation erschossen. Warum sollten wir, müssen wir dieses Mannes im Jahr 2008 ff. - mehr als hundert Jahre nach seiner Geburt und mehr als sechzig Jahre nach seinem Tod - gedenken, und zwar in Berlin im nationalen Rahmen? Der Grund ist beschämend: weil genau dies in den vergangenen Nachkriegs-Jahrzehnten unterblieb. Ich zitiere Peter Steinbach und Johannes Tuchel aus der „Frankfurter Rundschau“ vom 18. November 1999: „Georg Elser hatte keiner Elite angehört, der man das Recht auf Widerstand zubilligte; keine gesellschaftliche Großgruppe setzte sich für sein Andenken ein. Er blieb Werkzeug der Machthaber, nicht aber ein Mensch, der sich selbst in Übereinstimmung mit seinem Gewissen einen Handlungsauftrag gegeben hatte. … Lange Zeit wurde übrigens in beiden Teilen Deutschlands nicht akzeptiert, dass ein Arbeiter ohne Rücksicht auf sich und seine unmittelbaren Angehörigen eine Tat bis ins Detail geplant, gewagt und durchgeführt hatte, zu der sich andere weder 1939 noch später entschließen konnten.“ „In der Bundesrepublik war Elsers Widerstand gegen den Nationalsozialismus nach 1945 noch umstrittener als die gesamte Gegnerschaft zum Regime. Immer wieder rankten sich um seine Tat neue Gerüchte. Diffamierungen aus der NS-Zeit wirkten fort und überlagerten sich nicht selten mit teils bizarren Nachkriegsdeutungen. Georg Elser war eine Herausforderung: Er machte deutlich, dass ein einfacher Mann aus dem Volke sich zu einer weltgeschichtlichen Tat aufraffen konnte. Er strafte all jene Lügen, die sich weiterhin einredeten, sie hätten dem Terror des NS-Staates nichts entgegensetzen können. Der Durchschnittsbürger, das zeigte Elsers Beispiel, war keineswegs zum Mitläufer bestimmt - er konnte dem Rad des Staates durchaus in die Speichen greifen.“ „Kein Denkmal erinnert an ihn“ heißt es am Ende des Films „Georg Elser - Einer aus Deutschland“ von Klaus Maria Brandauer aus dem Jahr 1989. Zwar hat es seitdem eine große Ausstellung über Georg Elser gegeben, die in Berlin und 33 anderen Städten Deutschlands zu sehen war und heute den Mittelpunkt der Elser-Gedenkstätte in Königsbronn darstellt; zwar gibt es eine Gedenktafel in München, einen Gedenkstein in Heidenheim, eine Schule mit seinem Namen, ein Archiv und sogar eine Sonderbriefmarke, aber in Berlin erinnert an dieses Vorbild des Deutschen Widerstands bisher nichts. Seit Jahren plädiert Rolf Hochhuth dafür, Georg Elser mit einem Denkmal in Berlin zu ehren. Er begründet das so: „Elser war der Einzige von 80 Millionen, der klar genug geblieben war, um zumindest den Versuch zu unternehmen, Hitler umzubringen“. Und es war Rolf Hochhuth, der im Februar dieses Jahres dem Berliner Abgeordnetenhaus vorgeschlagen hat, ein Denkzeichen für Georg Elser an zentraler, öffentlich zugänglicher Stelle zu errichten - auf dem Terrain der früheren Reichskanzlei. Also, Ehre dem einsamen Attentäter, der Vorbild gerade für moderne Menschen sein könnte. Die Linksfraktion im Bundestag sieht in diesem Vorschlag ein gesamtgesellschaftliches Anliegen - und keine Sache Berlins allein. Eine Ehrung Elsers mit vorhergehender breiter gesellschaftlicher Diskussion würde die politische Kultur der Bundesrepublik bereichern. Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf: im Einvernehmen mit dem Land Berlin die Trägerschaft für eine Ehrung von Johann Georg Elser zu übernehmen; eine Konzeption vorzulegen, in der dargestellt wird, wie und an welchen Orten im Umfeld des Deutschen Bundestages die bislang nicht erinnerten Opfer des verbrecherischen NS-Regimes ({0}) geehrt werden sollten; darzustellen, wie die Breite des politischen Widerstandes auch außerhalb der mit dem 20. Juli 1944 verbundenen Gedenkstätte Deutscher Widerstand im Berliner Stadtraum erinnert werden kann und in diesem Zusammenhang zu prüfen, ob tatsächlich und gegebenenfalls auf welche Weise der Ort der früheren Reichskanzlei als der eigentlichen politischen Machtzentrale des NS-Regimes in das öffentliche Bewusstsein der Topografie des NS-Terrors eingefügt werden kann und sollte. Dazu sollte im Ausschuss für Kultur und Medien eine Anhörung stattfinden mit: Klaus Maria Brandauer, Rolf Hochhuth, Prof. Jutta Limbach, Prof. Peter Steinbach, Prof. Johannes Tuchel und anderen. Zu Protokoll gegebene Reden

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003132, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wenn ich an Johann Georg Elser und sein gescheiter- tes Attentat auf Adolf Hitler denke, dann gerate ich in re- trospektive Spekulationen: Wie wäre die Weltgeschichte verlaufen, wenn Hitler damals eine viertel Stunde länger im Münchner Bürgerbräukeller geblieben wäre? Hätte es dann diesen schrecklichen Krieg nicht gegeben? Wäre der millionenfache Mord an den europäischen Juden dann nicht geschehen? Niemand kann das wissen und doch erfüllt uns das tragische Scheitern Elsers mit der seltsamen Ahnung, dass die Weltgeschichte oft von Zufäl- len gesteuert wird. Hinzu kommt das persönliche Schick- sal Elsers, der 1945 in Dachau ermordet wurde, aber nach dem Krieg lange Zeit nicht angemessen gewürdigt wurde, weil er vielen als Marionette der Nationalsozialis- ten galt. Dies ist mittlerweile widerlegt, Elser war ein mu- tiger Einzeltäter mit einer eigenen moralischen Agenda. Der Schriftsteller und Dramatiker Rolf Hochhuth mag Ähnliches gedacht und gefühlt haben, als er den Vor- schlag machte, ein öffentliches Denkzeichen für Johann Georg Elser in Berlin einzurichten, und zwar am Ort der früheren Reichskanzlei, also an einer Stelle, die als Schaltzentrale des nationalsozialistischen Menschheits- verbrechens gilt. Die Linkspartei in Berlin hat sich diesen Vorschlag zu eigen gemacht und damit die Unterstützung aus anderen Fraktionen gewonnen. Im Februar hat das Berliner Abgeordnetenhaus denn auch einen entspre- chenden Beschluss gefasst. Doch wünsche ich mir, dass, bevor wir ein solches Pro- jekt in die Wege leiten, einige inhaltliche und formale Grundsatzfragen geklärt werden. Inhaltlich wichtig finde ich die Frage, wie anhand einer Einzelperson das breite Spektrum des kommunistischen Widerstands dargestellt oder zumindest angedeutet werden kann. Auch müssen wir darüber nachdenken, wie sich dieser neue Erinne- rungsort systematisch in das dichte Gesamtensemble der Berliner Gedenkstätten einfügen kann. Welche Korres- pondenzen und pädagogischen Synergien wären dabei denkbar? Und formal-ästhetisch wäre mir doch sehr da- ran gelegen, dass wir kein klassisches Heldendenkmal in Bronze aufstellen, sondern bei der Ausschreibung die ge- rade in Berlin hochaktive junge Kunstszene um zeitgemä- ßere, gleichsam „experimentellere“ Vorschläge bitten. Ich verstehe den Begriff „Denkzeichen“ im Beschluss des Berliner Abgeordnetenhauses nämlich genau so: dass es darum geht, mit subtilen Mitteln eine historische und politische Nachdenklichkeit wachzurufen. Über die weiterführenden Forderungen im vorlie- genden Antrag bezüglich der Erinnerung an andere Op- fergruppen des Nationalsozialismus - wie etwa die sowjetischen Kriegsgefangenen oder die osteuropäische Intelligenz - werden wir im Ausschuss für Kultur und Me- dien zu beraten und zu diskutieren haben.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/9419 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a und 20 b auf: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung haftungsrechtlicher Vorschriften des Atomgesetzes und zur Änderung sonstiger Rechtsvorschriften - Drucksache 16/9077 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0}) - Drucksache 16/9472 - Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Georg Nüßlein Angelika Brunkhorst Hans-Josef Fell b) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Protokollen vom 12. Februar 2004 zur Änderung des Übereinkommens vom 29. Juli 1960 über die Haftung gegenüber Dritten auf dem Gebiet der Kernenergie in der Fassung des Zusatzprotokolls vom 28. Januar 1964 und des Protokolls vom 16. November 1982 und zur Änderung des Zusatzübereinkommens vom 31. Januar 1963 zum Pariser Übereinkommen vom 29. Juli 1960 über die Haftung gegenüber Dritten auf dem Gebiet der Kernenergie in der Fassung des Zusatzprotokolls vom 28. Januar 1964 und des Protokolls vom 16. November 1982 ({1}) - Drucksache 16/9078 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({2}) - Drucksache 16/9473 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Georg Nüßlein Angelika Brunkhorst Hans-Josef Fell Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Dr. Georg Nüßlein, CDU/CSU, Christoph Pries, SPD, Angelika Brunkhorst, FDP, Hans-Kurt Hill, Die Linke, Sylvia Kotting-Uhl, Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Georg Nüßlein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Regelungsgegenstand der vorliegenden Gesetzesentwürfe ist zentral die Ratifizierung der Änderungsprotokolle zum Pariser Übereinkommen sowie zum Brüsseler Zusatzübereinkommen und die entsprechende Umsetzung in nationales Recht, soweit erforderlich. Das Atomhaftungsrecht ist ein von internationalen Übereinkommen geprägtes Rechtsgebiet. Mit dem Pariser Übereinkommen wurde eine multilaterale Haftungsgrundlage für nukleare Schäden geschaffen. Dieses wurde durch das Brüsseler Zusatzübereinkommen im Hinblick auf weitere Entschädigungsmittel ergänzt. Die Überarbeitung dieser internationalen Übereinkommen erfolgte insbesondere mit der Zielsetzung, die multilaterale Haftungsgrundlage für Nuklearschäden weiter zu verbessern und das Nuklearhaftungsniveau anzuheben. An einer substanziellen Optimierung des internationalen Haftungsrechts muß uns fraktionsübergreifend gelegen sein. An dieser Stelle begrüße ich die Haltung des Koalitionspartners in der ersten Lesung der Kollege Pries spricht hier korrekterweise von einer deutlichen Verbesserung im Bereich der internationalen Atomhaftung. An die fraktionsübergreifende energiepolitische Gesamtverantwortung will ich an dieser Stelle aber auch jenseits des Haftungsrechts appellieren: Ich plädiere nach wie vor für die notwendigen Laufzeitverlängerungen unserer deutschen Kernkraftwerke, weil ich nicht weiß, wie wir im Bereich des grundlastfähigen Stroms die Kernenergie bis zum anvisierten Finalausstieg spätestens 2023 ersetzen sollen - wenn wir nicht in Kauf nehmen wollen, dass statt der Kernenergie verstärkt fossile Energieträger eingesetzt werden und diese wiederum die C02-Bilanz entscheidend verschlechtern. Wir brauchen die Kernenergie als Brückentechnologie in einen neuen Energiemix. Auch wenn mir das Thema der energiepolitischen Gesamtverantwortung angesichts der Energieversorgungssicherheit und rasant ansteigender Energiekosten unter den Nägeln brennt, ich will zurückkommen auf die heute zu behandelnde Haftung im Bereich der Kernenergie. Bei der Überarbeitung der internationalen Übereinkommen sind wichtige, bereits bestehende Haftungsgrundsätze beibehalten worden. So ist beim Brüsseler Zusatzübereinkommen das dreigliedrige Entschädigungssystem geblieben, es ist jedoch mit der Zielsetzung verbesserter Haftungskonditionen jeweils auf jeder Stufe eine Tranchenerhöhung erfolgt. Beim Pariser Überkommen sind wichtige Haftungsprinzipien - wie die Gefährdungshaftung des Kernanlageinhabers oder die Haftungsbefreiung nur in abschließend aufgezählten Fällen besonderer höherer Gewalt - beibehalten worden. Neue Regelungsinhalte zum Pariser Überkommen sind etwa die Haftungserhöhung des Kernanlageninhabers um ein Mehrfaches auf mindestens 700 Millionen Euro oder die entscheidende Anhebung der Mindesthaftung im Bereich der Transporte nuklearen Materials. Mit der Erhöhung der Haftungs- und Deckungssummen wurde dem Umstand Rechnung getragen, dass in einigen Vertragsstaaten noch immer verhältnismäßig niedrige Haftungshöchstgrenzen bestanden. Neben der beschriebenen Anhebung der Haftungsund Deckungssummen hat der Opferschutz auch dadurch eine wesentliche Verbesserung erfahren, dass der territoriale Anwendungsbereich erweitert wurde. Eine weitere wichtige Präzisierung und Besserstellung zugunsten des Opferschutzes erfolgte durch die Aufnahme einer Regelung zum Staatenklagerecht für geschädigte Bürger sowie die vertragsstaatliche Pflicht zur Bestimmung eines Gerichts für nukleare Schadensersatzprozesse. Im Übrigen wurde der anwendungsrelevante Schadensbegriff klargestellt und ausgeweitet. Der Schadensbegriff bezieht sich nun unter anderem auch ausdrücklich auf Umweltschäden, womit man insbesondere dem Anspruch an ein modernes Umwelthaftungsrecht gerecht wird. Vor diesem Hintergrund sind die Gesetzesvorlagen im Sinne des Opferschutzes zu begrüßen, weil sie im Vergleich zur bisherigen internationalen Rechtslage eine erhebliche Verbesserung bedeuten. Wichtig ist deshalb das baldige Inkrafttreten dieser verbesserten Haftungsgrundsätze. Die von der Kollegin Brunkhorst in der ersten Lesung angeführte Kritik, dass mit den debattierten Gesetzesentwürfen zielgerichtet insbesondere kerntechnischen Forschungseinrichtungen das Leben finanziell schwerer gemacht werden solle, weise ich entschieden zurück. Richtig ist allein, dass der deutsche Gesetzgeber im Zuge der Umsetzung verbesserter internationaler Haftungsstandards einen davon unabhängigen, aber notwendigen Nachbesserungsbedarf im Bereich des Verwaltungskostengesetzes sowie der Kostenverordnung zum Atomgesetz gesehen hat: Künftig kann das Bundesamt für Strahlenschutz auch von Bund, Ländern, Gemeinden und bestimmten juristischen Personen des öffentlichen Rechts sowie von gemeinnützigen Forschungseinrichtungen Gebühren erheben. Damit soll aber gerade nicht den kerntechnischen Forschungseinrichtungen beziehungsweise der Forschung an sich der Boden entzogen werden. Mit der modifizierten Kostentragungsregelung werden nur die rechtlichen Voraussetzungen für die Refinanzierung jener Kosten geschaffen, die dem Bundesamt für Strahlenschutz durch die Genehmigung der Anwendung radioaktiver Stoffe oder ionisierender Strahlung zum Zwecke der medizinischen Forschung entstehen. Mit diesem Refinanzierungsinstrument wird lediglich gewährleistet, dass die mit den entsprechenden Aufgaben betrauten Stellen im Bundesamt dauerhaft gesichert werden.

Christoph Pries (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003874, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Der Deutsche Bundestag verabschiedet heute zwei Gesetzentwürfe zur internationalen Atomhaftung. Damit werden das Pariser Übereinkommen von 1960 und das Brüsseler Zusatzabkommen von 1963 über die Haftung gegenüber Dritten auf dem Gebiet der Kernenergie grundlegend novelliert. Mit der Ratifizierung und Umsetzung der sogenannten Pariser Atomhaftungsprotokolle vom 12. Februar 2004 erreichen wir substanzielle Verbesserungen beim internationalen Opferschutz im Falle eines nuklearen Schadens. Zu Protokoll gegebene Reden Aufgrund des Ausmaßes und des potenziell grenzüberschreitenden Charakters nuklearer Ereignisse und Schäden war man sich bereits seit den 1950er-Jahren darüber im Klaren, dass es eine internationale Kooperation in diesem Bereich geben müsse. Der nach bisherigen Erkenntnissen zum Glück glimpflich verlaufene Kühlwasserverlust im Primärkreislauf des slowenischen Atomkraftwerkes Krsko am gestrigen Abend macht das wieder einmal deutlich. Lassen Sie mich noch einmal kurz die wesentlichen Verbesserungen skizzieren, die durch die Verabschiedung der beiden Gesetzentwürfe erreicht werden: Die zur Verfügung stehenden Haftungssummen der Anlagenbetreiber werden von 15 auf 700 Millionen Euro pro nuklearen Schaden laut Pariser Übereinkommen erhöht. Die Haftungssummen werden von Höchst- zu Referenzbeträgen umgewandelt. Eine unbegrenzte Haftung des Betreibers einer Atomanlage - wie in Deutschland im Atomgesetz verankert - wird ausdrücklich zugelassen. Die Höchstsummen garantierter Ersatzleistungen laut Brüsseler Zusatzübereinkommen werden von 300 Millionen auf 1,5 Milliarden Euro deutlich angehoben. Die Haftungsregelungen des Übereinkommens werden ausgedehnt. Davon profitieren vor allem diejenigen europäischen Staaten, die über keinerlei Atomanlagen verfügen - zum Beispiel die Republik Irland und Österreich -, da das Übereinkommen nun automatisch für diese Länder gilt. Der Kreis der ersatzfähigen Schäden wird durch eine Neudefinition des Begriffs „nuklearer Schaden“ deutlich erweitert. Dadurch werden in Zukunft insbesondere Umweltschäden erfasst. Die weitgehende inhaltliche Deckungsgleichheit der Bestimmungen der regionalen Pariser und Brüsseler Atomhaftungsübereinkommen und des weltweiten Wiener Atomhaftungsübereinkommens wird wiederhergestellt. Dies war nach der Revision des Wiener Übereinkommens 1997 erforderlich geworden. Ich hatte anlässlich der ersten Lesung der vorliegenden Gesetzentwürfe meine Hoffnung auf eine breite Zustimmung im Bundestag zum Ausdruck gebracht. Die gestrigen Beratungen im Umweltausschuss haben mich leider eines Besseren belehrt. Besonders verwundert bin ich über die Ablehnung der Grünen: Wurden doch die Pariser Atomhaftungsabkommen noch unter der Federführung des grünen Umweltministers Jürgen Trittin ausgehandelt. Statt zum eigenen Regierungshandeln zu stehen, ziehen Sie sich mit Ihrem Entschließungsantrag zur Haftungsfrage im Atomgesetz auf Maximalpositionen zurück. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, mit der Frage der Versicherungsfähigkeit von Atomanlagen weisen Sie auf ein altbekanntes Problem hin. Professor Traube hat dies in der öffentlichen Anhörung des Umweltausschusses anlässlich des 20. Jahrestages der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl im Jahr 2006 auf den Punkt gebracht. Ich zitiere: Wir haben das Problem, dass der Unfall, der große Unfall, sehr unwahrscheinlich ist, aber seine Folgen sehr, sehr groß wären. Das ist ein Problem, das wir mit Null mal Unendlich bezeichnen. Daraus folgt: Die Versicherungssumme für ein Atomkraftwerk ist grundsätzlich immer zu niedrig oder zu hoch. Mit dem Atomkonsens von 2000 und der Novelle des Atomgesetzes von 2002 haben wir dieses Dilemma durch einen politischen Kompromiss gelöst. Dieser Kompromiss sieht eine unbegrenzte Haftung des Anlagenbetreibers vor, der durch eine Deckungssumme von 2,5 Milliarden Euro je Schadensfall abgesichert wird. Die damalige Novelle des Atomgesetzes stellte eine deutliche Verbesserung des Opferschutzes dar und geht weit über das hinaus, was wir hier heute für das internationale Atomhaftungsrecht beraten. Wir sind uns alle bewusst, dass die Folgen eines GAUs in einem deutschen Atomkraftwerk selbst die Betriebsvermögen der vier großen deutschen Energieversorger zusammengenommen bei weitem übersteigen würden. Die Internationale Atomenergie-Organisation, der man eine zu große Nähe zu Atomkraftgegnern nicht unterstellen wird, schätzt in ihrem Tschernobyl-Bericht aus dem Jahr 2005 den volkswirtschaftlichen Schaden der Reaktorkatastrophe von 1986 auf mehrere 100 Milliarden USDollar. Allein diese Zahl macht deutlich: Die Risiken der Atomenergie tragen in letzter Konsequenz immer die Bürgerinnen und Bürger. Es ist vor diesem Hintergrund und mit Blick auf die milliardenschweren staatlichen Subventionen für die Atomenergie in den vergangenen Jahrzehnten Augenwischerei, wenn der RWE-Konzern jetzt erwägt, einen reinen Atomstromtarif anzubieten. Dies ist ein durchsichtiges Manöver, die wahren Kosten der Atomenergie zu verschleiern. Ich bin sicher, die Verbraucherinnen und Verbraucher werden die richtige Antwort geben. Ich möchte in diesem Zusammenhang aber auch noch auf einen anderen Aspekt hinweisen: Allen Befürwortern der Atomenergie muss klar sein, dass jeder schwere Störfall in einem Atomkraftwerk die Existenz der gesamten Atomwirtschaft grundsätzlich infrage stellt. Wer fordert, Milliarden in diese unsichere Form der Energiegewinnung zu pumpen, sollte die Bürgerinnen und Bürger auch auf das Risiko eines Totalverlustes hinweisen. Ich betone deshalb von dieser Stelle noch einmal: Wir stehen zum Atomausstieg. Zu den vorliegenden Gesetzentwürfen fasse ich nochmals zusammen: Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt die vorliegenden Gesetzentwürfe als wesentliche Verbesserung des Opferschutzes im internationalen Atomhaftungsrecht. Wichtig ist jetzt, dass die Pariser Atomhaftungsprotokolle möglichst rasch in Kraft treten. Wir leisten mit der heutigen Entscheidung unseren Beitrag dazu.

Angelika Brunkhorst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003675, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Wie bereits in der ersten Lesung üben wir Liberale teilweise Kritik an den Gesetzentwürfen der Bundesregierung zu den Pariser Atomhaftungs-Protokollen 2004. Wir bleiben aber weiterhin dabei, dass wir beiden Gesetzen zustimmen, zumal es um die Umsetzung international ratifizierter Verträge geht. Die Gesetzentwürfe sehen vor, dass die Haftungshöchstsummen deutlich erhöht werden; das gilt für Betreiber kerntechnischer Anlagen und einzelne Vertragsstaaten genauso wie für die Gemeinschaft der Vertragsstaaten. Das begrüßen wir. Begrüßenswert ist ebenso, dass die Entschädigung für Bürger verbessert wird, egal ob das betreffende Ereignis im eigenen oder im Nachbarland stattgefunden hat. Zu Protokoll gegebene Reden Wir bleiben aber bei unserer Kritik: Es ist ein Unding, dass die Bundesregierung dieses schlichte Artikelgesetz benutzt, um dem Bundesamt für Strahlenschutz zulasten der Kommunen und Länder und insbesondere der deutschen Kernforschungseinrichtungen 350 000 Euro mehr an jährlichen Einnahmen zu gewähren. Ich sage es an dieser Stelle noch einmal in aller Deutlichkeit: Unsere Forschungseinrichtungen sind chronisch unterfinanziert. Sie benötigen dieses Geld dringend, um ihre internationalen hohen Standards zu halten. Liebe Kollegen von SPD und Grünen: Ob mit oder ohne Atomausstieg, wir brauchen Fachkräfte - komme was wolle - für den Rückbau von Kernkraftwerken genau wie im Falle einer Verlängerung der Laufzeiten. Leider mussten in der vergangenen Woche aber die Gewerkschaft Technik und Naturwissenschaft im öffentlichen Dienst und Tanja Gönner, Umweltministerin von BadenWürttemberg, bestätigen, was wir seit langem wissen: Die Bewerberzahlen für Studienplätze in Fächern, die für eine funktionierende Atomaufsicht relevant sind, sind in den letzten Jahren dramatisch eingebrochen. Selbst das Bundesumweltministerium - man höre und staune - erkennt den Ernst der Lage: Der Fachkräftemangel sei ein Thema, mit dem sich die Behörden auseinandersetzen müssten. Es ist verständlich, dass die wenigen Fachleute, die es hierzulande gibt, sich von den hohen Gehältern locken lassen, die die Privatwirtschaft zahlt. Das ist aber noch lange kein Grund, die Kernforschung gleich ganz aufzugeben und dazu noch die Forschungsbedingungen zu verschlechtern. Aber auf eine genau solche Einstellung lässt das Verhalten der Bundesregierung bezüglich der vorliegenden Gesetzentwürfe schließen. Der Bundesrat hat die Zeichen der Zeit erkannt und der Bundesregierung empfohlen, die Beschneidung der Forschungseinrichtungen rückgängig zu machen. Die Bundesregierung aber hat diesen Einwand geflissentlich ignoriert und fördert lieber sein eigenes Amt. „Jeder ist sich selbst der nächste“ heißt ein kluges Sprichwort. Das mag sich auch die Bundesregierung gedacht haben. Aber hier geht die Rechnung nicht auf. Weitaus eigennütziger wäre es - und in diesem Fall auch für alle anderen besser -, die deutsche Kernforschung zu fördern. Das hat Staatssekretär Meyer-Krahmer noch vor wenigen Wochen behauptet zu tun. Und nun das. Deutschland darf seine Führungsrolle in der kerntechnischen Forschung nicht durch Zusatzbelastungen behindern - im Sinne der Sicherheit vorhandener und künftiger Anlagen, der Nichtverbreitung, der Behandlung radioaktiver Abfälle und der Stilllegung ausgedienter kerntechnischer Anlagen. Die FDP-Bundestagsfraktion kritisiert die vorgelegten Gesetzentwürfe in Teilen, befürwortet aber die Umsetzung internationaler Abkommen auf nationaler Ebene. Wir stimmen den Gesetzentwürfen der Bundesregierung daher zu.

Hans Kurt Hill (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003767, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Die CDU setzt auf die gefährliche Atomkraft. Was das kostet, darüber will sie aber nicht reden. Durchwinken heißt die Devise, wenn es um die Folgen und volkswirtschaftlichen Auswirkungen der Atomkraft geht. Das wurde am vergangenen Mittwoch in der Sitzung des Umweltausschusses deutlich. Mit der Vorlage der Bundesregierung sollen zwar unter anderem die Haftungssummen für Atomtransporte neu festgelegt und EU-weit vereinheitlicht werden. Doch bei genauerem Hinsehen entpuppt sich der Entwurf als Luftnummer. Die Mindesthaftung bei Atomtransporten soll 80 Millionen Euro betragen. Bei einem Unfall mit abgebranntem Nuklearmaterial wird diese Summe nicht einmal im Ansatz reichen. Die Folgen eines Schadenfalls würden das Hundertfache kosten. Gleichzeitig klammert die Änderung des Atomgesetzes eine längst überfällige Haftungsregelung für deutsche Atomkraftwerke aus. Die Bundesregierung hält es nicht für nötig, das Kassemachen der Atomkonzerne auf Kosten der Bürgerinnen und Bürger zu beenden. So heißt es im Gesetzentwurf, die Änderung „erfordert keine inhaltlichen Anpassungen des nationalen Rechts“. Damit wir uns richtig verstehen: Die Energiebosse haben für ihre Atomkraftwerke jeweils eine Haftungsbegrenzung von 2,5 Milliarden Euro. Die Folgekosten eines Kernschmelzeunfalls werden aber mit 500 Milliarden bis 5 Billionen Euro angegeben. Ungeheure Summen würden im Ernstfall auf die Allgemeinheit abgewälzt. Das würde auch die deutsche Volkswirtschaft für längere Zeit lähmen. So etwas ist nicht hinnehmbar und verdeckt die tatsächlichen Kosten der Atomenergienutzung. Diese rechnet sich für die Anlagenbetreiber doch nur, weil die enormen Zusatzkosten und Risiken auf die öffentliche Hand abgewälzt werden. Bezieht man die sozialen, ökologischen und gesundheitlichen Risiken in die Stromrechnung mit ein, würde Atomstrom je Kilowatt nicht 2 Cent, sondern 2 Euro kosten. Damit ist klar: Atomenergie ist unwirtschaftlich, gefährlich und nicht beherrschbar - ganz abgesehen davon, dass die Frage der Endlagerung hochradioaktiver Stoffe wohl nie abschließend geklärt werden kann. Die Linksfraktion fordert die Bundesregierung deshalb auf, die Haftungsfrage auch in Deutschland mit der vorliegenden Gesetzesvorlage neu zu regeln. Man muss schließlich auch zur Kenntnis nehmen, dass die Energiekonzerne mit jedem der maroden Atomblöcke pro Jahr mindestens 300 Millionen Euro Profit machen. Die wahren Kosten der Atomenergie müssen endlich offengelegt werden. Letztendlich muss die Konsequenz aber lauten: Raus aus der gefährlichen Atomenergie, so schnell wie möglich. Einige Verbesserungen bringt der Entwurf aber: Das Bundesamt für Strahlenschutz kann zukünftig Kosten für Verwaltungsaufgaben in Rechnung stellen. Das ist zu begrüßen; denn es ist nicht gerechtfertigt, dass die Bürgerinnen und Bürger die Kosten der gefährlichen Atomenergie durch die Hintertür bezahlen. Die Linke wird sich deshalb zu den Gesetzentwürfen enthalten. Zu Protokoll gegebene Reden

Sylvia Kotting-Uhl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003792, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

In der vergangenen Woche habe ich bei der ersten Debatte zur Änderung des deutschen Atomrechts auf die Gefahren hingewiesen, die mit der Atomkraft einhergehen. Aus Sicht der Grünen sollte die Haftung für dieses Risiko durch die Betreiber sichergestellt werden. Die Höhe der gesetzlich festgelegten Deckungssumme, die sich im Promillebereich der tatsächlichen Kosten bei einem schwerwiegenden Atomunfall bewegt, muss dringend angehoben werden. Der jüngste Fall eines ernsten Störfalls in einem europäischen AKW liegt erst wenige Stunden zurück. Im slowenischen AKW Krsko ist radioaktives Kühlwasser aus dem Primärkühlsystem des Reaktors ausgetreten. Fachleute gehen davon aus, dass dies zu einem Druckabfall im System geführt hat. Das ist die erste Stufe zu einer Kernschmelze. Eine Kernschmelze hat 1986 zur Katastrophe in Tschernobyl geführt. Dass gestern in Slowenien eine derart ernste Situation eintreten konnte, dass das AKW heruntergefahren werden musste, wie schon mehrfach in den vergangenen Jahren, alles, obwohl es mit deutscher Technologie nachgerüstet wurde, zeigt die Vermessenheit der heimischen Atomlobby. Hier wird nach wie vor dreist behauptet, deutsche Atomkraftwerke seien „sicher“. Auch die Aussage von Kommissar Piebalgs und von Umweltminister Gabriel, alles sei im Griff, das europäische Informationssystem funktioniere bestens und die Medien würden mit ihrer Berichterstattung Ängste schüren, offenbart eine politische Ignoranz gegenüber den Gefahren der Atomkraft, die wir zurückweisen. Vielmehr ist festzuhalten, dass sich bei einem Verlust von Kühlwasser der Reaktor durch schnelles Herunterfahren derart aufheizen kann, dass es zu einer Kernschmelze kommt. Ein Leck im Kühlsystem ist also wahrlich keine Lappalie, sondern einer der schlimmsten Störfälle, zu dem es in einem Atomkraftwerk kommen kann. Das Risiko der Atomkraft bleibt unbeherrschbar. Deshalb ist es zwingend, eine obligatorische Haftung in der vollen Höhe des möglichen Schadens gesetzlich festzuschreiben. Der Änderung des Atomgesetzes können wir deshalb nicht zustimmen. Es bleibt bei unserer Forderung nach einer deutlichen Erhöhung der garantierten Deckungsvorsorge. Die garantierte Deckung im Promillebereich eines möglichen Schadens ist nicht hinnehmbar. Tatsächlich müsste das gesamte Risiko versichert werden. Darüber hinaus ist es an der Zeit, die Organisationsstruktur der finanziellen Vorsorge zu verändern. Wir sind der Ansicht, dass diese Geldmittel unter staatliche Kontrolle gestellt werden sollten. Die Erträge aus diesen Rücklagen sollten in zukunftsweisende Technologien im Bereich der Erneuerbaren investiert werden.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Wir kommen zu den Abstimmungen. Tagesordnungspunkt 20 a. Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9472, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/9077 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU und FDP bei Gegenstimmen der Grünen und Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in dritter Beratung mit demselben Stimmenergebnis wie in zweiter Beratung angenommen. Tagesordnungspunkt 20 b. Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9473, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/9078 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU und FDP bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike Höfken, Cornelia Behm, Nicole Maisch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Kein Leugnen der BSE-Gefahren - Tierfette und -mehle raus aus der Lebensmittelerzeugung - Rein in die energetische Verwertung - Drucksache 16/9098 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({0}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Franz-Josef Holzenkamp, CDU/CSU, Dr. Wilhelm Priesmeier, SPD, Hans-Michael Goldmann, FDP, Dr. Kirsten Tackmann, Die Linke, Ulrike Höfken, Bündnis 90/Die Grünen.

Franz Josef Holzenkamp (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003775, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ihr Antrag offenbart mal wieder Ihre typische schwarz-weiß Denke. Unter der Überschrift „Kein Leugnen der BSE-Gefahren“ breiten Sie vor uns einmal mehr Ihre bekannten Vorurteile aus: Intensive Landwirtschaft ist schlecht. Nur der Ökolandwirt ist ein guter Landwirt. Die fleischverarbeitende Wirtschaft besteht aus lauter Kriminellen. Gentechnik ist per se gefährlich. Das ist ärgerlich und raubt uns die Zeit für wirklich wichtige sachorientierte Politik. Sie geben wieder mal keine Antwort auf drängende Fragen in der Landwirtschaft. Ich bitte Sie inständig: Ersparen Sie uns diesen Quatsch zukünftig. Besonders ärgerlich ist: Dieser Antrag ist nicht nur inhaltlicher Quatsch, er ist zudem fahrlässig populistisch. Sie spielen hier mit den Ängsten der Verbraucher und malen ein BSE-Schreckensszenario an die Wand, das mit der Wirklichkeit nichts zu tun hat. Verstehen Sie mich nicht falsch, niemand will die aufgetretenen Fälle von BSE oder der Creutzfeldt-JakobKrankheit relativieren. Aber Sie benutzen Ihr BSE-Schreckensszenario, um die Landwirte, die intensive Tierhaltung betreiben, zu diffamieren. Ist es bei Ihnen immer noch nicht angekommen: Jeder Tierhalter in Deutschland hat höchste Tierschutz- und Umweltstandards einzuhalten. Aber die BSE-Erreger allein reichen nicht aus, um Ihrem Theaterstück richtig Pfeffer zu geben. Der zweite Bösewicht wartet schon an der nächsten Ecke: Die durch und durch kriminelle Fleischwirtschaft, die ob des größten Profites nicht nur Gammelfleischskandale am laufenden Band produziert. Nein, hier wird auch munter mit BSE-verseuchtem Futtermittel herumgesudelt. Für die Kollegen von den Grünen also noch einmal: Nein, nicht die gesamte fleischverarbeitende Branche ist kriminell. Ja, es gibt - wie überall - schwarze Schafe. Und die gilt es zu scheren. Deswegen wurden mit dem von der Bundesregierung vorgelegten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Lebens- und Futtermittelgesetzbuches die Barrieren für die schwarzen Schafe in der Lebensmittelbranche noch einmal hochgesetzt. So sind Lebensmittelunternehmer künftig verpflichtet, die Behörden zu informieren, wenn ihnen verdorbene Lebensmittel angeboten werden. Damit gehen wir aktiv gegen die Verschiebebahnhöfe vor. Außerdem werden wir den Bußgeldrahmen bei Verstößen gegen das Lebens- und Futtermittelrecht von 20 000 auf 50 000 Euro anheben. Damit haben die Behörden nun weitaus schärfere Sanktionsmöglichkeiten. Das Abschreckungsmoment steigt. So, meine Damen und Herren von den Grünen, sieht ein sachlicher und konsequenter Verbraucherschutz aus. Erlauben Sie mir auf Ihre Forderung nach dem Verbot der Verfütterung tierischer Fette und Proteine einzugehen. Ich begrüße es ausdrücklich, dass wir den Vorschlag des Bundesrates aufgegriffen haben, die Verfütterung von tierischen Fetten an Nichtwiederkäuer wieder zuzulassen. Im Zuge der BSE-Krise hatte die Europäische Union die Verfütterung von tierischen Proteinen als potenzielle Überträger des BSE-Virus verboten. Das war eine Entscheidung, die damals zu Recht getroffen wurde. Die Vorgängerregierung ist über das Ziel - wie so oft hinausgeschossen und hat zudem auch noch die Verfütterung der tierischen Fette verboten. Kein anderes EU-Mitgliedsland sah sich zu dieser Maßnahme gezwungen. Aber Verbraucherschutz ist nicht teilbar! Wir können zwar in Deutschland Regelungen und Verbote einführen. Bei offenen Märkten nützt das nur oftmals nichts. Wie auch in diesem Fall. Die deutschen Verbraucher sind hier von Frau Künast schlicht an der Nase herumgeführt worden. Ihnen wurde vorgegaukelt, dass auf ihren Tisch kein Fleisch kommt, das von einem Tier stammt, welches mit tierischen Fetten gefüttert worden ist. Hatte das Tier seine Heimat in einem andern europäischen Mitgliedsland, dann wurde es aber mit tierischen Fetten gefüttert, und der Verbraucher hat nichts gemerkt. Unsere Veredelungsbetriebe sahen und sehen sich im Vergleich mit den europäischen Nachbarn deutlichen Wettbewerbsnachteilen ausgesetzt. Denn sie müssen die tierischen Fette durch pflanzliche Futtermittel ersetzen. Die zusätzlichen Kosten für unsere Veredelungswirtschaft sind erheblich. Marktanteile wurden verloren. Am Ende stehen auch immer Arbeitsplätze in der Land- und Ernährungswirtschaft zur Disposition. Nein, auch hier zeigt Ihr Antrag in die falsche Richtung. Mit der Wiederzulassung der Verfütterung tierischer Fette an Nichtwiederkäuer heben wir Ihr unsinniges Verbot endlich auf. Es ist mir auch klar, dass Ihnen das nicht passt - und es ist trotzdem richtig. Verboten bleibt vorerst die Verfütterung tierischer Fette von Nichtwiederkäuern an Wiederkäuer. Aber auch hier wünschte ich mir eine Lockerung. Allerdings benötigen wir dafür genaue Analysemethoden, um die Stoffströme genau zu kanalisieren. Hier ist aber auch die Wirtschaft aufgerufen mitzuhelfen, dass Analyseverfahren zur Bestimmung der Fettherkunft weiterentwickelt werden. Kommen wir nun zu den tierischen Proteinen. Auch hier fordern Sie die Beibehaltung des Verfütterungsverbotes. Gleichzeitig fordern Sie, den Anbau heimischer GVO-freier Eiweiß-Futtermittelpflanzen zu stärken. Durch das noch immer bestehende Verbot der Verfütterung tierischer Proteine müssen europäische Tierhalter noch stärker auf Ersatz in Form pflanzlicher Proteine, zum Beispiel Sojaschrot, zurückgreifen. Ihr Vorschlag, durch einheimische Eiweißpflanzenproduktion die tierischen Proteine zu ersetzen, ist auf den ersten Blick blauäugig, auf den zweiten schamlos. Ich denke, Ihnen dürfte nicht entgangen sein, dass man für die aus lebensmitteltauglichen Schlachtabfällen gewonnene Proteinmenge - das sind für Europa 1,125 Millionen Tonnen und für Deutschland 262 500 Tonnen 3,2 Millionen Tonnen für Europa oder 746 000 Tonnen für Deutschland Sojaschrotäquivalent produzieren müsste. Die dafür benötigte Anbaufläche entspricht der Größe Schleswig-Holsteins! Sie wissen so gut wie ich, dass es illusorisch ist, einerseits die Menge der tierischen Proteine auf deutscher oder europäischer Anbaufläche zu substituieren. Andererseits wird es in Zukunft unumgänglich sein, gentechnisch veränderte Sojaschrotimporte zuzulassen, da auf dem Weltmarkt immer weniger GVO-freies Soja zur Verfügung steht. Bleibt es weiterhin bei der restriktiven europäischen GVO-Politik - und dies fordern Sie ja in Ihrem Antrag -, gäbe es folgendes Szenario: GVO-freies Soja würde aufgrund rapide abnehmender Marktverfügbarkeit so teuer werden, dass die Futtermittelkosten für unsere Tierhalter enorm in die Höhe schnellen würden - Studien sprechen von einer Verteuerung von bis zu 600 Prozent. In der Zu Protokoll gegebene Reden Folge würden die Nahrungsmittelpreise rapide steigen. Weiterhin würden viele tierhaltende Betriebe und Verarbeitungsbetriebe aufgeben müssen, weil sie gegenüber der GVO-fütternden ausländischen Konkurrenz nicht mehr wettbewerbsfähig wären. Zahlreiche Arbeitsplätze gingen verloren. Schließlich würde der deutsche Nahrungsmittelmarkt mit Produkten ausländischer Anbieter überschwemmt, die nicht zu unseren hohen Tier- und Umweltschutzstandards produzieren. Meine Damen und Herren von den Grünen, sagen Sie das den Landwirten und den Verbrauchern endlich einmal deutlich ins Gesicht. Sagen Sie Ihnen: Ja, uns ist unsere Ideologie wichtiger als eure Arbeitsplätze und der Verbraucherschutz. Seien Sie endlich einmal ehrlich! Nein, Vernichtung von Arbeitsplätzen und Verbrauchertäuschung kann nicht unser Ziel sein. Deswegen bin ich für die Wiederzulassung der Verfütterung tierischer Proteine. Allerdings müssen wir strengste Maßstäbe an die Wiederzulassung anlegen: Es muss sichergestellt sein, dass vollständig getrennte Ketten in der Futtermittelproduktion und bei der Anwendung des Futters erreicht werden und sichere Testverfahren vorhanden sind. Ist dies nicht der Fall, kann es keine Wiederzulassung der Verfütterung tierischer Proteine geben. Das erwartet der Verbraucher. Und dazu hat er auch volles Recht. Wir können es uns nicht mehr leisten, wertvolle Rohstoffe wie tierische Fette und Proteine aus dem Verwertungskreislauf auszuschließen. Das trifft im Übrigen auch auf die Verwertung im Kraftstoffbereich zu. Allerdings müssen Verwendung und Verbrauchersicherheit Hand in Hand gehen.

Dr. Wilhelm Priesmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003611, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wir beraten heute den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen „Kein Leugnen der BSE-Gefahren Tierfette und -mehle raus aus der Lebensmittelerzeugung - Rein in die energetische Verwertung“. Ich finde es löblich, dass die Kolleginnen und Kollegen heute das Thema Landwirtschaft auf die Tagesordnung gebracht haben. Leider nutzen sie jedoch wieder einmal ein mit Ängsten besetztes Thema für einen Rundumschlag gegen die konventionelle Tierhaltung in Deutschland. Das habe ich nicht anders erwartet. Es hilft aber in der Sache nicht weiter. Wir haben es mit einem sehr sensiblen Thema zu tun. Daher sollten wir mit ein wenig mehr Sorgfalt und Rationalität an die Sache gehen. Ihr Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen von der grünen Fraktion, suggeriert, dass die Gefahren, die von BSE-Risikomaterial für die menschliche Gesundheit ausgehen, von den Koalitionsparteien vollkommen vernachlässigt werden. Dem muss ich energisch widersprechen. Ein kleiner Blick auf die Zahlen verdeutlicht die Brisanz des Themas: Insgesamt haben wir in Deutschland seit der Einführung der BSE-Tests knapp 400 bestätigte BSEFälle bei Rindern. Die Tendenz ist eindeutig abnehmend: In den Jahren 2005 und 2006 wurden insgesamt 48 Rinder positiv getestet, im Jahr 2007 nur noch vier Tiere und im laufenden Jahr nur noch ein Rind. Es ist eine eindeutige Tendenz zu erkennen. Dies ist ein Beleg für mich, dass die Bekämpfungs- und Kontrollmaßnahmen gegriffen haben und erfolgreich umgesetzt wurden. Ich betone: Wir sind in Deutschland auf dem richtigen Weg, und die Erfolge bei der Bekämpfung von BSE geben uns recht! Es dauert nicht mehr lange, und Deutschland wird den Status BSE-frei erlangen. Wir müssen uns aber auch die Relation zu den insgesamt 16 801 885 getesteten Rindern verdeutlichen: Knapp 400 amtlich festgestellte BSE-Fälle im Zeitraum vom 1. Januar 2001 bis zum 31. März 2008 sind prozentual ein geringer Anteil. Aber selbstverständlich ist die absolute Zahl an BSE-Fällen aus Sicht des vorbeugenden gesundheitlichen Verbraucherschutzes nicht hinnehmbar, gibt es also keinen Grund, Vorsorgemaßnahmen schleifen zu lassen - was wir im Übrigen auch nicht tun. Mit dem Änderungsantrag zum Gesetzentwurf zur Änderung des Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuches spricht sich auch die SPD dafür aus, die Verfütterung von Fetten aus Gewebe warmblütiger Landtiere an Wiederkäuer weiterhin zu verbieten. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf folgen wir den Empfehlungen der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit, des BfR und des FLI, die ebenfalls zu dem Schluss gekommen sind, dass bei der Verarbeitung des von Nichtwiederkäuern gewonnenen Fettes jegliches BSE-Risiko auszuschließen ist. Ich möchte betonen: Wir sprechen nicht von irgendwelchen Fetten, sondern ausschließlich von Fetten derjenigen Tiere, die vorab für den menschlichen Genuss als tauglich befunden wurden. Alle anderen Tiere werden weiterhin in vollem Umfang den Tierkörperbeseitigungsanlagen zugeführt und gelangen daher nicht in die Lebensmittelkette. Mit dem Gesetzentwurf gehen wir in Europa keinen Sonderweg, sondern vollziehen die Praxis nach, die in den anderen EU-Ländern seit vielen Jahren alltäglich ist. Ich sehe daher keine Notwendigkeit, in Aufgeregtheiten zu verfallen, und möchte Sie in diesem Zusammenhang um mehr Sachlichkeit bitten. Ihr Antrag strotzt von Unwissenheit: Sie vermischen die Verfütterung von Fetten mit der Verfütterung von Wiederkäuertiermehlen, was überhaupt nicht zur Diskussion steht. Mit diesem Szenario verunsichern Sie deutsche Verbraucherinnen und Verbraucher. Von einer Zulassung der Tiermehlverfütterung an alle Tierarten kann aber zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine Rede sein. Es ist legitim, darüber nachzudenken, in welchem Umfang tierische Einweiße in der Futtermittelproduktion eingesetzt werden können. Ausgangspunkt aller Überlegungen ist und bleibt aber das Verfütterungsverbot an Wiederkäuer. Die entsprechende Kennzeichnung der Futtermittel und die Überwachung am Entstehungs- und Verwendungsort bleiben dabei unerlässlich. Die heutigen Standarduntersuchungsverfahren stellen sicher, dass selbst geringste Spuren von Rindereiweiß in Futtermitteln von Wiederkäuern problemlos und schnell festgestellt werden können. Ihr Antrag ist gehaltlos und kann daher von meiner Fraktion nur abgelehnt werden.

Hans Michael Goldmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003133, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Unsere Landwirte werden ständig mit steigenden Produktionskosten konfrontiert. Die aktuellen Proteste der Milchbauern sprechen eine beredte Sprache hierüber. Zu Protokoll gegebene Reden Auf der Demo des BDM lassen sich die Grünen als Freunde der Milchbauern feiern, doch sie gehören zu den Wegbereitern der ständig steigenden Produktionskosten der deutschen Landwirtschaft. Zusammen mit der SPD haben sie dafür gesorgt, dass die Ökosteuer die deutschen Landwirte belastet, dass die deutschen Bauern ein Vielfaches an Steuern auf ihren Diesel zu bezahlen haben, jeweils im Vergleich zu ihren europäischen Nachbarn. Und CDU/CSU und SPD machen gleich so weiter wie zuvor Rot-Grün. Europäische Vorschriften werden nach wie vor nicht eins zu eins umgesetzt. Den Verbrauchern wird suggeriert, dass es 100 Prozent gentechnikfreie Lebensmittel geben könnte, und die Zeche zahlen die Landwirte. Im Zuge der BSE-Bekämpfung hat man vielfach das Kind mit dem Bade ausgeschüttet und Maßnahmen ergriffen, die nichts mit BSE-Bekämpfung zu tun haben, wie zum Beispiel das Verbot tierischer Fette an Nichtwiederkäuer. Die FDP hat diese Maßnahme schon immer abgelehnt. Angesichts der beständig sinkenden BSE-Zahlen in Deutschland tritt die FDP außerdem dafür ein, dass das BSE-Testalter abgeschafft wird. Wir müssen zwar weiter dafür sorgen, dass das Risikomaterial entsorgt wird, doch die Testerei ist nichts als eine Ressourcenverschwendung. Schließlich setzen wir uns dafür ein, dass das generelle Verbot der Verfütterung tierischer Eiweiße auf europäischer Ebene überprüft wird. Auch dieses Verbot ist nicht mehr zeitgemäß. Wir müssen diese Ressourcen schließlich auch nutzen, um eine Entlastung der Flächenkonkurrenz herbeizuführen. Wir können nicht einerseits GVO-Futtermittel verbieten und andererseits den heimischen Schweineproduzenten die Verfütterung von tierischem Eiweiß untersagen. Hier muss endlich wieder umgedacht werden.

Dr. Kirsten Tackmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003853, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Kein Leugnen der BSE Gefahren - das schreiben die Grünen in ihrem Antrag. Ich verstehe sehr gut, dass die dramatischen Vorgänge im Jahr 2000 ein Trauma hinterlassen haben bei den Grünen. Sie waren damals in Regierungsverantwortung und es war in der damals auch von den Medien entfachten Hysterie offensichtlich nicht immer ganz einfach, sachlich richtige und politisch kluge Entscheidungen zu treffen. Zu lange hatte die Politik die warnenden Stimmen aus der Wissenschaft ignoriert, um das einmal vorsichtig auszudrücken. Denn die sagten schon lange vor dem ersten BSE-Nachweis, dass es nahezu ausgeschlossen sein dürfte, dass Deutschland bei dieser neuartigen Erkrankung eine Insel der Glückseeligen bleibt. Und sie machten lange vor diesem ersten Nachweis auf große Wissenslücken aufmerksam. Als das erste infizierte Rind dann diagnostiziert war, brach ein Zustand aus, den man mit gutem Recht als chaotisch bezeichnen kann. Wir wussten damals wenig über den Auslöser der Erkrankung. Auch das Wissen über die Übertragungswege war eher spekulativ. Daher mussten auch die Bekämpfungsmaßnahmen zunächst am theoretisch Denkbaren ausgerichtet werden. Selbst die Diagnostik war auf das, was dann kam, nicht vorbereitet. Von einer ohnehin schwierigen Einzeltierdiagnostik musste auf Massentierdiagnostik umgestellt werden. Deren Befunde entschieden lange über die Existenz von ganzen Rinderherden und -beständen. Ich kann mich an die Hektik, die durch eine allzu reißerische Medienbegleitung forciert wurde, sehr genau erinnern. Ich habe damals an dem Institut in Wusterhausen gearbeitet, das für die wissenschaftliche Begleitung der Entscheidungen verantwortlich war. Die Situation in jenen Tagen hat eine Erkenntnis bei mir weiter vertieft: Über Tierseuchenbekämpfungskonzepte muss man in Friedenszeiten nachdenken. Nur dann kann sachlich jenseits unterschiedlicher Lobbyismen begründet bewertet werden. Das setzt allerdings voraus, dass Gefahr erkannt und ernst genommen werden. Aber genau das ist das eigentliche Problem. In Friedenszeiten werden selbst die für die Beantwortung der allernotwendigsten Fragen notwendigen Ressourcen nur sehr begrenzt bereitgestellt. Die Gefahr wird so lange ignoriert, bis es zu spät ist. Warnungen aus der Wissenschaft werden mit dem Vorwurf erwidert, es ginge nur um mehr Geld. Diese Geschichte wiederholt sich leider regelmäßig. Ich erinnere nur an MKS, Vogelgrippe und Blauzungenkrankheit. Dabei wächst die Gefahr von Tierseuchen durch die globalen Personen- und Handelsströme. Das Signal müsste sein, die Veterinärepidemiologie, die Wissenschaft für die Tierseuchenbekämpfung, zu stärken. Stattdessen hält auch diese Regierung an der Schließung der einzigen Einrichtung der Agrarressortforschung fest, das sich mit solchen Bekämpfungskonzepten und Risikobewertungen beschäftigt: das Institut für Epidemiologie in Wusterhausen/Dosse. Der Schließungsbeschluss war schon 1996 ein Fehler und heute spricht noch viel mehr dagegen. Es ist inakzeptabel, dass diese Entscheidung nicht wenigstens noch einmal geprüft wird. Die Folgen dieser Ignoranz sind dramatisch: Verbraucherinnen und Verbraucher werden verunsichert und Tiererkrankungserreger sind unterdessen eine ökonomische Existenzbedrohung für die Nutztierhaltung Doch zurück zur BSE. In Erinnerung an die Situation im Jahr 2000 ist es besonders wichtig, über die Frage des Übertragungsrisikos durch Tiermehl und Tierfette sehr ernsthaft, aber auch in aller Ruhe zu diskutieren. Auf der einen Seite steht die Tatsache, dass das totale Fütterungsverbot seit Anfang 2001 Erfolg hatte: Im vergangenen Jahr wurden nur vier BSE-Fälle nachgewiesen und das bei 3,3 Millionen Schlachtungen. Das heißt aber auf der anderen Seite: Das Risiko der Übertragung ist extrem gefallen. Auch die Herstellungsprozedur für Tiermehl wurde risikominimierend geändert. Das spräche für eine Aufhebung des Totalverbots sind zwei Einschränkungen: das Fütterungsverbot an Wiederkäuer und das Kannibalismusverbot, das heißt keine Verfütterung an die gleiche Tierart, bleiben bestehen, und zwar unter einer Vorbedingung: Verstöße gegen diese beiden Verbote müssen nachweisbar und damit kontrolliert sein. Zu Protokoll gegebene Reden Das ist die eigentlich wichtige Debatte, die wir im Ausschuss führen müssen: Kann die Verwendung des Tiermehls ausreichend sicher kontrolliert werden?

Ulrike Höfken-Deipenbrock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002680, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die schwarz-rote Koalition bricht mit dem Prinzip des vorsorgenden Verbraucherschutzes und der Tierseuchen- und Krankheitsbekämpfung. Sie macht einen fatalen Schritt, wenn sie mit der Novelle des Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuches klammheimlich das Verfüttern von Tierfetten an Nichtwiederkäuer wieder zulässt. Die fatalen Folgen von BSE werden - wie vor 2001 - unter den Teppich gekehrt. Dabei sind bis heute Erreger und Übertragungswege nicht geklärt. Tatsache ist aber: Mil- lionen von Tieren und Menschen sind in Gefahr. Auch Nichtwiederkäuer sind an BSE erkrankt. Verbrauchermi- nister Seehofer zeigt hier wieder einmal seine Unglaub- würdigkeit: Während die Große Koalition bereits Ende Februar den Vorstoß unternahm, mit einem Änderungs- antrag das Verbot der Tierfettverfütterung zugunsten der Futtermittel- und Fleischlobby zu lockern, stellte Minis- ter Seehofer Ende April im Plenum noch fest: „Mir ist nicht bekannt, dass die Bundesregierung beabsichtigt, Tierfette/Tiermehle zuzulassen“. Unwissenheit oder Unwahrheit? Anfang Mai folgte dann die Offenbarung von Seehofer. Bereits im Sommer, so titelten die Gazetten, wäre es denkbar, dass eine ge- meinsame Verfütterungsposition der Bundesregierung über Handlungsempfehlungen zustandekomme. Seehofer erliegt klar dem Druck und den Drohgebärden der Fut- termittel- und Agroindustrie und vertritt eins zu eins die Position des Deutschen Bauernverbandes. Der Verbrau- cherschutz wird leichtfertig den Interessen der Futtermit- tel- und Agroindustrie geopfert. Es darf nicht vergessen werden: Tierfette sind beson- ders risikoreich, weil der Erreger BSE liposom ist, das heißt, sich an Fette anlagert bzw. bindet. In Großbritan- nien, wo die Rinderkrankheit am stärksten wütete, star- ben bis Ende 2007 bereits 163 Menschen. Die auf die BSE-induzierte Form der Creutzfeldt-Ja- kob-Krankheit zurückzuführenden Todesfälle in Spanien Anfang des Jahres bestätigen, dass vor 2001 mit BSE ver- seuchtes Fleisch Todesfälle verursacht. Dort wurden seit dem Jahr 2000 mehr als 720 Krankheitsfälle bei Kühen bekannt. In Deutschland sind mehr als 400 BSE-Krank- heitsfälle bei Rindern offiziell bestätigt, wobei eine hö- here Dunkelziffer angenommen wird. Experten gehen davon aus, dass die Inkubationszeit der durch BSE bedingten Creutzfeldt-Jakob-Krankheit mindestens zehn Jahre beträgt. Es ist also damit zu rech- nen, dass erst in den nächsten Jahren der ganze Umfang der menschlichen Erkrankungen zutage tritt. Auch das Friedrich-Loeffler-Institut hat vor einigen Wochen die Wiedereinführung der Tierfette als falsches und riskantes Signal gewertet. Die EU-Kommission hat hingegen hinterrücks die Wiedereinführung von Fischmehl erlaubt. Dies ist weder als tiergerecht noch als Verbrauchervorteil zu bewerten. Schließlich ist Fischmehl ein Fremdprotein für Nutztiere und bei Menschen als Dioxin-Senke völlig kontraproduk- tiv. Die Futtermittel- und Fleischlobby verkündet laut- stark, dass die Tierfette doch nur bei Schweinen und Hüh- nern landen sollen und nicht in Trögen der Wiederkäuer. Eine Garantie, dass komplette Futterströme von der Fut- termittelindustrie getrennt und vom Staat kontrolliert werden können, ist pure Illusion. Erst gestern beklagten die Lebensmittelkontrolleure in einer Anhörung im Bun- destag ihre katastrophale Personalsituation. Noch schlimmer sieht es bei den Veterinären aus. Mit der Wie- derzulassung von Tierfetten in der Futtermittelherstel- lung wird dem Missbrauch in der Fleischindustrie Tür und Tor geöffnet. Damit steigt die Gefahr der Übertra- gung von Krankheiten auf Mensch und Tier enorm an. Dies bestätigt auch eine Recherche der Verbraucher- organisation Foodwatch von Anfang April. Zum einen wurden mehrere tausend Tonnen Risikomaterial zu Tier- mehldüngemittel umdeklariert, von Deutschland illegal exportiert und in Malaysia in die Lebens- und Futtermit- telkette eingeschleust. Das alles zeigt, dass Minister See- hofer seine ergriffenen Maßnahmen zwar offen angekün- digt, aber in der Praxis nicht umgesetzt hat. Bis heute fehlt die Umsetzung des K-3-Materials durch Zusatz von Farb-, Geruchs- oder Bitterstoffen. Auch die Melde- pflichten über die Verwendung von Tiermehldüngemitteln sind mangelhaft. Auch die Schweizer haben in einem partiellen Fütte- rungsversuch gezeigt, dass eine Trennung der Waren- ströme nicht funktioniert. Mit der Wiederzulassung von Tierfetten in Tierfutter wird eine Aufweichung von Ge- sundheits- und Qualitätsstandards in der Nahrungsmit- telkette vollzogen, und Menschen werden in unverant- wortlicher Weise gefährdet. Um das Vertrauen der Verbraucher zu sichern und zum Schutz des Images von Fleischprodukten haben aus Sicht von Bündnis 90/Die Grünen Tierfette und -mehle nichts in der Futterkette zu suchen. Wir Bündnisgrüne stehen für eine sinnvolle Alternative, nämlich die Reststoff- und Ab- fall-Verwertung in der Energieerzeugung. Wer Kreislauf- wirtschaft unterstützen will, der muss sich einsetzen für die kontrollierte und abgesicherte Verwendung der Tier- abfälle in der Energiegewinnung. Außerdem plädieren wir für deutlich weniger, dafür aber qualitätsvolleres Fleisch in der Ernährung, aus öko- logischen und bäuerlichen Betrieben. Klasse statt Masse, das ist der Wahlspruch grüner Verbraucherpolitik. In Zu- kunft muss die Basis der Futtermittelerzeugung in Europa selbst liegen. Forschung und Entwicklung von gentech- nikfreien Eiweißpflanzen müssen verstärkt werden. Ebenso ist die Nutzung von Rapskuchen als Eiweißalter- native eine weitere Möglichkeit. Eindeutige und verbraucherfreundliche Regelungen zur Kennzeichnung und klare Sicherheitsbestimmungen werden sich auf Dauer als wichtiger Markt- und Stand- ortvorteil der deutschen Landwirtschaft erweisen. Die gesamte Agrar- und Fleischwirtschaft sollte dies als Chance nutzen, statt das Risiko der Tiermehl-/Tierfett- Verfütterung einzugehen. Zu Protokoll gegebene Reden

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/9098 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22 a und 22 b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Christian Ruck, Dr. Wolf Bauer, Hartwig Fischer ({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Bärbel Kofler, Dr. Sascha Raabe, Gregor Amann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Förderung von Bildung und Ausbildung Entwicklungspolitischen Schlüsselsektor konsequent ausbauen - Drucksache 16/9424 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({1}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten HüseyinKenan Aydin, Monika Knoche, Dr. Diether Dehm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Entwicklung braucht Bildung - Den deutschen Beitrag erhöhen - Drucksache 16/8812 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({2}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Kultur und Medien Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll gegeben. Es handelt sich um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Dr. Christian Ruck, CDU/CSU, Dr. Bärbel Kofler, SPD, Hellmut Königshaus, FDP, Hüseyin-Kenan Aydin, Die Linke, Ute Koczy, Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Christian Ruck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001893, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wenn man sich die Frage stellt, was die Kernfaktoren sind, die Entwicklung wirklich voranbringen, so wird man als wichtigsten Schlüsselfaktor die Bildung identifizieren. Bildung ist der Schlüsselfaktor für erfolgreiche nachhaltige Entwicklung und das Fundament aller anderen Säulen unserer Entwicklungszusammenarbeit und für eine nachhaltige Entwicklung der Gesellschaft. Für die unionsgeführte Entwicklungspolitik war Bildung daher auch traditionell einer der drei Schwerpunkte. Die Weltgemeinschaft hat die Bedeutung der Bildung mit der Milleniumserklärung unterstrichen und strebt an, es bis zum Jahr 2015 zu ermöglichen, dass alle Kinder auf der Welt - Mädchen wie Jungen - eine Grundschulausbildung erhalten. Bei der Weltbildungskonferenz in Dakar im Jahre 2000 haben die 180 teilnehmenden Staaten sechs Ziele verabschiedet, um „Bildung für alle“- Education For All, EFA - bis zum Jahre 2015 erreichen zu können. Obwohl es unbestreitbar Erfolge bei der Bildungszusammenarbeit gibt - so besuchten im Jahr 2005 rund 24 Millionen Kinder mehr die Grundschule als noch 1999 -, ist die Bildungssituation in vielen Ländern weiterhin sehr besorgniserregend. Noch immer können 780 Millionen Menschen weltweit nicht lesen und schreiben, und fast 80 Millionen Kinder besuchen keine Grundschule. Neben der klassischen Entwicklungszusammenarbeit muss die Bildungszusammenarbeit auch eine größere Rolle in der Unterstützung von Nachkriegsregionen, in Flüchtlingslagern und in sogenannten „failing oder failed states“ einnehmen. Nur so können dort Friedensund Entwicklungsperspektiven eröffnet werden. Diese Gebiete und Staaten sind durch ein sehr geringes Bildungsniveau gekennzeichnet. In den ärmsten Entwicklungsländern bricht jedes vierte Kind die Schule vorzeitig und ohne Abschluss ab. Für Millionen von Grundschulabsolventen steht kein weiterführendes Bildungsangebot zur Verfügung. Über den Zugang zur Grundbildung hinaus ist es daher wichtig, die Abbrecherquoten abzusenken und zusätzliche Bildungsperspektiven zu eröffnen. Der Bildungssektor muss in seiner Gesamtheit als Querschnittsaufgabe der Entwicklungszusammenarbeit verankert werden. Sekundarschulbildung, akademische Bildung und die berufliche Aus- und Fortbildung sind wichtige Kernelemente, um die Entwicklungspotenziale unserer Partner zu optimieren. Die Unterstützung des Bildungssektors muss darauf abzielen, ein angepasstes, bedarfsgerechtes und kohärentes Bildungssystem aufzubauen bzw. fortzuentwickeln. Es gilt dabei, in einem übergreifenden Ansatz Mechanismen und Strukturen formeller und non-formaler Bildungsangebote für die frühkindliche Bildung, die Grundbildung, die Sekundarschulbildung, die akademische Bildung, die berufliche Aus- und Fortbildung und die Erwachsenenbildung ebenso zu etablieren wie die dazu erforderlichen Voraussetzungen für die Bereitstellung der entsprechenden Infrastruktur und der dazu notwendigen Lehrkräfte sowie deren Aus- und Fortbildung. Alle konzeptionellen Ansätze der Bildungsunterstützung müssen - auch im Rahmen übergeordneter Armutsbekämpfungsstrategien - zwischen Partnern und Gebern eng abgestimmt und verzahnt werden. Auch darf die Unterstützung nicht dazu führen, dass bestimmte Landesteile bevorteilt bzw. benachteiligt werden. Maßnahmen der Bildungsunterstützung sind nur dann nachhaltig erfolgreich, wenn die weitere Finanzierung auch nach dem Rückzug der Geldgeber abgesichert ist. Entsprechende Strategien müssen bereits bei der Konzeption der Maß17650 nahmen integraler Bestandteil der Planungen und Vereinbarungen sein. Schwierige wirtschaftliche Bedingungen und fehlender Zugang zu Bildung sind Faktoren, die Menschen für radikal religiöse und politische Heilslehren anfällig machen können. Um den Herausforderungen des Extremismus oder religiösen Fundamentalismus zu begegnen, sollten in Risikogebieten die Zusammenarbeit im Bildungsbereich als ein sektorübergreifendes Anliegen verstanden und staatliche Bildungssysteme gestärkt werden, damit sie attraktive Alternativen zu einem fundamental religiös geprägten Bildungsangebot werden. Voraussetzung für alles weitere Lernen ist eine solide Grundbildung. Investitionen in Grundbildung sind Investitionen für eine nachhaltige Entwicklung durch eigenverantwortlich handelnde Menschen. Noch immer herrscht eine sehr ungleiche Verteilung der Grundbildungsangebote zwischen Land und Stadt. Um den Bereich der primären Bildung voranzubringen, sind mehr regionale und praxisorientierte Ansätze notwendig. Zur Überwindung der den Schulbesuch hemmenden Faktoren müssen angepasste Anreizstrategien - zum Beispiel Anpassung der Ferien, an den landwirtschaftlichen Kalender, Erhöhung der Schuldichte, Schulspeisung - identifiziert und umgesetzt werden. Es gilt zudem, Anreize für Lehrpersonal zu schaffen, einen Lehrauftrag an abgelegenen Standorten aufzunehmen. Beim Ausbau der Schulsysteme und Einrichtungen müssen die Faktoren Quantität und Qualität ineinandergreifen. Neben den Einschulungsraten ist verstärkt auf die Abschlussraten zu achten. Vermitteltes Wissen sollte durch Qualitätskontrollen und Leistungstests kontrolliert werden. Nach der Grundschule müssen den Schülerinnen und Schülern weiterführende Bildungsangebote zur Verfügung stehen. Daher muss darauf geachtet werden, auch angepasste und leistungsfähige Sekundarschulstrukturen - insbesondere im ländlichen Raum - auf- bzw. auszubauen. Zielsetzung muss dabei sein, ein Sekundarbildungsangebot zu etablieren, welches sowohl die Basis für ein selbstbestimmtes Leben der Jugendlichen schafft und die für die Landesbedürfnisse notwendige Ausbildungsfähigkeit in praktischen Berufen sicherstellt als auch die Qualifikation für eine weiterführende technische oder akademische Weiterbildung vermittelt sowie die Beschäftigungsfähigkeit verbessert. Der Mangel an gut ausgebildeten Fachkräften für Produktion. Handel und Dienstleistungen ist ein wichtiger hemmender Faktor für die Entwicklung in vielen Entwicklungsländern. Der Aufbau angepasster Berufsausbildungssysteme in enger Kooperation mit der örtlichen Wirtschaft ist daher eine große Herausforderung für viele Partner und damit für die deutsche Entwicklungszusammenarbeit. Berufliche Bildung hat in der Entwicklungszusammenarbeit zwei wichtige Zieldimensionen: Sie unterstützt die Entwicklung und Erschließung von Wachstumspotenzialen insbesondere der modernen Wirtschaft, und sie befähigt gleichzeitig die Menschen zur eigenverantwortlichen Gestaltung ihres Lebens und der Arbeit. Ein wichtiger Aspekt ist dabei auch die Eröffnung von Perspektiven für die Beschäftigen des non-formalen Sektors, für junge Erwachsene und Menschen, denen es nicht möglich war, am formalen Bildungssystem teilzuhaben. Bei der Stärkung einer Brückenfunktion hin zu Zugängen in den formalen Bildungsbereich haben Nichtregierungsorganisationen und Kirchen solide Kompetenzen. Die lokale Anpassung des deutschen Systems der dualen Berufsausbildung kann bei der beruflichen Bildung wichtige Impulse liefern, wird aber erfahrungsgemäß nicht immer eine angepasste Lösung für die spezifischen Bedürfnisse eines bestimmten Landes darstellen. Wichtig ist aber die Herausbildung einer engen Kooperation von Staat, Wirtschaft und Zivilgesellschaft. Für die ausgebildeten Fachkräfte ist es wichtig, Zugang zur Fort- und Weiterbildung zu ermöglichen, damit sie mit den schnelllebigen Entwicklungen Schritt halten können. Dazu sind die Etablierung neuer und der Ausbau bestehender Bildungseinrichtungen sowie die Herstellung von Kooperationen mit entsprechenden Einrichtungen in Deutschland und anderen Industrieländern wichtige Elemente. Über das Instrument der privatenöffentlichen Partnerschaften sollte auch die Einrichtung überbetrieblicher Bildungseinrichtungen über die Industrie- und Handelskammern oder die Handwerkskammern angestrebt werden. Nachhaltige Bildungssysteme können nur dann etabliert werden, wenn die Partner mittelfristig auch ohne Hilfe der Geber selbstständig ausbilden können. Ohne gute akademische Bildungseinrichtungen - Universitäten und Fachhochschulen - vor Ort ist dies nicht möglich. Ein wichtiger Aspekt der Bildungszusammenarbeit ist daher auch die Intensivierung der Zusammenarbeit im Hochschulbereich. Neben der Stärkung von Hochschulbildung als Querschnittsbereich sollte auch eine Vernetzung der Hochschulen in und zwischen Entwicklungsländern stärker gefördert werden, um einen lebhaften Wissenstransfer innerhalb eines Landes oder einer Region zu gewährleisten. Auch die Gründung deutscher Universitäten in Entwicklungsländern sollte als strategische Option gezielt vorangetrieben werden. Hochschulen übernehmen eine Verbindungsfunktion zwischen Staat und Gesellschaft und begleiten gesellschaftliche und politische Reformprozesse. Bei der Hochschul- und Wissenschaftskooperation können daher Synergieeffekte erzielt werden, wenn Brücken zu den anderen Sektoren der Entwicklungszusammenarbeit geschlagen werden. Mit dem Instrument Public-Private-Partnership - PPP - können die in Entwicklungsländern angesiedelten Verbände und Unternehmen dabei unterstützt werden, Ausbildungszentren und Hochschulen vor Ort zu initiieren und auszustatten. Die Einrichtung von grenzüberschreitenden Studiengängen mit möglicher Vernetzung zu regionalen Forschungsnetzwerken stellt ein geeignetes Instrument für die ressortübergreifende Förderung von Hochschulkooperationen in Schwellenländern dar, die es auszubauen gilt. Die Förderung von Stipendiaten aus Entwicklungsländern und die Vertiefung der Wissenschaftskooperation zwischen den universitären Einrichtungen erhöhen das Zu Protokoll gegebene Reden Bildungsniveau und festigen die Beziehungen zwischen den beteiligten Staaten zum gegenseitigen Vorteil. Kooperationen deutscher Universitäten und Forschungsinstitute mit Partnern in Entwicklungsländern sind wegen des damit verbundenen Aufbaus von Kontakten zur wissenschaftlichen Lösung globaler Probleme - Klima, Gesundheit und andere - notwendig, aber auch von Vorteil für die deutsche Wirtschaft. Ein wichtiges Element der Kooperationen ist die Verstetigung der wissenschaftlichen und persönlichen Kontakte sowie des gegenseitigen Austauschs durch eine intensivierte Pflege der Alumni-Netzwerke. Gleich, welche Bildungsstufe durchlaufen wurde, sollen die Menschen dadurch in die Lage versetzt werden, ihr eigenes Einkommen zu erwirtschaften, damit erworbenes Wissen und Fähigkeiten dem jeweiligen Partnerland nachhaltig erhalten bleiben. Es gilt, die Abwanderung von qualifizierten Kräften mit ihrem Wissen - sogenannter Brain Drain - zu vermeiden. Dazu sind Anreize zu schaffen, qualifizierte Menschen dort zu beschäftigen, wo sie am nötigsten gebraucht werden: im eigenen Land. Wir sollten uns bei der Entwicklungszusammenarbeit im Bildungsbereich auch der Akteure besinnen, die nicht im engeren Sinn Teil der deutschen Entwicklungszusammenarbeit sind. Wir müssen alle Potenziale ausloten, die Erfahrung der deutschen Auslandsschulen und der Goethe-Institute zur Stärkung der Bildungssysteme unserer Partner zu nutzen. Lassen Sie mich zum Schluss noch darauf hinweisen, dass es auch einen Bereich gibt, wo wir die Bildung unserer Bürger, voranbringen müssen. Dies ist die entwicklungspolitische Bildung. Sie soll unseren Bürgern die Herausforderungen in den Entwicklungsländern und die Instrumente zur Bewältigung dieser Herausforderungen in der Einen Welt zur Sicherstellung von Frieden und Wohlstand verdeutlichen. Wir sollten gemeinsam mehr tun, den Zugang zu diesen Bildungsangeboten zu erweitern.

Dr. Bärbel Kofler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003710, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich freue mich, heute unseren aktuellen Antrag zur Förderung der Bildung und Ausbildung in der Entwicklungspolitik vorstellen zu können. Bildung ist bei Weitem kein neues Thema: Zusammen mit Gesundheit sind Bildung und Ausbildung fundamentale Elemente jeder entwicklungspolitischen Arbeit und Voraussetzung für die nachhaltige Entwicklung einer Gesellschaft. Bisher hat unsere bilaterale wie auch multilaterale staatliche Entwicklungszusammenarbeit Gutes geleistet. Die im Jahr 2000 initiierte Initiative „Education for all“ und die seit 2002 darauf aufbauende „Fast Track Initiative“ sind gelungene Beispiele dafür. Dennoch spricht der UNESCO-Weltbildungsbericht vom Dezember 2007 eine deutliche Sprache. Die Bildungssituation in vielen Ländern ist weiterhin besorgniserregend. Zurzeit besuchen fast 80 Millionen Kinder keine Schule, und der Zugang zu Bildung, insbesondere zur Grundbildung, ist für viele Menschen immer noch mit großen Schwierigkeiten und Hindernissen verbunden. Dabei ist eines unbestritten: Bildung ist ein Menschenrecht, ist wesentliche Voraussetzung für ein selbstbestimmtes Leben und für gesellschaftliche Teilhabe. Daher fordert unser Antrag den konsequenten Ausbau des Schlüsselsektors Bildung. Dabei ist wichtig, dass Bildung heute einerseits sektorübergreifend beispielsweise bei der Friedensentwicklung und Krisenprävention sowie der Demokratieförderung integriert werden muss, andererseits aber auch ein wichtiger selbstständiger Sektor ist und bleibt. Der Sektor Bildung ist also von elementarer Bedeutung, das sollte auch bei Regierungsverhandlungen immer wieder betont werden. Auf meiner Reise in den Ostkongo im Mai dieses Jahres hatte ich die Gelegenheit eine Schule zu besuchen, in der mit partizipativen Lehrmethoden das selbstständige Denken der Schüler gefördert wird und damit den Schülern auch friedliche Konfliktlösungskonzepte aufgezeigt werden. Hiervon unterscheidet sich noch deutlich die weit verbreitete herkömmlicher Methode der Unterrichtsgestaltung mit wenig selbstständiger Beteiligung der Schüler und einem Auswendiglernen von Dingen, die den Bedürfnissen der Region nicht entsprechen. Fragen der Schüler sowie Formulierung eigener Standpunkte ist dabei nicht Teil des Unterrichtsgeschehens. Dies hat Auswirkungen auf gesellschaftliches Handeln und die Eigenreflexion der Schüler. In einem Gespräch mit den Schülern wurde deutlich, dass die im Unterricht erarbeiteten Verhaltensregeln auch auf das Leben außerhalb der Schule übertragen werden. Die Schülerinnen und Schüler berichteten davon, wie sie das gemeinsame Diskutieren in der Gruppe, das sie im Unterricht eingeübt hatten, auch als Streitschlichtungsmodell für Schwierigkeiten im Freundeskreis außerhalb der Schule und in der Familie einsetzen. Nach Jahren des Bürgerkriegs und der Gewalt ist es insbesondere für die junge Generation unbedingt nötig, friedliche und demokratische Konfliktlösungsstrategien einzuüben. Denn auch dazu können Schulen beitragen. Dies zeigt, dass neben der Quantität der zu schaffenden Schulen auch die Qualität des angebotenen Unterrichts von entscheidender Bedeutung ist. Neben der Vernetzung von Bildung mit anderen Sektoren der Entwicklungszusammenarbeit wie Friedensentwicklung gibt es drei Kernfelder, bei denen Bildung als eigenständiger Schwerpunkt ansetzten muss: Allen voran ist die Grundbildung zu nennen. Wir als Sozialdemokraten haben uns schon von jeher für eine vom Elternhaus unabhängige Bildungschance für Kinder und für Bildungsgerechtigkeit eingesetzt. Das ist in der Entwicklungszusammenarbeit nicht anders. Daher ist bei der Grundbildung besonders wichtig, dass sie gebührenfrei erfolgt und auch die Lehrmittel kostenfrei sind. Insbesondere ist auch darauf zu achten, dass der Grundschulbesuch für Mädchen gefördert wird. Praxisorientierte Ansätze sind dabei wichtig: Die Schulwege müssen sicher gestaltet werden, weibliches Lehrpersonal muss verstärkt zum Einsatz kommen. Manchmal sind es einfaZu Protokoll gegebene Reden che Dinge wie die Einrichtung von nach Geschlechtern getrennten Schultoiletten, die es Mädchen leichter macht, die Schule zu besuchen. Nach der Grundbildung und dem Ausbau der Sekundarschulbildung, ist die berufliche Bildung und Weiterbildung als ein weiteres Kernelement der entwicklungspolitischen Bildungsarbeit zu nennen. Lassen Sie mich hier nochmals unterstreichen, dass das duale Berufsschulsystem, mit welchem wir in Deutschland gute Erfahrung haben, schon häufig in Partnerländern den Impuls für ähnliche Berufschulsysteme gab. In der beruflichen Bildung gilt es, Fachwissen und praktische Fähigkeiten wie auch soziale Verhaltensweisen zu erlernen, um Beschäftigungsfähigkeit zu schaffen. Auch hier möchte ich ein Beispiel von meiner Reise in den Kongo anführen. Das Berufsbildungszentrum CAPA in Bukavu bietet jungen Menschen die Chance, in den Bereichen Lederverarbeitung, Metallverarbeitung - KFZHandwerk - Schreinerei, Polsterei, Textilbearbeitung und Schneiderei, Gastronomie, Gitarrenbau, Seifenproduktion, Bau- und Maurerarbeiten und EDV eine Ausbildung zu erhalten, die es ihnen ermöglicht, sich nach ihrem Abschluss in ihrem erlernten Beruf selbstständig zu machen. Auch ein Lager, in dem die Absolventen günstig ihr Material für ihre eigene Werkstatt beziehen können, ist angeschlossen. Viele derjenigen, die hier eine Ausbildung erhalten, waren Kindersoldaten, Soldaten, die ihre Waffen abgegeben hatten, und Menschen aus schwierigstem familiären und sozialen Umfeld. Solche beruflichen Bildungsangebote, deren Qualifikationsmaßnahmen oft auch nur wenige Monate dauern, bieten eine Chance für Menschen, die bisher nicht den Weg im formalen Bildungssystem gehen konnten. In solchen Einrichtungen finden sich meist Alphabetisierungsangebote, auch Frauen werden durch diese besonders angesprochen und gestärkt. Das von mir erwähnte Institut in Bukavu schafft berufliche Perspektiven, die angesichts der kriegsbelasteten Vergangenheit der Menschen auch zu einem Weg zu einem neuen Leben in einer friedlichen Gesellschaft werden. Lassen Sie mich nun noch auf einige Aspekte der akademischen Bildung eingehen. Im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit kommt der akademischen Bildung ein wichtiger Auftrag zu. Im Bereich Wissenstransfer und Hochschulkooperation ist es wichtig, regionale Vernetzung seitens der Hochschulen zu betreiben. Dies kann nicht nur die Entstehung von Forschungsnetzwerken befördern, sondern dient auch dem Auf- und Ausbau akademischer Bildungseinrichtungen. Gerade die universitären Einrichtungen müssen mit Blick auf den Arbeitsmarkt des jeweiligen Landes Ausbildungsangebote machen: Der Fachkräftemangel im akademischen Bereich, insbesondere der Lehrkräftemangel, stellt eine besondere Herausforderung dar. Aber gerade am Beispiel der Lehrkräfte wird deutlich, wie wichtig es ist, auch die Bedingungen des Arbeitsumfelds zu gestalten, um qualitative Bildung zu gewährleisten. Dazu gehören eine adäquate Besoldung der Lehrer sowie Anreize für Lehrpersonal, auch an abgelegenen Standorten zu unterrichten. Zusammenfassend möchte ich folgende Aspekte nochmals betonen: Wie in Punkt acht unseres Antrags gefordert, ist der Grundbildungsförderung erhöhte Priorität beizumessen. Vollständige Primarschulbildung ist schließlich ein ausdrücklich formuliertes Millenniumsentwicklungsziel. Der Zugang zu Bildung und die Anwendung der erlernten Bildungsinhalte sind aber auch Grundlage zur Verwirklichung aller Millenniumsentwicklungsziele, sei es Armutsbekämpfung und wirtschaftliches Wachstum, das durch die praktische, berufliche Umsetzung des erlernten Wissens befördert wird, sei es die Förderung einer aktiven Zivilgesellschaft, bei der sich die in Bildungseinrichtungen vermittelten partizipativen Strukturen und Kommunikationsfähigkeiten positiv niederschlagen. Auch die im dritten Millenniumsentwicklungsziel formulierte Gleichstellung der Geschlechter ist im Bereich Bildung von weitreichender Bedeutung: Da Frauen bei der Entwicklung eine Schlüsselrolle für Entwicklung zukommt, ist die Bildung von Mädchen und Frauen explizit zu fördern. Selbstverständlich gilt das Recht auf Bildung auch für Menschen mit Behinderungen, denen in ungleich höherem Maße als anderen Menschen der Zugang zur Primarschulbildung verweigert wird. Grundlage für den Schulbesuch ist, dass Kinder nicht arbeiten müssen, um zum Lebensunterhalt der Familie beizutragen. Die Einhaltung der ILO-Kernarbeitsnormen und - für den Bereich der Bildung besonders wichtig das Verbot der Kinderarbeit sind dafür unabdingbare Voraussetzung. Zu guter Letzt will ich noch auf den Einsatz der Bundesländer für Bildung in der Entwicklungszusammenarbeit eingehen. Aufgrund unserer föderalen Struktur und der Länderhoheiten im Bereich Bildung kommt unseren Bundesländern hier nicht nur innenpolitisch, sondern auch im Rahmen entwicklungspolitischer Zielsetzungen Verantwortung zu. Was bereits innenpolitisch ein Grundsatz der Sozialdemokratie ist - Bildung muss gebührenfrei sein -, ist natürlich auch ein Anspruch an die Bildungsarbeit der Bundesländer mit Entwicklungsländern. Hier ist insbesondere der Abbau von Studiengebühren für Studierende zu nennen. Studiengebühren sind hinderlich für die Chancengleichheit; dies gilt für inländische Studierende ebenso wie für Studierende aus Entwicklungsländern. Bildung ist der Schlüssel für ein selbstbestimmtes Leben, gesellschaftliche Teilhabe und effektive Armutsbekämpfung. Es gibt viel zu tun!

Hellmut Königshaus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003709, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Seit Jahren kämpft die FDP für die Verbesserung der Bildung in Entwicklungsländern und somit der Lebenschancen der betroffenen Menschen. Erst jetzt kommt die Koalition mit einem Antrag zu Bildung in Entwicklungsländern. Es ist traurig, dass es so lange gedauert hat, aber immerhin hat die Koalition die Wichtigkeit des ProZu Protokoll gegebene Reden blems endlich erkannt. Sie hätte allerdings schon früher auf die Idee kommen können, dass die Bundesregierung in diesem Bereich bisher zu wenig getan hat. Zum Beispiel hätten die Koalitionsfraktionen in den Haushaltsberatungen der letzten Jahre den Anträgen der FDPFraktion zustimmen sollen. Wir haben jedes Jahr die Aufstockung der Mittel im Grundbildungsbereich um insgesamt 60 Millionen Euro, aufgesplittet auf finanzielle und technische Zusammenarbeit, gefordert, um der Bundesregierung die Chance zu geben, wenigstens ihre eigenen Planungsziele einzuhalten. Leider hat die Koalition dem nicht zugestimmt, und leider hat die Bundesregierung in diesem Bereich auch nichts getan. So ist die deutsche Entwicklungshilfe in diesem Bereich deutlich zurückgegangen: Von über 5 Milliarden Euro deutscher Entwicklungshilfe wurden lediglich 70 Millionen Euro der Förderung der Grundbildung zugeschrieben, was einen Anteil von nur 1,6 Prozent der ODA ausmacht. Das ist zu wenig, da Bildung von übergreifender Bedeutung für die Entwicklung ist. Bildung ist grundlegende Voraussetzung für jede Form wirtschaftlichen Wachstums. Ohne Bildung kann es keine Entwicklung geben, und ohne Fortschritt kann die Armut in den betroffenen Ländern nicht besiegt werden. Die Anwendung von Wissen und Fähigkeiten als Kern des Wirtschaftswachstums muss zentraler Bestandteil der Armutsbekämpfung werden und sowohl die Grund- als auch die Weiterbildung gezielter gefördert werden. Armut und Bildungsarmut hängen unmittelbar zusammen. Nachhaltige Bekämpfung der Armut erfordert also den Aufbau eines für alle zugänglichen Bildungssystems. Dabei ist zunächst die Grundbildung entscheidend. Ohne Grundbildung können Menschen kaum an demokratischer Willensbildung teilnehmen. Der Manipulation und Demagogie von Kriegsherren und Kleptokraten ist freie Bahn gegeben. Ohne Grundbildung ist schon eine einfache wirtschaftliche Betätigung erheblich erschwert. Analphabeten werden viel eher zu Opfern von Betrügern und Fälschern. Bildungsarmut verhindert zumeist den Zugang zur Justiz. Bildungsarmut führt wegen Unkenntnis oft zu Gleichgültigkeit gegenüber Menschenrechtsverletzungen. Deshalb muss ein Schwerpunkt deutscher und europäischer Entwicklungshilfe für die ärmsten Länder in dem Aufbau eines für alle zugänglichen Grundbildungswesens liegen. Die Entwicklung von Justiz, Marktwirtschaft und einem funktionierenden demokratischen System hängt davon ab, ob es genügend Menschen in dem jeweiligen Land gibt, die in der Lage sind, Verantwortung zu übernehmen. Daher ist auch die weiterführende Bildung für den Entwicklungsprozess entscheidend. In der weiterführenden Bildung müssen die ethischen Maßstäbe verantwortlichen Handelns, also die Voraussetzung des „good governance“, vermittelt werden. Deshalb muss ein weiterer Schwerpunkt der Entwicklungspolitik auf Hilfen zum Aufbau eines sekundären und tertiären Bildungssektors liegen. Der Zugang zur weiterführenden Bildung muss dabei für alle, Männer und Frauen, nach Leistungsmaßstäben diskriminierungsfrei zugänglich sein. Nur so kann sich Demokratie entwickeln. Die zu leistende Hilfe kann nicht nur finanziell gedacht werden, sie sollte auch inhaltliche und strukturelle Bestandteile haben. Die Bedeutung des Bildungssektors spiegelt sich auch in den Millenniumsentwicklungszielen, den MDGs, wieder. Zwei der von den Vereinten Nationen im Jahre 2000 festgesetzten MDGs benennen Bildung als einen der essentiellsten Beiträge im Kampf gegen Armut und für nachhaltige Entwicklung. So sieht einerseits MDG 2 die Erreichung der universellen Grundschuldbildung für Kinder bis zum 14. Lebensjahr vor: Alle Mädchen und Jungen sollen bis 2015 die Grundschule abschließen. MDG 3 bezieht sich auf die Förderung von Mädchen und Frauen und eine Gleichberechtigung der Geschlechter. Bis zum Jahr 2005 sollte eine geschlechterspezifische Unterscheidung in der Primär- und Sekundarbildung beseitigt werden, bis zum Jahre 2015 auf allen Ausbildungsebenen eine völlige Gleichbehandlung der Geschlechter erreicht werden. Auf dem Weltbildungsforum im April 2000 in Dakar verabschiedeten 164 Länder den Aktionsplan „Bildung für alle“, dessen sechs Ziele sich im Kern auf die Bereitstellung von angemessenen Bildungsangeboten für alle Altersstufen und die Halbierung der Analphabetenrate bis 2015 beziehen. Im April 2002 wurde unter Schirmherrschaft der Weltbank die Fast Track Initiative ins Leben gerufen, welche eine zusätzliche technische und finanzielle Unterstützung für die von Bildungsarmut betroffenen Länder bieten soll. Bildung ist damit in den Fokus der Armutsbekämpfung gerückt. Dennoch sind im Bereich der Bildung in entwicklungspolitischer Hinsicht zahlreiche Probleme zu beklagen. Insbesondere hat es die Bundesregierung in der Vergangenheit versäumt, ein einheitliches Konzept zur Erreichung der international festgesetzten Größen vorzulegen. Vielmehr steht nach der Hälfte des angestrebten Zeitrahmens laut dem von den Vereinten Nationen herausgegebenen Fortschrittsbericht bereits jetzt fest, dass die Millenium Development Goals in den meisten der betroffenen Länder, so unter anderem in Afrika südlich der Sahara und Westasien, nicht erreicht werden. Ungefähr 30 der 125 EFA-Länder sind laut dem Education for All Development Index nach wie vor weit von den EFA-Zielen entfernt; zu zwei Dritteln handelt es sich um Staaten in Afrika südlich der Sahara. Besonders schwierig ist immer noch die Situation der Menschen, die weder lesen noch schreiben können. So weist die UNESCO in ihrem im Jahre 2005 in London publizierten Weltbericht „Bildung für alle 2006“ auf die immer noch erschreckende Zahl von Analphabeten hin und macht das Thema Alphabetisierung zum Schwerpunkt ihres EFA Global Monitoring Report 2006. Die Gründe, warum ein Großteil der Kinder in Entwicklungsländern nicht zur Schule gehen kann oder diese vorzeitig abbricht, sind nicht ausschließlich auf die Abwesenheit von Schulen oder Lehrkräften zurückzuführen, sondern auch auf zahlreiche andere Faktoren wie fehlende Infrastruktur, kriegerische Auseinandersetzungen, Zu Protokoll gegebene Reden schlechte Regierungsführung und die Notwendigkeit, dass auch die Kinder armer Familien einen Beitrag zum existenziellen Auskommen leisten müssen. Wie soll beispielsweise ein Familienvater seine Kinder zur Schule schicken, wenn er gleichzeitig riskiert, dadurch die materielle Existenz seiner Familie zu gefährden, und weder weiß, ob ihnen die Schulbildung in der Zukunft neue Chancen eröffnet noch ob sie am nächsten Tag überhaupt etwas zu essen auf den Tisch bekommen? Ein Kind kann nun mal nicht auf dem Feld oder sonst wo arbeiten und gleichzeitig auf der Schulbank sitzen und lernen. Mit hungrigem Magen lässt es sich nun einmal schlecht lernen. Bildung braucht also nicht nur Schulen und Lehrer, sondern auch ein Umfeld, in dem sich Bildungsinvestitionen entwickeln können. Wir täten zum Beispiel gut daran, EU-Agrarsubventionen abzubauen, um den afrikanischen Bauern die Möglichkeit zu eröffnen, ihre Waren zu fairen Preisen auf dem Weltmarkt anzubieten, und dafür zu sorgen, dass verfehlte Klimaschutzpolitiken nicht zu einem existenzbedrohenden Anstieg der Lebensmittelpreise und ungenutzten Anbaupotenzialen in genau den Regionen führen, die es sich am wenigsten leisten können. Diese Verfehlungen treffen natürlich in erster Linie die Ärmsten der Armen, und ganz besonders deren Kinder. Solange wir keine Lösung für Ernährungsfragen und Fragen der politischen Stabilität finden, müssen wir uns über mangelndes Engagement der betreffenden Regierungen und Bevölkerungen hinsichtlich des Aufbaus eines zukunftsfähigen Bildungssystems nicht wundern. Dass wir die Entwicklungsländer stärker unterstützen müssen, darüber sind sich alle Fraktionen hier im Parlament offensichtlich einig. Schade nur, dass die Bundesregierung diesen Bereich in der Vergangenheit zu sehr vernachlässigt hat. Es ist insofern zu begrüßen, dass die Große Koalition jetzt mit einem Antrag kommt, in dem sehr viele richtige Forderungen enthalten sind. Leider wird das Fehlverhalten der Bundesregierung darin völlig ausgeblendet. Wieso hat die Koalition in den letzten drei Jahren denn nicht schon einmal mit ihrer parlamentarischen Mehrheit darauf hingewirkt, dass die Regierung ihre Prioritäten ändert? Jetzt diesen Antrag hinterherzuschieben, als sei die ganze Zeit nichts gewesen, hat lediglich Alibicharakter. Den Antrag der Linken muss man nicht weiter kommentieren. Ein gutes Anliegen wird missbraucht, um linker Ideologie gegen private Schulen, den Welthandel und die Weltbank Platz zu bieten. Damit wird die Fraktion Die Linke diesem wichtigen Thema wirklich nicht gerecht.

Hüseyin Kenan Aydin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003733, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Der Bildungssektor muss im Rahmen der vom Bundestag im vergangenen März geforderten Neuausrichtung der Entwicklungszusammenarbeit auf die Sozialsysteme gestärkt werden. Denn weltweit sieht die Bildungssituation immer noch alles andere als befriedigend aus. Nach den neuesten Zahlen können 780 Millionen Erwachsene weder lesen noch schreiben. Mindestens 72 Millionen Kinder haben keine Möglichkeit, zur Schule zu gehen. Die Mehrheit unter ihnen sind Mädchen. Am härtesten trifft es Kinder mit Behinderung, von denen nicht einmal 10 Prozent eingeschult werden. Die Linke legt heute einen Antrag vor, der die Umsetzung der im April 2000 auf dem Weltbildungsforum in Dakar vereinbarten sechs Entwicklungsziele fordert, darunter die Sicherstellung einer obligatorischen, gebührenfreien und qualitativ guten Grundschulbildung für alle Kinder bis 2015. Die damalige Bundesregierung hat sich selbst verpflichtet, dieses Ziel durch einen angemessenen Beitrag zu unterstützen. Leider müssen wir heute feststellen, dass sie dieses Versprechen gebrochen hat. Dies gilt insbesondere für die Grundbildung. Dieser Sektor stellt nach wie alles andere als einen Schwerpunkt der deutschen Entwicklungszusammenarbeit dar. Die Ausgaben für Grundbildung betrugen 2006 nicht mehr als 1 Prozent des Entwicklungshaushaltes. Angesichts dieser Defizite ist es zu begrüßen, dass auch die Bundestagsfraktionen von SPD und Union durch die Vorlage eines eigenen Bildungsantrages heute ihre eigene Regierung an die eingegangenen Selbstverpflichtungen erinnern wollen. Doch leider müssen wir dabei feststellen, dass sie am Ende Angst vor der eigenen Courage bekamen. Wie sonst ist es zu werten, dass sie in ihrem vorliegenden Antrag nirgends konkret werden? Sie verlieren sich in Allgemeinplätzen, die nichts bewegen werden. Deutlich wird das etwa an ihrem Umgang mit dem multilateralen Bildungsfonds FTI. Sie prangern das Defizit an, das die Zahlungsunwilligkeit der G 8 in diesem Fonds hinterlassen hat. Doch zum konkreten Engagement der Bundesregierung fällt kein Wort. Ich helfe ihnen auf die Sprünge. Auf der Brüsseler Bildungskonferenz vom Mai 2007 sagte die Bundesregierung die Bereitstellung von 8 Millionen Euro für den sogenannten Catalytic Fund der FTI zu. Das ist praktisch nichts. Die Niederlande haben sich bereit erklärt, in den denselben Fonds bis 2009 satte 470 Millionen Euro einzustellen. Das Schönreden haben sie von ihrer Regierung abgeguckt. Seit Jahren fordern Nichtregierungsorganisationen und die Linke, dass endlich eine saubere Buchführung bei der Ausweisung der offiziell geleisteten Entwicklungshilfe eingeführt wird. Die bilaterale Hilfe wird in den Bilanzen der Bundesregierung systematisch aufgebläht. 2005 wurden 985 Millionen Euro der bilateralen Leistungen für den Gesamtsektor Bildung ausgewiesen. Davon entfielen allerdings 745 Millionen auf die Anrechnung der Studienplatzkosten ausländischer Studierender in Deutschland. Das ist eine rein fiktive Größe. Solange sie nicht aufhören, die Bilanzen derart zu schönen, bleiben ihre vollmundigen Versprechen vollkommen unglaubwürdig. Fakt ist: Gemessen am Bruttonationaleinkommen läge nach Berechnungen der Globalen Bildungskampagne der angemessene Anteil Deutschlands zur Finanzierung der bildungspolitischen Millenniumsziele bei jährlich rund 560 Millionen Euro. Tatsächlich brachte die Bundesrepublik im Durchschnitt der Jahre 2004 und 2005 davon bestenfalls 39 Prozent auf - wenn man von der großzügigen Annahme ausgeht, dass ein Drittel der unspezifizierten Gelder für Entwicklungshilfe im Bereich Bildung in die Förderung von Grundbildung fließen. Zu Protokoll gegebene Reden Hier wird klar: Ihre Buchführung ist deshalb so unsauber, weil sie das ganze Ausmaß der Kluft zwischen Ankündigungen und Umsetzung vertuschen wollen. Lassen Sie mich noch dieses anfügen: Dort, wo die Regierungsfraktionen konkret werden, dort wo sie nicht beschönigen, dort stellen sie der Bundesregierung ein erbärmliches Zeugnis aus. Ich spreche von Afghanistan. Sie stellen fest: Afghanistan hat mit 72 Prozent die höchste Analphabetenrate weltweit - und das nach fast sieben Jahren des sogenannten Wiederaufbaus. Und ich füge an: Auch auf dem alle sozialen Indikatoren umfassenden Weltentwicklungsindex ist Afghanistan in dieser Zeit noch weiter zurückgefallen. Deutlicher kann man wohl kaum machen, dass der ganze Bundeswehreinsatz in Afghanistan ein einziges kostspieliges Desaster darstellt. Sparen Sie endlich die Milliarden für den Militäreinsatz ein! Dann würde auch für die Bekämpfung des weltweiten Analphabetismus mehr übrig bleiben. Ich komme zum Schluss noch auf ein Problem zu sprechen, das häufig in den Diskussionen untergeht. Es ist gut, wenn die KfW-Entwicklungsbank den Bau von Schulen in den Elendsvierteln Nairobis finanziert. Doch das allein bringt uns dem Ziel einer qualitativ guten Grundbildung nicht näher. Entscheidend ist, dass genügend gut ausgebildete Lehrkräfte zur Verfügung stehen. Sie finden in manchen Entwicklungsländern häufig unhaltbare Situationen vor, selbst dort, wo alle Kinder eines Ortes eingeschult worden sind. So zeigte jüngst eine Dokumentation des Senders arte beispielhaft, wie in einer Grundschule in Madagaskar eine Lehrerin in ein und derselben Stunde zwei Klassen gleichzeitig unterrichten muss - mit je 50 Kindern! Da verwundert es nicht, dass viele Kinder zwar eingeschult werden, aber nicht einmal die vier Klassen der Grundschule absolvieren. Es ist deshalb erforderlich, neben den Einschulungsraten auch die Abbrecherquoten bei der Bewertung der Fortschritte in der Grundbildung zu berücksichtigen. Die Linke fordert, dass sich die Entwicklungszusammenarbeit mit Nachdruck auf die Erhöhung der Anzahl qualifizierter Lehrkräfte orientiert. Nach Schätzungen der UNESCO müssen in Schwarzafrika bis 2015 zusätzlich 1,6 Millionen Lehrkräfte eingestellt werden, damit jedes Kind eine angemessene Grundschulbildung erhalten kann. Um hier Abhilfe zu schaffen, kommen wir nicht umhin, auch über die Beteiligung der Entwicklungszusammenarbeit an Qualifizierungsmaßnahmen und der Besoldung der Lehrkräfte nachzudenken. Dies wäre im Rahmen einer konditionierten Budgethilfe auch ohne Weiteres machbar. Des Weiteren müssen CIM als integriertes Rückführungsprogramm von Arbeitsagenturen und GTZ weiter gestärkt werden. Modelle der so genannten zirkulären Migration, wie sie im Antrag der Regierungsfraktionen propagiert werden, sind hingegen zum Scheitern verurteilt, da sie auf Zwang statt auf Anreiz beruhen.

Ute Koczy (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003788, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Zu Recht wird der Bildung in der internationalen Entwicklungszusammenarbeit ein hoher Stellenwert eingeräumt. Denn Bildung kann den Armutskreislauf durchbrechen und ist eine der wesentlichen Voraussetzung für die Entwicklung eines Landes. 1998/99 waren in SubSahara-Afrika nur 57 Prozent der Kinder eingeschult. Dann kamen im Jahr 2000 das Weltbildungsforum in Dakar/Senegal und die Millenniumserklärung der Vereinten Nationen. Die Staatengemeinschaft verpflichtete sich in den Erklärungen der beiden Gipfel die Bildungssituation in den Entwicklungsregionen der Welt zu verbessern. Grundschulbildung soll bis 2015 allen Kindern zugänglich gemacht werden. Die Statistiken der Vereinten Nationen zeigen seit den Verpflichtungserklärungen gute Fortschritte bei den Einschulungsquoten. So erhöhte sich besonders prägnant in den Ländern Sub-Sahara-Afrikas die Quote bis 2005 auf 70 Prozent. In allen Entwicklungsregionen zusammengenommen stieg diese zwischen 1998/99 bis 2005 von 83 auf 88 Prozent. Nimmt man absolute Zahlen, so wird deutlich, dass es immer noch sehr viel zu tun gibt; denn 77 Millionen Kinder erhalten weltweit immer noch keine Grundbildung. Neben Armut, die viele Kinder dazu zwingt ihren Beitrag zur Haushaltskasse beizutragen, sind es vor allem Schulgebühren, die viele arme Familien, besonders auf dem Land, daran hindern ihre Kinder in die Schule zu schicken. Eine gebührenfreie Grundschulbildung zu erreichen muss in den Bildungsplänen der jeweiligen Staaten implementiert werden. Besondere Fortschritte sind demnach auch in den Ländern zu verzeichnen, die ebendiese abgeschafft haben, so in Ghana oder Mosambik. Deutschland hat sich den internationalen Entwicklungszielen verpflichtet und muss seinen Beitrag leisten, um das Ziel des universellen Zugangs zu einer Grundschulbildung bis 2015 zu erreichen. Die Mittel, die es dafür ausgibt, sind aber relativ gering. Die Globale Bildungskampagne attestiert Deutschland, dass es für die Grundbildung weit unter dem „fairen Anteil“ gemäß der deutschen Wirtschaftskraft liegt. In der Tat gilt es zu klären, wie eine angemessene Beteiligung Deutschlands auszusehen hätte und auf welcher Grundlage diese zu errechnen wäre. Besonders das geringe Engagement Deutschlands in der Education For All, EFA, - Fast Track Initiative, FTI, der Weltbank ist sehr kritisch zu sehen. In der Initiative werden in erster Linie diejenigen Entwicklungsländer finanziell wie technisch unterstützt, die durch langfristig angelegte Aktionspläne den Zugang zu Bildung systematisch verbessern wollen. Dadurch gibt es ein hohes Maß an verbindlicher Planung und Identifikation mit den Bildungszielen der Vereinten Nationen. Die großen Geberländer sollten der Initiative den entsprechenden finanziellen Spielraum einräumen, um die Reformbemühungen der Partnerländer effizient zu unterstützen. Deutschland muss sich aus unserer Sicht an der Initiative mit mehr Geld beteiligen. Bis dato sind drei Millionen US-Dollar für EFA-FTI aus dem Bundeshaushalt geflossen. Verglichen mit den Niederlanden, die sich bisher mit 430 Millionen US-Dollar beteiligen, ist das einfach zu wenig. Den Koalitionsfraktionen ist dies scheinbar aufgefallen. Sie fordern von der Bundesregierung eine angemessene finanzielle Ausstattung der EFA-FTI, lassen aber nicht erkennen an welche Größenordnung sie dabei denken. Ein wesentlich höherer Betrag wird für die Förderung ausländischer Studierender und die Hochschul- und Wissenschaftskooperation ausgegeben. Im Grundsatz ist die Zu Protokoll gegebene Reden Hochschul- und Wissenschaftskooperation nicht zu kritisieren und wir teilen nicht die Auffassung, dass dadurch die bilateralen EZ-Mittel künstlich aufgebauscht werden. Dass würde voraussetzen, dass diese Formen der Förderung und Kooperation keine Instrumente der Entwicklungszusammenarbeit sind bzw. sein sollten. Sie sind es aber, denn sie leisten einen wichtigen Beitrag zum geforderten Capacity Building in den Entwicklungsländern. Ich frage aber kritisch nach, ob die finanzielle Übergewichtung dieses Sektors in Relation zur Förderung der Grundbildung den Entwicklungszielen der Bundesregierung nicht zuwider läuft. Der Antrag der Koalitionsfraktionen beschreibt umfassend den Bereich Bildung in der Entwicklungszusammenarbeit. Wichtige Handlungsfelder werden erwähnt, von der Grundschulbildung über weiterführende Bildung und Berufschulbildung bis zu Bildung in fragilen Staaten. Es lässt sich allerdings - insbesondere im Forderungsteil nicht immer nachvollziehen, worin der optimale deutsche Beitrag liegt. Wo hat Deutschland wirkliche Kompetenz, die von den Partnerländern verstärkt und erwünscht wird? So wäre es interessant zu wissen, was die Koalition unter den „komparativen Vorteilen Deutschlands bei der Konzeption von Bildungssystemen“ verstehen und vor allem wie diese in Entwicklungsländern eingebracht werden können. Konkret: Was können Mali oder Vietnam vom deutschen Bildungssystem lernen? Dazu brauchten wir eine Bestandsaufnahme unserer Stärken im Bildungsbereich, wobei immer noch die Frage zu klären wäre, ob und wie sich diese auf andere Länder übertragen ließen. Ähnliches gilt für den Hinweis, sich verstärkt in fragilen Staaten zu engagieren. Bildung in Konfliktstaaten ist ein wichtiges Thema. Dies steht nicht zur Frage. Aber die Arbeit mit und in fragilen Staaten ist komplex, und die Weltgemeinschaft steht damit noch am Anfang. Es stellt sich also die Frage, ob es eine realistische Einschätzung gibt, welche bildungspolitischen Konzepte in solchen Staaten notwendig und möglich sind? Haben wir in diesem Bereich Konzepte anzubieten und können wir auf Erfahrungswerte zurückgreifen? Der Antrag lässt aus unserer Sicht keine Schwerpunktsetzung erkennen. Es reicht nicht aus, den ganzen Bogen der Probleme zu benennen, ohne den eigenen Anteil an einer möglichen Lösung wirklich benennen zu können.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/9424 und 16/8812 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst Meierhofer, Michael Kauch, Angelika Brunkhorst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Verfahren vereinfachen, Bürger entlasten, Rechtssicherheit schaffen - Notwendige Bedingungen für die Sinnhaftigkeit eines Projekts „Umweltgesetzbuch“ - Drucksache 16/9113 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Andreas Jung ({1}), CDU/CSU, Dr. Matthias Miersch, SPD, Horst Meierhofer, FDP, Lutz Heilmann, Die Linke, Sylvia Kotting-Uhl, Bündnis 90/Die Grünen.

Andreas Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003780, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir reden heute über einen Antrag der FDP-Fraktion, der durch den Gesetzentwurf für ein UGB, der vor kurzem versendet worden ist, zum Teil schon überholt ist. Zunächst einmal vorweg: Die Union will das UGB; das haben wir bereits im Koalitionsvertrag deutlich gemacht. Aber genauso gilt: Wir wollen das UGB nicht als Selbstzweck, wir verbinden damit konkrete Anforderungen; auch das wird bereits im Koalitionsvertrag deutlich. Die Anforderungen, die wir stellen, unterscheiden sich nicht wesentlich von jenen, die die FDP in ihrem Antrag benennt: Wir wollen das UGB, um das zersplitterte deutsche Umweltrecht zusammenzuführen. Wir wollen dadurch Verfahrenserleichterungen erreichen. Wir wollen weniger Bürokratie, und wir wollen bessere Europatauglichkeit. Auch in dem, was wir nicht wollen, treffen wir uns mit der FDP: Die bestehenden materiellen Umweltstandards müssen erhalten bleiben. Mit dem UGB sollen Standards weder erhöht noch abgesenkt werden. Wir wollen keine Beeinträchtigung von Privateigentum oder Bewirtschaftungsmöglichkeiten, die über das aktuelle Maß hinausgeht. An all diesen Vorgaben wird die Union den vorliegenden Entwurf Punkt für Punkt messen. Wo die Anforderungen nicht erfüllt werden, wird sich die Union für Änderungen starkmachen. Die gute Nachricht: Vieles von dem, was die FDP in ihrem Antrag befürchtet, ist bereits vom Tisch: Das gilt für den befürchteten Eingriff in bestehende Eigentumsrechte durch Beschränkung des Bestandsschutzes für alte Rechte und alte Befugnisse. Die Union hat klargemacht, dass sie dem nie und nimmer zustimmen wird. Damit haben wir erreicht, dass diese Regelung im Gesetzentwurf erst gar nicht auftaucht. Das gilt auch für die kritisierte freie Widerruflichkeit jeglicher Gewässerbenutzung im Rahmen der integrierten Vorhabengenehmigung, die im Referentenentwurf enthalten war. Die Kritik aus der Union hat dazu geführt, dass hier eine Alternative gesucht wurde, die den Bestandsschutz sichern soll. Wir werden sorgfältig prüfen, ob das durch die im Gesetzentwurf enthaltene Regelung erreicht wird. Und schließlich: Das EEG soll nicht Bestandteil des UGB werden. Warum? Nicht weil es nicht wichtig wäre das EEG ist eines der zentralen Instrumente zur Verwirklichung der Klimaschutzziele. Aber es passt nicht in ein Buch, in dem das zersplitterte Umweltrecht zusammengeführt werden soll. Das EEG ist ein Förderprogramm wie etwa das Marktanreizprogramm oder das CO2-Gebäudesanierungsprogramm. Mit welchem Argument sollte man Andreas Jung ({0}) das eine Gesetz aufnehmen, die anderen aber nicht? Systematisch ist es sinnvoller, Fördergesetze von der im UGB zusammengefassten Materien zu trennen. Entscheidend wird am Ende sein: Erreichen wir mit dem UGB tatsächlich Verfahrenserleichterungen? Kernstück soll die integrierte Vorhabengenehmigung sein. Den im Gesetzentwurf hierfür enthaltenen Vorschlag werden wir daher besonders intensiv prüfen. Zu diesem, aber auch zu allen anderen Punkten werden wir unseren Standpunkt in Gesprächen mit den Betroffenen, mit Vertretern von Wirtschaft und Umwelt, mit Experten aus der Praxis und der Wissenschaft erarbeiten. Dazu werden wir im parlamentarischen Verfahren nach der Sommerpause und gerade bei den notwendigen Anhörungen ausreichend Gelegenheit haben. Ich freue mich auf die Beratungen.

Dr. Matthias Miersch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003809, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Als ich den vorliegenden Antrag der FDP zum Umweltgesetzbuch auf den Schreibtisch bekam, musste ich erst einmal genau hingucken, welches Datum dieser Antrag trägt. Ich dachte zunächst, es handele sich um einen veralteten Antrag aus dem Jahr 2005. Aber: Es ist tatsächlich ein Antrag vom 7. Mai 2008! Was soll dieser Antrag zu dieser Zeit? Er enthält in den Überschriften zunächst eine Aufzählung allgemeiner Aussagen, die bereits vor und nach der Föderalismusreform stets genannt wurden, wenn das große Vorhaben eines Umweltgesetzbuches angesprochen wurde: Sie schreiben: „Das UGB soll Potenziale zur Vereinfachung und Entbürokratisierung umfassend ausschöpfen“ - na klar -, „Die bestehenden Umweltstandards müssen erhalten bleiben“ - selbstverständlich -, „das UGB muss Planungssicherheit für Investitionsentscheidungen sowie Bestandsschutz gewährleisten“ - natürlich - und - Ihr letzter Punkt - „Das UGB muss Rechtssicherheit und Rechtsklarheit für die Rechtsanwender schaffen“ - sehr gutes Ziel! Als politische Zielsetzung wäre Ihr Antrag im Jahr 2005 durchaus diskutabel gewesen. Ja, er wäre auch in den 70er-Jahren zeitgemäß gewesen, nachdem bereits dort über eine Kodifikation des Umweltrechts nachgedacht wurde. Im Jahr 2008 ist er jedoch überflüssig und nicht zielführend. Sie wissen, dass wir aktuell weiter sind. Es liegt ein Referentenentwurf vor. Insoweit wäre - wenn überhaupt zu diesem Zeitpunkt - eine Auseinandersetzung mit diesem augenblicklich in der Anhörung befindlichen Regierungsentwurf angezeigt gewesen. Wenn Sie jedoch den Entwurf ansprechen, bleiben Sie äußerst oberflächlich. Zudem scheinen die Aussagen in Ihrem Antrag auch widersprüchlich zu sein, sodass er insoweit zudem nicht zustimmungsfähig ist. Da führen Sie zum Beispiel aus, dass das Gesetz für den Vorrang erneuerbarer Energien mit den Regelungsmotiven des UGB wenig gemein habe. Klima- und Ressourcenschutz sowie die Abkehr von den fossilen Energieträgern sind die zentralen Umweltthemen. Sind Sie wirklich der Auffassung, dass ein Umweltgesetzbuch zu diesen zentralen Themen schweigen sollte? Ist nicht das UGB auch der richtige Ort, um klare Zielsetzungen des Umweltrechts zu formulieren, an denen sich die Rechtsanwendung orientieren muss? Weiter kritisieren Sie unter der Überschrift „bestehende materielle Umweltstandards müssen erhalten bleiben“ die Einführung einer Genehmigungspflicht kleiner Biogasanlagen bzw. die Wärmenutzung als Genehmigungsvoraussetzung. Haben Sie sich die Effizienz bestimmter Anlagen einmal angesehen? Sie wissen doch genau, dass bestimmte Anlagen mit den notwendigen Umweltstandards nicht mehr zu vereinbaren sind, sodass es doch mehr als fahrlässig wäre, diese Punkte im Rahmen eines Umweltgesetzbuches nicht anzusprechen. Interessant sind auch die Aussagen zum Wasserrecht. Auf Seite 2 fordern Sie noch die Ausschöpfung der Potenziale zur Vereinfachung und Entbürokratisierung. Wenn es dann aber um die Vereinheitlichung geht und alte Rechte, die teilweise bis in das 13. Jahrhundert zurückreichen und überhaupt nicht mehr rechtlich zu handhaben sind, in ein einheitliches Regelungssystem überführt werden, kritisieren Sie das wieder. Ich habe deshalb den Eindruck, dass Entbürokratisierung bei Ihnen eine andere Bedeutung hat und eher die Forderung nach der Absenkung von Umweltstandards beinhalten soll. Sie wissen darüber hinaus, dass mit der Wasserwirtschaft gerade auch hier intensiv beraten wurde und wohl eine - für alle Beteiligten - akzeptable Regelung gefunden werden kann. Das waren exemplarisch nur einige Beispiele, die zeigen, dass Ihre umweltpolitischen Zielsetzungen offenkundig nicht mit den im Antrag gewählten Überschriften zu vereinbaren sind. Ich könnte jetzt noch weitere dieser Widersprüchlichkeiten aufzählen, will jedoch die Zeit nutzen, um für die SPD-Fraktion noch einmal ein paar Dinge zum weiteren Verfahren zu sagen: Wir begrüßen ausdrücklich, dass das Bundesumweltministerium nun das Verfahren zur Anhörung der Länder und Verbände mit einem Entwurf eingeleitet hat, der dokumentiert, dass wir eine Stufe erreicht haben, die in den früheren Jahrzehnten, in denen es zahlreiche vergebliche Anläufe gegeben hat, nie erreicht wurde. Wir fordern alle Beteiligten auf, dieses Vorhaben nun konstruktiv zu begleiten. Auch die SPD-Fraktion wird das bereits in diesem Stadium tun, wenngleich ich darauf hinweisen möchte, dass das parlamentarische Verfahren erst nach der Kabinettsentscheidung beginnen wird und wir uns dann, liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, über all die Inhalte austauschen können und werden. Dazu sollten Sie jedoch differenziertere und substanziellere Vorschläge ausarbeiten. Der Weg zum vorliegenden Entwurf war bereits steinig. Die Diskussionen unter den Ressorts haben die unterschiedlichen Vorstellungen offenbart. Bezieht man die Abweichungskompetenz und die Sichtweise der Länder mit ein, so zeigt sich, vor welch großen Herausforderungen das Bundesumweltministerium gestanden hat und weiter steht. Ich erachte es deshalb als sinnvoll, dass sich das Bundesumweltministerium zunächst auf die Kodifikation des Umweltrechts bei gleichzeitigem Erhalt der bestehenden Zu Protokoll gegebene Reden Umweltstandards konzentriert und sich nicht schon im Vorfeld auf von Einzelinteressen geleitete Regelungen einlässt. Der Entwurf soll das bislang durch einzelne Fachgesetze zersplitterte deutsche Umweltrecht stärker integrativ unter Berücksichtigung von Wechselwirkungen zwischen den Umweltmedien Wasser, Luft und Boden ausrichten. Aber: Die Erwartungen sollten insoweit aber auch nicht überspannt werden. Natürlich ist es Aufgabe der Opposition, die Dinge zu kritisieren. Aber die vollständige Aufnahme des Immissionsschutzrechts wäre nach meiner Einschätzung eine solche Überspannung. Sie unterschlagen bzw. verkennen in diesem Zusammenhang auch, dass sich mit der Schaffung der integrierten Vorhabengenehmigung erstmals die Chance bietet, Genehmigungsverfahren zusammenzuführen. Damit entsteht die Möglichkeit, einerseits für den Normadressaten eine Vereinfachung zu konzipieren. Ich bin deshalb zuversichtlich, dass zudem der Vollzugsaufwand der öffentlichen Verwaltung gesenkt wird, sodass Rationalisierung auch zu mehr Effektivität und Effizienz führen kann. In Planspielen und Fachgesprächen sind vor allem die Genehmigungs- und Verfahrensvorschriften mit Vertretern des BMU von Zulassungsbehörden und Unternehmen eingehend auf Praxistauglichkeit überprüft worden. All dieses bildet eine hervorragende Grundlage. Die anstehenden Beratungen werden eine große Herausforderung sein. Da alle Fraktionen des Deutschen Bundestages ihre Unterstützung bei der Schaffung des UGB signalisiert haben, sollte das Bundesumweltministerium ausreichende Rückendeckung erhalten, einen möglichst breiten, aber auch zielorientierten Dialog über die verschiedenen Aufgabenstellungen und Anforderungen zu führen. Bereits im Frühjahr 2007 fand ein erstes ausführliches Symposium zwischen Wissenschaft, Bundesumweltministerium und Umweltpolitikern des Deutschen Bundestages statt. Trotz oder gerade wegen der unterschiedlichen Interessenslagen und der aufgezeigten Probleme sollte das UGB Ergebnis eines möglichst breit angelegten Dialoges sein, der gegebenenfalls auch Perspektiven für die weitere Arbeit nach der Verabschiedung eines ersten UGBs eröffnet. Die nun im Juni folgende Anhörung und Erörterung für Verbände, Länder und kommunale Spitzenverbände wird die SPD-Fraktion mit großer Aufmerksamkeit verfolgen. Das Umweltgesetzbuch muss verwirklicht werden. Es wäre ein erster, aber wichtiger Schritt hin zu einem übersichtlichen und anwenderfreundlichen Umweltrecht. Es kann darüber hinaus zugleich eine solide Grundlage liefern für weitere innovative Schritte im Bereich des Umweltrechts.

Horst Meierhofer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003806, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Die bisherigen Bemühungen der Bundesregierung, ein Umweltgesetzbuch zu schaffen, zeigen deutlich: Nicht nur beim Klimaschutz und bei den erneuerbaren Energien, auch bei der Umweltgesetzgebung wird die Luft für Schwarz-Rot langsam dünn. Die Differenzen in der Großen Koalition sind auch hier längst offensichtlich. Ob das Vorhaben UGB in dieser Legislaturperiode noch gelingt, bezweifeln mittlerweile selbst Abgeordnete aus den Regierungsfraktionen. Noch immer gibt es eine Reihe zentraler Punkte, bei denen Union und SPD auf keinen gemeinsamen Nenner kommen. Ich denke da nur an die naturschutzrechtliche Eingriffsregelung! Und dabei wird die Zeit so langsam wirklich knapp. Ein Vermittlungsverfahren darf eigentlich schon nicht mehr vorkommen, wenn das UGB tatsächlich noch vor 2010 in Kraft treten soll. Der einstmals von Herrn Gabriel angekündigte große Wurf ist in weite Ferne gerückt, um nicht zu sagen, er hat sich in Luft aufgelöst. Mit viel Glück wird die Bundesregierung am Ende der Legislaturperiode ein Regelwerk präsentieren, auf dessen Einband „UGB“ steht. Doch: Das reicht nicht! Wir Liberale sind der Meinung, die Schaffung eines einheitlichen Umweltgesetzbuchs sollte mehr sein als ein Beschäftigungsprogramm für Ministerialbeamte und Prestigeprojekt des ein oder anderen Beteiligten. Wir sind der Meinung, ein UGB macht nur - und nur dann - Sinn, wenn es vor allem folgende drei Voraussetzungen erfüllt: Das UGB muss erstens grundlegende Verbesserungen und Vereinfachungen im Verwaltungsverfahren herbeiführen. Das UGB muss zweitens mehr Rechtsicherheit und mehr Rechtsklarheit für die Rechtsanwender bringen. Und drittens müssen die materiellen Umweltstandards tatsächlich unangetastet bleiben. Wir wollen weder eine Verschärfung noch eine Absenkung, sondern eine Beibehaltung des Status quo. Das haben wir auch in unserem Antrag deutlich gemacht, und daran werden wir die Arbeit der Bundesregierung messen. Vor diesem Hintergrund begrüße ich es natürlich, dass die neuesten Entwürfe zumindest an der einen oder anderen Stelle den Forderungen unseres Antrags Rechnung tragen. Dies gilt vor allem für die Abkehr von der freien Widerruflichkeit des wasserrechtlichen Teils der integrierten Vorhabengenehmigung und den Fortbestand der sogenannten alten Rechte, aber zum Beispiel auch für die Begriffsdefinitionen im Naturschutzrecht. Ich begrüße es auch, dass die Bundesregierung unserer Forderung nachgekommen ist, das EEG nicht im UGB aufzunehmen. Es hat da einfach nichts verloren! Und trotzdem: Auch die neuen Entwürfe bleiben noch immer hinter unseren Erwartungen an ein wirklich sinnvolles UGB zurück, das diesen immensen Aufwand überhaupt wert ist. Auch die neuen Entwürfe enthalten noch immer Regelungen, durch die die Genehmigungsverfahren gerade für den Mittelstand komplizierter anstatt einfacher werden. Zum anderen hat parteipolitisch gefärbte Lyrik in einem solchen Regelwerk - dessen Anspruch eine Allgemeingültigkeit ähnlich der des BGB ist - nichts zu suchen. Zu Protokoll gegebene Reden Das gilt vor allem für die klar erkennbaren Tendenzen hin zu einer Rekommunalisierung, die das Wasserbuch, wie einen roten Faden durchziehen. Vor allem der SPD sei an dieser Stelle gesagt: Gemeinwohl und Privatisierung sind keine Gegensätze. Auch Private können von den Kommunen klar umrissene Aufgaben zur vollsten Zufriedenheit der Bürgerinnen und Bürger in unserem Land erfüllen. Die Bedeutung und Reichweite des Begriffs der Daseinsvorsorge ist alles andere als klar, sodass wohl auch das Ziel der Rechtsvereinfachung eher konterkariert wird; man wollte nur einmal mehr eine Streicheleinheit an die kommunalen Unternehmen ins Gesetz packen; inhaltlich schwammig, aber zumindest wird es einem warm ums Herz. Ich hoffe, dass sich bis zur endgültigen Verabschiedung des UGB noch einiges zum Positiven verändert. Die FDP wird das Projekt jedenfalls weiterhin kritisch begleiten.

Lutz Heilmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003766, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Durchhalten ist Ihre Parole, meine Damen und Herrn von der Koalition. In zentralen Fragen bekommen Sie nichts auf die Reihe. Das Umweltgesetzbuch droht wie der zweite Teil Ihres sogenannten Klimapakets zu floppen. Die von Ihnen eingeleitete Anhörung der Verbände und der Länder ist nichts als Augenwischerei. Hier wollen Sie ein Vorankommen vortäuschen, das es gar nicht gibt. Fakt ist, dass zentrale Elemente des Umweltgesetzbuches innerhalb der Regierung immer noch nicht abgestimmt sind. Es ist schon ein einmaliger Vorgang, dass sich die Länder nun aussuchen können, wie sie es denn gerne hätten. Das ist Wünsch-dir-was-Politik. Die FDP - die sich auch viel wünscht - bestätigt mit ihrem Antrag wieder einmal, dass sie der parlamentarische Arm der Wirtschaftsverbände ist. Ich werde mich aber jetzt nicht mit der Vorhabensgenehmigung auseinandersetzen, sondern mit dem ebenso umstrittenen Naturschutzrecht im Umweltgesetzbuch. Hier ist es vor allem das Landwirtschaftsministerium, das blockiert, wo es nur geht. Herr Seehofer scheint alles daranzusetzen, den Naturschutz so weit auszuhöhlen, dass die Landwirte im wahrsten Sinne freie Bahn haben. Während sich die Bundeskanzlerin auf der Bonner Biodiversitätskonferenz als überzeugte Ökologin präsentierte und sogar ein paar Millionen lockermachte, setzt ihr Minister und Fraktionskollege Seehofer alles daran, den Naturschutz in Deutschland zu beerdigen. Vielleicht ist das nur bayerisches Wahlkampfgetöse. Der zweite große Blockierer im Natur- und Umweltschutz ist wohl nicht zufällig der andere CSU-Minister. Im Bundesrat blockiert Bayern noch ungenierter. Ich hoffe, dass die bayerischen Wählerinnen und Wähler der CSU den fälligen Denkzettel verpassen. Diese bayerische Landesregierung gehört endlich abgewählt. Anscheinend hatten die Blockierer bereits Erfolg: Der vorliegende Entwurf bedeutet eine erhebliche Abschwächung des Naturschutzes. Dabei ist die Wunschliste aus dem Hause Seehofer noch lang und noch gar nicht abschließend geklärt. Das betrifft die Eingriffsregelung, und das betrifft den Artenschutz. Beginnen möchte ich aber mit § 1, in dem üblicherweise die Ziele des Gesetzes festgelegt werden. Wenigstens das müsste noch hinzukriegen sein, denke ich mir. Aber bereits hier zeigt sich, wie wenig Ihnen der Naturschutz wert ist. Die Ziele werden aufgeführt; das ist in Ordnung, auch wenn da ruhig ein wenig mehr drin stehen dürfte. Aber sie wollen die Abwägung dieser Ziele mit anderen Interessen: mit Interessen der Landwirtschaft, des Verkehrs, der Industrie usw. ebenfalls als Ziel festlegen. Die Abwägung ist das Ziel. Das ist nicht nur juristisch Quatsch - der Weg zum Erreichen der Ziele wird üblicherweise in den folgenden Paragrafen konkretisiert -, das ist für den Naturschutz auch im höchsten Maße gefährlich. Wenn die Abwägung mit anderen Interessen ein gleichberechtigtes Ziel ist, schwindet die Bedeutung der eigentlichen Ziele, sie stehen dann von vornherein unter dem Damoklesschwert der Abwägung. Alle weiteren Paragrafen, die das Erreichen der Ziele festlegen, stehen unter Vorbehalt, sind praktisch nicht mehr viel wert. Das bedeutet eine massive Schwächung des Naturschutzes. Das ist Ihr Offenbarungseid im Naturschutz! Frau Merkel, Ihre in Bonn zugesagten 500 Millionen sind für mich eine moderne Form des Ablasshandels. Sie beruhigen Ihr schlechtes Gewissen, machen aber munter weiter wie bisher mit Ihrer die Natur zerstörenden Politik. Nun zur Eingriffsregelung. Nach der bisherigen Eingriffsregelung müssen Schädigungen an der Tier- und Pflanzenwelt real, das heißt, tatsächlich ausgeglichen werden. Bundeslandwirtschaftsminister Seehofer möchte dies gerne abschaffen. Statt eines realen Ausgleichs soll ein moderner Ablasshandel entstehen. Natur kaputt, Geld gezahlt - alles paletti. So geht das aber nicht; denn irgendwann ist von der Natur nicht mehr viel übrig. Da nützt Geld dann auch nichts mehr. Damit ist der Kern der bewährten Eingriff-Ausgleich-Regelung bedroht. Das Landwirtschaftsministerium lässt den Lobbyverbänden freie Hand beim Zerstören der Natur - trotz der gerade zu Ende gegangenen UN-Biodiversitätskonferenz in Bonn. Nun zur SPD. Ich möchte an die Diskussionen um die Kleine Novelle des Bundesnaturschutzgesetzes vom letzten Jahr erinnern. Unsere Kritik war, dass es nur für die nach dem europäischen Recht geschützten Arten ein hohes Schutzniveau gibt. Die national geschützten Arten werden zu „Freiwild“. Die SPD hat damals gesagt, die Kleine Novelle sei dafür nicht der richtige Ort, weil damit nur das Urteil des Europäischen Gerichtshofes umgesetzt werde. Das solle aber mit dem Umweltgesetzbuch nachgeholt werden. Wir haben im Referentenentwurf einmal nachgeschaut. Auf den ersten Blick sieht es so aus, als ob die SPD Wort gehalten hat: Durch einen einzigen zusätzlichen Halbsatz sind nun auch national geschützte Arten vor der Vernichtung durch Land- und Forstwirtschaft einigermaßen gefeit. Wenn man aber genau liest, sieht man, dass nur ein ganz kleiner Teil dieser Arten geschützt wird. Sie schaffen eine Zweiklassengesellschaft bei national geschützten Arten. Wie bisher wird zwischen besonders und streng geschützten Arten unterschieden; so weit, so gut. Innerhalb der besonders geschützten Arten soll es nun aber besonderere und weniger besondere geben. Die Zu Protokoll gegebene Reden bisherige Definition lautete, dass besonders geschützte Arten solche heimischen Arten seien, die im Inland durch menschlichen Zugriff in ihrem Bestand gefährdet sind. Nun gibt es einen zweiten exklusiven Club der Arten. Der umfasst nur die Arten, für die Deutschland - wer auch immer das definieren soll - in hohem Maße verantwortlich ist. Nur für diese Arten soll es Einschränkungen für Land-, Forst- und Fischereiwirtschaft geben. Diese Arten umfassen aber nur cirka 10 Prozent der derzeit besonders geschützten Arten. Die anderen 90 Prozent können von der Landwirtschaft beliebig vernichtet werden. Denn die andere einschränkende Bedingung, die gute fachliche Praxis der Landwirtschaft, ist das Papier nicht wert, auf dem sie steht. Die wird noch schlechter, als sie ohnehin schon ist. 90 Prozent der national geschützten Arten sollen also der Landwirtschaft ausgeliefert werden. Die Artenvernichtung wird also fast ungehindert weitergehen. Das Schlimme ist, dass noch diese Definition der besonders geschützten Arten umstritten ist. Da der vorliegende Entwurf die Fassung enthält, die den Wünschen des BMU entspricht, kann sich das noch weiter verschlechtern. Dann bleibt von Ihrer Ankündigung, liebe SPD, vielleicht gar nichts mehr übrig. Ich fasse zusammen: Mit diesem Gesetz schaden Sie dem Naturschutz. Die Eingriffsregelung steht vor dem Aus, die nationalen Arten bleiben Freiwild - und das ganze Gesetz steht unter Vorbehalt. So sieht fortschrittlicher Naturschutz nicht aus; das ist ein klarer Rückschritt.

Sylvia Kotting-Uhl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003792, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wir debattieren heute einen Antrag der FDP zum Gesetzgebungsverfahren des Umweltgesetzbuches, der im Titel behauptet, Bürger entlasten zu wollen. Tatsächlich geht es den Freidemokraten natürlich darum, Unternehmen von vermeintlichen Belastungen zu befreien und die ebenso beliebte wie unstimmige Litanei über die Unvereinbarkeit von wirtschaftlicher Entwicklung und Mitspracherechten der Bürgerinnen und Bürger an eben diesen Entwicklungsprozessen anzustimmen. Als wirkliche Fürsprecherinnen und Fürsprecher der Bürgerrechte lehnen Bündnis 90/Die Grünen den Abbau der Beteiligungsrechte in den Planungsbeschleunigungsgesetzen ab. Der Sachverständigenrat für Umweltfragen, SRU, hat bereits mehrfach betont, dass die maßgebliche politische Rechtfertigung für die Beschleunigungsmaßnahmen einer tragfähigen empirischen Grundlage entbehrt. Weder ist eine übermäßig lange Dauer der deutschen Zulassungsverfahren für Infrastruktur- und Industrieanlagen festgestellt worden noch sprechen die Ergebnisse empirischer Studien dafür, dass ein relevanter Zusammenhang zwischen der Verfahrensdauer und der Standortwahl von Investoren besteht. Bürgerinnen und Bürger müssen Einfluss auch auf Planungen von Wirtschaftsstandorten haben. Das ist Teil der Demokratie. Mit der Vorlage zum UGB wird jetzt der Versuch unternommen, die Standardabsenkung durch die Beschleunigungsgesetzgebung zum Teil wieder rückgängig zu machen, schließlich wird die Einschränkung der Öffentlichkeitsbeteiligung von zahllosen Experten auch als Europarechtsbruch eingestuft. An der FDP scheint diese Debatte vorbeigegangen zu sein. Obwohl sie sich gern als Bürgerrechtspartei bezeichnet, will sie Rechte von Bürgern und Bürgerinnen beschneiden - das kann man nur bedauernd zur Kenntnis nehmen. Kernbestandteile der europäischen Vorgaben für die Öffentlichkeitsbeteiligung sind jedoch: die Bürgerinnen und Bürger in sachgerechter, rechtzeitiger und effektiver Weise frühzeitig zu informieren; ausreichend Zeit zur effektiven Vorbereitung und Beteiligung einzuräumen; eine frühzeitige Öffentlichkeitsbeteiligung zu einem Zeitpunkt zu initiieren, zu dem alle Optionen noch offen sind und eine effektive Öffentlichkeitsbeteiligung stattfinden kann; seitens der Behörden künftige Antragsteller zu ermutigen, die betroffene Öffentlichkeit zu ermitteln, Gespräche aufzunehmen und über den Zweck ihres Antrags zu informieren, bevor der Antrag auf Genehmigung gestellt wird; Zugang zu allen Informationen zu ermöglichen, die für die entsprechenden Entscheidungsverfahren relevant sind und zum Zeitpunkt des Verfahrens zur Öffentlichkeitsbeteiligung zur Verfügung stehen. In Deutschland haben wir die bewährten Instrumente der Einsicht in Planungsunterlagen und des Erörterungstermins, um Gespräche aufzunehmen, über den Zweck eines Antrags zu informieren und Zugang zu allen Informationen zu ermöglichen. Wir lehnen es ab, auf diese Instrumentarien zu verzichten, wenn es denn den Behörden opportun erscheint und fordern dagegen die Ausweitung der Öffentlichkeitsbeteiligung. In Sachen Vorhabensgenehmigung vollführt die FDP einen weiteren Kniefall vor der Wirtschaft. Sie fordert tatsächlich den Verzicht auf die von allen Seiten geforderte Pflicht zur Kraft-Wärme-Kopplung bei Anlagen, die Abwärme bzw. Wärme produzieren und nennt als Beispiel fossile Kraftwerke. Die am häufigsten in Deutschland eingesetzten Kraftwerke werden mit Kohle als Primärenergie betrieben. Ihr Wirkungsgrad liegt deutlich unter 50 Prozent, häufig erreichen sie nur rund 35 Prozent oder noch weniger. Das heißt, dass etwa 65 Prozent der Energie nicht genutzt werden, während gleichzeitig selbst von Steinkohlekraftwerken bis zu 860 Gramm Kohlendioxid pro Kilowattstunde ausgestoßen werden. Angesichts des Klimawandels und der Reduktionsziele, zu denen sich Deutschland verpflichtet hat, ist die Nutzung der Abwärme von Kraftwerken ein Gebot der Stunde. Die FDP zeigt auch mit dieser Forderung, dass sie nicht auf dem Stand der Technik ist, um mit dem Bundesimmissionsschutzgesetz zu sprechen, sondern sich einer Wirtschaft verpflichtet fühlt, die sich weniger am Gemeinwohl als an der Gewinnmaximierung ihrer Shareholder orientiert. Während die FDP mit ihrem Antrag offenbar den weiteren Ausbau der Stromproduktion in Deutschland mittels Kohlekraft fördern will, fordern wir Grüne den Stopp neuer Kohlemeiler. Alle politische Energie muss sich darauf konzentrieren, um schnellstmöglich den Umstieg auf das postfossile Energiezeitalter zu erreichen. Nur durch einen massiven Ausbau der erneuerbaren Energien, mit Effizienztechnologien und mit dem Reduzieren unseres Energieverbrauchs können wir diese Aufgabe meistern. Die FDP zeigt mit ihrem Antrag, dass sie davon nichts verstanden hat. Zu Protokoll gegebene Reden

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/9113 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Achten Gesetzes zur Änderung des Gemeindefinanzreformgesetzes - Drucksachen 16/9275, 16/9288 Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({0}) - Drucksache 16/9467 Berichterstattung: Abgeordnete Antje Tillmann Carl-Ludwig Thiele Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die Reden der folgenden Kolleginnen und Kollegen: Antje Tillmann, CDU/CSU, Bernd Scheelen, SPD, Carl-Ludwig Thiele, FDP, Dr. Axel Troost, Die Linke, Britta Haßelmann, Bündnis 90/Die Grünen.

Antje Tillmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003646, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Den Gemeinden steht seit der Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer zum 1. Januar 1998 ein Anteil in Höhe von 2,2 Prozent an der Umsatzsteuer zu. Im Jahr 2007 entsprach das 3 409 Millionen Euro. Damit werden circa 6 Prozent des kommunalen Gemeindesteueraufkommens gedeckt. Die Frage, wie diese Summe auf die Städte und Gemeinden verteilt wird, ist also entscheidend, sodass dieses spröde Gesetz ganz handfeste Auswirkungen auf das kommunale Leben hat. Derzeit erfolgt die Verteilung des Gemeindeanteils an der Umsatzsteuer auf die einzelnen Gemeinden nach einem nicht bundeseinheitlichen Übergangsschlüssel. Der unterschiedliche Schlüssel in den alten und neuen Bundesländern rührt daher, dass die gemeindliche Umsatzsteuerbeteiligung als Ersatz für den Wegfall der Gewerbekapitalsteuer eingeführt wurde, die Eingang in die Schlüsselkomponenten fand. In den neuen Ländern war dies nicht möglich, da diese Steuer dort nicht erhoben wurde. Durch die Berücksichtung des Merkmals „Gewerbekapitalsteuer“ ist dieser Schlüssel nicht nur nicht bundeseinheitlich, sondern auch nicht fortschreibungsfähig. Von dem Gemeindeanteil an der Umsatzsteuer entfällt derzeit auf die Gemeinden der alten Bundesländer einschließlich Berlin-West - ein Anteil von insgesamt 85 Prozent und auf die Gemeinden der neuen Bundesländer sowie auf Berlin-Ost - ein Anteil von 15 Prozent. Der prozentuale Anteil der neuen Bundesländer am zugewiesenen Umsatzsteueraufkommen war damals großzügig berechnet. Da die Gewerbekapitalsteuer nur in den alten Bundesländern bestand, mussten damals Schätzungen in den neuen Bundesländern über das Einnahmepotenzial an der Gewerbekapitalsteuer erfolgen. Das Gemeindefinanzreformgesetz enthält nun den Auftrag an den Gesetzgeber, die Verteilung dieses Gemeindeanteils am Aufkommen der Umsatzsteuer mit Wirkung ab dem Jahr 2009 auf einen fortschreibungsfähigen und bundeseinheitlichen Schlüssel umzustellen, um so den Gemeinden weiterhin eine ausreichende Finanzausstattung zur Verfügung zu stellen. Bereits zum Jahre 2003 sollte ein bundeseinheitlicher Schlüssel die Umsatzsteuerverteilung auf die Gemeinden regeln. Schlüsselelement sollte das Betriebsvermögen - Sachanlagen, Vorräte, Löhne und Gehälter - sein. Das Statistische Bundesamt hatte zwar Modellrechnungen erstellt, die jedoch in zahlreichen Fällen nicht nachvollziehbare Unstimmigkeiten in Bezug auf einzelne Länder und einzelne Gemeinden aufzeigten. Nach allgemeiner Auffassung des Bundes, der Länder und der kommunalen Spitzenverbände konnten die vorliegenden Daten nicht Grundlage für einen gerichtsfesten Verteilungsschlüssel sein. Die Erhebung scheiterte. Der derzeitige Verteilungsschlüssel wurde wieder verlängert und Modellrechnungen des Statistischen Bundesamtes mit den Schlüsselmerkmalen „Gewerbesteueraufkommen“, „sozialversicherungspflichtige Beschäftigte“ und „sozialversicherungspflichtige Entgelte“ erstellt. Im Gesetzentwurf wurde ein Kompromiss gewählt, der von den drei großen Spitzenverbänden mitgetragen wird. Der vorgesehene endgültige Verteilungsschlüssel setzt sich zusammen aus: 25 Prozent aus dem Gewerbesteueraufkommen - brutto - der Jahre 2001 bis 2006, 50 Prozent aus der Anzahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten am Arbeitsort - ohne Beschäftigte von Gebietskörperschaften und Sozialversicherungen sowie deren Einrichtungen - der Jahre 2004 bis 2006 sowie zu 25 Prozent aus den sozialversicherungspflichtigen Entgelten am Arbeitsort - ohne Beschäftigte von Gebietskörperschaften und Sozialversicherungen sowie deren Einrichtungen - der Jahre 2003 bis 2005. Beschäftigte und Entgelt werden mit dem durchschnittlich gewogenen örtlichen Gewerbesteuer-Hebesatz des jeweiligen Erfassungszeitraums gewichtet. Die nun vorgeschlagene Regelung hat gegenüber den anderen diskutierten Varianten den Vorteil, dass sie das geringste Umverteilungsvolumen zwischen den Ländern hat. Trotzdem ergeben sich natürlich Änderungen bei der Zuweisung an die Kommunen. Deshalb besteht Einvernehmen zwischen den Ländern und den kommunalen Spitzenverbänden darüber, angesichts der Umverteilungswirkung zum Zeitpunkt des Schlüsselwechsels den endgültigen Schlüssel nicht vollständig mit Wirkung ab dem Jahr 2009, sondern mit einem Übergangszeitraum - in Anlehnung an die Fortdauer des Solidarpakts II - bis 2018 einzuführen. In der Gesetzesbegründung heißt es dazu: Bis zu diesem Zeitpunkt sollte die Angleichung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der neuen Länder so weit fortgeschritten sein, dass der ab17662 schließende Übergang auf den endgültigen Verteilungsschlüssel allenfalls geringfügige Auswirkungen hervorrufen dürfte. Ich kündige aber jetzt schon an, dass wir - sollte diese Erwartung nicht eintreten - erneut über eine Neugestaltung des kommunalen Ausgleichs sprechen müssen. In dem Übergangszeitraum von 2009 bis einschließlich 2017 wird ein Übergangsschlüssel Anwendung finden, der eine Kombination aus geltendem und zukünftigem Schlüssel darstellt. Folgende Stufen sind vorgesehen: In den Jahren 2009 bis 2011 geht der endgültige Schlüssel mit einem Anteil von 25 Prozent und der geltende Schlüssel mit einem Anteil von 75 Prozent ein, in den Jahren 2012 bis 2014 gehen endgültiger und geltender Schlüssel jeweils mit 50 Prozent ein und in den Jahren 2015 bis 2017 geht der endgültige Schlüssel mit einem Anteil von 75 Prozent und der geltende Schlüssel mit einem Anteil von 25 Prozent ein. Daneben werden die Auswirkungen bei den Ländern, die nach der Neuverteilung mit Mindereinnahmen zu rechnen haben, durch den Länderfinanzausgleich deutlich abgemildert. Berechnungen haben ergeben, dass die Umverteilungswirkung durch den Länderfinanzausgleich um fast 60 Prozent gemildert wird. Wir werden in den Länderparlamenten, in denen wir die Verantwortung tragen, dafür sorgen, dass dieser Ausgleich auch bei den Kommunen ankommt. Der nun vorliegende endgültige und bundeseinheitliche Verteilungsschlüssel ist ein solider Baustein für die Gemeindefinanzen. Städte und Gemeinden leisten ihre Arbeit direkt am Bürger. Für Bildung, Erziehung, Verkehr und Verwaltung brauchen Kommunen deshalb diese sichere Finanzierung. Für das Verhältnis Unternehmen/ Kommunen ist es hilfreich, wenn die Städte und Gemeinden auch finanzielle Vorteile aus der Ansiedlung von Gewerbe haben. Die Kommunen haben nun Anreize, sich um eine erfolgreiche Ansiedlungspolitik zu kümmern. Die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer als Substanzbesteuerung war richtig. Die Skepsis der Kommunen hat sich als unberechtigt erwiesen, wir haben ihnen durch die Übertragung des Umsatzsteueraufkommens Planungssicherheit gegeben. Wir werden dem Gesetzentwurf der Bundesregierung daher zustimmen.

Bernd Scheelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002772, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gerade wenn es um unsere Kommunen geht, freue ich mich, weiterhin an den Anfang meiner Reden und Statements im und außerhalb des Deutschen Bundestages immer noch als erste gute Nachricht setzen zu können: Nach den Ergebnissen der Steuerschätzung werden sich die kommunalen Steuereinnahmen auch in 2008 - mit leicht reduzierter Zuwachsrate - erhöhen. Seit 2006 ist es dabei nicht mehr nur die Gewerbesteuer, die einen erheblichen Anstieg aufweist. Auch die Einnahmen aus den Gemeindeanteilen an der Einkommensteuer und der Umsatzsteuer legen stark zu. Hinter der günstigen Gesamtentwicklung verbergen sich lokale Unterschiede, zu deren Ausgleich die Länder verpflichtet sind. Als zweite gute Nachricht gilt für mich die in dieser Woche anstehende Verabschiedung des Gemeindefinanzreformgesetzes, oder, wie es im Amtsdeutsch heißt, des Achten Gesetzes zur Änderung des Gemeindefinanzreformgesetzes. Es sieht vor, den derzeit geltenden Übergangsverteilungsschlüssel für den Gemeindeanteil am Aufkommen der Umsatzsteuer mit Wirkung ab dem Jahr 2009 in vier Stufen - bis 2018 - auf einen endgültigen, fortschreibungsfähigen und bundeseinheitlichen Schlüssel umzustellen. Als Bundestagsabgeordnete sind ihnen hierzu die entsprechenden Drucksachen, das heißt, der Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 26. Mai 2008 und die Beschlussempfehlung und der Bericht des Finanzausschusses vom gestrigen Tage, zugegangen. Den Dokumenten können sie viele fachliche Details über die jeweilige Bedeutung von einzelnen Schlüsselmerkmalen, einer Hebesatzgewichtung einzelner Merkmale sowie zur Diskussion über zwölf Modellrechnungen des Statistischen Bundesamtes im Vorfeld der Entscheidung für die jetzige Gesetzesregelung entnehmen. Dies gilt auch für die ab 2018 geltende Gewichtung eines bundeseinheitlichen Schlüssels mit einem Anteil von 25 Prozent bezogen auf das Gewerbesteueraufkommen der Jahre 2001 bis 2006, 50 Prozent bezogen auf die Anzahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten und 25 Prozent bezogen auf sozialversicherungspflichtige Entgelte. Somit könnte man zur dritten guten Nachricht übergehen: Sowohl im für das Gemeindefinanzreformgesetz federführenden Finanzausschuss als auch in den mitberatenden Fachausschüssen Haushalt sowie Verkehr, Bau und Stadtentwicklung wurde die Annahme des Gesetzentwurfs mit überwältigender Mehrheit empfohlen. Von der Opposition stimmten lediglich die Kolleginnen und Kollegen der Nachfolgeorganisation der PDS nicht für diese Vorlage. Die über zwei Legislaturperioden andauernde intensive Beratung war somit ein Erfolg. Was lange währt, wird doch noch gut. Ich möchte heute die Gelegenheit wahrnehmen, meine Ausführungen auf einige andere Dinge zu lenken, die sich mir im Laufe des langjährigen Gesetzgebungsverlaufes zum Gemeindefinanzreformgesetz darstellten: Die Notwendigkeit einer starken und frühzeitigen Beteiligung der Kommunen an allen sie betreffenden Gesetzgebungsverfahren, die Berücksichtigung vielschichtiger unterschiedlicher Interessenlagen von großen, oft finanzstarken Städten, unseren kleineren Gemeinden und des ländlichen Raumes - somit die Stärkung kommunaler Stärken und die Verantwortung zur Überwindung von Defiziten durch die Länder aber auch in Zusammenarbeit mit dem Bund -, die Einheit unseres Landes mit jedem Gesetzgebungsverfahren voranzutreiben und unser Versprechen im Bonner Bundestag, in Berlin für unsere Bürgerinnen und Bürger ein gläsernes Parlament zu sein. Ich werde mit dem letzten Punkt anfangen: das gläserne Parlament. Gerade dieses Gesetzgebungsverfahren verdeutlichte: Wir sind für das „Funktionieren“, für geZu Protokoll gegebene Reden regelte Abläufe, für die Erfüllung der uns vom Grundgesetz auferlegten Pflichten verantwortlich, aber auch dafür, dies jedem Bürger verständlich zu machen. Daher mein Verweis am Beginn meiner Rede auf die in den Drucksachen des Deutschen Bundestages und Papieren des Bundesministeriums für Finanzen nachzulesenden Fachdetails zum heutigen Gesetzentwurf: ein Eldorado für die Fachleute im Lande. Für mich ist wichtig, dass man uns vor Ort versteht: Dieses Gesetz ist keine Ergänzung unserer erfolgreichen - gerade von der SPD Fraktion vehement vorangetriebenen - Gewerbesteuerreform. Sie brachte im Ergebnis für Städte und Gemeinden im letzten Jahr Rekordüberschüsse von 8,6 Milliarden Euro, das heißt, eine erhebliche Verbesserung der kommunalen Finanzkraft. Es dient vielmehr einer längst überfälligen Neuregelung eines gerechten Verteilungsschlüssels für den Anteil an der den Gemeinden zustehenden Umsatzsteuer. Diese Beteiligung war 1998 in Höhe von 2,2 Prozent eingeführt worden. Damals ging es um die Kompensation für den Einnahmeausfall durch die Abschaffung der sogenannten Gewerbekapitalsteuer. Der Gemeindeanteil an der Umsatzsteuer wird in einem ersten Schritt auf die Länder und dann auf die Kommunen nach bestimmten, statistisch ermittelten Kriterien, sogenannter Schlüsselmerkmale, verteilt. Das Gemeindefinanzreformgesetz von 2001, das dies regelt, war bewusst bis 2005 befristet worden; denn in ihm gelten unterschiedliche Bewertungskriterien für die alten und neuen Bundesländer. Zum 1. Januar 2006 sollte im Rahmen eines neuen Gesetzes festgelegt werden, nach welchen - für die neuen und die alten Bundesländer einheitlichen - neuen Schlüsselmerkmalen die Umstellung auf eine für die Zukunft fortschreibungsfähige Bewertung erfolgen könnte. Seit Anfang 2005 bemühten sich die Koalitionsfraktionen des Deutschen Bundestages und das Bundesfinanzministerium gleichermaßen um eine von den Kommunen, Ländern und dem Bund akzeptierbare Lösung. Immerhin geht es um die Neuverteilung eines Finanzvolumens von 3,53 Milliarden Euro. Mit dem gefundenen Schlüssel ist sichergestellt, dass die Umverteilungswirkung im ersten Jahr der veränderten Verteilung mit 35 Millionen Euro und nach acht Jahren mit rund 140 Millionen Euro von sieben auf neun Länder sehr maßvoll ausfällt. Damit wurde ein guter Weg gefunden, ein Weg, bei dem jeder Bürger für seine Kommune davon ausgehen kann, dass dieser nicht willkürlich ist, sondern basierend auf gesicherten statistischen Daten vorgezeichnet wird. Die festgelegten Schlüsselmerkmale zur Zuweisung des Anteils der jeweiligen Gemeinde an der Umsatzsteuer geben zudem einen hohen Anreiz, die Zusammenarbeit zwischen ihr und der Wirtschaft zu intensivieren. Die Notwendigkeit, kommunale Interessen auf Bundes- und Landesebene im Wege einer starken und frühzeitigen Beteiligung zu berücksichtigen, ist ein weiteres, gerade aus diesem Gesetzgebungsverfahren gestärktes Anliegen - nicht nur weil dies eine Thematik ist, die gerade von der SPD-Bundestagsfraktion in der letzten und dieser Legislaturperiode vehement verfolgt und auf die Tagesordnung gesetzt wurde. Selbstverständlich gibt es zu jedem Gesetzgebungsverfahren auch Anhörungen, zu denen auch die kommunalen Spitzenverbände, manchmal einzelne kommunale Vertreter, geladen werden. Ein grundgesetzlich bzw. gesetzlich verankertes Anhörungsrecht, das von den Spitzenverbänden gefordert wird, und, wie sich das auch immer deutlicher auf europäischer Ebene herauskristallisiert, gibt es nicht. Sie, meine Damen und Herren, werden mit Recht auf unsere parlamentarische Geschäftsordnung verweisen. Viele Geschäftsordnungen der Bundesministerien und Länderverfassungen enthalten differenzierte Anhörungsrechte. Aber es gibt keinerlei einheitliche Regelung auch nicht in der Handhabung. Mir genügt nicht die Begründung, Kommunen seien nach dem Grundgesetz Teil der Länder und keine selbstständige dritte Säule im Staat, und die Länder nähmen umfassend die Rechte der Kommunen wahr. Kommunen sind die Basis unseres Landes. Diese Basis muss nicht nur finanziell gesichert sein. Sie muss mitgestaltend auf Landes- und Bundesebene einbezogen werden, das heißt, regelmäßig, ohne Einschränkung, selbstverständlich, nicht in Abhängigkeit von der Entscheidung eines Sachbearbeiters, umfassend und nicht abhängig vom Themenkomplex sozusagen nach dem Motto: bei innerdeutschen Fragestellungen ja, soweit erforderlich, bei europäischen nein oder vielleicht eingeschränkt. Dieses Gesetzgebungsverfahren zum Gemeindefinanzreformgesetz verdeutlichte allen Beteiligten: Ohne die Vertreter des Deutschen Städtetages, des Deutschen Städte- und Gemeinebundes, des Deutschen Landkreistages mit ihren Fachkenntnissen und Erfahrungen vor Ort wäre die Verabschiedung des Gesetzes heute nicht möglich gewesen. Gerade sie förderten in vielen Gesprächen den Kompromiss zwischen den Gemeinden, zwischen Kommunen und den Ländern und im Verhältnis zum Bund. Vielleicht kann man anführen: Nun ja, die Notwendigkeit der Anhörung liegt hier ja quasi auf der Hand. - Den Bürgern draußen sei gesagt: Rund 70 Prozent aller Gesetze des Deutschen Bundestages - inklusive der Umsetzung europäischer Richtlinien - betreffen ihre kommunalen Interessen vor Ort - mal offensichtlich, mal versteckt. „Gläsern“ heißt also auch: Anhörung und Beteiligung der kommunalen Vertreter auf Bundesebene. Ich persönlich möchte mich nicht darauf verlassen, dass unsere Städte und Gemeinden als Teil der Länder von diesen ausschließlich vertreten werden. Ich glaube, dass es hier noch Diskussionsbedarf gibt. Auf jeden Fall möchte ich mich an dieser Stelle beim Bundesfinanzminister Steinbrück und seinen Mitarbeitern bedanken, dass in diesem Gesetzgebungsverfahren das positive Ergebnis gerade durch eine intensive Beteiligung der kommunalen Spitzenverbände, aber auch durch viele Gespräche mit den Ländern erreicht werden konnte. Zu Protokoll gegebene Reden Mein letzter Punkt spricht unsere Verpflichtung und unseren Wunsch zur inneren deutschen Einheit an. Auch hierfür steht das Achte Gesetz zur Änderung des Gemeindefinanzreformgesetzes. Der zu Beginn meiner Ausführungen angesprochene „bundeseinheitliche“ Schlüssel zur Umverteilung des kommunalen Anteils an der Umsatzsteuer ist ein kleiner, aber deutlicher Baustein. Gerade von unseren Kolleginnen und Kollegen aus der Nachfolgeorganisation der PDS hätte ich erwartet, dass sie diesen meinen Hinweis besonders hervorheben würden. Stattdessen übernahmen sie wieder einmal originäre Forderungen der SPD-Bundestagsfraktion zur Stärkung der Gewerbesteuer, um als Einzige den vorliegenden Regierungsentwurf abzulehnen. Und sie wiesen in der Beratung darauf hin, das Gesetz stelle eine Umverteilung zulasten der finanzschwachen neuen Bundesländer dar. Unabhängig davon, dass dies von den Betroffenen - den Ostländern und ihren Gemeinden - nicht so gesehen wird, ist eine solche Argumentation populistisch und fachlich falsch. Noch einmal: Das Ziel des Gemeindefinanzreformgesetzes ist nicht eine zusätzliche Stärkung kommunaler Finanzkraft. Hier sollten wir die Wirkung der Maßnahmen zur Gewerbesteuer im Rahmen der Unternehmensteuerreform 2008 abwarten. Ziel ist die bundeseinheitliche, überfällige Neuregelung des kommunalen Verteilungsschlüssels an der Umsatzsteuer. Es kann in sehr geringem Maße zum Auslaufen einer Bevorzugung von einzelnen Gemeinden in den neuen Bundesländern führen. Dies ist allen Beteiligten bekannt. Zur Abmilderung der Umverteilungswirkung - übrigens auch in ehemals gewerbekapitalsteuerstarken westlichen Gemeinden - wurde die sehr lange Übergangszeit bis 2018 eingebaut. Daneben verweise ich auf den kommunalen Finanzausgleich der Länder. Wie beim Auslaufen des Solidarpakts II bis 2019 sind wir sicher, dass bis zu diesem Zeitpunkt alle Voraussetzungen für einen erfolgreichen wirtschaftlichen Aufholprozess in den neuen Bundesländern und betroffenen westlichen Kommunen geschaffen wurden. Als kommunalpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion stehe ich voll hinter den gemeinsam mit den Ländern, den kommunalen Spitzenverbänden und dem Bundesfinanzministerium sowie vielen Kolleginnen und Kollegen in diesem Hause diskutierten und letztlich festgeschriebenen Gesetzentwurf zur Verteilung des Gemeindeanteils an der Umsatzsteuer ab 2009. Sie verzeihen mir meinen Ausflug in Fragestellungen, die sich mir im Verfahren auftaten und mit diesem verknüpft sind auch wenn Sie sich nicht fachlich-finanzpolitisch mit Bruttogewerbesteueraufkommen, sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten mit und ohne Hebesatzgewichtung, sozialversicherungspflichtigen Entgelten ohne Entgelte von Beschäftigten von Gebietskörperschaften und Sozialversicherungen sowie deren Einrichtungen, die als Durchschnitt für die Jahre 2003 bis 2005 der Beschäftigten- und Entgeltstatistik ermittelt wurden beschäftigten. Letzteres kann übrigens in § 5 Abs. 1 Satz 1 des Gesetzes nachgelesen werden. Ich nehme den Gesetzentwurf zum Anlass, mich für die gute Zusammenarbeit mit den kommunalen Spitzenverbänden zu bedanken und für ihr gesetzliches Anhörungsrecht zu plädieren. Ich verweise noch einmal auf unsere Verpflichtung, als „gläsernes Parlament“ unsere Gesetze und unsere Arbeit gläsern, das heißt, für die Bürgerinnen und Bürger verstehbar, darzulegen. Ich freue mich, dass dieses in der Öffentlichkeit zu Unrecht wahrscheinlich wenig beachtete Gemeindefinanzreformgesetz die deutsche Einheit ein Stück voranbringen wird.

Carl Ludwig Thiele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002315, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Die FDP begrüßt, dass nunmehr nach jahrelangen Vorarbeiten ein Kompromiss über die Verteilung der Umsatzsteuer auf die Kommunen gefunden wurde. Hintergrund dieser Regelung ist, dass seinerzeit von der schwarz-gelben Koalition auf Drängen der FDP die Gewerbekapitalsteuer als reine Substanzsteuer abgeschafft wurde und die Kommunen erstmalig einen Anteil an der Umsatzsteuer erhalten haben. Dieses war ein erheblicher Fortschritt, zumal für die Unternehmen bis zu diesem Zeitpunkt unabhängig von Ihrer Ertragslage hinzu kam, dass zu dem Gewerbekapital auch Schulden und Schuldzinsen gerechnet wurden. Wenn der Staat direkte Steuern wie die Gewerbesteuer erhebt, dann sollte Wert darauf gelegt werden, dass diese Steuer sich am Ertrag und damit an der Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen orientiert. Dieses ist bei Substanzsteuern nicht der Fall; denn diese müssen auch in Verlustjahren gezahlt werden. Hierdurch verschärft sich die finanzielle Situation ertragsschwacher Betriebe insbesondere in Verlustjahren. Deshalb hält es die FDP auch für einen unglaublichen Fehler der Großen Koalition, dass im Zuge der Unternehmensbesteuerung Kosten und Kostenelemente als Bemessungsgrundlage für die Körperschaftsteuer eingeführt wurden. Dieses ist der falsche Weg. Die FDP-Bundestagsfraktion stimmt dem Gesetzentwurf in der vom Ausschuss verabschiedeten Fassung zu. Es handelt sich bei dieser Gesetzesvorlage um einen Kompromiss, der von den Beteiligten sicher nicht als Ideallösung betrachtet wird. Letztlich können aber wohl alle damit leben, auch die kommunalen Spitzenverbände, die die vorgesehene dauerhafte Umstellung des Verteilungsschlüssels für den Umsatzsteueranteil der Gemeinden als akzeptabel mittragen. Den Spitzenverbänden der Kommunen ist diese Position auch durch die vorgesehene langfristige Übergangsregelung erleichtert worden, nach der der endgültige Verteilungsschlüssel in Anlehnung an den Solidarpakt II erst 2018 voll in Kraft treten wird. Der Deutsche Städtetag hatte in einem Beschluss seines Präsidiums vom 12. Februar dieses Jahres einen gleitenden Übergang vom noch geltenden Verteilungsschlüssel, der selbst nur Übergangscharakter hat, zum endgültigen Verteilungsschlüssel gefordert. Zu begrüßen ist es, dass die Neuregelung zu einer Vereinheitlichung des Verteilungsschlüssels zwischen den alten und den neuen Bundesländern führt. Die jetzt auf den Weg gebrachte Anschlusslösung für die derzeitige Verteilung des Umsatzsteueranteils der Gemeinden ist die letzte Phase eines grundlegenden Schritts zur Änderung der Gemeindefinanzen, den die frühere Koalition aus CDU/CSU und FDP vor zehn Jahren getan hat: die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer. Nach Zu Protokoll gegebene Reden jahrelangem, teilweise erbittertem Tauziehen zwischen den damaligen Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion war diese antiquierte Steuer schließlich mit dem Gesetz zur Fortsetzung der Unternehmensteuerreform vom 29. Oktober 1997 abgeschafft worden. Den Gemeinden sind damals 2,2 Prozent des Umsatzsteueraufkommens als Ersatz für den Wegfall der Gewerbekapitalsteuer zugesprochen worden. Die Streichung der Gewerbekapitalsteuer war eine überfällige Maßnahme zu einer strukturellen Verbesserung der Gemeindefinanzen; denn damit wurde - neben dem Verzicht auf die Erhebung der Vermögensteuer im Rahmen des Jahressteuergesetzes 1997 eine weitere Substanzsteuer aufgehoben. Substanzsteuern in der Unternehmensbesteuerung sind von Übel, weil sie die Ertragslage der Betriebe ausblenden. Sie sind auch in Zeiten geringer Erträge und selbst in Verlustjahren zu zahlen und können dadurch die Existenz von Unternehmen und damit auch Arbeitsplätze gefährden. Diese Erkenntnis hat allerdings die Große Koalition nicht daran gehindert, die ertragsunabhängigen Elemente der Gewerbesteuer in der Unternehmensteuerreform 2008 auszubauen. Betriebswirtschaftliche Kosten werden jetzt von ihr steuerlich zum Teil nicht mehr als Kosten anerkannt. Die Begrenzung der Abzugsfähigkeit von Zinskosten durch Einführung der Zinsschranke und die Hinzurechnungsbesteuerung von Zinsen, Mieten, Pachten, Leasingund Lizenzgebühren bei der Gewerbesteuer werden aber in Zeiten ungünstiger Erträge oder Verluste zu einem schweren Ballast für die betroffenen Unternehmen werden. Mit ihrem Anteil an der Umsatzsteuer haben die Kommunen einen guten Tausch gemacht. Sie haben dadurch eine stabile und zukunftsträchtige Finanzierungsquelle erhalten, die der Wirtschaft nicht schadet. Durch die in den vergangenen Jahren nur gedämpfte Entwicklung des privaten Konsums ist der Umsatzsteueranteil der Gemeinden zwar weniger dynamisch gestiegen, als man hätte erwarten können. Die Kommunen haben aber zumindest von der Mehrwertsteuererhöhung durch die Große Koalition profitiert. Um rund 15 Prozent liegen die Umsatzsteuereinnahmen der Gemeinden in 2008 über den entsprechenden Einnahmen in 2006. Die FDP geht den vor zehn Jahren eingeschlagenen Weg der Beteiligung der Kommunen am Aufkommen der Mehrwertsteuer programmatisch weiter. Sie fordert, wie auf ihrem Bundesparteitag vom 31. Mai/1. Juni 2008 beschlossen, eine Reform der Gemeindefinanzen mit einem Ersatz der Gewerbesteuer durch einen auf 12 Prozent erhöhten Anteil der Kommunen an der Umsatzsteuer und einen Zuschlag mit eigenem Hebesatzrecht auf die Einkommen- und Körperschaftsteuer in gleicher Höhe. Die Koalitionsfraktionen setzen auf immer mehr Gewerbesteuern. Die FDP dagegen tritt nach wie vor für einen Abbau dieser schädlichen und mit einigen Merkwürdigkeiten versehenen Steuer ein.

Dr. Axel Troost (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003857, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Dieser Gesetzentwurf kommt auf den ersten Blick als ein recht technokratisches Werk zur Neuaufteilung des kommunalen Umsatzsteueranteils daher. Bei genauerer Betrachtung der damit einhergehenden Verteilungswirkungen stellt man aber fest, dass der Gesetzentwurf den Wettbewerbsföderalismus in ganz erheblichem Umfang weiter verschärft. Trug die Verteilung des kommunalen Umsatzsteueranteils zwischen den Kommunen bisher dazu bei, dass auch Kommunen in strukturschwächeren Regionen eine gewisse finanzielle Mindestausstattung erhielten, so werden diesen Städten und Gemeinden nun gezielt Mittel zugunsten ohnehin besser ausgestatteter Gebietskörperschaften entzogen. Durch die Neuregelung wird das Wohl und Wehe jeder einzelnen Kommune in Zukunft noch stärker davon abhängen, ob es ihr gelingt, gewerbesteuerkräftige Unternehmen anzusiedeln. Damit wird die ohnehin schon häufig ruinöse Standortkonkurrenz zwischen den Kommunen weiter verschärft. Das Ergebnis ist bekannt: Am Ende haben die Kommunen zusammen genommen weniger in der Tasche, die soziale Infrastruktur wird weiter eingeschränkt. Unter dem Strich werden die Kommunen im Osten Deutschlands je nach Bundesland zwischen rund 14 und 26 Prozent am Umsatzsteueranteil verlieren. Mit Ausnahme der hessischen Kommunen werden hingegen die Kommunen im Westen per saldo mit Zugewinnen rechnen können. Sicher ist es richtig, jenen Kommunen, die durch die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer Einnahmerückgänge zu verzeichnen hatten, einen angemessenen Ersatz zu verschaffen. Jedoch ist der hier vorgeschlagene Weg einer Neuaufteilung des kommunalen Umsatzsteueranteils völlig unangebracht. Ein adäquater Ersatz für die Gewerbekapitalsteuer, für deren Wiedereinführung auch Die Linke nicht plädiert, kann nur in der Art geschehen, dass die Gewerbesteuer in ihrer derzeitigen Ausgestaltung und Anwendung auf den Prüfstand gehört. Dabei muss eine angemessene Einbeziehung der Selbstständigen und freiberuflich Tätigen in die Steuerpflicht ebenso geprüft werden wie die Ausweitung der Bemessungsgrundlage. Darüber hinaus gilt es, der Entwicklung Einhalt zu gebieten, dass immer weitere Unternehmensarten, hier vor allem Akteure auf den Finanzmärkten, von der Gewerbesteuerpflicht entbunden werden. Nur so - und nicht etwa auf dem Wege der Umsatzsteuerneuverteilung zwischen den Kommunen - kann den Städten und Gemeinden auch in angemessener Weise etwas für die Bereitstellung von Infrastruktur an die Unternehmen und zur Finanzierung der Daseinsvorsorge zurückgegeben werden. Gerne setzen wir uns mit Ihnen darüber auseinander, wie die Kommunen besser an den Gemeinschaftssteuern beteiligt werden können, als es derzeit der Fall ist. Dabei halten wir es für überlegenswert, den Anteil der Städte und Gemeinden am Umsatzsteueraufkommen von derzeit rund 2 Prozent auf 20 Prozent zu erhöhen und im Gegenzug die Beteiligung an der Einkommensteuer und am Zinsabschlag aufzugeben. Dabei könnte eine gerechtere Verteilung des kommunalen Umsatzsteueranteils zwischen den Kommunen dadurch erfolgen, dass als Verteilungsschlüssel die Einwohnerzahl zugrunde gelegt wird. Nach diesem Lösungsansatz könnten alle ostdeutschen Länder und alle westdeutschen Nehmerländer spürbare finanzielle Zugewinne für ihre Kommunen verbuchen. Die Begründung des vorliegenden Gesetzentwurfes stellt besonders heraus, wie sehr der Gesetzentwurf einen mühZu Protokoll gegebene Reden sam gefundenen Kompromiss zwischen Bund, Ländern und Gemeinden widerspiegelt. Wir sind aber ausdrücklich optimistisch, dass auch unser Vorschlag die Zustimmung der Länder und Kommunen finden würde. Klar muss aber auch sein, dass allein eine gerechtere Verteilung des Mangels zwischen den Kommunen - die immerhin fast 70 Prozent aller öffentlichen Investitionen schultern müssen - dem kommunalen Finanzierungsbedarf allein nicht gerecht wird. Hier stehen Bund und Länder gemeinsam in der Pflicht, für eine angemessene Finanzausstattung der Kommunalhaushalte mit Sorge zu tragen. Will man den Worten von CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen glauben, dass nämlich die mittleren und unteren Einkommensgruppen keine weiteren Steuerbelastungen erfahren sollen und der Staatshaushalt keiner zusätzlichen Verschuldung ausgesetzt werden soll, so wird auch in dieser Frage kein Weg daran vorbeiführen, die Besitzer großer Vermögen und die Gewinne der großen Unternehmen stärker zur Finanzierung des Gemeinwesens heranzuziehen.

Britta Haßelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003764, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wenn diese Bundesregierung einen Gesetzentwurf in den Deutschen Bundestag einbringt, in dem das Wort „Kommunen“ vorkommt, dann haben Städte und Gemeinden hinterher fast immer weniger Geld als vorher. Insofern ist diese Änderung des Gemeindefinanzreformgesetzes eine denkwürdige Ausnahme von der Regel. Denn dieses Mal haben hinterher zumindest nicht alle Städte und Gemeinden weniger Geld, sondern nur einige. Der Gesetzentwurf, den wir heute beraten, ist kein großer Wurf für die Gemeindefinanzen. Nur der verwegenste Optimist erwartet von dieser zerrütteten Regierungskoalition im Juni 2008 überhaupt noch irgendeinen großen Wurf. Aber er ist zumindest einmal eine handwerklich ordentliche Vorlage, die im fairen Einvernehmen mit den kommunalen Spitzenverbänden verhandelt wurde und einen tragfähigen Kompromiss darstellt. Deshalb stimmen wir heute auch zu. Nach Auffassung meiner Fraktion ist es richtig, bei der Verteilung des Gemeindeanteils am Umsatzsteueraufkommen schrittweise zu einem einheitlichen Schlüssel für Ost und West zu kommen. Es ist auch systematisch sinnvoll, die vollständige Einführung des neuen Schlüssels an das Auslaufen des Solidarpakts II zu koppeln, denn die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zwischen Ost und West muss noch weiter angeglichen sein, um einen so stark wirtschaftskraftbezogenen Verteilerschlüssel voll wirksam werden zu lassen. Wir alle wissen, und das streitet auch die Bundesregierung nicht ab, dass es sinnvollere Kriterien zur Verteilung gäbe, die wir aber nicht anlegen können, wenn es keine zuverlässige Datengrundlage dafür gibt. Deshalb ist es für uns nachvollziehbar, einen Schlüssel zu finden, der sich auf die amtliche Statistik für das Gewerbesteueraufkommen sowie die Entgelt- und Beschäftigtenzahlen stützt. Ausdrücklich begrüßen wir, dass der neue Schlüssel zu verhältnismäßig geringen Umverteilungswirkungen im Vergleich zum Status quo führt, zumal die Verluste von Ländern wie Sachsen und Berlin auch noch durch den Länderfinanzausgleich teilweise kompensiert werden. Die Hauptauseinandersetzung bei der Festsetzung dieses Schlüssels lag bekanntlich in der Frage, wie hoch wir das Gewerbesteueraufkommen werten. Hier wurde ein sinnvoller Weg gefunden. Aber die Begründung der Bundesregierung ist vor dem Hintergrund der Debatten, die wir hier sonst führen, bemerkenswert: Die Gewerbesteuer ist verhältnismäßig gering gewichtet, denn Sie ist ja so konjunktursensibel. Interessant. Ich möchte nur sichergehen: Reden wir hier über die gleiche Steuerquelle, deren Aufkommenssteigerung Sie sonst immer zum Anlass nehmen, um einen strukturellen Reformbedarf bei den Kommunalfinanzen abzustreiten? Mit der jüngsten Steuerschätzung haben Sie sich selbst ins Stammbuch geschrieben: Wer bei der Konsolidierung der Gemeindefinanzen alleine auf die Gewerbesteuer baut, der baut finanzpolitisch auf Sand. Die Einnahmen bei der Gewerbesteuer gehen zurück, und wenn der Aufschwung weiter an Dynamik verliert, dann haben wir hier bald wieder die gleichen Diskussionen wie zuvor. Meine Fraktion bleibt dabei: Es bedarf einer föderalen Kraftanstrengung zur Stärkung der Kommunalfinanzen. Dazu brauchen wir eine Gemeindefinanzreform, in deren Mittelpunkt die Weiterentwicklung der Gewerbesteuer zu einer kommunalen Wirtschaftssteuer steht. Wir brauchen aber auch die Verankerung der Konnexität gegenüber den Kommunen im Grundgesetz und eine kommunale Altschuldenhilfe im Rahmen der Föderalismusreform II. Und wir brauchen eine Politik, die nicht mehr versucht, im Windschatten konjunktureller Erholung die versprochenen 2,5 Milliarden Euro jährliche Entlastung für die Kommunen klammheimlich einzukassieren. Es lässt sich auch einfacher zusammenfassen: Wir brauchen eine andere Bundesregierung.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Wir kommen zur Abstimmung. Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9467, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Drucksachen 16/9275 und 16/9288 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke mit den Stimmen des restlichen Hauses angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke mit den Stimmen des restlichen Hauses angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla Jelpke, Petra Pau, Sevim Dağdelen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner V-Leute in der NPD abschalten - Drucksache 16/9007 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({0}) Rechtsausschuss Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Kristina Köhler ({1}), CDU/CSU, Gabriele Fograscher, SPD, Christian Ahrendt, FDP, Ulla Jelpke, Die Linke, Monika Lazar, Bündnis 90/Die Grünen und Gert Winkelmeier.

Dr. Kristina Köhler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003569, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist gegen das Abschalten der V-Leute in der NPD. Der Schaden, der unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung dadurch droht, ist größer als die Aussicht auf Erfolg einer solchen Maßnahme. Die Bekämpfung des Extremismus muss eben mit Hirn und Verstand erfolgen, auch wenn man gefühlsmäßig gerne anders entscheiden würde. Denn rein gefühlsmäßig wünschen wir uns doch wohl alle, dass die NPD und ihr antidemokratischer und antisemitischer Rassismus von der Bildfläche verschwinden. Aber so einfach ist es eben nicht, weil zum einen schon fraglich ist, ob ein Verbot der NPD überhaupt zielführend ist. Wir wissen, dass das Verbot einer Organisation noch nie dazu geführt hat, dass ihre Anhänger plötzlich einem anderen Weltbild folgen. Die Ideologie wird sich eine andere Struktur geben und in einem anderen Gewand weiter machen, vielleicht vorerst im Untergrund - aber dadurch nicht weniger gefährlich, sondern nur weniger beobachtbar und weniger angreifbar. Die einzige dauerhafte Lösung liegt daher darin, die NPD politisch zu demaskieren und den Menschen zu zeigen, warum eine solche Partei eine Partei des nationalen Untergangs ist und nicht des gemeinsamen Fortschritts. Nun gibt es aber auch einige, die sagen, dass ein Verbot der NPD trotzdem das kleinere Übel wäre. Und obwohl ich diese Meinung nicht teile, gibt es natürlich gute und respektable Gründe für diesen Standpunkt. Voraussetzung für solch ein Verbotsverfahren ist aber - und darum dreht sich ja der vorliegende Antrag - das Abschalten aller V-Leute in der NPD, weil eben nur Material, welches nicht kontaminiert ist, bei dem also zweifelsfrei feststeht, dass kein V-Mann des Verfassungsschutzes irgendetwas damit zu tun hat, in den Verbotsantrag einfließen darf. Es genügt also nicht, Zitate aus öffentlich zugänglichen Quellen zusammenzukopieren, sondern es muss sich um Material handeln, welches zweifelsfrei nicht kontaminiert ist. Und dieses Material muss man erstmal sammeln, und, das ist richtig, dies geht nur, wenn alle V-Leute abgeschaltet sind und wenn man dann zwei bis drei Jahre lang sammelt und darauf aufbauend einen neuen Verbotsantrag vorbereitet. Fakt ist deshalb aber, dass wir nach einem Abschalten der Quellen für mehrere Jahre auf Erkenntnisse über das Innere der NPD und damit auch in das mit ihr verbundene rechtsextreme Netzwerk verzichten müssten, und das zu einem Zeitpunkt, in dem sich die NPD auch durch die Vernetzung mit anderen rechtsextremistischen Strukturen und Gruppen zunehmend noch weiter radikalisiert, zugleich aber nach außen versucht, den Biedermann zu geben. Deshalb wird die intensive und auch ins Innere gehende Beobachtung dieser Partei umso wichtiger. Und deshalb wäre es zum gegenwärtigen Zeitpunkt nach Meinung aller unserer Experten auch grob fahrlässig, die Quellen abzuschalten, zumal auch nach einem Abschalten der V-Leute nicht garantiert wäre, dass ein neues Verbotsverfahren erfolgreich sein würde Die Verfassungsfeindlichkeit einer Partei reicht dafür ja nicht aus, sondern sie muss auch verfassungswidrig sein. Und das heißt, man muss der NPD nachweisen, dass sie aktiv aggressiv-kämpferisch die freiheitlich-demokratische Grundordnung beeinträchtigt. Da mag nun jeder für sich denken, eigentlich dürfte es daran bei der NPD keinen Zweifel geben. Viele Experten haben aber erhebliche Zweifel, ob sich dies alleine mit offenen, nichtkontaminierten Materialien auch verfassungsgerichtsfest nachweisen lässt. Mit den jetzt von manchen Ländern vorgelegten Sammlungen lassen sich diese Zweifel nicht widerlegen, weil noch nicht einmal sicher ist, ob die Materialien kontaminiert sind oder nicht. Alleine dass es sich um öffentlich zugängliche Quellen handelt, sagt darüber eben noch überhaupt nichts aus. Es gibt also starke Zweifel, ob ein NPD-Verbot überhaupt Sinn macht. Es gibt starke Zweifel, ob sich der Nachweis eines aktiven aggressiv-kämpferischen Vorgehens gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung alleine aus offenen Quellen führen lässt. Auf der anderen Seite gibt es keine Zweifel, dass es sehr gefährlich wäre, für Jahre auf interne Einblicke in die NPD verzichten zu müssen. Und es gibt auch keinen Zweifel daran, dass ein erneutes Scheitern des Verbotsverfahrens ein Super-Gau für unsere Demokratie wäre. Deshalb können wir nach Abwägung aller uns vorliegenden Tatsachen uns nicht für das Abschalten der V-Leute in der NPD aussprechen.

Gabriele Fograscher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002653, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vor gut einem Jahr haben wir bereits einen inhaltsgleichen Antrag der Fraktion Die Linke beraten. Sie wissen, dass er derzeit keine Bereitschaft des Bundesinnenministers und der Mehrheit der CDU/CSU-Länderinnenminister gibt, ein erneutes NPD-Verbotsverfahren anzustrengen. Für einen neuen Verbotsantrag braucht es mehr als nur das Abschalten der V-Leute der Verfassungsschutzämter in der NPD. Wir müssen nachweisen, dass die NPD eine verfassungsfeindliche und aggressiv-kämpferische Partei ist. Auch wenn es uns gelingen würde, die NPD zu verbieten, ist es naiv zu glauben, dass damit das Problem des Rechtsextremismus gelöst sei. Selbst wenn wir, und das will die SPD, die NPD verbieten lassen könnten, so hätten wir das rechte Gedankengut damit in den Köpfen noch lange nicht verdrängt. So wünschenswert ein NPD-Verbot ist, so wenig wird es rechte Einstellungen, rassistische, antisemitische und ausländerfeindliche Parolen sowie gewalttätige Übergriffe zurückdrängen oder gar verhindern. Fest steht - und hier zitiere ich den Bayerischen Verfassungsschutzbericht 2007 -: „Das von der Partei vertretene Staats- und Menschenbild steht im krassen Gegensatz zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung.“ Das Ziel der NPD ist die Beseitigung der parlamentarischen Demokratie und des demokratischen Rechtsstaates. Sie bedient sich hierzu auch aggressiver Agitation und Propaganda. Das können und dürfen wir nicht zulassen. Leider - und das muss ich an dieser Stelle sagen -, stellt sich die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, der Bundesinnenminister und die Mehrheit der CDU/CSU-Länderinnenminister gegen ein NPD-Verbot. Unserer Meinung nach reicht das vorhandene Material, das zur Prüfung beim Bundesinnenministerium liegt, für ein erfolgreiches Verbotsverfahren aus, auch wenn die Hürden für ein Parteiverbot in Deutschland zu Recht sehr hoch sind. Neben der Prüfung eines NPD-Verbotsverfahrens sollten wir alle rechtsstaatlichen Mittel anwenden, um rechtsextreme Vereine und Organisationen, die auch im vorpolitischen Raum aktiv sind, zu verbieten. Ich begrüße ausdrücklich, dass der Bundesinnenminister auf Drängen der Koalitionsfraktionen das Collegium Humanum und zwei dazugehörige Vereine kürzlich verboten hat. Konsequent wäre es, weitere Verbote gegen solche Organisationen auszusprechen. Der Verein Heimattreue Deutsche Jugend, HDJ, ist eine Organisation, die zunehmend aktiver und unverfrorener auftritt. Die HDJ gilt als Kaderschmiede und Eliteschule für den rechtsextremen Nachwuchs, sie agiert paramilitärisch, pflegt den Hitlergruß und ist führerorientiert. Das bereits bestehende Uniformierungsverbot wird nicht durchgesetzt, da es vor Ort meist weder der Bevölkerung noch der Polizei bekannt ist. Hier sind die Länder gefordert, ihre Polizeibeamtinnen und -beamte darüber zu informieren und die Bevölkerung aufzuklären. Die HDJ ist bundesweit tätig und versucht auch über die eigenen rechten Kreise hinaus, Kinder und Jugendliche für ihren Kampf gegen unsere freiheitlich demokratische Grundordnung zu rekrutieren. Um in Jugendlichen Kreisen auf sich aufmerksam zu machen, hat die HDJ ein Werbevideo in der Nähe von Wunsiedel in Bayern gedreht. Dieses Video ist auf der Internetseite www.youtube.de zu sehen und zeigt einen erschreckenden Umgang mit Kindern und Jugendlichen. Wir fordern deshalb den Bundesinnenminister auf, ein Verbot dieser bundesweit agierenden Organisation ernsthaft zu prüfen. Selbst wenn es gelänge, die NPD und andere rechtsextreme Vereine und Organisationen zu verbieten, bleibt es die Aufgabe für Politik, Staat und Zivilgesellschaft, die Einstellungen und das braune Gedankengut, die zur Zustimmung und sogar Mitgliedschaft in rechtsextremen Vereinen und Parteien führen, zurückzudrängen. Studien belegen, dass rechtsextreme Einstellungen keine Randerscheinung, kein Jugendproblem, kein ostdeutsches Problem und auch kein Problem der Ewiggestrigen sind, sondern ein Problem in der Mitte der Gesellschaft ist. Diesem Problem müssen wir uns sachlich und engagiert, aber entschieden stellen, es konsequent angehen und es nicht nur dann, wenn es rechtsextreme Übergriffe oder Wahlerfolge solcher Parteien gibt, auf die Agenda setzen. Wir fordern die Prüfung und ein konsequentes Verbot von Vereinen und Organisationen, die im rechtsextremen Bereich tätig sind und die Aberkennung der Gemeinnützigkeit. Wir brauchen die verlässliche und nachhaltige Finanzierung von Organisationen, Projekten und Initiativen, die für die Stärkung der demokratischen Kultur auf allen Ebenen - Bund, Länder und Kommunen - in unserem Land arbeiten. Eine „Kultur der Gewöhnung“, wie es in einem Spiegel-Artikel vom 2. Juni 2008 heißt, darf es in Deutschland nicht geben.

Christian Ahrendt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003729, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Die FDP-Fraktion hält einen Abzug von V-Leuten aus der NPD für die falsche Konsequenz als Reaktion auf das öffentlich gescheiterte NPD-Verbotsverfahren. Es ist die Aufgabe des Verfassungsschutzes, extremistische Organisationen zu beobachten, gleich welcher politischen Szene sie angehören. Dazu gehört auch die Informationsgewinnung über den Einsatz von V-Leuten. Oftmals kann nur so ein klares Lagebild erreicht werden. Vielfach sind die Informationen von V-Leuten hilfreich gewesen, um gefährliche Straftaten zu verhindern. Es gibt keine Gewährleistung dafür, dass ein NPDVerbotsverfahren erfolgreich wäre, wenn die V-Leute heute abgeschaltet werden würden. Denn hierdurch würden die heute vorliegenden Erkenntnisse nicht verwertbar. Welche Erkenntnisse und Quellen in Zukunft herangezogen werden könnten, um ein NPD-Verbotsverfahren erfolgreich zu bestreiten, ist derzeit ungewiss. Es ist daher ein Trugschluss, dass mit dem Abschalten der V-Leute die Quellen von gestern gerichtsverwertbar werden würden. Kritisch ist aber zum Einsatz von V-Leuten Folgendes anzumerken: So sehr es darum geht, die rechtsextremistische Szene aufzuklären, so wenig darf der Einsatz von V-Leuten in der NPD dazu führen, dass der Verfassungsschutz eine Art Garant dafür wird, dass ein NPD-Verbotsverfahren nicht durchgeführt werden kann. Beobachten ist das eine. Eine aktive oder anders formuliert mittelbare bzw. unmittelbare Beeinflussung von Quellen durch den Verfassungsschutz darf es jedoch nicht geben. Das BVerfG hat in seinem Beschluss vom 18. März 2003 zu Recht festgestellt, dass Parteien grundsätzlich eine „staatsferne Veranstaltung“ sind, der Staat also auf die politische Willensbildung in den Parteien keinen Einfluss nehmen darf. Das Problem des Einsatzes von V-Leuten zur Beobachtung der „Rechten Szene“ ist nach dem gescheiterten NPD-Verbotsverfahren zu einem Problem des Verfassungsschutzes geworden. Es bedarf der Aufklärung, wo die intensive Beobachtung der NPD durch V-Leute zu einer gezielten und wirkungsvollen Einflussnahme auf die Willensbildung der Vorstände der NPD auf Bundes- und Landesebene geworden ist. Ich habe der Bundesregierung mit meiner Kleinen Anfrage vom letzten Monat eben diese Fragen gestellt. Die Bundesregierung hat die Fragen nicht beantwortet. InsZu Protokoll gegebene Reden besondere ist vollständig offen geblieben, wie durch die „Führung von V-Leuten“ die Einflussnahme auf die politische Willensbildung ausgeschlossen wird. Man kann also getrost festhalten: Das NPD-Verbotsverfahren scheitert weniger an der nachrichtendienstlichen Überwachung der NPD durch den Verfassungsschutz, sondern vielmehr daran, wie diese Überwachung in der Vergangenheit organisiert und durchgesetzt worden ist. Deswegen ist der Antrag der Partei Die Linke der falsche Ansatz, um sich dem eigentlichen Problem zu widmen. Ich möchte mit einem Hinweis schließen. Es kommt nicht nur darauf an, sich mit einem NPD-Verbotsverfahren auseinanderzusetzen. Es ist ebenso bedeutsam, die Organisationen im Umfeld der NPD zu verbieten. Mit dem Verbot des Vereins „Collegium Humanum“ ist ein Anfang gemacht. Aber wenn man sich anschaut, wie lange dieser Verein existiert hat, hat das richtige Ergebnis lange auf sich warten lassen. Ebenso bedeutsam ist es, die Finanzierungsquellen für extremistische Organisationen trocken zu legen. Es kann nicht sein, dass solche Organisationen wie beispielsweise der eben erwähnte Verein „Collegium Humanum“ das Siegel der Gemeinnützigkeit erhalten und damit Spenden an solche Organisationen steuerlich begünstigt sind. Auch hier hat meine Kleine Anfrage vom März gezeigt, dass die Bundesregierung keinen Überblick über dieses Thema besitzt. Der Bundesregierung ist etwa die Zahl von Körperschaften, die vom Verfassungsschutz beobachtet und zeitgleich vom Staat steuerlich gefördert werden, nicht bekannt. Ebenso wenig werden Fälle von Körperschaften registriert, denen die Gemeinnützigkeit entzogen wurde, weil ihre Verfassungsfeindlichkeit festgestellt wurde. Dies verwundert doch sehr. In einem Staat, in dem die mittlere Lufttemperatur in Petrisberg jeden Monat vom Bundesamt für Statistik akribisch festgehalten wird, ist es ein starker Tobak, dass über die Gemeinnützigkeit der verfassungsfeindlichen Körperschaften keine Notiz gemacht wird. Helfen wir der NDP also nicht länger durch eine ständig neue Verbotsdebatte. Lassen Sie uns den rechten Sumpf im Umfeld der NPD effektiv trocken legen. Das ist effizienter, nicht so öffentlichkeitswirksam, führt aber zum selben Ziel.

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Die Frage eines möglichen Verbots der NPD ist in den letzten Wochen wieder in den Hintergrund der Debatte getreten. Das hat vor allem zwei Gründe: In erster Linie haben die Unionsinnenminister deutlich gemacht, dass sie die Voraussetzungen für ein solches Verbot - Abzug der V-Leute - nicht herstellen werden. Und zweitens haben Sie mal wieder die angebliche Gefahr von links so hochgeredet, dass der tägliche Straßenterror der NPD und ihrer Unterstützer in der öffentlichen Wahrnehmung relativiert wurde. Das verbal-radikale Auftreten einiger Innenpolitiker der Koalition hat offensichtlich keine praktischen Konsequenzen. Weil CDU/CSU ein neues NPD-Verbotsverfahren ablehnen, die NPD jedoch weiterhin als besonders gefährlich einschätzen, wollen sie diese weiterhin beobachten. Die SPD fordert hingegen ein erneutes Verbotsverfahren, obwohl nicht in allen SPD-geführten Bundesländern die Innenminister zum notwendigen Abzug der V-Leute bereit sind. Dieser Abzug ist jedoch notwendig, da das Parteienverbot „ein Höchstmaß an Rechtssicherheit, Transparenz, Berechenbarkeit und Verlässlichkeit“ verlangt - so das Bundesverfassungsgericht bei der Einstellung des letzten Verbotsverfahrens 2003. Dies setzt voraus, dass die „Quellen in den Vorständen einer politischen Partei ,abgeschaltet“ sind. Damit hat das Verfassungsgericht noch gar keine Aussage darüber getroffen, ob bei der NPD die für ein Verbot notwendige „aggressiv-kämpferische Haltung“ gegen die verfassungsmäßige Ordnung vorliegt. Ehrhart Körting, der sozialdemokratische Innensenator Berlins, hat im April dieses Jahres festgestellt, die Verfassungswidrigkeit der NPD auch ohne V-Leute-Einsatz nachweisen zu können. Daher verwundert es, dass nicht alle Innenminister der von der SPD geführten Bundesländer ihre V-Männer abziehen wollen. Es passt nicht zusammen, einerseits auf die besondere Gefahr hinzuweisen, die von der NPD ausgeht, und andererseits nicht die nötigen Schritte zu ihrem Verbot zu unternehmen. Wie im Fall eines V-Mannes in Ostwestfalen wurde in letzter Zeit deutlich, dass der Verfassungsschutz nicht nur in Einzelfällen entgegen seines eigentlichen Auftrages handelt. Der genannte V-Mann soll sich des Drogenhandels, der Körperverletzung und Verstößen gegen das Waffengesetz schuldig gemacht haben. Er wurde danach von seinem V-Mann-Führer vor laufenden Ermittlungsmaßnahmen gewarnt. Ein weiterer aktueller Fall ist der laufende Prozess gegen die verbotene Neonazi-Gruppe „Sturm 34“ im sächsischen Mittweida. Dort kam heraus, dass ein Angeklagter Informant des Staatsschutzes war. Bisher ist davon auszugehen, dass der Informant schon bei Gründung der Gruppe für den polizeilichen Staatsschutz tätig war. Diese Kumpanei mit einem Kriminellen ist skandalös und macht die aus diesen Quellen gewonnenen Erkenntnisse auch nicht gerade glaubwürdig. Die Aussagen des ehemaligen V-Manns Wolfgang Frenz beim ersten NPDVerbotsverfahren belegen zudem, dass V-Leute generell nicht im Hintergrund der jeweiligen Gruppe agieren, sondern vielmehr eskalierend und radikalisierend auf andere Mitglieder einwirken. Wolfgang Frenz war von 1962 bis 1995 bezahlter V-Mann bei der NPD und bis in hohe Parteiämter aktiv. Eine solche Entwicklung liegt in der Logik verdeckter Arbeit innerhalb von Parteien, da eine Unterwanderung eine aktive Rolle der V-Leute erfordert. Dadurch wird nichts verhindert, und im Hinblick auf ein mögliches Parteiverbot ist solche Art der Unterwanderung auch kontraproduktiv. Das gescheiterte NPD-Verbotsverfahren und auch die aktuellen Fälle aus NRW belegen, dass eine effektive Kontrolle des Einsatzes von V-Leuten nicht möglich ist. Die Informationen, die die Bundesregierung durch den Einsatz von V-Leuten erhält, sind, wie man den Antworten auf diverse Kleine Anfragen der Linken zum Thema Zu Protokoll gegebene Reden Rechtsextremismus entnehmen kann, durchgängig sehr dürftig. Die meisten Antifa-Gruppen sind hier offensichtlich besser informiert. Die Linke bleibt daher dabei: Die Spitzel des Verfassungsschutzes müssen sofort aus allen Gremien der NPD abgezogen werden. Sie tragen nichts zur Aufklärung bei, sondern sind allzu oft staatlich bezahlte Nazihetzer und Kriminelle. Statt des Verfassungsschutzes sollte eine aus öffentlichen Mitteln finanzierte unabhängige Beobachtungsstelle für Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus geschaffen werden.

Monika Lazar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003714, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Jeder siebte NPD-Funktionär steht auf der Gehaltsliste des Verfassungsschutzes! Das wurde im Zusammenhang mit dem gescheiterten Verbotsantrag im Jahr 2003 bekannt. Auch heute noch arbeiten viele Spitzel zugleich für NPD und Verfassungsschutz - und kassieren oft doppelt. Diese Strategie erwies sich vielfach als kontraproduktiv. Es gibt etliche absurde und peinliche Beispiele, wie Nazispitzel den Verfassungsschutz gezielt an der Nase herumgeführt haben. Trotz jahrelanger Zusammenarbeit mit V-Leuten gelang es den staatlichen Stellen nicht, die NPD nachhaltig zu schwächen und ihren Einfluss zurückzudrängen. Im Gegenteil: V-Leute in der Parteiführung garantieren der NPD stetige Subventionen und sind überdies der beste Schutz vor einem Verbotsverfahren. Das sieht nach einem einseitig guten Geschäft für die Nazipartei aus. Das demokratische Lager muss sich natürlich fragen: Welchen Nutzen bringt uns der Einsatz von V-Leuten in den NPD-Führungsetagen? Die Linksfraktion appelliert in ihrem Antrag pauschal: Keinen Nutzen, es ist höchste Zeit, alle V-Leute abzuschalten. Dies betrachtet sie als ersten - und ausreichenden - Schritt für ein neues, diesmal erfolgreiches Verbotsverfahren. Und das ist das wahre Ziel ihres Antrags. Seit jeher plädiert die Linke für ein schnelles NPD-Verbot als zentrale Maßnahme gegen Rechtsextremismus. Wir wissen jedoch, dass ein NPDVerbot die rechtsextreme Ideologie im Denken vieler Menschen nicht ändert. Im Gegenteil, es gäbe vielleicht sogar noch eine Art Märtyrerbonus für Nazikader. Auch sehen wir die sehr reale Gefahr, dass sich nach einem Verbot aktive NPD-Truppenteile unter anderem Namen neu formieren oder aus dem Untergrund weiteragieren würden. Darüber muss die Politik sich Gedanken machen, bevor sie symbolträchtig nach Repressionen ruft. Denn selbst wenn die NPD verboten würde, ihre Wählerinnen und Wähler können wir nicht verbieten oder wegsperren. Sie leben weiter in unserem Land, für das wir Verantwortung tragen. Die zentrale Frage angesichts des wachsenden Rechtsextremismus lautet deshalb für mich: Warum erreicht aktuell die demokratische Politik so viele Menschen nicht mehr, und wie können wir das ändern? Diese Fragestellung lässt der Antrag der Linksfraktion leider außen vor. Im Vordergrund der politischen Debatte sollte die Bekämpfung des grundlegenden Problems stehen, nicht das Verbot einer daraus erwachsenen Struktur. Dieses Problem besteht in der rassistischen, antisemitischen und neofaschistischen Haltung vieler Bürgerinnen und Bürger. Die Verdrängung der NPD in die Illegalität würde die Ultrarechten zweifellos strukturell schwächen. Auf Naziideologie und rechtsextreme Gewalt wäre sie jedoch keine geeignete Antwort. Auch müsste man mit der Bildung von Nachfolgeorganisationen rechnen. Ein Argument für ein Verbotsverfahren - und im Vorfeld für den zwingenden Verzicht auf Informanten - ist die staatliche Parteienfinanzierung. Mich ärgert es sehr, dass die NPD davon profitiert. Die Lösung dieses Problems liegt jedoch nicht in einem Parteiverbot, sondern in der Förderung der Zivilgesellschaft, damit die NPD gar nicht erst gewählt wird. Starkes Demokratiebewusstsein kann rechtsextremen Parteien die Basis für ihre menschenverachtende Politik entziehen. Demokratische Strukturen entstehen aber nicht durch Verbote! Wir müssen sie langfristig und quer durch alle Parteien und Gesellschaftsschichten entwickeln. Diesen Ansatz vermisse ich im Antrag der Linksfraktion. Stattdessen erhebt er die gern gehörte, symbolpolitische Forderung nach einem NPD-Verbot. „Symbolpolitisch“ nenne ich sie, weil die V-Leute dabei als scheinbar einziges Hindernis für ein Verbot instrumentalisiert werden. Die Linksfraktion legt nahe, dass einzig die Informanten die Zerschlagung der Nazistrukturen verhindern würden. Dies ist weder sachlich richtig noch zielführend. Selbstverständlich verurteilen auch wir die Missstände bei der Überwachung der NPD durch den Verfassungsschutz. Angesichts öffentlicher Skandale sind Skepsis und Wachsamkeit durchaus angebracht. Es ist höchst bedauerlich, wie stümperhaft und lasch offenbar gewisse Überwachungen durchgeführt wurden. Wir fordern den Verfassungsschutz auf, professioneller zu agieren und Informanten besser auf ihre Eignung zu prüfen. Es ist abzusichern, dass staatliche Behörden nicht Straftaten billigend in Kauf nehmen oder gar unterstützen. Eine Überwachung, die das Selbstbewusstsein agierender Nazis und die Gefahren durch die NPD nur weiter erhöht, verfehlt ihr Ziel in fataler Weise. Sollen wir also sofort alle V-Leute abschalten, wie die Linke vorschlägt? Unsere Antwort lautet: Nein. Das wäre nicht realisierbar. Der Staat ist auf Informationen aus dem NPD-Umfeld angewiesen und zudem verpflichtet, aus Schutzgründen die Anonymität der V-Leute zu wahren. Das heißt jedoch nicht, alles könne weiterlaufen wie bisher. Die Überwachung muss viel professioneller gestaltet werden. Die zuständigen Gremien auf Bund- und Länderebene haben ihre Kontrollfunktion gewissenhafter und konsequenter auszuüben. Erkenntnisse des Verfassungsschutzes müssen kooperativ ausgewertet und sinnvoll genutzt werden. Leider hat aber die Innenministerkonferenz großen Nachbesserungsbedarf aufgezeigt. Mit Steuermitteln gewonnene Informationen wurden zurückgehalten. Politikerinnen und Politiker griffen einander öffentlich an. Von einer abgestimmten Strategie war nichts zu hören. Ohne Zusammenarbeit der demokratischen Kräfte werden wir aber scheitern. Das gilt für Repression wie für Prävention! In unserem Land finden fast ständig irgendwo Wahlen statt. Lassen Sie uns mit starken Bündnissen und präventiven Mitteln dafür sorgen, dass die NPD Zu Protokoll gegebene Reden dabei auf der Verliererseite steht. Dann erübrigt sich die Debatte um V-Leute und Verbotsverfahren.

Gert Winkelmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003864, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Vorab erst einmal ein ernst gemeinter Dank an die Fraktion der FDP: Die Kleine Anfrage von Anfang Mai dieses Jahres korrespondiert hervorragend mit dem hier zu debattierenden Antrag meiner Partei, der Linken. Sie spült viel Wasser auf die Mühlen derjenigen Demokraten, denen es ein dringendes Bedürfnis ist, der NPD das - derzeit noch vom Staat zwangsläufig mitfinanzierte - Handwerk zu legen. Die „Antwort“ der Bundesregierung scheint hingegen vermeintlich gesetzlich gestützte Staudämme errichten zu wollen. Sie ist schlicht eine Frechheit. Nur wird diese Nicht-Antwort das Gegenteil bewirken: Derart substanzlose Mauer-Versuche werden unweigerlich durch die zu erwartenden Gegenströmungen zu Fall kommen. Auch nicht gegebene Antworten sind interpretierbare Aussagen. Ende des Jahres 2006, als meine Partei eine ähnliche Anfrage stellte, war die Bundesregierung noch ein klein wenig beredter. Mich freut es, dass die FDP in Belangen der Bürgerrechte immer häufiger zu ihren Wurzeln zurückfindet und - in schier endlosen Zeiten der Opposition - hier wieder ein halbwegs verlässlicher Partner werden kann. Das war - im Protokoll bitte fett unterstreichen! - alles andere als ein Koalitionsangebot. Dieses Land braucht eine neue Bürgerbewegung: Otto-Kataloge und Schäuble 2.0 schreien förmlich nach Opposition. Zu diesem zivilgesellschaftlichen Engagement zählt zwingend das Aufbegehren gegen rechtsextremistische Tendenzen, die sich immer mehr in die Mitte unserer Gesellschaft ausbreiten. Alle demokratisch denkenden Menschen in Deutschland sollten denen auf die Füße treten, wenn sie mit rassistischen und menschenfeindlichen Parolen der NPD und der ihr anhängenden Kameradschaften und Zusammenschlüssen konfrontiert werden. Wir brauchen den zivilen Widerstand - die Gesinnung. Aber wir benötigen auch den Widerstand der Politik und der Gesetze. Das Bundesverfassungsgericht hat Vorgaben für ein Verbot der NPD formuliert. Die Linke - und jetzt auch die FDP - haben dem auf den Zahn gefühlt. Es könnte so einfach sein! Und hier benenne ich auch einen sicherlich nicht ausschlaggebenden Kritikpunkt an dem Antrag meiner Partei: Der Antrag fordert, alle Spitzel aus der NPD abzuziehen. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hingegen spricht von den Führungsstrukturen als Hindernis für ein neues Verbotsverfahren. Vielleicht ließe sich ja an dieser Stelle ein Kompromiss finden. Dies böte sich, nach Lektüre des Urteils von 2003, an. Es geht um das Ziel: Eigentlich wollen alle demokratisch gesinnten Menschen in dieser Republik, dass den Volksverhetzern der Rechten Mittel und Wege entzogen werden, ihre Ideen zu verbreiten. Genau aus diesem Grund erschließt sich mir nicht, weshalb die Union an dieser Stelle versucht, diese vermeintlichen Mauern zu ziehen. Allerdings überkommt mich gerade die Erinnerung ans vergangene Jahr: Es ist erschreckend und einer Demokratie unwürdig, wenn das Bundesministerium des Innern ein erneutes NPD-Verbotsverfahren ablehnt, obwohl es die Partei als „verfassungsfeindlich“ einschätzt. Es ist zynisch, die NPD als „antidemokratisch“ und „antisemitisch“ einzustufen, sie aber nicht verbieten zu wollen, weil man die rechtsextremistische Partei dann nicht mehr mit „nachrichtendienstlichen Mitteln“ beobachten lassen könne. Im Klartext heißt dies: Innenminister Schäuble und sein treuer Adjutant, Unions-Fraktionsvize Wolfgang Bosbach, wollen einer verfassungsfeindlichen Partei das Parteien-Privileg gewähren, um diese weiter durch den Verfassungsschutz beobachten zu können. Das ist eine absurde und gefährliche Denkstruktur. Das erste Verfahren ist 2003 zu Recht daran gescheitert, dass sich kaum noch unterscheiden ließ, ob die NPD von V-Männern oder ihren eigenen Leuten geführt wird. Es geht also bei einem neuerlichen Anlauf darum, die Leute des Verfassungsschutzes an verantwortlicher Stelle im NPD-Parteiapparat abzuschalten. Dann hätte ein Verbotsverfahren gegen die rechtsextremistische Partei gute Chancen auf Erfolg. Es darf nicht sein, dass der allumfassende Beobachtungswahn des Dr. Wolfgang Schäuble und seines Ministeriums dazu führt, dass eine verfassungsfeindliche Partei weiterhin mit öffentlichen Geldern ihr Unwesen treiben kann.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/9007 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 24. September 2005 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Vereinigten Arabischen Emirate über die Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich - Drucksache 16/9039 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({0}) - Drucksache 16/9343 Berichterstattung: Abgeordnete Ralf Göbel Michael Hartmann ({1}) Ulla Jelpke Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll gegeben. Es handelt sich um die Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Ralf Göbel, CDU/CSU, Michael Hartmann ({2}), SPD, Dr. Max Stadler, FDP, Ulla Jelpke, Die Linke, Wolfgang Wieland, Bündnis 90/Die Grünen.

Ralf Göbel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003535, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Der technologische Fortschritt, die kommunikative Vernetzung und offene Ländergrenzen verändern unsere Gesellschaft insgesamt und damit auch die Strukturen und das Bedrohungspotenzial von Kriminellen. Kehrseite der Globalisierung ist aber auch, dass Kriminelle grenzüberschreitend agieren und global vernetzt sind. Dass auch der Terrorismus schnell an globaler Reichweite gewinnt, zeigt der „Europol Terrorism and Trend Report 2007“, den die europäische Polizeibehörde Europol im März vorgestellt hat. Danach wurden allein im vergangenen Jahr 200 islamistische Terrorverdächtige in der Europäischen Union festgenommen, darunter die im Sauerland Verhafteten. Auch der Fall des deutschen Islamisten Eric B., der in Pakistan oder Afghanistan vermutet wird und Gesinnungsgenossen per Videobotschaft im Internet zum Dschihad aufruft, macht deutlich, dass die Sicherheitsbehörden international enger zusammenarbeiten müssen. Sie müssen ebenso grenzüberschreitend agieren wie Kriminelle und genauso vernetzt sein wie diese. Was die Zusammenarbeit der nationalen Behörden auf europäischer Ebene anbelangt, hat sich einiges getan: So haben sich die Mitgliedstaaten der Europäischen Union kürzlich darauf geeinigt, den Vertrag von Prüm, den sieben Einzelstaaten zuvor auf völkerrechtlicher Basis geschlossen hatten, in den Rechtsrahmen der Europäischen Union zu überführen. Dieser ermöglicht unter anderem verschiedene Formen der polizeilichen Kooperation auf europäischer Ebene sowie den Informationsaustausch über Terrorverdächtige. Neben einer verbesserten europäischen Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden bei der Bekämpfung von Kriminalität ist auch die Kooperation auf internationaler Ebene erforderlich, um den ernstzunehmenden Gefahren, insbesondere denen des internationalen Terrorismus, begegnen zu können. Es ist wichtig, internationale Netzwerke gegen den Terrorismus und die organisierte Kriminalität auf- und auszubauen. Neben Interpol und multilaterale Kooperationsinstrumente unter Federführung der Vereinten Nationen treten dabei bilaterale Rechtsinstrumente. Um ein solches handelt es sich auch bei dem vorliegenden Abkommen, das die Bundesrepublik Deutschland mit den Vereinigten Arabischen Emiraten im Jahr 2005 geschlossen hat. Ziel desselben ist es, die Zusammenarbeit der beiden Staaten im Bereich der Bekämpfung des internationalen Terrorismus und der grenzüberschreitenden Kriminalität auszubauen und so die innere Sicherheit in den Vertragsstaaten zu erhöhen. Gegenstand der Zusammenarbeit sind die Vorbeugung und Bekämpfung der organisierten Kriminalität, des Terrorismus, der Rauschgiftkriminalität und anderer Straftaten von erheblicher Bedeutung, die beispielhaft in Art. 1 des Abkommens aufgelistet sind. Die Beschränkung der Zusammenarbeit auf Straftaten mit einer gewissen Eingriffsintensität gewährleistet, dass der andere Vertragsstaat nicht wegen jeder beliebigen, geringfügigen Straftat um Amtshilfe ersucht wird. Die aufgelisteten Deliktsbereiche markieren zugleich die Schwerpunkte der gemeinsamen Sicherheitspolitik. Die Formen der Zusammenarbeit der deutschen Behörden mit denen der Vereinigten Arabischen Emirate sind abschließend in Art. 2 des Abkommens aufgelistet. Zu ihnen gehört zunächst der Austausch von Informationen: In der Praxis müssen die Sicherheitsbehörden, um zeitnah reagieren zu können, schnell über Daten über verdächtige Personen verfügen können. Es muss den Sicherheitsbehörden daher möglich sein, einen schnellen Zugriff auf die Daten bekommen, die für eine effektive Gefahrenabwehr und Strafverfolgung unerlässlich sind. Nur mit möglichst umfassenden Informationen haben wir eine Chance, Bedrohungen und Gefahren abzuwehren, bevor es zum Schaden kommt. Deswegen können wir nicht darauf verzichten, Informationen zu erheben und zu vernetzen. Dafür brauchen wir effektive Ermittlungsinstrumente sowie die nationale und internationale Kooperation der Behörden. Die Mitgliedstaaten haben sich daher dazu entschlossen, den Austausch von Informationen als erste Form der Zusammenarbeit im Abkommen festzuhalten. Danach tauschen die Vertragsstaaten Informationen über in den Mitgliedstaaten begangene oder geplante Straftaten und über kriminelle Organisationen, deren Strukturen und Verbindungen sowie die Mittel und Methoden ihrer Tätigkeit aus, allerdings unter dem Vorbehalt, dass dies für die Verhütung und Aufklärung von Straftaten von erheblicher Bedeutung erforderlich ist. Damit wird sichergestellt, dass die Behörden die Informationen erlangen, die für ihre Ermittlungsarbeit von Bedeutung sind, über die sie aber selbst nicht verfügen. Des Weiteren sieht das Abkommen den Austausch von Erfahrungen im Bereich der Rauschgiftkriminalität sowie von Forschungsergebnissen vor. Hierdurch profitieren beide Seiten vom jeweiligen Know-how des anderen Staates. Als weitere Form der Zusammenarbeit kommt die Entsendung von Verbindungsbeamten in Betracht, sofern Bedarf besteht. Ferner können Beweismittelmuster geliefert werden, die aus Straftaten erlangt oder für diese verwendet wurden oder werden können. Schließlich besteht die Befugnis, auf Ersuchen der anderen Vertragspartei und soweit das Recht der ersuchten Vertragspartei es zulässt, abgestimmte operative Maßnahmen zur Verhütung und Aufklärung von Straftaten von erheblicher Bedeutung durchzuführen. Zugleich sieht das Abkommen für jede Vertragspartei die Möglichkeit der Nichterfüllung des Amtshilfeersuchens vor. Voraussetzung für ein solches vollständiges oder teilweises Verweigerungsrecht ist allerdings, dass die Erfüllung des Ersuchens die Souveränität, die Sicherheit, die öffentliche Ordnung oder andere wesentliche Interessen beeinträchtigen kann oder die Erfüllung des Ersuchens gegen innerstaatliches Recht verstoßen würde. Ein Ablehnungsrecht besteht auch dann, wenn das Ersuchen eine Handlung betrifft, die nach dem Recht des ersuchten Staates keine strafbare Handlung darstellt. Deutschland ist nach alledem nicht gezwungen, Informationen um jeden Preis an die Vereinigten Arabischen Emirate herauszugeben. Dieses - meiner Meinung nach unverzichtbare - Abkommen trägt dazu bei, internationale Sicherheitsnetzwerke auszubauen und derzeit bestehende Sicherheitslücken infolge von Informationsdefiziten zu minimieren. Mit Ihrer Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf leisten Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, einen wichtigen Beitrag dazu, dass das Abkommen in nationales Recht umgesetzt werden kann und für die Bundesrepublik Deutschland Rechtsverbindlichkeit erlangt.

Michael Hartmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003549, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

In einer globalisierten Welt sind auch Terror und organisierte Kriminalität schon längst keine nationalen Phänomene mehr. Den Netzwerken des Verbrechens sind deshalb Netzwerke der inneren Sicherheit entgegen zu stellen. Vor diesem Hintergrund begrüßt die SPD-Fraktion ausdrücklich das Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Vereinigten Arabischen Emirate über die Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich. Wie mit anderen Staaten auch, so wird nunmehr die Kooperation mit einem wichtigen arabischen Land auf ein solides Fundament gestellt. Das ist gut und richtig. Durch das Gesetz wird - zu dem bereits am 24. September 2005 paraphierten Vertrag - ein weiterer wichtiger Mosaikstein zur Befestigung unserer inneren Sicherheit von uns eingefügt. Dass der arabische Raum besonders, aber keineswegs nur, beim Kampf gegen den Terror eine wichtige Rolle spielt, liegt auf der Hand. Hier die Bande enger zu knüpfen, liegt also in unserem wohl erwogenen Eigeninteresse. Dass dabei stets die rechtsstaatlichen Grundlagen unserer Verfassung zu wahren sind, versteht sich von selbst. Nicht nur der Wissens- und Informationsaustausch wird dadurch erheblich verbessert, sondern auch der Austausch und die Mitwirkung von Beobachtern bei operativen Maßnahmen wird nunmehr stattfinden können. Das dient der Verbesserung der Präventions- und Repressionsarbeit der Sicherheitsbehörden beider Vertragsparteien. Obendrein werden das Verständnis und die Kenntnis der Mentalitäten und der Sicherheitskultur in beiden Staaten erhöht. Der Austausch von Verbindungsbeamten hilft dabei zusätzlich. Moderne Kriminalität findet zunehmend im und mithilfe des World Wide Web statt. Daher will ich ausdrücklich loben, dass es gelungen ist, auch den Kampf gegen Computerkriminalität zu erfassen. Möge das Gesetz vor allem aber das Vertrauen zwischen zwei Staaten unterschiedlicher Kulturen fördern. Denn anstatt einen „Clash of civilisations“ herbeizureden, wie manche dies allzu leichtfertig tun, geht es auch hier um die vornehmste Aufgabe von Politik: Vertrauen schaffen.

Dr. Max Stadler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002805, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Heute diskutieren wir hier das Gesetz zur Ratifizierung des Abkommens vom 24. September 2005 zwischen der Bundesregierung und der Regierung der Vereinigten Arabischen Emirate. Um es vorwegzunehmen: Wir werden der Ratifizierung nicht zustimmen. Erneut ist es die Bedrohung durch den internationalen Terrorismus, die einen weiteren Eingriff in die Freiheitsrechte der Bürgerinnen und Bürger rechtfertigen soll. Schon zu Zeiten der rot-grünen Bundesregierung, aber auch seit der letzten Bundestagswahl und dem damit verbundenen Amtsantritt von Wolfgang Schäuble als Bundesinnenminister dient die Terrorgefahr als Vorwand für diverse Gesetze, die staatliche Überwachung ermöglichen sollen oder, wie hier, über datenschutzrechtliche Bestimmungen schlicht hinweggehen. Ungeachtet mehrerer Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, in denen festgestellt wurde, dass die Koalition beim „Schutz“ der Bürgerinnen und Bürger regelmäßig zu weit geht, verfolgen Regierung und Koalition ihre fragwürdige Sicherheitspolitik unbeirrt weiter. Es scheint mir so, als ob die Einschränkung von Freiheitsrechten das Einzige ist, worauf sich die Koalitionsparteien noch einigen können. Bei dem Abkommen, über dessen Ratifizierung wir heute zu beraten haben, handelt es sich um einen weiteren Schritt in Richtung „gläserner Bürger“. So sehr wir Liberale internationale Zusammenarbeit unterstützen, so wenig ändert dies etwas an unserer Haltung gegenüber diesem Abkommen. Wir sind davon überzeugt, dass die Probleme in einer globalisierten Welt nicht durch nationale Alleingänge gelöst werden können. Aus diesem Grund sind vertrauensvolle Beziehungen gerade auch zu den arabischen Staaten von herausragender Bedeutung. Gleichwohl können wir bilateralen Abkommen dann nicht zustimmen, wenn Regelungen enthalten sind, die wir auch auf nationaler Ebene seit jeher ablehnen. Mit unserer Zustimmung zu diesem Abkommen durfte die Bundesregierung schon aufgrund von Art. 10 des Abkommens nicht rechnen. Dass wir die Ausweitung der Aufnahme biometrischer Daten in Ausweisdokumente ablehnen, ist allseits bekannt. Ebenso problematisch wie Art. 10 und ein weiterer Schritt in Richtung „gläserner Bürger“ ist Art. 9 des Abkommens. Dieser bestimmt, dass die Verwendung persönlicher Daten nicht nur zu den im Abkommen geregelten Zwecken, sondern auch zur Verfolgung „schwerwiegender Straftaten“ und zum Zweck der Abwehr von „erheblichen Gefahren für die öffentliche Sicherheit“ möglich sein soll. Die Übermittlung und die Verwendung persönlicher Daten an unbestimmte Rechtsbegriffe zu knüpfen, ist an sich schon fragwürdig. Der Begriff der „schwerwiegenden Straftat“ ist darüber hinaus auch noch besonders schwammig. Es bedarf also einer Auslegung dieses Begriffes. Zu welchem Auslegungsergebnis ein Land wie die Vereinigten Arabischen Emirate kommen wird, dessen Rechtssystem sich doch recht stark von unserem unterscheidet, ist schwer zu beurteilen. Allerdings heißt es zum Beispiel auf der Internetseite der deutschen Botschaft Abu Dhabi in einer Warnung für Besucher der Emirate: Drogenbesitz auch in kleinsten Mengen und unter Umständen auch im Körper nachweisbarer kurz zurückliegender Drogenkonsum werden strengstens Zu Protokoll gegebene Reden verfolgt und ziehen in der Regel die Verurteilung zu einer Gefängnisstrafe nicht unter 4 Jahren nach sich. Gleichlautende Hinweise finden sich auch auf der Homepage des Auswärtigen Amtes. - Ist eine Handlung, die eine Strafe von mindestens vier Jahren Gefängnis nach sich zieht eine schwerwiegende Straftat? Es ist unserer Auffassung nach nicht auszuschließen, dass Daten, die im Sinne des Abkommens rechtmäßig übermittelt werden, anschließend zur Verfolgung von „schwerwiegenden Straftaten“ im Sinn des „innerstaatlichen Rechts der jeweiligen Vertragspartei“ genutzt werden. Denn genau danach soll sich die Verwendung der übermittelten Daten richten. Für mich stellt sich daher die Frage, warum dieser Begriff der „schwerwiegenden Straftat“ gewählt wurde. Warum hat man sich stattdessen nicht auf einen Straftatenkatalog geeinigt und die Verwendung und die Übermittlung an die Aufklärung einer solchen Katalogtat gebunden? Auch der andere unbestimmte Rechtsbegriff wirft einige Fragen auf. Wann liegt denn eine „erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit“ vor? Terrorismus allein kann nicht gemeint sein, da dessen Verhütung bereits Zweck des Abkommens ist. Art. 9 Nr. 3 Satz 2 soll gerade eine darüber hinausgehende Verwendung ermöglichen. Im Ergebnis wird durch dieses Abkommen einer willkürlichen Verwendung persönlicher Daten Tür und Tor geöffnet.

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Bei dem, was die Bundesregierung unter der Bekämpfung des Terrorismus versteht, wird leider in aller Regel der Teufel mit dem Beelzebub ausgetrieben. Das gilt auch für die Vereinigten Arabischen Emirate, die uns von der Bundesregierung hier als glaubwürdiger Akteur in Sachen Menschenrechte verkauft werden. Doch das ist der reine Hohn. Ich fordere Sie auf, meine Damen und Herren: Lesen Sie den Länderbericht von Amnesty International, und dann denken Sie noch einmal darüber nach, mit wem Sie hier in aller Freundschaft Abkommen über polizeiliche Zusammenarbeit schließen wollen. Denn die Menschenrechte werden dort regelrecht mit Füßen getreten. Der dortige Inlandsgeheimdienst ist berüchtigt dafür, Menschen in Haft zu nehmen, weil sie angeblich Islamisten sein sollen, oder auch nur, weil sie es wagen, politische Reformen zu fordern. Eine Anklageerhebung hält man für unnötig. Die Betroffenen bleiben monatelang in sogenannter incomunicado-Haft, das heißt ohne dass ihnen irgendein Kontakt zur Außenwelt gewährt wird. Manche Menschen „verschwinden“ einfach. Die Todesstrafe wird verhängt, und grausame und erniedrigende Körperstrafen wie Auspeitschungen sind dort keine Seltenheit. Wir wissen außerdem, dass in diesem Land Homosexualität als sogenannte unzüchtige Handlung verboten und unter Strafe gestellt ist. Mit einem Wort: Die Vereinigten Arabischen Emirate gehören mit zu den Staaten, die man nur als Menschenrechtsverletzer beschreiben kann. Und mit dessen Behörden sollen jetzt nach dem Willen der Bundesregierung polizeiliche Erkenntnisse ausgetauscht werden. Beruhigend heißt es in dem Dokument, dass beide Seiten strikt auf Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit zu achten hätten. Doch von solchen Zusicherungen lässt sich Die Linke nicht einlullen. Denn wer kann garantieren, was mit diesen Daten passiert? Wer von Ihnen legt seine Hand dafür ins Feuer, dass die Behörden der Arabischen Emirate tatsächlich „verhältnismäßig“ vorgehen? Jeder, der in den Emiraten, sei es zu Recht oder auch zu Unrecht, schwerer oder auch minder schwerer Straftaten beschuldigt wird, muss damit rechnen, eingesperrt und geschlagen zu werden oder zu verschwinden. Die Vorstellung, dass das mit Hilfe deutscher Behörden passiert, die ihren arabischen Kollegen erst die notwendigen Informationen liefern, ist doch reiner Horror. Wir wissen ja, dass die Bundesregierung eine emsige Zusammenarbeit mit Folterregimen praktiziert, auch im Militär- und Polizeibereich. Um Menschenrechte, um Frieden und die Eindämmung illegitimer Gewalt geht es dabei kaum, vielmehr geht es um machtpolitische Interessen. Das fängt an bei den wichtigsten NATO-Verbündeten, die mit ihrer Politik der weltweiten Angriffskriege und Folterlager oftmals Gegengewalt erst hervorrufen. Doch daran mag bis auf die Fraktion Die Linke ja keine Fraktion in diesem Haus erinnert werden. Abkommen mit menschenrechtsfeindlichen Staaten begründet die Bundesregierung gerne damit, sie könnten dabei helfen, eine grund- und menschenrechtsorientierte Sicherheitspolitik zu etablieren. Ein Beispiel hierfür hat sie allerdings bisher nicht vorgelegt. Würde sie ihre eigene Begründung wenigstens selbst ernst nehmen, hätte sie ja versuchen können, für das Gesetzgebungswerk Menschenrechtsorganisationen zu Rate zu ziehen. Das ist nicht geschehen. Noch ein letzter Hinweis: Wie so oft vermischt die Bundesregierung auch hier Terrorismus und illegalisierte Migration. Sie will Menschen daran hindern, ohne staatliche Erlaubnis nach Europa zu kommen, ohne sich für Fluchtgründe und Situation dieser Menschen zu interessieren. Statt dessen wirft sie sie einfach in einen Topf mit angeblichen Terroristen. Das ist inhuman, das ist unsachlich. Die Fraktion Die Linke fordert eine an Menschenrechten orientierte Außenpolitik. Davon kann im Zusammenhang mit diesem Abkommen keine Rede sein. Wir lehnen den Gesetzentwurf daher ab.

Wolfgang Wieland (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003863, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wir haben heute schon über ein Abkommen zwischen der Bundesrepublik und den USA debattiert. Da haben wir gesehen, was man bei einem solchen Abkommen alles falsch machen kann. Das nun vorliegende Abkommen mit den Vereinigten Arabischen Emiraten ist ähnlich gelagert, aber handwerklich besser und wesentlich weniger bedenklich als das Übereinkommen mit den USA. Aber auch in diesem Fall bleiben Probleme, die uns eine Zustimmung nicht möglich machen. Zu Protokoll gegebene Reden Zu begrüßen sind die klareren Antworten auf die Fragen: Wer? Was? Warum? Das Abkommen zählt explizit auf, welche Stellen die Kooperation abwickeln. Es können also nicht durch die Hintertür neue Zuständigkeiten für andere Behörden geschaffen werden. Es herrscht auch weitgehende Klarheit über die Straftaten, bei denen das Abkommen zum Tragen kommen kann. Die Liste ist zu lang geraten. Es stellt sich schon die Frage, ob die KfzKriminalität - vulgo: Autoklau - zwischen Deutschland und Dubai ein wirklich dringliches Problem ist. „Eigentumskriminalität“ ist ebenfalls eine zu umfassende Kategorie, um einen - notorisch schwer zu kontrollierenden Datenaustausch mit einem anderen Land immer zu rechtfertigen. Es gibt aber auch in diesem Abkommen den undefinierten Begriff „Terrorismus“, bei dem man befürchten muss, dass er in einer freiheitlichen Demokratie doch anders definiert ist als in einem Emirat. Aber immerhin wird deutlich geregelt, dass der Informationsaustausch nur dann stattfindet, soweit dies für die Verhinderung und Aufklärung von Straftaten von erheblicher Bedeutung erforderlich ist. Die Art und die Menge der übermittelten Daten sind nach den Standards des nationalen Rechts und nach der Verhältnismäßigkeit zu bestimmen. „Erheblich“, „erforderlich“ und vor allem „verhältnismäßig“ sind Worte, die man auch bei anderen innenpolitischen Projekten dieser Bundesregierung gerne öfter lesen würde. Der Datenaustausch ist also beschränkt. Es wird - soweit das geht - die Einhaltung der eigenen Datenschutzstandards festgeschrieben und die Verwendung für andere Zwecke so eng limitiert wie nur möglich. Das löst natürlich nicht das Problem, dass man Daten nicht mehr wirksam kontrollieren kann, wenn sie den eigenen Hoheitsbereich verlassen haben. Aber es setzt ein Signal und eine Grenze, und es muss sich rechtfertigen, wer diese Grenze überschreitet. Auch das Recht der Betroffenen wurde berücksichtigt. Sie können nach den Gesetzen ihres Heimatlandes Auskunft über die über sie gespeicherten Daten und den Verwendungszweck erhalten. Das ist nicht perfekt; aber im Gegensatz zu dem Abkommen mit den USA wird hier deutlich, dass die Betroffenen als Menschen mit schützenswerten Rechten und nicht ausschließlich als Verdachtsmomentslieferanten betrachtet werden. Bis hierhin also Licht und Schatten, wobei das Licht vor allem relativ ist - neben dem durch und durch verschatteten Abkommen, das der Bundesinnenminister mit den USA ausgehandelt hat, glänzt dieser Text. Zum Ende aber zwei klare Kritikpunkte. Da gibt es Art. 10, der - löblich und sinnvoll - die Einführung fälschungssicherer Reisedokumente fordert. Weniger erfreulich ist die Verpflichtung zur Einführung biometrischer Merkmale in diesen Papieren. Da liest sich dieses noch von Otto Schily ausgehandelte Abkommen, mit Verlaub, eher wie eine Exportwerbung für deutsche Produkte. Das größte Bedenken ergibt sich aber aus dem Vertragspartner. Auch wenn es in letzten Jahren Fortschritte gegeben hat, bleiben die Emirate ein bestenfalls vordemokratischer Staat, in dem rechtsstaatliche Ansätze von Entscheidungen nach der Scharia überlagert werden. Es gibt immer wieder Berichte über Folter in den Emiraten. So wünschenswert es ist, für die Bekämpfung des islamistischen Terrorismus Partner zu gewinnen, gerade auch im arabischen Raum: Es fragt sich, ob angesichts des Umgangs mit politischer Opposition tatsächlich nur der Extremismus bekämpft wird, den auch wir bekämpfen, oder ob eben nicht auch demokratisch orientierte Bewegungen als Terroristen verunglimpft und verfolgt werden. Solange das nicht sicher zu sagen ist, sollte man sich nicht der Gefahr aussetzen, unwillentlich dazu Beihilfe zu leisten. Insofern können wir nur hoffen, dass die Bundesregierung bei der Umsetzung dieses Abkommens entgegen ihren sonstigen Gewohnheiten einmal vorsichtig und umsichtig mit sensiblen Daten umgeht.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Wir kommen zur Abstimmung. Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9343, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/9039 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der Fraktionen Die Linke und FDP und Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Josef Philip Winkler, Omid Nouripour, Volker Beck ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Humanitäre Standards bei Rückführungen achten - Drucksachen 16/4851, 16/7347 Berichterstattung: Abgeordnete Reinhard Grindel Hartfrid Wolff ({2}) Josef Philip Winkler Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Hans-Werner Kammer, CDU/CSU, Rüdiger Veit, SPD, Hartfrid Wolff ({3}), FDP, Ulla Jelpke, Die Linke, Josef Philip Winkler, Bündnis 90/Die Grünen.

Hans Werner Kammer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003783, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Was ist flüssiger als flüssig? Überflüssig. Diese Beschreibung passt sehr gut auf den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen „Humanitäre Standards bei Rückführungen achten“. Erstens: Deutschland hält bereits aufgrund der internationalen Abkommen, ich verweise hier auf die Europäische Menschenrechtskonvention, derartige Standards ein. Es ist doch eine Selbstverständlichkeit, dass Deutschland bei Rückfüh17676 rungen die humanitären Grundsätze und die Menschenrechte achtet. Insofern sollten wir nicht noch eine Reihe von generellen Abschiebeerschwernissen einführen, die Drittstaatsangehörigen zu leichte Möglichkeiten bieten, der Abschiebung zu entgehen. Ich betone ausdrücklich, dass ich niemanden mit pauschalen Verdächtigungen belegen will, aber wir dürfen die Augen nicht vor dem Faktum verschließen, dass es auch Menschen gibt, die Möglichkeiten, einer Abschiebung zu entgehen, missbrauchen. Insbesondere der absolute Abschiebestopp für Traumatisierte, den die Grünen in ihrem Antrag fordern, führt ja schon jetzt bei Rückführungen zu einem erheblichen Missbrauch. Mit dem Hinweis auf eine Traumatisierung haben viele Personen, insbesondere Frauen, versucht, einer Abschiebung zu entgehen. Wundersamerweise war in vielen Fällen bei Rückführung in das Heimatland eine medizinische Hilfestellung nicht mehr erforderlich. Gerade wenn es weitere bzw. andere Gründe für eine Abschiebung gibt, darf ein Drittstaatsangehöriger sich nicht hinter einer Traumatisierung verstecken. Ich möchte hier niemanden unter einen Generalverdacht stellen, aber umso wichtiger ist an dieser Stelle die Einzelfallprüfung. An dieser Stelle genießt das Bundesamt für Flüchtlinge und Migration mein vollstes Vertrauen. Die Einführung künstlicher Abschiebehindernisse halte ich zudem für kontraproduktiv. Sobald wir die Schwelle für Abschiebungen und den Kreis der schutzbedürftigen Personen erweitern, helfen wir vor allem den Schleuserbanden, die Menschen um ihr Hab und Gut in der Heimat bringen, indem sie mit immer mehr Versprechen die Menschen hierher schleusen und ihre Notsituation schamlos ausbeuten. Es kann nun wirklich keiner wollen, dass wir mit immer mehr künstlichen Abschiebehindernissen neue Anreize für Schleuserbanden schaffen. Jeder, der aus berechtigten Gründen nicht abgeschoben werden kann, wird auch in Deutschland nicht abgeschoben. Das ist in Deutschland und in Europa Standard, auch ohne Ihren Antrag. Angestoßen durch die deutsche EU-Ratspräsidentschaft, hat zudem die portugiesische Ratspräsidentschaft einen entsprechenden Richtlinienentwurf neu initiiert. Nach mehrjährigen Verhandlungen haben sich die EUInnenminister heute auf gemeinsame Regelungen zur Abschiebung verständigt. Mit dieser Einigung sind wir einen wichtigen Schritt auf dem Weg zu einer gemeinsamen europäischen Migrationspolitik gegangen. In einem Europa ohne Grenzen muss es auch eine einheitliche Migrationspolitik geben. Erst durch einheitliche Standards können wir auch die Bedingungen der Menschen, die unter unmenschlichen Bedingungen hier zum Teil ein Sklavendasein führen, verbessern. Dazu gehört zum Beispiel, dass die EU-Kommission künftig die Haftbedingungen kontrollieren kann und so einheitliche Standards gewährleistet werden können. Ich bin mir in diesem Zusammenhang sicher, dass es in Deutschland relativ wenig Verbesserungsbedarf gibt. Zudem begrüße ich es ausdrücklich, dass Wiedereinreiseverbote, die in den einzelnen Mitgliedstaaten verhängt wurden, dann EU-weit gelten werden. So ist eine effektive Bekämpfung von Schleuserbanden und anderen kriminellen Aktivitäten erst möglich. Ich bin zudem erfreut, dass sich die EU-Innenministerkonferenz heute in Luxemburg auf eine Begrenzung der Abschiebehaft auf 18 Monate geeinigt hat, also so, wie es bisher in Deutschland schon gesetzlich geregelt ist. Tatsächlich ist es so, dass die durchschnittliche Haftdauer in Deutschland weit darunter liegt. Ich möchte an dieser Stelle noch einmal auf die im Innenausschuss und auch hier bereits geführte Diskussion um die Abschiebehaft eingehen. Während die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen in ihrem Antrag die Abschiebehaft als letztes Mittel anerkennen, schießt in dieser Diskussion mal wieder die SED-Nachfolgepartei Die Linke den Vogel ab, indem sie eine generelle Abschaffung der Abschiebehaft fordert. Dass gerade Sie nach über 40 Jahren Repression gegen das eigene Volk an dieser Stelle mit humanitären Argumenten kommen, ist schon ein Hohn. Und wir haben in der vergangenen Woche in diesem Hause ja wieder erleben dürfen, wer schon Hand in Hand mit dem Unrechtssystem DDR gearbeitet hat, Ihr Fraktionsvorsitzender, Herr Gysi. Dass Herr Gysi nur einer von vielen in der Partei Die Linke ist, die das System unterstützt haben, ist keine Neuigkeit. Bei vielen Gelegenheiten dokumentieren Sie immer wieder Ihre Nähe zu den Erfüllungsgehilfen des Systems. Wer Leute in seinen Reihen duldet, die Bautzen mitzuverantworten haben, der sollte eine Debatte um humanitäre Haftbedingungen mit mehr Augenmaß führen. Es gibt übrigens ein effektives Mittel, die Abschiebehaft zu verhindern: nämlich die freiwillige Ausreise bei angeordneter Abschiebung. Darüber hinaus kommen auch nur die Personen in Abschiebehaft, die nicht glaubwürdig versichern können, dass sie sich der Abschiebung in irgendeiner Form entziehen können. Nur in solchen Fällen ist eine Abschiebehaft vorbehaltlich des richterlichen Einverständnisses vorgesehen. Ich erlaube mir in dem Zusammenhang den Hinweis, dass es sich bei der illegalen Einreise immer noch um einen Straftatbestand handelt. Die CDU/CSU-Fraktion lehnt nicht nur vor dem Hintergrund der heute getroffenen Einigung, die noch der Zustimmung des EU-Parlamentes bedarf, den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen ab. Wir halten Ihren Antrag auch im Hinblick auf die Abschiebehindernisse für kontraproduktiv. Gerade mit der Einführung der Traumatisierung führen Sie eine sehr undifferenzierte Bedingung zur Verhinderung einer Abschiebung ein, die möglicherweise einer missbräuchlichen Nutzung Tür und Tor öffnet. Ferner halten wir in Deutschland die humanitären Standards in den Haftanstalten ein. Und es ist in Deutschland eine Selbstverständlichkeit, dass Rückführungen aus Deutschland unter Einhaltung des Menschenrechtes und rechtsstaatlicher Gesichtspunkte vollzogen werden. Zum Schluss möchte ich mich noch bei Herrn Staatssekretär Altmaier dafür bedanken, dass die verhandelte EU-Rückführungsrichtlinie in vielen Teilen die Handschrift der CDU trägt. Zu Protokoll gegebene Reden

Rüdiger Veit (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003249, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Der Antrag, den wir heute diskutieren, fordert die Einhaltung menschenrechtlicher Normen bei Rückführungen. Dass dieses Anliegen als solches meine Unterstützung findet, wird Sie nicht überraschen. Die Achtung der Menschenrechte auch gegenüber denen, denen ein Aufenthaltsrecht in Europa versagt wird, muss für uns als Innenpolitiker und Europäer eine Selbstverständlichkeit sein. Ich zitiere aus dem Haager Programm: „Der Europäische Rat fordert zur Festlegung einer wirksamen Rückkehr- und Rückübernahmepolitik auf, die auf gemeinsamen Normen beruht, die gewährleisten, dass die betreffenden Personen auf humane Weise und unter vollständiger Achtung ihrer Menschenrechte und Würde zurückgeführt werden.“ Doch Anspruch und Wirklichkeit sind nicht immer leicht zu vereinen. Im Ringen um europäische Kompromisse muss sich der menschenrechtliche Anspruch immer wieder gegen Einzelinteressen aus insgesamt 27 Mitgliedstaaten durchsetzen, die oft genug von nationalen, auf Abwehr gerichteten Prinzipien geleitet sind. So kann es nicht erstaunen, dass auch die Diskussionen über die Rückführungsrichtlinie von heftigsten Kontroversen begleitet sind. Diese haben den Anlass gegeben, dass sich die slowenische Ratspräsidentschaft um Kompromissgespräche bemüht hat. Nun haben sich der Berichterstatter und die slowenische Ratspräsidentschaft am 23. April 2008 auf einen Kompromiss einigen können. Die aktuelle Fassung der Richtlinie nach diesem Kompromiss liegt mir noch nicht vor. Ich muss mich daher auf Angaben unserer Kolleginnen und Kollegen aus Brüssel verlassen. Sie deuten darauf hin, dass einige Verbesserungen erreicht werden konnten, aber kritische Punkte bestehen bleiben. Lassen Sie mich beispielhaft drei Aspekte aufgreifen. Die Höchstdauer der Abschiebehaft wurde auf maximal sechs Monate, in Ausnahmefällen auf bis zu 18 Monate festgesetzt. Dabei muss die Haft in vernünftigen Abständen überprüft werden. Leider aber fehlt es an einer genaueren zeitlichen Einschränkung, wann die Haftprüfung erfolgt. Die freiwillige Ausreise soll die Regel darstellen. Nach Prüfung des Einzelfalls soll eine Frist zwischen sieben und 30 Tagen festgesetzt werden. Zwar sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, die Betroffenen über diese Möglichkeit zu informieren, gleichwohl ist die Frist nicht nur kurz bemessen, sondern soll zudem nur auf Antrag eingeräumt werden. Zuletzt sollen Mitgliedstaaten bei Abschiebungsanordnungen ein Wiedereinreiseverbot verhängen, das bis zu fünf Jahre betragen kann. Dies wurde von vielen Seiten als zu lang kritisiert. All dies wird nur vor dem Hintergrund verständlich, dass die bisherigen innerstaatlichen Standards in den Mitgliedstaaten stark auseinandergehen. Während die Inhaftierung in Zypern und Frankreich auf höchstens einen Monat begrenzt ist, ist sie in immerhin acht europäischen Staaten zeitlich unbegrenzt möglich. Während die freiwillige Ausreisefrist in Deutschland bis zu sechs Monate betragen kann, kennen mehrere europäische Staaten gar keine Frist, sondern nur die sofortige Ausreise. Während in mehreren Mitgliedstaaten - je nach Fallkonstellation - eine Wiedereinreise bereits nach einem Jahr wieder möglich sein kann, kann in anderen, hierunter auch Deutschland, dem Gesetz nach theoretisch ein unbegrenztes Wiedereinreiseverbot verhängt werden. Insbesondere das Beispiel der Abschiebehaft führt zur entscheidenden Frage: Soll man einem im Detail kritikwürdigen Kompromiss zustimmen, um wenigstens minimale Garantien zu erreichen, wo in manchen Mitgliedstaaten gar keine bestehen? Dies ist die Frage, die unsere Kolleginnen und Kollegen im Europäischen Parlament derzeit umtreibt. Uns im Deutschen Bundestag sollte der Austausch mit eben diesen Kolleginnen und Kollegen umtreiben, um das Erreichte zu würdigen, aber auch die verbleibenden Kritikpunkte zu erkennen. Und eben diese führen uns zu der Aufgabe, die vor uns liegt: Wo wir mit dem Kompromiss nicht einverstanden sind, müssen wir unsere nationalen Regelungen mit ihm vergleichen und überprüfen, ob wir an günstigeren Regelungen - so etwa im Bereich der Frist für die freiwillige Ausreise - festhalten oder gar neue schaffen möchten. Denn wie immer im Bereich des europäischen Asylrechtes gilt: Es steht den Mitgliedstaaten frei, innerstaatlich günstigere Bestimmungen zu schaffen. Mit dem Zuwanderungsgesetz haben wir zumindest im Bereich der geschlechtsspezifischen Verfolgung ein Beispiel dafür gegeben. In § 60 Abs. 1 Satz 3 Aufenthaltsgesetz haben wir die Regelung getroffen, dass eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe auch dann vorliegen kann, wenn sie allein an das Geschlecht anknüpft. Die Qualifikationsrichtlinie sieht hier in Art. 10 Abs. 1 Buchstabe d Satz 3 zweiter Halbsatz eine deutliche Einschränkung vor. Hiernach können geschlechterbezogene Aspekte berücksichtigt werden, rechtfertigen aber für sich allein genommen noch nicht die Annahme, dass dieser Artikel anwendbar ist. Wegen weiterer Einzelheiten zum vorliegenden Antragstext verweise ich auf die Rede, die ich im Rahmen der ersten Lesung am 29. März 2007 gehalten habe. Ich möchte daher mit folgendem Appell schließen: Lassen Sie uns die europäische Diskussion als einen Prüfauftrag im eben genannten Sinne verstehen. Diesen allerdings müssen wir auf Grundlage der aktuellen Verhandlungsergebnisse umsetzen. Der heute diskutierte Antrag hingegen wendet sich noch an die deutsche Ratspräsidentschaft, die bekanntlich vorbei ist, und greift den aktuellen Verhandlungsstand nicht auf. Aus diesem Grund ist er trotz richtigen Grundanliegens abzulehnen.

Hartfrid Wolff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003866, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Der Umgang mit illegal sich in Deutschland aufhaltenden Menschen betrifft durchaus auch das Selbstverständnis einer freiheitlichen Gesellschaft und die grundsätzlichen Fragen der Durchsetzung unserer rechtsstaatlichen Ordnung. Natürlich gilt auch aus liberaler Sicht, dass mit dem Instrument der Abschiebehaft sehr behutsam umgegangen werden muss. Es gibt eine ganze Reihe von Verbesserungsmöglichkeiten, die umgesetzt werden müssen. Grundsätzlich halten wir die Abschiebehaft für durchaus gerechtfertigt und in manchen Fällen auch für unumgänglich. Die Grünen benennen konkrete Probleme in ihrem Antrag und zeigen einige Lösungsvorschläge auf. Das ist Zu Protokoll gegebene Reden Hartfrid Wolff ({0}) nicht selbstverständlich, wenn man bedenkt, was für Wünsch-dir-was-Kataloge zu dieser Thematik hier von manchen vorgelegt werden. Doch auch die Grünen beleuchten in ihrem Antrag - vielleicht nicht unbeabsichtigt nur Teilaspekte und übersehen den Gesamtzusammenhang. Natürlich sind der Fantasie keine Grenzen gesetzt, um Hindernisse für die Abschiebepraxis zu errichten. So ist die Forderung der Grünen, die Abschiebehaft dürfe keinesfalls die Dauer von sechs Monaten überschreiten, wohlfeil. Schnelle Entscheidungen schaffen Klarheit für alle. Leider haben die Grünen keine Vorschläge gemacht, wie die Abschiebeverfahren beschleunigt werden können. Bereits im Koalitionsvertrag 1998 hatten die Grünen unterschrieben, die Praxis der „Abschiebehaft im Licht der Verhältnismäßigkeit zu prüfen“. Sie hatten doch sieben Jahre Zeit dazu, das zu tun und es besser zu machen. Was ist denn daraus geworden? Wir stimmen den Grünen aber zu, wenn sie in ihrer Antragsbegründung auf die drei essenziellen Aspekte hinweisen, die die EU-Kommission beschlossen hat. Demnach müssen das Primat der freiwilligen Rückkehr gestärkt, verfahrensrechtliche Mindestgarantien gesichert und die Verhältnismäßigkeit gewahrt werden. Allerdings vermittelt auch der vorliegende Grünen-Antrag den Eindruck, schön klingende Forderungen nicht bis in die letzte Konsequenz durchdacht zu haben - oder diese nicht offensichtlichen Konsequenzen letztlich sogar zu wünschen. Wer unbegleitete Minderjährige, Behinderte, Alte und Schwangere insgesamt von Abschiebung vollständig ausnehmen will, sagt letztendlich: Ihr dürft illegal einreisen - ist zwar nicht erlaubt, aber wir machen nichts dagegen! Organisierte kriminelle Schleuser könnten so zu einer „Spezialisierung“ neigen, wenn absolute Regelungen in dieser Form geschaffen werden. Wer auf Abschiebung verzichtet, sagt: Ihr könnt zuwandern. Das ist ein weitgehendes Aushöhlen unserer zuwanderungsrechtlichen Regeln. Ich halte nichts davon, mit humanitär klingenden Forderungen grundsätzlich den Vollzug des deutschen Ausländerrechts zu untergraben. Wir sollten gemeinsam ein rationales Verfahren entwickeln, das festlegt, wie viele Menschen hier derzeit integrierbar sind, welche nach wirtschaftlichem Bedarf, etwa gemäß dem von der FDP vorgeschlagenen Punktesystem, zuwandern dürfen und welche Zuwanderer wir aus humanitären Gründen aufnehmen wollen. Gerade im letzten Punkt müssen wir das Individuum achten. Das ist ehrlicher, als immer wieder neue Anläufe zu nehmen, illegalen Migranten die ohnehin schon nicht recht dichten Türen zur Zuwanderung weiter zu öffnen. Unter den Lösungsangeboten der Grünen für die Sicherstellung humaner Standards bei Rückführungen überwiegt leider die weitgehende Erschwerung oder der generelle Verzicht auf Abschiebungen. Damit ist niemandem gedient, insbesondere den Menschen nicht, die legal und unter Beachtung der Gesetze der Bundesrepublik Deutschland hierher eingewandert sind und sich rechtmäßig im Lande aufhalten. Eine individuelle Bewertung ist notwendig. Institutionalisierte und automatische Nachsicht mit denen, die sich nicht an unsere Rechtsordnung halten, kann das Ansehen aller Zuwanderer beeinträchtigen und die Rechtstreue im Alltag aushöhlen. Auch deswegen bleibt die Abschiebehaft ein letztes, aber legitimes Mittel, den Abschiebevollzug sicherzustellen.

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Die Fraktion der Grünen legt heute einen Antrag zur Abstimmung vor, für den es eigentlich schon zu spät ist. Denn just heute hat das Europäische Parlament den Entwurf der so genannten Abschiebe-Richtlinie angenommen, der leider von den hier geforderten Standards weit entfernt ist. Beispielsweise soll nun EU-weit eine Abschiebehaft von bis zu 18 Monaten möglich sein. Schlimmer noch: Nach der ersten Debatte über diesen Antrag vor über einem Jahr hat die Koalition von Union und SPD noch weitere Verschärfungen bei der Abschiebehaft vorgenommen. Sie wurde erstens ergänzt um die Durchbeförderungshaft für Überstellungen im Rahmen der Dublin-Verfahren. Zweitens wurde für den sogenannten Transitgewahrsam in Flughäfen eine 30-Tage-Frist eingeführt, nach der dieser Gewahrsam überprüft werden muss. Damit wurde diese Form der Inhaftierung überhaupt erst mal reglementiert. Aber der eigentliche Skandal, dass man Menschen am Flughafen festhält, ohne sie einreisen zu lassen, der ist geblieben. Den größten Klopper hat sich die Koalition aber mit der Inhaftierungsbefugnis für die Ausländerbehörden geleistet. Die Ausländerbehörde wird nach über 40 Jahren wieder zur Fremdenpolizei. Sachbearbeiter ohne jede juristische Befähigung können Menschen in Haft nehmen lassen, weil sie glauben, dass diese sich einer Abschiebung entziehen könnten. Erst im Anschluss muss ein Richter darüber entscheiden. Das ist aber auch keine ausreichende Sicherung gegen eine fehlerhafte Einweisung in Abschiebehaft. Mehrere Untersuchungen belegen, dass Urteile von Amtsgerichten zur Verfügung von Abschiebehaft oft fehlerhaft sind. Aber den Betroffenen werden systematisch die Mittel verweigert, sich dagegen juristisch zur Wehr setzen zu können. Mit der nun von der Koalition in die Wege geleiteten Reform der Freiwilligen Gerichtsbarkeit wurde der Rechtsschutz ausgehebelt, indem die Berufungsmöglichkeiten faktisch abgeschafft wurden und den Betroffenen der Weg zum Oberlandesgericht versperrt bleibt. Und es muss auch noch einmal darauf hingewiesen werden, dass mindestens ein Drittel der Abschiebehäftlinge entlassen wird, ohne abgeschoben zu werden. In diesen Fällen ist die Abschiebehaft ganz klar rechtswidrig und mit rechtsstaatlichen Prinzipien nicht vereinbar. In einem Rechtsstaat gilt die Zweckbindung von Gesetzen. Die Abschiebehaft gilt der Durchsetzung der Abschiebung. Offensichtlich werden aber Menschen in Abschiebehaft genommen, obwohl man gar nicht weiß, ob es überhaupt zu einer erfolgreichen Abschiebung kommt. Das ist ganz klar ein willkürliches Verhalten der Behörden! Abschiebehaft wird mehr und mehr als Druckmittel der Ausländerbehörden eingesetzt. Mit der Länge der Abschiebehaft steigt der Anreiz für die Behördenmitarbeiter, Zu Protokoll gegebene Reden diese als Druckmittel einzusetzen. Und zwar gerade gegen Menschen ohne Passpapiere, die damit zur Kooperation bei der Passbeschaffung gezwungen werden sollen. Ich will am Schluss noch auf zwei ganz dunkle Kapitel der deutschen Abschiebehaft zu sprechen kommen. Man kann nicht oft genug daran erinnern, dass zwischen 1993 und 2006 50 Menschen in deutschen Abschiebegefängnissen infolge von Hungerstreik oder Selbstmordversuchen ums Leben gekommen sind. 399 Abschiebehäftlinge haben sich in dieser Zeit beim Versuch, sich umzubringen, ernsthaft verletzt. Das zeigt, in welche Verzweifelung die deutsche Abschiebepolitik die Betroffenen treibt. Der zweite Punkt, den ich am Schluss meiner Rede ansprechen möchte, betrifft minderjährige Flüchtlinge. Aufgrund des deutschen Asylverfahrensrechts können 16- und 17-jährige Minderjährige in Abschiebehaft genommen werden, ohne eine entsprechende jugendgerechte Betreuung. Nach den zuletzt vorliegenden Zahlen des Bundesinnenministeriums aus 2004 befanden sich über 300 Minderjährige in Abschiebehaft, im Schnitt über einen Monat. Auch wenn wir die Kritik der Grünen an der Abschiebehaft teilen, bleibt es dabei: Wir werden uns bei der Abstimmung enthalten. Denn der Antrag der Grünen akzeptiert grundsätzlich die Abschiebehaft als probates Mittel. Wir sagen aber: Die Betroffenen haben keine Straftat begangen. Gegen sie wird, aus mehr oder weniger plausiblen Gründen, der Verdacht erhoben, sich in Zukunft einer Verwaltungsmaßnahme - der Abschiebung - entziehen zu wollen. Uns wollen keine überzeugenden Argumente einfallen, warum ein Mensch deshalb gleich wie ein Straftäter behandelt werden soll. Wir fordern weiterhin die Abschaffung der Abschiebehaft in Deutschland.

Josef Philip Winkler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003660, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die EU-Innenminister haben sich heute auf gemeinsame Regeln für die Abschiebung von Flüchtlingen verständigt. Die Abschieberegeln sehen unter anderem vor, dass Menschen ohne gültige Papiere vor einer Abschiebung in ihre Herkunftsländer bis zu 18 Monate in Haft genommen werden können. Diese Möglichkeit gilt ausdrücklich auch für Minderjährige. Weiterhin wurde eine Einreisesperre von fünf Jahren für alle Mitgliedsstaaten der EU nach einer Abschiebung beschlossen. Dieser Beschluss der EU-Innenminister ist vollkommen unverhältnismäßig. Es ist offensichtlich, dass die Innenminister die existierenden und mangelhaften Asylverfahrens- und Abschiebehaftregeln einiger Mitgliedstaaten nicht antasten wollten und sich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner geeinigt haben und dieser kleinste gemeinsame Nenner heißt „Haft statt Asyl“. Damit wird ein fatal schlechter Standard für den Menschenrechtsschutz in Europa gesetzt. Dass ausgerechnet der deutsche Parlamentarische Staatssekretär im BMI, Peter Altmaier, die Beschlüsse auch noch dahin gehend begrüßt, dass „die Abschiebung von denen, die wir loswerden wollen, in Zukunft erleichtert“ wird, ist skandalös. Es ist festzuhalten: Es ist kein Verbrechen, einen Asylantrag zu stellen. Der generelle Vorwurf der illegalen Einreise ist für von Verfolgung bedrohte Flüchtlinge eine bodenlose Unterstellung. Auch das Wiedereinreiseverbot von fünf Jahren - selbst bei Verfolgungsgefahr - ist ein Verstoß gegen das internationale Flüchtlingsrecht, das nämlich vielmehr vorsieht, diesen schutzsuchenden Menschen zu helfen. Eine besondere Schweinerei ist die Möglichkeit, auch ausreisepflichtige Minderjährige in Haft nehmen zu können. Das ist eindeutig ein Verstoß gegen die UN-Kinderrechtskonvention. Der ursprüngliche Richtlinienentwurf der EU-Kommission griff Forderungen von Nichtregierungsorganisationen auf und setzte begrüßenswerte Mindeststandards zum Beispiel für eine freiwillige Ausreisefrist, für das Verfahren, für die Anwendung von Abschiebehaft; hier waren im Entwurf maximal sechs Monate vorgesehen. Die Verhandlungen in den Ratsarbeitsgruppen haben jedoch dazu geführt, dass der Entwurf der Richtlinie extrem verschärft wurde. Maßgeblichen Anteil daran hatte die skandalöse deutsche Verhandlungsführung. Staatssekretär Altmaier sagt jetzt sogar voller Stolz, man habe „sehr viel von der deutschen Philosophie in den Richtlinientext hineingebracht“. Dies bedeutet nichts anderes, als dass die Verhängung von Abschiebungshaft nun in allen EU-Mitgliedsstaaten bis zu 18 Monate lang möglich ist - und das für Personen, die kein Verbrechen begangen haben, sondern einzig und allein einen Asylantrag gestellt haben. Im vorliegenden Antrag hatten wir die Bundesregierung aufgefordert, im Rahmen der deutschen EU-Präsidentschaft, aber auch darüber hinaus darauf hinzuwirken, dass bei einer europäischen Regelung von Rückführungen humanitäre Standards gewahrt und ausgebaut werden. Diesem Anspruch ist die Bundesregierung definitiv nicht gerecht geworden. Ich kann nur hoffen, dass die Abgeordneten des Europäischen Parlaments, denen die Rückführungsrichtlinie am 18. Juni 2008 zur Abstimmung vorliegt, sich mehrheitlich gegen den Entwurf entscheiden, weil er definitiv menschen- und flüchtlingsrechtlichen Mindeststandards nicht genügt. Meine Fraktion setzt sich seit langem dafür ein, die Anordnungsdauer von Abschiebehaft auf ein Mindestmaß zu begrenzen. Wir vertreten die Position, dass Abschiebehaft lediglich der Sicherung einer Abschiebung dienen darf. Das heißt, nur dann, wenn sich jemand der Abschiebung erkennbar entziehen will, darf Abschiebehaft verhängt werden. Wenn das in dieser Art und Weise durchgeführt würde, könnte, nebenbei bemerkt, eine große Anzahl der in Deutschland befindlichen Abschiebehaftanstalten geschlossen werden. Des Weiteren setzen wir uns seit langem dafür ein, dass Minderjährige nicht inhaftiert werden dürfen; denn die schwerwiegenden psychischen Folgen, die Haft besonders auf Kinder und Jugendliche haben kann, sind offensichtlich und bedürfen, glaube ich, keiner weiteren Erläuterung. Bei Rückführungen von Flüchtlingen muss aus grüner Sicht die Einhaltung menschenrechtlicher Normen wirksam gewährleistet sein. Das gilt insbesondere für den Vollzug der Abschiebehaft und für die Anwendung unmittelbaren Zwangs bei Abschiebungen. Zu Protokoll gegebene Reden Die Bundesregierung hätte bei den Verhandlungen um eine Rückführungsrichtlinie der EU viel stärker auf die Gewährleistung folgender Grundsätze hinzuwirken müssen: Schutzbedürftige dürfen nicht abgeschoben werden. Familien dürfen durch Rückführungsmaßnahmen nicht getrennt werden. Der Zugang zu wirksamen Rechtsmitteln muss gewährleistet sein. Abschiebehaft muss vermieden und begrenzt werden. Humanitäre Standards bei Flugabschiebungen müssen verbessert werden. Unabhängige Überprüfung - sogenanntes Monitoring - muss gewährleistet sein. Im Interesse des Flüchtlingsrechts und der Menschenrechte bitte ich Sie um Zustimmung zu unserem Antrag.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Wir kommen zur Abstimmung. Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/7347, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/4851 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen von Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der Fraktionen Die Linke und FDP angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({0}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Weißbuch Gemeinsam für die Gesundheit: Ein strategischer Ansatz der EU für 2008 - 2013 ({1}) KOM ({2}) 630 endg.; Ratsdok. 14689/07 - Drucksachen 16/7575 Nr. 1.5, 16/9412 Berichterstattung: Abgeordnete Jens Ackermann Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Michael Hennrich, CDU/CSU, Dr. Wolfgang Wodarg, SPD, Jens Ackermann, FDP, Dr. Ilja Seifert, Die Linke, Dr. Harald Terpe, Bündnis 90/Die Grünen, und der Parlamentarischen Staatssekretärin Marion Caspers-Merk.

Michael Hennrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003551, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Mit der Beschlussempfehlung und dem Bericht des Ausschusses für Gesundheit zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung zum „Weißbuch Gemeinsam für die Gesundheit: Ein strategischer Ansatz der EU für 2008 bis 2013“ möchten wir ein Zeichen setzen; ein Zeichen, dass der Bundestag Anteil an der Diskussion auf der europäischen Ebene nimmt und die Europäische Kommission in Ihrem Bemühen der klaren Kompetenzaufteilung unterstützen möchte. Dabei ist gleich zu Beginn anzumerken, dass die Gesundheitsstrategie als ein kohärenter Politikansatz der europäischen Gemeinschaftspolitiken ausdrücklich zu begrüßen ist und das die effektive Umsetzung der Strategie unterstützt werden soll. Grundlage ist hier aber im EU-Vertrag vor allem Art. 152. Er stellt klar, dass die Tätigkeit der Gemeinschaft auf dem Gebiet der Gesundheitspolitik die Politik der Mitgliedstaaten ergänzt, die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten fördert und deren Tätigkeit unterstützt. Außerdem wird dort festgestellt, dass die Verantwortung der Mitgliedstaaten für die Organisation des Gesundheitswesens und die medizinische Versorgung in vollem Umfang gewahrt wird. Der Entschließungsantrag entstand aus der Einschätzung von Abgeordneten des Deutschen Bundestages, dass die Kommission mit Ihrem Ansinnen im Weißbuch Gesundheit stellenweise zu weit gehen und dabei die vorgegebene Kompetenzverteilung, also letztlich das Subsidiaritätsprinzip verletzen könnte. Darauf möchten wir hiermit aufmerksam machen. Die Regelungen im EU-Vertrag gilt es daher zu schützen, wie Erfahrungen mit der Dienstleistungsrichtlinie und der Offenen Methode der Koordinierung deutlich gezeigt haben. Die Bundesregierung wird mit der vorliegenden Entschließung aufgefordert, bei der Erarbeitung der Schlussfolgerungen zur Umsetzung die vom Deutschen Bundestag eingenommene Position zu beachten. Besondere Bedeutung kommt der autonomen Zuständigkeit der Mitgliedstaaten auf nationaler, regionaler und kommunaler Ebene für den Gesundheitsbereich zu und damit auch der Beachtung, dass es zu keiner Aushöhlung dieser Kompetenzen kommt. Diese Kompetenzwahrung steht nicht im Gegensatz zu einer europäischen Zusammenarbeit, im Gegenteil: Bereits seit langem arbeiten wir mit den anderen Mitgliedstaaten der EU zusammen und lernen voneinander. Dies geschieht jedoch nicht aufoktroyiert, sondern freiwillig im Rahmen des Best-Practice-Ansatzes. Für weiter gehende Initiativen stellt sich immer die Frage nach dem Mehrwert gemeinschaftlichen Handelns. Aus Sicht des Deutschen Bundestages sollte ein Handeln auf europäischer Ebene im Gesundheitsbereich nur an denjenigen Stellen geschehen, wo ebendieser Mehrwert identifiziert wird - und dann nicht durch Vergemeinschaftung des entsprechenden Bereichs, sondern - wie auch im EU-Vertrag vorgesehen - durch Einzelermächtigungen in Bezug auf das konkrete Anliegen. Einzelermächtigungen haben sich beispielsweise im Arzneimittelsektor als sinnvoll erwiesen. So wird seitdem über die Arzneimittelzulassung auf europäischer Ebene entschieden, was den Verbrauchern unter anderem günstigere Preise und den Unternehmen einen größeren Absatzmarkt beschert. Aber auch hier zeigt sich, dass dies allenfalls eine ergänzende Initiative sein sollte, denn die Diskussion um die europäische Arzneimittelzulassung sollte nicht zum Nachteil kleiner und mittlerer Hersteller vonstatten gehen. Deshalb sollte es mit Einschränkungen auch bei nationalen Zulassungsmöglichkeiten bleiben. Daher ist der geforderte Mehrwert aus deutscher Sicht sozusagen das Herzstück der europäischen Gesundheitsstrategie und damit zentraler Bestandteil der Feststellungen des Deutschen Bundestages. Ein gemeinsames Handeln im Gesundheitsbereich ist nur dann notwendig, wenn dies einMichael Hennrich zelstaatlich nicht erreicht werden kann. Die von der Bundesregierung signalisierte Bereitschaft, dieses Anliegen in die Ratsberatungen einzubringen, begrüße ich daher sehr. Der Deutsche Bundestag erkennt an, dass es neue gesundheitliche Herausforderungen gibt, wie auch die Kommission sie in ihrem Weißbuch beschreibt. Hierzu gehören die demografische Entwicklung samt ihren Folgen, Gesundheitsgefahren wie Pandemien, übertragbare Krankheiten, Bioterrorismus und Auswirkungen des Klimawandels sowie die rasche Entwicklung neuer Technologien. Hier müssen neue Wege beschritten und Lösungen gesucht werden. Ich möchte daher an dieser Stelle der Kommission danken, dass sie darauf aufmerksam macht und Lösungsvorschläge unterbreitet. Wir unterstützen die Europäische Union bei ihrem Tätigwerden auf diesen Gebieten. Insofern ist das Weißbuch eine gute Grundlage, da aktuelle Herausforderungen darin benannt werden. Es ist das Ergebnis umfangreicher Konsultationen der Kommission aus den Jahren 2004 bis 2007. Das Weißbuch stellt einen strategischen Ansatz vor, der für die Jahre 2008 bis 2013 gelten und danach überarbeitet werden soll. Zum ersten Mal wird hierfür eine einheitliche Strategie festgelegt. Darin sind vier zentrale Prinzipien und drei strategische Themenschwerpunkte vorgesehen. Es ist wichtig, uns die zentralen Prinzipien in Erinnerung zu rufen, gemeinsame Werte als Grundlage der Strategie; Gesundheit als Grundvoraussetzung für Wachstum und Wohlstand; Gesundheit in allen Politikbereichen; mehr Mitsprache der EU in der globalen Gesundheitspolitik. Konkrete Maßnahmen gibt es dazu viele. Nennen möchte ich hier beispielhaft die Annahme einer Erklärung über grundlegende Gesundheitswerte, eine stärkere Einbeziehung von Gesundheitsaspekten in alle Politikbereiche der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten, die Stärkung des Gemeinschaftsstatuts in internationalen Organisationen und der Zusammenarbeit in Gesundheitsfragen mit strategischen Partnern und Ländern sowie einen Gemeinschaftsrahmen für sichere, hochwertige und effiziente Gesundheitsdienstleistungen. Die Kommission plant mit dem Weißbuch des Weiteren auch die Schaffung eines Mechanismus der strukturierten Zusammenarbeit zur Einbindung der Mitgliedstaaten und anderer Stakeholder. Damit soll die Gesundheit verstärkt in alle Politikbereiche einbezogen werden. Dies würde der Kommission grundlegend erlauben, bestehende Mechanismen zu ersetzen, Prioritäten zu setzen, Indikatoren festzulegen, Leitlinien und Empfehlungen auszusprechen und Fortschritte zu evaluieren. Diesen Mechanismus beurteilt der Deutsche Bundestag kritisch. Es wird darin eine zunehmende Vergemeinschaftung des Gesundheitsbereichs, ein weiteres Ausufern der Organisation und Bürokratie sowie ein Übergehen der Bedürfnisse der Mitgliedstaaten befürchtet. Wir haben bereits mit der Offenen Methode der Koordinierung die Erfahrung gemacht, dass ein derartiger neuer Mechanismus dazu führen kann, dass Kompetenzen auf der EU-Ebene konzentriert werden und er sich der parlamentarischen Kontrolle entzieht. Am besten sichtbar ist dies im Bereich des Sozialschutzes. Die Regelungen sind dort mittlerweile sehr weitgehend und greifen in mitgliedstaatliche Kompetenzbereiche ein ohne dass dies vertraglich so vorgesehen war. In der vorliegenden Beschlussempfehlung finden sich zehn Feststellungen und vier Forderungen. Im Folgenden werde ich daher zunächst auf einige der Feststellungen eingehen. Die zentrale Feststellung zielt darauf ab, die im Weißbuch angesprochene originäre Zuständigkeit der Mitgliedstaaten durch deren nationale, regionale und kommunale Ebene zu schützen. Die von der Kommission angesprochene Verlagerung der Kompetenzen auf die EU-Ebene hinterfragt der Bundestag - wie bereits angesprochen - gerade auch im Zusammenhang mit dem geplanten Mechanismus der strukturierten Zusammenarbeit kritisch. Es ist ja nicht so, dass wir nicht bereits zusammenarbeiten würden; denn im nichtharmonisierten Bereich gibt es bereits eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten, ihre Politiken zu koordinieren. Ein Tätigwerden der Union setzt hier daher eine Ermächtigung voraus. Dies ist beispielsweise in der Zusammenarbeit bei Fragen der Aidsstrategie oder beim Themenfeld Ernährung und Bewegung geschehen und wurde dort auch positiv vermerkt. Der Bundestag begrüßt daher das bewährte und grundlegende Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung. Wir haben bereits genügend Instrumente, um sinnvoll zusammenarbeiten zu können. Wir brauchen daher die strukturierte Zusammenarbeit im Gesundheitsbereich nicht. Denn auch hier stellt sich die bereits eingangs skizzierte Frage nach dem Mehrwert, der klar identifizierbar sein sollte und keine neuen Gremien schafft. Ich kann diesen Mehrwert hier nicht erkennen und spreche mich daher klar gegen diesen neuen Mechanismus aus. Ein weiterer wichtiger Aspekt bezieht sich auf die Bürokratie. Der Deutsche Bundestag lehnt die zunehmenden Berichtspflichten ab und fordert eine Verschlankung bestehender Strukturen, eine Verschlankung, die die bestehenden Gremien bündelt und damit die Entscheidungsund Konsultationsprozesse transparenter und sichtbarer gestaltet und Doppelarbeit vermeidet. Eine - wie von der Kommission vorgesehen - kohärente Gesundheitsstrategie bietet eine einzigartige Möglichkeit, um bisherige Strukturen zu überdenken sowie über Zusammenlegungen und effektivere Nutzungen neu zu ordnen, also um unnötige Bürokratie abzubauen. Hier lohnt es sich, mutig voranzugehen. Schließlich könnte man sich nun fragen, warum wir nicht weiter gehen beziehungsweise warum wir gegen weiter gehende Kompetenzen sind. Hier sind ganz klar die Komplexität und unterschiedlichen historischen Wurzeln sowie die daraus folgenden Unterschiede der Gesundheitssysteme in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union zu nennen. Sie unterscheiden sich vor allem in ihren jeweiligen Finanzierungssystemen, dem Kreis der Versicherten beziehungsweise der Leistungsberechtigten, dem Umfang des Leistungsrahmens sowie den sozial- und gesundheitsökonomisch relevanten Kennzahlen. Zu Protokoll gegebene Reden In Europa lassen sich im Wesentlichen zwei Modelle von Gesundheitssystemen unterscheiden: Das BeveridgeModell, das sich in der Finanzierung primär auf Steuern stützt, ist in den nordeuropäischen Ländern sowie in Irland und dem Vereinigten Königreich anzutreffen. Auch südeuropäische Länder wie Spanien, Portugal und Griechenland sind seit den 80er-Jahren eher dieser Gruppe zuzurechnen. Das Bismarck-Modell mit der gesetzlichen Krankenversicherung ({0}) ist hingegen in fast allen mitteleuropäischen und seit etwa zehn Jahren auch in nahezu allen osteuropäischen Ländern verbreitet. Diese Modelle lassen sich noch ausdifferenzieren hinsichtlich der genauen Finanzierung. Zu betrachten ist auch die Möglichkeit in den einzelnen Ländern, sich noch zusätzlich zu versichern als Substitut, Ergänzung oder Zusatz. Dies enthält aus meiner Sicht zwei wichtige Feststellungen: Zum einen sind diese Systemunterschiede mit quantifizierbaren Zielen, wie sie im Weißbuch gefordert werden, nicht vereinbar. Gerade auch angesichts der originär nationalstaatlichen Zuständigkeit ist eine Quantifizierung kritisch zu beurteilen und deshalb nicht möglich als verpflichtende Form der Zusammenarbeit. Zum anderen hat die Unterschiedlichkeit der Systeme auch Auswirkungen auf die Bildung von Indikatoren auf europäischer Ebene. So ist die Datenlage oft unbefriedigend, und damit ist die weitere Verarbeitung und letztlich die Vergleichbarkeit der Daten nicht gewährleistet. Hier ist es bedeutsam, eine bessere Lösung zur Erhebung der Daten und deren Weiterverwendung zur Definition, Erstellung und seriösen Interpretation von Indikatoren zu finden. In Gebieten, in denen ein Mehrwert in der Zusammenarbeit auf europäischer Ebene erkannt wurde, sollten die Mitgliedstaaten dann auch freiwillig vermehrt in den Prozess der Indikatorenerhebung und -verarbeitung einbezogen werden. Fundierte Daten tragen zu einer besseren Vergleichbarkeit und zu einer größeren Transparenz bei. Dies gilt es aus Sicht des Deutschen Bundestages zu fördern. All diese Feststellungen münden schließlich in besagte vier Forderungen an die Bundesregierung ein, welche auch zuvor immer wieder angesprochen wurden. Diese besagen in gekürzter Form letztlich Folgendes: Autonomie im Gesundheitsbereich ohne weitere Aushöhlung der Kompetenzen; Ablehnung der strukturierten Zusammenarbeit, wenn diese die Schaffung neuer Institutionen beinhaltet; effektivere Nutzung bestehender Strukturen und Konzentration auf Bereiche, in denen ein europäischer Mehrwert identifiziert wurde und wo sich grenzüberschreitende Herausforderungen stellen, Ablehnung der Festlegung quantifizierter Ziele und damit der politischen Bindung der Mitgliedstaaten in einem ihrer originären Kompetenzbereiche. Mit diesen Forderungen soll möglichen Fehlentwicklungen auf europäischer Ebene entgegengewirkt und damit ein konstruktiver Beitrag zur zentralen Stellung der ({1}) Gesundheitspolitik gelegt werden. Aus Sicht der CDU/CSU-Fraktion ist die Wahrung der Souveränität ein Kernanliegen. Zusammenfassend ist noch einmal zu sagen, dass eine Offenheit für eine Zusammenarbeit im Gesundheitsbereich auf europäischer Ebene zwar nicht kategorisch ausgeschlossen wird. Diese wird jedoch nur dann begrüßt, wenn dabei ein Mehrwert identifiziert werden kann, also beispielsweise in Fällen, in denen es sich um grenzüberschreitende Herausforderungen handelt. Die Schaffung einer strukturierten Methode der Zusammenarbeit sehen wir - wie bereits zuvor angeführt - aufgrund der Erfahrung aus der Einführung der Offenen Methode der Koordinierung, beispielsweise im Bereich Sozialschutz, sehr kritisch und hinterfragen die Notwendigkeit. Schließlich wird die Einführung quantifizierter Ziele hinterfragt und stattdessen die bewährte Methode des gegenseitigen Lernens durch Erfahrungsaustausch befürwortet. Die Rolle der Europäischen Union im Gesundheitsbereich ist daher aus meiner Sicht hauptsächlich die eines Moderators und Motivators. Es sollte für sie darum gehen, den Austausch über die jeweiligen Erfahrungen der Mitgliedstaaten im Gesundheitsbereich voranzutreiben und im Rahmen des freiwilligen Best-Practice-Ansatzes Verbesserungen zu erreichen. Dies entspricht einer Hilfe zur Selbsthilfe. Die EU würde damit die Mitgliedstaaten in die Lage versetzen, ihre selbst gesetzten gesundheitspolitischen Ziele zu realisieren. In den konkreten Bereichen, in denen im Rahmen dieses Austauschs ein Mehrwert im gemeinsamen europäischen Vorgehen erkannt wurde, kann die Europäische Union auch ermächtigt werden, selbst als Akteur in Erscheinung zu treten und ein gemeinsames Vorgehen zu erarbeiten. Die Rezeption der Beschlussempfehlung ist eindeutig. Sie wurde von allen Fraktionen unterstützt und mit nur einer Enthaltung angenommen. Anders ausgedrückt könnte man auch sagen, dass sie von keiner der Fraktionen abgelehnt wurde. Dies ist ein deutliches Zeichen. Daher möchte ich zum Schluss nochmals besonders die Unterstützung durch die Bundesregierung hervorheben. Ich begrüße es persönlich sehr, dass die Bundesregierung dieses Zeichen ernst nimmt und die Position des Deutschen Bundestages in der Sitzung des Rates für Beschäftigung, Sozialpolitik, Gesundheit und Verbraucherschutz am 9. und 10. Juni 2008 in Luxemburg einbringen wird. Für die Verhandlungen wünsche ich der Bundesregierung viel Erfolg. Ich hoffe, dass das Zeichen dieser Entschließung auf europäischer Ebene wohlwollend aufgenommen wird und dass die Entschließung einen Beitrag zur Wahrung der autonomen Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten, einer klaren Kompetenzverteilung und der nachhaltigen Suche nach einem europäischen Mehrwert leistet.

Dr. Wolfgang Wodarg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002828, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Mit der kritischen Bewertung der von der Kommission vorgeschlagenen sogenannten strukturierten Zusammenarbeit haben wir klargemacht, dass Gesundheit in Deutschland - wie in den meisten anderen europäischen Ländern - ein wichtiger Bereich staatlicher Daseinsvorsorge ist und bleiben soll. Die Europäische Union kümmert sich zunehmend auch um den europäischen Binnenmarkt „Gesundheit“, und es ist nicht zu leugnen, dass sich in Europa längst ein großer Wirtschaftsbereich entwickelt hat, der uns grenzüberschreitend mit Arzneimitteln, Medizintechnik, Hilfsmitteln und zunehmend auch mit Dienstleistungen versorgt. Auch staatliche GesundZu Protokoll gegebene Reden heitssysteme, wie die skandinavischen, das spanische oder das britische, kaufen Leistungen auf diesem überstaatlichen Markt; doch sie organisieren ihr System autonom und, den Prinzipien der Subsidiarität folgend, auf nationaler Ebene. Diese Länder sind stolz, wenn sie ihre Bevölkerung auf hohem Niveau gesund halten und alt werden lassen können und dafür möglichst wenig der so kostbaren öffentlichen Ressourcen einsetzen müssen. Wir in Deutschland sind bisher nicht so klar davor: Wer demnächst die Berliner Gesundheitstage besucht, wird dort von den Epigonen des boomenden Gesundheitsmarktes belagert werden, die vom „Wachstumsmotor Gesundheitswesen“ sprechen und hierbei von volkswirtschaftlicher Effizienz so wenig hören mögen wie die Zigarettenindustrie vom Nichtraucherschutz. Effiziente Gesundheitspflege ist jedoch nicht nur ethisch gebotene Daseinsvorsorge, sie ist auch die Voraussetzung für einen nachhaltigen staatlichen Ressourceneinsatz im Wettlauf der Nationen um globalen Einfluss und wirtschaftliche Macht. Ein Staat, der wie zum Beispiel Finnland seine Menschen mit wenig Aufwand auf hohem Niveau gesund hält, kann die gesparten Mittel in die Bildung stecken und damit erheblich effizienter sein als sein Konkurrent Deutschland, der schon einen weit größeren Anteil seiner Wirtschaftskraft im Gesundheitswesen verpulvert. Der Markt kann einer effizienten Daseinsvorsorge dienlich sein. Die Daseinsvorsorge selbst aber nach den Regeln des Marktes zu bewerten oder gar zu ordnen, das würde die Staaten Europas schwächen und vor allem der Gesundheit seiner Einwohner abträglich sein - freut sich doch der Markt über jeden Patienten. Wir sind in unserem Antrag einen Kompromiss mit dem Koalitionspartner eingegangen, der die nationale Zuständigkeit für Gesundheit betont und einfordert, der aber auch gewährleisten soll, dass in Zukunft auf europäischer Ebene die Gesundheitssysteme sinnvoll miteinander verglichen und evaluiert werden können. Wir wollen, dass die Nationalstaaten gerade im gesundheitspolitischen Bereich, das Subsidiaritätsprinzip verteidigen und dass das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung gewahrt bleibt. Neue koordinierende Strukturen dürfen nicht dazu führen, dass eine schrittweise Aushöhlung der mitgliedstaatlichen Kompetenzen bei gleichzeitig minimaler Kontrolle durch das Parlament erfolgt. Dennoch halte ich den Vorschlag der Kommission in einem wichtigen Punkt für positiv, und dieser hätte meines Erachtens in dem Entschließungsantrag noch deutlicher zum Ausdruck kommen können: Die Kommission will innerhalb der Europäischen Union Voraussetzungen dafür schaffen, dass die europäischen Gesundheitssysteme miteinander verglichen werden können. Unser Ziel muss doch sein, langfristig einen möglichst gleichmäßig hohen qualitativen und quantitativen Versorgungsstand in der Europäischen Union zu erreichen. So hat zum Beispiel die PISA-Studie einen positiven Effekt auf die teilnehmenden Länder, da diese gezwungen werden, sich dezidiert mit den Schwächen des eigenen Bildungssystems auseinanderzusetzten. Für Deutschland, so verheerend die ersten Ergebnisse auch waren, hat diese eine breite bildungspolitische Debatte ausgelöst und zu vielen guten neuen Ansätzen und Qualitätsverbesserungen des Bildungsangebotes geführt. Es ist wichtig, dass wir den Wettbewerb um die effizientesten Gesundheitsysteme in Europa ermöglichen und hier eine verbesserte Transparenz nicht scheuen. Schlechte Erfahrungen bei der Methode der offenen Koordinierung im sozialen Bereich sollten uns nicht entmutigen. Daher erachte ich eine demokratische Formulierung gesundheitspolitischer Endpunkte und die dazugehörige Indikatorenbildung als einen wichtigen Mehrwert europäischer Kooperation im Gesundheitsbereich. Es ist mir eine Freude, festzustellen, dass die im Antrag genannten Ziele auch von einer großen Mehrheit der Gesundheitspolitikerinnen und -politiker getragen werden.

Jens Ackermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003728, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Die Europäische Kommission hat im Oktober 2007 das Weißbuch „Gemeinsam für die Gesundheit: Ein strategischer Ansatz der EU für 2008 bis 2013“ vorgelegt, mit dem der Gesundheit in politischen Strategien mehr Gewicht gegeben werden soll. Nach der Unterzeichnung des Lissabon-Vertrages erwartet die Kommission neue Prioritäten auf Gemeinschaftsebene sowie eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten im Gesundheitsbereich. Zentrale Herausforderungen sind demnach die Überalterung der Gesellschaft, neue Gesundheitsgefahren wie Pandemien und die Entwicklung und Anwendung neuer Technologien der Gesundheitsversorgung. Das Weißbuch ist in diesem Zusammenhang als ein erster Ansatz einer kohärenten europäischen Politik zu deuten, deren Ziel die Verankerung von Gesundheitsfrage als Querschnittsaufgabe ist. Dafür hat die Kommission vier Prinzipien entwickelt, von denen sie sich bei der Formulierung von EG-Maßnahmen im Gesundheitswesen leiten lassen will. Obgleich die Kommission unterstreicht, dass die hauptsächliche Zuständigkeit bei den Mitgliedstaaten liegt, hebt sie insbesondere im Zusammenhang mit der Unterzeichnung des Lissabon-Vertrages eine stärkere eigene Kompetenz hervor. Hierzu hat sie drei Ziele mit insgesamt zehn Maßnahmen vorgeschlagen, die von neuen Leitlinien für Krebsvorsorgeuntersuchungen über die Berücksichtigung von Gesundheitsaspekten der Anpassung an den Klimawandel bis hin zu einem Gemeinschaftsrahmen für Gesundheitsdienstleistungen gehen. Als Durchführungsmechanismus sieht das Papier das Verfahren der strukturierten Zusammenarbeit vor. Abgesehen von der Tatsache, dass die Kommission hier auf Grundlage eines Vertrages argumentiert, der noch nicht endgültig ratifiziert ist und der in Irland kommende Woche noch die Hürde des Referendums nehmen muss, begrüßt die FDP das Vorhaben, der Gesundheitspolitik mit einem kohärenten Weißbuch einen größeren Stellenwert zukommen zu lassen. Allerdings müssen wir sehr genau hinsehen, wie die Kommission sich die Umsetzung der Ziele und Maßnahmen vorstellt. Hier haben wir einige Bedenken, insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Gesundheitspolitik in erster Linie Aufgabe der Mitgliedstaaten ist. Ich bin skepZu Protokoll gegebene Reden tisch, ob das Weißbuch dieser Tatsache ausreichend Rechnung trägt. Unzweifelhaft ist, dass überall dort, wo eine europäische Zusammenarbeit zu wesentlich besseren Ergebnissen führt, als wenn die einzelnen Länder diese Themen isoliert angehen, eine sinnvolle Koordination gefördert werden muss. Für jedermann einleuchtend ist das zum Beispiel bei der Abwehr beziehungsweise Bewältigung von Pandemien. Für die FDP ist aber das Subsidiaritätsprinzip nach wie vor ganz entscheidend, um gute Politikergebnisse erzielen zu können. Das bedeutet, dass die jeweils höhere Ebene nur dann tätig werden soll, wenn die unteren Ebenen nicht in der Lage sind, die anstehenden Aufgaben zufriedenstellend zu lösen. Dies gilt auch und noch verstärkt nach der Ratifikation des Lissabon-Vertrages: Die Gesundheitspolitik ist und bleibt ein nationales Politikfeld. Das muss auch die Kommission wissen. Die von ihr vorgesehenen Zuständigkeiten bei der Umsetzung der Zielvorgaben sprechen aber eine andere Sprache: Allein acht der zehn Maßnahmen sollen ausschließlich in den Kompetenzbereich der Kommission fallen, darunter Leitlinien für die Krebsvorsorgeuntersuchung und ein Gemeinschaftsrahmen für Gesundheitsdienstleistungen. Mitgliedstaaten und Europäisches Parlament werden im Weißbuch nicht ausreichend berücksichtigt. Ich habe aber den Eindruck, dass hier schleichend ein nationales Politikfeld erneut auf die europäische Ebene gehoben werden soll. Insofern begrüßt die FDP auch den Entschließungsantrag, der noch einmal verdeutlicht, dass es nicht zu einer ungewollten Aufweichung nationaler Kompetenzen kommen darf. Darüber hinaus unterstützen wir die ablehnende Haltung im Hinblick auf den strukturierten Dialog, da dies mit der Bildung neuer europäischer Strukturen einhergeht. Mit dieser Art der sanften Europäisierung haben wir im Zusammenhang mit der Offenen Methode der Koordinierung bereits Erfahrungen machen dürfen. Soweit es nur um eine Fokussierung der europäischen Koordinierung auf grenzüberschreitende Bereiche kommt, können wir das begrüßen. Mit umfangreichen Berichtspflichten und quantifizierbaren Indikatoren sollte aber äußerst vorsichtig umgegangen werden. Letztlich muss eine europäische Gesundheitspolitik auf Bereiche begrenzt bleiben, die einen Mehrwert gegenüber nationalen Regelungen haben und keine neuen Strukturen oder Europäisierungsprozesse nach sich ziehen. Aufgrund der dargelegten Bedenken unterstützen wir den Entschließungsantrag.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Die Gesundheitspolitik ist, allen Versuchen, dies zu ändern zum Trotz, noch immer in nationaler Verantwortung. Die EU kann dazu flankierend tätig werden, aber nicht die Souveränität der Einzelstaaten unterlaufen. Dieses Prinzip wird mit unserem gemeinsamen Entschließungsantrag gestärkt. Die Regierungskoalition, die FDP und Die Linke unterstreichen gemeinsam, dass das Subsidiaritätsprinzip der EU im sozialen Bereich, der nach Art. 152 des EG-Vertrages in der Verantwortung der einzelnen Mitgliedstaaten verbleibt, nicht unterlaufen werden darf. Insofern stellen wir die „strukturierte Zusammenarbeit“ des Weißbuch-Entwurfs infrage. Denn mit dieser strukturierten Zusammenarbeit würde es der Kommission gestattet werden, bestehende Mechanismen zu ersetzen, Prioritäten zu setzen, Indikatoren festzulegen, Leitlinien und Empfehlungen auszusprechen und Fortschritte zu evaluieren. Einen solchen Eingriff in die Souveränität der Mitgliedstaaten lehnen die Fraktion Die Linke und der Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundestages ab. Die Festlegung von Indikatoren klingt zunächst einmal ungefährlich, aber mit ihnen könnten dann die bisher nicht näher erläuterten „quantifizierbaren Ziele“ definiert werden. Ohne Beteiligung der nationalen Parlamente bei der Erstellung der Indikatoren kann und soll Deutschland dem Weißbuch nicht zustimmen. Ansonsten würde dem wiederholten Ansatz Brüssels, die Souveränität der Mitgliedstaaten für die Gesundheitsversorgung zu unterlaufen, nachgegeben werden. Ich möchte aber auch klarstellen, dass das Weißbuch durchaus gute Ansätze zeigt, die von uns unterstützt werden. So soll das Weißbuch auch dazu dienen, Gesundheit in allen Politikbereichen zu etablieren, die Bedeutung der Gesundheit der Bevölkerung als Voraussetzung für Wachstum und Wohlstand zu begreifen und gemeinsame Werte zur Grundlage der Gesundheitspolitik zu machen. Es ist zweifelsohne eine wichtige Aufgabe der Mitgliedstaaten, sich stärker für die geriatrische Versorgung der Bevölkerung einzusetzen und in gemeinsamen Anstrengungen gegen Infektionskrankheiten vorzugehen. Da die Zuständigkeit für das Gesundheitswesen bei den Mitgliedstaaten liegt, sollen sie eng in die Durchführung der Strategie eingebunden werden. Die Kommission schlägt daher vor, einen neuen Mechanismus der strukturierten Zusammenarbeit im Gesundheitsbereich einzuführen. Dieser soll die Kommission beraten und die Koordinierung zwischen den Mitgliedstaaten fördern. So soll der Kooperationsmechanismus der Kommission unter anderem helfen, Prioritäten zu nennen, Indikatoren festzulegen, Leitlinien und Empfehlungen zu erarbeiten, den Austausch bewährter Verfahren zu fördern und Fortschritte zu bewerten. Da bleibt Die Linke skeptisch. Wichtig für uns ist - nicht zuletzt infolge der wettbewerblichen Ausgestaltung der EU - die Beibehaltung des Subsidiaritätsprinzips im Bereich Gesundheit. Im Weißbuch formulierte Ziele wie insbesondere die Verringerung der gesundheitlichen Ungleichheit werden von uns unterstützt; wünschenswert wäre jedoch, wenn in einer gesundheitspolitischen Strategie der EU der Grundstein gelegt werden könnte für eine europäische Umverteilung von Mitteln für den Aufbau funktionierender Gesundheitswesen in allen Mitgliedstaaten. Hiervon könnten vor allem die neuen Mitgliedstaaten profitieren. Denn solange eine funktionierende Gesundheitsinfrastruktur nicht gegeben ist, können gemeinsame Vorhaben wie eine Abstimmung bei der Organspende und die Unterbindung des Organhandels nicht wirkungsvoll angegangen werden. Zu Protokoll gegebene Reden

Dr. Harald Terpe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003854, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wenn wir heute über das Weißbuch Gesundheit debattieren, so debattieren wir zunächst einmal über eine Initiative der EU-Kommission, die in einigen Aspekten durchaus zu begrüßen ist. Eine koordinierte Zusammenarbeit der EU-Mitgliedstaaten ist nämlich in solchen Bereichen sinnvoll, in denen die einzelnen Staaten einem Problem nicht wirksam begegnen können, wie beispielsweise beim Kampf gegen Pandemien oder gegen den Organhandel. Auch die Formulierung von Gesundheitszielen auf europäischer Ebene kann durchaus sinnvoll sein, wenn sie von den einzelnen Mitgliedern als Aufforderung verstanden wird, Defizite im eigenen Land zu bekämpfen oder positive Erfahrungen aus den europäischen Nachbarländern zu übernehmen. In den letzten Jahren konnten wir auf EU-Ebene allerdings vielfach Bestrebungen beobachten, auch die Gesundheitspolitik in vielen Bereichen EU-weit zu harmonisieren. Dahinter steckt ein Denken, das das Gesundheitswesen an sich nicht mehr als einen Teil der Daseinsvorsorge eines Staates, sondern als Wirtschafts- und Dienstleistungsbranche ansieht, in der es sämtliche Hindernisse und Unterschiede zu beseitigen gilt. Davor kann ich nur warnen. Mit diesem Weißbuch wird ein Konzept vorgelegt, das die Schaffung eines sogenannten einheitlichen strategischen Ansatzes vorschlägt. Dafür setzt die EU-Kommission unter anderem Themenschwerpunkte fest, die durchaus begrüßenswert sind, beispielsweise die Förderung der Gesundheit in einer alternden Gesellschaft oder den Schutz der Bürger vor Gesundheitsgefahren. Das Mittel zur Umsetzung, das die Kommission dafür wählt, geht allerdings weit über eine einfache koordinierte Zusammenarbeit hinaus, sogar weit über das hinaus, was der EG-Vertrag in Art. 152 vorsieht. Die Kommission kündigt einen neuen Mechanismus der „Strukturierten Zusammenarbeit“ an, der die Kommission befähigen soll, „Prioritäten zu nennen, Indikatoren festzulegen, Leitlinien und Empfehlungen zu erarbeiten, den Austausch bewährter Verfahren zu fördern und Fortschritte zu bewerten“. Damit begibt sie sich in die Rolle des federführenden Akteurs, der nicht nur - wie vom EG-Vortrag eigentlich vorgesehen - die Politik der Mitgliedstaaten ergänzt und gegebenenfalls unterstützt. Die Kommission billigt sich vielmehr selbst - sowohl inhaltlich als auch methodisch - eine Funktion zu, die ihr rechtlich nicht zusteht und die zudem die Gefahr einer ungerechtfertigten Bürokratieerweiterung birgt. Bereits heute schafft die sogenannte Offene Methode der Koordinierung einen Mechanismus, der die klaren Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten zu verwischen droht und der nahezu keiner parlamentarischen Kontrolle unterliegt. Noch einmal: Es geht uns nicht um die Ablehnung jeglicher Koordinierungstätigkeit seitens der EU. In Einzelfällen, in denen daraus für die Mitgliedstaaten ein Mehrwert entsteht, weil die zu bewältigenden Probleme grenzübergreifend sind, ist dies durchaus sinnvoll. Eine solche Koordinierung kann aber auch im Rahmen von Einzelermächtigungen stattfinden und bedarf keiner umfassenden Übertragung von Kompetenzen für einen Bereich, in dem nach Art. 152 Abs. 5 die „Verantwortung der Mitgliedstaaten für die Organisation des Gesundheitswesens und die medizinische Versorgung in vollem Umfang“ gewahrt bleiben soll. Der ursprüngliche Entwurf des heute abgestimmten Entschließungsantrags der Koalitionsfraktionen hat diese Aspekte klar benannt. Leider wurde diese Klarheit bei der anschließenden Abstimmung mit dem Bundesministerium für Gesundheit sehr reduziert. Aus diesem Grund sehen sich die Mitglieder meiner Fraktion nicht in der Lage, diesem Entschließungsantrag in seiner neuen Form zuzustimmen.

Marion Caspers-Merk (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000325

Die Befassung mit dem von der EU-Kommission vorgelegten Weißbuch für eine EU-Gesundheitsstrategie gibt uns die Gelegenheit, einige ganz wesentliche Punkte anzusprechen. Es geht dabei um die Haltung Deutschlands zu grundsätzlichen Weichenstellungen für die Gesundheitspolitik auf europäischer Ebene. Diese Überlegungen haben die die Regierungskoalition tragenden Fraktionen gemeinsam im vorliegenden Entschließungsantrag zusammengefasst. Aus Sicht der Bundesregierung möchte ich den Entschließungsantrag nachdrücklich unterstützen. Es ist überaus erfreulich, dass Parlament und Regierung bei diesem Thema an einem Strang ziehen. Wir sind uns einig, dass die Initiative der EU-Kommission für eine Gesundheitsstrategie grundsätzlich die Chance beinhaltet, den Stellenwert und die Sichtbarkeit der europäischen Gesundheitspolitik als zentralen Politikbereich zu erhöhen. Gleichwohl muss unmissverständlich klargemacht werden: Die Verantwortung der Mitgliedstaaten für die Gestaltung und Steuerung der Gesundheitssysteme darf nicht von der Gesundheitsstrategie infrage gestellt werden. Die geltende Kompetenzabgrenzung zwischen den Mitgliedstaaten und der Kommission muss gewahrt bleiben. Es wird bei der Umsetzung der Gesundheitsstrategie darauf zu achten sein, dass die Zuständigkeiten auch nicht durch den beabsichtigten Mechanismus zur strukturierten Zusammenarbeit verwischt werden. Hier gilt genauso wie in der Offenen Methode der Koordinierung, dass wir insbesondere die Festlegung von quantifizierten Zielen auf EU-Ebene nicht akzeptieren sollten. Darüber hinaus wäre der Versuch, die historisch gewachsenen und hochkomplexen Gesundheitssysteme über verallgemeinerte europäische Zielvorgaben zu steuern, sowieso zum Scheitern verurteilt. So einfach geht das nicht. Wir begrüßen hingegen ausdrücklich eine europäische Koordinierung und Zusammenarbeit in den Bereichen, in denen ein klarer Mehrwert zu erkennen ist oder sich Herausforderungen grenzüberschreitend stellen, zum Beispiel bei der Bekämpfung von Aids oder bei einem gemeinsamen Vorgehen zur Förderung von gesunder Ernährung und mehr Bewegung. Hier können wir durch eine verbesserte europäische Kooperation Vorteile für die Bürgerinnen und Bürger realisieren. Zu Protokoll gegebene Reden

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9412, in Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen mit den Stimmen des restlichen Hauses angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 29 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Bettina Herlitzius, Cornelia Behm, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Mehr Engagement für eine nachhaltige Tourismusentwicklung - Ausweisung der CO2-Bilanz bei Pauschalreisen - Drucksache 16/9346 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Tourismus ({0}) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Klaus Brähmig, CDU/CSU, Dr. Reinhold Hemker, SPD, Jens Ackermann, FDP, Dr. Ilja Seifert, Die Linke, Bettina Herlitzius, Bündnis 90/Die Grünen.

Klaus Brähmig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000240, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Der heute zu debattierende Antrag zum Thema „Mehr Engagement für eine nachhaltige Tourismusentwicklung“ der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zielt vor allem darauf ab, Verbrauchern künftig durch die Ausweisung der mit einer Pauschalreise verbundenen CO2Emissionen die Möglichkeit zu geben, ihre Reiseentscheidung auch nach der Klimabelastung ihrer Reise zu treffen. Deshalb sollen alle Reiseveranstalter verpflichtet werden, die transferbedingten CO2-Emissionen und alle anderen klimawirksamen Emissionen von Pauschalreisen in Katalogen, Broschüren, sonstigen Printmedien sowie im Internet gut sichtbar auszuweisen. Zur Begründung wird darauf verwiesen, dass die mit dem Tourismus verbundenen Probleme einen besonderen Stellenwert haben, da der Tourismus etwa 5 Prozent der weltweiten CO2Emissionen verursacht und sich dieser Anteil aufgrund hoher Wachstumsraten weiter vergrößern wird. Die grundsätzliche Idee, den Verbrauchern mehr Informationen über die reisebedingte Umweltbelastung zur Verfügung zu stellen, ist zu begrüßen. Diese Überlegung sorgt aber für technische, organisatorische und finanzielle Probleme bei den Anbietern von Pauschalreisen. Eine solche Auflistung für sämtliche im Rahmen einer Pauschalreise gebuchten Verkehrsmittel wäre nicht nur sehr aufwendig, sondern technisch schwer zu erstellen. Bei der Angebotserstellung von Pauschalreisen stehen die dabei genutzten Verkehrsmittel noch nicht fest. Dies betrifft zum Beispiel unterschiedliche Flugzeugtypen oder die Flugrouten, die vielleicht Zwischenlandungen beinhalten. Die genaue Umrechnung auf den einzelnen Passagier und damit auf die einzelne Reise hängt weiter von der Auslastung sowie dem Frachtanteil des jeweiligen Fluges ab, was ebenfalls vorher nicht absehbar ist. Dies wäre auch eine einseitige Belastung von Reiseveranstaltern gegenüber den Verkehrsträgern Bus, Bahn etc., die diese Information nicht liefern müssten. Außerdem würde bei dieser Erhebungspraxis der hohe Anteil der Geschäftsreisen nicht berücksichtigt. Dennoch wäre es wünschenswert, wenn für alle Reisen eine annäherungsweise CO2-Bilanz vorliegen würde. Diese könnte beispielsweise durch Durchschnittswerte des Flottenverbrauchs der einzelnen Verkehrsträger Bus, Schiff, Bahn und Flugzeug errechnet werden. Wir sind allerdings absolut gegen eine gesetzliche Vorgabe, sondern setzen auf freiwillige Selbstverpflichtung, und das aus gutem Grund: 1994 hat Friedemann Prose in seiner Studie „Ansätze zur Veränderung von Umweltbewusstsein und Umweltverhalten aus sozialpsychologischer Perspektive“ darauf hingewiesen, dass Selbstverpflichtungen die größte Wirksamkeit beim Klimaschutz haben. Dort heißt es: Ein Klimaschutz-Marketing, mit dem eine nachhaltige Verhaltensänderung bewirkt werden soll, müsste direkt und indirekt dazu beitragen, ein Gemeinwohldenken und -handeln sowie ein entsprechendes Problem- und Verantwortungsbewusstsein zu entwickeln, bestärken und zu fördern. Das kann nach Proses Ansicht nicht von außen erzwungen werden, sondern nur über die von innen kommende Motivation und die Verinnerlichung entsprechender Werte dauerhaft entstehen. Weiter heißt es dort: Rein betriebswirtschaftliche Begründungen oder ausschließliche Berechnungen der individuellen Kosten/Nutzen-Relation wirken dem Gemeinwohldenken entgegen. Ordnungspolitische und finanzielle Maßnahmen bedeuten äußeren Zwang bzw. externe Anreize. Sie sind kaum geeignet, Einstellungen dauerhaft zu verändern und eine innere Motivation aufzubauen. Selbstverpflichtung, Zielsetzungsprozeduren und Vorbildverhalten haben sich empirisch als wirksamste Instrumente einer langfristigen Verhaltensänderung erwiesen. Insofern würde ich mir wünschen, dass beispielsweise der besonders umweltfreundliche Verkehrsträger Reisebus mit der Bereitstellung von solchen Informationen zur CO2-Bilanz seinen Beitrag zum Klimaschutz noch besser darstellen könnte. Auch deutsche Fluggesellschaften verfügen aufgrund einer sehr modernen und verbrauchsarmen Flotte über einen Wettbewerbsvorteil gegenüber vielen ausländischen Konkurrenten. Wenn sich die ersten Reiseveranstalter mit solchen Angaben freiwillig profilieren, wird das geänderte Umweltbewusstsein automatisch einen Druck auf die Branche erzeugen und ein langfristiges Umdenken in Gang setzen. Wir sollten bei der ganzen Diskussion um die Nachhaltigkeit von Reisen nicht damit anfangen, Reiseziele geKlaus Brähmig geneinander auszuspielen. Die gegenwärtige Debatte um Einschränkungen bei Flugreisen zugunsten des Klimaschutzes lässt leider die vielen positiven Effekte von Flugreisen völlig außer Acht. Weltweit setzen viele Entwicklungsländer auf den Tourismus zur Armutsbekämpfung und erwirtschaften damit dringend benötigte Devisen. Aber auch in Deutschland sichert der Tourismus direkt und indirekt fast 3 Millionen Arbeitsplätze - zu einem erheblichen Umfang auch durch Auslandsurlaub und Flugreisen. Gute Flugverbindungen sorgen im Übrigen mit dafür, dass Deutschland große Zuwächse an ausländischen Gästen verzeichnen kann, deren Ausgaben deutlich über denen der inländischen Gäste liegen. Außerdem wurde im Luftverkehr durch immer effizientere Triebwerke, Flottenmodernisierungen und eine bessere Auslastung der Flugzeuge eine nachhaltige Reduzierung des Treibstoffverbrauchs erreicht. Ein Verbrauch von 3 Litern auf 100 Kilometer pro Passagier ist hier schon oft verwirklicht. Wichtige Schritte zur weiteren Reduzierung des Verbrauchs wären vor allem die Beseitigung von Engpässen in der Verkehrsinfrastruktur, zum Beispiel im Bereich der Flugsicherung, dem bedarfsgerechten Ausbau von Flughäfen und dem Abbau unnötiger Warteschleifen. Weiterhin leistet der Tourismus auch einen wichtigen Beitrag zur Völkerverständigung. Tourismus ist eine hervorragende Form der Außenpolitik, da das Kennenlernen anderer Kulturen die Wahrscheinlichkeit feindlicher Handlungen oder kriegerischer Auseinandersetzungen wesentlich verringert. Diese Aspekte des Reisens sollten Sie, liebe Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen, nicht vernachlässigen. Gerade Sie fordern doch sonst immer ganzheitliche Politikansätze. Abschließend möchte ich noch auf die Forderung eingehen, der Bund solle sich als Eigentümer der Deutschen Bahn AG dafür einsetzen, dass die Bahn künftig ausschließlich Strom aus erneuerbaren Energiequellen bezieht. Die Atomkraft aus Sicht des Klimaschutzes und aus Kostengründen aus der Betrachtung auszuschließen, zeigt schon Ihre rein ideologische und nicht von Logik geprägte Denkweise. Die Verteuerung der Bahnfahrkarten durch Ökostrom wird sicherlich nicht die Attraktivität der Bahn steigern. Es ist eher zu befürchten, dass der Pkw dann vergleichsweise doch wieder ein günstiges Verkehrsmittel bleibt. Aber auch hier ist ja noch ein Umdenken möglich. Vielleicht werde ich noch erleben, dass grüne Politiker mit Transparenten für den Bau neuer moderner Atomkraftwerke demonstrieren. Das wäre ein effizienter Weg, den Klimawandel zu gestalten, und er wird von fast allen westlichen Ländern - mit Ausnahme Deutschlands beschritten. Zwei Spitzenfunktionäre der Grünen haben ja nach ihrem Ausscheiden aus dem Parlament das Potenzial der Atomenergie für sich schon erkannt.

Dr. Reinhold Hemker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002670, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Der vorliegende Antrag befasst sich mit einem Teilaspekt der gesamten Bemühungen für den Klimaschutz, insbesondere durch die Minderung der CO2-Emissionen. In den Antrag eingearbeitet sind Erkenntnisse, die in den Berichten der Bundesregierung seit langem vorgelegt wurden und werden. Im Feststellungsteil werden teilweise Fakten genannt, auf die sich auch die Bundesregierung im letzten Tourismusbericht, Drucksache 16/8000, bezogen hat. Dazu gehört die Feststellung, dass der Tourismus nach Schätzung der Welttourismusorganisation, UNWTO, derzeit etwa 5 Prozent der weltweiten CO2Emissionen verursacht, genauso wie der Verweis auf die doppelte Verknüpfung von Tourismus und Klimawandel. Denn zum einen ist eine intakte Umwelt eine der wichtigsten Rahmenbedingungen für einen Tourismusstandort, zum anderen werden gerade auch durch den Tourismus Umweltbelastungen verursacht, die zum Klimawandel beitragen. Positiv ist an dem Antrag, dass bezogen auf den Bereich Tourismus auf denkbare und bereits existente Initiativen wie zum Beispiel die Initiative von atmosfair eingegangen wird. Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass eine isolierte Initiative, wie im Antrag von Bündnis 90/Die Grünen intendiert, nicht losgelöst von dem ambitionierten Gesamtkonzept der Bundesregierung für einen wirksamen Klimaschutz verfolgt werden sollte. Ziel aller Einzelbemühungen in der Energie- und Umweltpolitik muss die Sicherstellung von Versorgungssicherheit, Wirtschaftlichkeit und Umweltverträglichkeit sein. Das Ziel einer besseren CO2-Bilanz soll weder die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen einschränken noch die Verbraucher überfordern. Klimaschutz muss Teil und nicht Hemmschuh einer modernen ökonomischen Entwicklung sein. Durch den Anstieg der Preise für fossile Energie, durch die Möglichkeiten für Wertschöpfung und Beschäftigung bei der Ausweitung der erneuerbaren Energien und durch die großen Potenziale der Technik für erneuerbare Energien für neue Exportmärkte erbringt Klimaschutz bereits heute mehr, als dass er „kostet“. Dieser Tenor sollte in allen Bemühungen zum Klimaschutz herausgestellt werden. Hingewiesen werden muss ebenfalls darauf, dass einzelne im Antrag von Bündnis 90/Die Grünen erwähnte Maßnahmen ohnehin bereits zum Beispiel von den Verkehrspolitikern, die Verantwortung im Bereich der Deutschen Bahn AG tragen, im Rahmen ihrer jeweiligen Zuständigkeit verfolgt werden. Das gilt nicht nur für die Nutzung von Strom aus erneuerbaren Energiequellen, sondern für die gesamten auf Nachhaltigkeit ausgerichteten Maßnahmen im Bereich der Deutschen Bahn AG. Regierungsamtlich verordnet werden können solche Maßnahmen, wie sie im Antrag genannt werden, ohnehin eher nicht. Zudem ist die Bundesregierung derzeit dabei, die Empfehlungen der UN-Klimakonferenz auf Bali umzusetzen. Dazu gehört unter anderem auch die im Antrag von Bündnis 90/Die Grünen erwähnte europäische Initiative zur Abschaffung der Steuerbefreiung von Kerosin. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass bei den jetzt laufenden Zwischenabstimmungen für die BaliNachfolgekonferenz im Jahr 2009 in Kopenhagen der Bereich des Flugverkehrs elementarer Bestandteil der Vereinbarungen zur Reduzierung der Treibhausgase wird. Zu Protokoll gegebene Reden Dabei werden einzelne Aspekte aus dem Antrag der Grünen berücksichtigt werden. Es ist auch darauf hinzuweisen, dass zum Beispiel die Einbeziehung des Flugverkehrs in den Emissionshandel als sehr positive Entwicklung bewertet werden muss. Zusammengefasst: Wichtig ist, dass diejenigen, die sich um eine nachhaltige Tourismusentwicklung bemühen, das Gesamtkonzept der Bundesregierung mit ihren jeweiligen Schwerpunkten begleiten und auf die baldige Verabschiedung des Gesamtkonzeptes drängen. Einzelne, isolierte Initiativen, die zudem in den Verantwortungsund Ausgestaltungsbereich von Reiseveranstaltern eingreifen, sind nicht zu befürworten. In den Gesprächen mit dem Deutschen Tourismusverband und der Deutschen Tourismuszentrale mit einzelnen Reiseveranstaltern sind die im Antrag genannten Punkte ohnehin immer Gesprächsgegenstand. Ich freue mich auf die Fachdiskussionen und fruchtbare Anregungen im Ausschuss.

Jens Ackermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003728, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Der Antrag der Grünen „Mehr Engagement für eine nachhaltige Tourismusentwicklung - Ausweisung der CO2-Bilanz bei Pauschalreisen“ geht grundsätzlich in eine richtige Richtung. Leider ist aber die Umsetzung im Detail nicht so gut gelungen. So wird in den ersten drei der acht Forderungen an die Bundesregierung gefordert, die Reiseveranstalter zur Ausweisung der CO2-Emissionen zu verpflichten, und zwar für jede Reise, in sämtlichen Medien und Katalogen. Das ist ein riesiger Mehraufwand für die Veranstalter, und die dadurch entstehenden Kosten würden mit Sicherheit auf den Endverbraucher umgelegt werden. Dabei sollte es doch unser gemeinsames Anliegen sein, den Tourismus in Deutschland zu stärken. Die Wachstumsbranche Tourismus hat eine zu große ökonomische Bedeutung, um sie willentlich mit übertriebener Bürokratie zu bremsen. Wir als FDP sind für den Bürokratieabbau und nicht für den Bürokratieaufbau. Gerade für ländliche und touristisch kleiner organisierte Veranstalter ist eine weitere bürokratische Hürde wie die Verpflichtung zur Ausweisung der CO2-Emission enorm blockierend. Daher sind wir für eine Selbstverpflichtung der Reiseveranstalter. Das gleiche gilt für Standards wie TREMOD. Warum sollte man diese zur Verpflichtung machen? TREMOD ist die allgemein akzeptierte Datengrundlage für Energieund Emissionsdaten aus dem Bereich Verkehr und damit jetzt schon Grundlage für alle Reiseveranstalter. Warum sollte man an einer funktionierenden Sache etwas ändern? Mit der Forderung, die Verbraucher zu informieren, muss man vorsichtig sein, werden dann doch die Verbraucher, die aufgrund ihrer finanziellen Lage nicht zwischen ökologisch sinnvollen und preiswerten Reisen unterscheiden können, diskriminiert. Wir dürfen nicht vergessen, dass mehr als die Hälfte aller Reisenden sich bei der Wahl ihres Urlaubes stark am Preis orientiert. Umweltschutz spielt für diese Gruppe nur eine untergeordnete Rolle. Man darf diesen Teil der Urlauber aber nicht vergessen und sollte sie behutsam und nicht mit dem Knüppel an einen nachhaltigen Tourismus heranführen. Daher unterstützen wir auch den Punkt fünf der Forderungen der Grünen, nämlich den eingeschlagenen Weg zur Stärkung des Deutschlandtourismus konsequent fortzusetzen. Das geht eben nicht von heute auf morgen. Schwierig wird es bei der sechsten Forderung. Grundsätzlich sind wir als FDP auch für die Abschaffung der Steuerbefreiung für Kerosin, aber nur, wenn wir weltbzw. mindestens europaweit eine einheitliche Lösung finden. Wir können es uns nicht erlauben, den deutschen Tourismussektor im Vergleich zu anderen Ländern so schlechterzustellen. Dies wäre ein klarer Rückschlag für die gesamte deutsche Tourismusbranche. Derartige nationale oder europäische Alleingänge bringen nichts für den Klimaschutz, da dies vor allem zu Verlagerungen führt. Profitieren würde zum Beispiel ein Standort wie Dubai, der heute schon in den Startlöchern steht und nur auf solche ideologischen Eigentore aus Europa lauert. Den Schaden hätte der Luftverkehrsstandort Deutschland bzw. Europa. Das können auch Sie als Grüne nicht wollen. Denn kaum eine Branche sichert so viele Arbeitsplätze und schafft sogar neue wie der Luftverkehr. Ich frage mich, ob die Grünen ein besonderes Interesse an dem Unternehmen atmosfair gGmbH haben. Sie nennen das Unternehmen als einziges Beispiel für einheitliche Regularien zur Leistung eines Beitrages zur Treibhausgasminderung. Dabei gibt es noch mehrere Angebote von unterschiedlichen Unternehmen, die auf ähnliche Weise dem ökologisch interessierten Reisenden Möglichkeiten zur Abgeltung seiner „Ökoschuld“ bieten. Wir weigern uns, wenn es darum geht, sich auf ein Unternehmen festzulegen, da das dem Wettbewerb sicher nicht hilft. Die achte Forderung, dass sich die Bundesregierung für die ausschließliche Verwendung von Ökostrom einsetzen soll, lehnen wir ab. Die Deutsche Bahn AG wurde, wie der Name schon sagt, bewusst zur AG, damit sich der Bund nicht in organisatorische Abläufe einmischt. Auch hier wäre eine Selbstverpflichtung sinnvoller als jede erzwungene Verpflichtung. Voraussetzung für eine langfristig ökonomisch erfolgreiche Entwicklung des Tourismus sind neue Ansätze, aber das weiß die Branche ja selber. Daher gibt es innerhalb der Tourismusindustrie verstärkt Ideen und konkrete Handlungen, zum Beispiel den Tourismus per Bus und Bahn. Auch die verstärkte Nachfrage nach Reisen innerhalb Deutschlands zeigt doch, wie stark sich auch das Reiseland Deutschland etabliert hat. Dass die Reisenden damit nebenbei die Umwelt schonen, weil sie auf lange Flüge verzichten, ist doch sehr gut. Daher kann man grundsätzlich den Antrag der Grünen als Idee gutheißen, leider mangelt es an der realistischen Umsetzung, da es zu viel Bürokratie bedeutet und zu teuer ist.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ja, es stimmt: Die Tourismusbranche wächst weltweit und auch in Deutschland stärker als viele andere Wirtschaftsbereiche. Mehr Reisende bringen auch ein Mehr an Belastungen für Klima und Umwelt. Zu Protokoll gegebene Reden Trotzdem ist es für die Linke eine Errungenschaft, wenn nicht nur wenige Reiche, sondern zunehmend mehr Menschen andere Länder und Kulturen kennenlernen können. Wenn also der Ferntourismus heute einer breiten Masse offensteht, halten wir dies für eine Demokratisierung des Zugangs zu interkultureller Erfahrung. Selbstverständlich wissen wir auch um die Bedeutung des Klimaschutzes und sehen die damit einhergehenden Probleme. Die Situation ist und bleibt janusköpfig. Den vorliegenden Antrag halte ich vom Anliegen her zunächst einmal für begrüßenswert. Die geforderte Information über die jeweilige CO2-Emission von Touristikangeboten folgt einem ähnlichen Prinzip der Ermöglichung bewusster Verbraucherentscheidungen wie etwa die Ausweisung der Inhaltsstoffe von Nahrungsmitteln, die Warnungen vor Gesundheitsrisiken auf Zigarettenschachteln, die Energiebilanz bei Elektrogeräten oder andere Beispiele der Produkttransparenz, wie sie heute bereits zum Standard geworden sind. Dennoch müssen einige Ihrer Ausgangspunkte und die daraus vorgeschlagenen Konsequenzen hinterfragt werden. Sie beziehen sich bei der Analyse von CO2-Emissionen der Tourismuswirtschaft lediglich auf die Transfers, also das Reisen von A nach B, nicht aber auf den Aufenthalt selbst. Innerhalb dieser Transfers zielt Ihr Antrag lediglich auf die Gruppe der Pauschalreisen, mit anderen Worten: den sogenannten Massentourismus. Die Linke hält jedoch auch die Ökobilanz des touristischen Aufenthaltes vor Ort für nicht unbedeutend. Hier zeigt sich, dass die individuelle Umweltbilanz gerade für Luxusreisende - große vollklimatisierte Suiten, riesige beheizte Pools, Golfanlagen, private Safaris etc. - weitaus höher ist als die des einzelnen „Massentouristen“, der sich doch mit verhältnismäßig einfachem Komfort bescheidet. Es ist also unklar, warum sich Ihre Forderung nur auf den Transfer und dann ausgerechnet auf Pauschalreisen beschränkt. Selbst wenn man nur den Transport ins Auge fasst - als einen ersten und wichtigen Schritt vielleicht -, wäre es zielführender und konsequent, alle Personentransporte durch die neue Regelung zu erfassen. Warum verpflichteten wir nicht alle Verkehrsträger - Fluggesellschaften, die Bahn, Busunternehmen, Schiffe -, auf ihren Tickets die jeweilige CO2-Belastung auszuweisen? Sicherlich gibt es auch Möglichkeiten, Autofahrer über ihren individuellen CO2-Ausstoß je Fahrt zu informieren. Pauschalanbieter können dann verpflichtet werden, diese Angaben bei ihren Angeboten mit aufzuführen, da sie diese Angaben beim Einkauf der Transferleistungen vom Verkehrsträger erhalten. All dies würde das Bewusstsein für Klimafragen schärfen, und hier würde sich auch zeigen, dass ein Erste-Klasse-Flugticket die Umwelt deutlich höher belastet als eines in der Touristenklasse. Einig sind wir uns auch in der Frage, dass das Ausweisen der CO2-Bilanz allein nicht für eine nachhaltige Tourismusentwicklung reicht. Notwendig sind unter anderem die Kerosinsteuer im Flugverkehr und andererseits die stärkere Förderung des Inlandstourismus, vor allem des Rad- und Wandertourismus. Ein richtiger Weg wäre, den öffentlichen Fernverkehr mit Bus und Bahn - auch im Verbund mit den europäischen Nachbarländern - auszubauen und - verstanden als soziale und umweltbewusste Aufgabe - weitgehend öffentlich zu finanzieren. Leider ist die Koalition mit der Bahnprivatisierung den entgegengesetzten Weg gegangen. Es war ihre Entscheidung, die Bahn profitorientiert statt sozial- und damit klimaorientiert zu entwickeln. Es ist pervers, wenn Menschen innerhalb Deutschlands nur mit dem Flugzeug reisen, weil es deutlich preiswerter ist als die Bahn. Selbst Reisende mit Umweltbewusstsein müssen angesichts ihrer Einkommen auf den billigeren Verkehrsträger zurückgreifen. Ich will auch nicht das Kind mit dem Bade ausschütten: Jeder Verkehrsträger hat seine Stärken und Schwächen. Wer Ferntourismus will - und wir möchten, dass sich Menschen verschiedener Kontinente begegnen -, braucht auch bezahlbare Flugreisen. Amerika ist mit dem Rad, dem Bus oder der Bahn von Europa aus nicht zu erreichen. Es geht darum, das aus umweltpolitischer Sicht jeweils optimale Verkehrsmittel für eine bestimmte Entfernung für den Einzelnen auch ökonomisch zum attraktivsten zu machen. Natürlich gibt es auch Reisen, deren Sinn mit Blick auf die Klimabelastungen bezweifelt werden muss. Dazu gehören die Kurzreisen zum Shoppen nach New York, Dubai oder Mailand ebenso wie manche Geschäftsreise, die vielen unnötigen Beamtenshuttles zwischen Berlin und Bonn oder die Reisen der Bundeswehr an den Hindukusch. Wir brauchen eine sozial gerechte und umweltbewusste Tourismuspolitik und keine Tourismuspolitik, bei der die Klimabilanz aufgebessert wird, indem Menschen mit niedrigen Einkommen ausgegrenzt werden. Das wäre unsolidarisch und ist mit der Linken nicht zu machen.

Bettina Herlitzius (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003887, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die Tourismuswirtschaft zählt zu den weltweit am stärksten wachsenden Branchen. Aber wir alle wissen auch, dass es durch den Tourismus zu problematischen Entwicklungen für Natur, Umwelt und bei der Einhaltung sozialer Standards kommen kann. Das haben wir in diesem Haus bereits mehrfach thematisiert. Der Klimawandel wird Auswirkungen auf den Tourismus haben, auch das wird der Branche zunehmend bewusster. Leider handelt die Tourismusindustrie aber noch nicht danach, ausgenommen wenige nachhaltige touristische Nischenprodukte. Mit unserem vorliegenden Antrag „Ausweisung der CO2-Bilanz bei Pauschalreisen“ wollen wir uns die Kräfte des Marktes für die von uns Grünen gewünschte nachhaltige Tourismusentwicklung zunutzemachen. Dabei wollen wir mit unseren politischen Aktivitäten gerade nicht die touristischen Nischenprodukte ansprechen. In Zeiten des Klimawandels sollte auch die Massentourismusindustrie Zeichen setzen und verpflichtet werden, bei ihren Pauschalreiseangeboten die Höhe der transferbedingten CO2-Emissionen auszuweisen. Warum also ausgerechnet die Ausweisung bei Pauschalreiseangeboten? Pauschal- und Bausteinreisen sind bei den Auslandsreisen mit knapp 60 Prozent die am häufigsten gewählte Art der Organisation einer Urlaubsreise. Bei der Wahl des Verkehrsmittels für diese Art der Urlaubsreise liegt das Flugzeug bei den Auslandsreisen deutlich an erster Stelle. Sie alle wissen, dass beim Flugverkehr über elfmal mehr Zu Protokoll gegebene Reden CO2-Emissionen im Vergleich zum Reisebus oder gar zum Fernverkehr der Bahn in die Atmosphäre emittiert werden. Flugreisen, Flugverkehr überhaupt sind ein großes Umweltproblem. Wir Grünen wollen uns dafür stark machen, dass die Verbraucher für die Problematik „Reisen - Treibhauseffekt - Klimawandel“ sensibilisiert werden. Tourismus und Mobilität sind eng miteinander verwoben. Tourismus ist abhängig von Mobilität und trägt damit unweigerlich zum Klimawandel bei. Zur Verdeutlichung: Im Tourismus sind 75 Prozent des CO2-Ausstoßes der Mobilität zuzurechnen. Gerade deshalb steht die Wahl des Transportmittels bei einer Reise im Mittelpunkt, wenn man den CO2-Verbrauch einer Reise reduzieren will. Man kann es nicht oft genug sagen, es gibt große Unterschiede zwischen der Art des für eine Reise gewählten Verkehrsmittels und den jeweiligen spezifischen CO2-Belastungen. Die Angaben zum CO2-Verbrauch für den Transport bei einer Pauschalreise sind deshalb ein erster Schritt zu mehr Transparenz. Mit der von uns Grünen angestrebten Ausweisung hat jede/jeder Reisende selbst die Möglichkeit, seine Reiseentscheidung auch nach der Klimabelastung der Reise zu treffen. Das trifft den Puls der Zeit. Und auch der Deutschlandtourismus könnte von einer Ausweisung der CO2-Bilanz bei Pauschalreisen durchaus profitieren und gestärkt werden. Die Verbraucher legen immer mehr Wert auf gesellschaftliche und ökologische Verantwortung. Wir wollen nicht den Sommerurlaub des „kleinen Mannes“ auf Mallorca oder gar die Fernreise verbieten. Es ist auch nicht unser Ziel, den moralischen Zeigefinger zu heben. Wir Grüne setzen auf mehr Augenmerk der Verbraucher für verantwortungsvolles Reisen. Das lässt sich nur mit transparenter Informationspolitik erreichen. Dazu bitten wir um die Unterstützung dieses Hauses.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/9346 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 30 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Michaela Noll, Antje Blumenthal, Thomas Bareiß, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Angelika Graf ({0}), Renate Gradistanac, Kerstin Griese, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Wirksame Bekämpfung der Genitalverstümmelung von Mädchen und Frauen - Drucksache 16/9420 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({1}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Michaela Noll, CDU/CSU, Angelika Graf ({2}), SPD, Sibylle Laurischk, FDP, Dr. Kirsten Tackmann, Die Linke, Irmingard Schewe-Gerigk, Bündnis 90/Die Grünen.

Michaela Tadjadod (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003645, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

„Was lange währt, wird endlich gut.“ Unter dieses Motto könnte man unseren Antrag fassen. Wir haben uns die notwendige Zeit genommen, um zu einem guten Ergebnis zu kommen. Die langen Verhandlungen mit unserem Koalitionspartner haben sich daher ausgezahlt. Nie zuvor gab es im Deutschen Bundestag einen solch umfassenden und effektiven Antrag zur Bekämpfung von weiblicher Genitalverstümmelung. Er ist weitreichender und vielseitiger als alle Oppositionsanträge zusammen. Wir reden nicht nur, sondern wir handeln. In über 20 Maßnahmen gehen wir das Thema „Female Genital Mutilation“, FGM, von allen Seiten an. Der Handlungsbedarf ist auch wirklich geboten. Denn insgesamt sind weltweit circa 140 Millionen Mädchen und Frauen an ihren Genitalien verstümmelt. Laut einer UNICEF-Studie kommen jährlich schätzungsweise 3 Millionen Mädchen im Alter von vier bis zwölf Jahren hinzu. Schätzungen zufolge sind in Deutschland etwa 30 000 Frauen und Mädchen von Genitalverstümmelung betroffen oder bedroht. Dies können und wollen wir nicht hinnehmen. Genitalverstümmelung ist eine schwerwiegende Menschenrechtsverletzung, die wir entschieden verurteilen. Inzwischen hat hier eine Sensibilisierung der Öffentlichkeit stattgefunden, wozu sicherlich auch die Bücher von Waris Dirie und Fadumo Korn sowie die Medienberichterstattung beigetragen haben. Die Bundesärztekammer hat Empfehlungen zum Umgang mit Patientinnen nach weiblicher Genitalverstümmelung gegeben, und die Bundesregierung berücksichtigte die Problematik ausdrücklich in ihrem Aktionsplan zur Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen. In meiner Rede möchte ich nun unseren Antrag vorstellen und mich dabei auf einige Punkte konzentrieren: Für Mädchen und Frauen, denen Genitalverstümmelung in Deutschland droht, gilt, dass in Deutschland Genitalverstümmelung in jedem Fall eine Körperverletzung gemäß § 223 Strafgesetzbuch, StGB, darstellt, unabhängig davon, durch wen sie durchgeführt wird. In den meisten Fällen ist Genitalverstümmelung auch eine gefährliche bzw. schwere Körperverletzung im Sinne des § 224 Abs. 1 Nrn. 2, 4, 5 und des § 226 StGB. Oftmals wird die Forderung erhoben, Genitalverstümmelungen ausdrücklich in den Tatbestand des § 226 StGB aufzunehmen. Eine Verurteilung nach dieser Vorschrift hat bei Ausländerinnen und Ausländern jedoch die Ausweisung zur Folge. Dies führt daher zu einem Auseinanderreißen der Familie. Denn es sind oft die Eltern, die als Mittäter in Betracht kommen. In der Anhörung haben verschiedene Sachverständige darauf hingewiesen, dass eine solche Folge den betroffenen Mädchen nicht hilft. Viel wichtiger ist es, die jungen Mädchen und ihre Familien darüber aufzuklären, dass FGM in Deutschland verboten ist. Deshalb wollen wir durch eine konsequente Öffentlichkeitsarbeit darauf hinwirken, dass die Strafbarkeit der Verstümmelung weiblicher Genitalien als Körperverletzung der breiten Öffentlichkeit und insbesondere bei den Migrantenorganisationen stärker bekannt gemacht wird, Mädchen und Frauen umfassend über ihre Rechte und über Beratungs- und Zufluchtsmöglichkeiten aufgeklärt werden. Dazu gehört aber auch, die beteiligten Berufsgruppen entsprechend fortzubilden. Nicht überall ist das Thema Genialverstümmelung präsent. In unserem Antrag fordern wir daher, in Zusammenarbeit mit den Ländern Fortbildungs- und Sensibilisierungskampagnen für Polizei und Justiz, Lehrerinnen und Lehrer, Erzieherinnen und Erzieher, Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Jugend-, Sozial-, und Ausländerbehörden anzubieten. Was ich wirklich bemerkenswert finde, ist, dass es uns gelungen ist, eine interministerielle Arbeitsgruppe einzurichten. Diese interministerielle Bund-Länder-NROArbeitsgruppe, IMA, unter der federführenden Koordination des BMZ soll sich an der Struktur und Arbeitsweise der beiden Bund-Länder-Arbeitsgruppen „Häusliche Gewalt“ und „Frauenhandel“ des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend orientieren. Sie hat drei wesentliche Aufgaben: erstens die bundesweite zielgruppensensible Aufklärung voranzubringen, zweitens die Vernetzung und einen konstanten interdisziplinären Informationsaustausch der Akteurinnen und Akteure in allen relevanten Berufsgruppen und Organisationen sicherzustellen und drittens die fachliche Unterstützung für Projekte auf Landes- und auf Bundesebene zu leisten. Soweit zu einigen Maßnahmen auf nationaler Ebene. Vergessen dürfen wir aber auch nicht die europäische und die internationale Ebene. Weibliche Genitalverstümmelung ist ein weltweites Problem, dem man auch international begegnen muss. Unser Antrag sieht daher vor, dass Deutschland sich auf internationaler und europäischer Ebene für den Abbau und die Beseitigung von Gewalt gegen Frauen einsetzt und insbesondere im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit konsequent auf Maßnahmen zur Bekämpfung geschlechtsbezogener und sexueller Gewalt an Frauen und Mädchen hinwirkt. All diese Maßnahmen und Bemühungen nutzen jedoch nur wenig, wenn wir nicht die Herkunftsländer mit einbeziehen. Genitalverstümmelung wird vorherrschend in afrikanischen Staaten durchgeführt, am häufigsten in Somalia, Ägypten Dschibuti, Sudan und in Guinea. Anhand der Verteilung wird deutlich, dass die Tradition der Genitalverstümmelung keineswegs einer bestimmten Kultur oder Religion zuzurechnen ist. In vielen Staaten ist Genitalverstümmelung gesetzlich verboten, wird aber dennoch praktiziert. Unsere Anhörung hat außerdem sehr deutlich gezeigt, dass die Maxime „Hilfe zur Selbsthilfe“ lauten muss. Denn es macht keinen Sinn, dass wir in diese Länder gehen und den Menschen vor Ort nahelegen, wie sie zu leben haben und wie sie die Genitalverstümmelung zu bekämpfen haben. Dieser Handlungsvorschlag ist auch explizit mit in unseren Antrag aufgenommen worden. Dort heißt es dazu: Bei allen Maßnahmen im Rahmen der Entwicklungshilfe ist die Zusammenarbeit mit allen Generationen zu gewährleisten und die Maxime „Hilfe zur Selbsthilfe“ stets zu beachten. Die Union hat sich in diesem Zusammenhang besonders dafür starkgemacht, dass bei Projekten vor Ort Alternativrituale und Berufsperspektiven für Beschneiderinnen mit berücksichtigt werden. Auch ist es wichtig, die Männer mit ins Boot zu nehmen. Bei vielen Projekten hat sich gezeigt: Wenn auch die Männer über dieses grausame Ritual aufgeklärt werden und sie erfahren, was den Mädchen und Frauen an Körper und Seele angetan wird, lehnen sie oftmals diese Tradition ab. „Es muss aufhören, endlich aufhören“, schrieb die UNO-Sonderbotschafterin Waris Dirie. Mit diesem umfassenden Antrag kommen wir diesem Ziel ein entscheidendes Stück näher.

Angelika Graf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002662, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Genitalverstümmelung ist eine schwere Menschenrechtsverletzung. Wir haben uns schon mehrfach im Deutschen Bundestag mit dieser grausamen Praxis auseinandergesetzt. Trotz internationaler Ächtung der Genitalverstümmelung, der Verurteilung dieser Praxis durch zahlreiche internationale Konventionen, trotz langen und intensiven Engagements von Politikern und Politikerinnen, Nichtregierungsorganisationen, Betroffenen und Journalistinnen im Kampf gegen die Genitalverstümmelung, trotz umfangreicher Projekte im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit und trotz einer von islamischen Gelehrten ausgerufenen Fatwa - Kairo 2006 - ist Genitalverstümmelung immer noch ein gravierendes Problem. Insgesamt sind circa 130 bis 150 Millionen Mädchen und Frauen von Genitalverstümmelung betroffen. Die Zahl der Betroffenen wächst laut einer UNICEF-Studie jährlich um 3 Millionen, das heißt täglich um circa 8 220. Genitalverstümmelung ist ein Ritus, der viele unterschiedliche Rechtfertigungen kennt: von Initiation bis zur Kontrolle über die weibliche Sexualität. Eltern lassen ihre Töchter oftmals aufgrund sozialen Drucks verstümmeln, denn nicht verstümmelte Frauen finden nur schwer einen Ehemann. Sie tun es nicht, weil sie ihren Töchtern gezielt Schlimmes antun wollen, sondern weil eine archaisch-grausame Tradition es so vorschreibt. Dennoch ist ihnen sicher klar, dass die Prozedur brutal ist, viele Mädchen während des Eingriffes oder an den Folgen sterben. Die Mütter wissen außerdem sicherlich aus eigener Erfahrung, dass ihre Töchter lebenslang gesundheitliche Beschwerden haben werden und ihnen durch die Verstümmelung ihr Recht auf eine selbstbestimmte und lustvolle Sexualität genommen worden ist. Wie sich ein Mann fühlt, der tagaus, tagein den sexuellen Akt mit einer verstümmelten Frau ja oft nur mit Gewalt vollziehen kann - darüber kann man als Frau nur spekulieren. Zu Protokoll gegebene Reden Angelika Graf ({0}) Allen, die sich auf politischer Ebene dem Kampf gegen die Genitalverstümmelung verschrieben haben, ist klar: Wir brauchen zur Bekämpfung von Genitalverstümmelung einen integrativen Ansatz, der die Eltern von Anfang an in Aufklärung, Prävention und - wenn die Verstümmelung bereits geschehen ist - in Beratung und Betreuung mit einbezieht. Das Thema muss bei den Betroffenen aus der Tabuecke geholt werden. Dies fordern wir in unserem Antrag ebenso wie die Sensibilisierung derjenigen Berufsgruppen, die, wie Polizei, Justiz, Lehrkräfte, Ärzteschaft sowie Sozial- und Jugendamtsangestellte, von Amts wegen mit bereits verstümmelten oder von Genitalverstümmelung bedrohten Mädchen und Frauen zu tun haben. Obwohl wir bereits einiges über Genitalverstümmelung und ihre Folgen wissen, haben wir immer noch zu wenig Kenntnis darüber, wie wir Menschen in Ländern mit der Tradition der Genitalverstümmelung nachhaltig davon überzeugen können, diese Menschenrechtsverletzung einzustellen. In vielen Ländern insbesondere Afrikas ist die Genitalverstümmelung bereits heute gesetzlich verboten. Sie wird dennoch landauf, landab praktiziert. Deshalb war es uns von der SPD besonders wichtig, die von wissenschaftlichen Institutionen und Nichtregierungsorganisationen gemachten Vorschläge zu offenen Forschungsfragen im Bereich der Prävention in den Antrag mit aufzunehmen. In den letzten Jahren sind zarte Fortschritte gemacht worden: Es gibt in der Entwicklungszusammenarbeit seit einigen Jahren die erfolgreiche Erprobung von alternativen Initiationsriten oder Umschulungsmaßnahmen für Beschneiderinnen. Das sind gute Beispiele. Wir können von ihnen lernen und müssen sie im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit, von humanitären Maßnahmen sowie von Menschenrechtsdialogen weiter entwickeln. Aber auch die Frage, wie wir bei uns lebende Eltern und Mädchen aus denjenigen Ländern erreichen, in denen Genitalverstümmelung weit verbreitet ist - immerhin 30 000 -, müssen wir stärker erforschen, genauso wie die institutionellen Engagements, die dafür notwendig sind. Weil wir die ganze Arbeit nicht allein auf zivilgesellschaftliche Organisationen abschieben sollten, bin ich sehr froh, dass wir von der SPD es geschafft haben, im Antrag eine interministerielle Bund-Länder-NRO-Arbeitsgruppe unter der federführenden Koordination des BMZ festzuschreiben. Das ist einer der wirklich innovativen Ansätze in diesem Antrag. Damit machen wir deutlich, dass viele Ressorts bei der Bekämpfung der Genitalverstümmelung gefordert sind. Diese Arbeitsgruppe sollte sich an der Struktur und Arbeitsweise der beiden Bund-Länder-Arbeitsgruppen „Häusliche Gewalt“ und „Frauenhandel“ des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend orientieren. Aufgabe dieser Gruppe könnte dann sein: erstens die bundesweite zielgruppensensible Aufklärung voranzubringen, zweitens die Vernetzung und einen konstanten interdisziplinären Informationsaustausch der Akteurinnen und Akteure in allen relevanten Berufsgruppen und Organisationen sicherzustellen und drittens fachliche Unterstützung für Projekte auf Landes- und auf Bundesebene zu leisten.

Sibylle Laurischk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003580, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Es ist im Allgemeinen eine große Freude für eine Oppositionsfraktion, zu sehen, wie eigene Vorschläge in Regierungshandeln umgesetzt werden. So können wir für uns in Anspruch nehmen, die Bekämpfung der Genitalverstümmelung von Mädchen und Frauen schon seit längerem zu fordern. Wir waren mit unserer Kleinen Anfrage bereits im April 2006 die Ersten in dieser Legislaturperiode, die dieses Thema auf die Agenda dieses Bundestages gebracht haben. Die Fakten in der Antwort der Bundesregierung auf unsere Fragen stellen die Grundlage unserer heutigen Diskussion dar. Im Dezember 2006 haben wir einen entsprechenden Antrag mit einem ausführlichen Maßnahmenkatalog gestellt. Verwunderlich ist es dabei schon, dass dieser Antrag zusammen mit den Anträgen der anderen Oppositionsfraktionen im Familienausschuss am 12. März 2008 ein ablehnendes Votum erhalten hat, obwohl unsere zentralen Punkte sich im Koalitionsantrag jetzt wiederfinden. In der Beschlussempfehlung finden sich Äußerungen des Bedauerns der Koalitionsvertreterinnen, dass kein überfraktioneller Antrag zustande gekommen sei. Hätten Sie doch das Gespräch gesucht, wir haben es immer wieder angeboten, statt bei uns zum Teil wörtlich abzuschreiben. Schon der Dezember 2006 wäre ein guter Zeitpunkt für eine überfraktionelle Initiative gewesen. Wir hätten dies begrüßt. Die Genitalverstümmelung in ihren verschiedenen Schweregraden stellt eine der gravierendsten Menschenrechtsverletzungen an Frauen und Mädchen dar. Sie ist nie wieder gutzumachen und führt zu lebenslänglichen Traumatisierungen, neben körperlichen Auswirkungen bis hin zum Tod auch zu erheblichen nachhaltigen seelischen Verletzungen. Sie ist an keine Religion gebunden und immer Ausdruck einer patriarchalischen, oft armen Gesellschaft mit Bildungsdefiziten, die meint, Frauen nicht nur in ihren Rechten, sondern auch körperlich beschneiden zu müssen. Die Beschneiderinnen sind zwar Frauen, aber Täter hinter diesen Täterinnen sind Männer. Wenn schätzungsweise 30 000 von in Deutschland lebenden Mädchen und Frauen von Genitalverstümmelung betroffen oder bedroht sind, so ist dies ein Ausdruck auch mangelnder Integration im Inland; sie soll den Frauen die Möglichkeit einer Rückkehr in das Heimatland offenhalten. Von den angekündigten Maßnahmen sind mir folgende besonders wichtig: Die Sensibilisierung der Jugendämter und Gerichte hat bislang schon in Einzelfällen dazu geführt, dass bei drohender Genitalverstümmelung im Heimatland der Eltern oder Großeltern das Aufenthaltsbestimmungsrecht der Sorgeberechtigten eingeschränkt wird. Diese Sensibilisierung muss durch Aus- und Fortbildungsmaßnahmen derjenigen, die mit Genitalverstümmelungsopfern zu tun haben könnten, fortgesetzt und vertieft werden. Notwendig ist gerade in solchen akuten Bedrohungssituationen, dass Schutzräume in ausreichender Zahl und Zu Protokoll gegebene Reden erreichbar vorhanden sind. Frauen- und Kinderschutzhäuser sind also auch aus diesem Grunde finanziell zu sichern. Die Möglichkeit der Stärkung der Opfer durch eine Verjährungshemmung bis zum Erreichen der Volljährigkeit des Opfers habe ich in der Anhörung der Sachverständigen nachgefragt. Das ist nicht nur generalpräventiv nötig, sondern für die Opfer auch die einzige Möglichkeit, ihre Traumatisierung durch das Anstoßen eines Strafverfahrens zu bewältigen. Auch die Überprüfung der Länder Ghana und Senegal im Hinblick auf ihre Einstufung als sichere Herkunftsländer auf deutscher und europäischer Ebene halte ich für notwendig. Die Einrichtung einer interministeriellen Arbeitsgruppe zur Koordination der unterschiedlichen Maßnahmen erscheint durchaus sinnvoll, wenn auch nicht im BMZ, da sie die in Deutschland zu treffenden Maßnahmen koordinieren soll. Vernünftig wäre es hingegen, die entwicklungshilfepolitischen Maßnahmen selbst besser zu vernetzen. Sehr zu begrüßen sind Maßnahmen auch auf internationaler Ebene bei sonstigen Menschenrechtsverletzungen an Frauen, wie die sogenannten Ehrverbrechen und Zwangsverheiratungen. Sie haben die gleiche Ursache wie die Genitalverstümmelung: eine patriarchalische Gesellschafts- und Familienstruktur, die Frauenrechte beschneidet.

Dr. Kirsten Tackmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003853, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Weibliche Genitalverstümmelung ist eine schwere Menschenrechtsverletzung, die Frauen dauerhaft der sexuellen Selbstbestimmung und eines Teils ihrer Persönlichkeit beraubt und das Recht auf körperliche Unversehrtheit in schwerster Form verletzt. Mit der Forderung nach stärkeren und schärferen Gesetzen zur Strafverfolgung allein wird sich diese menschenverachtende Praxis nicht - weder hier noch anderswo - verhindern lassen. Ich bin erfreut, im Antrag der Fraktionen der SPD und der CDU/CSU zu lesen, dass Sie die Sichtweise unserer Fraktion übernommen haben und statt der Einführung eines neuen Straftatbestandes lieber darauf einwirken wollen, dass die bereits bestehende „Strafbarkeit der Verstümmelung weiblicher Genitalien als Körperverletzung der breiten Öffentlichkeit und insbesondere bei den Migrantenorganisationen stärker bekannt gemacht wird und Mädchen und Frauen umfassend über ihre Rechte und über Beratungs- und Zufluchtsmöglichkeiten aufgeklärt werden“. Dass es einigen Expertinnen bei der Forderung nach einem eigenen Straftatbestand nicht vorrangig um die Strafverfolgung ging, wurde ja auch in der öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zu den Anträgen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, der FDP-Fraktion und unserer Fraktion, Die Linke, am 19. September 2007 deutlich. Beispielsweise wurde dafür plädiert, einen eigenen Straftatbestand „eher aus programmatisch abschreckender Perspektive“ zu schaffen, um die Aufklärungsarbeit zu erleichtern. Aus unserer Sicht ist es der wirkungsvollere Weg, wenn die Koalitionsfraktionen jetzt die Aufklärungs- und Beratungsarbeit durch umfassende Öffentlichkeitsarbeit unterstützen wollen. Es ist erst auf den zweiten Blick nachvollziehbar, welche Schwierigkeiten mit einer sensiblen und unbedingt antirassistischen Aufklärungs- und Beratungsarbeit tatsächlich verbunden sind. Es geht um mehr als ein gesellschaftliches Tabu, das verhindert, über Sexualität zu sprechen. Es geht oft um ganz konkrete, individuelle Traumata, die eine Gesprächspartnerin erlitten hat. Während in der europäischen Diskussion davon gesprochen wird, dass die Genitalien der betroffenen Frauen verstümmelt wurden, bezeichnen sich die meisten Afrikanerinnen als „beschnitten“. Uns geht es vor allem auch um einen kultursensiblen Umgang. Das bedeutet, zu verstehen, dass afrikanische Frauen ihren Töchtern nicht nur nicht schaden wollen. Vielmehr wollen sie ihnen „etwas Gutes tun“. Denn Genitalverstümmelung ist in vielen ethnischen Gruppen die Vorbedingung für die Aufnahme von Frauen in die soziale Gemeinschaft. Nur so erhalten sie die Chance, über eine Ehe ihren Lebensunterhalt abzusichern. Das kann, nein, das muss man ächten - aber es erfordert eben auch den Bruch mit uralten Bräuchen und Ritualen. Im Grunde geht es um nichts weniger als die notwendige Veränderung der sozialen Stellung der Frau in diesen Gesellschaften und Communities. Der Ruf nach härteren Strafen ist angesichts dieser Herkulesaufgabe ebenso hilfwie erfolglos. Eine solche anspruchsvolle Beratungs- und Aufklärungsarbeit braucht viel Zeit, Geld und muttersprachliche Mitarbeiterinnen. Bislang wird diese Arbeit von einzelnen, meist ehrenamtlichen Aktivistinnen und Beratungsstellen geleistet. Ihre Arbeit muss dringend unterstützt und zu einem echten Beratungsnetz ausgebaut werden. Hier sind die Forderungen der Koalitionsfraktionen allerdings erschreckend dünn ausgefallen. Es ist bei weitem nicht genug, wenn sich die Bundesregierung gemeinsam mit den Bundesländern dafür einsetzt, „dass für Betroffene Beratungs- und sonstige Unterstützungsleistungen auch weiterhin angeboten werden“. Hier ist die Bundesregierung vielmehr in der Pflicht, endlich eine zentrale Stelle zur Koordination und Vernetzung der Initiativen gegen Genitalverstümmelung zu schaffen. Auch eine weitere wichtige Forderung wurde in der Anhörung bestätigt: Es ist absolut notwendig, dass Migrantinnen bzw. Migranten beim Arztbesuch kostenfrei eine Dolmetscherin in Anspruch nehmen können. Es kann nicht sein, dass etwa männliche Verwandte als „Dolmetscher“ zur gynäkologischen Untersuchung einer genitalverstümmelten Frau hinzugezogen werden. Dazu schweigt die Regierungskoalition aber lieber, denn dass hieße ja, sich ernsthafte Gedanken zu machen, wie ein effektives Hilfesystem aufgebaut und finanziell abgesichert werden kann. Abschließend komme ich zu einem letzten wichtigen Punkt, der weit über die notwendige Beratung und Aufklärung hinausgeht. Selbst wenn afrikanische Frauen über die schwerwiegenden gesundheitlichen Folgen informiert sind und ihre Töchter vor einer Genitalverstümmelung schützen wollen - gegen patriarchale gesellschaftliche Normen können sie sich nur auflehnen, wenn sie eigenständig für ihre eigene und die Existenz ihrer Kinder sorgen können. Frau Faduma Korn von Forward Germany e. V. hat es in der Anhörung auf den Punkt gebracht: Zu Protokoll gegebene Reden Mütter aus Afrika beschneiden ihre Kinder nicht, weil sie Spaß daran haben, sondern weil sie keine andere Möglichkeit sehen, ihnen eine sichere Zukunft zu geben. Meine Fraktion, Die Linke, hat in ihrem eigenen Antrag „Weibliche Genitalverstümmelung verhindern Menschenrechte durchsetzen“ - Drucksache 16/4152 daher die Bundesregierung ausdrücklich aufgefordert, die vorhandene Armut in Ländern, in denen weibliche Genitalverstümmelung verbreitet ist, durch entsprechende Projekte und Hilfsangebote zu bekämpfen und durch einen besseren Sozialstandard die Lebenssituation der von Genitalverstümmelung betroffenen und bedrohten Kinder und Frauen zu verbessern, aber auch, die finanzielle Unabhängigkeit aller sich in Deutschland aufhaltenden betroffenen Frauen und Mädchen zu sichern. Denn wer diese Menschenrechtsverletzung wirksam bekämpfen will, muss vor allem dem niedrigen sozialen Status der betroffenen Frauen und ihrer wirtschaftlichen Abhängigkeit entgegenwirken, und zwar nicht nur „jenseits in Afrika“, sondern ganz konkret hier und heute in Deutschland, in Berlin, München und anderswo.

Irmingard Schewe-Gerigk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Anderthalb Jahre ist es her, da haben wir Grünen im Bundestag einen Antrag vorgelegt, mit dem wir die Regierung aufforderten, Frauen und Mädchen auch in Deutschland besser vor Genitalverstümmelung zu schützen. Fast ein Jahr ist es her, da haben auf einer Anhörung im Ausschuss die Expertinnen unsere Forderungen weitgehend bestätigt. Vor wenigen Wochen wurde dieser Antrag trotzdem von SPD und CDU/CSU im federführenden Ausschuss abgelehnt. Soweit zu unserer Arbeit. Eigene Vorschläge der Koalition zu dem Thema mussten wir bislang ja vermissen. Aber jetzt haben Sie es doch noch geschafft, sich zu einem Antrag zusammenzuraufen. Dass Sie dafür anderthalb Jahre brauchten, ist ja zumindest in der Frauenpolitik nichts Neues. Dass Sie diese Schwierigkeiten jetzt schon in ihren Pressemitteilungen kundtun, hat allerdings eine neue Qualität. Auch sonst haben Sie uns mit Ihren vollmundigen Presseankündigungen ja ziemlich neugierig auf Ihren Antrag gemacht. Weitreichender und vielseitiger als alle Oppositionsanträge zusammen sollte er sein. „Wir reden nicht nur, sondern handeln“, haben Sie geschrieben - na, das wäre bei den Frauenrechten aber wirklich einmal etwas Neues! Der Antrag ist demgegenüber leider eine ziemliche Ernüchterung. „Viel hilft viel“ scheint Ihr Motto zu sein. Zahlreiche Zeilen wurden mit schönen Worten gefüllt. Von den insgesamt 18 Forderungen sind jedoch nur wenige konkret, und bei diesen entdecke ich viele Parallelen zu unserem grünen Antrag. Das zeigt doch, dass Sie durchaus lernfähig sind, meine Damen und Herren, und nicht alle Mühen der Opposition vergeblich. So begrüßen wir, dass Sie unsere Forderung übernommen haben, sicherzustellen, dass Länder, in denen Genitalverstümmelung in einem nicht unerheblichen Ausmaß stattfindet, nicht als sichere Herkunftsländer einzustufen sind. Ausdrücklich nennen Sie Ghana und Senegal. Da wollen Sie prüfen. Aber da Sie ja angekündigt haben, zu handeln, nehmen wir Sie beim Wort und erwarten, dass zumindest Ghana zügig von der Liste der sicheren Herkunftsländer gestrichen wird. Auch dass Sie die Verlängerung der Verjährungsfrist fordern, finden wir gut. Aber dafür müssen die Beteiligten erstmal wissen, dass Genitalverstümmelung in Deutschland strafbar ist - und hier kommen wir leider zum Knackpunkt Ihres Antrags: Unserer Hauptforderung, die Genitalverstümmelung ausdrücklich ins Strafgesetzbuch aufzunehmen, sind Sie leider nicht gefolgt. Dabei haben beinahe alle Expertinnen dies bei der Anhörung im Bundestag mit Nachdruck gefordert. Darin waren sie sich völlig einig: Eine ausdrückliche Nennung im Strafgesetzbuch wäre ein klares Signal an Ärztinnen, Eltern und Opfer: Eine solche Menschenrechtsverletzung wird von unserem Staat nicht geduldet. Es kann doch nicht sein, dass die Genitalverstümmelung weiter nur als einfache Körperverletzung strafbar ist. Sie können einen Verstoß gegen das Grundrecht auf sexuelle Selbstbestimmung nicht mit einer Ohrfeige gleichsetzen, meine Damen und Herren! Mit einer Ankündigung haben Sie immerhin recht behalten: Vielseitig ist Ihr Antrag - aber ebenso unkonkret und wolkig. Herr Singhammer, Frau Noll, Sie haben in Ihrer Pressemitteilung ja angekündigt, nicht reden, sondern handeln zu wollen. Dann lassen Sie uns aus Ihren schönen Worten doch auch Taten machen! Im Rahmen der Ausschussberatungen lässt sich sicherlich noch etwas konkretisieren. Gerade bei diesem Thema wäre es doch gut, wenn wir über Parteigrenzen hinweg zusammenarbeiten, um Frauen vor dem grausamen Ritual der Genitalverstümmelung zu schützen.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/9420 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir sind damit am Schluss der heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 6. Juni 2008, 9 Uhr, ein. Ich wünsche allen Gästen auf den Tribünen, allen Kolleginnen und Kollegen und auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern einen schönen Abend. Die Sitzung ist geschlossen.