Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alle
herzlich.
Bevor wir in die heutige Tagesordnung eintreten,
habe ich einige Mitteilungen zu machen:
Ich beginne mit Geburtstagsglückwünschen. Die Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk hat am 15. Mai ihren
60. Geburtstag gefeiert und der Kollege Willy Wimmer
am 18. Mai seinen 65. Im Namen des ganzen Hauses
gratuliere ich beiden herzlich und wünsche alles Gute.
({0})
In der vorletzten Woche haben die Kollegin Anja
Hajduk und der Kollege Bernward Müller auf ihre
Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet,
nachdem sie Mitglied des Senats in Hamburg bzw. der
Landesregierung in Thüringen geworden sind. Als
Nachfolger begrüße ich sehr herzlich den Kollegen
Manuel Sarrazin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und den Kollegen Christian Hirte in der CDU/
CSU-Fraktion. Herzlich willkommen und gute Zusammenarbeit!
({1})
Es gibt eine interfraktionelle Vereinbarung, nach der
die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern ist:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen
der CDU/CSU und der SPD:
Berichte aus den Unterlagen der Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen, Marianne
Birthler, über vertrauliche Gespräche, die
Gregor Gysi 1979/80 als DDR-Rechtsanwalt
mit Mandanten geführt hat
({2})
ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
({3})
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ina
Lenke, Sibylle Laurischk, Miriam Gruß, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Faire Chancen für private und privat-gewerbliche Anbieter bei der Kinderbetreuung Ohne weiteres Zögern Entwurf des Kinderförderungsgesetzes vorlegen
- Drucksache 16/8406 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({4})
Innenausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Hüseyin-Kenan Aydin, Heike Hänsel, Karin
Binder, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Hermes-Bürgschaft für das Ilisu-Staudammprojekt zurückziehen
- Drucksache 16/9308 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({5})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Hermann Otto Solms, Carl-Ludwig Thiele,
Frank Schäffler, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Mehr Netto für alle
- Drucksache 16/9310 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({6})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Bettina
Herlitzius, Britta Haßelmann, Markus Kurth,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Redetext
Präsident Dr. Norbert Lammert
Barrierefreiheit und demografischer Wandel Auf die Herausforderungen für den Tourismus reagieren
- Drucksache 16/9315 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Tourismus ({7})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
e) Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht über die Auswirkungen von Rabattvereinbarungen für Arzneimittel, insbesondere auf die Wirksamkeit der Festbetragsregelung
- Drucksache 16/9284 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
ZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Unterschiedliche Meinungen in der Bundesregierung zum Energie- und Klimapaket
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Silke
Stokar von Neuforn, Kerstin Andreae, Volker
Beck ({8}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Persönlichkeitsrechte abhängig Beschäftigter
sichern - Datenschutz am Arbeitsplatz stärken
- Drucksache 16/9311 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({9})
Innenausschuss ({10})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Federführung strittig
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus
Kurth, Kerstin Andreae, Birgitt Bender, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Die gesetzliche Unfallversicherung fit für die
Dienstleistungsgesellschaft machen
- Drucksache 16/9312 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({11})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Karl
Addicks, Hellmut Königshaus, Cornelia Pieper,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Tropische Armutskrankheiten stärker in der
deutschen Entwicklungszusammenarbeit be-
rücksichtigen - Forschungsanstrengungen aus-
weiten
- Drucksache 16/9309 -
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Dagmar Enkelmann, Dorothée Menzner,
Dr. Gesine Lötzsch, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion DIE LINKE
Zukunft der Bahn für die Menschen sichern -
Bahnprivatisierung stoppen
- Drucksache 16/9306 -
ZP 8 Weitere Wahlen zu Gremien
a) Wahlvorschläge der Fraktionen CDU/CSU, SPD,
FDP, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN
Wahl von Mitgliedern in den Stiftungsrat der
„Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Dikta-
tur“
- Drucksache 16/9352 -
b) Wahlvorschlag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Wahl eines Mitglieds des Gremiums gemäß § 3
des Bundesschuldenwesengesetzes
- Drucksache 16/9353 -
c) Wahlvorschlag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Wahl eines vom Deutschen Bundestag zu ent-
sendenden Mitglieds der gemeinsamen Kom-
mission zur Modernisierung der Bund-Länder
Finanzbeziehungen
- Drucksache 16/9354 -
d) Wahlvorschlag der Fraktion der CDU/CSU
Wahl eines Mitglieds des Verwaltungsrates der
Deutschen Nationalbibliothek gemäß § 6
Abs. 1 Nummer 1 des Gesetzes über die Deut-
sche Nationalbibliothek
- Drucksache 16/9355 -
e) Wahlvorschlag der Fraktion der CDU/CSU
Wahl eines Mitglieds des Verwaltungsrates der
Filmförderungsanstalt gemäß § 6 des Filmförderungsgesetzes ({12})
- Drucksache 16/9356 -
f) Wahlvorschlag der Fraktion der CDU/CSU
Wahl eines Mitglieds des Stiftungsrates der
„Deutschen Stiftung Friedensforschung ({13})“
- Drucksache 16/9357 Dabei soll von der Frist für den Beginn der Beratungen - soweit erforderlich - abgewichen werden.
Die Tagesordnungspunkte 10 b, 24 b und 34 müssen
abgesetzt werden.
Schließlich mache ich noch auf zwei nachträgliche
Ausschussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam:
Präsident Dr. Norbert Lammert
Der in der 145. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
({14}) zur Mitberatung überwiesen werden.
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuches sowie anderer Vorschriften
- Drucksache 16/8100 Überwiesen:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({15})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Der in der 160. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({16}) zur
Mitberatung überwiesen werden.
Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried
Nachtwei, Alexander Bonde, Markus Kurth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Oslo-Prozess zum Erfolg führen - Jegliche
Streumunition ächten
- Drucksachen 16/8909 überwiesen:
Auswärtiger Ausschuss ({17})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? Das sieht so aus. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe unseren Tagesordnungspunkt 3 auf:
Vereinbarte Debatte
60 Jahre Israel
Die Fraktionen haben sich darauf verständigt, für die
Debatte eineinhalb Stunden vorzusehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
der Kollege Peter Struck für die SPD-Fraktion.
({18})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Vor 60 Jahren hat sich die
Sehnsucht von Millionen von Juden in aller Welt erfüllt die Sehnsucht nach einer Heimstatt, die der jüdischen
Leidensgeschichte von Ausgrenzung und Vertreibung,
Flucht und Exil ein Ende setzen würde.
Diese Leidensgeschichte hat in den Jahren 1933 und
folgende ihren schrecklichen Höhepunkt gefunden. Mit
der systematischen Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden während der Nazizeit haben die Deutschen unendliche Schuld auf sich geladen - eine Schuld,
die niemals vergeht. Für viele Millionen Juden in Europa
kam die Gründung des Staates Israel zu spät. Für viele
der Überlebenden aber war der neue Staat ein Signal der
Hoffnung und des Aufbruchs, ein Ort der Zuflucht.
Die Erinnerungsberichte von Zeitzeugen bleiben auch
heute noch bewegend. Sie führen vor Augen, mit welch
hoffnungsvoller Erwartung Juden in aller Welt an den
Radioempfängern mitgefiebert haben, als die Vereinten
Nationen im November 1947 über den Teilungsplan entschieden haben - jenen Plan, der den Weg für die Gründung des Staates Israel frei gemacht hat. Wer die Memoiren der Staatsgründer liest, der kann verstehen, wie
groß die Freude und die Erleichterung darüber waren,
dass sich der Traum Theodor Herzls mit der Gründung
des Staates Israel im Mai 1948 erfüllt hat. Man spürt bis
heute den Stolz der israelischen Juden auf ihren Staat
und die Entschlossenheit, ihn nach innen zu stärken und
nach außen gegen seine Feinde zu verteidigen. Was in
den Jahrzehnten nach der Staatsgründung geschaffen
wurde, zeugt von diesem Stolz und dieser Entschlossenheit. Israel ist heute eine vitale Demokratie und ein blühendes Land voller Dynamik und Innovationskraft.
Meine Damen und Herren, Israel konnte auf seinem
Weg immer auf die feste Unterstützung Deutschlands
rechnen. Die Verbrechen der Nazis haben eine immerwährende Verantwortung der Deutschen für den jüdischen Staat begründet. Diese Verantwortung war und ist
Teil deutscher Staatsräson.
({0})
Wir können feststellen, dass in dieser Frage bei den
Volksparteien, aber auch aufseiten der FDP und der Grünen große Einigkeit herrscht.
Für uns als Deutsche war deshalb das Jahr 2005, als
wir den 40. Jahrestag der Aufnahme diplomatischer
Beziehungen zwischen Deutschland und Israel feiern
konnten, vielleicht sogar ein noch bedeutenderes Datum
als das diesjährige Gründungsjubiläum. Dass das Volk
der Opfer gerade einmal 20 Jahre nach dem Holocaust
diesen Schritt auf das Volk der Täter zugegangen ist, war
eine beispiellose Geste, für die wir als Deutsche zutiefst
dankbar sein müssen.
({1})
Unsere Beziehungen haben sich seit damals Schritt für
Schritt weiterentwickelt und vertieft: Wir sind enge
Wirtschaftspartner, wir kooperieren in Wissenschaft und
Forschung, es gibt einen regen kulturellen Austausch.
Dennoch, so alltäglich der Umgang miteinander über
die Jahrzehnte glücklicherweise geworden ist, wird unser Verhältnis zu Israel niemals normal im üblichen
Wortsinne sein. Die Vergangenheit wird nicht vergehen.
Um es mit einem Zitat Johannes Raus aus seiner Rede
vor der Knesset im Jahre 2000 zu sagen:
Das Verhältnis zwischen unseren Ländern wird für
immer ein besonderes sein. Im Wissen um das Geschehene halten wir die Erinnerung wach. Mit den
Lehren aus der Vergangenheit gestalten wir gemeinsame Zukunft. Das ist deutsch-israelische Normalität.
Meine Damen und Herren, diese Rede von Bundespräsident Johannes Rau vor der Knesset im Jahr 2000 war
zweifellos ein historisches Ereignis. Das erste Mal war
ein Deutscher eingeladen, um vor dem Parlament des israelischen Volkes in der Sprache der Täter um Vergebung zu bitten. Johannes Rau hat mit seiner Rede dem
deutsch-israelischen Verhältnis einen großen, einen bleibenden Dienst erwiesen.
Auch Sie, Frau Bundeskanzlerin, die Sie vor wenigen
Wochen die Ehre hatten, als erste Kanzlerin vor der
Knesset zu reden, und Sie, Herr Außenminister, haben es
geschafft, unsere beiden Völker noch ein Stück näher zusammenrücken zu lassen. Die regelmäßigen Regierungskonsultationen, die Sie mit unseren israelischen
Freunden vereinbart haben, markieren einen weiteren
Meilenstein in unseren Beziehungen zu Israel.
({2})
60 Jahre Israel sind zweifellos eine Erfolgsgeschichte eine Erfolgsgeschichte allerdings, die mit einem schweren Makel behaftet bleibt. Auch 60 Jahre nach seiner
Gründung kann sich Israel seiner Existenz nicht sicher
sein. Beinahe täglich drohen die extremistischen Feinde,
den jüdischen Staat zu vernichten. Wir dürfen das nicht
widerspruchslos hinnehmen. Das Existenzrecht Israels
steht für uns außerhalb jeder Diskussion.
({3})
Dieses Recht darf von niemandem infrage gestellt werden, weder vom Iran noch von anderen radikalen Kräften in der Region. Wir werden dem entschieden entgegentreten.
({4})
Es ist das legitime Recht Israels, sich gegen solche Bedrohungen zu wehren und zu verteidigen.
Aber eines ist auch klar: Die Situation, wie sie ist,
kann letztlich in niemandes Interesse liegen: nicht im Interesse Israels, das sich fortwährender Bedrohung ausgesetzt sieht und für die Gewährleistung seiner Sicherheit
enorme Anstrengungen unternehmen muss, und schon
gar nicht im Interesse der Palästinenser, deren Sehnsucht
nach Frieden, Wohlstand und einem eigenen Staat bis
heute unerfüllt geblieben ist. Alle Akteure in der Region
sind deshalb aufgerufen, die hoffnungsvollen Zeichen,
die wir im Augenblick sehen - im Libanon, im israelisch-syrischen Verhältnis und auch in Gaza -, zu erkennen und die sich bietende Chance auf echte Fortschritte
in Richtung Frieden zu nutzen. Das erfordert von allen
Seiten viel Mut und Entschlossenheit. Denn es gilt, auch
die jeweils eigene Bevölkerung von unpopulären Entscheidungen zu überzeugen. Aber nur wenn die politischen Führungen in der Region selbst den Willen und
die Kraft aufbringen, wird es einen dauerhaften Frieden
geben können.
Wir als Deutsche sollten uns angesichts unserer Geschichte mit allzu wohlfeilen Vorschlägen zurückhalten.
Aber wir sollten helfen, wo wir können und wo wir gefragt sind, um zu einer Friedenslösung beizutragen.
Den Frieden im Nahen Osten,
so hat es Johannes Rau vor der Knesset formuliert,
können nur die Beteiligten selber schließen. Aber
bei der Gestaltung des Friedens kann und will auch
Europa Ihnen helfen.
Zu diesem Versprechen stehen wir uneingeschränkt.
({5})
Ich möchte zum Abschluss für meine Fraktion an die
israelischen Freunde gewandt hinzufügen: Seien Sie versichert, dass wir, wie schon in der Vergangenheit, auch
in Zukunft an Ihrer Seite stehen.
({6})
Das Wort erhält nun der Kollege Dr. Guido
Westerwelle, FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! 60 Jahre Israel, das ist ein Grund zur Freude und
zum Feiern, in Israel und besonders auch bei uns in
Deutschland. Wir feiern dieses Jubiläum nicht nur hier
im Deutschen Bundestag mit dieser Debatte, sondern
auch in vielen Veranstaltungen in unserer Republik mit
unseren israelischen Freunden, denen wir von Herzen zu
ihrem Staatsjubiläum gratulieren. Ohne dem Herrn Bundestagspräsidenten vorgreifen zu wollen, erlaube ich
mir, den Herrn Gesandten Mor stellvertretend von dieser Stelle aus herzlich zu begrüßen und Ihnen zu gratulieren.
({0})
Meine Damen und Herren, wir alle spüren das:
60 Jahre Israel, das ist für uns Deutsche kein Jubiläum
wie jedes andere. Aber es ist eine schöne Gelegenheit,
einen Augenblick innezuhalten und sich klarzumachen,
dass, wie es der Kollege Struck zu Recht formuliert hat,
das deutsch-israelische Verhältnis, die guten freundschaftlichen Beziehungen Teil der Staatsräson dieser Republik sind. Bei allem, was wir an kontroversen Debatten in diesem Hohen Hause führen und was die
Bürgerinnen und Bürger an den Fernsehschirmen in den
Abendnachrichten und am nächsten Tag in den Zeitungen beschäftigt, ist es vielleicht ein gutes Zeichen, dass
sie auch einmal erkennen, dass uns, wenn es um die großen Linien geht, in diesem Hohen Hause weit mehr verbindet, als uns trennt.
({1})
Ich denke, es ist auch an uns, die Aufbauleistung der
Politikergenerationen, die vor uns Verantwortung getragen haben, zu würdigen. Denn dass uns heute eine von
politischer Gemeinsamkeit, Offenheit und Intensität geprägte Freundschaft geschenkt wird, ist etwas, worauf
vor 60 Jahren niemand ernsthaft hätte hoffen können.
Wenn man sich vorstellt, welche Leistung hier von der
ersten Politikergeneration nach der Schoah erbracht
wurde, dann wirken unsere Debatten - so leidenschaftlich und voller Überzeugung wir sie auf allen Seiten
auch führen - im Vergleich dazu gelegentlich klein. Wir
wollen festhalten, dass das deutsch-israelische Verhältnis, die deutsch-israelische Freundschaft, die guten gemeinsamen Beziehungen immer in guten Händen gewesen sind, bei allen Bundesregierungen seit Gründung der
Bundesrepublik Deutschland. Das gilt von Konrad
Adenauer über Theodor Heuss, Willy Brandt und Walter
Scheel bis zur heutigen Regierung Merkel/Steinmeier,
und es tut auch einer Opposition keinen Abbruch, wenn
das hier ausdrücklich anerkannt wird.
({2})
Die Aussöhnungsleistung, die von der Kriegs- und
Nachkriegsgeneration in Israel und Deutschland erbracht
wurde, ist das große Geschenk an die Generation von
heute. Man muss sich bewusst machen, in welcher Zeit
und nach welcher Menschheitskatastrophe, von deutschen Händen bewirkt, diese Aussöhnung begonnen
wurde.
Was Deutschland und Israel heute verbindet, ist aber
nicht nur das Wunder der Aussöhnung, sondern die echte
Partnerschaft zwischen zwei Demokratien, die uns von
Tag zu Tag trägt. Wir schätzen Israel als Partner, der die
gleichen Traditionen und Werte in sich trägt und der die
einzige wirklich voll ausgeprägte Demokratie in der gesamten Region ist. Was unsere Freundschaft mit Israel
ausmacht, ist eben nicht nur die Verantwortung, die uns
unsere Geschichte mitgibt, sondern auch die Wertegemeinschaft unter Demokraten.
Vielen jungen Menschen, die heute zur Schule gehen,
muss man nachdrücklich sagen: Es geht nicht nur um
eure persönliche Verantwortung, der ihr euch aufgrund
der Geschichte nicht entziehen könnt. Es geht auch um
unser eigenes und um das europäische Interesse. Es ist
nicht nur unsere moralische Verantwortung, die uns zu
guten deutsch-israelischen Beziehungen veranlasst. Es
ist auch unser eigenes Interesse, weil Israel die einzige
Demokratie der gesamten Region ist. Es gibt eine Wertegemeinschaft unter Demokraten.
({3})
Die Freundschaft zwischen Deutschland und Israel
wird nicht allein durch Regierungen, Parlamente und
kleine Zirkel stabil, so wichtig deren Wirken ist. Die
heutige Freundschaft zwischen Deutschland und Israel
geht tief in die Gesellschaften hinein. Das ist der erfreulichste und wichtigste Punkt, den man heute sagen kann.
Mehr als 100 Partnerschaften zwischen deutschen und
israelischen Städten, Hochschulkooperationen, ein sehr
reger Jugendaustausch und jedes Jahr viele Tausend Besucher sind - mit Verlaub gesagt - mehr wert als das,
was Regierungen richtigerweise leisten oder auch leisten
können. Die Freundschaft der Völker ist es, die uns
heute trägt, und nicht nur eine Freundschaft von Regierungen.
Die Tatsache, dass in Deutschland die jüdische Kultur wieder einen festen Platz hat und eine unschätzbare
Bereicherung darstellt, ist der beste Ausdruck für diese
tiefe Verbundenheit, die uns heute trägt. Was wir anlässlich der Staatsgründung Israels vor 60 Jahren an Veranstaltungen quer durch ganz Deutschland erleben, ist ein
beeindruckendes Beispiel für diese enge gesellschaftliche Verbundenheit. Herr Mor, genau darauf kommt es
natürlich auch an.
({4})
Ich möchte mit einer kurzen persönlichen Betrachtung schließen. Wie viele von Ihnen - ich vermute, fast
alle - habe auch ich bereits als junger Mensch - ich war
damals Mitte zwanzig - Israel bereisen dürfen. Wir waren damals sehr beeindruckt von den vielen historischen
Stätten der Altstadt Jerusalems und von anderen Orten in
Israel sowie von der Freundlichkeit und Herzlichkeit der
Menschen und natürlich von vielem anderen mehr.
Am besten erinnere ich mich persönlich an den Moment, als ich auf den Golan-Höhen stand und - im übertragenen Sinne - das ganze Land so überblicken konnte,
dass ich das Gefühl hatte, alles wäre zum Greifen nahe.
Denn Israel ist ja viel kleiner, als es uns abends in der
Tagesschau auf den Landkarten erscheint. Ich spreche
jetzt nicht über die völkerrechtliche Problematik der Golan-Höhen, was mich als Studenten vielleicht theoretisch, aber weniger praktisch beschäftigt hat. Ich spreche
einfach nur von diesem Gefühl, das ich auf den GolanHöhen empfand. Wenn man dort steht, dann versteht
man auch die Verletzlichkeit dieses Staates.
({5})
Das ist es, was das Leben der Menschen in Israel prägt:
die Verletzlichkeit. Wenn man diese Verletzlichkeit und
das Gefühl für die Verletzlichkeit kennt und wenn man
lernt, dafür sensibel zu sein, dann ist eine wichtige
Grundlage für gute Beziehungen geschaffen.
Uns ist bewusst: Wir haben - so hat es Herr Kollege
Struck schon gesagt, und ich bin sicher, auch Sie, Herr
Kollege Kauder, und andere Redner nach mir werden
dies betonen - eine gemeinsame Verantwortung für die
Existenz Israels. Unser gemeinsames Ziel liegt darin,
eine politisch solide abgesicherte Basis für Frieden und
Sicherheit der Menschen in Israel zu schaffen. Daran
wollen wir mitwirken. Wir wollen natürlich aber auch
nicht vergessen: Dauerhaften Frieden wird es in dieser
Region nur geben, wenn die einen das Existenzrecht
Israels und die anderen das Selbstbestimmungsrecht der
Palästinenser wirklich anerkennen und sich auch so verhalten.
Die Aussöhnungsleistung nach Ende des Zweiten
Weltkrieges war eine große humane Anstrengung. Es ist
an uns, dies fortzuführen. Es ist an uns, sich dieser Verantwortung für die Zukunft bewusst zu sein. Ich habe gar
keinen Zweifel daran, dass sich die große Mehrheit unseres Volkes und selbstverständlich auch die große
Mehrheit der politischen Entscheidungsträger dieser
Verantwortung für die Geschichte, für die Gegenwart
und für die Zukunft in vollem Umfange bewusst sind.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Nächster Redner ist Volker Kauder für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion gratuliert Israel, seinen Bürgerinnen und Bürgern und Ihnen, Herr
Gesandter Mor, der Sie heute den Staat Israel vertreten,
recht herzlich zum 60-jährigen Jubiläum. Wir gratulieren
als Freunde. Es ist ein schönes Symbol der Freundschaft,
dass heute nicht nur der Vertreter Israels auf der Tribüne
Platz genommen hat, sondern auch der Präsident der
Deutsch-Israelischen Gesellschaft, unser früherer Kollege Jochen Feilcke. Dieses schöne Symbol zeigt, wie
wir in den Jahren zusammengewachsen sind und dass
wir gemeinsame Interessen und Ziele vertreten.
Wenn wir heute wie selbstverständlich sagen, dass
Deutschland und Israel eine tiefe Freundschaft verbindet, so war dies beim Start gar nicht selbstverständlich.
Der brutale Naziterror und die Schoah standen trennend
zwischen uns. Da bedurfte es schon zweier mutiger und
besonnener Männer wie Konrad Adenauer und David
Ben-Gurion, um hier einen neuen Schritt zu machen, einen neuen Weg zu wagen. Für beide war es nicht einfach. Konrad Adenauer war es ein Herzensanliegen, die
Versöhnung zu erreichen. Er wusste ganz genau, dass
Voraussetzung dafür war, dass die Schuld für das bedingungslos anerkannt wurde, was den Juden in Europa im
Dritten Reich im Namen der Deutschen zugestoßen ist.
Voraussetzung dafür war auch, dass wir über die konkrete geschichtliche Zeit hinaus dauerhaft Verantwortung dafür übernommen haben, dass so etwas nie wieder
passiert. Es war David Ben-Gurion, der die ausgestreckte Hand entgegengenommen hat und in seinem
Land dafür werben musste, dass wir nur so eine gemeinsame Zukunft haben.
Wie lang der Weg dann noch war, wissen wir. Es hat
bis 1965 gedauert, bis wir diplomatische Beziehungen
aufnehmen konnten. Die Regierungen in Deutschland
und die demokratischen Parteien haben diesen Weg immer konsequent begleitet - mit dem bisher vorläufigen
Höhepunkt, dass mit Angela Merkel ein deutscher Regierungschef in einer beeindruckenden Rede und in einem historischen Auftritt vor der Knesset gesprochen
hat. Herzlichen Dank dafür, was in dieser Rede gesagt
worden ist und was uns alle, die Welt und Israel, beeindruckt hat!
({0})
Uns verbindet mit Israel nicht nur die Geschichte. Wir
vertreten auch dieselben Werte. Israel - dies ist bereits
gesagt worden - ist die einzige Demokratie im Nahen
Osten. Israel ist eine Demokratie, in der Pressefreiheit
gewährleistet wird. Gerade im Nahen Osten ist von besonderer Bedeutung: Israel gewährleistet Religionsfreiheit. Deshalb: Wer sich zum Existenzrecht Israels bekennt, bekennt sich auch zur christlich-jüdischen
Tradition, zu der Israel gehört, und zu den gemeinsamen
Werten, die Demokratien verbinden.
({1})
Die Menschen in dieser Demokratie - das kann sich
keiner von uns vorstellen - konnten in den vergangenen
60 Jahren keinen einzigen Tag wirklich in Frieden leben.
Ständig wurden die Demokratie, der Frieden und die
Freiheit bekämpft. Jeden Tag mit Gewalt, mit Selbstmordattentaten rechnen zu müssen - das ist Alltag in
Israel. Deswegen ist völlig klar, dass es im Nahen Osten
nur dann Frieden geben kann, wenn das Existenzrecht
Israels anerkannt wird, das für uns zur Staatsräson der
Bundesrepublik Deutschland gehört.
({2})
Nicht Israel gefährdet den Frieden im Nahen Osten,
sondern die Staaten, die das Existenzrecht Israels nicht
anerkennen; die allermeisten davon grenzen übrigens an
Israel. Nicht Israel gefährdet den Frieden im Nahen
Osten, sondern ein Land wie der Iran, der atomar aufrüstet, dessen Staatschef den unglaublichen Satz sagte, dass
Israel von der Landkarte getilgt werden müsse. Mit solchen Reden, mit solchen Vorstellungen wird es im Nahen Osten auf gar keinen Fall Frieden geben. Auch diejenigen gefährden den Frieden, die glauben, ihre
Vorstellungen mit Selbstmordattentaten in die Tat umsetzen zu können. Wir wissen aus leidvollen Erfahrungen,
die wir in der Geschichte und der Gegenwart gesammelt
haben, dass mit Gewalt kein Frieden erreicht werden
kann, sondern nur im politischen Dialog. Wir wissen,
dass jeder auf Maximalforderungen verzichten und man
aufeinander zugehen muss. Diesen Weg des Dialogs
werden Deutschland und Europa mit ganzer Kraft begleiten.
({3})
Neben dem Existenzrecht Israels sehen wir aber auch
die Wünsche der Palästinenser. Israel hat sich darüber
gefreut, endlich in einem eigenen Staat die Zukunft gestalten zu können. So wie wir diesen Wunsch anerkannt
haben, erkennen wir natürlich auch den Wunsch der Palästinenser an, in einem eigenen Staat die Zukunft zu geVolker Kauder
stalten. Den Menschen in Palästina muss man aber sagen: Lassen Sie sich nicht von Terroristen, von
Radikalen, von Extremisten vertreten, sondern setzen
Sie darauf, dass man im Gespräch zueinanderkommt.
Niemand hat es treffender und pointierter formuliert als
der Historiker Arno Lustiger:
Wenn die Araber die Waffen endlich niederlegen,
wird es keinen Krieg mehr geben. Aber wenn Israel
die Waffen niederlegt, wird es kein Israel mehr geben.
Das ist die Situation im Nahen Osten.
Der Nahostkonflikt darf nicht die Sicht auf das verstellen, was in Israel in 60 Jahren geleistet wurde: Israel
hat die Wüste zum Blühen gebracht; Israel ist ein Land
mit moderner Technologie; Israel ist ein Land von Wissenschaft und Forschung; Israel ist ein Land mit einer
hohen Kultur - ich nenne nur Kunst, Literatur und Musik.
Es ist eine der beglückenden Erfahrungen der Nachkriegsgeneration in Deutschland, dass nach Naziterror
und Schoah in Deutschland und vor allem in Berlin, Herr
Gesandter Mor, wieder pulsierendes, aktives jüdisches
Leben entstanden ist.
({4})
Bei allen Problemen, die die jüdischen Gemeinden haben, sehen wir mit großer Freude die Kraft, die darin
steckt. Wir unterstützen jüdisches Leben in Deutschland und Berlin. Das können wir beispielsweise dadurch
tun, dass wir an den Jüdischen Kulturtagen, die einmal
im Jahr in Berlin stattfinden, teilnehmen. Hier wird uns
die ganze Fülle dessen präsentiert, was wir während des
Naziterrors vernichtet haben.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sehen
mit Zuversicht die zarten, leichten Versuche, sich aufeinander zuzubewegen, zum Beispiel jetzt in inoffiziellen Kontakten mit Syrien. Ich habe gestern mit großer
Freude gelesen, dass es mit der Hisbollah im Libanon
erste Gespräche darüber gibt, Gefangene auszutauschen.
Ich war im vorvergangenen Jahr in Israel und habe dort
mit den Ehefrauen der Männer gesprochen, die im Libanon gefangen gehalten werden. Ich kann mir vorstellen,
welche Freude bei diesen jungen Frauen entstehen wird,
wenn sie erfahren, dass ihre Männer zurückkehren. Dies
ist noch lange nicht die Lösung des Problems. Aber wir
wissen aus der Erfahrung im Nahostkonflikt, dass wir
aus diesen kleinen Bewegungen heraus Zuversicht
schöpfen können, dass sich etwas in die richtige Richtung bewegt.
Wir werden immer an der Seite Israels stehen. Israel
kann sich auf unsere tiefe Freundschaft verlassen. Wir
wollen, dass diese Demokratie im Nahen Osten ansteckend wirkt. Wir wollen auch, dass die Menschen im
Nahen Osten mit der Perspektive auf Frieden leben können - die Menschen in Israel und die Palästinenser. Den
Beitrag, den wir leisten können, werden wir leisten. Es
ist noch ein weiter Weg. Ich hoffe, Herr Mor, dass wir
beim hundertjährigen Jubiläum feststellen können: Israel
lebt in Frieden und Freiheit mit seinen Nachbarn. Das,
was wir in Europa erreicht haben, wünschen wir Ihnen
von Herzen. Herzlichen Glückwunsch zum 60-jährigen
Jubiläum!
({5})
Das Wort erhält jetzt die Kollegin Petra Pau, Fraktion
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
reden über einen Jahrestag, der alles andere als alltäglich
ist. 60 Jahre Israel sind etwas Besonderes, weil es eine
einmalig schlimme Vorgeschichte gibt: den Holocaust.
60 Jahre Israel sind nicht alltäglich, weil nie absehbar
war, ob Israel 60 Jahre alt wird. 60 Jahre Israel beantworten nicht die Frage, was künftig sein wird.
Vor reichlich einem Jahr sprach hier Imre Kertész. Er
las aus seinem Buch Kaddisch für ein nicht geborenes
Kind. Er versuchte, uns nahezubringen, dass der Holocaust nicht nur ein Völkermord an 6 Millionen Jüdinnen
und Juden war, nein, er hat auch tiefe Furchen in das Leben der Überlebenden und in das der jüdischen Nachfahren gebrannt. In einem Interview hat Imre Kertész es so
formuliert:
Vor Auschwitz war Auschwitz unvorstellbar, heute
ist es das nicht mehr. Da Auschwitz in Wirklichkeit
passierte, ist es in unsere Fantasie eingedrungen,
wurde ein fester Bestandteil von uns. Was wir uns
vorstellen können, weil es in Wirklichkeit passiert
ist, das kann wieder passieren.
Auschwitz ist tief in unsere Fantasie eingedrungen.
Schon dieser Satz mag beschreiben, warum Israel für Jüdinnen und Juden in aller Welt heute nicht nur aus religiösen Gründen heilig ist. Der Staat Israel ist für sie eine
Überlebensversicherung. So begründet allein schon das
Menschenrecht auf Leben das Existenzrecht des Staates Israel.
({0})
Oder anders gesagt: Wer das Existenzrecht Israels infrage stellt, rüttelt am Lebensrecht von Jüdinnen und Juden. Das ist letztlich die logische Konsequenz gerade
aus der deutschen Geschichte. Deshalb sollte es im
Deutschen Bundestag fraktionsübergreifend keinen
Zweifel geben: 60 Jahre Israel, das ist auch für uns ein
wichtiges Jubiläum. Schalom!
({1})
Schalom bedeutet unter anderem Sicherheit und Frieden. Der Gruß Schalom hat übrigens eine Entsprechung
im Arabischen: Salam. Aber Schalom und Salam kommen nicht zusammen. Auch das gehört zur Geschichte
von 60 Jahren Israel.
Das Hochgefühl der Gründung Israels vor 60 Jahren
barg von Anfang an einen Konflikt, der noch immer ungelöst ist. Im Kalten Krieg wurde er oft zu einem „pro
Israel“ kontra „pro Palästina“ versimpelt. Der Konflikt
wurde, wie viele andere auch, zum Stellvertreterkrieg
zwischen den Weltblöcken West und Ost. Heute ist klar:
Das war keine Lösung. Letztlich wurden die Spannungen, die im Nahen Osten ohnehin existierten, dadurch
sogar noch verschärft.
Hinzu kommt: Es ist keine Lösung in Sicht. Ich
denke, auch deshalb sollte keiner von uns beanspruchen,
wir hätten die Lösung in der Tasche. Das wäre vermessen, und das wäre unangemessen gegenüber Jüdinnen
und Juden, aber auch gegenüber Palästinenserinnen und
Palästinensern, zumal die Gegenüberstellung „Hier die
Juden, da die Palästinenser“ im wahren Leben so auch
nicht stimmt.
Wer in Israel genau hinhört, wird kritische Debatten
erleben, die hierzulande fälschlicherweise als unkorrekt
gelten. Wer nachdenklichen Palästinensern zuhört, wird
Debatten erleben, die vom Wunsch nach dem überfälligen Frieden zwischen Israel und Palästina beseelt sind.
Beide beziehen sich aufeinander, weil sie miteinander
nach einer Lösung suchen.
({2})
So wünsche ich mir zum Beispiel von den deutschen
Medien, dass sie die Initiativen, die Schalom und Salam
wirklich zusammenführen wollen, viel mehr unterstützen; auch das gehört für mich zur historischen Verantwortung Deutschlands. Es gibt solche Initiativen in Israel, in Palästina und auch hierzulande.
Gleichwohl sind 60 Jahre Israel auch 60 Jahre Nahostkonflikt. Er harrt einer Lösung, für die unmittelbar
Betroffenen in Israel und Palästina, aber auch darüber
hinaus. Denn der Nahostkonflikt birgt Sprengstoff für
die Welt insgesamt. Hier stellt sich natürlich die grundsätzliche Frage: Welche Position der Vernunft kommt
dabei Deutschland zu? Ich finde, es darf keinerlei Zweifel am Existenzrecht Israels geben. Es darf aber auch
keinen Zweifel am Recht der Palästinenser geben, in
Würde zu leben. Wir haben eine Doppelverantwortung:
Wir stehen gegenüber Jüdinnen und Juden in tiefer
Schuld. Genau deshalb darf es aber nicht so sein, dass
die Palästinenser unter der historischen Schuld Deutschlands leiden.
({3})
Wer 60 Jahre Israel begrüßt - ich tue das ausdrücklich -, muss zugleich das Schicksal der Palästinenser im
Blick haben. Denn so unklar die Zukunft im Nahen
Osten ist, so klar ist: Frieden wird es nur miteinander
und nie gegeneinander geben. Letztlich trägt eine Lösung für alle nur dann, wenn sie vor dem Völkerrecht
Bestand hat.
Die tiefste rechtliche Konsequenz aus der mörderischen Praxis des NS-Regimes wurde in Art. 1 des
Grundgesetzes verankert: Die Würde des Menschen, aller Menschen, ist unantastbar. Das heißt für mich aber
auch: Sogenannte nationale Befreiungsbewegungen, die
Attentate verüben und dabei Unschuldige morden, sind
keine Menschenrechtsbewegungen.
({4})
Es wäre aber unredlich, Millionen Palästinenser - Frauen, Männer, Kinder und Greise - dafür kollektiv zu bestrafen. Die Geburt Israels vor 60 Jahren war ein historisches Ereignis. Aber sie war, wie der israelische Journalist Igal Avidan schreibt, ein „Kaiserschnitt“, ein
Kaiserschnitt, der heute noch blutet. So mischt sich Jubiläumsfreude mit anhaltender Sorge.
Ich bin vor Wochen gebeten worden, ein Grußwort
„60 Jahre Israel“ zu schreiben. Dazu war ich gerne bereit, zumal ich erst kurz vorher in Israel war. Dort hatte
ich in Jerusalem an einer internationalen Konferenz gegen Antisemitismus teilgenommen. Natürlich kam ich
mit Eindrücken zurück, die so vielfältig und widersprüchlich wie Israel selbst sind.
Umso länger dachte ich dann über mein Grußwort
nach. Ich entschied mich schließlich für eine Anleihe
beim Friedenslied von Bertolt Brecht:
Friede in unserem Hause!
Friede im Hause nebenan!
Friede dem friedlichen Nachbarn,
Daß jedes gedeihen kann.
Einen Vers aus dem Friedenslied habe ich allerdings
bewusst weggelassen:
Friede in unserem Lande!
Friede in unserer Stadt!
Daß sie den gut behause,
Der sie gebauet hat!
Ich habe ihn bewusst ausgelassen, weil ich die Siedlungspolitik in diesem Grußwort nicht gutheißen wollte;
denn auch sie ist ein Grund dafür, dass, um im Bild zu
bleiben, der Kaiserschnitt noch immer blutet.
({5})
Nun spreche ich hier auch als Innenpolitikerin der
Fraktion Die Linke. Meine Pro-Themen sind Bürgerrechte und Demokratie, meine Anti-Themen sind
Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus.
Deshalb sage ich auch: Man kann nicht 60 Jahre Israel
würdigen und zugleich den Antisemitismus hierzulande
ausblenden.
({6})
Es ist richtig: Es gibt wieder jüdisches Leben. Das ist
ein historisch unverdientes Geschenk der Jüdinnen und
Juden an Deutschland und eine Bereicherung unserer
Vielfalt und Kultur. Das jüdische Leben hierzulande ist
aber alles andere als normal. Noch immer müssen Synagogen und jüdische Schulen sowie Kindergärten besonders geschützt werden. Im statistischen Schnitt wird in
der Bundesrepublik Woche für Woche ein jüdischer
Friedhof geschändet. Soziologische Untersuchungen belegen: Mehr als ein Drittel der Deutschen ist latent antisemitisch eingestellt - im Westen der Republik übrigens
mehr als im Osten. Das ist der aktuelle Befund.
Antisemitismus aber ist keine politische Kritik. Antisemitismus ist eine menschenverachtende Ideologie.
({7})
Sie grassiert noch immer oder schon wieder inmitten der
Gesellschaft: an Stammtischen, in Chefetagen, im Alltag.
Umso wichtiger finde ich es, dass sich nunmehr über
die heutige Debatte hinaus im Bundestag Kolleginnen
und Kollegen aus allen Fraktionen zusammengefunden
haben und zusammenfinden, um sich diesen gesellschaftlichen Problemen fern aller Parteirituale ernsthafter als bisher zuzuwenden. Ich persönlich werde meinen
Beitrag dazu leisten - als Lehre aus der Geschichte und
aus Sorge um die Zukunft.
({8})
Das Wort erhält nun der Kollege Fritz Kuhn, Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Fraktion und meine Partei haben den Israelis aus
vollem Herzen und tiefer Überzeugung zum 60. Jahrestag ihrer Staatsgründung gratuliert.
Wir teilen die immer wieder auch hier geäußerte Auffassung und Überzeugung, dass das Existenzrecht
Israels zur Staatsräson der Bundesrepublik Deutschland
gehört. Dies gilt für alle Parteien. Frau Pau, ich wünsche
Ihnen ganz aufrichtig, dass die Position, die Sie hier mit
Ihrer Rede vertreten haben, auch in Ihrer Partei eine eindeutige Mehrheit findet.
({0})
Ich finde, wir müssen uns aber auch konkret mit den
Konsequenzen der Aussage befassen, dass das Existenzrecht Israels politische Priorität in der Staatsräson
Deutschlands hat. Denn es geht nicht nur um das Existenzrecht Israels, sondern auch um seine Existenz. Sechs
Kriege und zwei Intifadas in diesen 60 Jahren zeugen
von einer tragischen und blutigen Geschichte.
Welche Konsequenzen muss dies alles für uns und die
praktische Politik haben? Erstens darf die Erinnerung an
den Holocaust und die Bewältigung dieser deutschen
Vergangenheit niemals aufgegeben werden. Das bleibt
auch unsere Aufgabe für die Zukunft. Zweitens muss die
Bekämpfung des Antisemitismus und der Ausländerfeindlichkeit in Deutschland für uns höchste Priorität haben. Ohne diese Überzeugung machen alle Bekenntnisse
wenig Sinn.
({1})
Drittens müssen wir die Intensivierung der Beziehungen
zu Israel, die wohl niemals normal sein werden, fortsetzen. Ich glaube, dass auch bei den Fraktionen und der
Regierung der Wille dazu vorhanden ist.
Wir müssen Israel auch konkret sowohl vor der propagandistischen Ächtung, wie sie von der derzeitigen
Regierung im Iran ausgeht, als auch vor einer möglichen militärischen Bedrohung schützen.
({2})
Die vergangenen Montag von der IAEA vorgelegten
Berichte geben Anlass zur ernsten Sorge, was in Teheran
geplant wird und geschieht. Wir sind der Überzeugung,
dass man nur durch eine kluge Verbindung von Sanktionen und politischen Gesprächen die Situation im Sinne
einer friedlichen Klärung lösen kann. Man muss konsequent klarmachen, dass eine atomare Bedrohung Israels
für uns nicht akzeptabel ist.
({3})
Ich möchte auf den aktuellen Friedensprozess im Nahen Osten eingehen. Eine genaue Betrachtung zeigt, dass
die Erfolge des Annapolis-Prozesses sehr stark gefährdet sind. Ich halte es auch in einer Debatte wie dieser für
notwendig, an die Palästinenser - jedenfalls an diejenigen, die glauben, dass Gewalt eine Lösung sein kann die klare Botschaft zu richten, dass sie durch Terror und
Gewalt niemals Frieden und Wohlstand für ihre Bevölkerung erlangen können.
({4})
Das sage ich als jemand, der tief davon überzeugt ist,
dass die Palästinenser ein Selbstbestimmungsrecht und
ein Recht darauf haben, einen eigenen Staat im Rahmen
einer Zweistaatenlösung zu gestalten, die uns als einzige
mögliche Lösung für die Region erscheint.
Auch Israel - ich betrachte das nicht als einen Ratschlag von außen, Frau Bundeskanzlerin - muss die
Friedenswilligen, Gewaltfreien und Gewaltablehnenden
im Palästinenserlager mehr stärken, als dies seit Annapolis geschehen ist. Wer glaubt, den Präsidenten Abu
Masen zu stärken, indem er nach der Annapolis-Konferenz neue Siedlungen in Jerusalem baut und von der
Politik der zunehmenden Sicherheitskontrollen und
Checkpoints nicht abrückt, der täuscht sich möglicherweise und stärkt eher die Gegner. Auch dies möchte ich
als Grüner in dieser Debatte festhalten.
({5})
Dass der Verteidigungsminister Israels, Ehud Barak,
nach Ihrem Besuch gesagt hat, es würden keine Checkpoints geräumt, ist kein ermutigendes Zeichen.
Ich möchte noch einen dritten Punkt ansprechen. Wer
Israel helfen will - dies gilt insbesondere für alle Europäer -, der muss alles tun, um die Zahl der Feinde Israels
zu reduzieren. Deswegen begrüßen wir auch die türkischen Vermittlungsversuche, um zwischen Syrien und
Israel zu einem Frieden zu kommen. Es war richtig, dass
der Bundesaußenminister diese Politik einer möglichen
Öffnung gegenüber Syrien oder wenigstens des Eruierens dieser Öffnung im vergangenen Jahr aktiv angegangen ist.
({6})
Wir haben auch Hoffnungen, dass es wenigstens zu
indirekten Verhandlungen mit Hamas kommen kann,
zum Beispiel durch die ägyptische Vermittlung, was einen konkreten Waffenstillstand zwischen den Menschen
im Gazastreifen und Israel angeht; denn ein Waffenstillstand ist auch ein Baustein auf dem schwierigen Weg zu
einem Frieden zweier Staaten nach der Konferenz von
Annapolis.
Politik besteht darin - so schwierig das im Detail sein
kann -, aus Feinden Gesprächspartner zu machen. Ich
wünsche mir, dass die Europäische Union diesen Prozess
des Friedens nach Annapolis mit allem, was ihr zur Verfügung steht, stärkt. Darin sehe jedenfalls ich die Aufgabe der deutschen Politik, wenn sie ihre Verantwortung
aus unserer Geschichte wirklich ernst nimmt.
Vielen Dank.
({7})
Ich erteile nun das Wort dem Bundesminister des
Auswärtigen, Frank-Walter Steinmeier.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Vor 60 Jahren hielten die Bürger des gerade neu
gegründeten Staates Israel ihre ersten Reisepässe in der
Hand. Diese Reisepässe hatten eine Besonderheit. Sie
trugen den Vermerk: Dieser Reisepass gilt in allen Ländern mit Ausnahme Deutschlands. - Das war vor 60 Jahren. Vor zweieinhalb Monaten standen wir, neun Mitglieder des Bundeskabinetts, mit unseren israelischen
Amtskollegen im gemeinsamen Gedenken in Jad
Waschem. Ich habe hier bekannt: Das war einer der bewegendsten Momente in meinem politischen Leben.
Zwischen diesem Sperrvermerk, von dem ich gesprochen habe, und den deutsch-israelischen Regierungskonsultationen vor zweieinhalb Monaten liegen 60 Jahre;
60 Jahre der Arbeit der Repräsentanten israelischer und
deutscher Politik, aber auch 60 Jahre der Arbeit von Bürgerinnen und Bürgern. Wissenschaftler und Gewerkschafter waren es, die die ersten Kontakte auf der zivilgesellschaftlichen Ebene zwischen Deutschland und
Israel geknüpft haben. Heute, 43 Jahre nach der Aufnahme diplomatischer Beziehungen, sind unsere Beziehungen zu Israel so vielfältig und inhaltsreich wie mit
kaum einem anderen Land dieser Welt. Israel zählt
Deutschland inzwischen zu seinen engsten Verbündeten
und Freunden, eine Entwicklung, die uns ganz sicher mit
Dankbarkeit erfüllen muss.
({0})
Dennoch - darauf haben viele hingewiesen - müssen
wir wohl akzeptieren, wenn Amos Oz schreibt:
Keine Normalisierung. Normale Beziehungen zwischen Deutschland und Israel sind nicht möglich
und nicht angemessen.
Die Schoah, der millionenfache Mord, das unermessliche Leid, das Deutsche über Deutsche und andere
Europäer jüdischen Glaubens gebracht haben, ist Teil
unserer Geschichte. Die tägliche Erinnerung und die tägliche Auseinandersetzung mit der Schoah, mit Rassismus, ja auch mit Antisemitismus bei uns ist deshalb Teil
unserer Gegenwart und wird und muss Teil unserer Zukunft bleiben. Darum werden eben unsere Beziehungen
zu Israel für immer besondere Beziehungen sein.
Was bedeutet das aber heute, 60 Jahre nach der Gründung Israels? Für mich ergeben sich daraus drei Kernaufgaben für deutsche Außenpolitik: Die erste Aufgabe - das haben alle gesagt - ist das Eintreten für die
Existenz und für die Sicherheit des Staates Israel. Das
muss eine Konstante deutscher Außenpolitik bleiben.
Dazu gehört in der Tat auch, dem Gerede des iranischen
Staatspräsidenten immer wieder entgegenzutreten. Seine
Leugnung des Holocaust ist ebenso unerträglich wie das
Infragestellen des Existenzrechts Israels. Dazu muss es
klare Botschaften geben.
({1})
Meine Damen und Herren, zum Beistand für Israel
gehört nach meiner Überzeugung aber auch noch etwas
anderes. Ich zitiere noch einmal Amos Oz:
Was Israel am allermeisten brauchen wird, ist eine
emotionale Versicherung. Denn wir fühlen uns als
Geächtete, verflucht und gehasst. Ein solcher Rückhalt würde keinen Pfennig kosten, nur Empathie.
Dazu muss man nicht mit der israelischen Politik
einverstanden sein. Aber ein europäisches Mitgefühl für die heute schwierige Lage Israels könnte
den Moderaten und Tauben hier helfen.
Bei diesen Worten von Amos Oz dachte ich persönlich
an die manchmal etwas wohlfeile Art, in der wir aus unserem europäischen Ohrensessel mit klugen Kommentaren über den Nahostfriedensprozess urteilen und unseren
Frust über ausbleibende Fortschritte mit schlauen Ratschlägen an die Adresse Israels garnieren. Man muss in
der Tat nicht mit jedem Vorschlag der israelischen Politik einverstanden sein, und dort, wo es Dissens gibt,
muss man auch offen darüber sprechen. Aber meine Erfahrung ist eben auch, dass ein kritisches Wort umso
leichter oder vielleicht auch nur dann akzeptiert wird,
wenn es von einem Freund kommt, der wirklich Verständnis und Empathie für die Zwangslage - viele haben
zu Recht von einer Bedrohungslage gesprochen - des
anderen hat und zeigt.
({2})
Den zweiten Auftrag für die deutsche Außenpolitik
sehe ich darin, dass wir unsere bilateralen Beziehungen
noch dichter gestalten und zukunftsorientierter ausbauen. In den Regierungskonsultationen vor zweieinhalb
Monaten haben wir ein neues Kapitel aufgeschlagen.
Neue Felder der Zusammenarbeit sind verabredet worden und werden bearbeitet werden. Vor allen Dingen
wird das deutsch-israelische Zukunftsforum in diesem
Jahr in Gang kommen. Es wird einer jungen Generation
Perspektiven bei der Zusammenarbeit in Wirtschaft,
Kultur und Wissenschaft bieten.
Die dritte wichtige Aufgabe, die aus der Besonderheit
der Beziehungen zwischen Deutschland und Israel erwächst, ist unser Engagement für Frieden im Nahen
Osten. Die Verantwortung für die Vergangenheit - das
habe ich heute Morgen ebenfalls aus vielen Reden herausgehört - ist in der Tat eine Triebfeder für dieses
Engagement Deutschlands im Nahen Osten und muss es
auch bleiben. Wir wissen, dass die Umsetzung der Zweistaatenlösung allen Partnern schwierige Kompromisse
abverlangen wird. Wir wissen auch - zumindest sollten
wir es wissen -, dass wir die dazu erforderliche Entschlossenheit und Weitsicht von Europa aus nicht ersetzen können. Aber wir können bei der Arbeit an den
Rahmenbedingungen helfen. Dies haben wir durch Wiederbelebung des Nahostquartettes, durch Werbung dafür,
dass die arabischen Staaten einbezogen werden, sowie
dadurch getan, dass wir im vergangenen Jahr eine EUAktionsstrategie für den Nahen Osten auf den Weg gebracht haben, die die von mir angesprochenen Rahmenbedingungen verbessert.
({3})
Diese klassische Diplomatie gehört dazu, wird aber
aus meiner Sicht der Situation im Nahen Osten alles in
allem noch nicht gerecht. Wer in Ramallah, in Jericho, in
Jerusalem und in Tel Aviv mit den Menschen spricht,
wird auf zwei Dinge stoßen: Sowohl die Friedenssehnsucht als auch die Ernüchterung über die in Jahrzehnten
fehlgeschlagenen Versuche einer Lösung sind inzwischen überall spürbar. Dies bedeutet aus meiner Sicht,
dass wir uns noch stärker gehalten fühlen müssen, an
konkreten Maßnahmen zu arbeiten und die Menschen in
der Region spüren zu lassen, dass sich der Weg zum
Frieden lohnt. Das tun wir durch viele Maßnahmen, die
ich nicht alle aufzählen will. Dazu zählt die große internationale Konferenz für Sicherheit in Palästina, die am
24. Juni hier in Berlin stattfinden wird. Auf dieser Konferenz wollen wir die Voraussetzungen dafür schaffen,
dass die internationale Staatengemeinschaft ihren Beitrag dazu leistet, dass Palästina die Verantwortung für
seine Sicherheit selbst übernehmen kann. Warum sage
ich das? Ich sage das, weil wir uns bei all dem von der
Erkenntnis leiten lassen, dass mehr Sicherheit in Palästina letztlich auch mehr Sicherheit für Israel bedeutet.
({4})
Herr Gesandter, ich freue mich, dass das auch die israelische Regierung so sieht, dass die Reaktion der israelischen Seite auf die Einberufung dieser Konferenz positiv
war.
Ich werde am Samstag zu meiner inzwischen achten
Reise in den Nahen Osten aufbrechen, nach Beirut, Jerusalem und Ramallah. Der - ich will es so sagen - nahöstliche Himmel hat sich leicht aufgehellt. Ich freue mich
darüber, dass die Krise im Libanon durch Vermittlung
der Arabischen Liga beigelegt werden konnte. Die Wahl
des neuen libanesischen Staatspräsidenten schafft vielleicht jetzt die Voraussetzungen dafür, dass der Wiederaufbau funktionierender staatlicher Institutionen im Libanon vorangeht. Ich freue mich auch darüber, dass
indirekte Gespräche zwischen Israel und Syrien stattfinden. Der türkische Außenminister wird uns, wenn er
morgen in Berlin sein wird, sicherlich über den Stand
dieser Gespräche informieren. Das folgt der Überzeugung, dass es umfassende und nachhaltige Friedenslösungen im Nahen Osten ohne die Einbeziehung schwieriger Partner, insbesondere ohne die Einbeziehung
Syriens, wahrscheinlich nicht geben wird. Ich habe die
Signale aus der Region immer so verstanden, dass man
mit beiden Seiten Vertrauensbildung betreiben muss.
Wir wünschen Israel und seinen Menschen zum
60. Jahrestag der Staatsgründung vor allem eines: Frieden, einen Frieden, den die Menschen verdienen; einen
Frieden, der unseren Beitrag verlangt. Aus der Verantwortung für die Vergangenheit erwächst Verpflichtung
für die Zukunft.
Herzlichen Dank.
({5})
Der Kollege Dirk Niebel ist der nächste Redner für
die FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wenn Freunde Geburtstag feiern, insbesondere
wenn sie einen runden Geburtstag feiern, ist das für den
Jubilar meistens schwieriger als für die Gäste.
Dass das bei Staaten anders ist als bei Menschen,
kann damit zusammenhängen, dass man bei Staaten den
Alterungsprozess nicht so unmittelbar wie bei Menschen
erkennt und dass die Alterung bei Staaten eher die
Chance bedeutet, dass ein längerer Zeitraum für
Entwicklungsprozesse zur Verfügung stand. Wer sich die
Entwicklung ansieht, die Israel in 60 Jahren durchlaufen
hat, wird feststellen, dass Israel - bei allen politisch
schwierigen Rahmenbedingungen - eine Erfolgsgeschichte ist: Beginnend bei der Urbarmachung des Landes - durch die Entwässerung der Sümpfe und die Bewässerung der Wüsten - schon vor der Staatsgründung,
hat sich Israel über einen Agrarstaat mit umfangreicher,
vielfältiger, qualitativ hochwertiger Produktion zu einem
Hightechstandort entwickelt, der insbesondere im Bereich von Zukunftstechnologien wie der Biotechnologie
führend ist, einem Bereich, in dem wir in Mitteleuropa
teilweise nicht mehr die Lehrenden sind, sondern zu Lernenden geworden sind. Israel hat eine große Integrationskraft: Menschen, die aus mehr als 100 verschiedenen Staaten gekommen sind, sind - bei allem, was an
Fehlern passiert ist und an Problemen bestanden hat - so
integriert worden, dass sich eine Gesamtgesellschaft entwickelt hat. Das alles geschah in einem wirklich alles
andere als freundlich gesinnten Umfeld und unter Wahrung der Möglichkeiten, die eine echte Demokratie hat.
Das verdient unsere Anerkennung.
({0})
Die guten Beziehungen Deutschlands zu Israel wurden von vielen Rednern bereits angesprochen. Guido
Westerwelle hat auf die vielfältigen Städtepartnerschaften, den Jugendaustausch und andere Möglichkeiten kultureller Vielfalt im Austausch zwischen unseren beiden
Ländern hingewiesen. Ich möchte mir erlauben, in dieser
vereinbarten Debatte darauf hinzuweisen: Es gibt auch
gute Kontakte zwischen den Parlamenten, zwischen dem
Deutschen Bundestag und der Knesset. Diese Kontakte,
die weit unterhalb dessen stattfinden, was, in Fernsehsendungen und Nachrichtenmagazinen sichtbar, auf diplomatischer Ebene passiert, wirken meinungsbildend
bei denjenigen, die später die Entscheidungen in den
Parlamenten auf beiden Seiten mitzutragen haben.
({1})
Als ich 1998 stellvertretender Vorsitzender der
Deutsch-Israelischen Parlamentariergruppe wurde, habe
ich - zusammen mit meinen Kolleginnen und Kollegen
aus den anderen Fraktionen - begonnen, mich zu bemühen, dass das Internationale Parlamentarische Patenschafts-Programm, IPP, auf Israel und Deutschland ausgeweitet wird. Das hing lange von der Frage ab, ob die
Knesset in der Lage ist, die notwendigen Mittel zur Verfügung zu stellen, deren es bedurfte. Ich kann Ihnen mitteilen, dass im nächsten Jahr die ersten deutsch-israelischen Stipendiatenaustausche stattfinden, sodass wir
auch auf dieser Ebene die parlamentarischen Kontakte
ausweiten werden. Das wird zum Verständnis der jeweils
anderen Seite beitragen.
({2})
Ich möchte Ihnen kurz von einer guten Freundin erzählen: Margot Kupferberg, die im Jahre 2006 im Alter
von 94 Jahren im Kibbuz Kfar Giladi nahe der libanesischen Grenze gestorben ist. Sie wurde 1912 in Deutschland geboren. Ich habe sie 1982 während des ersten
Libanon-Krieges kennengelernt. Sie hat mir ein Stück
der Geschichte ihres Lebens erzählt. Ich glaube, ich beurteile es richtig, wenn ich sage, dass sie eine glückliche
Frau war. Aber sie hat ein Leben in ständiger Angst geführt, von der Flucht vor den Nazis nach Südamerika bis
hin zum Nachhausekommen nach der Staatsgründung
Israels nach dem Unabhängigkeitskrieg, der von weiteren fünf Kriegen und zwei Aufständen gefolgt wurde.
Alle ihre Kinder und Enkel dienten in der Armee. Einer
ihrer Söhne hatte als Egged-Busfahrer über lange Zeit einen der gefährlichsten Arbeitsplätze in Israel. Obwohl
diese Frau in ständiger Angst gelebt hat, hat sie als politischer Mensch in tiefster Überzeugung für die demokratischen Gepflogenheiten in Israel eingestanden. Wenn
ich sehe, wie wir uns im letzten Jahr an den sogenannten
deutschen Herbst vor 30 Jahren erinnert haben, dann
muss ich feststellen, dass eine Gesellschaft, die bereit ist,
unter dem Druck der Terrorgefahr Bürger- und Freiheitsrechte aufzugeben, und zwar eine Gesellschaft, in
der der Terror im Wesentlichen auf bestimmte Gruppen
und führende Persönlichkeiten und nicht auf jeden Einzelnen bei den Verrichtungen des täglichen Lebens
zielte, von einer Gesellschaft, in der jeder Einzelne bei
den Verrichtungen des täglichen Lebens bedroht ist, lernen kann, wie man trotz Gefahr und Angst demokratische Gepflogenheiten aufrechterhalten sowie Lebensqualität und Lebensfreude haben kann. Das kann man in
Israel lernen. Man muss ganz deutlich sagen, dass diejenigen, die der ständigen Bedrohung ausgesetzt sind, ihre
Werte und Überzeugungen trotz der Bedrohung nicht
vergessen haben. Dafür leben sie in Zukunft hoffentlich
in Frieden in einem jüdischen Staat mit sicheren Grenzen und frei von Angst vor Terror.
({3})
Herr Präsident, obwohl ich die Redezeit schon überschritten habe, sei mir ein letzter Satz erlaubt. Unter
Freunden kann man offen reden. Deswegen sage ich ausdrücklich: Der Teilungsbeschluss der Vereinten Nationen sieht eigentlich eine Zweistaatenlösung vor, über
die wir noch heute diskutieren. Welche Verschwendung
von Leben und Ressourcen in diesen 60 Jahren! Es ist an
der Zeit, auf den in der Roadmap aufgezeigten Weg zurückzukommen. Das gilt für alle Beteiligten; denn nur so
wird man für die in dieser Region lebenden Menschen
auf Dauer vernünftige und friedliche Rahmenbedingungen schaffen können.
Vielen herzlichen Dank.
({4})
Ich erteile das Wort nun dem Kollegen Dr. Peter
Ramsauer, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
60 Jahre Staat Israel - das ist für uns ein froher Anlass,
zu dem wir gern und von Herzen gratulieren und den wir
gerne in voller Freude feiern. Hinter diesen 60 Jahren
stehen eine ebenso großartige wie beispiellose Aufbauleistung und eine beeindruckende Geschichte, eine, so
kann man, glaube ich, sagen, beeindruckende Geschichte auch der Selbstbehauptung. Die Erfolgsgeschichte dieses Staates ist einzigartig. Bei meinen inzwischen vielen Besuchen in Israel war ich immer wieder
tief beeindruckt: Wüsten sind fruchtbar gemacht worden, die Metropolen dieses Landes zeugen von Vitalität,
von Kraft. Man erlebt die volle Bandbreite der Dienstleistungen, Forschung und Entwicklung haben höchstes
Niveau, und der westliche Lebensstil, den man dort vorfindet, lässt zunächst einmal die Probleme der Region in
Vergessenheit geraten.
Israel ist die einzig funktionierende Demokratie in
dieser Region. Israel ist ein Beispiel für Zusammenhalt
und Zuversicht, und Israel ist ein großartiges Beispiel
auch für Integrationskraft.
({0})
Seit Beginn der jüdischen Wiederbesiedlung im
19. Jahrhundert haben Menschen aus den verschiedensten Regionen der Welt gelernt, miteinander zu leben, zuletzt im Zusammenhang mit der Aufnahme einer großen
Zahl von Juden beispielsweise aus der Sowjetunion und
aus Russland. Vor 60 Jahren haben die Israelis ihre
Selbstbestimmung durchgesetzt, mit Unterstützung der
Großmächte und natürlich der großen Mehrheit der Völkergemeinschaft. Sie bauten und - ich sage das ganz bewusst auch im Präsens - bauen Israel auf, sie machen
den Traum ihrer Väter und Großväter wahr. Die Wahrheit ist: Sie taten das immer mit ausgestreckter Hand
auch gegenüber der arabischen Bevölkerung innerhalb
Israels und gegenüber ihren arabischen Nachbarn. Überlebende des Holocaust, Einwanderer aus aller Welt,
gläubige Juden und überzeugten Zionisten - sie alle hatten die Vision von einem Land, in dem sie und andere
frei und sicher leben können, ohne Angst vor Benachteiligung und ohne Angst vor Ausgrenzung.
Mit Anwar al-Sadat und Menachim Begin, mit
Yitzhak Rabin und Jassir Arafat hat sich Hoffnung auf
Frieden verbunden. Diese Hoffnung auf Frieden hat
sich leider bis heute nicht oder nicht voll erfüllt. Vom
Frieden werden aber alle profitieren, Israelis wie Araber,
Juden, Muslime und Christen gleichermaßen. Dennoch:
Zu viele haben heute den Glauben daran verloren. Die
Situation im Gazastreifen und im besetzten Westjordanland hat viele verbittert. Dass im Schatten der Mauer, die
zwischen Israel und Palästina errichtet worden ist, auf
Dauer Frieden wächst, das bleibt unsere ganz große und
auch meine persönliche Hoffnung.
({1})
Hier sind Gräben zu überwinden und Brücken zu bauen,
hier ist langfristig wieder eine Mauer zu überwinden.
Es ist deshalb unser herausragendes Ziel, mit unserer
Außenpolitik dazu beizutragen, gemeinsam mit den
Europäern, aber auch ganz bewusst als Deutsche. Israel
und seine Zukunft können uns Deutschen nämlich nicht
gleichgültig sein. Wir stellen uns der Geschichte und unserer Verantwortung. Dies ist in den Reden dieser Debatte
immer wieder in hervorragender Weise herausgestellt
worden. Dabei geht es gerade um unsere Verantwortung,
die uns aus Vergangenem zuwächst.
Wir sind zwar nicht in der Position - wir können es
wohl auch nicht sein und wollen es auch nicht -, einen
Frieden zu diktieren. Wir Europäer können unser Allerbestes tun, um zu vermitteln. Wir haben als Deutsche
und Europäer auch ein eigenes Interesse daran, Frieden
in dieser Region zu fördern. Sicherheit und Freiheit der
Israelis und Sicherheit und Freiheit für die Menschen in
der nahöstlichen Region sind zwei Seiten ein und derselben Medaille.
({2})
Israel wird nur dann eine Zukunft haben, wenn es ein
Auskommen mit den Palästinensern findet. Ich glaube,
die Reden aus allen Fraktionen haben gezeigt, wie sehr
wir in diesem Punkt übereinstimmen. Damit Radikalität
und Gewalt ihr Ende finden, müssen beide Seiten aus ihrer jeweiligen Sicht wohl schmerzhafte Zugeständnisse
machen. Klar ist: Am Existenzrecht Israels kann und
darf es keinerlei Zweifel geben. Nur der Anerkennung
des Existenzrechts Israels können Gespräche über einen
Frieden in der Region folgen.
Eine bessere Zukunft durch gemeinsame Sicherheit,
das ist meine Botschaft, wenn ich in die Länder dieser
Region reise, wie zuletzt in den Libanon oder in der vergangenen Woche in den Iran. Ich glaube, das ist aktiver
Einsatz für die Interessen Israels. Auch Sie, Herr Bundesaußenminister Steinmeier, haben angekündigt, in allernächster Zukunft wieder eine solche Reise zu machen.
Diese Interessen des Friedens sind auch zutiefst unsere
eigenen Interessen. In all diesen Ländern trifft man Persönlichkeiten, die sich ehrlich um Frieden bemühen.
Noch sind die Widerstände aber - leider Gottes - stärker.
Die Hisbollah hat den Süden des Libanon - man
muss das nüchtern so feststellen - fest im Griff. Trotz
der Erleichterung - unser aller Erleichterung - über das
Abkommen von Doha, das zur Wahl von Präsident
Suleiman geführt hat, bleibt ein ganz bitterer Nachgeschmack. Der neue Schlüssel der Machtverteilung im
Libanon wurde von der Hisbollah mehr oder weniger mit
ihrer Waffengewalt durchgesetzt. Dieses Gewaltpotenzial verfügt über modernste Telekommunikation und
stellt mit seiner Waffengewalt eine beängstigende wachsende Bedrohung für Israel dar.
Die Selbstpreisung der Hisbollah als Befreierin überzeugt natürlich nicht. Ein paar Almwiesen bei Sheba sollen sozusagen das Trugbild von angeblicher israelischer
Besatzung Libanons stützen. Es geht um ein Stück Land,
dessen völkerrechtliche Zugehörigkeit noch nicht einmal
zweifelsfrei feststeht.
Sehr bewusst habe ich im Libanon mit Vertretern der
Hisbollah gesprochen und nicht lockergelassen, um herauszufinden, was mit den seit 2006 entführten israelischen Soldaten passiert ist. Wir müssen alle miteinander
Zeichen setzen, dass ihr Schicksal uns nicht gleichgültig
ist. Volker Kauder hat bereits von unserem Gespräch erzählt, das wir mit den Familien dieser beiden entführten
Soldaten bei einem Besuch geführt haben.
Mit der Unterstützung der Hisbollah und der Hamas
isoliert sich der Iran in der Völkergemeinschaft. Unser
Appell an den Iran muss unmissverständlich sein. Das
habe ich auch bei all meinen Gesprächen im Iran, unter
anderem mit Außenminister Mottaki oder dem früheren
Präsidenten Chatami, immer wieder klar und unmissverständlich gesagt: Der Iran hat alles zu unterlassen, was
die Sicherheit Israels gefährdet, und alles zu tun, was zur
Sicherheit Israels beiträgt.
({3})
Dazu gehört auch, von der Unterstützung von Hamas
und Hisbollah definitiv abzulassen.
Die Sorgen über das iranische Nuklearprogramm sind
ebenso unsere Sorgen, wie sie die Sorgen Israels sind.
Der jüngste Bericht der Wiener Agentur IAEO ist leider
kritischer ausgefallen, als wir es erwartet hatten.
Die Gespräche unter türkischer Vermittlung zwischen
Syrien und Israel, die offensichtlich weit gediehen sind,
sind ein wirklich neues und gutes Zeichen der Hoffnung.
Wenn diesbezüglich etwas in Bewegung geriete, wäre
dies ein großer Fortschritt für die Region.
1957 trafen sich der damalige Generalsekretär des
israelischen Verteidigungsministeriums und der damalige deutsche Verteidigungsminister heimlich bei München. Es ging um die deutsche Unterstützung für Israel
in einer ausgesprochen schwierigen und bedrohlichen
Situation. Der damalige israelische Beamte ist heute
Friedensnobelpreisträger und Präsident des Staates Israel. Schimon Peres erinnert sich; er schreibt: Wir kamen
an, und wir fanden einen Mann mit einem sehr durchsetzungsstarken Geist und mit Überzeugung. Einen Mann,
der den Mut hatte, Israel tatkräftig zu helfen, als es Hilfe
dringend brauchte.
Dem Erbe von Franz Josef Strauß fühlt sich meine
Partei auch diesbezüglich aufs Engste verpflichtet.
({4})
In uns hat Israel einen treuen - wenn es sein muss, bisweilen auch kritischen - Freund. Darauf ist Verlass.
Vielen herzlichen Dank.
({5})
Kerstin Müller ist die nächste Rednerin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! 60 Jahre
Israel, das ist vor allem aus deutscher Sicht ein besonderes Jubiläum, denn - viele von Ihnen haben es heute bereits gesagt - es ist nicht selbstverständlich, dass
63 Jahre nach dem Kriegsende, den nationalsozialistischen Verbrechen und der Schoah heute enge und vertrauensvolle Beziehungen zwischen Deutschland und
Israel bestehen.
Seit der Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen entwickelte sich zwischen der Bundesrepublik
und Israel ein immer enger werdender, sehr guter Dialog
auf politischer, kultureller und persönlicher Ebene sowie
ein intensiver und sehr konkreter Austausch, den Sie mit
Programmen, die bei den Regierungsverhandlungen beschlossen wurden, fortsetzen. Im Hinblick auf die Ergebnisse von Umfragen anlässlich des 60-jährigen Jubiläums Israels ist dieser Austausch - vor allem unter
Jugendlichen - für die Zukunft unserer Beziehungen besonders wichtig.
({0})
Denn - Herr Westerwelle, Sie haben es am Anfang
Ihrer Rede angesprochen - das, was in diesem Hause
Konsens ist und von allen betont wurde, dass wir Deutschen aufgrund unserer Geschichte eine bleibende und
besondere Verantwortung für die Existenz und die Sicherheit Israels haben, sieht eine Mehrheit der Deutschen - nämlich 53 Prozent bis 63 Prozent - laut aktueller Untersuchungen inzwischen anders. Diese Mehrheit
sieht diese besondere Verantwortung Deutschlands für
den Staat Israel nicht mehr. Wir alle müssen gemeinsam
daran arbeiten, dass sich dieser Eindruck nicht verfestigt.
({1})
Ich habe im Dialog mit Jugendlichen im Rahmen des
Johannes-Rau-Stipendienprogramms erlebt, wie das
konkret geschehen kann. Dieses Programm ist eine sehr
gute Sache. Ganz konkretes Erleben kann die Bilder in
den Köpfen auf beiden Seiten verändern. Jugendliche
aus Israel, die zwei Wochen in Deutschland waren, sagen danach, dass sie ein ganz anderes Bild von den
Deutschen gewonnen haben und dieses mit nach Hause
nehmen. So verändern sich auch Bilder von Deutschen,
wenn sie in Israel sind und da ganz konkret erleben, wie
sehr die Schoah, der Holocaust, immer noch das israelische Leben prägt und daher nach wie vor Grundlage der
Beziehungen zwischen Israelis und Deutschen ist.
Daher will ich das heute, an diesem Tag, an dieser
Stelle noch einmal als dringliche Bitte äußern: Wir müssen auf allen Ebenen noch viel mehr Möglichkeiten für
einen solch intensiven Jugendaustausch schaffen. - Ich
Kerstin Müller ({2})
denke, ich habe dafür die Unterstützung aller hier im
Hause.
({3})
60 Jahre Israel, das ist die Geschichte eines eigenen
Staates, der für seine Bürgerinnen und Bürger, für viele
Jüdinnen und Juden in der ganzen Welt vor allem mit
Blick auf die leidvolle Vergangenheit nicht selbstverständlich ist; denn „60 Jahre Israel“ bedeutet leider auch
heute noch die Suche nach Sicherheit, nach Normalität
und nach einem friedlichen Leben ohne ständige Bedrohung.
Ich habe selbst erlebt, wie existenziell diese Frage der
Sicherheit für die Menschen in Israel ist. Am Abend des
1. Juni 2001, als einer der schrecklichsten Anschläge in
Tel Aviv verübt wurde, nämlich auf eine Diskothek, das
„Dolphinarium“, bin ich gemeinsam mit Joschka Fischer
dort angekommen. Wir haben dieses furchtbare Blutbad
erlebt, bei dem 21 junge unschuldige Israelis im Alter
von 14 bis 32 Jahren starben und über 100 verletzt wurden. Es war ein Desaster. Es war absolut entsetzlich. Ich
sage sehr deutlich: Jede demokratisch gewählte Regierung dieser Welt muss und wird alles versuchen, ihre Bevölkerung vor einem solchen Terror zu schützen.
Deshalb gilt: Solange Staaten wie Iran und Syrien das
Existenzrecht Israels nicht anerkennen, solange radikalislamistische Palästinensergruppen wie die Hamas Israels Zivilbevölkerung mit Anschlägen terrorisieren, so
lange wird diese Sicherheitsfrage für jede israelische Regierung, ob links oder konservativ, zu Recht die Kernfrage in allen Friedensverhandlungen bleiben; da braucht
man sich keine Illusionen zu machen.
({4})
Spätestens seit ich den Terror in dieser Nacht konkret
erlebt habe, treibt mich, wie viele hier auch, um, wie
denn die Sicherheit Israels am besten erreicht werden
kann. Die Mehrheit der Israelis weiß sehr wohl, dass
langfristig nur eine friedliche Zweistaatenlösung, und
zwar entlang den 67er-Grenzen, mit allen Kompromissen, etwa in der Siedlungsfrage, und nicht eine militärische Lösung wirklich mehr Sicherheit bringen wird. Gerade von uns wird wegen unserer besonderen
Verantwortung zu Recht erwartet, dass wir auch die kritischen Punkte des Nahost-Friedensprozesses ansprechen, und zwar in beide Richtungen. Beilin, der Vorsitzende der israelischen Meretz-Yachad-Partei und
Hauptinitiator der Genfer Initiative, hat es so formuliert:
Ein wirklicher Freund mischt sich in den Friedensprozess ein. Das erwarten wir.
Was sind die kritischen Punkte? Eine Zweistaatenlösung und damit mehr Sicherheit für die Israelis wird es
nicht geben ohne Rückzug aus dem größten Teil der
Siedlungen, ohne einen Kompromiss in der JerusalemFrage und ohne Zugeständnisse in der Palästinenser-, in
der Flüchtlingsfrage.
Natürlich erwartet niemand von der Frau Bundeskanzlerin, dass sie in einer einmaligen Rede vor der
Knesset, zumal zum 60. Geburtstag, die Agenda der
Roadmap erklärt. Aber sich bei einem solchen Anlass so
fast ganz aus dem Friedensprozess herauszuhalten, das,
meine ich, beschreibt den Beitrag und die Rolle, die
Deutschland und die Europäische Union zu einem Frieden leisten können und sollten, völlig unzureichend.
Deutschland und die EU könnten eine viel größere Rolle
in der Vermittlung spielen. Diese Rolle müssen wir in
der Zukunft dringend besser ausfüllen.
({5})
Frau Kollegin.
Ich komme zum Schluss.
Wir sollten die Israeli ebenso wie die Palästinenser
mit der Lösung des Konflikts ausdrücklich nicht alleinlassen. Entscheidende Voraussetzungen für die dauerhafte Sicherheit Israels sind eine Akzeptanz durch die
Nachbarn und die Verwirklichung einer Zweistaatenlösung. Gerade aus dieser Erkenntnis heraus wünschen wir
Israel zum 60. Geburtstag nichts sehnlicher, als gemeinsam mit seinen Nachbarn den notwendigen Mut zum
Frieden zu finden.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort erhält nun der Kollege Thomas Oppermann,
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine verehrten Kollegen und Kolleginnen! Ich freue mich, dass 60 Jahre nach der Gründung des israelischen Staates die Aussichten für Frieden
im Nahen Osten wieder etwas günstiger geworden sind.
Ich glaube, nichts ist Israel so sehr zu wünschen wie ein
dauerhafter friedlicher Ausgleich mit seinen Nachbarn
und das Ende der Bedrohungen durch Raketenangriffe
und terroristische Selbstmordattentäter.
({0})
Die Sicherheit und Zukunft Israels ist Teil unserer
politischen Identität; meine Vorredner haben das im Einzelnen dargelegt. Wir Deutschen haben ein besonderes
Verhältnis zu Israel, das sich aus unserer historischen
Verantwortung für den Holocaust ergibt. Aber Deutschland und Israel verbindet nicht nur die Vergangenheit,
uns verbinden auch gemeinsame Wertvorstellungen.
Unsere Staaten fußen auf dem gleichen Verständnis von
Freiheit, Recht und Demokratie. In einem Land, das in
seiner 60-jährigen Geschichte fast immer um seine Existenz kämpfen musste und immer von Krieg und Terror
bedroht war, einen funktionierenden Rechtsstaat und
eine freiheitliche Gesellschaft durchzuhalten, das, finde
ich, ist eine ganz besondere Leistung. Ich bin mir nicht
sicher, ob wir Deutschen das schaffen würden.
({1})
Das sollten besonders jene bedenken, die in Deutschland unter linken Vorzeichen antizionistische Kritik an
Israel üben. Ich finde es bemerkenswert, dass Sie, Frau
Pau, und auch Sie, Herr Gysi, sich mit dem Antizionismus in Ihren Reihen kritisch auseinandersetzen wollen.
Aber völlig inakzeptabel ist es, wenn Ihr außenpolitischer Sprecher Verständnis für Raketenangriffe der
Hamas auf Israel äußert.
({2})
Eine besondere Verantwortung für Israel wahrzunehmen, heißt für mich auch, dass wir uns mit antisemitischen Tendenzen, in welcher Form auch immer sie
erscheinen, auseinandersetzen und diesen unmissverständlich entgegentreten. Ich glaube, dass heute die
große Mehrheit der Deutschen durch die kritische Aufarbeitung der nationalsozialistischen Judenverfolgung
gegen Antisemitismus immunisiert ist. Wenn aber eine
neonazistische Partei wie die NPD ganz offen und unverblümt antisemitische Propaganda betreibt und dafür
auch noch auf staatliche Parteienfinanzierung zurückgreifen kann, stößt das nicht nur in Israel zu Recht auf
Empörung.
({3})
In meiner Fraktion sind es vor allem die jüngeren Abgeordneten, die sich auch jenseits der Außenpolitik für
Israel interessieren, für ein modernes, kulturell faszinierendes Land, das voller kreativer Impulse steckt.
65 Prozent der hochmotivierten jungen Menschen studieren an den ausgezeichneten Universitäten und Technischen Hochschulen des Landes. In Deutschland haben
wir große Mühe, einen Anteil von 40 Prozent zu erreichen. Israel ist das Land mit der höchsten Ingenieursdichte auf der ganzen Welt. Es stellt sagenhafte
4,5 Prozent seines Bruttoinlandsproduktes für Forschung
und Entwicklung bereit. Während wir uns Mühe geben,
3 Prozent zu erreichen, hat sich Israel für die nächsten
Jahre schon 10 Prozent als Zielmarke gesetzt. Die Folge
ist: Israel gehört zu den innovativsten Technologiestandorten der Welt. Es gibt 3 000 Hightechunternehmen. Jedes Jahr schaffen es 200 neue Start-ups in den Markt.
Das ist eine inspirierende wirtschaftliche Dynamik, von
der sich auch viele deutsche Wissenschaftler und Unternehmer begeistern lassen. Nicht umsonst ist die
deutsch-israelische Wissenschaftskooperation eine
der intensivsten zwischen den beiden Ländern. Es verbindet uns also nicht nur die Vergangenheit; es verbindet
uns auch die gemeinsame Gestaltung der Zukunft.
({4})
Es gibt viele Möglichkeiten, die guten Beziehungen
zwischen Deutschland und Israel auszubauen. Die Kontakte zwischen den Regierungen und Institutionen sind
eng, vertrauensvoll und verlässlich. Wenn uns aber über
eine Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen - Frau
Müller hatte das schon erwähnt - zur Kenntnis gebracht
wird, dass 53 Prozent der Deutschen gegenüber Israel
keine besondere historische Verantwortung mehr sehen
und diese Haltung bei den Jüngeren sogar noch stärker
ausgeprägt ist, dann müssen wir etwas tun. Die Freundschaft zwischen den Staaten muss immer auch durch
eine Freundschaft zwischen den Menschen untermauert
werden.
({5})
Wir können den Jugendaustausch noch besser fördern
oder Organisationen wie Aktion Sühnezeichen Friedensdienste unterstützen, über die bisher schon 1 500 Menschen einen mehrmonatigen sozialen Friedensdienst in
Israel absolviert haben. Wir können auch kleine Initiativen unterstützen wie das Willy-Brandt-Zentrum in Jerusalem, wo junge Deutsche, Israelis und Palästinenser
darüber debattieren, wie Frieden erreicht werden kann.
Solche zivilgesellschaftlichen Initiativen können helfen,
den Frieden im Nahen Osten zu fördern und unsere
Freundschaft mit Israel zu festigen; denn Freundschaft
erwächst aus Verständnis, Verständnis aus Dialog und
Dialog aus Begegnung. Bauen wir also die Brücke für
die deutsch-israelische Freundschaft auch in die nächste
Generation!
Vielen Dank.
({6})
Das Wort erhält nun der Kollege Eckart von Klaeden,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen!
Die Diskussion über ein Land ist immer auch eine Diskussion über unsere Beziehung zu diesem Land und damit auch eine Diskussion über uns selbst. Das gilt in keinem Fall so sehr wie bei Israel, weil seine Existenz uns
auf Dauer an die deutsche Schuld für den Holocaust erinnern wird. Deswegen haben diejenigen ein besonderes
Problem mit der Existenz Israels, die mit dieser Schuld
nicht umzugehen wissen oder nicht mit ihr umgehen
wollen. Das gilt zunächst für die Antisemiten von rechts,
auf die die Kollegin Pau und der Kollege Kuhn schon
hingewiesen haben. Es gilt aber auch für die Antisemiten
von links, von denen der Kollege Oppermann gerade gesprochen hat, die Antizionismus, Antisemitismus und
Antiamerikanismus miteinander verbinden. Weiterhin
gilt es für einen leider auch in unserem Land zunehmenden islamistisch motivierten Antisemitismus. Diese
Antisemitismen verbinden sich miteinander und nehmen aufeinander Bezug, wenn zum Beispiel der iranische Präsident Ahmadinedschad das Existenzrecht Israels und den Holocaust leugnet, eine Terrororganisation
wie die Hamas unterstützt und wenn gleichzeitig der terroristische Charakter der Hamas verniedlicht oder geleugnet wird.
({0})
In dieser Diskussion wird - ich glaube, das ist einer
der Gründe für die Ergebnisse der Umfrage, die Sie,
Herr Oppermann, gerade zitiert haben - häufig persönliche Schuld mit politischer Verantwortung aus der Geschichte verwechselt. Das gilt insbesondere für die jungen Menschen. Viele verstehen, wenn sie nach einer
besonderen politischen Verantwortung gefragt werden,
das als Frage nach ihrer persönlichen Schuld und verneinen es deshalb. Aber es gibt auch das Phänomen, dass
Antisemiten und Extremisten diese Verwechslung oder
dieses Missverständnis bewusst instrumentalisieren, um
es als Einfallstor für antisemitische und antiisraelische
Argumentation in der Mitte unserer Gesellschaft zu nutzen. Dafür will ich ein paar Beispiele nennen.
Das geläufigste „Argument“ ist, man dürfe Israel
nicht kritisieren. Das ist barer Unsinn; denn kein Land
wird in unserem Land so sehr kritisiert wie Israel. Die
Beispiele sind hier schon genannt worden.
Ein weiteres „Argument“ ist, die Existenz Israels an
sich sei Ursache für das palästinensische Leid. Da fand
ich, Frau Kollegin Pau, Ihre sonst gerade vor dem Hintergrund der Geschichte Ihrer Partei bemerkenswerte
Rede etwas verkorkst. Denn von der Gründung Israels
als einem immer noch blutenden „Kaiserschnitt“ zu
sprechen, halte ich für ein falsches Bild
({1})
- ich weiß -, auch wenn dieses Zitat von einem Israeli
stammt. Von dieser Argumentation ist es nur ein kleiner
Schritt zu dem „Argument“ - ich sage nicht, dass Sie es
sich zu eigen gemacht haben -, das der iranische Präsident Ahmadinedschad immer wieder anführt, nämlich
dass die Gründung des Staates Israel die Folge deutscher
Schuld und des Holocaust sei und der Staat Israel deswegen nach Europa verlegt werden müsse.
({2})
Das ist gerade falsch. Die Gründung des Staates Israel
und seine moralische Legitimation als jüdischer Staat
sind in dem Holocaust begründet. Aber das Existenzrecht Israels ist nicht allein durch die deutschen Verbrechen begründet.
Ein anderes „Argument“, das immer vorgebracht
wird, ist, die Juden behandelten die Palästinenser wie die
Nazis die Juden. Es wird auch von einem Vernichtungskrieg der Israelis gegen die Palästinenser gesprochen.
Wer so argumentiert, versucht, dem israelischen Staat
seine moralische Legitimationsgrundlage zu entziehen,
und stellt damit das Existenzrecht Israels infrage.
Ich nenne ein weiteres Beispiel. So richtig es ist, die
israelische Siedlungspolitik und den Verlauf des Grenzzauns zu kritisieren, so falsch und antisemitisch ist es,
diesen Sicherheitszaun, wie man es häufig hört, mit der
Berliner Mauer gleichzusetzen. An der Berliner Mauer
wurden friedliche Bürger, die ihr Land verlassen wollten, ermordet; am Sicherheitszaun aber werden Selbstmordattentäter daran gehindert, nach Israel zu gelangen.
({3})
Richard Herzinger hat in der Welt am Sonntag vom
4. Mai dieses Jahres zu Recht folgende Fragen gestellt:
Wäre man gegenüber dem Existenzrecht des jüdischen Staates etwa weniger entschieden, hätte es
den Holocaust nicht gegeben? Solidarisiert man
sich mit Israel etwa nur aus schlechtem historischen
Gewissen, nicht aber, weil das heutige Israel an sich
unbedingt verteidigungswert ist?
Damit bringt er zu Recht zum Ausdruck, dass unsere Solidarität mit Israel auch und vor allem eine Frage unserer
Selbstachtung als Demokraten ist. Aufgrund dieser Solidarität müssen wir den Worten auch Taten folgen lassen.
Israel ist ein Land mit einer außerordentlich schwierigen Nachbarschaft; darauf haben andere Redner schon
hingewiesen. Unmittelbar nach seiner Gründung ist es
von seinen arabischen Nachbarn mit dem Ziel angegriffen worden, es zu vernichten. Wenn wir uns die Friedensverträge anschauen, die Israel geschlossen hat, so
können wir den bemerkenswerten Umstand feststellen,
dass Israel nur mit solchen Nachbarn Friedensverträge
hat, die selber über ein Gewaltmonopol - oder jedenfalls
über ein einigermaßen ausgebildetes Gewaltmonopol verfügen wie Jordanien und Ägypten. Es gibt aber keine
Friedensverträge mit Staaten, in denen das Gewaltmonopol nicht geregelt ist, wie zum Beispiel in den palästinensischen Territorien oder im Libanon.
Es ist eine Politik Arafats gewesen, dieses Gewaltmonopol zu verhindern. Nach dem Motto „divide et impera“ hat er die Milizen seines eigenen palästinensischen
Volkes gegeneinander ausspielen können. Gerade deswegen ist die Initiative der Bundesregierung - jetzt
komme ich zu den Taten -, sich um den Aufbau der palästinensischen Polizei zu bemühen und dafür zu sorgen,
dass es zu der Ausbildung eines Gewaltmonopols auch
in den palästinensischen Territorien kommen kann, so
wichtig für die Friedensfähigkeit der palästinensischen
Seite. Nur so kann ein verlässlicher Frieden erreicht werden.
Ich glaube, wir haben noch einen langen Weg zum
Frieden vor uns. Gerade vor dem Hintergrund unseres
Engagements im Rahmen des UNIFIL-Mandates ist
Europa heute im Nahen Osten mehr gefragt als je zuvor.
Das begründet für uns neben der historischen auch eine
besondere neue deutsche Verantwortung.
({4})
Zum Schluss dieser Debatte erhält der Kollege Gert
Weisskirchen für die SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
jüdische Staat Israel, so sagt Claude Lanzmann, ist der
Unmöglichkeit abgetrotzt worden. Tel Aviv, der Frühlingshügel, wird im nächsten Jahr 100 Jahre alt. Das
heißt, die Geschichte Israels beginnt nicht erst mit der
Unabhängigkeitserklärung; sie ist 2000 Jahre alt.
Tel Aviv, so lautet, ins Hebräische übersetzt, der Titel
des utopischen Romans von Theodor Herzl, dem er im
Deutschen den Titel „Altneuland“ gab. Herzl führte
Ende des 19. Jahrhunderts in seinem Konzept die nationalen Gründungsideen Europas auf. Was war damals,
Ende des 19. Jahrhunderts, in Europa die Sorge? Der
wachsende Antisemitismus - wie manchmal auch heute
wieder. Dies scheint also leider so etwas wie ein fester
Bestandteil der europäischen Staaten zu sein - und nicht
nur der europäischen. Im Zeitalter des Nationalstaates,
sagte Theodor Herzl, sei es nötig, eine zionistische Antwort auf die damalige Frage zu geben. Die Antwort hieß:
den Weg zum jüdischen Staat zu öffnen.
Das war übrigens, wenn man noch einmal auf das
19. Jahrhundert zurückblickt, eine Antwort auf die misslungenen Versuche nach der Aufklärung, die jüdische
Emanzipation mit der Demokratie und der Modernisierung zu verknüpfen. Dieser Versuch war leider am Ende
des 19. Jahrhunderts nicht gelungen. Danach konnte der
Nationalismus übrigens bis in die Mitte des letzten Jahrhunderts - historisch gesehen hat das leider so lange gedauert - gegenüber der Emanzipation und dem Gedanken der Aufklärung triumphieren. Wir stehen also vor
einem Versuch in Israel, europäisches Denken in einer
Region zu realisieren, was deshalb hochgradig gefährdet
ist, weil diese Region selbst frei ist von den Gedanken
der Aufklärung und der Emanzipation.
Juden waren es zuerst im 19. Jahrhundert, die dieses
Beben gespürt haben, das schließlich zum Holocaust geführt hat. Sie haben gespürt, dass der Boden unter ihnen
wankt. Die Angst der sich ethnisch säubernden, reinigenden Nationalstaaten ist ganz schnell bei der jüdischen
Minderheit deutlich geworden. Sie haben viel früher als
alle anderen gespürt, dass da etwas heranrückt: der Gedanke, der aus der Aufklärung kommt, der dann in den
sich reinigenden Nationalstaat führt und der dann die jüdische Minderheit auszuschließen begann, aus der nationalen Gemeinschaft ausstieß.
Ich will heute daran erinnern, dass es im Reichstag sozialdemokratische Abgeordnete jüdischer Geburt und
Glaubenszugehörigkeit gab, die bis zum Schluss dagegen
angekämpft haben, dass der Versuch der Reinigung des
Nationalstaates von Minderheiten, der dann nachher erkennbar in die Nazidiktatur führte, stattfand. Ich erinnere
an Rudolf Hilferding, der bei Karl Kautsky mitgearbeitet
hat. Ich erinnere an Ludwig Marum aus Karlsruhe, der leider in einem der frühen Konzentrationslager erdrosselt
worden ist. Ich erinnere an einen Berliner Abgeordneten,
an Kurt Löwenstein, der die Kinderrepublik unterstützt
hat. Er war ein großer Bildungspolitiker in der Stadt Berlin. Sie alle haben deutlich gemacht: Sie wollten diesen
Versuch mit der Kraft ihrer eigenen Persönlichkeit verhindern. Es ist ihnen nicht gelungen - leider.
Die Unabhängigkeit Israels im Mai 1948 war, wie ich
finde, die einzige richtige Antwort, die auf diese gefährliche Entwicklung des Nationalstaats hin zum Nationalismus gefunden wurde. Ich bin heute dankbar dafür - wir
alle sind es -, dass die Vereinten Nationen dies zuvor beschlossen hatten. Wir sind glücklich darüber, dass es den
jüdischen Staat Israel gibt. Er ist nämlich am Ende, wenn
es nicht anders geht, die einzige Zuflucht für diejenigen,
die in der Diaspora sind. Weil Auschwitz immer möglich
sein kann - dies ist vorhin gesagt worden -, brauchen
alle Juden dieser Erde die Chance, in den jüdischen Staat
Israel zu gehen, wenn es denn lebensnotwendig ist. Das
ist die Existenzberechtigung dieses Staates.
({0})
Wir sind dafür, dass wir das Existenzrecht Israels
schützen, stärken und zur Staatsräson erklären, nicht,
weil es sich bei Israel um irgendeinen Nationalstaat handelt, sondern weil Juden eine Überlebensversicherung
brauchen, wenn sie bedroht werden, wenn der Antisemitismus - wo auch immer - explodiert. Sie brauchen diesen Staat. Deshalb ist es Staatsräson der Bundesrepublik
Deutschland, mit dafür zu sorgen, dass dieser Staat lebensfähig ist, dass er Kraft hat, dass er die Fähigkeit besitzt, sich zu wehren, und in der Lage ist, sich mit den
Ländern dieser Erde zu verbinden, die mit Israel gemeinsam dafür kämpfen, dass die Mittelmeerregion - man
sagt Mare Nostrum und meint das Meer, das uns verbindet - durch eine Sicherheitspartnerschaft verbunden
wird.
Herr Kollege Weisskirchen, bitte.
Die Europäische Union hat eine ganze Menge Instrumente zur Verfügung. Es wäre unsere Aufgabe, mitzuhelfen - auch das sollte zur Staatsräson gehören -, dass
die Europäische Union ein Angebot an Israel erarbeitet,
infolge dessen Israel irgendwann die Chance hat, selbstständiger Bestandteil des gemeinsamen Raumes Europa
zu sein. Ich finde, das wäre eine gute Aufgabe für die
Zukunft.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b
auf:
a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bundesbericht Forschung und Innovation 2008
- Drucksache 16/9260 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Präsident Dr. Norbert Lammert
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Kultur und Medien
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Gutachten zu Forschung, Innovation und
technologischer Leistungsfähigkeit 2008
- Drucksache 16/8600 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({1})
Sportausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Kultur und Medien
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 75 Minuten vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Bundesministerin Dr. Annette Schavan.
Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Die HightechStrategie der Bundesregierung - das ist eine der zentralen Aussagen des Bundesberichtes Forschung und Innovation 2008 - besitzt eine hohe Mobilisierungswirkung.
Ich stelle diese Bemerkung bewusst an den Anfang meiner Berichterstattung, weil uns die Frage, ob dieses Konzept, das wir miteinander entwickeln, geeignet ist, um
Investitionen in dem Bereich Forschung und Entwicklung zu mobilisieren und das Innovationsklima in
Deutschland zu verbessern, sowohl im Ausschuss als
auch im Plenum beschäftigt hat. Die Aussage, dass sich
das Innovationsklima deutlich verbessert hat, gehört
ebenfalls zu den zentralen Aussagen des Berichts. Das
wird auch bei Unternehmensumfragen deutlich.
Wir haben einen Zuwachs an hochqualifizierten Arbeitsplätzen im Bereich Forschung und Entwicklung.
Die Unternehmen haben ihren Anteil an Investitionen im
Bereich Forschung und Entwicklung erhöht; für den
Zeitraum zwischen 2005 und 2008 verzeichnen wir einen deutlichen Zuwachs des Bundesanteils. Wir halten
am 3-Prozent-Ziel fest. Wir sind davon überzeugt, dass
das eine zentrale Quelle für mehr Wachstum und Beschäftigung ist.
({0})
Beide Regierungsfraktionen sind fest davon überzeugt - das gilt seit Abschluss des Koalitionsvertrages -,
dass diese Entwicklung als Teil der Lissabon-Strategie in
vielerlei Hinsicht zu Verbesserungen im Wissenschaftssystem führen wird. Sie wird zu neuen Allianzen
und Kooperationen zwischen Wissenschaft und Wirtschaft führen. Das gilt nicht zuletzt mit Blick auf die
Weiterentwicklung der Internationalisierung; denn die
Hightech-Strategie ist als Teil einer europäischen Strategie geeignet, zu noch mehr internationaler Kooperation
mit dem Ziel der Stärkung der Innovationskraft auf dem
Gebiet Technologieentwicklung beizutragen.
({1})
Die Ausgaben im Bereich Forschung und Entwicklung sind von 2005 bis 2008 um 2,1 Milliarden Euro gestiegen. Das ist immerhin ein Aufwuchs um 24 Prozent.
Wir investieren seitens des Bundes mittlerweile über
11 Milliarden Euro. Das ist ein wichtiges Signal für die
anderen Partner. Ich nenne namentlich die Länder und
die Unternehmen. Klar ist: Das 3-Prozent-Ziel wird
nicht allein durch Investitionen des Bundes erreicht. Wir
brauchen entsprechende Entwicklungen in allen 16 Ländern und in den Unternehmen in Deutschland. Wir streben seitens des Bundes für 2008 einen Anteil von
2,7 Prozent am BIP an. Unser Beitrag zur Erreichung
unseres Ziels stimmt. Im Haushalt 2009 streben wir eine
weitere Stufe an. Sie wissen, dass die Haushaltsverhandlungen gerade laufen.
Deutschland bewegt sich damit in der Spitzengruppe
in Europa. Es wird darauf geschaut, wie der Weg
Deutschlands als starker Partner in der Europäischen
Union aussieht, die ihrerseits viel tun muss, um im internationalen Wettbewerb um Wachstum, Beschäftigung und Innovationen zu bestehen. Wer die Entwicklungen in Indien, China und Japan kennt, der weiß, dass
es in Europa insgesamt mehr Leidenschaft mit Blick auf
Innovationen im Bereich Forschung und Entwicklung
geben muss. Wir haben ein gutes 7. Forschungsrahmenprogramm. Wer sich aber die Subventionen der Europäischen Union ansieht, kommt nicht auf die Idee, dass ausreichend Innovationsleidenschaft in Europa vorhanden
ist.
({2})
Wir haben bereits eine gute Wegstrecke zurückgelegt
mit Blick auf Investitionen und die konzeptionelle Kraft,
die damit verbunden ist, und auch hinsichtlich der Fachkräfte sowie der jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der nächsten Generation. Jetzt besteht unsere Aufgabe darin, dafür Sorge zu tragen, dass das
Erreichte nicht Episode bleibt, sondern Verstetigung erfährt. Die Haushaltsverhandlungen 2009 sind hierfür ein
Praxistest; das gilt aber auch für andere Themen und
Weichenstellungen, an denen wir gemeinsam arbeiten.
Ich will über die Prioritäten sprechen. Wer sich die
Frage stellt, welches in der nächsten Dekade international die zentralen Stichworte im Bereich Forschung sein
werden, der kommt zuallererst auf die beiden großen
Stichworte Energie und Gesundheit.
({3})
Auf diesen Gebieten werden wir an einer internationalen
Forschungsagenda arbeiten; viele Wissenschaftszweige,
Fakultäten und ganz unterschiedliche technologische
Entwicklungen im Bereich Energie und Gesundheit sind
davon betroffen. Wir sind gerade dabei - Stichwort Demenzzentrum -, strukturelle Weiterentwicklungen in der
Gesundheitsforschung voranzubringen. Deshalb ist es
richtig, dass wir, was die Themen Klima- und Ressourcenschutz und Energie angeht, einen Aufwuchs der Mittel in Höhe von 23 Prozent und, was den Bereich Gesundheit und Medizintechnik anbetrifft, einen Aufwuchs
in Höhe von 15 Prozent haben. Das sind unsere Flaggschiffe. Übrigens gibt es in beiden Bereichen - ich nenne
nur das DKFZ in Heidelberg - neu entstehende interessante Kooperationen auf europäischer Ebene und international.
Ich nenne als weiteres Beispiel, weil es hier einen besonders interessanten Beschäftigungszuwachs gibt, die
optischen Technologien. Auch hier erweist sich
Deutschland immer mehr als ein interessanter internationaler Partner.
Wenn wir eine gute Weiterentwicklung wollen, müssen wir uns jetzt vor allem um die kleinen und mittelständischen Unternehmen kümmern. Wir alle kennen die
besondere Situation, es gibt ein großes Innovationspotenzial. 65 Prozent dieser Unternehmen gelten als
mögliche Innovationsträger. Deshalb ist es wichtig, dass
wir auch hier umgestellt haben. Wir haben die Mittel für
diesen Bereich um 20 Prozent auf rund 750 Millionen
Euro erhöht, und es wird weitere Steigerungen geben.
Mindestens so wichtig wie die Erhöhung der Mittel
ist das Beratungswesen, die zentrale, ressortübergreifende Beratungsstelle für alle Fragen zur Forschungsund Innovationsförderung des Bundes. Denn kleine und
mittelständische Unternehmen haben keine eigenen Abteilungen, die sich mit allen Forschungsprogrammen beschäftigen können. Deshalb wird es wichtig sein, über
alle beteiligten Häuser den Zugang für kleine und mittlere Unternehmen kontinuierlich zu verbessern. Wir
brauchen offene Programme.
Wir müssen uns auf die Entwicklungsideen der Unternehmen einstellen und dürfen nicht schon vorab festlegen, was überhaupt gefördert werden kann.
({4})
Die Ideen vor Ort müssen zum Tragen kommen. Nur
dann können wir die Innovationskraft der KMU stärken.
({5})
- Ich freue mich, dass das Frau Flach außerordentlich
gut gefällt.
({6})
Ich habe dieses Beispiel genannt, hätte aber auch
viele andere Beispiele anführen können. Denn uns allen
ist völlig klar: Es geht nicht nur um Geld, sondern es
geht auch um die Weiterentwicklung von Strukturen und
Konzepten. Die Hightech-Strategie ist der Inbegriff dessen, was wir im Hinblick auf neue Innovationsallianzen
und im Hinblick auf das Wissenschaftssystem erreichen
wollen. Ich verweise an dieser Stelle nur auf das KIT;
auch hier geht es weiter.
Wir haben zwischen 2005 und 2007 in struktureller,
konzeptioneller und finanzieller Hinsicht eine wichtige
Wegstrecke hinter uns gebracht. Jetzt geht es darum,
eine Verstetigung zu erreichen und das Potenzial, das
entstanden ist, weiter auszubauen.
Sie wissen, welche die weiteren Schritte sind; sie alle
sind schon angesprochen worden. Es geht um die Fragen: Wie können wir das Steuersystem als Teil des Innovationssystems weiterentwickeln? Wie setzen wir Anreize für kleine und mittlere Unternehmen, in Forschung
und Entwicklung zu investieren? Das Jahr 2008, meine
Damen und Herren, wird das Jahr sein, in dem wir die
Weichen für die nächsten Jahre stellen müssen.
Vielen Dank.
({7})
Die Kollegin Cornelia Pieper hat jetzt das Wort für
die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Frau Ministerin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Es liegt in unserer Hand, ob Deutschland
als führender Forschungs- und Industriestandort auch
künftig als Schrittmacher in Forschung, Entwicklung
und Innovation auftritt, und es ist noch nicht zu spät, die
Weichen hin zu einem effizienten Forschungs- und Innovationssystem zu stellen.
({0})
Deutschland liegt bei den Ausgaben für Forschung
und Entwicklung mit rund 59 Milliarden Euro im
OECD-Vergleich auf Platz drei, hinter den USA und Japan und deutlich vor Frankreich, Großbritannien und
Schweden. Aber weltweit - Frau Ministerin hat das zu
Recht gesagt - ist eine Aufholjagd ungeheuren Ausmaßes eingeleitet, angetrieben von China und Indien.
Indien gehört heute zu den Top Ten der Weltrangliste.
China hat uns als Exportweltmeister längst überholt.
Beide Länder haben ein mehr als 10-prozentiges Wirtschaftswachstum. Schwellenländer wie Indien und
China, aber auch die Schwellenländer in Südamerika holen in einem rasanten Tempo nach, was sie bei Forschung und Entwicklung in den letzten Jahren versäumt
haben. Ein „Weiter so“, meine Damen und Herren, darf
es auch nach den Empfehlungen der unabhängigen Expertenkommission „Forschung und Innovation“ nicht
geben. Deswegen meinen auch wir, die Liberalen: Die
Bundesregierung muss bei diesem Thema ein viel höheres Tempo als bisher vorlegen.
({1})
In dem Sachverständigengutachten steht diesbezüglich folgender Schluss: Die internationalen Herausforderungen an unser gesamtes Wissenschaftssystem sind in
den alten Strukturen staatlicher Aufsicht und Detailsteuerung so nicht mehr zu bewältigen. - Das heißt, wenn
wir im Wettbewerb um die besten Köpfe wirklich als atCornelia Pieper
traktiver Wissenschaftsstandort bestehen wollen, dann
brauchen wir nicht nur mehr Investitionen in Bildung
und Forschung.
Es geht nicht allein um Geld. Zuallererst geht es nach
unserer Auffassung auch um mehr Freiheit für die
Hochschulen und Forschungseinrichtungen selbst.
({2})
Dazu kann ich nur sagen: Frau Ministerin, in diesem
Punkt hat uns die Bundesregierung gerade in dieser bzw.
in der letzten Woche eine Bauchlandung par excellence
vorgemacht.
({3})
Sie haben ein Wissenschaftsfreiheitsgesetz angekündigt
und sind durch Ihren Koalitionspartner - Ihre Kollegen
aus der SPD -, der, wie wir wissen, noch nie viel von
Freiräumen für die Wissenschaftseinrichtungen gehalten hat, blockiert worden.
({4})
Die SPD setzt auf Regulierungswut, die der Wissenschaft und der Wirtschaft nur schaden kann. Das ist mit
uns nicht zu machen.
({5})
Statt eines Gesetzes wollen Sie nun Verwaltungsvorschriften vorlegen und in fünf Jahren noch einmal darüber nachdenken, ob es nicht doch ein Wissenschaftsfreiheitsgesetz geben kann. Ich finde das Ganze nur
lächerlich. Frau Ministerin, nehmen Sie sich ein Beispiel
an Nordrhein-Westfalen,
({6})
wo der Innovationsminister ein Hochschulfreiheitsgesetz
eingebracht hat. Das ist der richtige Weg. Das bedeutet
Tempo.
({7})
Wir brauchen ein positives Forschungsklima und
müssen von den ideologischen Debatten wegkommen.
Deswegen haben wir als FDP-Bundestagsfraktion bereits im Januar hier einen Antrag vorgelegt, mit dem wir
Sie auffordern, ein Wissenschaftsfreiheitsgesetz einzubringen. Wir brauchen mehr Freiheit für die Forschungseinrichtungen. Wir wollen Globalhaushalte eingeführt
sehen. Wir wollen die Abkehr von der kameralistischen
Haushaltsführung. Der Vergaberahmen, durch den die
Leistungsbezüge in der Professorenbesoldung gedeckelt
werden, muss fallen. Die Alterssysteme der Forschungseinrichtungen in Deutschland müssen finanziell attraktiver gestaltet werden. Ich glaube auch, die Altersgrenze
muss fallen. Unbürokratische Aufenthalts- bzw. Arbeitsgenehmigungen für Hochqualifizierte aus dem Ausland
und ihre Familien gehören ebenfalls dazu.
({8})
Hier fordere ich die Bundesregierung auf, endlich zu
handeln und nicht nur zu reden.
Meine Damen und Herren, die Große Koalition steht
sich offensichtlich selbst auf den Füßen und ist auf der
Schlussetappe der Wahlperiode auch in forschungspolitischer Sicht einfach handlungsunfähig.
({9})
Die Zahlen des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft haben uns vor Augen geführt: Wenn wir im internationalen Wettbewerb bestehen wollen, müssen wir
die Forschungsinvestitionen von Bund und Ländern steigern und vor allen Dingen auch mehr Anreizsysteme für
die Wirtschaft schaffen, die ja zwei Drittel des dreiprozentigen Anteils am Bruttoinlandsprodukt für die Forschungsausgaben erbringen soll.
({10})
Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, Ihr bürokratisches System für die Forschungsprämie
({11})
hat letztendlich dazu geführt, dass bisher nur 20 Prozent
der Haushaltsmittel abgerufen wurden. Wir haben darauf
gedrängt, dass Sie keine bürokratischen Hürden mit
Ober- und Untergrenzen aufstellen, sondern dass Sie
diese Forschungsprämie freigeben und ein unbürokratisches Antragsverfahren einführen. Auch damit haben
Sie aus meiner Sicht eine Bauchlandung erlitten.
({12})
Ich fordere Sie auf, auch hier zu handeln, und will
noch einmal daran erinnern: Es ist nicht alles Gold, was
glänzt. Fakt ist auch: Seit 2000 ist die Wachstumsrate
der FuE-Intensität in Deutschland und Europa rückläufig. Wir müssen hier mehr tun. Ich ermahne uns ernsthaft, auch über eine steuerliche Förderung der Forschung nachzudenken, wie das die meisten OECDStaaten tun. Wir brauchen mehr Anreize für die Wirtschaft, mehr in Forschung und Entwicklung zu investieren.
Ich kann uns und besonders der Bundesregierung nur
raten: Nur wer wagt, gewinnt. Handeln Sie! Deutschland
muss Spitze in der Forschung bleiben.
Vielen Dank.
({13})
Jetzt hat der Kollege René Röspel für die SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Nach zehn Jahren sozialdemokratischer Forschungspolitik in Verantwortung und - wie jetzt - Mitverantwortung steht Deutschland gut da. Frau Pieper, Sie
haben in Ihrem Schlusssatz ja gesagt, dass sich Deutschland bei der Forschung tatsächlich an der Spitze bewegt.
({0})
Das ist zwar kein wörtliches Zitat aus dem Gutachten zu
Forschung, Innovation und technologischer Leistungsfähigkeit, aber es ist eine gute Quintessenz.
Eine Bemerkung zu Ihren Ausführungen, Frau Pieper,
sei mir erlaubt.
({1})
Es ist sicherlich Recht und Aufgabe der Opposition, Kritik zu üben und miesepetrig zu sein, aber dazu gehört
manchmal auch, ehrlich in die Vergangenheit zurückzublicken. Im Gutachten wird festgestellt, dass Deutschland sich bis Mitte der 80er-Jahre in Forschung und
Entwicklung eine Spitzenposition unter den Industrieländern erarbeitet hatte, diese Dynamik zu Beginn der
90er-Jahre aber jäh abbrach und erst Ende der 90er-Jahre
erneut einsetzte.
({2})
Man kann das so übersetzen, dass Sie als FDP nur
einmal an einer erfolgreichen Forschungspolitik beteiligt
waren. Das war zu Zeiten der sozialliberalen Koalition.
Aber auch da wurden alle Forschungsminister von der
SPD gestellt. Die Dynamik, die Sie in Ihrer Koalitionszeit im Bund abgewürgt haben, wie es im Gutachten
festgestellt wird, haben wir erst unter Rot-Grün wieder
aufgenommen und setzen sie jetzt mit Frau Schavan und
Finanzminister Steinbrück mit einem guten Etat fort.
({3})
- Lesen Sie das Gutachten! Das stammt nicht von mir,
sondern von der unabhängigen Kommission.
Deutschland ist immer noch Exportweltmeister.
2005 hat Deutschland forschungs- und entwicklungsintensive Waren im Wert von 430 Milliarden Euro exportiert. Deutschland war damit vor Japan und den USA
weltweit führender Technologieexporteur. Den Großteil
der exportierten Waren machten allerdings die sogenannten hochwertigen Technologiegüter aus. Automobilbau, Maschinenbau, Chemie und Pharmazie sind, wie
wir wissen, seit Jahren Deutschlands Zugpferde im Export, in der Wissenschaft und in der Technologie. Zugpferde muss man pflegen. Aber man muss auch bereit
sein und die Weitsicht haben, umzusatteln. Wenn die
Zugpferde irgendwann nicht mehr funktionieren oder zu
alt sind, dann muss man gute neue Pferde im Stall haben,
auf die man umsatteln kann. Das ist die Spitzentechnologie.
An dieser Stelle gibt das Gutachten in der Tat kritisch
zu bedenken, dass die Spitzentechnologie nur ein Viertel der technologieintensiven Güter, die wir exportiert
haben, ausmacht. Deswegen ist es sehr gut, dass die
Bundesregierung und die Große Koalition schon vor einigen Jahren begonnen haben, in die Spitzentechnologie
zu investieren und damit diese neuen Pferde zu satteln.
Das ist mit der Hightech-Strategie und den dabei vorgesehenen Innovationsallianzen in den Bereichen Gesundheit,
Mobilität, Luft- und Raumfahrt und der Entwicklung
neuer Elektromobile und Brennstoffzellen gelungen. Ich
will das nicht näher ausführen, weil Frau Ministerin
Schavan bereits sehr ausführlich und gut darauf eingegangen ist. Mit der Zielsetzung, die Entwicklung neuer
Energiespeicher, Leuchtdioden, Beleuchtungssysteme,
Elektronik und Fotovoltaik anzuregen und zu fördern,
haben wir den ersten Schritt gemacht.
Im Gutachten wird auch festgestellt - ich zitiere -:
Die Mobilisierung innovativer Kräfte in Deutschland scheint … zu gelingen.
({4})
Das ist die erste Prognose. Das heißt, wir haben recht
mit der Hightech-Strategie und dem, was wir machen.
Allerdings - es geht nicht nur um Selbstlob, sondern
auch um Selbstkritik - gibt es Bereiche, in denen wir
stärker investieren müssen. Dazu gehören die Bereiche
Umwelt, Klima und Nachhaltigkeit. Darin sind wir bereits stark. Wir sind Weltmarktführer im Technologieund Patentbereich bei Solar- und Windenergie. Aber es
gibt noch viel mehr Potenzial, das gehoben und gefördert werden muss. Deswegen müssen wir an dieser
Stelle nachlegen. Das ist gar keine Frage.
Das Gutachten regt auch an - auch damit müssen wir
uns befassen -, dass Forschung und Investitionsförderung des Bundes generell verstärkt auf Spitzentechnologien auszurichten sei. Wir müssen den Blick darauf richten, inwieweit das bisher erfolgt.
Das Gutachten weist auch darauf hin, dass der größte
Beschäftigungszuwachs in den letzten Jahren im Bereich
der wissensintensiven Dienstleistungen erfolgt ist. Das
spiegelt den Strukturwandel zur Dienstleistungsgesellschaft wider, den wir vollziehen. Deshalb war es gut
- darauf wird Kollege Hagemann als Haushaltspolitiker
vielleicht eingehen -, dass die SPD in den Haushaltsberatungen Bereiche wie Arbeit, Kompetenzentwicklung
und innovative Dienstleistungen gegen die Kürzungsvorschläge der anderen Fraktionen verteidigt hat.
({5})
Deutschland ist ein guter Forschungsstandort. Auf
Seite 24 des Gutachtens ist zu lesen:
Deutschland ist nach den Vereinigten Staaten weltweit der größte Forschungsstandort für ausländische Unternehmen.
Entgegen den Unkenrufen - beispielsweise seit Jahren der FDP -, dass wir mit Abwanderung rechnen müssen, ist das also nicht der Fall. Wir sind der zweitstärkste
Forschungsstandort für ausländische Unternehmen. Sie
kommen nach Deutschland. Allerdings steht in dem Gutachten auch:
Verlagerungen deutscher FuE-Standorte sind derzeit noch selten, dürften mittelfristig aber zunehmen.
Jetzt kommt der wichtige Satz:
Dabei spielt weniger der Lohnunterschied als vielmehr die Verfügbarkeit von Fachkräften eine Rolle.
Es ist die dringende Warnung dieses Gutachtens, dass
der Fachkräftemangel in Deutschland, der nicht nur
sichtbar, sondern inzwischen in den Unternehmen auch
greifbar geworden ist, das Innovationssystem belastet.
Wir brauchen nicht nur viel mehr gut ausgebildete Auszubildende im dualen System, sondern mindestens jedes
Jahr 50 000 zusätzliche Akademiker in Deutschland.
Das müssen wir schaffen, zum Beispiel über die Steigerung der Erwerbsquote von Frauen oder eben über
eine erhöhte Zahl von Jugendlichen in Ausbildung. Die
Große Koalition reagiert bereits auf diesen Bedarf.
Heute Nachmittag werden wir das Kinderförderungsgesetz in erster Lesung beraten. Das Bundesforschungsministerium und die Große Koalition wollen mithilfe des
Hochschulpaktes 2007 bis 2010 jedes Jahr 90 000 zusätzliche Studienanfänger gewinnen. Wir wollen Aufstiegsstipendien für beruflich qualifizierte Menschen
vergeben. Wir wollen, dass der Hochschulzugang für
qualifizierte Berufsabgänger leichter wird; denn der
Meister ist genauso gut qualifiziert wie ein Abiturient
und sollte studieren können. Wir wollen endlich die
mangelhafte Weiterbildungsquote in Deutschland verbessern. Wir müssen es erreichen, dass Unternehmen
und Arbeitnehmer mehr Weiterbildung machen. Wir legen ein Professorinnenprogramm auf und noch vieles
andere.
Der dringende Appell dieses Gutachtens zum Thema
Fachkräftemangel ist weniger an den Bund, sondern in
erster Linie an die Länder gerichtet. Ich fordere die Länder auf, gemeinsam mit dem Bund und den Kommunen
diesem gesellschaftlichen Skandal entgegenzutreten,
dass jedes Jahr 80 000 junge Menschen ohne Schulabschluss in die Gesellschaft entlassen werden,
({6})
dass 15 Prozent der 20- bis 29-Jährigen in unserem Land
keinen Berufsabschluss haben, dass wir mit 15 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund ein großes
Potenzial im Wesentlichen brachliegen lassen, das gesellschaftlich und ökonomisch für unser Land so wichtig
ist. Das alles ist ein Skandal für ein Land, das sich „sozial“ nennt. Das kann zur Katastrophe für ein Land werden, das Technologieführer bleiben will.
Meinen letzten Bereich möchte ich damit abschließen, dass die Forderung des Gutachtens, das Bildungssystem zu verändern, unterschiedliche politische Antworten in unserem Land findet. In meinem Heimatland
Nordrhein-Westfalen, in dem CDU und FDP in der Regierung sind, wird die Forderung nach Veränderung des
Bildungssystems mit höheren Kindergartengebühren,
stärkerer Aufteilung nach sozialer Herkunft und der Einführung von Studiengebühren beantwortet. Das erlebe
ich als Vater von Kindern in der Schule und im Kindergarten.
Wir als SPD wollen - da machen wir die Unterschiede deutlich - eine gute und kostenfreie Bildung für
alle, keine Kindergartengebühren und keine Studiengebühren. Wir kämpfen für das BAföG. Wir wollen, dass
jeder Jugendliche in dieser Gesellschaft eine Chance bekommt, einen Berufsabschluss zu machen. Wenn er
diese erste Chance nicht nutzt, dann soll er um seiner
selbst willen eine zweite und eine dritte bekommen, weil
er es wert ist und weil wir Technologieführer bleiben
wollen.
({7})
Die Kollegin Dr. Petra Sitte spricht jetzt für die Fraktion Die Linke.
({0})
Danke schön. - Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Die Zukunft beginnt heute, das sollte doch wohl
die Kernbotschaft eines Bundesforschungsberichtes sein.
Es geht letztlich um nichts Geringeres als darum, Strategien für die Sicherung des Wohlstandes einer Gesellschaft zu entwickeln, in der es gerechter und ökologischer zugeht und in der Kultur und Ethik auch als zivilisatorische Gewinne begriffen werden.
Immerhin könnten Forschung und Innovation wesentliche Potenziale für gerechtere Lebenschancen von
Menschen unabhängig von ihrer sozialen Herkunft freisetzen, wenn, ja wenn Politik ihre Ziele tatsächlich an
diesem „langfristigen Nutzen für Bürgerinnen und Bürger“ ausrichten würde. Genau so wurde es in dem von
Herrn Röspel bereits zitierten Gutachten der Expertenkommission „Forschung und Innovation“ im Februar
2008 auf den Punkt gebracht. Dazu kann ich nur sagen:
So sieht es auch die Linke.
({0})
Die Bundesregierung allerdings bezeichnet Innovationspolitik als „zentrales Element ihrer Wachstumspolitik“. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist ein Schritt
zurück. Dies sage ich insbesondere an die Adresse der
SPD: Sie haben im Jahre 2000 zusammen mit den Grünen eine nationale Nachhaltigkeitsstrategie aufgelegt.
Die strategische Ausrichtung sollte darauf hinauslaufen,
die Bedürfnisse der heutigen Generation zu befriedigen,
ohne die Bedürfnisse künftiger Generationen zu gefährden. Einen solchen solidarischen Ansatz unterstützt auch
die Linke.
Dem Bericht hingegen kann man entnehmen: Im
Zweifel geht Wachstum vor Nachhaltigkeit. So ist der
Bundesforschungsbericht zunächst nichts als eine interessante Sammlung von Zahlen und Fakten. Allerdings
werden an keiner Stelle die Folgen der Unterordnung
von Forschung und Entwicklung unter die Interessen
von Wirtschaft und dort wiederum insbesondere unter
die Interessen von Großunternehmen reflektiert. Damit
liefern wir uns auch in diesem Bereich nahezu ungeschützt global vernetzten Finanzmärkten mit ihren Spekulationspotenzialen und den Konzernen als Global
Playern aus.
({1})
Die Bundesregierung konzentriert die Förderung auf
Branchen wie Automobil- und Pharmaindustrie, Energie
sowie Luft- und Raumfahrt. Gerade diese Branchen aber
werden von einigen wenigen international agierenden
Unternehmen bestimmt. Damit stellt sich zwangsläufig
die Frage: Sind die Schwerpunkte der Innovationspolitik richtig und im richtigen Verhältnis zueinander
gesetzt, wenn wir Sozial- und Beschäftigungssysteme,
aber eben auch die Umwelt nachhaltig konditionieren
wollen? Die Linke sagt: Dazu bedarf es einer weiteren
und neuen gesellschaftlichen Diskussion.
({2})
Dies beginnt für uns damit, dass die Entscheidungsräume öffentlicher Kontrolle wieder zurückgeholt werden müssen. Warum ist es mir so wichtig, das hier zu
sagen? Weil inzwischen die Lobbyisten großer Unternehmen und ihrer Verbände in Gremien der Bundesregierung die öffentliche Forschungsförderung nachhaltig beeinflussen, beispielsweise in der Forschungsunion
oder den sogenannten Innovationskreisen. Was dort
stattfindet, ist äußerst grenzwertig: Sie helfen nicht nur
beim Schreiben von Gesetzen - das haben wir nun auch
schon in anderen Bereichen erfahren -, nein, sie sitzen
eigentlich direkt an der Quelle und nehmen lange vor der
Erarbeitung von Gesetzen Einfluss auf die strategische
Ausrichtung von Förderprogrammen der Bundesregierung. Inzwischen gibt es zwar erfreuliche Bemühungen
um kleine und mittelständische Unternehmen; aber die
größten Beträge fließen nach wie vor an die Großen der
bereits zitierten Branchen: Diese wären allemal selbst
stark genug, die Forschungsrisiken aus eigener Kraft zu
schultern.
({3})
Es gibt Länder, in denen genau diese Philosophie vertreten wird, beispielsweise die Schweiz.
Durch dieses Herangehen bleiben grundsätzliche Probleme in Inhalten und Strukturen der Förderpolitik ungelöst. Unsere beiden Grundkritiken bestehen erstens in
der Selektivität unseres Bildungs-, aber auch des Forschungssystems und zweitens in der mangelnden Nachhaltigkeit von Forschung und Wirtschaft in Deutschland.
Zur ersten Grundkritik: Schülerinnen und Schüler unterliegen einem Ausleseprozess, der viel stärker an ihre
soziale Herkunft als an ihre Fähigkeiten anknüpft. Sie
wissen, dass das zu irreversiblen Folgen für ganze Lebensläufe führt, insbesondere bei Kindern und Jugendlichen, die in irgendeiner Form behindert sind. Auch die
jüngste Qualifizierungsoffensive doktert letztlich nur an
Symptomen herum. Dabei wäre es notwendig, ursächlich anzusetzen.
({4})
Wir brauchen ein homogenes System - wohlgemerkt:
ein homogenes und kein gleichmachendes System - über
alle Bundesländer hinweg, dessen Bildungsangebote
konsequent im frühkindlichen Bereich beginnen und
über die gesamte Berufszeit durch Weiterbildung erhalten bleiben. Dafür nimmt die Bundesregierung zwar
Geld in die Hand, aber aus unserer Sicht viel zu wenig.
({5})
Deshalb fragen wir Sie: Wann eigentlich wollen Sie
die gravierenden Ungleichgewichte zwischen öffentlicher Bildungsfinanzierung einerseits und Technologieförderung andererseits nachhaltig korrigieren? Diese
Defizite schränken letztlich - das hat sich bereits gezeigt die Chancen für den wissenschaftlichen Nachwuchs an
den Hochschulen ein. Dort nehmen nämlich befristete
und ungesicherte Beschäftigungen zu. Das wäre mit dem
Wissenschaftsfreiheitsgesetz, Frau Pieper, noch viel
schlimmer gekommen.
({6})
Dies wirkt sich auch besonders negativ auf Frauen in der
Wissenschaft aus.
Hinzu kommt verschärfend - das muss man hier unbedingt sagen -, dass das Hochschulsystem in Gänze unterfinanziert ist und bleibt. Dieses Austrocknen von
Quellen muss aufhören.
Damit leider nicht genug: An Weiterbildungsmaßnahmen - dies wurde schon gesagt - nehmen in
Deutschland nur 12 Prozent der Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer teil. Bei den Trägern qualifizierter Weiterbildungsangebote findet seit Jahren ein massenhaftes
Absterben statt. Der Preis dafür sind Niedriglöhne in
diesem Bereich und Tausende arbeitslose Weiterbilder.
Was hört man allerorten? Fachkräftemangel! Schon so
oft haben wir hier über Fachkräftemangel diskutiert. Was
bitte ist das für eine Innovationspolitik, die intellektuelle
Potenziale in solch einem Umfang ungenutzt lässt? Die
Linke sagt: Da muss man endlich umsteuern!
({7})
Schließlich und endlich wirkt diese Innovationspolitik auch innerhalb des Forschungssystems selektiv.
So war die Grundlagenforschung Deutschlands international hoch angesehen. Jetzt mehren sich warnende
Stimmen, dass die Grundlagenforschung durch Überbetonung der Anwendungsorientierung bei der Forschungsförderung wegzubrechen beginnt. Zugleich vertiefen sich die Abhängigkeiten der Hochschulen von
Geldgebern aus der Wirtschaft. Ich kann nur sagen: Die
Freiheit von Forschung und Lehre - wie sie das Grundgesetz versteht - ist auf eine völlig andere Art, als wir
das bisher kannten, bedroht. Wir warnen vor der Aushöhlung dieses Grundrechts.
({8})
Die zweite Grundkritik der Linken bezieht sich auf
die mangelnde Nachhaltigkeit deutscher Innovationspolitik. Der jüngste Forschrittsbericht zur Nationalen
Nachhaltigkeitsstrategie zeigt: Die Milliardenmittel für
Innovation steigern das Wirtschaftswachstum, aber auf
Kosten einer nachhaltigen sozialen und ökologischen
Entwicklung. Beispielsweise werden wieder verstärkt
die Nuklearforschung oder die höchst fragwürdige Einlagerung von CO2 unter der Erde gefördert. Das hat mit
Ökologie überhaupt nichts zu tun; denn die Ergebnisse
sind völlig offen und kommen letztlich nur den Energiemonopolisten zugute.
({9})
Auch die Automobilindustrie baut ihre Marktstellung
mit öffentlichen Geldern aus. Angesichts dessen, dass
diese Gelder bei hochklassigen Pkws, die, wie wir wissen, Spritfresser sind, ankommen, frage ich mich: Was ist
das für eine Innovationspolitik? Zugleich fehlen uns innovative Wege zu besserem öffentlichen Personenverkehr.
Meine Damen und Herren, unbestritten sind kleine
und mittelständische Unternehmen entscheidende Impulsgeber für neue, innovative Projekte. Aber deren Anteil an Forschung und Entwicklung ist, wie Gutachten
gezeigt haben, rückläufig. Das ist insbesondere für Ostdeutschland fatal. Leider Gottes sind viel weniger neue
Arbeitsplätze entstanden, als notwendig sind und ursprünglich erwartet wurden. Das soll nicht heißen, dass
diese Förderung falsch ist. Wir brauchen allerdings ostspezifische Programme. Diese werden im Bildungs- und
Forschungsbereich zumeist - na, immerhin - secondhand aufgelegt, und zwar genau dann, wenn wir praktisch vorgeführt bekommen haben, dass die ostdeutschen
Länder bei wettbewerblich angelegter Forschungsförderung wie etwa der Nominierung von Eliteuniversitäten
fast chancenlos geblieben sind, ja bleiben mussten.
({10})
So ist der Abstand zwischen Ost und West nicht nur im
Sozialen, sondern auch im Bereich der Wissenschaft
wieder gewachsen.
Wir wollen das nicht hinnehmen.
({11})
Die Linke findet: Innovation boomt nicht nur, wenn der
Markt Hurra schreit. Mindestens genauso innovativ ist
es doch, wenn Forschung und Entwicklung soziale und
ökologische Impulse setzen. Das stünde im Übrigen
auch einer Forschungsministerin, die sich selbst als
wertkonservativ versteht, gut zu Gesicht.
Ich danke.
({12})
Priska Hinz hat jetzt das Wort für Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die Grünen sind der Meinung, dass gute Bildung,
die Förderung von Neugier und Wissensdurst die Voraussetzungen für Forschung und Innovation sind. Einrichtungen wie Kindergarten und Schule haben dafür einen zentralen Stellenwert. Ohne gute Bildung gibt es
keine gute Forschung und keine Qualifizierung von
Nachwuchs. Eben weil wir schon einen Fachkräftemangel haben, wird die Bildung zur Schlüsselfrage, um Forschung und Innovation in Deutschland zu sichern.
Schauen wir uns einmal an, was die Expertenkommission „Forschung und Innovation“ dazu schreibt. Sie beschreibt in dem Bericht Bildungsstagnation und geringe
Weiterbildung als Gefahren für den Innovationsstandort
Deutschland. Sie macht die Problematik einer sehr frühen Trennung im deutschen Schulsystem deutlich. Sie
kritisiert, dass im Übergangssystem keine voll qualifizierenden Abschlüsse erlangt werden und dass die Studierendenquote zu gering ist. Diese Kritik war auch
schon im letzten Bericht nachzulesen und wurde in der
Debatte im letzten Jahr angesprochen. Leider hat die
Koalition wenig getan, um gerade diese drängenden Probleme zu lösen. Die notwendige Strukturreform in der
Ausbildung findet nicht statt. In der Weiterbildung gibt
es nach drei Jahren endlich ein schriftliches Konzept.
Der Hochschulpakt ist unterfinanziert. Der Bildungsgipfel, der im kommenden Herbst stattfinden soll, droht an
den Einsprüchen der Kultusminister und der Ministerpräsidenten der Union erneut zu scheitern und zu einer
Maus zu werden.
({0})
Bildung muss von gesamtstaatlicher Verantwortung
getragen werden. Sonst werden wir den Anschluss in der
Qualifizierung einer bedarfsgerechten Zahl an Fachkräften und unsere Wettbewerbsfähigkeit verlieren. Frau
Schavan, wir erwarten von Ihnen, dass Sie sich endlich
für diese Themen einsetzen und sich durchsetzen.
({1})
Leider haben Sie in der letzten Woche einmal mehr
Ihren Ruf als Ministerin der großen Worte und der kleinen Taten gefestigt. In Meseberg haben Sie vollmundig
ein Wissenschaftsfreiheitsgesetz angekündigt. Was machen Sie jetzt, da der nächste Sommer naht? Es wird still
und leise beerdigt, wie der Presse zu entnehmen ist.
({2})
Wieder einmal wurde aus einem großen Ballon die Luft
herausgelassen. Jetzt wollen Sie kleine Schritte auf dem
Verwaltungsweg gehen. Aber wir wissen, was von solchen Versprechungen Ihrerseits zu halten ist.
Sie haben auch eine Änderung des Vergaberechts
versprochen und gesagt, dass die Bagatellgrenze für Forschungseinrichtungen bei der freihändigen Vergabe von
8 000 auf 30 000 Euro anzuheben sei. Nun hat Herr Glos
einen Gesetzentwurf zum Vergaberecht vorgelegt. Aber
nichts lässt sich von dem finden, was Sie angekündigt
haben. Sie hätten unsere Unterstützung gehabt. So lösen
Sie Ihre Versprechen ein! Ich befürchte, dass die Forschungseinrichtungen noch lange darauf warten können,
dass sich endlich etwas ändert.
({3})
Priska Hinz ({4})
Diese Regierung ist einst mit dem Motto „Sanieren,
Reformieren, Investieren“ angetreten.
({5})
Das Motto der Regierung heute lautet aber: Ankündigen,
Aufschieben, Beerdigen.
({6})
Das gilt auch beim Klimaschutz. Hier versagt die Bundesregierung auf der ganzen Linie. Schon jetzt ist klar:
Die Bundesregierung wird mit den geplanten Maßnahmen ihre Klimaschutzziele meilenweit verfehlen. Anstatt sich endlich auf konkrete Schritte zu einigen, streitet die Regierung wochenlang vor sich hin. Angesichts
dessen muss sich eine Forschungsministerin doch fragen
lassen, was die Aufwüchse im Forschungsbereich dann
eigentlich wert sind. Manche Neuerungen brauchen
doch den Anreiz durch staatliche Programme, um die
Marktschwelle zu nehmen. Ihr Credo in der HightechStrategie war, die gesamte Wertschöpfungskette in den
Blick zu nehmen. Aber beim Klimaschutz gilt das anscheinend nicht. Innovation fördern sieht anders aus,
Frau Schavan.
({7})
Beim Erreichen des 3-Prozent-Ziels für Investitionen
in Forschung und Entwicklung gibt es Fortschritte; das
gestehen wir zu. Das ist gut. Aber die gegenwärtigen Erfolge sind auf konjunkturellem Sand gebaut. Das sagt
selbst die von Ihnen eingesetzte Expertenkommission
„Forschung und Innovation“. Sie schreibt, „dass ein Teil
der Zunahme der deutschen F-und-E-Aufwendungen im
Jahr 2006 nur konjunktureller und nicht struktureller Natur ist“. Vor diesem Hintergrund ist die entscheidende
Frage: Was ändert sich strukturell? Wie sieht hier die
Bilanz der Bundesregierung aus? Die Unternehmensteuerreform ist ein Desaster für innovative Unternehmen.
Der beschleunigte Wegfall von Verlustvorträgen, mehr
Bürokratie und steuerliche Belastungen von Forschung
und Entwicklung schwächen den Innovationsstandort
Deutschland. Das ist das Gegenteil dessen, was wir brauchen.
Stichwort „Wagniskapital“. Hier sind Sie halbherzig
und zu kurz gesprungen. Ihr Gesetz sollte die Finanzierung von Unternehmen mit Wagniskapital verbessern.
Was sagt Ihre Kommission dazu?
Das Gesetz geht zwar in die richtige Richtung, ist
aber derart restriktiv, dass es nur einen Bruchteil
des Marktes erfasst.
Das ist maximal ein Ungenügend. Herr Riesenhuber, eigentlich müssten Sie bei einer solchen Bemerkung in
diesem Bericht aufschreien.
({8})
Wir Grünen fordern, innovative kleine bis mittelgroße
Unternehmen, die zunächst mindestens 30 Prozent ihrer
Umsätze in Forschung und Entwicklung investieren, und
ihre Wagniskapitalgeber steuerlich zu fördern. Wir fordern Sie, Frau Bundesministerin, hier nachdrücklich auf,
sich für Verbesserungen einzusetzen; sonst haben Sie Ihr
Ziel verfehlt, strukturell etwas zu verändern.
({9})
Auch die Forschungsprämie ist ein Flop.
({10})
Bisher wurden gerade einmal 20 Prozent der Mittel abgerufen. Da muss man sich als verantwortliche Ministerin doch fragen lassen, ob das Instrument richtig konzipiert ist. Eigentlich müssten Sie sagen, was Sie da
verändern wollen.
({11})
Aber man hört nichts von Ihnen. Einen Sprecher Ihres
Ministeriums lassen Sie verlautbaren, dass es die Zeit
schon richten werde. Von viel Tatkraft ist da nichts zu
merken.
Ich möchte nun auf ein wichtiges Forschungsfeld zu
sprechen kommen. Bei der Nanoforschung stehen Entscheidungen von wegweisender Bedeutung für diese
Schlüsseltechnologie an. Wir Grünen haben von Anfang
an die Nanotechnologie gefördert. Aber wir sind der
Meinung, dass die Chancen und die Risiken stärker als
bislang erforscht werden müssen. Deutschland ist auf
dem Feld zwar ganz gut aufgestellt, aber wir können nur
dauerhaft mit einem Wettbewerbsvorteil rechnen, wenn
die Produkte und Produktionsprozesse mit Nanotechnologie nicht nur gut, sondern auch wirklich sicher sind.
Deshalb brauchen wir Leitbilder für den Umgang mit
Nanomaterialien, und die heißen Nachhaltigkeit und Sicherheit.
Bisher hat die Bundesregierung nicht den Eindruck
gemacht, als sei ihr dieses Thema besonders wichtig.
Den Bericht, den wir als Opposition Ihnen mühsam abringen mussten, der inzwischen schon wochenlang - um
nicht zu sagen: monatelang - im Ausschuss liegt, der
spricht eine deutliche Sprache.
({12})
- Sie brauchen gar nicht so verwundert mit dem Kopf zu
schütteln. Herr Tauss, wir mussten einen Antrag stellen,
damit die Bundesregierung einem Beschluss des Bundestages nachkommt, zwei Jahre nach einem festgelegten Datum endlich einen Bericht vorzulegen. Da können
Sie doch nicht so tun, als sei es ein selbstverständlicher
Vorgang, dass die Bundesregierung zum Handeln getragen werden muss.
({13})
Auch zum Verhaltenskodex der EU-Kommission für
verantwortungsvolle Forschung im Bereich der Nanowissenschaften vom Februar 2008 gibt es bislang noch
keine Reaktionen der Bundesregierung. Der Wettbewerbsrat tagt Ende dieser Woche. In der Vorausschau hat
die Bundesministerin uns mitgeteilt, es gebe überhaupt
Priska Hinz ({14})
keine Vorlage für einen EU-Verhaltenskodex. Frau
Schavan, Sie werden sich zu den EU-Forderungen nach
Nachhaltigkeit, Vorsorge und Verantwortlichkeit äußern
müssen. Sie werden Farbe bekennen müssen, wie ernst
Sie es damit meinen, wenn Sie sagen, dass wir diese Produkte wirklich wollen. Diese erhalten nämlich nur dann
wirklich Akzeptanz in der Bevölkerung, wenn man die
Risikoforschung vorantreibt und all diese Produkte standardisiert.
({15})
Ich komme zum Schluss. Die Empfehlung der Kommission ist sehr interessant. So soll die strategische Ausrichtung auf nachhaltiges Wirtschaften und der Ausbau
wissensintensiver Dienstleistungen umgesetzt werden.
Das ist ganz in grünem Sinne. Wir haben für die ganze
Bandbreite schon Vorschläge gemacht. Wir sind der
Meinung, dass eine Regierung sich keine Blöße gibt,
wenn sie gute Vorschläge der Opposition umsetzt. Da
bauen wir auf Sie.
Danke schön.
({16})
Ilse Aigner spricht jetzt für die Fraktion der CDU/
CSU.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Nachdem das Wissenschaftsfreiheitsgesetz
hier mehrfach angesprochen worden ist, möchte ich dazu
schon zwei Takte sagen. Sehr geehrte Frau Hinz, wie
beim Hochschulpakt haben wir nicht nur etwas angekündigt, sondern wir werden auch etwas umsetzen: Im
Sommer dieses Jahres werden die zuständigen Minister
eine untergesetzliche Lösung vorlegen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich würde sagen: Es ist eigentlich egal, auf welchem Wege man etwas zustande
bringt; Hauptsache, es bewegt sich etwas.
({0})
Dass gerade die FDP, die immer für Entbürokratisierung steht, ein Gesetz fordert, finde ich etwas verwunderlich.
({1})
Ich glaube, man kann auch einen anderen Weg als den
der Verabschiedung eines Gesetzes beschreiten. Das Ergebnis ist das Entscheidende. Etwas, wodurch dieses Ergebnis erreicht wird, werden wir dementsprechend vorlegen.
({2})
Wir beraten heute den Bundesforschungsbericht und
nicht den Bundesbildungsbericht und auch nicht den
Bundesweiterbildungsbericht.
({3})
Deshalb schlage ich vor, dass wir schwerpunktmäßig
dieses Thema, nämlich die Forschung, fokussieren.
Ein wichtiges Thema ist - es ist hier immer wieder
angesprochen worden - das sogenannte 3-Prozent-Ziel.
Unseren Zuhörerinnen und Zuhörern, die vielleicht gar
nicht wissen, was das 3-Prozent-Ziel eigentlich ist und
warum wir es brauchen, möchte ich zur Erläuterung kurz
sagen: Es geht darum, dass ein fortschrittlicher Staat
3 Prozent seines Bruttoinlandsproduktes in Forschung
und Entwicklung investieren sollte, und dies nicht einfach aus Jux und Tollerei, sondern weil es einen direkten
Zusammenhang zwischen Wirtschaftswachstum und
vorgelagerter Forschungsförderung gibt. Übrigens wird
in diesem Bundesforschungsbericht an einer Abbildung
eindeutig unter Beweis gestellt, dass hohe Forschungsförderung hohes Wirtschaftswachstum nach sich zieht.
Zur Frage der Finanzen. Sehr geehrter Herr Röspel,
ich würde es so nicht sagen, aber aufgrund dessen, dass
Sie immer wieder betonen, alles habe etwas mit der SPD
zu tun, muss ich es doch etwas auf die Union fokussieren: Von 2002 bis 2005 haben die Ausgaben für Forschung und Entwicklung bei ungefähr 9 Milliarden Euro
stagniert.
({4})
- Nein, im Bundesetat. - 2008 werden über 11 Milliarden Euro in Forschung und Entwicklung investiert - das
ist nachgewiesen; das steht sogar im Bundesforschungsbericht -; diese Zahl wird hoffentlich noch gesteigert. Es
handelt sich also um eine Zunahme von fast 25 Prozent.
({5})
Liebe Damen und Herren, egal aus welcher Fraktion, jeder Forschungspolitiker in diesem Hause müsste über einen solchen Zuwachs in Forschung und Entwicklung jubeln.
({6})
Sehr geehrter Herr Staatssekretär der Finanzen - vielleicht leiten Sie es an unseren Bundesminister der Finanzen weiter -, wir würden es natürlich gerne sehen, wenn
es zu einer Verstetigung käme. Die Ministerin hat dementsprechend angemeldet, weiterhin den Weg der Erfüllung des 3-Prozent-Ziels zu beschreiten; wir unterstützen
sie darin. Ich glaube, wir sollten uns sehr stark an unseren Koalitionsvertrag halten und uns auch in Zukunft daran orientieren, damit wir dieses Ziel 2010 erreichen
werden.
Wird das Geld effizient eingesetzt? Ich sage, ja. Das
ist nicht nur meine Auffassung. Ich zitiere aus dem Bundesforschungsbericht:
Zudem geben die befragten Unternehmen an, ihre
FuE-Aufwendungen ebenfalls, und zwar um durchschnittlich 7 Prozent, steigern zu wollen. Die Mobilisierung innovativer Kräfte in Deutschland scheint
demnach zu gelingen.
Das heißt, die Hightech-Strategie zeigt Wirkung.
Ein wichtiges Instrument der Forschungsförderung ist
die Projektförderung. Weit über 98 Prozent der Mittel
für die Projektförderung sind abgeflossen. Man sollte
wegen eines kleinen Teils wie der Forschungsprämie
- sie ist ein neues Instrument; dahin fließen unter 1 Prozent der Mittel für die Projektförderung - nicht den Erfolg der Hightech-Strategie infrage stellen.
({7})
Wir sollten das nicht kleinreden lassen.
Ich hatte letzte Woche das Vergnügen, mehrere Firmen in meinem Wahlkreis besuchen zu dürfen, die Projektförderung des Forschungsministeriums erhalten. Ein
Unternehmen davon beschäftigt sich mit der Fernerkundung von Binnengewässern. Es wirkt mit an einem multidisziplinären Verbund zur nachhaltigen Entwicklung
des Mekongdeltas. Jetzt fragen Sie: Was hat das mit uns
zu tun? Ich sage das nur deshalb, weil aus dieser Projektförderung eine neue Geschäftsidee entstanden ist. Mit
dieser neuen Geschäftsidee werden in Deutschland zusätzliche Wertschöpfung und neue Arbeitsplätze generiert. Das ist es doch eigentlich, was wir wollen.
({8})
Ein wichtiges Ziel ist die Mobilisierung von FuE-Investitionen in der Wirtschaft; denn diese muss zwei Drittel des 3-Prozent-Zieles schultern. Es geht aber nicht um
die Zahl allein, sondern auch um internationale Konkurrenzfähigkeit, Wachstum und Arbeitsplätze. Deshalb
müssen wir zusammen mit der Wirtschaft und in die
Wirtschaft investieren. Ein entsprechendes Instrument
sind die sogenannten Innovationsallianzen. Der Einsatz
von 500 Millionen Euro Steuergeldern hat auf der Wirtschaftsseite zu Investitionen in Forschung und Entwicklung in Höhe von 2,6 Milliarden Euro geführt. Auf jeden
Euro, den wir aus Steuergeldern investiert haben, hat die
Wirtschaft über 5 Euro draufgelegt. Wenn das keine Hebelwirkung ist, dann weiß ich es auch nicht!
({9})
Wir werden noch weitere Instrumente prüfen, zum
Beispiel die steuerliche Förderung von FuE. Diesbezüglich gibt es vielleicht sogar innerhalb unserer eigenen
Fraktion noch Diskussionsbedarf; das will ich gar nicht
leugnen. Aber wir werden dieses Thema weiterverfolgen, weil die steuerliche Förderung ein Instrument sein
könnte, das eine zusätzliche Hebelwirkung bei der Projektförderung auslöst. Das werden wir in den nächsten
Wochen und Monaten noch diskutieren.
Das Gutachten lobt besonders, dass wir in wichtige
Felder, die die Ministerin schon angesprochen hat, wie
die Umweltforschung, die Energieforschung und die medizinische Forschung investieren. Aber es zeigt auch die
komplette Breite und ist ein hervorragendes Nachschlagewerk von über 600 Seiten Länge zu allem, was sich in
Forschung, Entwicklung und Innovation in der Bundesrepublik Deutschland tut. Ich bin mir sicher, dass jedes
Mitglied dieses Hohen Hauses alle 600 Seiten genau gelesen, wahrscheinlich sogar schon auswendig gelernt
hat.
({10})
Falls dies noch nicht geschehen sein sollte, haben wir in
den Ausschussberatungen ausführlich Gelegenheit und
Zeit, uns über jede der 600 Seiten zu unterhalten.
Letztlich geht es darum, welche Schwerpunkte wir
zum Beispiel in den Haushaltsberatungen für unser Land
setzen wollen. Im Vergleich zu den Investitionen in Forschung und Entwicklung geben wir siebenmal so viel für
die Finanzierung der Rente, viermal so viel für die Finanzierung des Arbeitsmarktes und nach wie vor fast
viermal so viel für Zinsen aus. Ich glaube, dass es den
Schweiß der Edlen dieses Hauses wert ist, sich weiterhin
dafür einzusetzen, dass wir noch mehr in Forschung und
Entwicklung und damit in unsere Zukunft investieren.
Dafür will ich heute werben.
Herzlichen Dank!
({11})
Die Kollegin Ulla Burchardt spricht jetzt für die SPDFraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal möchte ich feststellen, dass wir 2006 eine gute Entscheidung damit getroffen haben, das bis dahin geltende
Berichtssystem durch die beiden jetzt vorliegenden Berichte zu ersetzen. Insbesondere das Gutachten macht
deutlich, dass Innovation ein sehr komplexes Geschehen
ist, an dem viele beteiligt sind, nicht nur die Ressorts
Bildung und Forschung sowie Wirtschaft. Deswegen ist
es gut, dass dieses Gutachten eine sehr breite und differenzierte Analyse enthält und die Handlungsempfehlungen, liebe Kollegin Aigner, sich nicht nur an den Bund,
aber auch nicht nur an die Forschungspolitik richten;
darauf gehe ich gleich noch weiter ein.
Frau Ministerin hat es mir dankenswerterweise abgenommen, die Positivbilanz aufzuführen. Ich kann jedes
Wort, das Sie dazu gesagt haben, nur unterstreichen.
Gleichwohl hat Kollege Röspel recht, wenn er sagt, dass
das Gute nicht erst 2005 begonnen hat. Ihre Behauptung
ist zwar menschlich gesehen naheliegend, faktisch hat
aber die rot-grüne Koalition - und zwar nicht nur die
Grünen in der Koalition, Kollegin Hinz - 1998 begonnen, entscheidende Weichenstellungen vorzunehmen,
die heute ihre Wirksamkeit entfalten und durch die
Hightech-Strategie weitergeführt werden. Ich nenne nur
den Pakt für Forschung und Innovation, die Exzellenzinitiative und die Clusterförderung. All das zusammen
zeigt jetzt Wirkung. Diesbezüglich sollte man bei der
historischen Wahrheit bleiben.
({0})
Das Gleiche gilt für die von Frau Aigner angesprochene Stagnation bis 2005. Frau Kollegin Aigner, Sie
wissen doch genau, welche automatische Antwort Ihre
Aussage provoziert:
({1})
Wenn die Union in den Ländern nicht so lange blockiert
hätte, hätten wir den riesigen Investitionsschub in FuE
schon viel früher haben können.
({2})
Wir freuen uns aber, dass Sie jetzt endlich auf unseren
Zug aufgesprungen sind.
Ich teile auch völlig die Einschätzung im Bericht des
BMBF, dass Politik, Hochschul- und Forschungsinstitutionen sowie Unternehmen sich mit dem Erreichten nicht
zufriedengeben können; völlig klar. Aber ein bisschen
stolz darf man schon darauf sein, auch wenn es wirklich
noch viel zu tun gibt.
Ich will auf drei Punkte eingehen:
Der erste Punkt, Kollegin Aigner, ist das Bildungssystem. Natürlich liegt uns hier kein Bildungsbericht
vor; aber es ist doch sehr deutlich, was die Gutachter
schreiben, nämlich dass das Fundament für das Innovationsgeschehen in Deutschland das Bildungssystem ist.
Dieses System hat gewaltige Risse. Es ist nicht leistungsfähig genug. Wenn wir an dieser Stelle nicht mächtig vorankommen, dann nützen uns alle Ausgaben für
F und E nichts, weil die Fachkräfte fehlen.
({3})
Die Zielvorgabe der Gutachter ist unmissverständlich:
„Den Anteil der Bildungsarmen drastisch senken und
den Anteil der Bildungsreichen in beträchtlichem Umfang erhöhen“, sagen die Gutachter, die vom BMBF eingesetzt worden sind.
Wir haben in der frühkindlichen Bildung mit dem 4-Milliarden-Programm und dem Rechtsanspruch auf Betreuung für unter Dreijährige jetzt gemeinsam eine Menge
auf den Weg gebracht.
Bemerkenswert ist, dass es wieder einmal in einem
Gutachten zur Innovation und technologischen Leistungsfähigkeit heißt: Das dreigliederige Schulsystem mit
seiner starken Selektion ist wirklich kontraproduktiv,
wenn es darum geht, alle Potenziale auszuschöpfen.
({4})
Da wird eine Ideologie zum Rieseninnovationshemmnis.
An dieser Stelle muss man sich doch irgendwann bewegen. Herr Kollege Schummer, mehr wissenschaftliche
Empfehlungen kann man überhaupt nicht präsentieren.
Schauen Sie doch einmal in das Gutachten hinein, das
Sie und Ihre Kollegen mit auf den Weg gebracht haben!
Deswegen sehen wir Sozialdemokraten uns in der
Einschätzung bestätigt, dass „eine Schule für alle“ notwendiger Bestandteil von Innovationspolitik ist und dass
es höchste Zeit für ein zweites Ganztagsschulprogramm
wird. Auch dies ist nun wissenschaftlich wirklich sauber
noch einmal unterfüttert worden.
({5})
Was die Aus- und Weiterbildung betrifft, ist die Deutlichkeit in dem Gutachten schon bemerkenswert. - Eine
so deutliche Sprache in einem Gutachten ist überhaupt
bemerkenswert. Ich bedanke mich ausdrücklich dafür
und bitte darum, diesen Dank weiterzugeben. - Unmissverständlich ist die Kritik in Richtung Wirtschaft, was
die Aus- und Weiterbildung angeht. Es wird deutlich gesagt: Der Fachkräftemangel, über den jetzt überall geklagt wird - er wird immer drastischer; das Faktum ist
richtig -, ist durch die Wirtschaft selbst verantwortet,
weil in der Vergangenheit zu wenig Ausbildungsplätze
zur Verfügung gestellt worden sind und zu wenig für die
Weiterbildung getan worden ist.
({6})
Von daher ist es konsequent, wenn die Gutachter darauf hinweisen, dass die Unternehmen an dieser Stelle
und die Tarifvertragsparteien, wenn es um Weiterbildungstarifverträge geht, eine Bringschuld haben. Wir haben das Thema „Weiterbildung und lebenslanges Lernen“ heute Abend noch einmal auf der Tagesordnung.
Deshalb will ich nicht im Detail darauf eingehen und nur
so viel sagen: Wir haben mit dem Koalitionspartner
kleine Schritte in die richtige Richtung auf den Weg gebracht - auch das ist durch das Gutachten bestätigt worden -; wir Sozialdemokraten sind aber bei weitem nicht
zufrieden mit der Geschwindigkeit und dem Maß der
Schritte, die im Bereich Weiterbildung/lebenslanges Lernen auf den Weg gebracht worden sind. Da müssen das
Tempo und die Entschlossenheit noch deutlich erhöht
werden. Wenn wir das Gutachten ernst nehmen, dann
sollten wir uns in der nächsten Zeit schleunigst zusammensetzen, um zu klären: Was können wir außer
Meister-BAföG, Bildungsprämie und Qualifizierungsgipfel in dieser Legislaturperiode an großem Wurf noch
auf die Reihe bekommen?
Für uns Sozialdemokraten ist eines völlig klar: Wir
wollen nicht Bestenauslese und Bestenförderung, sondern wir wollen verlässliche Rahmenbedingungen, sodass jeder in diesem Land das Beste aus sich machen
kann.
({7})
Dazu gehören Rechtsansprüche. An dieser Stelle soll
ganz deutlich gesagt werden: Der erste Schritt dazu ist
der Rechtsanspruch auf eine zweite und dritte Chance.
Wir unterstützen ausdrücklich das Vorhaben des Bundesarbeitsministers, den Rechtsanspruch auf einen grundlegenden Schulabschluss einzuführen; das ist überfällig.
({8})
Jeder, der dies kritisiert, muss sich darüber im Klaren
sein, dass er im Glashaus sitzt.
Was das Thema Hochschule angeht, noch ein Wort.
Wir haben mit dem Gutachten gute Unterlagen bekommen. Es lohnt sich an dieser Stelle auch der Blick in die
Basisstudie. Darin wird sehr deutlich gesagt, was die
Gründe dafür sind, dass die Zahl der Studierenden immer noch stagniert. Die Hemmschwellen sind unter anderem flächendeckend lokale NCs, die Unüberschaubarkeit der Studienangebote und -zugänge sowie finanzielle
Hürden, das heißt auch Studiengebühren.
Von daher haben wir zur Verbesserung der Bedingungen für den Innovationsstandort in der nächsten Zeit,
wenn es um den Hochschulpakt II, die weitere Debatte
über die Hochschulzulassung und die Frage der Finanzierung von Hochschulen geht, mehr zu tun als das, was
möglicherweise bis jetzt angedacht ist. Wir sagen: Der
Hochschulpakt II muss ein Pakt für gute Lehre werden
und gut finanziert werden, damit 200 000 zusätzliche
Studienplätze dabei herauskommen.
Wir brauchen bundeseinheitliche Zugangsregeln für
die Hochschulen, und statt Studiengebühren macht die
Neuordnung der Hochschulfinanzierung nach dem
Zöllner-Modell „Geld folgt Studierenden“ Sinn. Das alles sind Beispiele für eine mit Vernunft betriebene Innovationspolitik.
Zu dem Thema Finanzierung von Innovationen einige wenige Anmerkungen: Was der Forschungsbericht
barmherzig zudeckt, sprechen die Gutachter aus: In der
Vergangenheit gab es deutlich zu geringe FuE-Aufwendungen vonseiten der Wirtschaft. Deutlich fällt auch die
Kritik an den Banken aus: Sie stellen viel zu wenig Risikokapital für junge Unternehmer bereit. Sie sind damit
für die zu geringe Gründungsdynamik verantwortlich.
Dabei scheuen doch die Banken ansonsten auf den internationalen Kapitalmärkten kein Risiko. Dieses Gebaren
ist also schon etwas merkwürdig. Ich kann nur unterstreichen, dass an dieser Stelle wirklich deutlich mehr
Druck gemacht werden muss.
({9})
Zum Thema steuerliche Forschungsförderung sagen wir: Klar, das sollte man prüfen; das ist keine Frage.
Es gibt Länder, in denen es sie gibt, und Länder, in denen es sie nicht gibt. Nur, ein Vorgehen nach dem Gießkannenprinzip war noch nie erfolgreich. Insofern muss
man bei diesem Punkt etwas genauer hinschauen.
Bezüglich der Frage, wie Ideen schneller in Produkte
und Dienstleistungen umgesetzt werden können, haben
wir innerhalb der Koalition ein Programm zur Validierungsforschung angeregt und erfolgreich durchgesetzt.
Wir werden sicherlich bei der Debatte über den nächsten
Bericht sehen, dass das ein guter Ansatzpunkt ist.
Im Bereich Investitionen in Innovationen ist die Bundesseite im Forschungsbereich gut aufgestellt. Das ist
überhaupt keine Frage. Es stimmt aber auch, wie die
Gutachter allen ins Stammbuch schreiben: Es fehlen Investitionen ins Bildungssystem. Deswegen ist der aktuelle Wettlauf um Steuersenkungen absolut kontraproduktiv.
({10})
Die Debatte, die darüber geführt wird, ist ja nun wirklich
eine Innovationshinderungsdebatte. Wir freuen uns ausdrücklich über die Unterstützung von Frau Schavan für
unsere Position, dass Bildungsinvestitionen Vorrang
vor Steuersenkungen haben müssen. Ich gehe einmal davon aus, dass sich auch alle anderen Kollegen von der
Union dieser Position anschließen werden.
({11})
Abschließend möchte ich noch auf einen Hinweis
eingehen, den die Gutachter sehr deutlich bezüglich der
Frage geben, wo es denn Innovationshemmnisse und
-bremsen geben könnte. Sie sagen denjenigen, die Forschungs- und Innovationspolitik machen: Achtet doch
bitte darauf,
dass die derzeit dominanten Akteure in Wirtschaft,
Wissenschaft und öffentlicher Verwaltung nicht immer hohes Interesse daran haben, gesellschaftlich
nutzbringende Innovationspfade zu unterstützen.
Innovationen können immerhin angestammte Positionen von Macht, Einfluss oder Profit im Sinne der
„schöpferischen Zerstörung“ bedrohen.
Das ist, wie ich finde, ein wichtiger Hinweis.
Vor diesem Hintergrund müsste man sich auch einmal
die Besetzung von Räten anschauen, beispielsweise die
Besetzung des Rates für Wachstum und Innovation, und
einmal hinterfragen, ob es denn richtig ist, dass daran
nur das Forschungs- und das Wirtschaftsministerium beteiligt sind, oder ob es im Sinne einer ganzheitlichen Innovationsförderung nicht besser wäre, wenn beispielsweise auch das Umwelt- und das Arbeitsministerium
daran beteiligt würden.
Frau Kollegin!
Wenn man dann noch sieht, dass die Vertreter der großen Konzerne dort immer noch deutlich besseren Zugang finden und damit eher direkt Einfluss nehmen können als die Vertreter von kleinen und mittleren
Unternehmen, ergibt sich ein weiterer Hinweis für die
Beratungen darüber, was man tun kann, um die kleinen
und mittleren Unternehmen besser zu fördern.
Danke.
({0})
Uwe Barth spricht jetzt für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Deutschland als Forschungsstandort an der Weltspitze zu etablieren, dieses Ziel eint uns alle hier im
Hohen Hause. Wenn es uns allerdings nicht gelingt, eine
entsprechende Anzahl Forschungsstandorte in den
neuen Ländern zu etablieren, die diesem Anspruch
ebenfalls gerecht werden, wird Deutschland dieses Ziel
insgesamt nicht erreichen können.
({0})
Dessen sind sich die Bundesregierung und offenbar auch
die Koalitionsfraktionen bewusst; denn schon im Koalitionsvertrag ist das Ziel formuliert, eine Großforschungseinrichtung in den neuen Ländern anzusiedeln.
Leider warten wir darauf bisher vergebens. Die größte
Chance, Frau Ministerin, wurde bei der Neutronen-Spallationsquelle vertan. Die Beteiligung am europäischen
Fusionsprojekt bei Greifswald und das Biomasseforschungszentrum in Leipzig können beide dem Anspruch
einer Großforschungseinrichtung nicht gerecht werden.
Der „Bundesbericht Forschung und Innovation 2008“
sagt viel über die hervorragende Arbeit der Forscher und
Wissenschaftler an den Standorten in den neuen Ländern
aus. Ich sage ausdrücklich nicht: der ostdeutschen Forscher; denn es handelt sich hier in aller Regel um international zusammengesetzte und international agierende
Forscherteams. Der Bericht weist aber auch auf grundlegende strukturelle Probleme hin. Für die, die ihn nicht
auswendig gelernt haben wie die Kollegin Aigner, zitiere
ich aus dem Bericht. Es heißt:
Hinsichtlich des in Bund/Land-finanzierten Forschungseinrichtungen tätigen Personals besteht
zum Bundesdurchschnitt ein deutlicher Rückstand.
Entscheidende Ursache hierfür ist, dass Thüringen
über keine Großforschungseinrichtung verfügt.
Das ist ein Zitat aus dem Teil des Berichts für Thüringen. Weiter heißt es:
Thüringen konnte im Jahr 2006 seinen Spitzenplatz
innerhalb der neuen Länder mit 27 Patenten je
100 000 Einwohnern … behaupten, erreichte aber
nicht den Durchschnitt der alten Länder ({1}).
Thüringen und Sachsen zählen hinsichtlich der
FuE-Beschäftigten, so heißt es abschließend,
zu den potenzialstärksten neuen Bundesländern.
Dennoch wird das Niveau der alten Länder bei Weitem noch nicht erreicht.
Das zeigt, dass es zwar ein Potenzial gibt, dass aber
das Problem besteht, dass die Chancen zur Nutzung dieses Potenzials seitens des Bundes bisher verspielt oder
einfach nicht ergriffen wurden.
({2})
Viele Möglichkeiten hierzu wird es in den nächsten Jahren, insbesondere auf europäischer Ebene - hier spielt
forschungspolitisch nun einmal die große Musik -, auch
nicht mehr geben.
In diesen Tagen gibt es nun diese große Chance. Die
Bundesregierung hat die Bewerbung von Jena um den
Sitz des Europäischen Technologieinstitutes unterstützt. Das freut mich ausdrücklich. Ich habe das Ihnen,
Frau Ministerin, gegenüber auch zum Ausdruck gebracht. Es ist klar, dass es hier um mehr als nur um einen
Verwaltungssitz geht. Jena ist nicht nur Sitz einer international anerkannten Universität, die übrigens dieses
Jahr 450 Jahre alt wird, einer Fachhochschule, Standort
von Hightechindustrie und Sitz von weltweit agierenden
forschenden Unternehmen. In Jena gibt es 30 Forschungseinrichtungen, darunter drei Max-Planck-Institute, zwei Leibniz-Institute und ein Fraunhofer-Institut.
Gerade die Aufgabe des Europäischen Technologieinstituts, die Zusammenarbeit von Forschung und Wirtschaft und damit auch Innovation und Spitzenforschung
zu fördern, Cluster herauszubilden, Netzwerke der leistungsfähigsten, leistungsstärksten Institute, Universitäten und industriellen Forschungszentren aufzubauen, ist
in Jena in den vergangenen Jahren bereits beispielhaft
gelungen. Mit der Universität, der Fachhochschule, dem
interdisziplinären Campus am Beutenberg und einer
ganzen Reihe höchstkarätiger forschender Unternehmen
hat sich Jena nicht nur zu einem Vorzeigestandort in den
neuen Ländern entwickelt, sondern ist als Wissenschafts- und Forschungsstandort auch international ein
Begriff.
Darüber hinaus - das ist das Besondere an dieser Bewerbung - ist Jena mit seinen historisch gewachsenen
Verbindungen nach Ost und West fast natürlicher Kristallisationspunkt für genau die Aufgabe, die das EIT hat,
nämlich künftig Motor und Vermittler in der europäischen Forschungspolitik zu sein.
Herr Kollege!
Deshalb - lassen Sie mich das zum Abschluss noch
sagen, sehr verehrte Frau Präsidentin - wären mit einer
Entscheidung für Jena mehrere Zeichen verbunden: zum
einen Anerkennung der Aufbauleistung gerade im Bereich Wissenschaft, Forschung und Bildung und zum anderen ein Signal an die Beitrittsländer der EU, dass der
Aufbau gelingen kann. Ich hoffe deshalb, dass sich die
Bundesregierung auch heute Abend in Brüssel mit all ihren Mitteln für Jena als Standort in den neuen Ländern
einsetzt. Ich bin sicher, dass dadurch der Forschungsstandort Deutschland insgesamt, auch in Karlsruhe, eine
erhebliche Stärkung im internationalen Spiel der Forschungsstandorte erfährt.
Herzlichen Dank.
({0})
Nur wegen Jena habe ich Sie noch weitersprechen
lassen.
Der Kollege Dr. Heinz Riesenhuber hat das Wort für
die Fraktion der CDU/CSU.
({0})
Hochverehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kollegen! Frau Burchardt hat zu Recht das interessante Gutachten der EFI, der Expertenkommission für Forschung
und Innovation, herausgestellt. An einigen Stellen kann
man sich noch gewisse Verbesserungen vorstellen. Die
Gliederung könnte ein bisschen straffer und das Inhaltsverzeichnis instruktiver sein. Der Aufbau könnte schlüssiger und die Überschneidungen geringer sein.
({0})
Dies alles ist richtig. Wenn das realisiert würde, bekämen wir eine Qualität, die vergleichbar wäre mit dem
Gutachten des Sachverständigenrats des Wirtschaftsministers. Das wäre eine schöne Sache.
Interessant ist aber, wo die Experten die Schwerpunkte setzen. Sie suchen in den Programmen nicht danach, an welchen einzelnen Stellen es noch Optimierungspotenzial gibt, sondern sie schauen, wie man die
strukturellen Schwerpunkte anders setzen kann.
Ich will jetzt nicht über Fragen philosophieren, die
wir alle kennen. Dazu gehört die Frage, wo wir stark
sind, also im Bereich der Automobilindustrie, der Medizintechnik, der Chemie und des Maschinenbaus. Ich will
nicht darüber sprechen, wie stark unsere Infrastruktur
insgesamt ist. Dazu gehören der Arbeitsfrieden, die Verkehrsinfrastruktur und die Infrastruktur im Bereich der
Kommunikationstechnik. Ich will auch nicht über unsere
Position, was die Anzahl der Patentanmeldungen angeht,
und über die Hightech-Strategie im Einzelnen sprechen,
die von Frau Schavan angelegt wurde. Denn im Grunde
ist der Kern der Botschaft auf wenige Punkte zusammenzufassen. Diese Botschaft lautet, man solle sozusagen
von oben an das Problem herangehen.
Frau Schavan hat entschieden gefordert - das ist der
erste Punkt -, dafür zu sorgen, dass genügend Geld für
die Forschung ausgegeben wird. Die Kollegin Ilse
Aigner hat dargestellt, dass der Bund hier wirklich auf
Linie ist. Wir müssen es schaffen, die Länder mitzunehmen, die bis jetzt unterschiedlich auf entsprechende Forderungen reagieren. „Allianz Bayern Innovativ: Netzwerke für Bayern“; das Programm „LOEWE“ in Hessen
und der Innovationspreis in Nordrhein-Westfalen sind
prächtige Sachen. Wir müssen aber dafür sorgen, dass es
auf breiter Front vorangeht.
Die letzten Zahlen stammen aus dem Jahr 2005. Vielleicht sind die Länder besser, als wir glauben. Wir erfahren im Juni die neuen Zahlen und müssen dann dafür
sorgen, dass die Länder mitziehen. Denn nur mit ihnen
gemeinsam können wir die Wirtschaft zu der Anstrengung veranlassen, die wir brauchen. Dementsprechend
müssen wir handeln.
({1})
Die EFI setzt in ihrer Weisheit einige Schwerpunkte.
Da ist zunächst einmal die Spitzenforschung. Das alte
Paradigma der deutschen Forschungspolitik war, dass
wir Meister der Systeme, aber selten in der Spitze sind.
Das reicht aber in dieser kompetitiven Welt nicht mehr
aus. Wenn China fünfmal so viele Ingenieure bei vergleichbarer Qualifikation als wir ausbildet, dann müssen
wir wesentlich besser sein, um auf den Weltmärkten angesichts unserer hohen Löhne bestehen zu können.
Die Frage lautet: Wo setzen wir an? Eine Antwort ist:
Bei der Spitzenforschung. Es sollen 3 Prozent pro Jahr
mehr für die Deutsche Forschungsgemeinschaft und für
die Max-Planck-Gesellschaft ausgegeben werden. Es
gibt außerdem die Exzellenzinitiative und den Spitzencluster-Wettbewerb. Das sind zwar schöne Dinge. Aber
die Frage ist, wie wir neue Produkte und neue Ideen aus
der Grundlagenforschung auf den Markt bekommen.
Diese Frage ist nicht simpel zu beantworten, und wir haben noch keine Antwort darauf, obwohl das Paradigma
der Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Wirtschaft seit Jahren ein zentraler Bestandteil unserer Forschungspolitik ist.
Zur Spitzenforschung gehören auch die wissensintensiven Dienstleistungen. Die EFI schreibt, dass 30 Prozent der Wertschöpfung in Deutschland auf wissensintensiven Dienstleistungen und nur 14 Prozent auf
Waren, die aufgrund der Forschung produziert wurden,
beruhen. Das heißt, hier liegt ein enormes Potenzial. Das
wissen wir seit 22 Jahren. Aber dieses Potenzial zu nutzen ist sehr schwierig in Bezug auf die Abgrenzung zwischen Wirtschaft und Wissenschaft und die Zielgenauigkeit der aufgelegten Programme.
Die Programme, die die Forschungsministerin hier
initiiert, einschließlich der neuen Validierungsprogramme, sind außerordentlich interessant.
({2})
Die Frage ist, ob davon auch die Innovationsstrategien
kleiner und mittlerer Unternehmen profitieren. Ich
nenne in diesem Zusammenhang die neue Form des
ZIM-Programms, worüber wir in Kürze wohl diskutieren werden. Die Aufwendungen des Mittelstands für Innovationen stagnieren zum Teil schon seit mehreren Jahren, ungefähr seit dem Jahr 2000. Dass wir in den letzten
Jahren, seit 2005, die Mittel jährlich um rund 10 Prozent
gesteigert haben, ist eine großartige Sache. Wir hoffen,
es zündet. Aber genügt dies schon?
So können Sie es auch bei den Gründungen sagen.
Mit den Programmen - EXIST, ProBio, dem EIF-ERPProgramm, dem Programm des Hightech-Gründerfonds
usw. - tut der Staat viel. Aber bringt dies die Sache endgültig voran? Das heißt, wohin Sie schauen, haben wir
das, was wir in einem klassischen Modell tun können, in
vorzüglicher Weise vorangebracht.
Aber dann spricht der Expertenrat davon: Wir müssen
bei den Steuern ansetzen. Frau Hinz, Sie haben zu Recht
darauf hingewiesen: Wir sind noch nicht uneingeschränkt glücklich mit dem MoRak, was das Wagniskapital betrifft. Wir haben durchaus noch Entwicklungspotenzial. Darüber verhandeln wir ja auch. Wir haben
uns übrigens vorgenommen, das Ganze in zwei Jahren
zu evaluieren; vielleicht muss der Sprung sehr viel größer sein.
Ein anderer Punkt aber ist, die Gesamtstrategie darzustellen.
({3})
- Wir verhandeln, liebe Frau Flach. Sie sollten ebenso
nachdrücklich verhandeln. Der Parlamentarische Staatssekretär des Finanzministeriums lächelt freundlich; das
ist ein gutes Zeichen für die Zukunft Deutschlands. Darauf wollen wir weiter bauen.
({4})
Genauso ist in weitgehendem Konsens und offen die
Fragestellung zu diskutieren: Wollen wir nicht eine stärkere Forschungsförderung über die Steuern hinbekommen?
({5})
Wie legen wir dies an? Wie können wir dies gezielt erreichen? Wenn wir beides zusammennehmen - die steuerliche Förderung des Wagniskapitals in der vernünftigen
Konzeption, die wir haben, und die steuerliche Förderung
der mittelständischen Forschung über Tax Credits -,
({6})
dann haben wir eine Strategie, die durchschlagen kann.
Sie wird Produkte, die im Rahmen von Spitzenforschung
entstehen, schneller auf den Markt bringen. Das ist eine
Lösung dieses Problems. Sie wird die kleinen und mittleren Unternehmen ohne Bürokratie zu größeren Forschungsanstrengungen führen. Sie wird die wissenschaftsbasierten Dienstleistungen so angehen, dass wir
damit eine schnelle Umsetzung neuen Wissens in neue
Arbeitsplätze erzielen. Wenn wir an die steuerlichen
Maßnahmen im Wagniskapitalbereich bis hin zum Bereich der Gründungsförderung und im Bereich der Forschungsförderung insbesondere mittelständischer Unternehmen breit und unbürokratisch herangehen, dann
haben wir eine neue Lage.
Gnädige Frau!
- Ihre Redezeit ist jetzt mehr als überschritten.
Ich habe hier noch vier -
Da ist ein Minus davor.
({0})
Ich achte die Autorität der Präsidentin.
Liebe Kollegen, es kommt also in der Sache auf Folgendes an:
({0})
Lassen Sie uns dem, was wir hier so prächtig entwickelt
haben, eine neue Dimension der Forschungsstrategie
hinzufügen, indem wir die Steuern nutzen, um die Forschung zu steuern, sodass jeder mit fröhlichem Unternehmungsgeist in die Wirklichkeit aufbricht.
({1})
Aufbruch ist ein gutes Stichwort, Herr Riesenhuber.
Nietzsche hat einmal gesagt: Fröhlicher müssten die
Christen sein, damit ich an ihren Gott glaube.
({0})
Lassen Sie uns die Fröhlichkeit in der ganzen Breite dieses prachtvollen Parlaments in die Forschung bringen!
Dann haben wir den Geist im Land, der die Zukunft für
alle erobert.
({1})
Das war jetzt kurz vor rhythmischem Applaus für
Nietzsche. Wer hätte das gedacht.
Ich gebe jetzt dem Kollegen Klaus Hagemann das
Wort für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich kann leider wegen einer kleinen schmerzhaften Stelle am Fuß meine Rede nicht so tänzelnd vortragen, wie wir das eben erlebt haben.
({0})
- Das ist schade, lieber Kollege Jürgen Koppelin.
Ich bin auch nicht ganz einverstanden mit dem tollen
Gemälde, das Kollege Riesenhuber in Bezug auf die
steuerliche Regulierung der Forschungsausgaben gezeichnet hat.
({1})
Frau Flach, jetzt rufe ich Sie als Zeugin auf: Auf unserer
Reise nach Kanada und in die Vereinigten Staaten im
vergangenen Jahr haben wir natürlich auch Negatives
gehört.
({2})
Dort hat man dieses Instrument schon und ist eben nicht
so außerordentlich begeistert, wie es Herr Riesenhuber
dargestellt hat.
In dem Bericht, der uns vorgelegt worden ist, ist einer
der wichtigsten Sätze: Deutschland ist ein attraktiver und
begehrter Forschungsstandort.
({3})
Das ist sicherlich richtig.
Entgegen der Schwarzmalerei der Oppositionsparteien bestätigt der Forschungsbericht - das möchte ich
unterstreichen -, dass in den letzten zehn Jahren viel Gutes geleistet worden ist. Es geht dabei nicht nur um die
Jahre 2005 bis 2007, sondern auch um die Jahre davor.
2008 werden 10,5 bis 11 Milliarden Euro Bundesmittel
für den Bereich Forschung zur Verfügung stehen. Ich betone, dass es sich dabei um Bundesmittel handelt. Mehr
als zwei Drittel, nämlich 68 Prozent der gesamten Forschungsmittel, werden durch den Bund gestemmt. Das
sollten wir uns noch einmal in Erinnerung rufen.
({4})
Kollegin Aigner, ich spreche von den staatlichen Mitteln. Die Länder profitieren sehr stark von den Forschungseinrichtungen, hauptsächlich von den Instituten
der Helmholtz-Gemeinschaft. Diese Einrichtungen sorgen nämlich dafür, dass im Umfeld noch mehr Forschungsinstitutionen entstehen. Bei uns in Rheinhessen
sagt man: Wo Tauben sind, fliegen weitere Tauben hin.
Das gilt beispielsweise für die süddeutschen Länder, die
von den Entscheidungen und Geldern des Bundes sehr
stark profitieren. Das sollen sie ruhig, aber wir müssen
auch an die anderen Regionen denken, die unterschiedlich stark profitieren.
({5})
Wir wissen, wie wichtig erfolgreiche Forschungsergebnisse von heute für neue, innovative Produkte und
Dienstleistungen und damit für die Arbeitsplätze von
morgen sind. In diesem Zusammenhang spielt natürlich
auch Regionalpolitik eine Rolle. Dynamik gibt es überall
dort in der Wirtschaft, wo geforscht wird. Deswegen
wollen wir die Forschung in den Mittelpunkt stellen.
Um erfolgreich forschen zu können, braucht man gute
und gut ausgebildete Forscher; das wird uns immer wieder deutlich gemacht. Deshalb ist es sinnvoll, den Hochschulpakt, den wir beschlossen haben, weiterzuführen,
die Exzellenzinitiative zu evaluieren und weiterzuführen, Mittel für den Hochschulbau zur Verfügung zu stellen und das BAföG, die Stipendien sowie das MeisterBAföG voranzubringen. Ich bin insbesondere unserem
Finanzminister dankbar dafür, dass er entsprechende Initiativen unterstützt hat. Diejenigen, die jetzt am lautesten
über Fachkräftemangel klagen, sind diejenigen, die die
wenigsten Ausbildungsplätze und zu wenig Ingenieurstellen zur Verfügung gestellt haben.
({6})
Wir sind mit unserer Forschungspolitik auf einem guten Weg. Wir dürfen uns auf den Lorbeeren aber nicht
ausruhen - das ist sehr wichtig -;
({7})
denn Stillstand wäre Rückschritt, darauf ist der Fokus zu
richten.
Andere Länder - sie sind heute schon genannt worden schlafen nicht, sondern wirken. Ich möchte ein Beispiel
aus der Türkei nennen. Ich war in der vorigen Woche in
Istanbul. Es wurde ein Gesetz beschlossen, dass in den
nächsten Jahren in der Türkei 39 neue Universitäten gegründet werden sollen. Wir sind gefordert, entsprechend
voranzugehen.
Es wurde bereits von Schwachstellen im System gesprochen. In diesem Zusammenhang ist die Umsetzung
der Forschungsergebnisse in Produkte und Dienstleistungen anzusprechen. Meine Kollegin Ulla Burchardt
hat darauf hingewiesen, dass in dem Bericht deutlich
hervorgehoben wird, dass mehr Wagniskapital für Innovationen mobilisiert werden muss, um Leitmärkte entwickeln zu können. Es müssen Regelungen für eine
wirksame und international wettbewerbsfähige Förderung von Wagniskapital gefunden werden. Die Kapitalseite darf nicht zu restriktiv behandelt werden. Wenn ich
Betriebe besuche, höre ich immer wieder, dass das
Wagniskapital fehlt oder die Kreditinstitute nur unter
schwierigen Bedingungen Kredite bereitstellen. Unsere
staatlichen Instrumente, zum Beispiel unsere Förderprogramme, müssen darauf abgeklopft werden. Aber auch
die Zusammenarbeit mit der Kreditanstalt für Wiederaufbau, der KfW, sei in diesem Zusammenhang genannt.
Lassen Sie mich ein Beispiel in Erinnerung rufen: den
berühmten MP3-Player. Ich sehe auf der Besuchertribüne viele Jugendliche. Bestimmt haben fast alle von ihnen einen MP3-Player. Das ist eine deutsche Entwicklung, eine Entwicklung der Fraunhofer-Gesellschaft. Die
Kapitalseite wurde damals gebeten, die Finanzierung
vorzunehmen, um in die Produktion einsteigen zu können. Die deutsche Seite war aber nicht bereit, dieses
Wagnis einzugehen. Was haben die Entwickler und die
Forscher getan? Sie sind in die USA gegangen und haben das Produkt dort in Serie gehen lassen. Jetzt verkaufen sie es, und es ist ein Verkaufsschlager. Die Arbeitsplätze sind in den USA geschaffen worden. So kann es
nicht gehen.
({8})
Das ist nicht das einzige Beispiel in diesem Zusammenhang. Wir wissen, dass es beim Faxgerät in den 80erJahren ähnlich gelaufen ist. Es war eine deutsche Entwicklung, die nachher in Japan weitergeführt worden ist.
Wer am letzten Forschungsfrühstück der HelmholtzGemeinschaft vor 14 Tagen teilgenommen hat, der konnte
ähnliche Signale hören. Es gibt ausgereifte Techniken für
den Verbund von Wind-, Solar- und Biogasanlagen bei der
alternativen Energieerzeugung. Professor Dinjus hat darauf hingewiesen; der Vizepräsident der Helmholtz-Gemeinschaft ebenso. Es kommen immer wieder Klagen,
dass die deutsche Wirtschaft nicht bereit ist, das zu finanzieren und zu unterstützen. Man muss darauf achten, dass
hier andere Wege eingeschlagen werden.
({9})
Denn - auch das war beim Forschungsfrühstück deutlich
zu hören - die Angebote aus dem Ausland, beispielsweise aus Frankreich, diese ausgereifte Technik zu übernehmen, sind vorhanden. Hier muss im deutschen Interesse entsprechend gehandelt werden.
({10})
Lassen Sie mich zum Schluss noch ein Thema ansprechen - meine Redezeit geht langsam zu Ende -: Wir finanzieren mit Forschungsgeldern die Zukunft. Aber wir
haben mit Forschungsgeldern auch sehr viel Vergangenes zu finanzieren, nämlich die Beseitigung des atomaren Abfalls der Forschungsreaktoren, beispielsweise in
Karlsruhe. Man hatte damit gerechnet, die Beseitigung
dieser 60 Kubikmeter Atommüll mit 1 Milliarde Euro finanzieren zu können. Zwischenzeitlich stellte man fest,
dass man jetzt schon 2,17 Milliarden Euro zur Beseitigung dieser 60 Kubikmeter Atommüll benötigt. Das ist
nicht Zukunftsunterstützung, sondern Vergangenheitsbewältigung. Natürlich muss der Dreck weg; das ist klar.
({11})
Herr Kollege.
Aber die Kosten laufen uns davon.
Herr Kollege.
Mein letzter Satz - ich folge hier meinem Vorredner -:
Die öffentliche Hand braucht ausreichend Steuereinnahmen.
Ich musste die Zwischenfrage von Herrn Tauss abweisen, weil er sich nach Ablauf Ihrer Redezeit dazu gemeldet hat. Aber Ihr letzter Satz soll Ihnen gewährt sein.
Mein letzter Gedanke. Kollegin Aigner hat darauf
hingewiesen, dass wir noch viel Geld benötigen, um die
Forschung zu finanzieren. Dafür muss der Staat natürlich auch die entsprechenden Einnahmen haben.
({0})
Deswegen muss beispielsweise die CSU noch einmal
darüber nachdenken, ob ihr Steuerkonzept auf Pump geeignet ist, um Zukunftsinvestitionen durch den Staat fördern
Herr Kollege.
- und unterstützen zu können. Die Süddeutsche Zeitung hat gestern unter der Überschrift „Ein Lob der
SPD“ formuliert: „Ihr Finanzkonzept ist seriöser als das
der CSU“. Recht hat sie.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
({0})
Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/9260 und 16/8600 an die in der Ta-
gesordnung vorgesehenen Ausschüsse vorgeschlagen. -
Ich sehe, damit sind Sie einverstanden. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 35 a bis 35 l
sowie die Zusatzpunkte 2 a bis 2 e auf:
35 a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Jörn
Wunderlich, Klaus Ernst, Dr. Martina Bunge,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE
LINKE eingebrachten Entwurfs eines Zweiten
Gesetzes zur Änderung des Unterhaltsvorschussgesetzes
- Drucksache 16/7889 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0})
Rechtsausschuss
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 7. Dezember 2004 zwischen der
Regierung der Bundesrepublik Deutschland
und dem Schweizerischen Bundesrat zum Vertrag vom 23. November 1964 über die Einbeziehung der Gemeinde Büsingen am Hochrhein in das schweizerische Zollgebiet über die
Erhebung und die Ausrichtung eines Anteils
der von der Schweiz in ihrem Staatsgebiet und
im Gebiet der Gemeinde Büsingen am Hochrhein erhobenen leistungsabhängigen Schwerverkehrsabgabe ({1})
- Drucksache 16/9041 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({2})
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur
Änderung des Güterkraftverkehrsgesetzes
und anderer Gesetze
- Drucksache 16/9236 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({3})
Innenausschuss
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur verbesserten Einbeziehung der selbstgenutzten
Wohnimmobilie in die geförderte Altersvorsorge ({4})
- Drucksache 16/9274 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({5})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
e) Erste Beratung des von den Fraktionen CDU/
CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes
zur Änderung des Europaabgeordnetengesetzes und eines … Gesetzes zur Änderung des
Abgeordnetengesetzes
- Drucksache 16/9300 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung ({6})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Achten Gesetzes zur
Änderung des Gemeindefinanzreformgesetzes
- Drucksachen 16/9275, 16/9288 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({7})
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Haushaltsausschuss
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
g) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 8. November 2007 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich Saudi-Arabien zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern
vom Einkommen und vom Vermögen von
Luftfahrtunternehmen und der Steuern von
den Vergütungen ihrer Arbeitnehmer
- Drucksache 16/9276 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({8})
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
h) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 31. August 2006 zwischen der
Regierung der Bundesrepublik Deutschland
und der Regierung der Sozialistischen Republik Vietnam über die Zusammenarbeit bei
der Bekämpfung von schwerwiegenden Straftaten und der Organisierten Kriminalität
- Drucksache 16/9277 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({9})
Rechtsausschuss
i) Beratung des Antrags des Bundesministeriums
der Finanzen
Entlastung der Bundesregierung für das
Haushaltsjahr 2007
- Vorlage der Haushalts- und Vermögensrechnung des Bundes ({10}) -
- Drucksache 16/8834 -
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss
j) Beratung des Antrags der Abgeordneten Laurenz
Meyer ({11}), Dr. Heinz Riesenhuber,
Dr. Michael Fuchs, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Ute Berg, Dr. Rainer Wend, Doris Barnett,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Das neue Zentrale Innovationsprogramm Mittelstand ZIM optimal ausgestalten und konsolidierungskonform finanzieren
- Drucksache 16/8905 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({12})
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
k) Beratung des Antrags des Präsidenten des Bun-
desrechnungshofes
Rechnung des Bundesrechnungshofes für das
Haushaltsjahr 2007
- Einzelplan 20 -
- Drucksache 16/9046 -
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss
l) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Erster Erfahrungsbericht der Bundesregierung gemäß § 24 des Soldatinnen- und Soldatengleichstellungsgesetzes ({13})
- Drucksache 16/7920 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({14})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
ZP 2 a)Beratung des Antrags der Abgeordneten Ina
Lenke, Sibylle Laurischk, Miriam Gruß, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Faire Chancen für private und privat-gewerbliche Anbieter bei der Kinderbetreuung Ohne weiteres Zögern Entwurf des Kinderförderungsgesetzes vorlegen
- Drucksache 16/8406 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({15})
Innenausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Hüseyin-Kenan Aydin, Heike Hänsel, Karin
Binder, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Hermesbürgschaft für das Ilisu-Staudammprojekt zurückziehen
- Drucksache 16/9308 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({16})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Hermann Otto Solms, Carl-Ludwig Thiele,
Frank Schäffler, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Mehr Netto für alle
- Drucksache 16/9310 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({17})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Bettina
Herlitzius, Britta Haßelmann, Markus Kurth,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Barrierefreiheit und demografischer Wandel Auf die Herausforderungen für den Tourismus reagieren
- Drucksache 16/9315 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Tourismus ({18})
Rechtsausschuss
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
e) Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht über die Auswirkungen von Rabattvereinbarungen für Arzneimittel, insbesondere auf die Wirksamkeit der Festbetragsregelung
- Drucksache 16/9284 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
Es handelt sich hierbei um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen.
Die Vorlage auf Drucksache 16/9308 - Zusatzpunkt 2 b - soll abweichend von dem in der Tagesordnung aufgeführten Ausschuss federführend im Ausschuss für Wirtschaft und Technologie beraten werden. Damit sind Sie einverstanden. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 36 a bis 36 i
auf. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 36 a:
Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ältestenrats
- zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU
und der SPD
Chancen der Charta der Vielfalt nutzen
- zu dem Entschließungsantrag der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu der Beratung
der Großen Anfrage der Abgeordneten Volker
Beck ({19}), Irmingard Schewe-Gerigk,
Marieluise Beck ({20}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Europäisches Jahr der Chancengleichheit
für alle
- Drucksachen 16/8502, 16/7537, 16/9219 Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Norbert Lammert
Der Ältestenrat empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung, in Kenntnis seines Beschlusses vom
8. Mai 2008 den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU
und SPD auf Drucksache 16/8502 mit dem Titel „Chancen der Charta der Vielfalt nutzen“ für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen mit den Stimmen von
CDU/CSU SPD, der Linken und FDP gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen.
Unter Nr. 2 empfiehlt der Ältestenrat, den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 16/7537 zu der Großen Anfrage mit dem Titel „Europäisches Jahr der Chancengleichheit für alle“
für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit
ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalition und der FDP gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die
Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen.
Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 36 b:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({21})
Sammelübersicht 407 zu Petitionen
- Drucksache 16/9081 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 407 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 36 c:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({22})
Sammelübersicht 408 zu Petitionen
- Drucksache 16/9082 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 408 ist ebenfalls einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 36 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({23})
Sammelübersicht 409 zu Petitionen
- Drucksache 16/9083 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist bei Zustimmung des
Hauses mit Ausnahme des Bündnisses 90/Die Grünen,
das dagegen gestimmt hat, angenommen.
Tagesordnungspunkt 36 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({24})
Sammelübersicht 410 zu Petitionen
- Drucksache 16/9084 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist bei Zustimmung des
Hauses mit Ausnahme der Fraktion Die Linke, die dagegen gestimmt hat, angenommen.
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({0})
Sammelübersicht 411 zu Petitionen
- Drucksache 16/9085 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist mit den Stimmen des
Hauses mit Ausnahme der FDP, die dagegen gestimmt
hat, ebenfalls angenommen.
Tagesordnungspunkt 36 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({1})
Sammelübersicht 412 zu Petitionen
- Drucksache 16/9086 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist mit den Stimmen von
Koalition und FDP bei Gegenstimmen des Bündnisses 90/
Die Grünen und der Linken angenommen.
Tagesordnungspunkt 36 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({2})
Sammelübersicht 413 zu Petitionen
- Drucksache 16/9087 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist bei Zustimmung von
Koalition und Bündnis 90/Die Grünen und Gegenstimmen der FDP und der Linken angenommen.
Tagesordnungspunkt 36 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({3})
Sammelübersicht 414 zu Petitionen
- Drucksache 16/9088 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist bei Zustimmung der
Koalition und Gegenstimmen der Oppositionsfraktionen
angenommen.
Jetzt rufe ich Tagesordnungspunkt 5 auf:
Wahl der Mitglieder des Rundfunkrates und des
Verwaltungsrates der Deutschen Welle gemäß
§§ 31 und 36 des Deutsche-Welle-Gesetzes
({4})
- Drucksachen 16/9350, 16/9351 Ich erteile zunächst dem Kollegen Hans-Joachim
Otto, der für die Oppositionsfraktionen spricht, das
Wort.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein Mindestmaß an
Mitwirkungs-, Informations- und Kontrollrechten der
Oppositionsfraktionen nicht nur im Parlament und in seinen Ausschüssen, sondern auch in den mit Parlamentariern zu besetzenden externen Gremien ist ein konstitutives Element jeder Demokratie.
({0})
Der Grundsatz, dass die Mehrheit im Parlament nicht alles darf, dass sie auch nicht alle Positionen besetzen darf,
darf nicht zur Disposition stehen; vielmehr kommt ihm
durchaus Verfassungsrang zu.
({1})
Gegen dieses demokratische Grundprinzip verstößt die
Große Koalition ständig, zwar, wie ich fairerweise zugeben muss, nicht in allen Fällen, aber immer wieder. Es
gibt sicherlich eine dreistellige Anzahl von Gremien innerhalb und außerhalb des Parlaments, in die nur Mitglieder der Koalitionsfraktionen entsendet werden.
Das Fass zum Überlaufen brachte jetzt die Nachbesetzung der Gremien der Deutschen Welle. Es handelt sich
hierbei nicht um eine Klitsche, sondern um den deutschen Auslandssender, dem nach § 4 des DeutscheWelle-Gesetzes folgende hehre Ziele zukommen - ich
darf zitieren -:
Die Angebote der Deutschen Welle sollen Deutschland als europäisch gewachsene Kulturnation und
freiheitlich verfassten demokratischen Rechtsstaat
verständlich machen. Sie sollen deutschen und anderen Sichtweisen zu wesentlichen Themen vor allem der Politik, Kultur und Wirtschaft sowohl in
Europa wie in anderen Kontinenten ein Forum geben mit dem Ziel, das Verständnis und den Austausch der Kulturen und Völker zu fördern.
Der Rundfunkrat vertritt nach § 32 des Deutsche-WelleGesetzes „die Interessen der Allgemeinheit“ innerhalb
der Gremien der Deutschen Welle.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfraktionen, Hand aufs Herz: Meinen Sie wirklich, Sie könnten die parlamentarische Opposition hier vollständig außen vor lassen?
({3})
Platz gäbe es in den Gremien der Deutschen Welle genug. Die Gremien sind durchaus politiknah zusammengesetzt.
({4})
Herr Kollege Otto, einen ganz kleinen Augenblick.
Ich sehe, dass eine ganze Reihe von Abgeordneten
hier vorne zuhören möchte, das aber nicht kann, weil es
insbesondere hinten im Saal besonders laut ist. Ich versuche es jetzt einmal mit der Glocke und fände es gut,
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
wenn wir den zwei Rednern in dieser Debatte zuhören
könnten.
Ich darf zu Ihrer Information aufzählen: Drei Mitglieder und drei stellvertretende Mitglieder des Rundfunkrates stellt die Bundesregierung, zwei Mitglieder und zwei
stellvertretende Mitglieder des Rundfunkrates stellt der
Bundesrat und zwei Mitglieder und zwei stellvertretende
Mitglieder des Rundfunkrates stellt der Bundestag. In
den Verwaltungsrat wird ein Mitglied durch den Bundesrat, ein Mitglied durch den Bundestag und ein stellvertretendes Mitglied durch die Bundesregierung entsendet.
Das macht zusammen 17 - in Worten: siebzehn - Vertreter der Politik in den Gremien der Deutschen Welle.
Sie wollen alle Sitze durch Unions- und SPD-Mitglieder
besetzen. Das Ganze sollte dann auch noch heimlich,
still und leise hier durchgewunken werden. 17 Vertreter!
({0})
Es gab im Vorfeld durchaus Gespräche mit der Koalition, ob sie nicht wenigstens einen Stellvertretersitz der
Opposition überlassen könnte. Selbst dieser überaus bescheidene Wunsch wurde von den Fraktionsführungen
abgelehnt.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit hier überhaupt nicht der Eindruck entstehen kann, uns Freien Demokraten ginge es hier nicht um die Sache, sondern um
Pöstchen, haben wir von vornherein nicht ein Mitglied
der FDP-Fraktion, sondern eine Kollegin aus einer anderen Fraktion vorgeschlagen, von deren fachlichen und
auch menschlichen Qualifikationen wir total überzeugt
sind.
({2})
Es gibt keinen vernünftigen Grund dagegen. Dr. Uschi
Eid wäre für den Rundfunkrat der Deutschen Welle eine
große Bereicherung.
({3})
Ich werbe daher gleichermaßen aus fachlichen, menschlichen und demokratischen Gründen um Ihre Stimme für
Dr. Uschi Eid und bitte Sie um Ihre Unterstützung.
Vielen Dank.
({4})
Der Kollege Dr. Günter Krings hat jetzt für die Koalitionsfraktionen das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren Kollegen! Der Kollege Otto hat eben für die Oppositionsfraktionen begründet, wie er sich in dieser Abstimmung verhalten wird. Ich werde das als Mitglied einer der beiden Koalitionsfraktionen ebenfalls tun.
Es wundert mich allerdings, dass Sie versuchen, einen
Vorgang zu skandalisieren, bei dem es darum geht, dass
ein CDU/CSU-Vertreter durch einen neuen CDU/CSUVertreter und ein SPD-Vertreter durch einen neuen SPDVertreter im Rundfunkrat ersetzt werden.
({0})
Allerdings sind wir uns - das ist mir wichtig - in der
Maßstäblichkeit der Entscheidung einig. Es geht um das
Interesse der Allgemeinheit, wie es auch im DeutscheWelle-Gesetz zum Ausdruck kommt.
({1})
Gerade dieses Interesse der Allgemeinheit fordert uns als
gute Demokraten dazu auf, die Fraktionen in diesem
Hause nach ihrer Stärke zu berücksichtigen.
({2})
Das Mehrheitsprinzip ist das Prinzip der demokratischen
Repräsentation. Das zeigt ein Blick in Art. 20 des
Grundgesetzes jedem, der bereit ist, das Grundgesetz zu
lesen.
In der letzten Bundestagswahl haben sich über
70 Prozent der Wählerinnen und Wähler in diesem
Lande für die CDU/CSU oder die SPD ausgesprochen,
ob Ihnen das gefällt oder nicht.
({3})
Das heißt, jede der Regierungsfraktionen ist für sich genommen stärker als alle drei Oppositionsfraktionen zusammen.
({4})
Das kann man aus Ihrer Sicht bedauern. Aber die Gesetze der Mathematik lassen sich nicht nach dem Gusto
der Opposition außer Kraft setzen.
Deswegen folgen auch alle unsere Personalentscheidungen im Deutschen Bundestag den Stärkeverhältnissen der Fraktionen, von der Sitzverteilung in den
Ausschüssen über die Aufteilung der Ausschussvorsitzenden bis hin zur Besetzung externer Gremien. Entscheidend ist das Stärkeverhältnis der Fraktionen.
Der Bundestag entscheidet heute über zwei ordentliche Mitglieder des Rundfunkrates. Wenn Sie, Herr Kollege Otto, versuchen, eine Aufrechnung mit den von der
Bundesregierung entsandten Mitgliedern vorzunehmen,
dann entspricht das nach meinem Geschmack einem sehr
schwierigen parlamentarischen Verständnis. Wer den
Bundestag sozusagen zur Kompensation einer Entscheidung der Bundesregierung heranziehen will, hat anscheinend eine Auffassung vom Bundestag als einem bloßen
Anhängsel der Bundesregierung. Das ist ausdrücklich
nicht meine Auffassung. Das entspricht nicht der Würde
unseres Hauses.
({5})
Es ist zu simpel, unseren Bundestag in Regierungsabgeordnete und Oppositionsabgeordnete aufzuspalten.
Auch in einer Regierungskoalition behalten die Fraktionen ihre Eigenständigkeit. Es wundert mich gerade in
dieser Woche ein bisschen, dass Ihnen das nicht aufgefallen zu sein scheint.
Die Arbeit des Deutschen Bundestages basiert insbesondere auf zwei Grundsätzen. Der erste Grundsatz ist
die Gleichheit aller Abgeordneten. Der zweite Grundsatz
ist das Recht der Abgeordneten, sich zu Fraktionen zusammenzuschließen und in Fraktionen zusammenzuarbeiten. Beide Grundsätze würden eklatant missachtet,
wenn man es einer der beiden Regierungsfraktionen mit
weit über 200 Mitgliedern des Bundestages versagen
würde, ein Mitglied in den Rundfunkrat zu entsenden,
während eine Oppositionsfraktion mit nur 51 Mitgliedern
ein Mitglied entsenden dürfte.
({6})
In unserer parlamentarischen Demokratie besitzt eine
Oppositionsfraktion keinen höheren Vertretungsanspruch als eine Regierungsfraktion. Es gibt keine Fraktionen erster und zweiter Klasse, genauso wenig wie es
in diesem Hause Abgeordnete erster und zweiter Klasse
gibt.
({7})
Aus diesem Grunde ist das Interesse der Allgemeinheit dem Deutsche-Welle-Gesetz gemäß der gültige
Maßstab. Dieses Interesse der Allgemeinheit wird in der
Demokratie aber nicht nach dem Geschmack Einzelner
- auch nicht einzelner Oppositionspolitiker - definiert;
es definiert sich in der Demokratie vielmehr nach dem
Willen der Wählermehrheit. Dieser Mehrheitswille sollte
sich in unserer Wahl zum Rundfunkrat der Deutschen
Welle heute auch widerspiegeln.
Vielen Dank.
({8})
Mir obliegt es jetzt, das Wahlverfahren zu erläutern.
Wir kommen zunächst zur Wahl der ordentlichen Mit-
glieder des Rundfunkrates der Deutschen Welle. Dazu
liegen Ihnen ein Wahlvorschlag der Fraktionen der
CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/9350 sowie
ein weiterer Wahlvorschlag der Fraktionen der FDP und
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/9351 vor.
Ich gebe zunächst einige Hinweise. Es ist vereinbart,
dass die Wahl der ordentlichen Mitglieder des Rund-
funkrates mittels Stimmkarte und Wahlausweis erfolgen
soll. Die Wahlen der stellvertretenden Mitglieder des
Rundfunkrates sowie des Mitgliedes und des stellvertre-
tenden Mitgliedes des Verwaltungsrates der Deutschen
Welle erfolgen im Anschluss mittels Handzeichen.
Die Stimmkarten für die Wahl wurden verteilt. Sollte
noch jemand keine haben, so sind sie bei den Plenaras-
sistenten und -assistentinnen erhältlich. Außerdem benö-
tigen Sie Ihren Wahlausweis, den Sie, soweit noch nicht
geschehen, bitte Ihrem Stimmkartenfach draußen ent-
nehmen. Bitte achten Sie unbedingt darauf, dass der
Wahlausweis der Ihrige ist und sich dadurch auszeichnet,
dass darauf Ihr Name steht.
Die Wahlen finden offen statt. Sie können die Stimm-
karten also auch an Ihrem Platz ankreuzen. Sie haben für
diese Wahl zwei Stimmen. Das heißt, dass Stimmkarten,
die mehr als zwei Kreuze, andere Zusätze wie Zeichnun-
gen oder Ähnliches enthalten, ungültig sind. Gewählt als
ordentliche Mitglieder des Rundfunkrates sind die bei-
den Abgeordneten, die die meisten Stimmen erhalten ha-
ben.
Bevor die Stimmkarte in eine der Wahlurnen gewor-
fen wird, übergeben Sie bitte Ihren Wahlausweis der
Schriftführerin oder dem Schriftführer an den Wahlur-
nen. Der Nachweis der Teilnahme an der Wahl kann nur
durch die Abgabe des Wahlausweises erbracht werden.
Die Schriftführerinnen und Schriftführer bitte ich, ihrer-
seits darauf zu achten, dass vor der Stimmabgabe der
Wahlausweis tatsächlich übergeben wird.
Jetzt bitte ich die Schriftführerinnen und Schriftfüh-
rer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Haben jetzt
alle Schriftführerinnen und Schriftführer die Plätze ein-
genommen? - Das scheint der Fall zu sein. Dann eröffne
ich die Wahl.
Haben alle Mitglieder des Hauses ihre Stimme abge-
geben? Ich soll ausdrücklich fragen, ob das auch die
Schriftführerinnen und Schriftführer getan haben. - Das
scheint der Fall zu sein. Ich schließe die Wahl, bedanke
mich herzlich und bitte die Schriftführerinnen und
Schriftführer, mit der Auszählung der Stimmen zu be-
ginnen. Das Ergebnis der Wahl wird Ihnen später be-
kanntgegeben.1)
Wir kommen nun zur Wahl der stellvertretenden Mit-
glieder des Rundfunkrates gemäß § 31 des Deutsche-
Welle-Gesetzes. Hierzu liegt ein Wahlvorschlag der Frak-
tionen von CDU/CSU und SPD auf Drucksache 16/9350
1) Ergebnis Seite 17163 D
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
vor. Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Wahlvorschlag einstimmig angenommen.
Wir kommen nun zur Wahl des Mitglieds und des
stellvertretenden Mitglieds des Verwaltungsrates gemäß
§ 36 des Deutsche-Welle-Gesetzes. Hierzu liegt ebenfalls ein Wahlvorschlag der Fraktionen von CDU/CSU
und SPD auf Drucksache 16/9350 vor. Wer stimmt für
diesen Wahlvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Auch dieser Wahlvorschlag ist einstimmig angenommen.
Nun rufe ich den Zusatzpunkt 3 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Unterschiedliche Meinungen in der Bundesregierung zum Energie- und Klimapaket
Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin
Renate Künast, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, das
Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Warum
müssen wir heute über das Thema Klima- und Energiepolitik in Deutschland reden? Ich sage es ganz klar:
wahrscheinlich, weil die Klima- und Energiepolitik der
Bundesregierung ungefähr so ist wie die derzeitige Repräsentanz der Mitglieder der Bundesregierung auf der
Regierungsbank. Das halte ich für ein Stück aus dem
Tollhaus.
({0})
- Der eine oder andere; aber Staatssekretäre sind nicht
Mitglieder der Regierung. Hin und wieder würde ich
auch aus anderen Ressorts gern Regierungsmitglieder
sehen. Das drückt aus, was Sie von der Regierung - ({1})
- Nicht alle sind da, Herr Kelber, nun mal langsam!
({2})
- Ist ja gut, Sie dürfen hier ja gleich reden.
Man sieht hier, wie das Interesse oder Desinteresse an
der Klima- und Energiepolitik ist, die nicht allein Aufgabe des Bundesumweltministers, der gerade in Bonn
verhandelt, sondern eine Querschnittsaufgabe ist, die
alle Ressorts betrifft, auch das Wirtschaftsressort. Wo
sind dessen Vertreter eigentlich, wenn sie nicht gerade
blockieren?
({3})
- Ja, ein Rücktritt wäre hilfreich.
Meine Damen und Herren, es wird in diesem Land
viel über Klima- und Energiepolitik geredet, und man
versucht, sich zum Weltklimaretter aufzubauen. Auch
„frau“ versucht dies, nämlich Frau Merkel. Am Ende
aber muss man sagen: Angesichts dessen, was Sie als
Große Koalition, als schwarz-rote Koalition, im Augenblick vorlegen, sind Sie kein Weltklimaretter; vielmehr
ist das Vorgehen von Schwarz-Rot eine Katastrophe für
den internationalen Klimaschutz.
({4})
Dies gilt auch und gerade für diejenigen, die schon
heute unter dem Klimawandel leiden und Opfer dieses
Klimawandels sind. Denken wir an die Küstenstaaten, an
die Entwicklungsländer und an die Inseln dieser Welt,
auf denen den Menschen das Wasser im wahrsten Sinne
des Wortes bis zum Halse steigt. Wie soll eigentlich
Ende nächsten Jahres in Kopenhagen „Kioto PLUS“
funktionieren, wenn unser Land an dieser Stelle allen
Entwicklungs- und Schwellenländern und vornan den
USA signalisiert, dass Deutschland gar nicht willens ist,
Klima- und Energiepolitik zu machen? Das ist ein Desaster, und das liegt in Ihrer Verantwortung!
({5})
Man muss das nun damit verbinden, dass dies auch
eine Bankrotterklärung dieser Regierung insgesamt ist,
die versucht hat, das Thema Klima- und Energiepolitik
zu einem der Herzstücke ihrer Arbeit zu machen. Auch
an dieser Stelle sind Sie am Ende.
({6})
Frau Merkel müsste einmal erklären, wie es weitergehen
soll. Es ist ja schön, dass sie gestern - nach Jahren des
Gedrängtwerdens - endlich Geld für den Waldschutz zur
Verfügung gestellt hat. Es geht aber auch darum, dass die
Bundeskanzlerin ihre Richtlinienkompetenz nicht freiwillig der deutschen Energie- oder Automobillobby
überträgt; denn genau das hat sie getan.
({7})
Faktisch haben wir seit Heiligendamm Stillstand;
Heiligendamm war geradezu die Hoch-Zeit der Willenserklärungen. In Kürze findet der nächste G-8-Gipfel
statt, diesmal in Japan. Neue Ziele wurden vereinbart.
Doch wieder ist von einer Reduktion der CO2-Emissionen um 50 Prozent bis 2050 die Rede. Wir Grünen sagen
Ihnen: Wir dürfen nicht ausschließlich über Fernziele reden, wir müssen heute damit beginnen, die Realität zu
verändern! Die Messlatte 2008 heißt: die CO2-Emissionen bis 2020 um 40 Prozent reduzieren. Die gegenwärtige Bundesregierung ist von diesem Ziel nicht nur weit,
sondern von Tag zu Tag weiter entfernt, sie geht in die
falsche Richtung.
({8})
Man darf sich nicht auf den Schoß der Automobilkonzerne setzen! Streichen Sie endlich das Steuerprivileg
für Dienstwagen! Durch dieses Privileg wird mittlerweile jeder zweite in Deutschland neu zugelassene
Spritschlucker steuerlich subventioniert. Weg mit diesem Steuerprivileg!
({9})
Beenden Sie in Brüssel Ihre Blockade wirksamer CO2Grenzwerte für Autos! Die Verbraucherinnen und Verbraucher haben ein Recht darauf, dass die Politik nachhilft, dass endlich verbrauchsärmere Fahrzeuge, Fahrzeuge mit anderer Technologie gebaut werden, damit
man nicht länger an der Tankstelle eine Herzattacke bekommt, wenn die Mineralölkonzerne wieder ihre Kartelle wirken lassen.
({10})
Man kann es auch anders sagen: Es ist in sozialer Hinsicht ein Skandal, dass diese Regierung selbst angesichts
eines Ölpreises von mittlerweile 135 Dollar nicht dafür
sorgt, dass man sparsamere Autos kaufen kann. Das ist
im Hinblick auf die soziale Frage ein Skandal; denn insbesondere die, die auf dem Land leben, sind auf das
Auto angewiesen, um zur Arbeit zu kommen.
({11})
Sie gefährden mit Ihrer Politik die Arbeitsplätze der
Zukunft. Die Arbeitsplätze werden am Ende nicht mit
den Porsches erhalten, sondern dadurch, dass man mit sicheren, gut funktionierenden, modernen, ökologischen
Autos Mobilität ermöglicht. Wenn Ihre Politik fortgesetzt wird, werden uns die Inder und die Chinesen in Sachen Auto überholen.
({12})
- Schön, dass auch Sie schon vom Hybridfahrzeug gehört haben. Das Hybridfahrzeug ist eine gute Sache. Das
hat mittlerweile auch VW erkannt: VW überlegt jetzt,
wie man ein Auto baut, das erst im sechsten Gang auf
Spritbetrieb umschaltet und die ersten fünf Gänge mit
Hybridantrieb fährt. Das Auto gibt es aber noch nicht.
VW ist spät dran, sodass andere möglicherweise früher
mit so etwas auf dem Markt sein werden. Das kostet Klimaschutz und das kostet Arbeitsplätze.
({13})
Das Gleiche gilt für die Heizkosten: Es ist ein Fehler,
bei der energetischen Sanierung Altbauten außen vor zu
lassen. Sie lassen die Mieter im Stich! Es ist ein Fehler,
dass Sie nicht für Wettbewerb auf dem Strom- und Gasmarkt sorgen. Und hören Sie auf, die Erfolgsgeschichte
des grünen EEG an dieser Stelle zu gefährden! Sorgen
Sie dafür, dass die Investitionseinbrüche in diesem Bereich, zum Beispiel bei der Windenergie, nicht zunehmen! Sie müssen diese Bereiche weiterentwickeln!
({14})
Die Quote der erneuerbaren Energien muss rapide
steigen. Verlassen Sie den Schoß der Lobbyisten, den
Schoß der Vorstände der Energiekonzerne, der Mineralölkonzerne, der Autokonzerne! Sorgen Sie dafür, dass
sich dieses Land bewegt! Was wir nicht brauchen können, ist, dass bis Herbst 2009 nichts passiert. Das ist unökologisch und unsozial.
({15})
Die Kollegin Dr. Maria Flachsbarth hat jetzt das Wort
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Liebe Frau Künast, ich kenne aus der Vergangenheit
eine Landwirtschaftsministerin, die von Ölscheichs der
Zukunft gesprochen hat und heute nicht mehr gerne daran erinnert wird. Lassen Sie uns wieder in der Gegenwart ankommen und schauen, welche Politik tatsächlich
gemacht wird.
Die schwarz-rote Koalition hat die Energie- und Klimaschutzpolitik ganz oben auf die politische Agenda gesetzt und im letzten Jahr die G-8-Präsidentschaft und die
EU-Ratspräsidentschaft dazu genutzt, unter Federführung
unserer Bundeskanzlerin international sehr ambitionierte
Klimaschutzziele zu etablieren. Mit dem integrierten Energie- und Klimaprogramm setzen Bundesregierung,
Bundestag und Bundesrat diese Ziele nun in nationale
Politik um. Wir haben im Dezember letzten Jahres ein
erstes Paket vorgelegt, das sich jetzt in den regulären
parlamentarischen Beratungen befindet. Diverse Anhörungen haben stattgefunden. Ein zweites Gesetzespaket
wird im Juni folgen. Es gibt kein vergleichbares Industrieland mit einem ähnlichen ambitionierten und konkret
ausgestalteten Programm.
({0})
Energie- und Klimapolitik können jedoch nicht unabhängig voneinander diskutiert werden. Die Beachtung
des Zieldreiecks Versorgungssicherheit, Wirtschaftlichkeit und Umweltverträglichkeit ist entscheidend für eine
konsistente Politik. Wir dürfen nicht das Umfeld aus
dem Auge verlieren, innerhalb dessen Politik agiert. Die
Union nimmt deshalb die Sorgen und Nöte der Menschen sehr ernst, die sie sich wegen der derzeit extrem
steigenden Energiepreise machen, die wiederum aus einem unguten Mix aus erhöhter Nachfrage, begrenztem
Angebot und Finanzspekulationen entstehen. Wir müssen leider davon ausgehen, dass die Energiepreise in
nächster Zukunft nicht nachhaltig sinken werden. Bürger
und Industrie sind die Leidtragenden. Das Statistische
Bundesamt hat mitgeteilt, dass die Inflation in Deutschland im Mai voraussichtlich wieder in die Nähe des Jahreshochs von 3 Prozent steigen wird. Ganz konkret: Die
hohen Ölpreise von über 135 Dollar pro Barrel haben
dazu geführt, dass an den Tankstellen 1,50 Euro pro Liter verlangt wird. Heizöl verteuerte sich von April bis
Mai um 13 Prozent und im Vergleich zum letzten Jahr
sogar um 65 Prozent.
Angesichts dessen sind der effiziente Einsatz und der
intelligente Ersatz von fossilen Brennstoffen durch regenerative Energien bei ohne Zweifel zunächst einmal anfallenden zusätzlichen Investitionskosten auch ein
Schritt, sich von den steigenden Energiekosten abzukoppeln, und natürlich eine Frage der Generationengerechtigkeit, der Nachhaltigkeit und des Klimaschutzes.
({1})
Deshalb ist von großer Bedeutung, dass der Bundestag
in der nächsten Woche über den Entwurf eines neuen Erneuerbare-Energien-Wärmegesetzes abschließend berät.
Dieses Gesetz schreibt den Einsatz erneuerbarer Energien in Neubauten - gegebenenfalls in Kombination mit
besserer Dämmung sowie Nutzung von Ab- und Fernwärme - vor und gibt wesentliche Anreize, Gebäude
energetisch zu optimieren. Frau Künast, für Neu- und
Bestandsgebäude gibt es das Marktanreizprogramm und
das CO2-Gebäudesanierungsprogramm. Im Rahmen des
MAP sind im ersten Quartal dieses Jahres bereits fast
30 000 Anträge mit einem Fördervolumen von 26 Millionen Euro gestellt worden. Das CO2-Gebäudesanierungsprogramm führte im ersten Quartal dieses Jahres bereits
zu Kreditzusagen in Höhe von 1,4 Milliarden Euro. Das
sind 44 Prozent mehr als im letzten Jahr. Das entspricht
einem Investitionsvolumen von 2,9 Milliarden Euro.
Das ist gut für das Klima, den Geldbeutel der Menschen
und - auch das sollten wir nicht ganz vergessen - das
örtliche Handwerk. Dass nichts getan wird, ist schlicht
und ergreifend falsch.
({2})
Bei der Stromerzeugung aus regenerativen Energien
sind wir auf einem guten Weg. Das Erneuerbare-Energien-Wärmegesetz wird planmäßig novelliert und steht,
wie gesagt, vor der abschließenden Beratung in der
nächsten Woche. Dabei ist das meiste von dem, was die
Medien tagein, tagaus an Wasserstandsmeldungen berichten, Spekulation. Verhandelt wird in den Verhandlungen. Abschließende Ergebnisse liegen immer erst
nach den Verhandlungen vor. Auch hier müssen wir mit
Augenmaß Klimaschutz, Versorgungssicherheit und
Wirtschaftlichkeit im Gleichgewicht halten. Wir werden
das auch tun. Der Anteil des EEG am Strompreis - viel
diskutiert im Moment - beträgt 3 bis 4 Prozent. Ein
durchschnittlicher Haushalt mit vier Personen und mit
3 500 Kilowattstunden Jahresverbrauch zahlt dafür im
Jahr 25 Euro. Das ist zwar ein stolzer, aber, umgelegt auf
vier Personen für ein Jahr, vielleicht doch ein angemessener Preis.
Der Staat hat jedoch über Mehrwertsteuer, Konzessionsabgabe und Ökosteuer unbestritten einen Anteil
von 40 Prozent an den Strompreisen. Dies müssen wir
gemeinsam mit den Haushalts- und Finanzpolitikern angehen. Außerdem bleibt von den 3,3 Milliarden Euro
Differenzkosten 2006 für erneuerbare Energien vom Anlagenbau bis zur Energieerzeugung ein Großteil der
Wertschöpfung in Deutschland, mit positiven Auswirkungen auf Wirtschaft, Arbeitsplätze und Steuereinnahmen im Inland. Die 70 Milliarden Euro, die wir jedes
Jahr für Öl-, Gas- und Kohleimporte ausgeben, sind allerdings weg.
Alles in allem: Die Bundesrepublik stellt mit dem
IKEP die zentralen energie- und klimapolitischen Weichenstellungen für die Zukunft. Wir, die CDU/CSUFraktion, werden alles daran setzen, die Vorhaben auf
Basis der ehrgeizigen Klimaschutzziele und des Dreiklangs von Umweltschutz, Wirtschaftlichkeit und Versorgungssicherheit sehr erfolgreich zu gestalten.
Herzlichen Dank.
({3})
Nächster Redner ist der Kollege Michael Kauch, für
die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Was wir
derzeit erleben, auch in der Umweltpolitik, ist der Anfang vom Ende der Großen Koalition. Wie zwei Boxer,
die des Kämpfens müde sind, schleppen Sie sich durch
den Ring und hoffen, dass bald Schluss mit der ungeliebten Schicksalsgemeinschaft ist.
({0})
Diese Bundesregierung beweist derzeit, dass sie handlungsunfähig ist, wenn sie nicht einmal mehr unmissverständliche Vereinbarungen des Koalitionsvertrages wie
die Umstellung der Kfz-Steuer umzusetzen vermag. Die
Klimapolitik ist nur ein Beispiel für das Scheitern der
Großen Koalition, aber ein politisch sehr bedeutsames.
Die Klimapolitik der Bundesregierung fällt langsam zusammen wie ein Kartenhaus im Wind. Nach der Rücknahme eines Teils Ihrer verfehlten Biokraftstoffpolitik
wissen Sie nicht wirklich, wie es weiter vorangehen soll.
Bei der Frage der CO2-abhängigen Kfz-Steuer eröffnen
Sie ein weiteres Kapitel der Uneinigkeit.
({1})
Aber das Chaos geht noch weiter. Sie haben keine
klare Vorstellung - das war auch in der letzten Sitzung
des Umweltausschusses deutlich -, wie Sie denn beim
Emissionshandel nach 2012 mit den energieintensiven
Branchen umgehen sollen. Fassungslos steht man im Zusammenhang mit der EEG-Novelle vor der Solarenergieförderung. Da will das Umweltministerium im nächsten
Jahr eine Degression von 9 Prozent, einige SPD-Abgeordnete finden das zu viel, die Union fordert jetzt, wie
man in der Zeitung lesen konnte, 20 Prozent, und zwischenzeitlich hat man auch schon einmal 25 Prozent gehört.
({2})
Das geht frei nach dem Motto: Wer bietet mehr, wer
bietet weniger? - Wie schlampig ist eigentlich die
Datenbasis in der Bundesregierung vorbereitet, wenn
Ihre Vorstellungen derart weit auseinandergehen?
({3})
Auch beim Erneuerbare-Wärme-Gesetz, das Frau
Flachsbarth gerade sehr gelobt hat, muss man sich die
Frage stellen, ob Sie die Ziele, die Sie einmal ausgegeben haben, erreichen oder überhaupt noch verfolgen. Sie
sind beim Erneuerbare-Wärme-Gesetz einmal mit dem
Anspruch angetreten, die erneuerbare Wärme zu fördern,
ohne Haushaltsmittel einzusetzen. Haushaltsneutralität
war Ihr Anliegen. Es gab zum Beispiel von der SPDFraktion Vorschläge, wie man das hätte machen können.
Im Ergebnis haben Sie sich auf nichts geeinigt.
({4})
Dadurch, dass Sie das Erneuerbare-Wärme-Gesetz auf
Neubauten beschränken, werden Sie den wesentlichen
Teil der Gebäude nicht erfassen. Um das auszugleichen,
wird das Marktanreizprogramm nicht auslaufen, sondern
die Subventionen werden nach dem Motto „Viel hilft
viel“ verdoppelt, weil Ihnen nichts einfällt.
({5})
Schauen wir uns an, wie es denn mit der Technologieoffenheit dieses Gesetzes aussieht. Das ist ein Solarthermie-Förderprogramm, und zwar deshalb, weil Sie das
Biogas diskriminieren, weil Sie das Biogas auf wenige
Anwendungen einschränken, anstatt eine Wettbewerbsgleichheit der Technologien zu ermöglichen. Ein anderes
Beispiel für Ihre fehlende Technologieoffenheit ist die
Erleichterung des Zwanganschlusses an Fernwärme
nach dem Motto: Die Leute sollen ihre Gasheizung herausreißen, damit sie zwangsweise an Fernwärmenetze
angeschlossen werden können. - Das ist im Entwurf der
Bundesregierung enthalten. Man kann nur hoffen, dass
das noch herausfliegt, aber ich habe da wenig Hoffnung.
({6})
Es bleibt abzuwarten, ob die Bundesregierung dieses
Chaos beendet und wenigstens den Rest ihres Klimaprogramms noch vor der Sommerpause beschließt.
Auf der politischen Bühne der Welt gibt die Kanzlerin
gerne die große Klimaretterin.
({7})
Aber man muss dazu ein bisschen mehr machen, als nur
das Scheckbuch zücken.
({8})
Man muss auch ein Konzept haben, wie man es für andere Staaten attraktiv macht, die Vorreiterrolle Deutschlands zu sehen und uns in ein neues Klimaabkommen zu
folgen.
Wenn Sie derart uneins sind, wie Sie es hier zeigen,
dann senden Sie kein Signal in die Welt. Bei der Kanzlerin muss man sich schon fragen, wo sie Führungsstärke
zeigt. Sie lässt zu, dass die Minister sich streiten und
dass die Vorschläge zerredet werden. Seitens des Wirtschaftsministeriums wird ständig gestänkert; es gibt
keine konstruktiven Vorschläge. Herr Glos ist heute
nicht einmal hier, um seine immer wieder gegen das
Umweltministerium gerichteten Vorschläge zu begründen. Es fehlt an ordnungspolitischer Orientierung in diesem Wirtschaftsministerium. Die Anwesenheit der
Staatssekretäre reicht an dieser Stelle eben nicht aus.
({9})
Wenn die Kanzlerin dieses Chaos der Minister so weiter zulässt, dann wird dieses Führungsproblem auch ein
Führungsproblem der Bundeskanzlerin. In diesem Sinne
war es durchaus notwendig, dass wir hier über die Uneinigkeit der Bundesregierung sprechen; denn sie gefährdet die nationalen Interessen dieses Landes. Dazu gehört
der Klimaschutz in einem globalen Vertragswerk. Das
können wir nur erreichen, wenn wir hier klare Botschaften in die Welt senden und kein Chaos anrichten.
({10})
Das Wort hat nun der Kollege Ulrich Kelber für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Wir wissen, dass Deutschland bis 2020 den Ausstoß von Treibhausgasen um 40 Prozent gegenüber 1990
senken will. Wir haben in den letzten Wochen erfahren
müssen, dass sich der Ölpreis in einem gewissen Zeitraum verdoppelt hat. Darauf kann Deutschland eigentlich nur eine Antwort geben, nämlich den Ölverbrauch
zu halbieren, durch mehr Effizienz und durch den Ausbau von erneuerbaren Energien, und das mit einer Technologie, die nicht nur den Ölverbrauch halbiert, sondern
auch den Gas- und Stromverbrauch sowie den Verbrauch
von Kohle reduziert.
Eine solche integrierte Strategie ist die richtige Antwort, weil sie gut für den Klimaschutz und gut für den
Geldbeutel ist. Denn wenn man weniger Energie verbraucht, schlagen selbst steigende Weltmarktpreise auf
die Rechnung nicht so durch. Außerdem ist diese Strategie gut für Jobs. Bereits jetzt haben wir 250 000 Arbeitsplätze im Bereich der erneuerbaren Energien. Bis 2020
wird ihre Anzahl auf eine halbe Million anwachsen. Das
ist der Dreh- und Angelpunkt: Wir müssen heute in die
niedrigen Energierechnungen von morgen, in die Versorgungssicherheit und in den Klimaschutz investieren.
Dazu gehört, dass die verschiedenen Maßnahmen für
diese Investitionen - etwa das Wärmedämmungsprogramm oder das Marktanreizprogramm - noch einmal
angepasst werden müssen, um vor allem denen zu helfen, die nicht selber über ausreichend Geld verfügen, um
in weniger Energieverbrauch zu investieren. Wir dürfen
die Menschen mit einem hohen Energieverbrauch bei
steigenden Energiepreisen nicht im Stich lassen. Wir
können nicht die Weltmarktpreise beeinflussen; aber wir
können jedem helfen, jedem Privathaushalt und jedem
Unternehmen, den Energieverbrauch zu senken und damit die Energierechnungen bezahlbar zu halten.
({0})
Dazu gehören nicht nur Förderprogramme, sondern
natürlich auch beherzte Vorschriften für einen niedrigen
Verbrauch, die für einen längeren Zeitraum gelten. Wir
dürfen nicht nur sagen, wie es im nächsten Jahr aussehen
soll. Es bedarf einer breitestmöglichen Mehrheit, damit
niemand das Gefühl hat, nach der nächsten Wahl, wenn
hier womöglich irgendeine andere Konstellation die
Mehrheit hat, komme es wieder zu anderen Beschlüssen
darüber, wie diese Vorschriften 2012, 2015 oder 2020
aussehen. Es muss klar sein, wie viel ein neugebautes
Haus oder ein Automobil dann noch verbrauchen darf
oder wie die Vorschriften für Elektrogeräte aussehen. Es
geht darum, eines zu erreichen: einen Wettlauf der Ingenieure und Architekten zugunsten des Geldbeutels der
Verbraucherinnen und Verbraucher und nicht nur um das
bestaussehende Produkt. Es muss mehr Energieeffizienz
in das System gebracht werden.
Ich habe mich bei der Kritik des Kollegen Kauch am
Wirtschaftsminister gerade in der Tat zu einem Klatschen hinreißen lassen; auch das muss man ansprechen.
({1})
Ich erwarte von einem Wirtschaftsminister, dass er dafür
wirbt, dass im Land Investitionen vorgenommen werden, und nicht, dass er den Leuten einredet, dass Investitionen in weniger Energieverbrauch Kosten sind, die sie
möglichst vermeiden sollten. Das ist das, was Herr Glos
mit seinem Gerede in den letzten Monaten leider erreicht
hat: Bei modernen Heizungen herrscht Kaufzurückhaltung.
({2})
Weniger Leute investieren in Wärmedämmung, weil
man ihnen einredet, das seien Kosten, die sie vermeiden
sollten. Der Wirtschaftsminister muss durch das Land
reisen und sagen: Wir haben die besten Förderprogramme Europas. Kauft! Investiert! Verbraucht weniger
Energie! Das ist der beste Schutz. - Es wäre gut, wenn
das nicht nur der Umweltminister täte, sondern auch der
Wirtschaftsminister.
({3})
Es gibt noch weitere Stellen, an denen wir arbeiten
können. Nachdem wir uns darauf geeinigt haben, wie die
Energieeinsparverordnung für neue Gebäude ab 2009
verschärft wird - es wird ein im Vergleich zu bisher
30 Prozent niedrigerer Energieverbrauch vorgeschrieben -, müssen wir jetzt relativ schnell sagen, was wir ab
2012 wollen. Wir müssen noch einmal um 30 Prozent
herunter. Bis 2020 muss der Passivhausstandard in
Deutschland der Standard für neue Gebäude werden. Die
entsprechende Technologie gibt es.
Fragen Sie einmal einen Menschen, der sein Haus
nach dem Passivhausstandard gebaut hat, nach seinen
Heizungskosten. Er wird Ihnen antworten, dass er Heizungskosten von 100 Euro pro Jahr hat - pro Jahr, nicht
pro Monat! Diese Technologie brauchen die Haushalte.
Das Gleiche müssen wir bei den Autos und Elektrogeräten erreichen.
({4})
Das effizienteste Gerät muss der Standard werden. Es
darf kein Gerät mehr verkauft werden, das nicht mindestens so effizient ist wie das beste fünf Jahre zuvor.
({5})
Das ist der beste Weg in diesem Bereich.
Zuletzt möchte ich noch etwas zu der Debatte über
die Fotovoltaik sagen. Es ist kein Wunder, dass die großen Energiekonzerne 2004 alle erneuerbaren Energien
angegriffen haben, 2008 aber nicht mehr. Denn sie haben
gemerkt, dass sie mit Biomasse, Wind, Wasser und Geothermie verdienen können. Nur die Fotovoltaik wird eines Tages die Versicherung des kleinen Mannes gegen
steigende Stromtarife sein.
Die Welt hat gegen die Fotovoltaik geschrieben und
eine Grafik veröffentlicht, der man allerdings entnehmen
konnte, dass in Deutschland der Strom aus einer Fotovoltaikanlage bereits im Jahre 2014 günstiger als der
Strom aus der Steckdose sein wird. Dann werden die
Leute Fotovoltaikanlagen auch ohne Förderung bauen,
um endlich unabhängig von den Preissteigerungen von
Eon, RWE und Co. zu werden. Ich freue mich auf diesen
Tag.
Vielen Dank!
({6})
Bevor wir die Aktuelle Stunde fortsetzen, komme ich
zurück zu dem Tagesordnungspunkt 5 und gebe das von
den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Er-
gebnis der Wahl der Mitglieder des Rundfunkrats der
Deutschen Welle bekannt, Drucksache 16/9350.
Abgegebene Stimmkarten 482. Davon waren gültig 479.
Für Wolfgang Börnsen haben gestimmt 360 Abgeord-
nete. Für Fritz Rudolf Körper haben 321 Kollegen ge-
stimmt, für Dr. Uschi Eid 138. Damit stelle ich fest, dass
die Abgeordneten Wolfgang Börnsen und Fritz Rudolf
Körper als Mitglieder des Rundfunkrats der Deutschen
Welle gewählt sind.1)
({0})
Wir setzen die Aktuelle Stunde fort. Ich erteile dem
Kollegen Hans-Kurt Hill für die Fraktion Die Linke das
Wort.
({1})
1) Namensverzeichnis der Teilnehmer an der Wahl siehe Anlage 2
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
„Wir halten unser Versprechen“ - so lautet der Titel des
Energie- und Klimapakets der Bundesregierung.
Aber die Wahrheit sieht anders aus: Die Bundesregierung steht beim Klimaschutz mit beiden Füßen auf der
Bremse, Herr Kelber. Die versprochene Umsetzung des
Energie- und Klimapakets wird teilweise vertagt, und
die erklärten Ziele zur Senkung des Klimagasausstoßes
werden nur zur Hälfte erfüllt, wenn überhaupt.
({0})
Uneinigkeit einigt diese Regierungskoalition, liebe Genossen.
({1})
- Liebe Kolleginnen und Kollegen, nach der Debatte
von gestern verzeihen Sie mir das bestimmt.
Erstens. Herr Glos will keine erneuerbaren Energien
im Altbau, aber marode Atomblöcke statt effizienter
Kraft-Wärme-Kopplung.
Zweitens. Herr Gabriel lässt die Solarbranche hängen,
will aber neue Kohlekraftwerke.
Drittens. Der Umweltminister sagt Ja zu Agrosprit,
der Raubbau und Vertreibung in den Ländern des Südens
bewirkt und eine schlechte CO2-Bilanz hat.
Viertens. Der Wirtschaftsminister wiederum sackt bei
klimafreundlicher Verkehrspolitik ein.
Die Folge ist, dass die Gesetzentwürfe dieser Regierung auf ein Minimum zusammengekürzt werden, das
nahe Null liegt. Doch gehen wir der Sache einmal genauer nach.
Kraft-Wärme-Kopplung: Der Fördertopf für die Zukunftskraftwerke hat einen festen Deckel und ist so
klein, dass der versprochene Zuwachs bis 2020 nur zur
Hälfte erreicht werden kann.
Strom aus erneuerbaren Energien: Das Potenzial von
Strom aus Wind, Sonne und Biomasse wird von der
Bundesregierung ignoriert, Herr Kelber. Was Sie eben
gesagt haben, stimmt nämlich bei Weitem nicht.
Obwohl die Prognosen für das Wachstum der erneuerbaren Energien immer wieder übertroffen werden, ist die
Zielsetzung im EEG zu niedrig. Nicht ein Viertel, sondern ein Drittel Strom aus erneuerbaren Energien ist bis
2020 machbar. Das geht allerdings nur - da gebe ich Ihnen vollkommen recht -, wenn die Bundesregierung den
Kuschelkurs mit den Energiekonzernen endlich aufgibt.
({2})
Es ist bezeichnend, dass der Solarstrom abgewürgt
werden soll, obwohl Zehntausende sichere Arbeitsplätze
in Handwerk und Industrie geschaffen wurden und der
solare Beitrag zum Klimaschutz wirksamer und kostengünstiger ist als der Emissionshandel.
Damit sind wir beim Stichwort „Emissionshandel“.
Wenn die Bundesregierung weiter tatenlos zusieht, werden die zusätzlichen Kohleblöcke nicht nur zu steigendem CO2-Ausstoß führen,
({3})
sondern auch die neu geplanten Stromnetze besetzen, die
eigentlich für den Strom aus Windenergie vorgesehen
sind.
Die größte Nullnummer aber ist wohl das Erneuerbare-Energien-Wärmegesetz. Es soll nur für Neubauten
gelten - meines Erachtens ist das Schwachsinn -, also
lediglich für 1 Prozent der Gebäude, und zusätzlich sieht
man noch eine zu geringe CO2-Einsparung vor. Wenn
das Gesetz aber keine Wirkung entfaltet, so frage ich Sie
allen Ernstes, was soll das dann? Wozu ist das Gesetz
dann gut?
Diese Erkenntnis ist der Bundesregierung wohl auch
im Verkehrsbereich gekommen. Ihre Biospritstrategie
ist, wie angekündigt, gescheitert, und Wirtschaftsminister Glos lehnt die versprochene CO2-bezogene KfzSteuer für Neuwagen schlicht ab.
Unterm Strich sieht das so aus: Statt der versprochenen Senkung des Ausstoßes von Klimagasen um
36 Prozent bis zum Jahr 2020 werden nur 25 Prozent erreicht. Da schon 18 Prozent insbesondere durch den
Nachwendeeffekt erreicht sind, reden wir über 7 Prozent
in zwölf Jahren - 7 Prozent in zwölf Jahren!
Das schafft die Bundesregierung in der Tat, ohne etwas zu tun. Man muss es ganz klar sagen: Mit dem Titel
Ihres Papiers hat das nichts mehr zu tun; denn im Klimaschutz hat die Bundesregierung ihre Versprechen gebrochen.
({4})
Sie hat sich selbst blockiert und streitet lieber über Kandidatinnen und Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten.
Wir, die Linke, fordern Sie auf, sich endlich zu bewegen und Ihre Versprechen zu halten. Stimmen Sie bei
den jetzt anstehenden Beschlüssen zum Integrierten
Klima- und Energieprogramm unseren Anträgen zu!
Produzieren Sie nicht nur heiße Luft! Denn wenn man es
richtig macht, liebe Kolleginnen und Kollegen, zahlt
sich Klimaschutz für die Bürgerinnen, für die Bürger,
aber auch für die Umwelt aus.
Vielen Dank.
({5})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Patricia Lips für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Klimaschutz ist gut, wichtig und vor allen Dingen in unserer Bevölkerung akzeptiert. Am Ende ist entPatricia Lips
scheidend: Diese Akzeptanz, das „Ich will mitmachen“,
dürfen wir nicht verspielen, indem wir Entscheidungen
treffen, mit welchen es nicht mehr gelingt, die Menschen
auf unserem Weg auch weiterhin mitzunehmen.
({0})
Klimaschutz gibt es nicht umsonst. Das ist uns allen
bewusst, auch den Menschen draußen. Maßnahmen werden in den Augen der meisten Menschen aber immer nur
da Akzeptanz finden, wo sie vernünftig sind und/oder
bezahlbar bleiben.
Deshalb gilt: Angesichts der aktuellen Vorgänge auf
den Rohstoffmärkten mit den bekannten Auswirkungen
im Energiebereich muss natürlich verstärkt die Frage erlaubt sein, ob wirklich jede Technik, sei es Wind, Wasser, Sonne, Biomasse, Biogas - es gibt schon eine ganze
Menge in diesem Land -, an jedem Ort effektiv genutzt
werden kann, ob wir inzwischen nicht auch hin und wieder dazu neigen, eine kleine Monstranz vor uns herzutragen.
Frau Künast, Sie haben das Beispiel Wind gebracht.
Ich möchte das ganz kurz daran festmachen. Ich vertrete
einen Wahlkreis, der in Teilen stark landwirtschaftlich
geprägt ist. Dort nutzen wir Holz als nachwachsenden
Rohstoff, Biomasse, Biogas. All das erfährt eine hohe
Akzeptanz und Unterstützung über Parteigrenzen hinweg. Aber wenn Sie den Bürgern begreiflich machen
wollen, dass es auch notwendig ist, Windkraftanlagen
mit einer Höhe von 180 Metern aufzustellen, weil überhaupt erst in der Höhe die Windhöffigkeit gegeben ist,
haben Sie ein Problem. Es wird dann schwer, die Menschen in der Region mitzunehmen.
Ein anderes Beispiel. Mein Bundesland verliert aus
unterschiedlichen Gründen - das ist in ganz Deutschland
so - bereits heute rund 6 Hektar Ackerland pro Tag Fläche, die für den Anbau von Pflanzen für die Lebensmittelproduktion verloren geht. Zu dem bereits vorhandenen Anbau nachwachsender Rohstoffe - das wollen
wir ja auch - kommen nun neu Anträge auf Genehmigung von Fotovoltaikanlagen auf solchen Böden hinzu.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, nicht, dass wir
uns falsch verstehen: Solarenergie wird, wie anderes
auch, von vielen Menschen in diesem Land aus Überzeugung angewendet. Das ist politisch so gewollt; sie sichert Arbeitsplätze und soll natürlich auch weiterhin
Förderung erfahren. Niemand will irgendetwas „abwürgen“. Aber: Dieses Beispiel mag auch dazu dienen, einmal innezuhalten und darüber nachzudenken, ob wir
noch Grenzen sehen - und wenn ja, wo - und ob sich
nicht gutgemeinter Klimaschutz manchmal ins Gegenteil
verkehrt.
({1})
Wenn Sie heute auf die Straße gehen und Menschen
fragen: Finden Sie es gut, wenn sich die Kfz-Steuer
künftig nach dem Schadstoffausstoß berechnet?, dann ist
klar, dass diese Frage gerade in dieser Formulierung natürlich das tief in uns allen verwurzelte Gefühl nach Gerechtigkeit bedient. Dieses Gefühl ändert sich jedoch bei
Ihrem Gegenüber in aller Regel, wenn er oder sie die
Botschaft erfährt - gestatten Sie mir, dass ich das etwas
lapidar ausdrücke -: Du bist mit deinem fünf Jahre alten
Wagen ziemlich sicher von einer höheren Belastung betroffen, es sei denn, du kaufst dir einen sparsamen neueren. Wir hoffen, du hast das Geld dafür. Du bist nicht die
Ausnahme, sondern die Regel. - All das in Zeiten stark
steigender Energiepreise! Hier wird Politik auf einmal
sehr real, meine sehr geehrten Damen und Herren, und
es ist an uns, dies zu berücksichtigen. Eine Partei wie die
Grünen, deren Ziel einmal ein Benzinpreis von 5 DM
war - vielleicht auch noch ist; man weiß es ja nicht so
genau -, mag es freuen.
Vielleicht erinnern Sie, Frau Künast, sich bei Ihrer
lautstarken Kritik an der Regierung auch daran, dass Sie
bis vor kurzem selbst noch am Kabinettstisch saßen.
({2})
Der Kollege im Umweltbereich hieß Trittin. Mit welchem persönlichen Ergebnis angesichts dessen, was Sie
nicht alles in diesem Bereich hätten machen können?
({3})
Wir müssen uns aber darüber hinaus auch fragen: Was
wollen wir denn am Ende mit welcher Lenkungsmaßnahme erreichen? Ist das Ziel realistisch? Vor allem
müssen wir uns fragen: Wen treffen wir damit? Bleiben
wir einmal beim Beispiel Kfz: Wir leben hier in
Deutschland, und die meisten Menschen haben das Gefühl bzw. sind davon überzeugt, dass sie etwas davon
verstehen. Das tun sie mit Sicherheit auch. Es muss also
erlaubt sein, noch einmal nachzudenken und Alternativen zu prüfen, die den Altbestand von Fahrzeugen, ob
privat oder geschäftlich genutzt, weniger stark belasten.
Was nützt es, Kolleginnen und Kollegen, wenn folgende Situation eintritt: Klimaschutz findet statt und keiner geht hin, weil er es entweder nicht mehr versteht, als
ungerecht empfindet oder nicht bezahlen kann. Es liegt
auch in unserer Verantwortung, das zur Beratung anstehende Klimaschutzpaket so zu gestalten, dass es nicht
nur hier im Hause eine Mehrheit erhält, sondern auch
draußen bei den Menschen die erforderliche Akzeptanz.
({4})
Wir haben seit der letzten Bundestagswahl bereits
vieles erreicht. Auf diesem Weg gehen wir weiter.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die
Kollegin Bärbel Höhn das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Im letzten Herbst hat sich die Kanzlerin vor der Generalversammlung der UN in New York zum Klimawandel
geäußert und dabei gesagt, dieser sei die „zentrale
Herausforderung für die Menschheit“. Sie hat warnend
hinzugefügt:
Nicht zu handeln, das würde immense Kosten und
weltweit neue Konflikte verursachen.
Recht hat sie. Aber wenn man so redet, muss man auch
konkret handeln.
Was ist aber das, was Sie hier hauptsächlich tun? Sie
streiten sich über die Kfz-Steuer. Sie bekommen noch
nicht einmal eine popelige Veränderung bei der KfzSteuer hin.
({0})
Das passt nicht mit dem zusammen, was die Bundeskanzlerin in New York gesagt hat. Wir sehen hier einen
tiefen Abgrund zwischen Taten und Worten.
({1})
Nun kann man sich ja über die Gestaltung der KfzSteuer streiten. So etwas ist durchaus auch ab und zu in
einer Koalition üblich. Aber die Frage ist doch nicht allein, ob Sie eine Neuregelung bei der Kfz-Steuer hinbekommen, sondern es geht heute um die viel grundsätzlichere Frage, ob Sie in der Koalition überhaupt noch
etwas hinbekommen, was dem Klimaschutz dient. Das
ist doch Ihr Problem.
({2})
Schauen wir uns einmal die drei entscheidenden Bereiche an:
Erstens Wärme: Was bleibt im Gebäudebereich an
Maßnahmen zur Minderung des CO2-Ausstoßes übrig,
wenn die erneuerbare Wärmeenergie in Altbauten gestrichen wird und nur noch bei Neubauten zum Einsatz
kommen soll, wie Sie es jetzt verkündet haben? Sie wissen, wie wenig Neubauten wir im Verhältnis zu den Altbauten haben. Was bleibt übrig, wenn die Vorgaben zu
Energiestandards für Ein- und Zweifamilienhäuser gestrichen werden? Was bleibt übrig, wenn das verbesserte
Mietrecht - Herr Kelber, weil Sie von sozialen Problemen gesprochen haben; die Mieter müssen auch Rechte
bekommen, das durchzusetzen - gestrichen wird?
({3})
Ich habe gestern die Staatssekretärin gefragt, wie das,
was Sie streichen, kompensiert werden soll und wie
hoch die Streichungen bezüglich CO2-Minderung zu bewerten sind - keine Antwort.
Was haben Sie denn zweitens im Verkehrsbereich gemacht? Das Thema Beimischung ist gefloppt. Das
Thema Kfz-Steuer wurde eben schon angesprochen. Die
Sache mit den effizienteren Autos funktioniert nicht.
Das Tempolimit bekommen Sie nicht hin. Ich habe die
Staatssekretärin gestern gebeten: Nennen Sie mir nur
eine Maßnahme, die Sie umgesetzt haben, um CO2 im
Verkehrsbereich zu reduzieren! Keine Antwort, Achselzucken. Nichts haben Sie im Verkehrsbereich hinbekommen und fast gar nichts im Wärmebereich. So funktioniert das nicht.
Schauen wir uns drittens einmal den Strombereich an.
Der Minister sagt ja immer, alle Ausfälle sollen durch
den Strombereich kompensiert werden. Sie sind gerade
dabei, die Photovoltaik im Strombereich kaputtzumachen, meine Damen und Herren von der CDU/CSU. Es
gibt genug CDU-Parteifreunde in Ostdeutschland, die
Sie dafür kritisieren, weil Sie damit gerade die Arbeitsplätze in den neuen Ländern aufs Spiel setzen. Lassen
Sie die Hände davon, und machen Sie die Fotovoltaik
nicht kaputt!
({4})
Die Resultate sieht man. Tatsächlich ist es so, dass in
der Bundesrepublik Deutschland in 2006 mehr CO2 ausgestoßen wurde als im Jahr zuvor. Sie haben nicht ein
Weniger, sondern ein Mehr an CO2 bewirkt.
Diese Aufzählung - Wärmebereich, Verkehrsbereich
und Strombereich - ist eine Liste des Versagens der
schwarz-roten Bundesregierung.
({5})
Wenn man sich das Klimapaket einmal genau anschaut, stellt man fest, dass es wie ein Schweizer Käse
ist. Der Schweizer Käse ist dagegen allerdings ganz gut;
er hat nämlich mehr Käse als Löcher. Ihr Klimapaket hat
mehr Löcher, und der Rest ist dann auch noch Käse. Das
ist das Problem.
({6})
Den Grund dafür hat Herr Ramsauer beschrieben. Er
hat nämlich gesagt: Das ist nicht mehr Frost in der
Koalition, sondern das Klima ist schon klirrend. - Man
könnte sagen: Weil Sie gemeinsam keine Maßnahme gegen die Klimaerwärmung mehr hinbekommen, haben
Sie sich auf die Eiszeit am Kabinettstisch geeinigt. Das
ist aber keine gute Klimapolitik.
({7})
Handeln ist dringend geboten. Eben hat Herr Kelber
zu Recht darauf hingewiesen, dass der Ölpreis steigt.
Was sollen wir den Menschen bieten? Was sind Ihre
Konzepte? Frau Lips, da muss ich ganz ehrlich sagen:
Sie treten hier auf, als ob Maßnahmen für den Klimaschutz letzten Endes immer eine Belastung sind. Ich
sage Ihnen: Bei dem steigenden Ölpreis und dem steigenden Energiepreis sind Effizienzmaßnahmen, Maßnahmen für erneuerbare Energien eine Befreiung vom Öl
und deshalb keine Belastung, sondern etwas Gutes. Wir
müssen durchsetzen, dass das funktioniert.
({8})
Schauen Sie sich doch einmal an, wie der Ölpreis explodiert. Haben Sie nicht im Kopf, dass am Anfang des
Jahres 1 Barrel noch 100 Dollar gekostet hat und jetzt
bereits bei 135 Dollar liegt? Die Schere geht hier weiter
auseinander. Wir müssen das Öl verlassen, ehe es uns
verlässt. Sonst werden viele Leute es sich nicht mehr
leisten können.
Deshalb ist eine Politik auf EU-Ebene, den Bau effizienterer Autos zu blockieren, wie die CDU es getan hat,
eine Politik gegen die Menschen in Deutschland. Denn
die Menschen in Deutschland haben ein Interesse an effizienten Autos. Deshalb hätten Sie diese Blockade auf
EU-Ebene nicht machen dürfen.
Ich erwarte klare Worte von der Kanzlerin zum Klimaschutz. Sie soll nicht „basta“ sagen; wir wissen ja,
dass das nicht immer gut funktioniert. Aber sie kann
klare Worte zum Klimaschutz abstrakt sagen. Sie sagt
klare Worte zu einzelnen Projekten. Zum Beispiel sagt
sie Nein zum Tempolimit und Ja zu Kohlekraftwerken.
Sie sagt Nein zu effizienteren Autos auf EU-Ebene. Ich
meine, sie sollte nicht nur Nein sagen zu Projekten, die
gegen den Klimaschutz sind, sondern sie sollte auch Ja
sagen zu Projekten, die für den Klimaschutz sind. Das
wäre eine gute Sache.
({9})
Meine Damen und Herren, ich komme zum Ende.
Kanzlerin Merkel hat - ich zitiere sie noch einmal - in
Bezug auf den Klimawandel gesagt:
… wir können dem nicht tatenlos zusehen, zumal
wir … wissen, welche … Kosten sich aus dem
Nichthandeln ergeben. Deshalb ist es Zeit, zu handeln, und deshalb muss gehandelt werden.
Deshalb sage ich: Handeln Sie endlich! Ihr Klimaschutzpaket kommt mir vor wie ein Eisberg bei der Klimaerwärmung. Jedes Mal, wenn man hinsieht, hat er
mehr Löcher. Das ist nicht gut. Ändern Sie Ihre Politik,
handeln Sie, tun Sie etwas für den Klimaschutz!
Danke.
({10})
Für die Bundesregierung spricht nun der Parlamentarische Staatssekretär Michael Müller.
Meine Damen und Herren! Es gibt bestimmte Themen, bei denen die üblichen Formeln, die in der Politik
eingerissen sind, nicht passen.
({0})
Die ständige Steigerung der rhetorischen Dosis des Populismus ist da nicht angebracht.
({1})
- Das gilt auch für Sie, Frau Künast. Man könnte auch
über die Geschichte der Grünen, was den Klimaschutz
angeht, sprechen.
({2})
Aber ich glaube nicht, dass uns das wirklich weiterbringt. Jürgen Trittin - und niemand anderes - hat beispielsweise in der letzten Legislaturperiode das Minus25-Prozent-Ziel aufgegeben.
({3})
Wir dürfen auch nicht die Anpassung an aktuelle
Zwänge im Auge behalten. Denn wir haben es hier mit
einem Thema zu tun, bei dem die traditionellen Formen
unserer politischen Auseinandersetzung an Grenzen stoßen. Wir brauchen eine andere Form von Verantwortung,
Gestaltungsfähigkeit und vor allem eine andere Form
von Gerechtigkeitsverständnis, weil wir es mit zwei
Punkten zu tun haben, die in unseren politischen Entscheidungen bisher keine zentrale Rolle mehr spielen.
Erster Punkt. Der Klimawandel ist sozusagen ein tagtäglicher Angriff auf die Zukunft. Die Auswirkungen
dieses Angriffs werden wir erst später spüren. Das heißt,
nirgendwo sonst ist das Thema Vorsorge so weitreichend
gefasst wie an dieser Stelle.
Zweiter Punkt. Im Gegensatz zu anderen Themen haben wir es mit Endlichkeit und Grenzen zu tun. Unser alter Ansatz, alles über mehr Wachstum nach dem Motto
„schneller und mehr“ zu lösen, funktioniert nicht. Wir
haben es mit einer anderen Form der Herausforderung zu
tun. Ich habe oft den Eindruck - Entschuldigung, wenn
ich das sage -, dass unsere politische Auseinandersetzung in einem eklatanten Widerspruch zu dieser Herausforderung steht. Um es auf den Punkt zu bringen: Das ist
verantwortungslos.
Ich will es an einem Beispiel klarmachen: In den letzten 650 000 Jahren lag der höchste Wert der Kohlendioxidkonzentration in der Atmosphäre bei etwa
300 Teilen CO2 auf 1 Million Luftteile. Jetzt beträgt dieser Wert 384. Das bedeutet, eine Erwärmung um etwa
1,5 Grad ist nicht mehr zu verhindern. Derzeit steigt die
Konzentration um 2 ppm pro Jahr. Vor zehn Jahren betrug diese Steigerung noch 1,2 ppm. Wenn die Entwicklung ohne eine zusätzliche Steigerung, was eher unwahrscheinlich ist, so weitergeht, dann liegen wir in
30 Jahren bei einem Wert von 450 ppm. Das entspricht
einer Erwärmung um 2 Grad. Ist uns eigentlich klar, was
das für eine Herausforderung ist?
Ich möchte das an einem Beispiel verdeutlichen. In
Afrika sind etwa 250 Millionen Menschen schwer oder
dauerhaft unterernährt. Eine Erwärmung der Atmosphäre um 2 Grad bedeutet für Afrika eine Halbierung
der Ernteerträge. Was ist das für eine Herausforderung
für die Menschheit! Ich frage mich, wie man angesichts
dieser Herausforderung so kleinkariert debattieren kann.
Ich habe da ein anderes Verständnis von Politik.
({4})
Im Deutschen Bundestag gibt es zwischen allen Parteien den Grundkonsens, das Thema Klimaschutz voranzutreiben. Es ist gar keine Frage, dass es Unterschiede in
der Radikalität unserer Forderungen gibt. Es gab übrigens auch einmal einen Grundkonsens in der Atomfrage.
Ich erinnere mich, dass wir im Deutschen Bundestag einen Beschluss gefasst hatten, in dem die Feststellung
enthalten war, dass die Atomkraft unsere Probleme nicht
lösen wird. Auch das gehört zur historischen Wahrheit.
({5})
Das hat sich nun alles verschoben.
Im Jahr 2007 haben wir eine Reduktion der Treibhausgase gegenüber dem Jahr 1990 um 20,4 Prozent erreicht. Nach dem Kioto-Vertrag müssen wir bis zum
Jahre 2012 21 Prozent erreichen. Ich will durchaus zugeben, dass es mehr sein könnte. Aber das Ergebnis von
20,4 Prozent liegt weit über dem Ergebnis fast aller anderen Länder. Auch das muss man feststellen. Man darf
also nicht so tun, als hätten wir nichts erreicht.
Jetzt müssen wir allerdings das Tempo erhöhen - das
sehe ich genauso -, wenn wir das Minus-40-Prozent-Ziel
erreichen wollen. Dieses Ziel bedeutet in der Konsequenz: Wir müssen bis zum Jahre 2020 den Stromverbrauch um etwa 11 Prozent reduzieren; das ist machbar.
Wir müssen den Anteil der Kraft-Wärme-Kopplung von
heute etwa 11 Prozent auf 25 Prozent erhöhen. Wir müssen im Stromsektor den Anteil der regenerativen Energien auf 30 Prozent erhöhen. Das sind ehrgeizige, aber
machbare Ziele. Lassen Sie uns deshalb über diese drei
Hauptpunkte reden. Es lohnt sich in der Tat, darüber zu
streiten, ob wir da den richtigen Weg gehen.
({6})
Unser Maßstab muss ein Minus von 40 Prozent bei
den CO2-Emissionen sein. Das Integrierte Klima- und
Energieprogramm trägt einen Teil zu diesen minus
40 Prozent bei, aber eben nicht allein. Dazu gehört erstens der Emissionshandel. Zweitens müssen wir in Bezug auf den geplanten Zeitraum sagen: Natürlich müssen
wir in Zukunft - Klimaschutz hört mit dem IKEP nicht
auf - weitere Maßnahmen hinzufügen. Aber der Maßstab sind minus 40 Prozent. Dies zu erreichen, wäre für
die Welt ein positives Beispiel dafür, dass man den ökologischen Umbau erfolgreich gestalten kann. Deshalb
lassen Sie uns konstruktiv darüber reden, wie wir ihn
hinbekommen, anstatt uns über taktische Auseinandersetzungen zu zerstreiten.
({7})
Ich finde - um auch das zu sagen - manches in der
augenblicklichen Diskussion nicht gut. Denn ich befürchte, durch zwei Zuspitzungen stehen die eigentlichen Bewährungsproben beim Klimaschutz noch bevor:
Das ist erstens das gesamte Rohstoffthema. Es ist alarmierend, was da abläuft. Wir hatten im Jahre 2000 pro
Barrel Rohöl einen Preis von 18 US-Dollar und heute einen Preis von 137 US-Dollar. Die Auseinandersetzung
geht aber noch viel tiefer - dies ist gewissermaßen die
zweite Zuspitzung -: Was wir im Augenblick erleben,
ist, dass die Spekulationen, die in den letzten Jahren im
Immobiliensektor stattgefunden haben, auf Nahrungsmittel, Energie und Rohstoffe übergehen. Das ist eine
gefährliche Entwicklung.
Darauf gibt es zwei Reaktionsweisen: Reaktionsweise
eins ist, defensiv zu sein und zu sehen, wie man diese
nächste Phase übersteht, indem man durch alle möglichen kurzfristigen Maßnahmen Ausgleich schafft, was
ich für eine Illusion halte. Die Reaktionsweise zwei ist,
dass wir das Tempo der ökologischen Modernisierung
umso mehr vorantreiben. Ich plädiere sehr für das
Zweite. Es gibt dazu keine Alternative.
Allerdings ist das Bewusstsein in der Gesellschaft
bisher noch nicht so weit. Eher herrscht im Augenblick
massive Angst. Überall fragen uns die Leute: Was soll
ich machen, entweder vernünftig wohnen oder das Auto
behalten? Wir müssen jetzt eine offensive Strategie in
Richtung Effizienz entwickeln, und zwar so, dass wir
alle Menschen und nicht nur einen Teil der Gesellschaft
mitnehmen.
({8})
Das wird die erste Herausforderung sein.
Die zweite Herausforderung ist - auch darüber sollte
man sich im Klaren sein -: Wir, der Norden, sind nicht
mehr allein diejenigen, die die Welt bestimmen. In China
liegen die Emissionen pro Kopf bei 3,66 Tonnen, in
Amerika bei 19,74 Tonnen. In Amerika liegen sie um
das Fünffache höher. Trotz dieses gewaltigen Unterschiedes wird China in wenigen Jahren der größte Emittent der Welt sein.
({9})
Wir haben ein neues Gerechtigkeitsproblem und ein
Zukunftsproblem, wie wir dies in dieser Form noch nie
hatten. Insofern heißt Klimaschutz nicht - darüber muss
sich jeder im Klaren sein -, dass ich einfach an ein paar
Schrauben drehe. Dies ist eine Auseinandersetzung mit
drei Fragen, die völlig neu sind: mit der Endlichkeit, mit
der Begrenzung in der Belastung der Natur und mit der
nachholenden Industrialisierung, aus der eine nachholende Naturzerstörung wird. Dies verlangt von uns ein
ganz anderes Bewusstsein.
In dieser Frage sollen wir uns zerstreiten. Ich würde
für etwas anderes plädieren: dass wir bei allen Unterschieden versuchen, an einer so großen Aufgabe in der
Form gemeinsam zu arbeiten, dass sie gelingt. Dann
würden wir einen Beitrag zum Frieden, zur Gerechtigkeit und zur Freiheit in der Welt leisten. Das wäre das
Beste.
({10})
Nun spricht für die Bundesregierung die Parlamentarische Staatssekretärin Dagmar Wöhrl.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Lieber Kollege Müller, mit dem IEKP haben wir
gemeinsame Lösungen gefunden. Ich glaube schon, sagen zu können: Dies ist das ehrgeizigste Energie- und
Klimaprogramm, das je eine Bundesregierung auf den
Weg gebracht hat. Intensive Beratungen sind vorangegangen, um das klimapolitisch Notwendige so zu gestalten, dass es auch energiepolitisch sinnvoll ist.
Schauen Sie sich an, vor welchen Herausforderungen
wir klimaschutzpolitisch bei steigenden Weltenergiemarktpreisen, steigenden Ölpreisen, steigenden Gaspreisen stehen. Wir wissen, dass wir uns diesen Herausforderungen stellen müssen. Wir wissen, dass die Energie
zukünftig noch weit effizienter eingesetzt werden muss,
als dies bis jetzt geschehen ist. Wir wissen, dass wir eine
breite Palette von Energieträgern nutzen müssen. Wir
wissen, dass wir das Energiesparen fördern müssen. Wir
wissen natürlich auch um die Notwendigkeit des Ausbaus der erneuerbaren Energien, lieber Kollege Göppel.
Wir wissen aber auch, dass es wichtig für uns ist, die
Energieversorgung wirtschaftlich sinnvoll zu gestalten
und sie zukunftssicher zu machen. Das heißt unserer Ansicht nach: Effizienter Klimaschutz ist bezahlbarer Klimaschutz, und er muss mit einer wirtschaftlichen Entwicklung einhergehen. Nur so können wir dafür sorgen,
dass Unternehmen, die Arbeitsplätze schaffen, weiterhin
wettbewerbsfähig produzieren können. Nur so werden
wir erreichen, dass die Energiepreise auch in Zukunft für
unsere Verbraucher bezahlbar sind.
({0})
Wir müssen auf das Kosten-Nutzen-Verhältnis achten
und den richtigen Weg einschlagen. Die Verbraucher, die
Unternehmer, die Autofahrer und die Mieter erwarten
von uns zu Recht, dass wir die Kosten, die mit dem Ziel
der CO2-Verminderung verbunden sind, für sie so gering
wie möglich halten: Die Verpflichtung zur energetischen
Nachrüstung älterer Gebäude - Herr Kelber, Sie haben
das vorhin angesprochen - ist für viele Menschen mit
niedrigem Einkommen - gleich, ob das Singles oder
Rentner sind - eine starke oder sogar unzumutbare Belastung. Dieser Aspekt muss in unsere Überlegungen
einfließen.
Deswegen ist es auch richtig, dass wir beim KraftWärme-Kopplungsgesetz hinsichtlich der Fördersumme
eine Obergrenze festgelegt haben. So werden die Verbraucher nicht durch noch höhere Stromkosten noch
stärker belastet. Deswegen ist es ferner richtig, dass wir
bei der Novelle des Erneuerbare-Energien-Gesetzes auf
eine stärkere Degression der Einspeisevergütung für
Strom aus Fotovoltaik gesetzt haben. Deswegen ist es
auch richtig, dass wir beim Erneuerbare-Energien-Wärmegesetz den Gebäudebestand nicht einbeziehen, Frau
Höhn, sondern auf Förderung, das heißt, auf Anreize und
nicht auf Zwang setzen. Wir wollen keinen Zwang in
diesem Bereich. Auch bei der Öffnung des Messwesens
beim Strom wollen wir keinen Zwang. Hier geht es um
die Verbreitung von intelligenten Zählern. Wir wollen,
dass die Verbraucher sich frei entscheiden können. Sie
sollen erkennen, dass ein intelligenter Zähler auch bei
ihnen zu Einsparungen führt, und sie sollen sich freiwillig für die Anschaffung eines solchen Zählers entscheiden.
Zum zweiten Teil des Klimapakets: Wir haben insgesamt sechs Vorhaben, zu denen die Gesetzes- und Verordnungstexte noch ausstehen. Wir wissen, dass sich die
Umsetzung ein wenig verzögern wird. Uns liegt daran,
dass die Ziele, die wir alle haben - Klimaschutz und
Ausbau der erneuerbaren Energien -, effizient und wirtschaftlich erreicht werden. Wir wollen keine Gängelung
und keine unnötige Kostensteigerung in diesem Bereich.
Insofern geht es auch beim zweiten Teil des Klimapakets
nicht um das Ob des Klimaschutzes - diesbezüglich besteht, glaube ich, Konsens im ganzen Haus -, sondern es
geht um das Wie.
In den Ressortgesprächen zum zweiten Teil des Klimapakets wurden viele inhaltliche Punkte bereits geklärt; einige Punkte sind noch offen. Das ist ein zukunftsweisendes Vorhaben, mit dem neue Wege
beschritten werden. Manchmal ist es nicht ganz einfach,
neue Wege zu beschreiten. Manchmal dauert das ein bisschen länger. Wichtig ist, dass wir am Schluss zufriedenstellende Lösungen haben. Ich bin mir ganz sicher,
dass wir unser Ziel erreichen werden.
Liebe Frau Kollegin Höhn, Sie haben die Kfz-Steuer
als popeliges Thema bezeichnet.
({1})
Ich weiß nicht recht. Ich finde, das ist kein popeliges
Thema. Wir alle haben ein Interesse daran, emissionsärmere Neuwagen zu fördern. Das ist überhaupt kein
Thema. Wir müssen uns aber der Tatsache stellen, dass
viele Menschen ältere Autos fahren, die einen schadstoffreicheren Ausstoß haben. Wir müssen auch an diese
Menschen denken. Der Vorschlag, der uns bisher vorlag,
hätte zu einer starken Belastung dieser Menschen, die
zum Teil sozial schwächer sind und sich vielleicht kein
neueres, emissionsärmeres Auto leisten können, geführt.
Damit müssen wir uns auseinandersetzen. Wir wollen
das Ziel erreichen. Der Finanzminister ist aufgefordert,
in diesem Bereich einen neuen Vorschlag auf den Tisch
zu legen.
Auch mit dem Umweltministerium besteht sicherlich
noch Diskussionsbedarf, insbesondere wenn es um die
Verkabelung der dena-I-Trassen geht. Hinsichtlich des
Netzausbaus sind wir uns einig. Gut, wir haben Diskussionen darüber, ob wir auch Erdkabel oder HGÜ-Technik einsetzen sollen. Aber wir werden auch hier eine Lösung finden.
Wir müssen jedoch beachten, dass der Umweltminister im Gesetz festschreiben will, dass die Mehrkosten
der HGÜ-Technik auf die Netzentgelte aufgeschlagen
werden, also umlagefähig sind. Das heißt, dass der Verbraucher zukünftig die Rechnung dafür zahlt. Wir wissen: Die HGÜ-Technik ist teuer. Sie ist noch nicht so erprobt, wie wir es uns vorstellen. Deswegen dürfen wir
die Wirtschaftlichkeitsprinzipien hier nicht aus den Augen lassen. Wir müssen immer eine Abwägung vornehmen. Da sind wir als Gesetzgeber gefordert, auch angesichts der hohen Strompreise, die wir schon jetzt haben.
Das erwarten unsere Bürgerinnen und Bürger. Mehrbelastungen haben sie schon genug - das wissen wir; darüber brauchen wir nicht zu reden -, etwa durch die
Kraft-Wärme-Kopplung, die erneuerbaren Energien und
natürlich die Energiepreise an sich. Deswegen müssen
wir darauf achten, dass wir durch unsere Gesetzesvorhaben nicht dazu beitragen, die Strompreise unnötig nach
oben zu treiben. Es macht keinen Sinn, einerseits Sozialtarife zu fordern und andererseits durch unsere Gesetze
die Kosten weiter nach oben zu treiben.
({2})
Wichtig für uns ist, immer wieder zu evaluieren: Sind
unsere Klimaschutzziele, die wir erreichen wollen - ich
bin davon überzeugt, dass wir sie erreichen werden -, erreichbar? Eine Evaluation wird immer notwendig sein,
und zwar nicht nur bei unserer Regierung. Viele nachfolgende Regierungen werden immer wieder evaluieren
müssen, ob diese Ziele erreichbar sind. Das Motto wird
lauten: Ständig überprüfen.
Wir wissen, dass es natürlich auch einfachere und
preisgünstigere Lösungen geben würde. Es würde auch
klimafreundlichere Lösungen geben. Ich hätte es nicht
angesprochen, wenn der Kollege es nicht schon angesprochen hätte: die Verlängerung der Laufzeit der Kernkraftwerke. Wir haben hier eine Vereinbarung. Das ist
kein Thema; ich muss es trotzdem ansprechen. Wir sind
hier leider in einer energiepolitischen Sackgasse gefangen. Ich hoffe, dass irgendwann einmal die Vernunft in
den Vordergrund tritt und wir versuchen, möglichst
schnell aus dieser energiepolitischen Sackgasse zu kommen, damit wir auch in der Zukunft eine verlässliche, bezahlbare und klimafreundliche Stromversorgung haben.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Nächster Redner ist für die SPD-Fraktion der Kollege
Reinhard Schultz.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wer das Paket von Meseberg beschlossen hat, dem
musste von vornherein klar sein, dass es keine einfache
Baustelle wird. Es enthält sehr anspruchsvolle Klimaschutzziele und eine Vielzahl von Ansätzen, diese Ziele
umzusetzen. Jetzt geht es sozusagen an die operationale
Arbeit. Wie schaffen wir es, die Ziele zu erreichen und
gleichzeitig die Menschen nicht zu überfordern? Das ist
in einem Satz zusammengefasst der Konflikt, um den es
im Augenblick geht.
Ich glaube, es ehrt uns alle, wenn wir darum ringen,
die Frage der Belastbarkeit der Menschen heute und
gleichzeitig das Erreichen unserer Ziele für die Zukunft
so sorgfältig wie möglich abzuwägen und nicht mit
leichter Hand zu behandeln. Ob wir nun eine oder zwei
Wochen früher oder später mit dem zweiten IEKP über
die Rampe kommen, wird für den weiteren Verlauf der
Weltgeschichte unerheblich sein. Hauptsache wir kommen damit über die Rampe. Ich bin davon überzeugt,
dass man zum Beispiel heute bei den Verhandlungen
über die Weiterentwicklung des EEG zu Ergebnissen
kommen wird. Dass das nicht einfach ist, dass da hart
gerungen wird und dass oft sehr unterschiedliche Vorstellungen dabei eine Rolle spielen, ist doch völlig klar.
Trotzdem wird man zu einem Ergebnis kommen.
Zum Beispiel die Degression bei der Fotovoltaik: Die
einen sagen, dass es möglicherweise einen Fadenriss für
die ganze Branche gibt, wenn man den Degressionspfad
zu steil macht. Andere, sogar Vorstandsprecher von Herstellern von Fotozellen, Q-CELLS zum Beispiel, sagen:
Wir brauchen den Druck der Degression, damit wir eine
effizientere Produktion bekommen.
({0})
Beide Gesichtspunkte sind wichtig. Die Kunst wird
letztlich darin bestehen, sie zusammenzuführen.
Verehrte Kollegin Wöhrl, ich glaube allerdings, auch
der ständige Hinweis - ceterum censeo -, dass die Laufzeiten für Atomkraftwerke verlängert werden müssen,
hilft nicht weiter. Das würde erst recht zu einem Investitionsfatalismus führen; denn dann müsste man gar nichts
tun.
({1})
Wenn man die Laufzeiten verlängert, braucht man weder
zu sparen noch neue Kohlekraftwerke zu bauen. Dann
müsste man gar nichts tun. Man hätte lediglich die Verlängerung des goldenen Endes längst abgeschriebener
Anlagen erreicht, ohne dass sich dadurch aber die Preise
ändern würden.
Wie werden die Preise gebildet? Das Kraftwerk, das
als Letztes in Betrieb genommen wurde, ist immer das
teuerste. Es bestimmt für alle, die eher in Betrieb gingen,
den Preis an der Börse mit. Das hätte zur Folge, dass für
die kostengünstige alte Kernkraft dieselben hohen Preise
verlangt werden könnten wie für die aus einem Grenzkraftwerk. Damit wird man möglicherweise einen Beitrag zur guten Börsenperformance der Energieversorgungsunternehmen leisten, aber nicht zur Preissicherheit
und zur Investitionssicherheit - im Gegenteil.
({2})
Insofern gibt es gute ökonomische Gründe, die dafür
sprechen, von diesem Gedanken Abstand zu nehmen.
Zum Thema Kfz-Steuer. Frau Höhn, hier wird deutlich, dass wir uns manchmal in einer Zwickmühle befinden, aus der wir durch intelligente Lösungen herauskommen müssen. Es gibt mehrere Vorgaben: Im Rahmen der
Reinhard Schultz ({3})
Kfz-Besteuerung wollen wir CO2-ärmeren Fahrzeugen
einen Bonus gewähren. Gleichzeitig wollen wir aber
nicht, dass die vielen Pendler, die auf ihr Auto angewiesen sind und sich kein neues leisten können, neben den
derzeit sehr hohen Spritpreisen noch zusätzlich belastet
werden. Außerdem haben wir die Vereinbarung getroffen - hier schließt sich der circulus vitiosus -, dass das
Ganze aufwendungsneutral bzw. kostenneutral sein soll.
Das geht natürlich nicht. Man kann ein Steuersystem
nicht umstellen, indem man die einen fördert und die anderen ausnimmt, nur damit es kostenneutral ist. Ich sage
für die SPD ausdrücklich: In den weiteren Beratungen
müssen wir das Dogma der Aufkommensneutralität
zwingend aufgeben. Sonst werden wir dieses Problem
nicht lösen können. Ich rate auch der Bundesregierung
dringend, in diese Richtung zu denken.
({4})
Die Finanzpolitiker der SPD befürworten diesen Weg.
Wir haben gestern gemeinsam mit unseren mitberatenden Arbeitsgruppen beschlossen, den Weg dafür freizumachen. Dann wird es davon abhängen, ob die Länder
mitmachen.
({5})
Die Länder waren auch in anderen Fragen durchaus
beweglich. Es geht hierbei um ein großes Ziel. Außerdem handelt es sich lediglich um eine Übergangssituation. Denn selbst das jüngste Altfahrzeug wird irgendwann einmal den Weg alles Menschlichen gehen. Dann
werden wir in einer neuen Normalität ankommen. Ich
denke, für diese Übergangszeit muss man das in Kauf
nehmen.
Es gibt noch eine Reihe anderer Baustellen, und die
Probleme, die dort bestehen, sind nicht einfach zu lösen.
Natürlich ist der Netzausbau ein sehr wichtiger Aspekt,
wenn es darum geht, den Strommarkt zu öffnen, Offshore-Technologie anzubinden und auf internationaler
Ebene mehr Wettbewerb zu ermöglichen. Allerdings
werden gegen den Bau jeder neuen Trasse Bürgerinitiativen gegründet; das ist ähnlich wie beim Bau neuer Kraftwerke.
Ich kann alle Politiker, die kluge Ideen verbreiten und
schlaue Gesetze machen wollen, nur dazu auffordern,
dort, wo eine Hochspannungstrasse, ein KWK-Kraftwerk oder eine Biogasanlage gebaut werden soll, ihr
Kreuz durchzudrücken und dem Widerstand der verängstigten Bevölkerung entgegenzutreten. Wir müssen
den Menschen deutlich machen, dass es sich um ein Gesamtkonzept handelt. Wir können Klimaschutz nicht nur
in Oberammergau, in Greven oder in Hamburg betreiben, sondern wir müssen unsere Ziele insgesamt erreichen. An einigen Standorten werden zu diesem Zweck
moderne Kohlekraftwerke gebaut, an anderen Biogasanlagen. Was zählt, ist das Gesamtergebnis.
({6})
Um unsere Ziele zu erreichen, brauchen wir dringend
mehr politischen Mut.
Vielen Dank.
({7})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege
Franz Obermeier das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Diese Aktuelle Stunde hat, was die
Art der Diskussion betrifft, eine sehr positive Wende genommen. Teilweise wurde sie von den Oppositionspolitikern nämlich in einer solchen Unsachlichkeit geführt,
die den Problemen, vor denen wir stehen, in keiner
Weise angemessen ist.
({0})
Wer behauptet, dass der Bundeswirtschaftsminister die
erneuerbaren Energien kaputtmacht, verkennt die Situation. Wer behauptet, dass die Fotovoltaik in Deutschland
kaputtgemacht werden soll, hat irgendetwas falsch verstanden. Der Anteil der Fotovoltaik muss auf ein niedrigeres Maß zurückgeführt werden, sodass sie in Deutschland nicht zu einer volkswirtschaftlichen Belastung
ersten Ranges führt.
Herr Staatssekretär Müller, es ist wahr: Der Anstieg
der CO2-Emissionen, der zur Erhöhung der Treibhausgaskonzentration führt, beträgt 2 ppm per anno. Ich sage
bei dieser Betrachtung immer ganz gerne dazu, dass wir
als Bundesrepublik Deutschland an diesem Aufwuchs
mit einem Anteil von fünf Hundertstel beteiligt sind. Daran sieht man, dass Deutschland die Welt nicht retten
wird.
Unser Augenmerk muss über die nationalen Dinge hinaus auf die Entwicklungen in den Schwellenländern gelegt werden. Es wird in unserer Diskussion viel zu wenig
gewürdigt, dass in China wöchentlich zwei Kohlekraftwerke ans Netz gehen, deren Technologie und damit
Wirkungsgrade nicht vergleichbar sind mit denen, die
wir hier in Deutschland hätten.
({1})
Herr Staatssekretär, ich habe schon das Gefühl, dass
wir in diesem Hause nach wie vor einen Grundkonsens
hinsichtlich der Reduzierung der CO2-Emissionen auf
nationaler Ebene haben.
({2})
Bei allen Angriffen seitens der Opposition, die man aushalten muss: Ich halte es für einen guten demokratischen
Prozess, dass zwischen den einzelnen Häusern der Bundesregierung um den richtigen Weg hart gerungen und
manchmal sogar gestritten wird, um dorthin zu kommen,
wo wir hinwollen. Die Bundeskanzlerin hat sich dafür
ausgesprochen, die CO2-Emissionen auf nationaler und
europäischer Ebene entsprechend zu reduzieren.
Es ist selbstverständlich, dass unterschiedliche Häuser unterschiedliche Interessen vertreten. Wichtig ist,
was herauskommt. Für meine Begriffe kamen die Vorwürfe, die hier und heute in dieser Aktuellen Stunde der
Bundesregierung gemacht wurden, wesentlich zu früh.
Sie wissen ja noch gar nicht, was letzten Endes vereinbart wird. Sie wissen zum Beispiel überhaupt noch nicht,
was heute Nachmittag in Bezug auf das ErneuerbareEnergien-Gesetz und dessen Potenziale in der Regierungskoalition vereinbart wird. Wieso machen Sie uns
derart erhebliche Vorwürfe?
({3})
Das, was Sie hier vorgetragen haben, war völlig unangemessen. Damit sind Sie weit über das Ziel hinausgeschossen.
({4})
Bei der gesamten Debatte haben wir im Übrigen auch
noch ein paar andere Dinge zu berücksichtigen. Ich lege
allergrößten Wert darauf, dass wir den Klimaschutz in
Verbindung mit dem nationalen Wirtschaftswachstum
und der Entwicklung auf dem Arbeitsplatzsektor in der
Bundesrepublik Deutschland stellen. Das heißt, wir müssen uns beim Klimaschutz in der Bundesrepublik
Deutschland dringendst an den Kosten für die Reduzierung je Tonne CO2 orientieren. Es gibt noch ein paar andere Parameter, die wir berücksichtigen müssen. Ich
möchte aber nicht, dass die gute Entwicklung der zurückliegenden zweieinhalb Jahre in Bezug auf den Arbeitsplatzaufbau durch die Klimaschutzprogramme gehemmt wird, weil wir beim Abbau von CO2-Emissionen
nicht den preiswertesten Weg gewählt haben.
({5})
Das ist für mich eine zentrale Frage. Daran werden wir
auch arbeiten.
Es gibt noch eine ganze Reihe Dinge, die man hierzu
sagen könnte. Wichtig ist in dem Zusammenhang, dass
wir die Bevölkerung mitnehmen und auf das Rücksicht
nehmen, was unsere Bürgerinnen und Bürger beim tagtäglichen Gebrauch von Energie draußen bewegt. Deswegen bin ich guter Dinge, dass wir das IEKP - Teil II zu einem guten Ende bringen werden.
Herzlichen Dank.
({6})
Nächster Redner ist der Kollege Christian Carstensen
für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Obermeier, gleich zu Anfang: Ihre Sorgen in allen Ehren, aber wir müssen auch einmal die Erfahrung der letzten Jahre nachvollziehen, dass der Umweltschutz ein Arbeitsmarktprogramm ist und dass durch ihn in der
Zwischenzeit viele Arbeitsplätze geschaffen wurden. Insofern teile ich die Sorge eher nicht.
({0})
Auch als Verkehrspolitiker freue ich mich natürlich,
dass wir heute die Gelegenheit haben, über das sehr ambitionierte Programm der Bundesregierung zum Klimaschutz und zum Energiesparen zu sprechen.Dabei geht
es um das Ziel, bis 2020 zusätzlich zu den bereits erreichten 18 Prozent CO2-Emissionen weitere 22 Prozent
einzusparen.
Ich finde es bemerkenswert, wie hier diskutiert
wurde. Herr Hill hat jetzt schon für das Jahr 2020 Bilanz
gezogen
({1})
und festgestellt, dass wir nur 7 Prozent CO2-Emissionen
einsparen werden. Nach Auffassung der Grünen - das
habe ich heute Morgen in der Vorbereitung auf diese Debatte gelesen - ist mit 10 Prozent zu rechnen. Ich finde
es interessant, was für ein Wettlauf hier stattfindet.
Lassen Sie uns bei den anspruchsvollen und ambitionierten Zielen bleiben! Es geht darum, weniger Energie
zu verbrauchen und damit das Klima zu schonen, die
Wirtschaft zu stärken, nach Möglichkeit zusätzliche Anreize für Investitionen und Kaufentscheidungen zu bieten und dadurch Arbeitsplätze zu schaffen sowie die
Ausgaben für Bürgerinnen und Bürger zu begrenzen. An
diesem Programm gibt es aus meiner Sicht nichts, aber
auch wirklich gar nichts zu kritisieren.
Wahr ist allerdings, dass das Programm auch umgesetzt werden muss. Insofern gilt Bundesumweltminister
Sigmar Gabriel unsere volle Unterstützung. Ich hoffe,
dass er diese Unterstützung vom gesamten Haus, aber
auch von der gesamten Bundesregierung erhält.
({2})
- Vielen Dank. - Ebenso gehe ich davon aus, dass auch
dem Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, Wolfgang Tiefensee, unsere Unterstützung gilt;
({3})
denn in den Bereichen Gebäude und Verkehr liegen
große Potenziale, die wir nutzen müssen, wissen wir
doch, dass rund 20 Prozent des gesamten CO2-Ausstoßes
in Deutschland an Gebäuden verursacht werden. Im Verkehr müssen wir den Ausgleich zwischen einem immer
größeren Bedürfnis nach Mobilität und der Notwendigkeit der Energieeinsparung schaffen.
Deswegen möchte ich kurz die wichtigsten klimarelevanten Maßnahmen in diesem Bereich aufführen. Im
Gebäudebereich ist erstens das bereits erwähnte CO2Gebäudesanierungsprogramm zu nennen, das eine ausgesprochene Erfolgsgeschichte ist. Durch die geförderten Maßnahmen können wir den CO2-Ausstoß jährlich
um rund 1 Million Tonnen reduzieren. Es ist richtig, dieses Programm zu verstetigen und durch den Investitionspakt zur Sanierung der sozialen Infrastruktur - also von
Schulen, Kindertagesstätten und Jugendeinrichtungen Christian Carstensen
zu ergänzen. Dazu sollen insgesamt weitere 600 Millionen Euro bereitgestellt werden. Dieser Punkt wird in
dem von den Grünen selbst in Auftrag gegebenen Kurzgutachten nicht erwähnt, und zwar zu Unrecht, wie ich
finde, weil das eine wichtige Weiterung darstellt.
Zweitens ist die Energieeinsparverordnung zu nennen. Hierbei soll der maximale Energiebedarf bei Neubauten gegenüber der geltenden Regelung kurzfristig um
30 Prozent und mittelfristig sogar um 50 Prozent gesenkt
werden. Die Anforderungen an die energetische Qualität
bei Haussanierungen wollen wir um rund 30 Prozent anheben.
Das Erneuerbare-Energien-Wärmegesetz ist hinreichend angesprochen worden. Die Novellierung der
Heizkostenverordnung, das sogenannte Contracting bei
Mietwohnungen und das Programm zur energetischen
Sanierung von Bundesbauten sind weitere Bestandteile,
um die anspruchsvollen Klimaschutzziele ebenso wie
die Ziele für den Ausbau der erneuerbaren Energien und
die Steigerung der Energieeffizienz zu erreichen.
Das gilt auch für den Verkehrsbereich. Nicht umsonst
steht das derzeit stattfindende Weltverkehrsforum in
Leipzig unter dem Motto „Transport und Energie - die
Herausforderung des Klimawandels“.
Wir sind uns dieser Herausforderung bewusst. Deswegen stellen wir innerhalb der nächsten zehn Jahre zusammen mit der Industrie 1 Milliarde Euro für die Entwicklung und Anwendung der Wasserstoff- und
Brennstoffzellentechnologie bereit. Wir wollen die LkwMaut entsprechend umgestalten, um die Lenkungswirkung zu erhöhen. Darüber hinaus wollen wir auch bei
den Pkws durch eine neue Kennzeichnung für Anreize
sorgen. Das müssen wir demnächst auf den Weg bringen.
Genauso wichtig ist aus meiner Sicht die Umstellung
der Kfz-Steuer. Wenn wir uns alle einig sind, dann gelingt es uns vielleicht, auch Herrn Glos und die CSU davon zu überzeugen. Dabei hilft es allerdings wenig,
wenn die Grünen zwar kritisieren, dass dieses Vorhaben
nichts bringen würde, aber darüber, dass es verschoben
wird, die gleichen Krokodilstränen vergießen.
({4})
Wir können insofern im Bereich Verkehr eine ganze
Menge zur Verringerung der CO2-Emissionen beitragen.
Wir werden dieses Thema morgen noch einmal ausführlich diskutieren. Dann werde ich zum Beispiel auch zum
Bereich Luftverkehr, zu den emissionsabhängigen Landeentgelten und zur Einbeziehung in den Emissionshandel etwas sagen. Sie sehen: Das Ziel, das mit diesem
Programm ins Auge gefasst wurde, verlieren wir eben
nicht aus den Augen. Wir arbeiten daran. Sie alle sind
herzlich eingeladen, daran konstruktiv mitzuarbeiten.
Vielen Dank.
({5})
Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege
Volkmar Vogel für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Als Baupolitiker darf ich die Debatte der letzten Stunde
zusammenfassen. Ich kann es auf den Punkt bringen
- ich denke, darin sind wir uns einig -: Im Klimabereich
hängt alles mit allem zusammen. Es gibt nicht den allein
selig machenden Königsweg, um die Probleme, vor denen wir jetzt und in den nächsten Jahren stehen, zu lösen.
Klimaschutz ist ein hochkomplexes Thema. Nur
wenn es uns gelingt, die Instrumente sinnvoll miteinander zu verzahnen, dann sind auch Synergien und tatsächliche Effizienzverbesserungen möglich. Daher ist es
wichtig, dass wir all die Instrumente, über die wir derzeit
beraten, ob es das Erneuerbare-Energien-Wärmegesetz
ist, ob es die EnEV ist, an der wir zwar nicht direkt beteiligt sind, die aber auch eine maßgebliche Rolle spielt,
ob es das EEG oder die Kraft-Wärme-Kopplung ist, im
Zusammenhang betrachten. Schnellschüsse und Aktionismus, wie das auch heute in der Debatte wieder anklang, schaden dabei nur, ganz besonders dann, wenn es
um eine so komplexe und sehr komplizierte Materie
geht.
({0})
Daher - deswegen können wir die Kritik der Grünen
nicht teilen - ist es Ausdruck seriöser Politik, wenn wir
hier nichts übers Knie brechen. Es ist allemal besser,
sich ein paar Tage Zeit mehr zu nehmen, um über alle
notwendigen, möglichen und mitunter weitreichenden
Konsequenzen zu diskutieren. Wir halten an den ehrgeizigen Zielen von Meseberg fest; das ist überhaupt keine
Frage. Dabei muss man bedenken: Wir als ein hochentwickeltes Industrieland tragen für unsere Welt eine besondere Verantwortung, eine Verantwortung auch und
gerade gegenüber denjenigen, die in Armut leben und
die den Klimawandel viel direkter und brutaler spüren
als wir hier in Mitteleuropa.
({1})
Dieser Verantwortung dürfen wir uns nicht verschließen. Gleichzeitig - das ist die andere Seite der Medaille sind Klimaschutzmaßnahmen auch eine Chance, eine
Chance, die meiner Meinung nach in der Diskussion der
letzten Stunde zu wenig Beachtung gefunden hat. Sie
sind eine Chance für Innovation, Forschung und neue
Entwicklungen. Sie bieten Möglichkeiten für Wirtschaftswachstum, für Arbeitsplätze und auch für Standortvorteile in unserem Land. Gerade Deutschland ist hier
gut aufgestellt. Wir können die Herausforderungen der
Zukunft für die Möglichkeiten nutzen, die bei uns bestehen. So sind wir bei vielen umweltrelevanten Technologien Weltmarktführer bzw. in der Spitzengruppe.
In der politischen Diskussion dürfen wir daher nicht
den Fehler machen, uns in endlosen, kleinteiligen
Debatten um Kennziffern und Einzelmaßnahmen zu verfangen und zu verstricken.
({2})
Wir in unserer politischen Verantwortung müssen vor allem die Ziele formulieren und dann den Akteuren am
Markt die Spielräume zur Umsetzung geben. Für die
Union steht fest, dass technische und technologische
Grundprinzipien der Physik Vorrang vor ideologisch geprägten Wünschen und Utopien haben müssen.
({3})
Ein verantwortungsbewusster und nachhaltiger Umgang mit Energie, zum Beispiel im Gebäudebereich,
aber auch im Verkehrsbereich, heißt für uns an erster
Stelle Verbesserung der Effizienz beim Umgang mit
Energie und an zweiter Stelle Einsatz von erneuerbaren
und regenerativen Energien da, wo es irgendwie geht
und wirtschaftlich vertretbar ist.
({4})
In diesem Sinne werbe ich zumindest für den Baubereich für die Fortschreibung der Energieeinsparverordnung. Herr Kelber hat angemahnt, dass wir in unseren
politischen Entscheidungen den betroffenen Bürgern
nachhaltig und langfristig Planungssicherheit geben sollen. Gerade mit der EnEV und deren Fortschreibung zur
EnEV 2009, mit der im Kern eine Verschärfung der Anforderungen um 30 Prozent vorgesehen ist, geben wir
den Fahrplan vor und können das auch über die nächsten
Jahre weiterentwickeln. Damit geben wir den Bauherren
und den Nutzern von Gebäuden die notwendige Planungssicherheit.
Die Vorgehensweise der letzten Jahre zeigt auch, dass
es ganz entscheidend ist, den Bürger durch Information
und Aufklärung von der Wichtigkeit von Energieeinsparmaßnahmen zu überzeugen. Dem einzelnen Bürger
sind leider auch heute noch nicht alle Möglichkeiten
zum Energieeinsparen bewusst, und er weiß auch nicht,
in welcher Art und Weise er tatsächlich von ihnen profitieren kann. Dies zeigt auch der im März veröffentlichte
CO2-Gebäudereport des Bundesbauministeriums. Die
Bürger schätzen mehrheitlich immer noch ein, dass die
Einsparpotenziale im Gebäudebereich zu gering und die
Kosten zu hoch seien. Deshalb, meine sehr verehrten
Damen und Herren, muss für uns - auch dies lasse ich
jetzt noch in die Debatte einfließen - so viel Aufklärung
und Information der Bürger wie möglich ein Ziel sein.
Vorgaben und Vorschriften hingegen brauchen wir nur
dort, wo es zwingend nötig ist.
Allein das Erreichen eines Anteils von jetzt schon
8 Prozent erneuerbarer Energien bei den Gebäuden
zeigt, dass wir auf dem richtigen Weg sind, da wir uns
als Ziel 14 Prozent gesetzt hatten. Aber auch wir sind der
Meinung, dass die jeweiligen regionalen, örtlichen und
individuellen Gegebenheiten Beachtung finden müssen
und auch die ganz konkrete Situation des jeweiligen
Bauherrn berücksichtigt werden muss.
Herr Kollege, denken Sie bitte an die Redezeit.
Ich bin gleich fertig.
({0})
Deswegen wollen wir Ziele vorgeben, dem Bürger jedoch die größtmögliche Flexibilität bei deren Umsetzung zubilligen. Auf diese Art und Weise gelingt es am
besten, Kreativität und Akzeptanz bei Anbietern und
Nachfragern, also in der Wirtschaft und bei den Bauherren, zu sichern. Dies wird dazu führen, dass wir unsere
Ziele mit Anreizen und ohne Zwang erreichen können.
({1})
Herr Kollege, jetzt war ich aber sehr großzügig.
Einen Satz noch, Frau Präsidentin. - Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie wir wissen, kostet Klimaschutz
Geld. Aber wir müssen den richtigen Weg verfolgen, um
das Machbare auch wirtschaftlich möglich zu machen.
Dafür lohnt es sich, ein paar Tage länger darüber nachzudenken.
Vielen Dank.
({0})
Damit sind wir am Ende der Aktuellen Stunde.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Hartfrid
Wolff ({0}), Dr. Heinrich L. Kolb,
Patrick Meinhardt, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der FDP
Zuwanderung durch ein Punktesystem steuern - Fachkräftemangel wirksam bekämpfen
- Drucksache 16/8492 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich sehe und höre
dazu keinen Widerspruch. Dann werden wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Hartfrid Wolff für die FDP-Fraktion
das Wort.
({2})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nach
aktuellen Zahlen des Instituts der deutschen Wirtschaft
fehlen in Deutschland rund 95 000 Ingenieure. Allein für
IT-Spezialisten gibt es über 40 000 offene Stellen. Dasselbe Institut stellt fest, dass der deutschen Volkswirtschaft jährlich rund 18 Milliarden Euro oder 0,8 Prozent
des Bruttoinlandsprodukts durch fehlende Fachkräfte
verloren gehen. Wir sind auf die gesteuerte Zuwanderung von Hochqualifizierten und Fachkräften angewiesen. Deutschland droht den Wettbewerb um die klügsten
Köpfe zu verlieren. Es wird Zeit, endlich alten ideologischen Ballast über Bord zu werfen und sich modernen
Konzepten zuzuwenden.
({0})
Es reicht nicht, weltweit mit dem Oktoberfest oder
Neuschwanstein auf Werbetour für Fachkräfte zu gehen.
Wir brauchen ein klares Umdenken bei der Zuwanderungssteuerung. Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände sind sich einig, dass der stärkere Zuzug von Fachkräften nach Deutschland einen Beitrag zur Bekämpfung
der Arbeitslosigkeit bei uns darstellt; denn der Einsatz
jeder weiteren Fachkraft zieht weitere Arbeitsplätze
nach sich. Andere Staaten wie Großbritannien, die USA
und Kanada sind aufgrund ihrer klaren und transparenten
Zuwanderungsregelungen Deutschland meilenweit voraus. Die Bundesregierung verschläft diese dynamische
Entwicklung, zulasten des Wirtschafts- und Forschungsstandorts Deutschland.
({1})
Natürlich müssen wir versuchen, durch schnell wirksame Maßnahmen in Bildung, Ausbildung und betriebliche Weiterbildung den Bedarf mit inländischen
Arbeitnehmern zu decken. Auch müssen endlich die Beschäftigungsperspektiven von Frauen und älteren Menschen verbessert werden. Das ist Konsens. Zur Deckung
des Fachkräftebedarfs scheint dies allerdings nicht auszureichen.
Meine Damen und Herren, die Arbeitswelt, der Arbeitsmarkt ist längst global. Produkte werden nicht mehr
an ein und demselben Standort erdacht, entwickelt, produziert, vertrieben. Deutschland hat die Chance, auch in
Zukunft Teil dieses Arbeitsprozesses zu sein, und zwar
vor allem bei Forschung und Entwicklung. Doch wenn
wir nicht aufpassen, kann sich das schnell ändern.
Hochqualifizierte Forscher und Entwickler, egal ob
sie in Unternehmen, in Hochschulen oder in Forschungseinrichtungen arbeiten, sind international, leben diese Internationalität. Es muss ihnen deutlich einfacher gemacht werden, sich in Deutschland anzusiedeln. Die
demografische Entwicklung lässt erwarten, dass wir den
wirtschaftlichen Standard mittelfristig nicht werden halten können, wenn wir nicht für qualifizierte Zuwanderung offen sind.
Das bisherige Ausländerrecht hat die deutliche Botschaft: Deutschland will eigentlich keine Zuwanderung.
Dabei hat zum Beispiel auch der saarländische Ministerpräsident Peter Müller einmal festgestellt: Das Boot wird
immer leerer. - Es wird hingenommen, dass sogar die
EU-interne Migration an Deutschland vorbeigeht. Gerade Fachkräfte aus Polen, seien es nun Pflegekräfte
oder seien es Ingenieure, wandern lieber nach Großbritannien aus, als in der Nachbarschaft, bei uns, zu arbeiten.
({2})
- Eben, Herr Kollege. Das muss geändert werden!
({3})
Nur große Unternehmen haben die Chance, die extrem hohen Einkommensschwellen für Arbeitnehmer
aus Drittstaaten und die weiteren Hürden wie die individuelle Vorrangprüfung zu überspringen. Dabei ist gerade
der Mittelstand auf kreative Köpfe und Fachkräfte angewiesen.
Ein Gegenmodell zum restriktiven Modell der Bundesregierung legt Ihnen die FDP heute vor:
({4})
Wir brauchen ein Punktesystem, mit dem die Zuwanderung nach klaren Kriterien gesteuert wird und mit dem
unsere Interessen und Erwartungen an die Zuwanderer
klar definiert werden. Ein Punktesystem ist ein flexibles
und modernes System zur Steuerung der Zuwanderung.
Damit kann der Bedarf an dringend benötigten Arbeitskräften befriedigt, bei fehlendem Bedarf aber auch eine
Reduzierung der Zuwanderung verfügt werden. Bei diesem System spielen vor allem die Ausbildung, die berufliche Erfahrung, das Alter und die Kenntnisse der deutschen Sprache eine große Rolle. Es kommt vor allem auf
die professionelle Qualifikation und die gesellschaftliche
Integrationsfähigkeit der Migranten an.
Die FDP schlägt vor, dass diejenigen, die die höchsten Hürden des Punktesystems überspringen, freie Arbeitsplatzwahl in Deutschland bekommen sollen. Fachkräfte bzw. qualifizierte Arbeitnehmer, die eine
geringere Punktzahl erreichen, die Hürden des Punktesystems gleichwohl nehmen, sollen einwandern dürfen,
wenn sie in einer Branche oder einem Bereich, in dem
erheblicher Bedarf besteht, ein konkretes Arbeitsplatzangebot haben.
Ausländische Hochschulabsolventen aus Drittstaaten
sollen nach ihrer Studienzeit und ihrem Abschluss
schnell und unkompliziert in Deutschland Arbeit aufnehmen können. Es ist für mich unverständlich, weshalb wir
Menschen, die in Deutschland studiert haben, hier integriert sind, Menschen, in die wir als Gesellschaft Geld
investiert haben, nach dem Abschluss mitteilen: Bei uns
arbeiten darfst du nicht, auch wenn wir dich dringend
brauchten.
({5})
Hartfrid Wolff ({6})
Das ist paradox, Herr Kollege. Der Exportweltmeister
Deutschland agiert auf dem internationalen Arbeitsmarkt
wie ein viertklassiger Fußballverein, der das Transfersystem noch nicht begriffen hat.
({7})
Wie kann es sich ein Exportweltmeister erlauben, bei der
Zuwanderung provinziell zu agieren? Entscheidend ist:
Wen wollen wir nach Deutschland einladen, wer kann
unsere Gesellschaft weiterbringen? Unser Punktesystem
ist ein moderner Ansatz für eine vernünftige Steuerung
der Zuwanderung.
({8})
Ich zitiere selten aus fremden Parteiprogrammen;
({9})
aber ich möchte dem Kollegen Reinhard Grindel zuliebe
aus dem Beschluss des Parteitags der CDU 2006 in
Dresden zitieren. Auf Seite 87 steht:
Die Zuwanderung von Arbeitskräften muss einfach
und übersichtlich geregelt werden …
Weiter heißt es:
Die Auswahl der betreffenden Personen erfolgt auf
der Basis eines Punktesystems, das Alter, Schulausbildung, Beruf, Sprachkenntnisse, Berufserfahrung …
berücksichtigt.
Bei den Sozialdemokraten liest sich das 2007 so: „Die
SPD steht weiter zu dem von der sogenannten SüssmuthKommission ausgearbeiteten Punktesystem.“
({10})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und
SPD, Sie haben jetzt in der Regierung die Chance, Ihre
eigenen, offensichtlich sogar einmal übereinstimmenden
Beschlüsse umzusetzen.
({11})
Wir brauchen eine Willkommenskultur, die es Hochqualifizierten und Fachkräften aus dem Ausland erleichtert, sich für Deutschland zu entscheiden. Eine moderne
Zuwanderungssteuerung mit einem Punktesystem stellt
unsere nationalen Interessen als Wirtschaftsstandort im
Zeitalter der Globalisierung in den Vordergrund. Ein solches System verdrängt nicht einheimische Arbeitskräfte,
sondern schafft auch für sie neue berufliche Perspektiven. Es hilft Deutschland, seine Wettbewerbsfähigkeit
zu verbessern. Eine moderne Zuwanderungssteuerung
ist überfällig.
({12})
Nächster Redner ist der Kollege Reinhard Grindel für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist wahr, Herr Kollege Wolff: Wir haben in einigen
Regionen und Branchen einen Fachkräftemangel zu verzeichnen. Es ist aber auch wahr, dass wir im Ausländerund Arbeitserlaubnisrecht völlig ausreichende Regelungen haben, die es Unternehmen schon jetzt erlauben, den
Fachkräftemangel durch die Anwerbung ausländischer
Arbeitnehmer zu bekämpfen. Das Instrumentarium ist
da.
({0})
Das Instrument eines Punktesystems ist arbeitsmarktpolitisch überflüssig und integrationspolitisch sogar gefährlich. Deshalb lehnen wir Ihren Antrag ab.
Ein Blick ins Gesetz erleichtert die Rechtsfindung.
Nach dem geltenden Aufenthaltsrecht können schon
heute ausländische Arbeitnehmer eine Arbeitserlaubnis
bekommen, wenn dafür ein Bedarf besteht und im Inland
Arbeitnehmer nicht zur Verfügung stehen.
({1})
Nach der Beschäftigungsverordnung gehören dazu ITFachkräfte und Personen mit besonderen Spezialkenntnissen, die es so unter den heimischen Arbeitslosen nicht
gibt.
({2})
- Herr Kollege Wolff, das alles ist geltende Rechtslage
ohne Punktesystem. - Zusätzlich kann die Bundesagentur für Arbeit bereits heute den Zugang zum Arbeitsmarkt für einzelne Berufsgruppen und regionale Wirtschaftszweige ohne die sogenannte Vorrangprüfung
zulassen, wenn das arbeitsmarkt- und integrationspolitisch verantwortbar ist.
Es sind auch im Jahr 2007 - das haben Sie unterschlagen - wieder 63 000 ausländische Arbeitskräfte mit Arbeitserlaubnissen ausgestattet worden. Sie haben bei uns
gearbeitet. Das ist doch ein Beleg dafür, dass wir längst
einen funktionierenden Rechtsrahmen in unserem Land
besitzen.
({3})
- Liebe Frau Kollegin, da Sie genauso wie ich aus Niedersachsen kommen, müssten Sie wissen, wie viele Saisonarbeitskräfte im niedersächsischen Spargelgewerbe
und anderswo beschäftigt werden. Die 63 000 ausländischen Arbeitskräfte sind nach § 18 ganz normale Arbeitnehmer. Die Zahl der gesamten Saisonarbeitskräfte liegt
weit über 200 000; das ist eine ganz andere Baustelle.
Wenn Sie solche Anträge kommentieren, sollten Sie sich
vorher informieren, über welche Arbeitnehmer wir reden.
Es ist nicht ernsthaft zu bestreiten, dass es angesichts
von noch immer 3,3 Millionen Arbeitslosen, darunter
mindestens 150 000 Akademikern, sinnvoll ist, dass
man, bevor ein Ausländer auf den deutschen Arbeitsmarkt kommt, erst einmal schaut, ob nicht unter den heimischen Arbeitslosen ebenso qualifizierte Kräfte existieren, die den Arbeitsplatz genauso gut besetzen könnten.
({4})
Wir dürfen doch nicht übersehen, dass sich unter den Arbeitslosen viele ausländische Mitbürger befinden. Es ist
integrationspolitisch sehr wichtig, dass wir uns nicht mit
einer so hohen Zahl von ausländischen Jugendlichen abfinden, die ohne Berufsausbildung auf den Arbeitsmarkt
drängen und dort keine Chance haben.
Herr Kollege Wolff, ich bleibe dabei: Es ist nicht richtig, 50-Jährige zum alten Eisen zu werfen,
({5})
Aus- und Fortbildung einzustellen, aber dann junge
Leute für billiges Geld aus dem Ausland zu holen. Das
hat nichts mit einer verantwortlichen sozialen Marktwirtschaft zu tun, um das ganz klar zu sagen.
({6})
Meine Damen und Herren von der FDP, ich gäbe Ihnen recht, wenn Sie sagten: Die Vorrangprüfung, die die
Bundesagentur für Arbeit vorzunehmen hat, dauert oft
zu lange. Auch ich finde, dass wir klare Ansprechpartner
für die Unternehmer in jeder einzelnen Geschäftsstelle
der Bundesagentur brauchen und dass diese Experten der
BA einen genauen Überblick über den regionalen Arbeitsmarkt haben müssen, um schnell die Vorrangprüfung vornehmen zu können. Aber da reicht mehr Flexibilität im Verwaltungsvollzug. Dafür brauchen wir keine
neuen Gesetze, zumal - das will ich betonen - das Punktesystem integrationspolitisch gefährlich ist, weil es zu
einer ungesteuerten Zuwanderung auf dem Arbeitsmarkt
führt.
({7})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Bürsch?
Ja.
({0})
Herr Kollege Grindel, bevor Sie sich an dem Thema
Integrationspolitik und dem, was richtig und falsch ist,
abarbeiten, würde mich interessieren, wie Sie zu dem
Dresdner Programm stehen, das Herr Wolff verdienstvollerweise zitiert hat. Klarer könnte in der Tat die SPD
nicht sagen, was ein Punktesystem ist und was dafür
spricht. Dann bitte ich, das Ganze, was Sie jetzt vorhaben, für falsch zu erklären und auch im Lichte Ihrer
lichtvollen Dresdner Programmsätze zu erläutern.
Lieber Kollege Bürsch, bei uns gelten die Grundsatzprogramme und die letzten Wahlprogramme.
({0})
Was das Dresdner Programm angeht: Es geht um die Ausgestaltung des Punktesystems. Ich will Ihnen den entscheidenden Punkt dabei sagen. Es ist die Frage - darauf
wäre ich jetzt eingegangen -, ob Sie in das Punktesystem
auch den Nachweis eines ganz konkreten Arbeitsplatzes
aufnehmen. Darauf verzichtet die FDP ausdrücklich in
ihrem Antrag. Wie Sie dazu stehen, können Sie noch sagen; denn das Entscheidende ist, dass es dann, wenn einem Arbeitnehmer, der aus dem Ausland zu uns kommt
- das werde ich gleich darstellen -, kein konkreter Arbeitsplatz in unserem Land gegenübersteht, eine ungesteuerte Zuwanderung ist,
({1})
weil Sie niemals erkennen können, ob dieser ausländische Arbeitnehmer überhaupt auf dem Arbeitsmarkt ankommt oder am Ende nicht doch in den Sozialsystemen
landet. Der entscheidende Punkt ist:
({2})
Gibt es ein konkretes Arbeitsplatzangebot oder nicht? So
ist auch der Dresdner Beschluss zu verstehen.
({3})
Herr Kollege, darf ich Sie noch einmal unterbrechen? Es gibt einen zweiten Wunsch einer Zwischenfrage, dieses Mal von der Kollegin Sevim Dağdelen.
Bitte.
Bitte sehr.
Vielen Dank, Herr Kollege. - Sie haben kurz dargelegt, dass es nicht angehen kann, dass man junge, frische, dynamische Fachkräfte aus dem Ausland holt und
die inländischen Langzeitarbeitslosen, darunter auch
sehr viele Akademikerinnen und Akademiker, nicht fördern möchte. Ich habe hier eine Pressemitteilung der
Bundesregierung vom 8. Mai 2008 mit der Überschrift:
„Böhmer: Potenziale von Zugewanderten besser nutzen.“ Es geht vor allen Dingen darum, dass akademische
Abschlüsse, die Ausländerinnen und Ausländer im Ausland erworben haben, hier nicht anerkannt werden. Das
ergab eine Studie aus Osnabrück. Seit Anfang des Jahres
liegt ein Antrag meiner Fraktion zu einer Vereinfachung
der Anerkennungsverfahren vor. Das sind rund eine
halbe Million Menschen, darunter Ärztinnen und Ärzte.
Frau Kollegin, Sie wollten eine Frage stellen.
Gut. Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Ich möchte Sie
bitten, mir darzustellen, was die Bundesregierung bzw.
Ihre Regierungsfraktion zu tun gedenkt, damit diese Bildungsabschlüsse anerkannt werden.
Das haben wir im Nationalen Integrationsplan alles
sauber festgelegt. Das ist eine Sache - das wissen Sie
ganz genau -, bei der wir die Länder brauchen, weil die
Anerkennung der Abschlüsse Ländersache ist. Die
Länder waren an der Erarbeitung des Nationalen Integrationsplans beteiligt. Das heißt, es muss hier zu vereinfachten Lösungen kommen, insbesondere wenn Berufskammern mit beteiligt sind. Ich kann Ihnen sagen,
dass wir, Vertreter der CDU/CSU-Fraktion, gerade vor
wenigen Wochen ein Gespräch mit den Vertretern der
Ärztekammer in Berlin geführt und überlegt haben, was
man tun kann, um mit wenigen Hilfestellungen, mit der
einen oder anderen Zusatzqualifikation, etwa Ärzte aus
Osteuropa, die wir dringend zum Beispiel für die Nachbesetzung von Praxen im ländlichen Raum brauchen, in
die Lage zu versetzen, als Ärzte zu arbeiten; denn diese
brauchen wir, wir brauchen keine Personen, die mit dem
Taxi durch Berlin fahren; von denen haben wir genug.
Genau das ist unsere Politik. Das ist genau ein Argument
gegen das Punktesystem, weil diese ausländischen Arbeitskräfte und diese Aussiedler schon im Land sind. Da
kann ich nur sagen: Lasst uns doch die Schätze, die hier
verborgen sind, für den Arbeitsmarkt heben!
({0})
Lassen Sie uns diese Menschen qualifizieren und nicht
das Problem der Integration durch ungesteuerte Zuwanderung weiter verschärfen! Das ist gerade ein Argument
gegen den Antrag der FDP.
({1})
- Wenn Sie von gesteuerter Zuwanderung reden, dann
wollen wir uns einmal anschauen, lieber Herr Kollege
Wolff, was Sie sich darunter vorstellen. Sie sagen: Nachgewiesen werden müssen Qualifikation, Berufserfahrung, Alter und Sprachkenntnisse; wenn dieser Nachweis erbracht ist, erhält man sofort eine Arbeitserlaubnis
für zwei Jahre.
({2})
Wie sieht das wohl in der Praxis aus? Qualifikation und
Berufserfahrung: In jedem Land mit erheblichem Migrationsdruck bekommt man jedes Examen, jedes Zeugnis
gegen eine entsprechende Geldleistung.
({3})
Wie wollen Sie denn kontrollieren, ob jemand aus der
Ukraine, aus Ghana oder aus Venezuela tatsächlich einen
Abschluss erworben hat bzw. die Berufserfahrung hat,
die er vorgibt? Da ist dem Missbrauch Tür und Tor geöffnet.
Ich sage Ihnen: Die beste Maßnahme, um Qualifikation festzustellen, ist, dass man den Arbeitgeber fragt,
der einen bestimmten Arbeitnehmer aus dem Ausland
haben will. Er kann entscheiden, ob er dessen Qualifikation braucht. Warum wollen Sie nicht, dass diese Arbeitsplatzzusage entscheidend ist? Niemand kann besser
als ein Arbeitgeber entscheiden, ob er einen bestimmten
Ausländer braucht. Wenn er ihn braucht und wenn es auf
dem deutschen Arbeitsmarkt niemanden gibt, der diesen
Arbeitsplatz genauso gut besetzen kann, dann bekommt
er diese ausländische Arbeitskraft auch, wie 63 000-mal
im Jahr 2007 geschehen, Herr Kollege Wolff.
({4})
Was Sprachkenntnisse angeht, verlangen Sie das
Niveau B 1. Das schreiben wir bei den Integrationskursen für Neuankömmlinge in Deutschland vor. Sprachkenntnisse auf diesem Niveau reichen für weite Teile,
gerade von qualifizierter Beschäftigung - darum geht es
hier -, wahrlich nicht aus.
({5})
Ich gehe davon aus - Sie haben es angesprochen -,
dass Parallelen zu den Punktesystemen in Kanada und
Australien gezogen werden. Schauen Sie sich das einmal
an! Dort ist der Nachweis eines Arbeitsplatzes ein Qualifikationselement, mit dem Punkte erworben werden, und
zwar meistens genau diejenige Punktzahl, die man
braucht, um eine sogenannte „pass mark“, also eine Arbeitserlaubnis, zu erhalten. Ich frage mich: Warum lehnen Sie hier das als weiteres Qualifikationsmerkmal ab,
was in Kanada und in Australien gut funktioniert hat?
Ich kann das nicht nachvollziehen.
({6})
- Das haben Sie nicht drin. Das ist schlicht und ergreifend die Unwahrheit.
({7})
Zur Säule 1 - dort geht es um die hochqualifizierten Arbeitskräfte - heißt es in Ihrem Antrag ausdrücklich: Ein
konkretes Arbeitsplatzangebot ist nicht erforderlich.
({8})
Das ist der springende Punkt; darum geht es uns. Das bedeutet ungesteuerte Zuwanderung. Diese Menschen
kommen nach Ihrer Vorstellung auf den Arbeitsmarkt,
ohne dass klar ist, in welchem Unternehmen sie Arbeit
finden. Aufgrund meiner Erfahrung in der Ausländerpolitik in den letzten 15 Jahren sage ich: Das endet mit einer Zuwanderung in die Sozialsysteme und eben nicht
mit einer Zuwanderung auf den Arbeitsmarkt. Das wollen wir nicht, lieber Kollege Wolff.
({9})
Unser geltendes Recht ermöglicht - das muss man
den Menschen, die uns hier zuschauen, sagen - eine
Vielzahl von Zugängen zum Arbeitsmarkt, indem sogar
auf die Vorrangprüfung verzichtet wird. Bei uns gibt es
die Zugangsmöglichkeit für die Höchstqualifizierten, die
mehr als 85 000 Euro verdienen. Unabhängig von dieser
Gehaltsgrenze gibt es bei uns die Zugangsmöglichkeit
für ausländische Wissenschaftler und für Fachkräfte im
internationalen Personalaustausch. Wir haben - entgegen dem, was Sie gesagt haben - den Arbeitsmarkt für
Ingenieure aus den neuen EU-Beitrittsländern geöffnet.
In all diesen Fällen bedarf es keiner Vorrangprüfung.
Es stimmt auch nicht, was Sie über die Hochschulabsolventen gesagt haben. Jeder ausländische Student, der
hier einen Abschluss macht, hat ein ganzes Jahr lang, für
das er eine Aufenthaltserlaubnis bekommt, Zeit, um sich
einen Arbeitsplatz in Deutschland zu suchen. Er kann in
dieser Zeit sogar Arbeiten machen, die nicht seiner Qualifikation entsprechen, damit er seinen Lebensunterhalt
bestreiten kann. Diese Maßnahme ist geeignet, um zu erreichen, dass diejenigen, die wir ausgebildet haben, auf
dem deutschen Arbeitsmarkt in qualifizierte Positionen
kommen.
({10})
Wir haben mit der Verabschiedung des Zuwanderungsgesetzes bereits vor über zwei Jahren eine völlig richtige
Politik betrieben, Herr Kollege.
({11})
Ich stelle bei den Kollegen der Sozialdemokratie eine
gewisse emotional-fonetische Zurückhaltung fest.
({12})
Lieber Herr Bürsch, Sie waren doch dabei, als wir über
die Frage der Zuwanderung auf den Arbeitsmarkt im
Rahmen der Zuwanderungsgesetzgebung diskutiert haben. Wir haben - das kann man hier im Plenum des
Deutschen Bundestages ruhig sagen - angeboten, auch
bei Berufsanfängern auf die Vorrangprüfung zu verzichten, wenn - Stichwort: Hochqualifizierte - ein Jahreseinkommen von mindestens 60 000 Euro erzielt wird. Wir
sind also für eine Absenkung der Einkommensgrenzen
eingetreten. Liebe Kollegen Veit, Wiefelspütz und
Bürsch, Sie waren doch alle dabei, als der damalige
Staatssekretär Andres in unsere Koalitionsvereinbarungen hineingeplatzt ist - dieses Wort hat in diesem Zusammenhang durchaus seine Berechtigung - und gesagt
hat, selbst diese kleine Änderung nicht zuzulassen.
({13})
- Das ist eine tolle Sache. Herr Andres ist nicht mehr
Staatssekretär.
({14})
- Mit Ihrem Zwischenruf behaupten zu wollen, Herr
Müntefering und Herr Scholz hätten sich durch eine Personalentscheidung inhaltlich korrigiert, ist neben der
Spur. - Herr Andres war noch nicht einmal bereit, diese
kleine Änderung zuzulassen, und hat gesagt, im Bereich
des Arbeitserlaubnisrechts sei da mit dem Arbeitsministerium überhaupt nichts zu machen. Die Sozialdemokraten sind in der Verantwortung, einmal zu klären, was ihre
Position ist. Das ist eine Übung, die Sie in diesen Wochen reichlich praktizieren, vielleicht auch einmal im
Hinblick auf das Zuwanderungsrecht.
({15})
Die Abwanderung von deutschen Fachkräften ist ein
weiteres Argument dafür - das wird auch im Antrag der
FDP angesprochen -, dass es nicht das Ausländerrecht
ist, das dazu führt, dass wir im Kampf um die klugen
Köpfe der Welt nicht besonders erfolgreich sind.
({16})
Es liegt zum Beispiel an der Sprache und daran, dass
Unternehmen in Deutschland, anders als solche im Ausland, lieber Praktika als ordentliche Arbeitsverträge vergeben, und es hängt mit der Frage zusammen, wie viel
man verdienen kann. Es liegt zudem an den Forschungsmöglichkeiten und vielen anderen Dingen, die mit dem
Ausländerrecht und dem Aufenthaltsrecht nichts zu tun
haben.
({17})
Angesichts von 3,3 Millionen Arbeitslosen darf der
Arbeitsmarkt nicht unkontrolliert geöffnet werden. Die
bestehenden Vorschriften ermöglichen es den Unternehmen, auf ausländische Fachkräfte zurückzugreifen, wenn
der deutsche Arbeitsmarkt nichts hergibt. Ich will noch
einmal betonen
Herr Kollege, ganz kurz.
- ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin -, dass es
niemandem hilft, wenn älteren Arbeitnehmern keine
Chancen mehr gegeben werden und Aus- und Fortbildung nicht mehr erfolgen, dafür aber junge Leute, die
noch nicht einmal eine konkrete Arbeitsplatzzusage haben, aus dem Ausland geholt werden. Das führt zu einer
Zuwanderung in die Sozialsysteme, aber hilft den deutschen Unternehmen nicht. Dies wollen wir nicht, gerade
auch im Interesse der Ausländer, die bei uns in Deutschland Ausbildungs- und Arbeitsplätze suchen.
Herzlichen Dank.
({0})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Sevim Dağdelen
für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Vor 15 Jahren haben Sie, meine Damen und
Herren von SPD, CDU/CSU und FDP, mit Ihrer Asylrechtsreform das Grundrecht auf Asyl faktisch abgeschafft.
({0})
- Das hat sehr viel damit zu tun, Herr Edathy. - Seitdem
führen Sie die migrationspolitische Debatte angeregter
als je zuvor auf der Grundlage der Nützlichkeit der Menschen, der Gesetzmäßigkeiten kapitalistischer Verwertungslogik. Alles muss sich rechnen. Menschen, gleichgültig ob In- oder Ausländer, werden eingeteilt in
Leistungsträger - also nützliches Humankapital - und in
„Unnütze“, die keinen Gewinn bringen. Die FDP zeigt
sich mit ihrem aktuellen Antrag zur Steuerung von Zuwanderung durch ein Punktesystem als herausragender
Vertreter dieser menschenverachtenden Logik.
({1})
Das heißt nämlich im Klartext, dass Menschen nach betriebswirtschaftlichen Merkmalen vermessen werden.
Im Jahr 15 nach dem Brandanschlag in Solingen scheint
es salonfähig und ohne Hemmungen möglich zu sein,
Menschen nach Kosten-Nutzen-Kalkül zu selektieren.
Ich bin empört über diese Haltung. Die Linke lehnt sie
selbstverständlich ab.
({2})
Die Linke ist für Migration; in unserem Antrag aus
dem letzten Jahr mit dem Titel „Für Humanität und
Menschenrechte statt wirtschaftlicher ‚Nützlichkeit’ als
Grundprinzipen der Migrationspolitik“ haben wir das
auch dargelegt. Wir sind dagegen, dass Menschen durch
ein Punktesystem ein Wert zugemessen wird und abhängig vom erzielten Punktewert ihre jeweiligen Rechte bemessen werden.
({3})
Wir akzeptieren keinesfalls, dass Migrantinnen und Migranten nach Qualifikation und Arbeitsmarktlage in
„Nützliche“ und „Unnütze“, in „Erwünschte“ und „Unerwünschte“ eingeteilt werden. Das Punktesystem, Herr
Kollege Edathy, zementiert und legitimiert diesen gesellschaftlichen Status quo und damit die soziale Ungleichheit; denn Qualifizierung und Ausbildung werden gegen
das Recht auf Migration ausgespielt.
Sie reden von Punkten, meine Damen und Herren. Ich
rede von Menschenrechten und Humanität.
({4})
Wir lehnen eine Bewegungs- und Einreisefreiheit nur für
die Gebildeten und die Reichen ab.
({5})
Die FDP gibt mit dem Punktemodell die ihr eigene,
nämlich dem Kapital verpflichtete, Antwort auf die wirtschaftlichen, demografischen und sozialen Herausforderungen. Dieses Modell folgt auch dem EU-weiten Trend.
Es existieren unterschiedliche Konzepte, am wirtschaftlichen Nutzen orientierte Modelle - von Frankreich bis
Italien. Aber ob das Kind nun „Greencard“, „temporäre
Migration“ oder auch „zirkuläre Migration“, „Bluecard“
oder „Punktesystem“ heißt, ist egal. Die Konzepte sprechen allesamt die Sprache der nationalen Kosten-Nutzen-Kalkulation, und das lehnen wir, wie gesagt, ab.
Dass Hochqualifizierte und Qualifizierte weniger
Hürden auf dem Weg zu einem dauerhaften Aufenthalt
mit rechtlicher und sozialer Absicherung haben, steht
fest. Übel dran sind aber die Menschen, die zur Überbrückung von saisonalen Engpässen im Niedriglohnsektor eingestellt werden. Das ist nichts Neues. Das ist die
zwingende Konsequenz aus der neoliberalen Logik, die
Sie heute dartun: Alles für den Wirtschaftsstandort
Deutschland, aber bitte nicht auf Kosten unserer nationalen Sicherungssysteme und auch nur, wenn die Anpassung an die deutsche Leitkultur gegeben ist! - Es geht
um die alte Verbindung zwischen nationalistischem und
ökonomischem Kalkül.
Ziel des Punktesystems soll die wirksame Bekämpfung des von der Wirtschaft beklagten Fachkräftemangels sein. Herr Grindel hat mir da vorgegriffen. Der sogenannte Fachkräftemangel ist umstritten. Eine
Untersuchung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit hat 13 500
Betriebe einbezogen. Die Studie hat ergeben, dass es
keinen flächendeckenden Fachkräftemangel gibt. Der
Wirtschaft - so diese Studie - gehe es offenbar vor allem
um eine schnellere Besetzung offener Stellen und die
Verhinderung höherer Lohnzahlung an die inländischen
Fachkräfte. Es geht also um Lohndumping.
Kein Wort hier darüber, dass der beklagte Fachkräftemangel hausgemacht und auch politisch gewollt ist! Seit
Jahren wird die Wirtschaft dafür belohnt, dass sie die Jugendlichen nicht mehr ausbildet. Kein Wort über die
massiven Verbote und Einschränkungen für hier lebende
Migrantinnen und Migranten bei der Ausbildung und
auch bei der Erwerbsarbeit! Kein Wort auch über die
halbe Million Akademikerinnen und Akademiker, deren
Abschlüsse hier nicht anerkannt werden! Tatsache ist,
dass die FDP den Unternehmen auch weiterhin die gesellschaftlichen Kosten für die schulische und berufliche
Ausbildung ersparen möchte. Da passt das Punktesystem
gut.
Was wir zur Lösung der sozialen Herausforderungen
in der Bundesrepublik und auch in Europa stattdessen
brauchen, sind Mindeststandards - Mindeststandards für
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, ob sie nun aus
Deutschland, aus Europa oder aus Staaten in anderen
Teilen der Welt kommen.
({6})
Was wir mit Sicherheit nicht brauchen, ist das Punktesystem. Sozialdumping hat nichts mit Zuwanderung zu
tun. Das sehen Sie auch an den 1-Euro-Jobs, die es in
Deutschland flächendeckend gibt.
({7})
In der EU bzw. in der Bundesrepublik muss endlich
dafür gesorgt werden, dass am gleichen Ort für gleiche
Arbeit auch der gleiche Lohn gezahlt wird. Das fordert
auch der DGB. Deshalb: Her mit dem gesetzlichen Mindestlohn!
({8})
Erhöhen Sie die Erwerbsquote von Frauen in diesem
Bereich!
({9})
- Sehen Sie sich die Studie vom IAB an! Wenn Sie das
tun, werden Sie feststellen, dass der Fachkräftemangel in
einem Mangel an jungen männlichen Ingenieuren besteht. Wir müssen die Erwerbsquote von Frauen in diesem Bereich steigern; denn die Frauen sind es, die
arbeitslos sind und nicht in diesen Beschäftigungsbereich aufgenommen werden.
Sorgen Sie endlich für eine Ausbildungsplatzumlage,
damit Jugendliche nicht ohne Berufsausbildung bleiben!
Ich will es nicht akzeptieren, dass circa 15 Prozent der
Jugendlichen in diesem Land keine Berufsausbildung
haben; anscheinend haben Sie sich damit abgefunden.
80 000 junge Menschen jährlich verlassen die Schule
ohne Schulabschluss. Ich will mich damit nicht abfinden. Ich möchte eine Reformierung des Schulsystems
und der Schulstrukturen.
({10})
Es geht nicht an, immer nur nach jungen, männlichen,
dynamischen, gesunden Ingenieuren im Ausland Ausschau zu halten!
({11})
Schaffen Sie die soziale Ungleichheit beim Hochschulzugang ab - mit bundesweiten Regelungen zur
Hochschulzulassung können Sie das erreichen -,
({12})
und schaffen Sie vor allen Dingen auch die Studiengebühren ab! Bauen Sie die Studienplatzkapazitäten aus,
und öffnen Sie die Hochschulen auch für nichttraditionelle Studierende! Herr Röspel - das ist ein Abgeordneter der SPD - hat bei der Debatte über den Forschungsbericht heute meines Erachtens zutreffenderweise
gesagt: Es kann doch nicht sein, dass ein Meister nicht
studieren darf, aber der Abiturient schon. Ich sehe da
keinen Unterschied. Warum sollen Absolventinnen und
Absolventen aus dem Bereich der beruflichen Bildung
nicht studieren und sich damit zu hochqualifizierten
Fachkräften weiterbilden können?
Tun Sie endlich auch etwas für die Anerkennung im
Ausland erworbener Abschlüsse, und setzen Sie sich für
die Abschaffung der Arbeits- und Ausbildungsverbote
für Flüchtlinge ein!
({13})
Meine Damen und Herren, ich weiß, dass die neoliberale Einheitsfront von FDP, SPD und Grünen
({14})
ein Punktesystem unterstützt. Wenn Sie sich von der
FDP aber nicht nur mit den Lippen zu Art. 1 des Grundgesetzes bekennen wollen, sollten Sie sich gefälligst dafür schämen, dass Sie so einen menschenverachtenden
Antrag eingebracht haben.
({15})
Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege
Dr. Michael Bürsch das Wort.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Nach diesem erfrischenden Rundumschlag zu Fragen, über die wir heute eigentlich nicht reden, komme
ich zum eigentlichen Thema,
({0})
nämlich „Zuwanderung durch ein Punktesystem steuern“.
({1})
Ich nutze die Gelegenheit, Frau Kollegin Dağdelen,
Herr Kollege Grindel und Herr Kollege Wolff, aufzuklären, worum es überhaupt geht. Es geht nicht um Neoliberalismus. Es geht auch nicht um Menschenverachtung.
({2})
Sevim DaðdelenSevim Dağdelen
Es geht um das, was so vorbildliche Länder wie die
USA, Neuseeland und Australien - es gäbe noch viele
weitere, die Sie beschimpfen können, Frau Dağdelen schon seit vielen Jahren machen.
({3})
Ich nutze gerne die Gelegenheit, aufzuklären, was wir
unter einem Punktesystem verstehen und was wir nicht
darunter verstehen. Irgendwie erinnert mich diese Debatte an den berühmten Film: „Und täglich grüßt das
Murmeltier“. Wir debattieren über das Thema Punktesystem in regelmäßigen Abständen. Immer wieder stellt
sich heraus, dass es große Missverständnisse, worüber
wir reden, auf jeden Fall aber unterschiedliche Auffassungen darüber gibt, worum es geht.
Es geht nicht, Herr Kollege Grindel, um die Deckung
eines kurzfristigen Bedarfs. In Situationen, wo kurzfristig Arbeitskräftebedarf besteht, kann dieser Bedarf im
Rahmen der bestehenden Regelungen und Gesetze gedeckt werden.
({4})
Darum geht es bei der sogenannten Punkteregelung also
nicht. Es geht vielmehr um eine langfristige Steuerung.
Letztlich geht es um die Frage, in welcher Gesellschaft
wir leben wollen. Wollen wir in einer Gesellschaft leben,
die wie eine Wagenburg aufgebaut ist, die die Schotten
dicht macht und keinen hereinlässt, damit bloß niemand
unsere Sozialsysteme ausbeutet? Oder wollen wir in einer globalisierten Welt und angesichts unserer exportorientierten Wirtschaft in einem möglichst breit akzeptierten Rahmen die Türen öffnen? Dafür, um zu einer
weltoffenen Gesellschaft zu werden, zu einer Willkommensgesellschaft, wie der Kollege Wolff gesagt hat, ist
diese immer wieder angeführte und missverstandene
Punkteregelung gedacht.
Was wollen nun die Sozialdemokraten? Ich brauche
hier nicht das Rad neu zu erfinden. Das, was wir wollen,
ist schon von der Vorgängerregierung dieser Großen
Koalition, nämlich der vorzüglichen rot-grünen Koalition,
({5})
2001/2002 entwickelt worden. Unsere gesetzliche Vorgabe lautet folgendermaßen:
Das Auswahlverfahren erfolgt im wirtschaftlichen
und wissenschaftlichen Interesse der Bundesrepublik Deutschland und dient der Zuwanderung
qualifizierter Erwerbspersonen, von denen ein Beitrag zur wirtschaftlichen Entwicklung und die Integration in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland zu erwarten sind.
Wenn Sie, Herr Kollege Grindel, auf ein Mitglied einer früheren Bundesregierung in gehobener Stellung abheben, das eine Verbesserung zum Beispiel beim Zuzug
von Arbeitskräften verhindert haben soll, dann entgegne
ich Ihnen: Die Sozialdemokratische Partei besteht aus
500 000 Mitgliedern. Gerd Andres ist ein Mitglied, das
in früherer Zeit an entscheidender Stelle gestanden hat.
({6})
Klaus Brandner, der jetzt hier sitzt, ist anderer Auffassung. Insofern bringt es nichts, wenn wir uns an einer
Person abarbeiten. Die SPD ist für eine Öffnung. Wir reden nun aber nicht über Arbeitskräfte, sondern über die
gesamte, nachhaltige, langfristige Perspektive.
({7})
- Wenn Sie dazu etwas fragen wollen, dann wäre ich bereit, die Frage zuzulassen.
Herr Grindel, bitte sehr.
Darf ich noch sagen, ob ich die Frage zulasse?
Sie haben es schon von sich aus gesagt, ohne dass ich
Gelegenheit hatte, Sie zu fragen.
Ich kann nur sagen: Die Wahrheit ist konkret, Genosse.
({0})
Können Sie bestätigen, dass wir - und zwar nicht in der
letzten, sondern in dieser Legislaturperiode - im Rahmen des Zuwanderungsänderungsgesetzes als Union
bereit waren, uns mit Ihnen auf eine Änderung zu verständigen, nämlich hochqualifizierten jugendlichen Berufsanfängern ohne Vorrangprüfung den Zugang zum
Arbeitsmarkt zu ermöglichen, indem wir die Höchstverdienstgrenze auf 60 000 Euro senken, und dass nicht irgendein Einzelner, sondern die gesamte SPD-Fraktion
nicht bereit war, das zu vereinbaren, und dass es auch
ansonsten zu keiner Änderung bei der Frage des Arbeitsmarktzugangs gekommen ist? Wo waren Ihre Vorschläge, beim Zugang zum Arbeitsmarkt auch nur irgendetwas zu ändern? Stimmen Sie mir zu, dass da mit den
Sozialdemokraten, und zwar wegen des Arbeitsministeriums, keine Änderung zu machen war?
Wenn Sie die Frage in dieser Allgemeinheit stellen,
sage ich: Nein. Es gab maßgebliche Sozialdemokraten
- einige sitzen hier im Raum -, die der gleichen Meinung waren wie Sie und sogar eine weitergehende Herabsetzung der Höchstverdienstgrenze im Auge hatten,
nämlich nicht auf 60 000 Euro, sondern vielleicht auf
45 000 Euro. Das war, wie es in der Politik manchmal
der Fall ist, zu einem bestimmten Zeitpunkt mit einem
Akteur am Tisch nicht machbar.
({0})
Die Zeit ändert sich. Man gewinnt ja auch an Überzeugung. Das ist doch unser Geschäft, Herr Grindel. Wir
müssen für unsere Überzeugungen werben. Wenn wir
bei einem Punkt in der Minderheit sind, dann überzeugen wir die anderen. Jetzt hätten wir dafür, glaube ich,
eine Mehrheit, wenn die CDU an dieser Stelle ihr eigenes Dresdner Programm ernst nähme und sagte: Wir
wollen eine langfristige Steuerung der Zuwanderung;
({1})
wir wollen nicht nur über den kurzfristigen Arbeitskräftebedarf reden.
Ich komme zurück zu dem eigentlichen Thema. Wir
reden über die langfristige Steuerung. Ein Instrument zur
langfristigen Zuwanderungssteuerung muss, verehrte
Kollegin Dağdelen - dies ist ja Ihre erste Legislaturperiode; da kann man noch eine gewisse Lernfähigkeit
voraussetzen -,
({2})
immer auf die Akzeptanz in der eigenen Bevölkerung
Rücksicht nehmen. Sie können doch nicht sagen: Alle
Völker dieser Welt, wenn ihr nach Deutschland wollt,
kommt bitte zu uns! Ob wir 80, 160 oder 240 Millionen
sind, ist uns egal; wir können auch das tragen. - Die Zuwanderung muss - das ist eine gesellschaftliche Erfahrung, nicht nur in Deutschland - von Akzeptanz getragen sein. Sie können einen solchen Gesellschaftsvertrag
nicht überdehnen, sondern müssen darauf achten, dass
die Zuwanderung bei aller Willkommenskultur noch von
der Allgemeinheit, von den Menschen bei uns, von Arbeitslosen und anderen, akzeptiert werden kann. Das ist
ein wesentliches Element.
Der Kriterienkatalog - man kann es auch so nennen,
wenn das Wort „Punkteregelung“ nicht so viel Zustimmung findet - soll für die Frage „Zuwanderung oder
nicht“ folgende Kriterien beinhalten - da stehen wir nicht
allein, sondern das sind die Erfahrungen aus vielen Ländern, die wir in diesem Antrag aufgenommen haben -:
Alter, schulische und berufliche Qualifikation, Berufserfahrung, Familienstand, Sprachkenntnisse, Beziehungen zur Bundesrepublik Deutschland und Herkunftsland.
Außerdem müssten bestimmte Mindestbedingungen erfüllt werden wie gesundheitliche Eignung und die Fähigkeit zur Sicherung des Lebensunterhaltes. Das ist nicht
menschenunwürdig, sondern eine Frage dessen, was unsere Gesellschaft wirklich akzeptieren will und akzeptieren kann.
Die überparteilich besetzte Süssmuth-Kommission
- damit komme ich zu einem Punkt von Ihnen, Herr
Grindel - hatte schon 2001 ausdrücklich davon abgeraten, bei der dauerhaften Zuwanderung den aktuellen Bedarf am Arbeitsmarkt zu berücksichtigen. Die Erfahrungen in den klassischen Einwanderungsländern haben
nämlich gezeigt, dass ein Arbeitsplatzangebot zwar den
Start erleichtert, aber die langfristigen Beschäftigungschancen nicht deutlich erhöht. Sie haben sich
vorhin auf andere Systeme, zum Beispiel aus Kanada,
bezogen. Ich habe selber damals ein Gutachten zu
14 Einwanderungsländern in Auftrag gegeben, unter denen auch Kanada war. Sie haben das System falsch geschildert. Das kanadische Punktesystem, mit dem Fachkräfte ausgewählt werden, richtet sich seit 2003 fast gar
nicht mehr nach dem konkreten Arbeitsmarktbedarf. Das
heißt, ein Arbeitsplatzangebot oder eine Ausbildung in
einem besonders nachgefragten Beruf können in einem
Punktesystem zwar bestimmte Bonuspunkte erbringen;
aber das allein sollte, sagen die Kanadier, nie die langfristige Aufenthaltsperspektive bestimmen.
Kernpunkt einer Zuwanderungssteuerung durch
Punkteregelung ist - da sehen wir allerdings einen Unterschied zwischen der SPD und der FDP -, dass wir den
nach den aufgestellten Kriterien sorgfältig ausgewählten
Einwanderern sofort und ohne Wenn und Aber eine Niederlassungserlaubnis geben, also nicht eine Einwanderung auf Probe. Wenn wir eine offene Gesellschaft sein
wollen und gerade hochqualifizierte Fachkräfte zu uns
holen wollen, dann müssen wir aus vollem Herzen deutlich machen, dass sie und auch ihre Familien bei uns
willkommen sind. Das ist der kleine Unterschied zur
FDP. Machen Sie also die Tür nicht nur einen kleinen
Spalt auf - diese Willkommensgeste reicht nicht aus -,
({3})
sondern machen Sie deutlich, dass diese Menschen bei
uns wirklich willkommen sind und auch eine Niederlassungserlaubnis bekommen.
Das heutige Thema hat auch etwas mit Anerkennung
zu tun. Bei der Frage, in welcher Gesellschaft wir leben
wollen, geht es auch um gesellschaftlich-kulturelle
Komponenten der Zuwanderung. Wir haben beim Werben um die besten Köpfe nur dann eine Chance, wenn
die Rahmenbedingungen stimmen und wenn sich
Deutschland für alle erkennbar als einwanderungsfreundliches und weltoffenes Land präsentiert. Ich habe
ein paar namhafte Zeugen für diese Auffassung, die
nicht im Verdacht stehen, der SPD anzugehören. Professor Klaus Zimmermann, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, hat sich entsprechend geäußert. Professor August-Wilhelm Scheer, Präsident des
Bundesverbandes Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien, ist der Ansicht, dass das Leitbild für die Zuwanderung nach Deutschland künftig die
dauerhafte Niederlassung und Integration sein muss. Nur
dann lohne sich die Investition in Integration, und nur
dann würden die Potenziale des Arbeitsmarktes voll ausgeschöpft. Eine befristete Aufenthaltserlaubnis stellt,
wie ich bereits geschildert habe, kein ausreichendes Signal dar.
Bei diesem Thema gibt es einen weiteren Aspekt. Es
gibt nämlich auch einen Weg in die andere Richtung:
Gut ausgebildete Deutsche mit Einwanderungsgeschichte wollen nicht mehr in unserem Land bleiben und
orientieren sich in Richtung Ausland. Unter der Überschrift „Jung, gut und unerwünscht“ hat der Spiegel in
der letzten Woche über hochqualifizierte türkisch17184
stämmige Akademiker berichtet, die auswandern, weil
sie sich bei uns nicht heimisch und nicht anerkannt fühlen. In dem Artikel wird auch aus einer wissenschaftlichen Befragung unter türkischen und türkisch-stämmigen Akademikern zitiert, von denen knapp drei Viertel in
der Bundesrepublik geboren wurden. Fast 80 Prozent
dieser Befragten bezweifeln danach, dass in Deutschland
eine glaubwürdige Integrationspolitik betrieben wird.
Das muss man zur Kenntnis nehmen. Man mag überrascht sein, und manches ist vielleicht erklärbar. Aber
insgesamt gesehen ist diese Entwicklung nicht sehr erfreulich.
Allein dieses Beispiel zeigt: Es genügt nicht, über Zuwanderung nur gelegentlich wegen eines kurz- oder mittelfristigen Fachkräftebedarfs zu diskutieren und darauf
die Forderung nach einer Punkteregelung zu gründen. Es
genügt generell nicht, Zuwanderung ausschließlich aus
der wirtschaftspolitischen Perspektive zu betrachten. Es
kommen - das haben wir in diesem Hause schon häufig
diskutiert - nicht nur Arbeitskräfte oder, wie es vor
50 Jahren hieß, Gastarbeiter zu uns, sondern es kommen
Menschen mit ihrem eigenen Schicksal und mit ihrem
eigenen kulturellen Hintergrund zu uns. Wenn wir sie
hier aufnehmen wollen, müssen wir ihnen signalisieren,
dass sie willkommen sind. Zuwanderung und Integration
gehören zusammen. Das ist eigentlich eine selbstverständliche Erkenntnis. Aber wir leben das noch nicht.
Herr Grindel, die Initiative „Nationaler Integrationsplan“ ist sicherlich erfreulich und stellt einen enormen
Fortschritt dar; das wird von uns anerkannt. Auch die
Tatsache, dass inzwischen 90 Prozent der Anhänger von
CDU und CSU Deutschland zu einem Einwanderungsland erklären, ist erfreulich. Es bleiben zwar noch
10 Prozent, die anderer Meinung sind.
({4})
Aber das ist immerhin ein Fortschritt. Es hat sich schon
etwas bewegt.
An dieser Stelle gilt es weiterzuarbeiten. Politik allein
kann Integration und Zuwanderung nicht zusammenbringen. Das ist zum Teil eine gesellschaftliche Aufgabe; auch darauf habe ich an dieser Stelle schon verschiedentlich hingewiesen. Für mich ist dieses Problem
also nicht allein von Staats wegen zu lösen. Der Nationale Integrationsplan geht zu Recht davon aus, dass die
Bürgergesellschaft gefordert ist. Zuwanderung und Integration finden in der Gesellschaft statt, also vor Ort, beispielsweise in der Feuerwehr, in den Sportvereinen, in
der Polizei und im öffentlichen Dienst. Aber wir müssen
es leben. Das ist eine Aufgabe der Bürgergesellschaft.
Der Staat kann ein gedeihliches Zusammenleben der
verschiedenen Bevölkerungsgruppen nicht dekretieren.
Er kann allenfalls fördern, was er zur Integration für nötig hält. Da tun wir sehr viel. Dann muss aber Integration
- das ist, wie ich finde, eine Generationenaufgabe - aus
der Mitte der Gesellschaft wachsen. Insoweit hat die
Bundesregierung auch an anderer Stelle Gutes bewirkt.
Die Initiative Zivil-Engagement ist durchaus förderlich
und integrationsunterstützend.
In Zukunft - das ist mein Schlusswort - müssen wir
aus meiner Sicht viel stärker darauf achten, dass die Themen Zuwanderung und Integration zusammen betrachtet
werden und daraus eine Gesamtperspektive wird. Daran
sollte sich unsere Politik ausrichten. Sie sollte längerfristig denken und dann die Möglichkeiten ausschöpfen, die
wir mit einer Zugangsregelung haben. Niemand muss
befürchten, dass jedes Jahr Millionen Menschen zu uns
kommen. Wer die Regelung in § 20 des Entwurfs eines
Zuwanderungsgesetzes von 2001 richtig gelesen hat,
weiß, dass eine Beschränkungsregelung vorgesehen war:
Das Auswahlverfahren wird nur durchgeführt,
wenn das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
und die Bundesanstalt für Arbeit nach Beteiligung
des Zuwanderungsrates … gemeinsam eine Höchstzahl für die Zuwanderung im Auswahlverfahren
festgesetzt haben.
Das kann auch heißen, dass man für ein Jahr einmal eine
Zulassung von null festlegt. Auch das ist möglich.
Dies ist also ein Thema, das gesamtgesellschaftlich zu
betrachten ist. Ich stelle heute fest: Es hat ein wenig mit
der Ampel zu tun: Rot ist der Meinung, dieser Weg ist
der richtige.
({5})
Auch Grün ist dieser Meinung. Wenn auch Gelb dieser
Meinung ist, dann haben wir an dieser Stelle schon einmal in guten Teilen des Hauses eine Übereinkunft. Da
werden wir die CDU/CSU gerne noch mit hineinnehmen.
Danke schön.
({6})
Nächster Redner ist der Kollege Josef Philip Winkler
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen
und Kollegen! Ich will eingangs etwas zu Frau Dağdelen
von der Linksfraktion sagen. Die Art und Weise der
Auseinandersetzung in dieser Frage passt mir überhaupt
nicht.
({0})
Das war völlig unter Niveau. Ich bin gerne bereit, dem
Kollegen Wolff von der FDP und seiner Fraktion alles
Mögliche regelmäßig und von mir aus auch wöchentlich
von diesem Pult vorzuwerfen. Aber ihm, weil er ein Zuwanderungspunktesystem fordert und dies wie in dem
vorliegenden Antrag begründet, vorzuwerfen, er und
seine Fraktion verhielten sich menschenverachtend, ist
unter aller Kanone. Das ist meiner Meinung nach unparlamentarisch.
({1})
Die Einordnung in die neoliberale Einheitsfront verblasst dagegen. Das perlt an mir wirkungslos ab; das
muss ich aushalten.
({2})
Jetzt zur Koalition. Das Theater, das Sie hier in regelmäßigen Abständen veranstalten, ist allerdings auch
nicht erheiternd, jedenfalls nicht für diejenigen, die damit regelmäßig zu tun haben müssen wie wir. Sie stocken Ihre Redezeit, die sowieso schon zwei Drittel einer
Debatte ausmacht, noch durch wechselseitige Gegenfragen auf vier Fünftel auf und unterhalten sich dann über
die Interna Ihrer Verhandlungsrunden und darüber, welcher Staatssekretär wegen welcher dummen Bemerkungen und wegen welcher Sitzung, in die er hineinplatzte,
abgesägt wurde oder nicht. Das alles wollen wir gar
nicht wissen.
({3})
Schicken Sie uns - Sie werden sich sowieso nicht einig doch in Zukunft einfach direkt die Protokolle Ihrer internen Koalitionsgespräche.
({4})
Dann können wir uns das hier im Plenum ersparen.
({5})
Aber jetzt zum Thema Punktesystem. Ich will einmal
den Kollegen Dr. Uhl - er ist gerade verhindert; er war
eben noch im Haus - zitieren. Wir wissen ja aus der Debatte, dass die Union, zumindest der CDU-Part der
Unionsparteien, ein solches bereits auf einem Bundesparteitag beschlossen hatte. Er allerdings - nun von der
CSU - hält dieses Punktesystem für „Sozialismus, Planwirtschaft“.
({6})
Wörtliches Zitat:
Das wäre die „freie Flutung“ des Arbeitsmarktes,
eine faktische Aufhebung des Aufnahmestopps von
1972.
So hat er sich im August letzten Jahres in der Welt zitieren lassen.
Dazu muss ich sagen: Das ist genauso sachlich wie
das, was wir heute von der Linksfraktion gehört haben.
Man sollte sich in der Debatte nicht auf dieses Niveau
herablassen.
({7})
In einigen Studien wird bezweifelt, dass es einen Arbeitskräftemangel gibt. Eine Vielzahl von Studien und
vor allem eine Vielzahl der Stimmen aus den Wirtschaftsverbänden - heute wieder, also ganz aktuell, aus
dem Bereich der IT-Industrie - belegen aber, dass es einen Fachkräftemangel gibt, und zwar bei den Hochqualifizierten.
({8})
Dem muss entgegengewirkt werden. Die geltenden
rechtlichen Normen helfen offensichtlich nicht; denn
sonst gäbe es diese Hilferufe nicht.
({9})
Die helfen nicht - ich sage es Ihnen -, weil auch ausgewandert wird. Sie elaborieren über die 60 000 bis 70 000
Menschen, die einwandern. Bei dieser Sache kommt es
aber auf den Saldo an. In den zurückliegenden Jahren
mussten wir immer wieder feststellen, dass der Saldo
entweder gleich Null war bzw. ins Negative abzugleiten
drohte. Angesichts dessen kann man doch nicht sagen:
Die Rechtslage ist völlig in Ordnung; die müssten sich
alle nur ein bisschen schlauer anstellen.
({10})
Nein, an dieser Stelle muss man nacharbeiten.
({11})
Mich würde auch interessieren, was das Wirtschaftsministerium dazu zu sagen hat und nicht nur die Abschottungsfuzzis vom Innenausschuss. Das ist eine Frage, die
in den Bereich der Wirtschaftspolitik gehört.
({12})
- Ich habe überwiegend in Richtung dieser Hälfte des
Hauses geschaut. Ich meinte nicht die FDP. Da hier die
Frage aufkam, wen ich damit meine, möchte ich Ihnen
diesen Tipp mit auf den Weg geben.
Wenn man über das Punktesystem debattiert, sollte
man sich genau informieren. Der Innenausschuss hat
sich in Kanada und Australien kundig gemacht. Das war
sehr interessant. Dort wird zwischen dem Bereich der
Flüchtlingspolitik - wir sind da für eine humanitäre Politik; das ist heute nicht mein Thema, man muss das völlig
voneinander trennen - und dem Bereich des Arbeitsmarktzugangs und der Zuwanderung in den Arbeitsmarkt sehr genau unterschieden. Das sind zwei unterschiedliche Bereiche. Dass die Linksfraktion das lieber
durcheinanderwirbeln würde, ist zwar in Ordnung,
({13})
hier liegt aber etwas anderes auf dem Tisch. In Kanada,
Australien, Neuseeland und in Großbritannien, wo es
dieses System auch schon einmal gab, ist es nicht so, wie
Herr Grindel gesagt hat. Die Einheimischen werden
nicht mit 50 Jahren auf das Altenteil geschoben und von
jungen, dynamischen und erfolgreichen Ausländern verdrängt. Nein, das ist nicht so, es war nicht so, und es
würde auch in Deutschland nicht so sein, wenn wir ein
Punktesystem einführen würden.
({14})
Zu beachten ist allerdings der sogenannte Braindrain,
das Ausbluten von Entwicklungsländern. Diesen Aspekt
könnte man in ein Punktesystem einbauen. Der Vorschlag der FDP enthält eine entsprechende Regelung
zwar nicht, da wir aber vor den Ausschussberatungen
stehen, können wir an diesem System weiterarbeiten.
Natürlich kann man nicht akzeptieren, dass in Großbritannien mehr Ärzte und Krankenschwestern arbeiten, die
in den Universitäten von Malawi ausgebildet wurden, als
in Malawi selbst, also in Afrika. Das ist inakzeptabel.
Die Zuwanderungspolitik der Länder, die diese Ärzte
und Krankenschwestern aufgenommen haben, ist nicht
korrekt. Man könnte ein Malussystem für die Schwellenund Entwicklungsländer einführen, die selbst einen
Mangel an solchen Arbeitskräften haben. Man könnte
Minuspunkte vergeben, sodass Zuwanderung aus diesen
Ländern faktisch nicht gegeben wäre.
({15})
Man muss aufpassen, dass es nicht zum Braindrain
kommt, auch wenn ein Braindrain in Ländern wie Indien
nicht festgestellt wird. Indien ist aber auch kein klassisches Entwicklungsland.
Ich komme noch einmal auf den Antrag der FDP zu
sprechen. Ich bedauere - wir haben darüber an anderer
Stelle schon einmal diskutiert -, dass der Bundestag und
der Bundesrat entsprechend Ihrem Vorschlag nicht über
diese Punkte debattieren sollen. Sie wollen das an ein
unabhängiges, wie auch immer geartetes Gremium abgeben. Dieses Gremium soll entscheiden. Ich finde, diese
Frage ist politisch so brisant, dass sie in der Politik debattiert werden sollte. Über diese Frage sollte, wie es in
den alten Systemen, über die wir in diesem Haus schon
debattiert haben, vorgesehen war, von der Politik entschieden werden, und zwar einvernehmlich mit den Ländern, am besten jährlich. Dafür müssten wir eigentlich
die Kraft haben. Wenn es nach uns ginge, würde das
Punktesystem unter dieser Maßgabe eingeführt werden
und nicht die Form haben, die die FDP vorgeschlagen
hat.
Ich hoffe, dass wir darüber konstruktiv diskutieren
können.
({16})
Ich bitte darum, dass sich die Koalitionsfraktionen dieses Mal vor der Ausschusssitzung darüber abstimmen,
was im Ausschuss besprochen werden soll.
({17})
Das Wort hat der Kollege Stephan Mayer von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine werten Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Es ist doch vollkommen unstreitig, dass wir in manchen Branchen, in manchen
Wirtschaftszweigen in Deutschland einen Fachkräftemangel haben. Aber - dies gehört zur gesamten Wahrheit - wir haben in Deutschland auch arbeitslose Fachkräfte. Stand Mai 2008, durch die Bundesagentur für
Arbeit festgestellt: Es gibt in Deutschland beispielsweise
22 075 arbeitslose deutsche Ingenieure, 3 925 arbeitslose Chemiker und Physiker und allein 19 018 arbeitslose Techniker. Dieses Problem muss man im Gesamtkontext genauso berücksichtigen wie die Notwendigkeit,
dass wir singulär und selektiv in manchen Branchen, in
manchen Wirtschaftszweigen mit Sicherheit einen Fachkräftemangel haben und in der Zukunft - das möchte ich
durchaus konstatieren - vielleicht einen noch größeren
Fachkräftemangel bekommen.
Aber - auch dies gehört zur Wahrheit - wir haben im
Jahr einen Aderlass von über 100 000 deutschen Fachkräften, die Deutschland verlassen.
({0})
Werter Kollege Wolff, es kann doch wohl nicht mit dem
deutschen Ausländer- und Zuwanderungsrecht zusammenhängen, dass deutsche Fachkräfte den Standort
Deutschland offenbar für nicht mehr attraktiv genug halten und ins Ausland abwandern.
({1})
Die Große Koalition hat in der Vergangenheit einiges
Sinnvolles und Sachgerechtes vorangebracht, um unser
Zuwanderungsrecht moderner und flexibler zu gestalten.
Insbesondere die Bundesregierung hat durch die Beschlüsse von Meseberg im vergangenen Sommer einiges
getan, um ein flexibleres, moderneres System auf die
Beine zu stellen.
So ist es zum Beispiel einem High Potential, einem
Hoch- oder Höchstqualifizierten, der in Deutschland
mehr als 85 500 Euro pro Jahr verdient und aus einem
Nicht-EU-Land kommt, möglich, ohne individuelle Vorrangprüfung einen Arbeitsplatz in Deutschland zu bekommen und sogar eine Premiumbehandlung angediehen zu bekommen, also eine Niederlassungserlaubnis
und eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis ausgestellt zu
bekommen. Das heißt, für denjenigen, der mehr als
85 500 Euro pro Jahr verdient, gibt es keine individuelle
Vorrangprüfung. Er bekommt eine Niederlassungserlaubnis, das heißt, er kann sich unbefristet, dauerhaft in
Deutschland zur Arbeitsaufnahme aufhalten.
Auch für diejenigen, die weniger als 85 500 Euro pro
Jahr verdienen, gibt es durchaus Möglichkeiten, zum
Beispiel auch für EU-Ausländer, die aus den zwölf
neuen EU-Ländern stammen. Wenn die Arbeitsmarktprüfung der Bundesagentur für Arbeit zu dem Ergebnis
kommt, dass ganz konkret ein Arbeitskräftebedarf vorliegt, werden sie gegenüber Drittstaatlern bevorzugt. Ich
muss sagen, dass ich die Wirtschaft in der Verpflichtung
sehe. Wenn es sich wirklich um Hoch- oder Höchstqualifizierte handelt, dann muss natürlich auch ein Gehalt
Stephan Mayer ({2})
gezahlt werden, das diesem Status entspricht; sprich:
mehr als 85 500 Euro.
({3})
Leider Gottes wird auch Folgendes in der Praxis zu
wenig angewandt: Wenn in bestimmten Wirtschaftszweigen, in bestimmten Berufsgruppen ein Arbeitskräftebedarf besteht, gibt es für diejenigen, die weniger
verdienen, die Möglichkeit, dass ganz sektoral Ausnahmeregelungen vorgenommen werden. Nach § 39 Abs. 2
Satz 1 Nr. 2 des Aufenthaltsgesetzes kann die Bundesagentur für Arbeit oder die entsprechende Regionaldirektion, wenn regionalbezogen ein Arbeitskräftebedarf
besteht, die Genehmigung erteilen, dass schon unterhalb
der Einkommensschwelle von 85 500 Euro auf die individuelle Vorrangprüfung verzichtet wird und für NichtEU-Ausländer die Einreise nach Deutschland erlaubt
und natürlich auch die Arbeitsaufnahme ermöglicht
wird.
Herr Kollege Mayer, erlauben Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Wolff?
Selbstverständlich, sehr gerne.
Bitte schön, Herr Wolff.
Herr Kollege Mayer, Sie haben jetzt aufgezählt, was
alles schon hervorragend funktioniert. Mich wundert,
weshalb nicht nur hier im Hause, sondern auch von der
gesamten Wirtschaft, vielen Verbänden und unter anderem auch den Gewerkschaften ein Punktesystem gefordert wird, das deutlich unbürokratischer und einfacher
gestaltet ist. Ich habe den Eindruck - Sie müssen mir sagen, ob das stimmt -, dass Sie behaupten, dass die Forderungen, die Sie jetzt darstellen, nicht reichen. Die
Stimmung in der Bevölkerung ist eine andere. Oder sehen Sie das anders?
({0})
Werter Herr Kollege Wolff, weshalb die Gewerkschaften oder Wirtschaftsverbände eine bestimmte Position haben, dürfen Sie nicht mich fragen, sondern das
müssen Sie die jeweiligen Organisationen und Verbände
fragen. Ich glaube, es gilt, mit einem Vorurteil und einer
sich nachhaltig verfestigenden Meinung aufzuräumen,
nämlich dass wir allein durch eine verstärkte, ungesteuerte und schrankenlose Zuwanderung nach Deutschland
den durchaus sektoral vorhandenen Fachkräftemangel in
Deutschland beheben könnten.
({0})
Das Gegenteil ist der Fall.
Warum das Punktesystem, das Sie mit diesem Antrag
wieder zur Diskussion stellen, so ungeeignet ist, möchte
ich Ihnen, sehr geehrter Herr Wolff, sehr gerne darlegen.
Dieses Punktesystem ist vollkommen überaltert, überzogen bürokratisch,
({1})
kompliziert und vor allem außerordentlich schwerfällig.
Mich wundert wirklich, dass gerade von einer Partei wie
der FDP,
({2})
die sich immer als Vorkämpfer für Verwaltungsvereinfachung und Entbürokratisierung geriert, ein Punktesystem favorisiert wird, mit dem genau das Gegenteil dessen erreicht wird.
Es müssen verschiedene Kriterien festgelegt werden:
({3})
Aus welchem Land kommt der Betreffende? Hat er
Deutschkenntnisse? Wie ist sein Bildungsstand? Welche
Berufserfahrungen hat er? Wie sind seine Beziehungen
zu Deutschland?
({4})
Diese Kriterien wollen Sie von Sachverständigen
überprüfen und in regelmäßigen Abständen evaluieren
lassen. Außerdem wollen Sie, dass diese Kriterien
jeweils noch auf die Ebene der einzelnen Länder heruntergezoomt werden. Darüber hinaus sind Sie der Auffassung, dass eine regelmäßige Überprüfung der zur
Anwendung kommenden Kriterien und der Mindestpunktwerte, die erreicht werden müssen, stattfinden
sollte. Ich glaube, jedem, der sich diese Litanei bürokratischer Anforderungen vor Augen hält, leuchtet sehr
schnell ein, dass dieses System außerordentlich starr, unflexibel, unheimlich kompliziert und deswegen in jeder
Weise überaltert und anachronistisch ist.
({5})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, mittlerweile haben wir ein außerordentlich flexibles und modernes Zuwanderungsrecht. Ich möchte nur daran erinnern, dass die Bundesregierung in Meseberg den
Beschluss gefasst hat, dass Ingenieure, auch Nicht-EUAusländer, die in den Bereichen arbeiten, in denen der
Fachkräftemangel außerordentlich groß ist - in der Elektroindustrie, im Fahrzeugbau und im Maschinenbau -,
ab dem 1. November vergangenen Jahres eine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis in Deutschland bekommen
können, auch unter Verzicht auf eine individuelle Vorrangprüfung.
({6})
Stephan Mayer ({7})
Die Bundesregierung reagiert also auf den sektoral vorhandenen Fachkräftemangel.
Es gibt einen weiteren Kritikpunkt am FDP-Antrag:
Sie erwarten, dass Hoch- und Höchstqualifizierte - wenn
es nach Ihnen ginge, dürften sie sogar ohne konkreten
Arbeitsplatznachweis nach Deutschland einreisen - über
Deutschkenntnisse verfügen, die lediglich dem Niveau
B1 entsprechen. Das ist wirklich zu wenig. Dieses Niveau soll in Deutschkursen schon nach 600 Unterrichtsstunden erreicht werden. Dass Deutschkenntnisse auf
diesem Niveau in keiner Weise ausreichend sind, um einer Berufstätigkeit nachzugehen, die der eines Hochoder Höchstqualifizierten entspricht,
({8})
leuchtet meines Erachtens jedem Verständigen ein.
({9})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte
konstatieren, dass im Antrag der FDP gewisse Ansätze
enthalten sind, die in die richtige Richtung gehen. Ich
bin Ihnen, Herr Kollege Wolff, beispielsweise dankbar,
dass Sie in Ihrem Antrag deutlich machen, dass das Heft
des Handelns, was die Kompetenz zur Regelung der Zuwanderung in den nationalen Arbeitsmarkt betrifft, weiterhin in der Hand der Mitgliedsländer der Europäischen
Union bleiben muss. Es darf nicht sein, dass die Europäische Kommission oder die Europäische Union insgesamt darüber befindet, nach welchen Kriterien in den
deutschen Arbeitsmarkt eingereist werden darf.
Wir haben zwar eine Europäische Union, aber wir haben 27 verschiedene Arbeitsmärkte in der Europäischen
Union mit ganz unterschiedlichen Problemen und ganz
unterschiedlichen Herausforderungen. Deswegen ist es
richtig, dass der Deutsche Bundestag Wert darauf legt
und klar zum Ausdruck bringt, dass wir weiterhin als nationaler Gesetzgeber darüber befinden wollen, nach welchen Kriterien und aufgrund welcher Regelungen in den
deutschen Arbeitsmarkt eingereist werden darf.
Des Weiteren bin ich Ihnen dankbar, dass Sie in Ihrem
Antrag zum Ausdruck gebracht haben, dass es wichtig
ist, das Thema der Vereinbarkeit von Familie und Arbeitstätigkeit stärker in den Fokus der Öffentlichkeit zu
rücken. Was mich aber wundert, sehr geehrter Herr Kollege Wolff: Von den sieben Forderungen, die Sie als
Schlussfolgerungen in Ihrem Antrag formulieren, betrifft
nur eine einzige das Punktesystem,
({10})
während die sechs anderen Forderungen ganz andere
Themen zum Inhalt haben.
({11})
Sie haben durchaus richtige Aspekte aufgegriffen,
beispielsweise die Verbesserung der Vereinbarkeit von
Beruf und Kindererziehung. Dafür hat die Bundesregierung bereits einiges getan. Als Beispiele nenne ich den
verstärkten Ausbau der Kindertagesstätten und die Verbesserung der Beschäftigung älterer und erfahrener
Fachkräfte.
Ein wesentlicher Punkt ist: Es darf nicht sein, das jemand mit 50 oder 55 Jahren zum alten Eisen gehört und
abgeschoben wird. Gerade angesichts der demografischen Entwicklung in Deutschland - sie findet allerdings
nicht nur in Deutschland, sondern europaweit statt brauchen wir auch weiterhin das wertvolle Know-how
der älteren Bevölkerung und der älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
({12})
Ich bin Ihnen dankbar, sehr geehrter Herr Wolff, dass
Sie auch deutlich gemacht haben, dass wir keine ungesteuerte Zuwanderung in die sozialen Sicherungssysteme wollen. In diesem Zusammenhang ist für mich ein
Punkt auch ganz wesentlich: Ich habe zum Ausdruck gebracht, dass die Europäische Union mit ihrer BluecardRichtlinie vom 23. Oktober letzten Jahres durchaus in
die richtige Richtung geht, weil dort ganz klar festgeschrieben ist, dass die Nationalstaaten weiterhin selbst
entscheiden können, wenn es darum geht, festzulegen,
wer in den nationalen Arbeitsmarkt einreisen darf und
wer nicht.
Ich finde es aber nicht richtig - ich glaube, es gilt,
dies an dieser Stelle auch noch einmal zum Ausdruck zu
bringen -, dass, wenn es nach der Europäischen Union
geht, jemand Hoch- oder Höchstqualifizierter schon
dann ist, wenn er lediglich das Dreifache des Mindestlohns des jeweiligen Landes verdient. Das kann nun
wirklich nicht sein. Man ist nicht schon dann Hoch- oder
Höchstqualifizierter, wenn man das Dreifache des Mindestlohns oder des Sozialhilfesatzes verdient. Vielmehr
muss, wenn es sich wirklich um einen Hoch- oder
Höchstqualifizierten handelt, dann das Einkommen
weitaus höher liegen.
Insoweit, meine sehr verehrten Damen und Herren,
darf ich festhalten: Der Antrag ist vollkommen überaltert
und anachronistisch, weil die Problematik, die wir in
Deutschland haben, durch das Punktesystem nicht gelöst
wird. Ich bin der FDP aber dankbar, dass sie dieses
Thema hier jetzt wieder zur Sprache gebracht und zur
Diskussion gestellt hat. Wir müssen uns als nationales
Parlament mit Sicherheit weiterhin und dauerhaft intensiv mit dem wichtigen Thema der Förderung von Hochund Höchstqualifizierten in Deutschland auseinandersetzen.
Ich sehe hier - das sage ich zum Abschluss - durchaus auch die Wirtschaft in der Verantwortung.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Herr Präsident, ich komme zum Schluss. - Meine
letzte Bemerkung: Es kann nicht sein, dass die Wirtschaft hier immer nur danach ruft, dass die Schleusen
Stephan Mayer ({0})
aufgemacht werden. Ich sehe die Wirtschaft auch ganz
klar in der Verantwortung, noch mehr für die Ausbildung
und Förderung von jungen Hoch- und Höchstqualifizierten zu tun.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({1})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
der Kollege Sebastian Edathy von der SPD-Fraktion das
Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich glaube, der Kollege Mayer ist ein sehr langer, wenn vielleicht auch nicht großer Abgeordneter.
Deswegen wäre es ganz hilfreich, das Pult noch ein bisschen nach unten zu fahren.
({0})
- Jedenfalls nicht ganz so lang.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben in der
heutigen Debatte durchaus gemeinsam feststellen können, dass das Thema, das die FDP-Fraktion in ihrem Antrag aufgreift, in der Tat behandlungsbedürftig ist. Der
Ansatz der FDP-Fraktion ist vom Grundgedanken her
durchaus zu begrüßen. Es soll eine Antwort auf die
Schwierigkeiten gegeben werden, die wir auf dem deutschen Arbeitsmarkt perspektivisch noch viel stärker als
bisher erleben werden.
Selbst bei mehr Ausbildung im Inland - das müssen
wir auch tun - werden wir allein aufgrund der demografischen Entwicklung zukünftig stärker darauf angewiesen sein, Zuwanderung auch mit Blick auf die Arbeitsmigration zu gestalten. Da ist noch ein Wort an Frau
Dağdelen zu richten: Es macht überhaupt keinen Sinn,
alles, was Migration betrifft, in einen Kochtopf zu werfen. Wir müssen schon zwischen der Aufnahme von
Flüchtlingen und der Aufnahme von Menschen, die als
Arbeitsmigranten zu uns kommen wollen und auch sollen, unterscheiden.
({1})
Mit diesen Menschen müssen wir auch vernünftig,
fair und angemessen umgehen.
An dem Vorschlag der FDP-Fraktion gefällt mir gut,
dass gesagt wird: Lasst uns doch ein System entwickeln,
bei dem man schauen kann, welche Menschen besonders
integrationsfähig sind, welche Menschen eine gute Qualifikation vorzuweisen haben und welche Menschen sich
hier etablieren und auch eigenständig leben können, sodass sie hier in Deutschland zum wirtschaftlichen Gewinn beitragen.
Ich glaube aber, dass man zwei Punkte stärker berücksichtigen muss: Zum einen muss die Wirtschaft in
der Tat in die Verantwortung genommen werden. Dort,
wo es Defizite im Inland gibt, müssen sie ausgeglichen
werden, und sie muss ein Mehr an Ausbildung und Weiterqualifizierung gewährleisten. Zum anderen muss geprüft werden, in welchen spezifischen Bereichen - das
werden in den nächsten Jahren eher die Hoch- als die
Mittelqualifizierten sein - es einen Bedarf gibt. Das
muss dann als Grundlage für entsprechende Zahlen genommen werden.
Ich muss auch dazu sagen, dass keine beliebige Zuwanderung von Hoch- und Höchstqualifizierten, sondern
eine arbeitsmarktbezogene Zuwanderung ermöglicht
und reguliert werden sollte. Lieber Kollege Wolff und
liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP-Fraktion,
bei dieser Zuwanderung muss aber zwingend sichergestellt werden, dass nicht der Fehler wiederholt wird, der
in den 60er- und 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts
prägend war, als Arbeitsmigration als Migration auf Zeit
behandelt und so getan wurde, als ob die Menschen, die
zu uns kommen, Gäste sind.
In dem Antrag der FDP steht, dass sie erst einmal sozusagen ein Bleiberecht auf Probe erhalten; danach wird
geschaut, wie sie sich hier zurechtfinden. Ich glaube, das
ist der falsche Ansatz. Wer uns gut genug dafür ist, in
Deutschland arbeiten zu dürfen, der muss uns auch als
Nachbar herzlich willkommen sein. Es kann keine Art
Probemitgliedschaft in der deutschen Gesellschaft geben.
({2})
Es ist, glaube ich, nicht unbedingt realitätsnah, wenn
man damit den Gedanken verbindet, dass jeder, der als
hoch- oder höchstqualifizierter Arbeitsmigrant oder Arbeitsmigrantin nach Deutschland kommen kann, dafür
dankbar sein sollte. Wir haben internationale Arbeitsmärkte. Es gibt Länder wie Großbritannien und die
USA, die zu ihrem eigenen wirtschaftlichen Nutzen - das
ist auch völlig berechtigt und nachvollziehbar - Menschen aus Drittstaaten anwerben, die über eine gute Qualifikation verfügen. Diese Menschen suchen sich aus, wo
sie hingehen. Wenn sie die Alternative haben, entweder
mit einem unbeschränkten Aufenthaltsrecht nach London zu gehen oder mit einem auf zwei Jahre beschränkten Aufenthaltsrecht nach Deutschland zu gehen und
hier vielleicht noch wegen eines möglichen Erfordernisses an Sprachkenntnissen bangen müssen, ob der Ehepartner mitkommen darf, dann sind die deutschen Bedingungen wenig attraktiv, zeitgemäß und realitätsnah.
Ich hoffe, dass wir es wie schon in den letzten Jahren
schaffen, diese Frage stärker zu entideologisieren und an
den Realitäten und Notwendigkeiten zu orientieren. Ein
Punkt, der fraktionsübergreifend nicht bestritten werden
kann, ist, dass die im Bereich der Arbeitsmigration bestehenden Prozesse zu bürokratisch sind. Sie sind auch
nicht so gestaltet, dass sie eine angemessene Antwort auf
die demografischen Veränderungen der nächsten fünf bis
zehn Jahre geben.
Deswegen geht es jetzt nicht darum, etwas übers Knie
zu brechen; wir sollten uns vielmehr sehr sorgfältig und
intensiv mit der Thematik beschäftigen. Dass es Änderungsbedarf gibt, wird niemand bestreiten können, am
allerwenigsten die SPD-Fraktion.
Vielen Dank.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/8492 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b auf:
a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Förderung von Kindern unter
drei Jahren in Tageseinrichtungen und in der
Kindertagespflege ({0})
- Drucksache 16/9299 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({1})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Diana
Golze, Klaus Ernst, Dr. Martina Bunge, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Öffentliche Kinderbetreuung ausbauen Kommerzialisierung der Kinder- und Jugendhilfe vermeiden
- Drucksache 16/9305 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({2})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Hermann
Kues von der Bundesregierung das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen!
Mit dem Kinderförderungsgesetz machen wir den Weg
frei für einen bedarfsgerechten und qualitativ hochwertigen Ausbau der Kindertagesbetreuung in Deutschland.
Es geht um beides: bedarfsgerecht und qualitativ hochwertig. Das gemeinsame Ziel von Bund, Ländern und
Kommunen, bis zum Jahr 2013 für jedes dritte Kind unter drei einen Betreuungsplatz zu schaffen, rückt damit
immer näher.
Das Gesetz wird unser Land mit Sicherheit spürbar
verändern. Eine gute Vereinbarkeit von Familie und Beruf und Chancengleichheit für Kinder von Anfang an
sind nicht mehr nur Wunsch, sondern werden Wirklichkeit.
({0})
Ein Blick auf die Situation in vielen westdeutschen
Bundesländern zeigt, dass nur jedes zehnte Kind dort einen Betreuungsplatz findet. Das ist sehr weit von dem
entfernt, was junge Familien brauchen, wollen und mittlerweile auch einfordern. Die Finanzierung des Ausbaus
steht mit dem Kinderförderungsgesetz auf einer soliden
Basis. Es ist klar, dass sich der Bund mit 4 Milliarden
Euro und damit zu einem Drittel an den Kosten des Ausbaus beteiligt. Das ist ein gewaltiger Aufwand. Die Beteiligung des Bundes an den Investitionskosten haben
wir durch das Sondervermögen in Höhe von 2,5 Milliarden Euro bereits im vergangenen Jahr sichergestellt.
Mit dem Kinderförderungsgesetz regeln wir nun die
Beteiligung des Bundes an den Betriebskosten. Die Länder
erhalten durch eine Änderung des Finanzausgleichsgesetzes für die Jahre 2009 bis 2013 insgesamt 1,85 Milliarden
Euro und anschließend dauerhaft jährlich 770 Millionen
Euro als Entlastung für die Finanzierung der Betriebskosten.
({1})
Schon jetzt haben, wie jeder von uns feststellen kann,
viele Kommunen mit dem Ausbau begonnen. Wichtig
ist: Wir setzen nicht nur allgemein auf den Ausbau, sondern wir setzen auch auf Qualität. Denn wir wissen: Je
jünger die Kinder sind, desto besser muss die Qualität
der Erziehung sein.
Viele Eltern brauchen eine flexible Kinderbetreuung,
wünschen sich für ihre Kinder aber auch eine familiennahe Atmosphäre. Gerade das ist die Stärke der Kindertagespflege. Deswegen wollen wir 30 Prozent der Plätze
durch die Tagespflege, also durch Tagesmütter und
Tagesväter, abdecken. Das bedeutet für die Kindertagespflege ein deutlich professionelleres Profil und eine
leistungsgerechte Vergütung für Tagesmütter und Tagesväter.
Unser Ziel - das sage ich noch einmal - sind Betreuungsplätze auf höchstem qualitativem Niveau.
({2})
Wir haben mit dem Kinderförderungsgesetz im Vergleich zum TAG erweiterte, objektiv rechtliche Verpflichtungen für die Bereitstellung von Plätzen eingeführt. Wir wollen, dass Kinder gefördert und in ihrer
persönlichen Entwicklung gestärkt werden; denn damit
schaffen wir den Rahmen für echte Chancengleichheit.
Jeder hat Anspruch auf eine faire Chance.
({3})
Darüber hinaus werden wir verstärkt Plätze für Kinder schaffen, deren Eltern Arbeit suchen. Das ist gerade
für Alleinerziehende wichtig; denn Arbeit ist das beste
Mittel gegen Kinderarmut.
({4})
Deswegen stellt das Kinderförderungsgesetz sicher, dass
alle Träger von Einrichtungen, solange sie die fachlichen
und rechtlichen Voraussetzungen erfüllen, bei der Finanzierung gleich behandelt werden. So können wir zum
Beispiel das Engagement von Unternehmen, die Betriebskitas einrichten, oder anderer privater Anbieter einbeziehen.
({5})
Aber ich will noch einmal ganz deutlich sagen: Nur
wenn die fachlichen und rechtlichen Voraussetzungen
erfüllt sind, dürfen die Länder privatgewerbliche Anbieter gleichstellen.
({6})
Das heißt, gleich hohe qualitative Standards für alle.
Ich sage an dieser Stelle auch: Wir betreten damit
kein Neuland. Viele Länder beziehen privatgewerbliche
Anbieter bereits jetzt in die Förderung ein. Die Qualität
der Betreuungsangebote, etwa in Bayern oder in Brandenburg,
({7})
hat bislang nicht darunter gelitten.
({8})
Ganz im Gegenteil: Ich bin fest davon überzeugt, dass
Wettbewerb die Qualität der Betreuung weiter steigen
lässt.
({9})
Beim Ausbau der Kindertagesbetreuung ging es uns
stets um Wahlfreiheit: Wahlfreiheit bei der Wahl der Einrichtung, aber auch um Wahlfreiheit der jungen Eltern.
Deswegen - auch das sage ich an dieser Stelle - wird es
ab 2013 nach Ende der Ausbauphase sowohl einen
Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz als auch die
Einführung eines noch zu definierenden Betreuungsgeldes geben.
({10})
Das Kinderförderungsgesetz ist der letzte Baustein
für den Ausbau des Betreuungsangebotes. Wir schaffen
damit den Anschluss an die familienpolitisch erfolgreichen Länder. Das sind meiner Meinung nach historische
Schritte für die frühe Förderung von Kindern. Das sind
historische Schritte für eine bessere Vereinbarkeit von
Familie und Beruf.
Ich danke dem Parlament für die gewährte Unterstützung.
({11})
Das Wort hat die Kollegin Ina Lenke von der FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kues
hat sehr gut vorgetragen, was in der Präambel des Kinderförderungsgesetzes steht:
Eltern und Kinder benötigen aufgrund ihrer unterschiedlichen Lebenssituationen und Bedürfnisse
Betreuungsangebote in großer Vielfalt. … Durch
fachlich notwendige und geeignete finanzielle Rahmenbedingungen soll die Gewähr dafür gegeben
werden, dass qualifiziertes Personal für diese verantwortungsvolle Aufgabe gewonnen werden kann.
Dabei unterstützen wir die Bundesregierung, Herr Kues.
({0})
Das Vorhaben der Familienministerin, Herr Dr. Kues,
allen Anbietern von Krippenplätzen eine Anschubfinanzierung zu gewähren und alle gleich zu behandeln, ist
nicht durchgesetzt worden. Ich habe heute die Pressemitteilung von Herrn Oppermann sehr aufmerksam gelesen:
Die SPD hat die Tür zur privatgewerblichen Kinderbetreuung aufgemacht. Wir alle wissen: Betriebliche Kinderbetreuung oder Betreuung durch selbstständige Tagesmütter ist auch ein Stück privatgewerbliche
Kinderbetreuung. Wir sollten doch nicht so tun, als ob
wir das in Deutschland nicht hätten.
Ich möchte auf die Linke und die SPD zurückkommen. Sie misstrauen den privatgewerblichen Anbietern.
({1})
Insbesondere Die Linke unterstellt ihnen unlautere Motive, wie in dem Antrag zu lesen ist.
Ich frage Sie: Wenn sich eine Erzieherin selbstständig
macht, weil der Hort, in dem sie beschäftigt war, geschlossen hat - vor einem Jahr wurden in Paderborn Erzieherinnen arbeitslos; sieben Erzieherinnen haben sich
daraufhin mit einer privatgewerblichen Krippe selbstständig gemacht -, warum misstrauen Sie diesen Erzieherinnen? Vertrauen Sie ihnen! Natürlich müssen - das
hat Herr Dr. Kues auch gesagt; da stimmt die FDP voll
zu - die personellen und sonstigen Standards in den Einrichtungen eingehalten werden, von denen selbstverständlich nicht der letzte Kleiderhaken erfasst werden
darf. Die Einrichtungen müssen gut sein, damit Kinder
gut betreut werden. Dann aber, liebe Kolleginnen und
Kollegen, muss auch Geld fließen. Warum soll eine Verkäuferin nicht die Möglichkeit haben, ihr Kind in eine
Einrichtung zu geben, die an Samstagen und Sonntagen
geöffnet hat? Jede Krankenschwester, jede Pflegekraft
und alle, die nicht nur von Montag bis Freitag Dienst haben, brauchen eine Wochenendbetreuung der Kinder.
In diesem Zusammenhang spreche ich die Wohlfahrtsverbände an, die uns geschrieben haben, dass die
Qualität in der privatgewerblichen Kinderbetreuung
grottenschlecht sei. Kommen Sie zu mir nach Niedersachsen; ich fahre Sie nach Bremervörde oder Verden
und zeige Ihnen, dass privatgewerbliche Kinderbetreuung gelegentlich sogar besser ist und die Wohlfahrtsverbände sich darum sorgen, diesem Anspruch nicht gerecht werden und im Wettbewerb nicht bestehen zu
können.
({2})
Deshalb unterstützen wir die Bundesregierung in diesem
Punkt, und ich freue mich, dass nun auch die SPD so
weit ist.
§ 74 a des Gesetzentwurfs besagt, die Träger seien
gleich zu behandeln, wenn sie die rechtlichen und fachlichen Voraussetzungen erfüllen. Ich habe mir einmal die
Richtlinien der Bundesländer zur Verteilung der Gelder
angesehen, Herr Dr. Kues. In den Richtlinien der Bundesländer findet sich diese Vorschrift nicht wieder. Die
Passagen aus dem Bundesgesetz, die wir durchgesetzt
sehen wollen, scheinen in den Ländern ein zahnloser
Tiger zu sein. Wenn in Deutschland für 35 von
100 Kindern unter drei Jahren Krippenplätze geschaffen
werden sollen, dann gehören die privatgewerblichen Anbieter dazu. Das sage ich nicht nur, weil ich in der FDP
bin.
Meine Damen und Herren, wir wollen auch die alleinerziehende Mutter unterstützen, die auf Dienstreise geht.
Die Mutter, die bei einer Krippe anruft und sagt, sie
könne ihr Kind erst eine Stunde später abholen, verdient
ebenfalls Unterstützung. In einem solchen Fall sagt die
staatliche Krippe: Tut uns leid, Sie müssen Ihr Kind abholen.
({3})
- Jawohl, so ist es.
({4})
Diesen Stress wollen wir den berufstätigen Müttern
und Vätern wirklich nicht aufs Auge drücken. Wir wollen etwas anderes. Wir brauchen auch keine ideologische
Auseinandersetzung. Der Blick in den Alltag von Müttern und Vätern reicht wohl uns allen aus, um zu erkennen, dass wir hier etwas machen müssen.
({5})
Wir sagen ganz deutlich - dies beziehe ich auch auf
Bayern -: Wir lehnen das Betreuungsgeld ab.
({6})
- Ihren Beifall finde ich jetzt echt witzig; das muss ich,
liebe Kolleginnen von der SPD, hier leider sagen. Sie
schreiben das in das KiFöG, und in der Öffentlichkeit
sprechen Sie immer davon, dass Sie es nicht wollen. Was
wollen Sie denn?
({7})
Entweder stehen Sie zu dem, was Sie dort hineingeschrieben haben, oder Sie setzen Ihre Unterschrift nicht
unter das jetzt vorgesehene KiFöG. Sie sollten nachverhandeln und dafür sorgen, dass es besser wird.
Zu dem Betreuungsgeld will ich noch Folgendes sagen: Herr Singhammer, Sie wissen doch, wenn eine Ehefrau zu Hause bleibt, ergibt sich aufgrund des Ehegattensplittings ein Steuervorteil von bis zu 8 000 Euro im
Jahr.
({8})
Weil die SPD die Reichensteuer eingeführt hat, ergibt
sich ein Steuervorteil von bis zu 15 000 Euro. Die SPD
muss den Leuten einmal erklären, wie sie es mit der Reichensteuer und dem Ehegattensplitting hält.
({9})
Herr Singhammer, wollen Sie eine Frage stellen?
({0})
Frau Kollegin Lenke, lassen Sie die Frage zu?
Bei Herrn Singhammer äußerst gern.
Bitte schön, Herr Singhammer.
Geschätzte Frau Kollegin Lenke, ist Ihnen bekannt,
dass das Ehegattensplitting mit der Frage der Kinder
nichts zu tun hat, sondern der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zufolge ausschließlich ein Ausgleich innerhalb der Ehe ist?
({0})
Wäre es nicht ein Zeichen von Liberalität, ein größtmögliches Maß an Wahlfreiheit zu gewährleisten, wenn
man Paaren, Müttern und Vätern die Möglichkeit gibt,
die Art der Erziehung zu wählen? Dazu zählt eben auch
die Möglichkeit, ein Betreuungsgeld wahrzunehmen.
Herr Singhammer, die FDP ist immer für Wahlfreiheit. Wie es die Partner untereinander aufteilen, wer arIna Lenke
beiten geht und wer zu Hause bleibt - es kann ja auch
der Mann zu Hause bleiben -, oder ob beide arbeiten
wollen, etwa weil sie die Hypothek für ein Haus abbezahlen müssen, bleibt den Partnern überlassen.
Was das Ehegattensplitting angeht, brauchen Sie mir
nichts zu erzählen: Ich bin Steuerfachangestellte. Fakt
ist, dass es beim Ehegattensplitting einen Steuervorteil
von bis zu 8 000 Euro,
({0})
bei der Reichensteuer von bis zu 15 000 Euro gibt. Es ist
eine Unverschämtheit, dass Paare, bei denen einer zu
Hause bleibt, vom Staat beim Ehegattensplitting mit bis
zu 8 000 Euro, bei der Reichensteuer mit bis zu
15 000 Euro belohnt werden.
({1})
Dies ist - das will ich deutlich sagen - meine persönliche Ansicht, ich habe dafür noch nicht die Mehrheit der
FDP. Am Wochenende findet unser Bundesparteitag
statt, dann werden wir das wieder auf der Tagesordnung
haben. Ich werde so lange kämpfen, bis der Alltag von
Müttern und Vätern endlich berücksichtigt wird.
Aber ganz deutlich, Herr Singhammer: Unser Bundestagsvizepräsident beispielsweise ist anderer Meinung
als ich; das ist halt so in einer Partei. Ich werde für mein
Anliegen aber weiter kämpfen.
Sie wissen, Frau Kollegin Lenke, dass ich mich von
dieser Stelle aus nicht inhaltlich äußern kann.
({0})
Ich komme zum Schluss. Meine Damen und Herren,
ich finde, wir alle sollten uns bewegen, wir sollten so
schnell wie möglich qualifizierte, gute Kinderbetreuung
auch für unter Dreijährige schaffen. Das gelingt nur,
wenn wir private Anbieter einbeziehen. Der Antrag der
Linken kann nicht ernst genommen werden. In vielen
Bundesländern gibt es privatgewerbliche Anbieter, die
nicht unterstützt werden und trotzdem super Arbeit machen. Wenn wir neue Krippenplätze schaffen, sollte gelten, was zu § 74 a im KiföG steht: dass wir alle gleich
behandeln.
({0})
Das Wort hat die Kollegin Caren Marks von der SPDFraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Was vor der
Fußballweltmeisterschaft niemand für möglich gehalten
hätte, ist eingetreten: Deutschland ist Weltmeister der
Herzen geworden. Wer hätte noch vor ein paar Jahren
geglaubt, dass wir in Deutschland im Jahr 2008 den
Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz für Kinder ab einem Jahr beschließen werden?
({0})
2006 wurde das Sommermärchen für alle Fußballfans
wahr, 2008 wird ein Sommermärchen für Familien wahr.
({1})
Wir haben es geschafft: Wir haben den Rechtsanspruch
ab eins durchgesetzt. Wir haben dafür gesorgt, dass sich
der Bund dauerhaft finanziell an der Kinderbetreuung
beteiligt. Die Fußballfans unter uns würden sagen: Das
ist ein Hattrick für Familien, drei Tore in einer Halbzeit:
mehr Bildungs- und Teilhabechancen für Kinder, mehr
Chancen auf dem Arbeitsmarkt für Mütter und Väter sowie mehr Unterstützung der Eltern bei der Förderung ihrer Kinder. Einsatz und Stehvermögen zahlen sich nicht
nur im Fußball, sondern auch in der Familienpolitik aus.
Mit dem Tagesbetreuungsausbaugesetz haben wir den
Startschuss für zusätzliche Betreuungsangebote für Kinder unter drei Jahren gegeben. Erste Erfolge sind bereits
sichtbar: Mehr als 100 000 zusätzliche Betreuungsangebote für Kinder unter drei wurden bereits geschaffen.
Der Ausbau der Kinderbetreuung muss in großen Schritten vorangehen. 4 Milliarden Euro gibt der Bund für den
Ausbau der Kinderbetreuung in der Ausbauphase. Insgesamt 12 Milliarden Euro werden Bund, Länder und
Kommunen dafür aufwenden. 12 Milliarden Euro! Das
ist ein bedeutender Sieg für die Kinder, ihre Eltern und
für uns alle.
({2})
Dieser Erfolg war nur möglich, weil Bund, Länder und
Kommunen gut zusammengespielt haben. Alle haben die
große Chance erkannt und sie konsequent genutzt. Dafür
danke ich allen Beteiligten.
({3})
Alle Kinder bekommen von Anfang an bessere Bildungschancen durch das Kinderförderungsgesetz. Kinder lernen in Kitas den Umgang mit anderen Kindern.
Sie bekommen neue Anregungen und erkunden eine
neue Welt. Dort werden alle Kinder mit ihren unterschiedlichen Talenten und unterschiedlichen Persönlichkeiten gefördert: der kleine Junge mit Sprachschwierigkeiten genauso wie das kleine Mädchen, das die tollsten
Geschichten erzählt, der Wildfang, der sich nur für Fußball interessiert, genauso wie die kleine Zahlenkünstlerin, die sich anschickt, ein Mathecrack zu werden, das
kleine Mädchen, das häufig die Klamotten der älteren
Schwester aufträgt, genauso wie das Einzelkind, das eigentlich nur in der Kita einen Kumpel zum Spielen hat.
All diese Kinder sind die wirklich großen Gewinnerinnen und Gewinner unseres Betreuungsausbaus.
({4})
Natürlich gewinnen aber auch die Eltern. Sie müssen
sich am Arbeitsplatz keine Sorgen machen, ob ihre Kinder gut betreut sind. Die meisten Eltern wollen beides:
Familie und Beruf, kein Entweder-oder. Erwerbstätigkeit
von Eltern hilft auch gegen Familienarmut. Das gilt insbesondere für die immer größer werdende Gruppe der
Alleinerziehenden in unserem Land. Mit dem Kinderförderungsgesetz unterstützen wir die Eltern auch bei der
Erziehung und Förderung ihres Kindes. Mit guten Kinderbetreuungsangeboten stärken wir Eltern den Rücken.
Ich bin davon überzeugt, dass letztlich alle, die gesamte
Gesellschaft, vom Ausbau der Kinderbetreuung profitieren.
Jetzt werden sich viele die Frage stellen: Was haben
zum Beispiel Rentnerinnen und Rentner vom Ausbau
der Kinderbetreuung? Ganz einfach: Der Wohlstand unserer Gesellschaft und damit auch der Wohlstand von
Rentnerinnen und Rentnern hängt entscheidend von den
Bildungschancen unserer Kinder und der Möglichkeit
ihrer Eltern, erwerbstätig zu sein ab. Das steht und fällt
wiederum mit dem Angebot an frühkindlichen Bildungsund Betreuungsangeboten. Fachkräftemangel ist nichts,
was in ferner Zukunft auf uns zukommt. Das haben wir
in der Debatte direkt vor diesem Tagesordnungspunkt
gehört. Das Problem ist bereits da. Es betrifft nicht nur
Ingenieurinnen, sondern auch Erzieher, Lehrerinnen sowie Altenpfleger. Wenn wir die Wirtschaftskraft
Deutschlands erhalten wollen, brauchen wir gut ausgebildete Mütter und Väter. Ihr berufliches Engagement
darf nicht am fehlenden Betreuungsplatz für ihre Kinder
scheitern.
Im Übrigen haben wir uns mit der Lissabon-Strategie
dazu verpflichtet, die Wettbewerbsfähigkeit der Europäischen Union bis 2010 deutlich zu steigern. Dieses Ziel
können wir nur durch eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie mehr Chancengleichheit in der
Bildung erreichen. Deutschland in der Mitte Europas hat
eine ganz besondere Verantwortung. Wir müssen deshalb Kinderbetreuung und frühkindliche Bildung konsequent ausbauen.
Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten stellen uns dieser Verantwortung. Wir bauen die Kinderbetreuung aus. Dabei dürfen wir die Qualität der Angebote
nicht unter den Tisch fallen lassen. Wir warnen vor den
Risiken und Nebenwirkungen einer Ökonomisierung der
frühkindlichen Bildung. Seit 1998 haben wir mit unseren
zahlreichen familienpolitischen Maßnahmen den Ball
für Familien ins Rollen gebracht. Klug von der Ministerin, dass sie den Ball aufgenommen hat! Klasse, dass wir
dem Ball mit dem Kinderförderungsgesetz noch einmal
zusätzlichen Schwung geben! Um es mit den Worten
von Herbert Grönemeyer zu sagen: „Zeit, dass sich was
dreht.“
Herzlichen Dank.
({5})
Das Wort hat der Kollege Jörn Wunderlich von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich will mich thematisch auf das Kinderförderungsgesetz im Zusammenhang mit unserem Antrag beschränken. Den Rest klären wir in der Anhörung, die wir
gestern beschlossen haben.
({0})
- Es gibt viele Kritikpunkte. Über das, was davon übrig
bleibt, unterhalten wir uns in der zweiten und dritten Lesung.
Gesetz zur Förderung von Kindern - wer kann dazu
schon Nein sagen?
({1})
Man hätte es auch anders nennen können: Gesetz zur
Förderung profitorientierter Kinderbetreuungsunternehmen oder kurz: Profitförderungsgesetz.
({2})
Freigabe der Kinderbetreuung, es lebe das Profitinteresse des Marktes.
({3})
Dazu kann man schon Nein sagen. Kinderbetreuung ist
keine Ware und darf auch keine Ware werden.
({4})
Was passiert hier, was ist passiert? Nachdem zunächst
die Gemeinnützigkeit als Voraussetzung für Förderung
gestrichen werden sollte, brach ein Sturm der Entrüstung
los.
({5})
Aufgrund dessen hat sich die Regierung entschlossen,
dieses Vorhaben fallenzulassen. Jetzt aber soll das Sozialgesetzbuch VIII so geändert werden, dass die Länder
angehalten werden, alle Träger gleich zu behandeln. Im
Klartext: Der Schwarze Peter soll den Ländern zugeschoben werden. Diese sollen zwingend verpflichtet
werden, gewinnorientierte Betreiber gleich zu behandeln. Das kann doch nicht das Ergebnis dieser geballten
Kritik sein. Die Linke will Kinderbetreuung ausbauen,
aber nicht den Markt der Kinderbetreuung.
({6})
Eine Gleichstellung von kommerziellen Trägern mit
öffentlichen und frei-gemeinnützigen Trägern bedeutet
die Öffnung des Kinderbetreuungsmarktes nach den Regeln der EU-Dienstleistungsrichtlinie. Die Folgen davon
wären verheerend, nämlich ein verschärfter Verdrängungswettbewerb und Lohn- und Qualitätswettlauf nach
unten.
({7})
Mittelfristig führt das zu massiven sozialen Verwerfungen.
({8})
Eine kanadische Untersuchung aus dem Jahr 2005 hat
gezeigt, dass gewinnorientierte Einrichtungen die Qualität ihres Angebots je nach sozioökonomischem Status
ihrer Klientel variierten.
({9})
Kinder aus sozial benachteiligten Familien kamen in
Einrichtungen niedriger Qualität, Kinder aus wohlhabenden Familien in qualitativ bessere Einrichtungen.
({10})
Dieser Zusammenhang konnte auch in einer amerikanischen Studie aus dem Jahr 2004 nachgewiesen werden.
({11})
Eine Untersuchung in Australien aus dem Jahr 2006/
2007 hat gezeigt, dass die Arbeitsbedingungen in diesen
Kinderbetreuungsunternehmen deutlich schlechter sind
als die in anderen Einrichtungen. Zudem wurden dort
weniger qualifizierte Mitarbeiter beschäftigt. Das alles
ist im Übrigen auf der Internetseite der BertelsmannStiftung nachzulesen.
In England wurde im Rahmen der OECD-Studie
„Starting Strong“ festgestellt,
({12})
dass sich kommerzielle Anbieter nicht in einkommensschwachen Regionen engagieren, was dort zu Engpässen
im Platzangebot führte. So diese Studie aus dem Jahr
2006. Ist das das Ziel der Regierung?
Frau Lenke, wir verteufeln nicht die private Kinderbetreuung, um Gottes Willen.
({13})
Die sollen machen; diese Einrichtungen dürfen aber
nicht mit öffentlicher und gemeinnütziger Kinderbetreuung auf eine Stufe gestellt werden, finanziell gefördert
mit Mitteln der Steuerzahler zulasten der öffentlichen
Kinderbetreuung.
({14})
Wir wollen eine öffentliche, gut ausgebaute und qualitativ hochwertige Kinderbetreuung mit entsprechend ausgebildeten Erzieherinnen und Erziehern.
({15})
Dafür sind die entsprechenden Geldmittel zu verwenden
und nicht dafür, profitorientierte Kindergartenbetreiber
finanziell zu hofieren. Da die Linke für die kostenfreie
Kinderbetreuung kämpft - das hat ja einen gewissen
Charme -, dürften die Kommerzunternehmen mit Profitstreben kein Interesse an einer Kinderbetreuung haben.
({16})
Ich möchte hier in Deutschland keine Zustände wie in
Australien. Dort wurde 1991 die Förderung von gemeinnütziger Kinderbetreuung umgestellt. Der private Markt
boomte, und inzwischen stellen private Unternehmen
70 Prozent aller Angebote und werden mittlerweile an
der Börse gehandelt.
({17})
Wem soll man dann verpflichtet sein? Den Aktionären?
Kinderbetreuung darf nicht zum Spekulationsobjekt an
der Börse werden.
({18})
Insoweit teilen wir, die Linke, die Kritik der Gewerkschaften und der Sozialverbände: Keine teure Bildung
für die Reichen und billige Betreuung für die Armen.
({19})
- Das ist das, was die FDP gerne hätte. Das ist mir klar. Die Linke ist den Kindern, Eltern und Erziehern verpflichtet, nicht irgendwelchen Aktionären. Deshalb legen wir unseren Antrag vor.
({20})
Ich gehe davon aus und befürchte - Frau Lenke, das
wird sich bestätigen; das sage ich Ihnen -, dass die Anhörung zum KiföG, die wir im Ausschuss schon beschlossen haben, unsere Kritik bestätigt. Ich hoffe aber
auch, dass uns allen hier im Hause Kinder doch wichtiger als Kommerzinteressen sind und dass der Privatisierung der Kinder- und Jugendhilfe - ich glaube, das
steckt dahinter - nicht durch dieses Gesetz heimlich Tür
und Tor geöffnet wird.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({21})
Das Wort hat die Kollegin Ekin Deligöz vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kues, Sie und auch die Familienministerin loben
sich selbst, Ihr Haus und die Koalition in diesem Punkt
dafür, dass Sie dieses Ausbauprojekt innerhalb einer kurzen Zeit aus dem Boden gestampft haben. Für die Union,
für Ihre Partei mag das richtig sein. Für den Rest der Gesellschaft ist es das aber nicht.
({0})
Für die meisten Menschen in diesem Land ist das kein
Fortschritt. Sie müssen aufhören, in dieser Debatte Ihr
Haus oder Ihre Fraktion zum Maß aller Dinge zu
machen. Die Gesellschaft ist längst davon überzeugt,
dass dieser Ausbau überfällig ist.
({1})
Ich glaube übrigens, Frau Marks, dass der heutige Tag
kein Feiertag für die Familien ist. Letztendlich wird
durch dieses Gesetz die Verankerung auf das Jahr 2013
geschoben. Die CDU mag in der Realität angekommen
sein; das ist das Beste an diesem Gesetz. Das, was konkret passieren soll, wird aber verschoben. Ich wünschte
mir von Ihnen allen ein entschiedeneres, schnelleres und
unmittelbareres Handeln.
({2})
Dann erst könnten wir das heute hier so richtig feiern.
Aber auch die Länder haben sich nicht mit Ruhm bekleckert. Als die rot-grüne Regierung mit ihrem Vorhaben
an die Öffentlichkeit getreten ist, waren es die einzelnen
Bundesländer, die die Lebenslüge aufrechterhalten haben, es gebe gar keinen Bedarf; ohne diese Haltung
könnten wir heute viel weiter sein. Es waren die Bundesländer und auch die Fraktion der CDU/CSU, die in der
letzten Wahlperiode immer wieder betont haben, wir
seien dafür gar nicht zuständig, wir könnten das gar
nicht machen und wir könnten auch die Mittel dafür gar
nicht ausgeben. Sie wurden eines Besseres belehrt. Es
freut mich, dass das endlich auch bei Ihnen angekommen ist.
({3})
Das Vorhaben der Bundesregierung ist nicht falsch;
wir als Grüne unterstützen es. Aber wichtig ist die Qualität. Da muss ich leider etwas Wasser in den Wein schütten, den Sie uns hier aufgetischt haben. Ja, wir brauchen
eine professionelle Kindertagespflege; das ist sinnvoll.
Aber die Sicherungsmaßnahmen, die Sie hier festlegen,
sind auf einem sehr niedrigen Niveau. Mit der Übernahme der anteiligen Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge, die Sie hier feiern, wird doch nur versucht, die bevorstehende einheitliche Steuer- und
Abgabenpflicht für die Tagesmütter zu kompensieren.
Damit verändern Sie das Ganze nicht wirklich; vielmehr
werden die Tagesmütter nach wie vor belastet.
Sie sagen: Wir installieren ein Weiterbildungsportal
für Erzieherinnen. Was machen Sie? Sie schaffen ein Internetportal. Das ist weit weg von einer echten Weiterbildungsmaßnahme.
({4})
Das ist eine größtmögliche Selbsttäuschung. Das ist eine
Platzhalterdebatte; das ist eine Scheindebatte. Mit Weiterbildung und Qualifizierung hat das aber nichts zu tun.
Was Sie aber nicht machen, obwohl wir auf diesem
Gebiet ganz konkrete Impulse brauchen, ist zum Beispiel
eine Verbesserung der Strukturqualität in der Kindertagesbetreuung. Da passiert nichts! Eine solche Verbesserung wäre eine Aufwertung der Erzieherinnenausbildung
in diesem Land. Da passiert nichts! Es geht dabei um die
verbindliche Grundqualifikation von Tagesmüttern. Da
passiert nichts! Es geht um verbindliche, einheitliche
Grundstandards, an denen sich die Qualität feststellen
lässt. Da passiert nichts!
({5})
In all diesen Fragen, in denen es um Qualität geht, da
passiert nichts!
Jetzt sagen Sie zu mir: Das ist womöglich ein Traum
von Bündnis 90/Die Grünen. Ich kann Ihnen sagen: Diesen Traum träumen mit uns etliche Wissenschaftlerinnen
und Wissenschaftler in diesem Land. Diesen Traum
träumt sogar der Wissenschaftliche Beirat für Familienfragen beim Familienministerium; denn genau das, was
bei Ihnen nicht passiert, wird vom Wissenschaftlichen
Beirat gefordert.
({6})
Wir werden in der zukünftigen Debatte sehen, wie offen Sie für Verbesserungen und für Veränderungen im
Verfahren sind. Wir haben auch eine Anhörung dazu beschlossen. Was aber mindestens kommen müsste, ist ein
Rechtsanspruch auf einen Ganztagsplatz.
({7})
Wenn wir wirklich die Vereinbarkeit von Beruf und Familie sowie eine gute Förderung wollen, dann ist dieser
Rechtsanspruch die notwendige Voraussetzung. Eine
Kinderbetreuungseinrichtung, die um 11.30 Uhr schließt,
hilft da nicht weiter. Wenn wir es ernst meinen, dann sollten wir es richtig machen.
({8})
Übrigens hat der Wissenschaftliche Beirat für Familienfragen beim Familienministerium zum Betreuungsgeld festgestellt: Es ist systematisch verfehlt.
Herr Singhammer, das sollten Sie schon ernst nehmen,
denn - wenn ich das einmal für Sie übersetzen darf - gemeint ist: Das Instrument ist unsinnig und kontraproduktiv. Es wird gerade nicht von den Menschen in Anspruch
genommen, die die Vereinbarkeit von Beruf und Familie
forcieren wollen,
({9})
sondern vor allem von den Menschen, die knapp bei
Kasse sind und für die 150 Euro viel Geld sind - und da
sind durchaus problematische Anreizwirkungen zu befürchten.
({10})
Es hält Frauen von der Erwerbstätigkeit ab, und es hält
Kinder von der Kinderförderung fern.
({11})
Dieses Instrument ist eindeutig falsch. Das sollten Sie
sich wirklich noch einmal überlegen. Wir haben in
Deutschland keine Probleme bei der Unterstützung von
Frauen, die gerne zu Hause bleiben wollen. Es gibt im
Steuerrecht das Ehegattensplitting, und wir haben entsprechende Unterstützungen im Sozialversicherungsrecht verankert. Großen Nachholbedarf gibt es bei der
Förderung der Erwerbstätigkeit von Frauen. Dazu gibt es
von Ihnen keine Antworten. Deshalb fällt es vielen von
Ihnen so schwer, sich mit bestimmten gesellschaftlichen
Realitäten abzufinden.
({12})
Das Wort hat die Kollegin Ingrid Fischbach von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich bin erstaunt darüber, dass ein Gesetz, das auch
von der Opposition gefeiert wird, gerade von denjenigen
kritisiert wird, die es - so meine Vorrednerin, Frau
Deligöz - maßgeblich mit auf den Weg gebracht haben.
Das ist Kritik am eigenen Programm. Ich glaube zu wissen, weshalb Sie es kritisiert haben.
({0})
- Sie waren vorhin nicht da und haben nicht gehört, was
sie kritisiert hat. Ich habe zugehört. Jetzt hören Sie einmal zu, dann erfahren Sie, was Ihre Kollegin kritisiert
hat, verehrte Frau Kollegin!
Sie hat kritisiert, dass wir das zeitlich viel zu lange hinausschieben und uns erst 2013 kümmern wollen. Die
rot-grüne Vorgängerbundesregierung - Frau Deligöz,
das waren Sie - hat 2005 beschlossen, 2010 ein Angebot
von 17 Prozent auf den Weg zu bringen.
({1})
Wir wollen dieses Angebot jetzt auf 35 Prozent mehr als
verdoppeln. Es liegt acht Monate nach dem Krippengipfel
- ich kann verstehen, dass Sie das am meisten ärgert - ein
Gesetzentwurf auf dem Tisch, der echte Perspektiven für
die Familien und unsere Kinder aufzeigt. Das ist gut und
richtig, und dafür sage ich einen Dank an das Ministerium.
({2})
Frau Kollegin Marks hat recht darin, dass einiges auf
den Weg gebracht worden ist. Aber es reicht nicht, den
Ball aufzunehmen; das wird auch bei der Europameisterschaft nicht reichen. Der Ball muss versenkt werden, damit wir gewinnen. Genau das hat die jetzige Familienministerin gemacht, sicherlich auch deshalb - das ist
vielleicht ein kleiner Trost für Sie -, weil sie eine Bundeskanzlerin hinter sich hat, die genau dieses Thema
ganz oben auf ihre Agenda gesetzt hat. Deshalb gibt es
jetzt eine andere Ausgangslage, und wir können nach so
kurzer Zeit diesen Erfolg - ich lasse nicht zu, dass dieser
kleingeredet wird - verbuchen.
({3})
Mit der Vorlage gehen wir zwei Punkte an, die meines
Erachtens ganz wichtig sind. Zum einen gehen wir im
Bereich der Kinderbetreuung auf ergänzende und alternative Betreuungsangebote ein. Tagesmütter gibt es
schon sehr lange; sie wurden immer als elitäres Betreuungssystem angesehen. Jetzt wissen wir, dass familiennahe Betreuungsangebote gerade für Kinder unter drei
Jahren unheimlich wichtig sind, damit diese Kinder Bindung erfahren. Deshalb ist es richtig und wichtig, dass
30 Prozent der Plätze über Tagespflege abgedeckt werden sollen. Aber es ist auch klar - das habe ich an dieser
Stelle vor Jahren schon gesagt -, dass Tagesmütter nicht
zum Nulltarif zu haben sind. Das bedeutet, dass wir anfangen müssen, die Qualitätsanforderungen an die Tagespflege zu erhöhen, das heißt, die Ausbildung der Tagesmütter zu forcieren, aber auch dafür zu sorgen, dass
sie angemessen entlohnt werden. Denn bei dem Bruttostundenlohn, den Tagesmütter derzeit verdienen, können
sie die gegenwärtige Abgabenlast nicht tragen.
Deshalb ist es ebenso richtig und wichtig, die Qualität
der Tagespflege nach vorne zu bringen, die Tagesmütter
zu begleiten und ihnen - das ist neu - die Möglichkeit zu
geben, im Rahmen des Betriebskostenzuschusses zu profitieren. Das gab es bisher nicht; Tagesmütter waren bisher außen vor. Wenn sie aber als Betreuungsalternative
wichtig und richtig sind, dann müssen sie auch die Möglichkeit haben, von der Förderung im Hinblick auf die
Betriebskosten zu profitieren.
({4})
Das ist etwas, das wir auf den Weg gebracht haben, und
auch das ist richtig.
({5})
Ich komme auf die privaten Anbieter zu sprechen.
Herr Wunderlich, erst habe ich gedacht, dass Sie im falschen Parlament sitzen. Vielleicht sollten Sie einmal
nach Australien reisen und den Australiern sagen, was
sie alles falsch machen. Hier haben wir eine andere Politik und eine ganz andere Ausgangslage.
({6})
Das dürfen Sie nicht vergessen. Wir haben schon Qualitätsstandards.
Wenn wir den Markt für die Privatgewerblichen öffnen, machen wir nichts Neues, sondern das, was in
vielen Ländern schon auf der Tagesordnung steht. In
Brandenburg, in Bayern, in Mecklenburg-Vorpommern
werden Privatgewerbliche bereits unterstützt.
Sie haben gesagt, dass wir den Ländern den Schwarzen Peter zuschieben. Dass diejenigen, die die Betriebserlaubnis erteilen, auch darauf achten sollen, dass die
fachlichen und rechtlichen Voraussetzungen gegeben
sind, ist aber richtig. Das können wir von hier aus doch
gar nicht. Das müssen die vor Ort machen.
({7})
Frau Kollegin Fischbach, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Wunderlich?
Gern.
Herr Wunderlich, bitte.
Frau Kollegin Fischbach, Sie kennen die Antwort der
Bundesregierung auf unsere Kleine Anfrage zur Privatisierung in der Kinder- und Jugendhilfe nicht. Wir haben
gefragt:
Inwiefern wird die zukünftige Jugendhilfelandschaft von gewerblichen, also Kommerzinteressen
geprägt sein?
Darauf antwortet die Bundesregierung: Da können wir
keine Aussagen treffen; das wissen wir nicht.
({0})
Es gibt aber zig Studien dazu, welche Auswirkungen die
Privatisierung auf die Jugendhilfe und die Kinderbetreuung hat - ich habe sie nur ansatzweise genannt -; es sind
zum überwiegenden Teil negative. Verschließt die Bundesregierung die Augen davor? Wollen Sie es auch nicht
wahrhaben?
({1})
Ich brauche nicht nach Australien zu gehen. Ich kann
mir das in den Niederlanden, in England oder sonst wo
anschauen. Warum verschließen Sie Ihre Augen vor diesen Folgen der Privatisierung und Kommerzialisierung
der Kinderbetreuung und sagen, das ist alles schon so?
Wenn sich nichts ändert, frage ich mich natürlich und
auch Sie: Warum heißt es in der Antwort dann, wir können keine Aussagen treffen, und nicht, es ändert sich
nichts?
Sie sagen, alle privaten Anbieter seien auf Kommerz
und Gewinn aus. Dazu möchte ich festhalten: Solche
kenne ich gar nicht. Ich weiß nicht, wo die sind; vielleicht in Berlin.
Was Sie gesagt haben, Herr Wunderlich, hat mich
wirklich geärgert. Das ist eine Ohrfeige für die, die sich
privat auf den Weg gemacht haben, um eine vernünftige
Betreuungssituation für die Kinder zu schaffen.
({0})
Es gibt bereits viele solche privaten Organisationen. Ich
würde mir wünschen, dass auf der Tribüne die eine oder
andere Tagesmutter wäre,
({1})
die ihre eigene Betreuungsorganisation geschaffen hat;
dann hätte sie das mitbekommen. Das ist eine Ohrfeige
für die, die aufgrund der Mangelsituation - das will ich
gar nicht unter den Tisch kehren - zum Wohl der Kinder
aktiv geworden sind. Das ist sehr unfair und den Frauen
gegenüber nicht richtig.
Wenn Privatgewerbliche Angebote vorhalten, die wir
auf anderem Wege nicht schaffen können, dann müssen
sie auch die Möglichkeit haben, an bestimmten Förderprogrammen teilzunehmen. Es liegt an uns - da sind wir
als Parlament gefragt -, Regelungen zu finden mit dem
Ziel, dass unter staatlicher Förderung keine reine Gewinnmaximierung betrieben werden kann.
({2})
Wir müssen rechtliche und fachliche Grenzen einziehen.
Wir müssen die Qualitätsstandards festschreiben. Sie
können in den Beratungen, die jetzt anstehen, dabei mithelfen.
({3})
Sie sollten das zurücknehmen, was Sie vorhin gesagt
haben, weil es denjenigen, die bereits jetzt auf dem Weg
sind, wirklich nicht gerecht wird, auch ihrem Ansehen
nicht gerecht wird. Denen haben Sie heute eine Ohrfeige
gegeben.
({4})
Es gibt - Herr Wunderlich, vielleicht haben Sie das
nicht so im Gedächtnis - eine EU-Dienstleistungsrichtlinie. Was wir jetzt auf den Weg bringen, müssen wir an
das EU-Recht anpassen; sonst kommt Europa und kippt
das wieder.
({5})
Diese Dienstleistungsrichtlinie besagt nichts anderes, als
dass eine Unterscheidung zwischen privatgewerblichen
und freigemeinnützigen Trägern nicht vorgenommen
werden darf, das heißt, hier herrscht Dienstleistungsfreiheit. Auch die Angebote müssen wir machen.
({6})
- Sie können gleich etwas anderes sagen, Frau
Rupprecht.
({7})
- Das werden Sie auch tun.
({8})
Ich werde dann nachfragen, auf welchen Paragrafen Sie
sich beziehen.
Wir müssen die Gesetze EU-Recht-konform auf den
Weg bringen. Das ist ganz wichtig. Wir haben noch die
Anhörung, um bestimmte Fragen zu klären. Aber von
vornherein zu sagen, wir machen es nicht, wir wollen es
nicht, halte ich für den falschen Weg.
({9})
- Das ist Ideologie. Wunderbar; da sind wir wieder einer
Meinung.
Meine Damen und Herren, ich habe gerade schon
deutlich gemacht, dass wir uns jetzt in der Phase der Beratungen befinden. Wir als CDU/CSU-Fraktion sind mit
dem, was auf dem Tisch liegt, sehr zufrieden. Wir werden natürlich an der einen oder anderen Stelle noch Ergänzungs- oder Änderungswünsche äußern. Das ist in
parlamentarischen Beratungen so. Das ist auch richtig
so. Aber das, was auf den Tisch gelegt wurde, stellt
wirklich einen Meilenstein für unsere Familien dar.
Ganz besonders stellt der Entwurf aber hinsichtlich seiner Qualität, auf die wir großen Wert gelegt haben, einen
Meilenstein für unsere Kinder dar. In dem Sinne wollen
wir zum Wohle unserer Kinder arbeiten. Daran dürfen
Sie sich beteiligen.
Danke schön.
({10})
Das Wort als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt hat die Kollegin Marlene Rupprecht von der
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Ich höre immer ganz fasziniert bei Debatten zu, in denen Kinder eine Rolle spielen. Als Kinderbeauftragte meiner Fraktion ist es ja mein
Anliegen, Kinderinteressen wahrzunehmen. Die meisten
Kollegen möchten das in diesen Debatten ja auch gerne
tun, aber sie glauben, dass sie, wenn über Kinder geredet
wird, den Verstand ausschalten könnten. Die Anliegen
und Interessen von Kindern muss man allerdings sowohl
mit dem Kopf als auch mit dem Herzen aufnehmen.
In diesem Sinne möchte ich gerne auf das, was vorliegt, eingehen. Vor uns liegt jetzt das Kinderförderungsgesetz. Das ist super; denn es enthält den verbindlichen
Rechtsanspruch auf Betreuung ab 2013 für alle Kinder
ab dem ersten Lebensjahr. Jetzt gerade ist gefragt worden: Was geschieht in der Zeit bis dahin? Ich antworte
darauf: Man sollte einmal das Gesetz genau lesen; denn
auch bis dahin gibt es einen Rechtsanspruch, nämlich einen qualifizierten, also nicht für jedes Kind, sondern abhängig von der Umsetzung der Vorgaben. Das haben wir
auch schon beim Tagesbetreuungsausbaugesetz so gemacht.
({0})
Man kann ja nicht den Kommunen sagen: Bis morgen
müsst ihr 750 000 Plätze zur Verfügung stellen, aber sich
nicht darum kümmern, wie sie das schaffen sollen.
({1})
Das darf man nicht tun, wenn man verantwortlich handeln will. Man muss dann vielmehr den Verstand einschalten - das meinte ich eben mit meiner Bemerkung und sachlich-fachlich schauen, wie das Ziel, das man
sich gesetzt hat, erreicht werden kann. Ein solches Verhalten erwarte ich von Politikern.
Uns ging die Entwicklung, wie sie im Pakt festgeschrieben worden ist, zu langsam. Deshalb geben wir
jetzt - das gibt ja allen Entwicklungen in unserer Republik immer etwas Schwung - Geld. Der Bund stellt in
der Aufbauphase 4 Milliarden Euro zur Verfügung. Vielleicht kommt so der Turbo etwas in Schwung. Davon
sind 2,15 Milliarden Euro zur Finanzierung von Investitionen und 1,85 Milliarden Euro zur Finanzierung von
Betriebskosten während der Aufbauphase vorgesehen.
Danach werden diese Zuschüsse bei 770 Millionen Euro
verstetigt. Eine so starke Beteiligung des Bundes an einer Länder- bzw. Kommunalaufgabe hat es bisher in dieser Republik noch nicht gegeben.
Wir wollen durch den Ausbau erreichen, dass Plätze
für 35 Prozent der Kinder zur Verfügung stehen, also
750 000. Ich denke, mit diesem Gesetz tragen wir dem
Rechnung, was im Elften Kinder- und Jugendbericht gefordert wurde, nämlich ein Aufwachsen in öffentlicher
Verantwortung. Früher hat nämlich jeder Berufstätige
hilflos für sich wurschteln müssen und wurde von einer
Stelle zur anderen geschickt, wenn er diese danach
fragte, wie er es schaffen soll, dass sein Kind mit anderen Kindern spielen und aufwachsen kann. Jetzt schaffen
wir Strukturen, damit Menschen frei und selbstbestimmt
ihr Leben gestalten können.
({2})
Strukturen sind also nötig. Für deren Aufbau haben
wir unter Christine Bergmann Geld zur Verfügung gestellt, die Strukturen wurden unter Renate Schmidt weiter verbessert, und jetzt gehen wir mit Frau von der
Leyen noch einen Schritt weiter. Ich bin ihr sehr dankbar
dafür - das sage ich ausdrücklich an die Adresse der Ministerin -, dass sie die bisherige Politik fortsetzt.
({3})
Sie sagt ja ausdrücklich, dass schon unter Rot-Grün eine
gute Politik in diesem Bereich gemacht wurde und diese
vernünftige Politik nun nicht deshalb beendet wird, weil
das Parteibuch der Ministerin gewechselt hat. Ich finde,
dazu kann man einfach nur sagen: Passt! Wir wollen,
dass jeder, egal woher er kommt und wohin er in
Deutschland geht, diese Strukturen vorfindet und benutzen kann. Ich glaube, damit haben wir sozialdemokratische, grüne und jetzt auch
({4})
Marlene Rupprecht ({5})
christdemokratische Familienpolitik fortgeschrieben.
Wenn das ein gutes, buntes Bild ergibt, sodass die Leute
sagen, die denken an uns und nicht nur an ihr Parteibuch,
dann ist das richtig.
({6})
Ich glaube, dass wir das ohne Bruch fortführen. Herr
Singhammer, auch Sie bekommen da Ihre Spielwiese,
auch wenn das 2013 dann überflüssig ist, weil Sie dann
rausgewachsen und erwachsen geworden sind. Dann
brauchen Sie das Betreuungsgeld in § 16 nicht mehr; bis
dahin ist das überflüssig.
({7})
- Ja, so ist es. Wir geben ihm die Zeit auf der Spielwiese
so lange, bis er verstanden hat, dass die Leute nicht mehr
auf der Spielwiese, sondern im realen Leben angekommen sind.
Ich finde, das Gesetz ist gelungen. Aber bei zwei
Punkten, die hier schon von Vorrednern erwähnt worden
sind, hätte ich die Bitte, dass wir noch einmal genauer
hinschauen. Das empfehlen auch die Verbände und die
Fachleute aus Wissenschaft und Praxis. Das eine ist § 43
des Sozialgesetzbuches VIII. Da geht es um Tagespflege, aber vor allem um Großtagespflege. Wir brauchen die Tagespflege; wir haben auch die Rahmenbedingungen dafür verbessert. Die Frage ist: Wenn wir
qualitativ hochwertige Betreuung, Bildung und Erziehung haben wollen, welche Kriterien legen wir dafür an?
Nur darum geht es, nicht um Ideologie oder Ähnliches.
Auf dem Land, wo es vielleicht nur drei Kinder gibt,
kann keine Einrichtung dafür vorgehalten werden. Da
braucht man eine gute Tagespflege. Aber wenn in Berlin
Großtagespflege angeboten wird, muss man schon wissen, was man braucht. Da kann man, was die Qualität
angeht, nicht ohne Kriterienkatalog vorgehen; denn dann
hat man nur noch ein Verwahren, und das haben wir
lange genug gehabt.
Vielleicht ist auch der EU-Betreuungsschlüssel ein
Maßstab. Den will ich Ihnen hier jetzt nicht nahebringen; aber die EU hat sich dazu Gedanken gemacht. Wir
brauchen auf jeden Fall konzeptionelle, personelle und
bauliche Vorgaben und Rahmenbedingungen, egal ob für
gemeinwohlorientierte Anbieter oder für privat-gewerbliche Anbieter. Sonst gibt es Wettbewerbsverzerrungen,
und die halte ich nicht für richtig. Institutionelle Anbieter sollten nicht schlechter gestellt werden als die Großtagespflege.
Der zweite Punkt betrifft § 74 a des SGB VIII. Da
geht es mir wirklich ums Grundsätzliche. Frau
Fischbach hat gesagt, wir müssen EU-Recht umsetzen.
Natürlich; auch ich bin dafür, dass wir das EU-Recht respektieren. Wir haben zugestimmt, dass ein vereintes
Europa für uns gilt. Aber bei dieser staatlichen, hoheitlichen Aufgabe, die Daseinsvorsorge für Menschen im sozialpolitischen Bereich sicherzustellen, haben wir in der
Bundesrepublik entschieden - das ist politisch gewachsen -, dass das nicht staatliche Organisationen tun; wir
haben das vergeben. Andere Staaten haben das anders
geregelt. Weil die EU aber weiß, dass wir in den Staaten
unterschiedliche Strukturen haben, hat sie das so geregelt, dass jeder in seinem Land selber festlegt, wo und
wie die Daseinsvorsorge in der Sozialpolitik gestaltet
wird. Dabei darf niemand aus der freien Wirtschaft benachteiligt werden; das heißt, es muss gerechtfertigt
werden, was festgelegt wird.
({8})
Dies ist festgelegt im EG-Vertrag. Ich beschäftige
mich mit der Thematik schon fast zwei Jahre sehr intensiv.
Frau Kollegin Rupprecht!
Entschuldigung, Herr Präsident.
Ich denke, dass das, was § 74 a regelt - Qualität und
Angebot für alle -, eine Schlüsselfrage sein wird. Das
Thema darf nicht ideologisch geprägt sein, sondern es
geht darum, welches Konzept von Sozialstaatlichkeit in
der Bundesrepublik Deutschland gilt und welche Aufgaben öffentlich und welche nichtöffentlich sind.
({0})
Das Aufziehen der Kinder ist eine öffentliche Aufgabe,
bei der Qualität für alle gewährleistet werden muss.
({1})
Frau Kollegin Rupprecht, bitte.
In anderen Staaten hat man Untersuchungen dazu gemacht; aber das gibt es auch bei uns.
Ich wünsche, dass wir jetzt konstruktiv in die Beratungen gehen und im Sinne der Verantwortung, die wir
haben, miteinander eine Lösung finden.
Danke schön.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/9299 und 16/9305 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Bundesregierung:
Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der
internationalen Sicherheitspräsenz im Kosovo
auf der Grundlage der Resolution 1244 ({0})
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen
vom 10. Juni 1999 und des Militärisch-Technischen Abkommens zwischen der internationalen Sicherheitspräsenz ({1}) und den Regierungen der Bundesrepublik Jugoslawien
({2}) und der Republik
Serbien vom 9. Juni 1999
- Drucksache 16/9287 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({3})
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der
FDP vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Gibt es
Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Bundesminister Frank-Walter Steinmeier das
Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wirft man einen Blick auf den westlichen Balkan durch die Brille der Mehrzahl der Kommentatoren,
so müsste man in diesen Tagen eigentlich ein durch und
durch kritisches Bild erkennen. Ich bitte aber: Seien wir
ein wenig gerechter und erinnern wir uns an die Situation kurz vor der Jahrtausendwende.
In Belgrad regierte Milošević, und drei blutige Kriege
in Kroatien, Bosnien und im Kosovo hatten tiefe Wunden gerissen. Die Aufgabe, vor der ja nicht nur die Menschen in der Region, sondern auch die internationale
Staatengemeinschaft standen, schien - wir erinnern uns
an die Diskussionen bei uns - fast unlösbar zu sein.
Betrachten wir die Situation aus heutiger Sicht, so
muss man, ohne sie schönzureden, sagen, dass die grausamen Konflikte der 90er-Jahre, von denen ich gesprochen habe, Gott sei Dank der Vergangenheit angehören.
In den meisten Teilen des ehemaligen Jugoslawiens hat
die Demokratie Fuß gefasst. Die Wirtschaft entwickelt
sich allmählich. Aber vor allen Dingen ist wichtig, dass
die Menschen die Chance bekommen haben, Kraft zur
Aussöhnung zu finden und Mut für eine gemeinsame
Zukunft zu entwickeln. Das ist der Weg der letzten zehn
Jahre.
({0})
Diese Entwicklungen - wir wissen das aufgrund der
schmerzlichen Entscheidungen, die bei uns getroffen
werden mussten - haben sich nicht von allein ergeben.
Wir verdanken sie unserer Bereitschaft, einerseits mit
militärischen Mitteln in die damaligen mörderischen
Auseinandersetzungen auf dem Balkan einzugreifen und
andererseits unsere euro-atlantischen Strukturen für die
Länder des westlichen Balkans zu öffnen. Das führte zu
dem heutigen Ergebnis, dass EU- und NATO-Mitgliedschaften für die Menschen auf dem Balkan zu einer
greifbaren Perspektive geworden sind, einer Perspektive,
die, wie ich finde, zugleich Ansporn für die notwendigen
Reformen sein sollte, die in vielen Regionen noch durchzuführen sind.
Ich schließe ausdrücklich die gegenwärtige Situation
in Serbien ein. Belgrad hat bei weitem - darüber brauchen wir nicht zu streiten - noch nicht alle Hürden genommen. Insbesondere ist die Zusammenarbeit mit dem
Internationalen Strafgerichtshof noch nicht bestätigt.
({1})
Aber - das ist der Obersatz meiner Betrachtungen - auch
die Zukunft Serbiens wird und kann nur in Europa liegen. Davon bin ich fest überzeugt.
({2})
Ich hoffe deshalb, dass jetzt nach den Parlamentswahlen - ihr Ausgang war anders, als noch wenige Tage vor
den Wahlen vorausgesagt wurde - eine Regierung gebildet wird, die sich erstens den Reformen verpflichtet fühlt
und die zweitens die nächsten Schritte Serbiens in Richtung Europa unternimmt.
Das, was uns alle in Atem gehalten hat, ist allerdings
die Kosovo-Frage, die Lösung des Statusproblems im
Kosovo - wenn Sie so wollen, die letzte offene Frage
aus dem Zerfallsprozess des alten Jugoslawiens. Wir haben in den letzten zehn Jahren - ich selbst erinnere mich
daran - in allen erdenklichen internationalen Foren, in
den Vereinten Nationen, in der Europäischen Union, in
der NATO, über diese Statusfrage diskutiert und beraten.
Wir haben nach einvernehmlichen Lösungen zwischen
Priština und Belgrad gesucht, weil wir alle der Meinung
waren: Eine einvernehmlich gefundene Lösung ist allemal die bessere. Diese Einsicht hat uns dazu geführt,
dass wir im vergangenen Sommer noch einmal den
Troika-Prozess eingeführt haben, um dort Gespräche
zwischen Priština und Belgrad zu ermöglichen. Am
Ende haben die Kraft, die Bereitschaft, das Potenzial
oder was auch immer nicht für eine einvernehmliche Lösung ausgereicht. Kosovo hat vor drei Monaten seine
Unabhängigkeit erklärt, und am Ende - das ist meine
Überzeugung - gab es dazu auch tatsächlich keine
glaubhafte Alternative mehr. Jetzt geht es darum - darüber sollten wir uns einig sein -, den Kosovo auf diesem
Weg von unserer Seite aus nach Kräften zu unterstützen.
({3})
Die Anerkennung des Kosovo läuft. 20 der 27 europäischen Mitgliedstaaten haben ihn anerkannt. Außerhalb der Europäischen Union haben dies 22 weitere
Staaten getan. Jetzt kommt Peru als erstes südamerikanisches Land hinzu. Der Kosovo besitzt - lassen Sie mich
das sagen - genauso eine europäische Perspektive wie
all die anderen Staaten auf dem westlichen Balkan.
({4})
Wenn ich das sage, weiß ich, dass dieser Weg für den
Kosovo kein einfacher sein wird. Die Herausforderungen im Kosovo in wirtschaftlicher und institutioneller
Hinsicht sind groß. Aber immerhin, die Regierung im
Kosovo hat sich im Zusammenhang mit der Unabhängigkeitserklärung Gott sei Dank unmissverständlich zur
Umsetzung des Ahtisaari-Plans bekannt. Sie hat sich vor
allen Dingen dazu bekannt, alle Minderheitenrechte, wie
international verlangt, umzusetzen. Wir von europäischer Seite wollen - das ist bekannt - mit der Rechtsstaatsmission EULEX unseren Beitrag dazu leisten, dass
dort rechtsstaatliche Institutionen, Polizei und Justiz,
aufgebaut werden. Unser Bemühen hält unverändert an,
dass wir in den nächsten Tagen und Wochen eine Vereinbarung mit den Vereinten Nationen über die Ablösung
der bisherigen UNMIK-Zuständigkeiten und die Überführung in EULEX-Zuständigkeiten auf den Weg bringen und baldmöglichst die Übergabe der Verantwortlichkeit stattfinden kann.
Seit Beginn der Auseinandersetzungen hat sich die internationale Gemeinschaft wirklich bemüht, für Sicherheit im Kosovo zu sorgen. Ich glaube, man darf sagen:
Das ist uns weitgehend gelungen. KFOR insbesondere
hat sich in diesen zehn Jahren Anerkennung bei allen
Bevölkerungsgruppen im Kosovo erarbeitet. Die Fortsetzung dieser Arbeit - lassen Sie mich auch das hier
einmal sagen; das sage ich ganz besonders mit Blick auf
einige Skeptiker, die heute auch noch an das Mikrofon
treten werden - sollte in erster Linie im Interesse der serbischen Bevölkerungsminderheiten im Kosovo sein.
({5})
So komme ich zu dem Ergebnis: Die Regierung in
Priština wünscht sich die Fortführung von KFOR. Die
NATO ist bereit, ihr Engagement fortzusetzen. Wir sind
uns mit den Partnern darüber einig, dass KFOR im Rahmen seines Mandates zukünftig am Aufbau der kosovarischen Sicherheitsstrukturen mitwirken wird, damit der
Kosovo nach und nach in der Lage ist, seine Sicherheitsaufgaben selbstständig zu verantworten.
Ich erhoffe mir deshalb eine breite Zustimmung für
die Verlängerung des KFOR-Mandates im Deutschen
Bundestag. Sie wissen, dass wir mit 2 700 von insgesamt
15 600 Soldaten das größte KFOR-Kontingent stellen.
Wenn ich den Blick auf den westlichen Balkan richte
und unser Engagement in Bosnien-Herzegowina mitberücksichtige, dann leisten deutsche Soldatinnen und Soldaten seit mehr als 13 Jahren Dienst auf dem Balkan.
Ich glaube, wir dürfen sagen: Deutsche Soldatinnen
und Soldaten haben an der Stabilisierung der gesamten
Region einen wesentlichen Anteil. Dafür gilt ihnen unser
ganz besonderer Dank und unsere Anerkennung. Auf
diesen Dank und diese Anerkennung sollten die Soldatinnen und Soldaten auch in Zukunft rechnen können.
Herzlichen Dank.
({6})
Das Wort hat der Kollege Dr. Rainer Stinner von der
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wer jemals den ehemaligen kosovarischen Präsidenten
Rugova zu Hause besucht hat, kam unweigerlich mit
zwei Dingen wieder heraus: erstens mit dem quasi hineingeprügelten Grundsatz, dass die Unabhängigkeit des
Kosovo jedes Problem automatisch lösen würde, und
zweitens mit einem Stein aus seiner umfänglichen privaten Steinsammlung, mit der er dokumentieren wollte,
welche Bodenschätze im Kosovo liegen und wie reich
der Kosovo sein könnte.
Leider haben beide Eindrücke den Realitätstest nicht
bestanden. Erstens wissen wir alle, dass allein die Unabhängigkeit die Probleme im Kosovo nicht löst; das ist
eindeutig. Zweitens liegen leider auch die umfangreichen Bodenschätze immer noch tief vergraben in der
Erde des Kosovo, wurden nicht gehoben, obwohl sie
eventuell hätten gehoben werden können. Deshalb muss
man wohl konstatieren: Die Geschichte des Kosovo ist
eine Geschichte der verpassten Chancen.
({0})
Das müssen wir selbstkritisch zugeben. Die UNMIK hat
es innerhalb von acht Jahren intensivster Tätigkeit im
Kosovo, mit viel Geld und viel Einsatz, nicht geschafft,
dieses Land nachhaltig zu stabilisieren und positiv zu
entwickeln. Wenn man berücksichtigt, dass die Stromversorgung in Priština noch heute hakt, ein hohes Maß
an Korruption vorherrscht und die Arbeitslosigkeit in
diesem Landstrich unermesslich hoch ist, kann man,
wenn man realistisch ist, nicht von einem Erfolg der
UNMIK-Mission sprechen.
Noch eine verpasste Chance: Die EU und Deutschland haben nach dem positiven Signal, das von dem
Treffen in Thessaloniki ausging, nicht schnell genug die
europäische Karte im Kosovo gespielt. Die Situation war
2003/2004 anders als heute. Unsere Fraktion hat schon
im Jahr 2004 einen Antrag in den Bundestag eingebracht, weil wir die Europäische Union viel stärker in
die Lösung des Kosovoproblems einbeziehen wollten.
Dieser Antrag ist von der damaligen Regierung leider
abgelehnt worden. Auch die Union hat alles andere als
richtig mitgezogen.
Der nächste Fehler bzw. die nächste verpasste
Chance: die völlig falsche Einschätzung der russischen
Reaktion auf den Ahtisaari-Plan. Uns ist über Monate,
fast über Jahre hinweg vorgegaukelt worden, dass das irgendwie klappen würde. Unsere Fragen nach einem
Plan B wurden eher als Belästigung abgetan. Man fragte,
warum wir immer wieder mit derselben Frage kämen.
Heute stehen wir, was die EULEX-Mission angeht, wie
wir wissen, vor einem Scherbenhaufen. Das müssen wir
so klar konstatieren.
Entgegen den klaren Regelungen der Resolution 1244
werden im Nordkosovo gegenwärtig Parallelstrukturen
aufgebaut. Das betrifft die Eisenbahn, die Grenzposten,
die nicht von denen besetzt sind, die sie besetzen sollten,
und weitere organisatorische Aspekte. Die Nichtpräsenz
der EULEX-Vorbereitungsmission ist eine deutliche Dokumentation der Unmöglichkeit eines angemessenen
Vorgehens. Nach unserer Ansicht ist die EULEX-Mission, die Rechtsstaatsmission, aber von einem unglaublichen Wert. Sie muss durchgeführt werden. Wenn die
UNO nicht in der Lage ist, die EULEX-Mission durchzuführen - aus welchem Grund auch immer; Herr Minister, eine Diskussion über die Gründe können wir hier
heute nicht führen -, dann muss die UNMIK die Dinge
selbst in die Hand nehmen, damit die Bedingungen des
Ahtisaari-Plans umgesetzt werden. Das ist das, was wir
alle wollen. Die kosovarische Regierung hat sich dazu
bereit erklärt.
Im Kosovo zeigt sich leider ein weiteres Mal das Unvermögen von NATO und EU, gemeinsam zu arbeiten.
In Brüssel ist es noch nicht einmal möglich, dass die
NATO bzw. die KFOR mit dem EULEX-Team spricht.
Blockaden sind in der Tat vorhanden. Das ist doch ein
Jammer. Natürlich ist die Bundesregierung als größtes
europäisches Land und als wichtiger NATO-Partner aufgerufen, dieses Trauerspiel zu beenden.
Die einzige Konstante, der einzige stabile Pfeiler in
all diesen Bruchstücken, die wir leider erleben müssen,
ist in der Tat die KFOR. Das ist völlig unbestritten. Deshalb wird es Sie nicht verwundern, wenn wir als FDPFraktion dem Verlängerungsantrag heute zustimmen.
Die KFOR-Mission muss verlängert werden. Es ist völlig undenkbar, jetzt die Zustimmung zu verweigern und
die KFOR abzuziehen. Das Chaos im Kosovo wäre unübersehbar. Es wäre völlig unverantwortlich, wenn wir
das heute machen würden. Deshalb, glaube ich, müssen
alle hier, die das Wohl des Kosovo, das Wohl der Region
im Auge haben, der Verlängerung des KFOR-Mandates
heute zustimmen.
({1})
Wir haben einen Entschließungsantrag eingebracht.
Dieser Antrag bringt zum Ausdruck, dass die Verlängerung der KFOR-Mission zwar eine notwendige, aber
keine hinreichende Bedingung für eine positive Entwicklung des Kosovo ist. Deshalb haben wir Folgendes
in den Antrag geschrieben: Wir brauchen eine völkerrechtlich eindeutige Legitimation der EULEX-Mission.
Wir müssen sicherstellen, dass der Kosovo in Gesamtheit regiert werden kann und nicht in Teilbereiche zerfällt, in denen unterschiedliche Machtstrukturen aufgebaut sind. Wir brauchen eine ganz klare Definition der
Aufgaben von und der Abgrenzungen zwischen KFOR,
UNMIK und EULEX. Wir müssen auch dafür sorgen,
dass NATO und EU eng abgestimmt an der positiven
Entwicklung dieses Landes weiterarbeiten. - Das sind
umfangreiche Hausarbeiten für die Bundesregierung.
Wir können nur hoffen, dass im Kosovo keine weiteren
Chancen verpasst werden.
Schönen Dank.
({2})
Ich gebe das Wort dem Bundesverteidigungsminister,
Herrn Dr. Franz Josef Jung.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am Dienstag
dieser Woche hat die Bundesregierung beschlossen, den
Einsatz der Soldaten der Bundeswehr im Kosovo um ein
Jahr zu verlängern. Sie wissen, dass das Mandat grundsätzlich unbefristet ist, dass wir aber die Praxis haben,
auf Verlangen des Deutschen Bundestages in einem jährlichen Rhythmus hier um die Verlängerung nachzusuchen.
Ich denke, dass der Einsatz der Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr im Rahmen des KFOR-Mandates
der NATO weiterhin notwendig ist, um Stabilität und
friedliche Entwicklung im Kosovo zu gewährleisten. Die
Eskalation, die wir an der Grenze nach der Unabhängigkeitserklärung erlebt haben, und die Situation im Zusammenhang mit dem Gerichtsgebäude in Mitrovica haben
deutlich gemacht, wie wichtig es ist, dass KFOR weiterhin seinen stabilisierenden Beitrag im Kosovo leistet.
KFOR - damit auch der Einsatz unserer Soldatinnen und
Soldaten - ist der Garant für ein sicheres Umfeld im Kosovo. Darauf kann weiterhin nicht verzichtet werden.
Wir sind im Rahmen dieses Mandates zurzeit mit
2 800 Soldatinnen und Soldaten einer der größten Truppensteller im Kosovo. Ein sicheres, stabiles Umfeld ist
Grundvoraussetzung für einen erfolgreichen zivilen Aufbau des Kosovo. Herr Kollege Stinner, Sie haben diesen
Punkt kritisch angesprochen. Es ist wahr, dass sich der
Aufwuchs von EULEX mit 1 900 Kräften, der ja bis zum
15. Juni dieses Jahres vorgesehen war, verzögert. Jetzt
sind 300 Kräfte von EULEX im Kosovo. Aber man
muss fairerweise sagen, dass es hierzu einer Entscheidung der Vereinten Nationen bedarf. Ich habe gerade
eben auf der Internationalen Luft- und Raumfahrtausstellung hier in Berlin mit dem NATO-Generalsekretär
darüber gesprochen, der gestern in New York war, um
mit dem Generalsekretär der Vereinten Nationen genau
diese Frage abzustimmen. Denn es muss unser Ziel sein,
dass es einen unmittelbaren Übergang von UNMIK zu
EULEX gibt. Das heißt im Klartext: Hier darf keine sicherheitspolitische Lücke entstehen. Das ist, denke ich,
unter dem Aspekt des zivilen Aufbaus des Kosovo und
unter dem Aspekt einer weiteren stabilen und friedlichen
Entwicklung in diesem Land notwendig.
({0})
Ich füge hinzu: Die Grundlage aller Bemühungen war
und ist der Ahtisaari-Plan. Wie Sie wissen, hat Herr
Ahtisaari über ein Jahr verhandelt und dann sein Konzept auf den Tisch gelegt. Wegen des Widerspruchs
Russlands in den Vereinten Nationen hat man sich darauf
verständigt, die Troika einzusetzen. Die Troika, bestehend aus den Vereinigten Staaten von Amerika, Europa
und Russland, sollte beide Seiten zusammenführen.
Auch dies ist, wie wir wissen, nicht gelungen.
Wir alle, sowohl die NATO-Verteidigungsminister als
auch die EU-Verteidigungsminister, haben immer gesagt: Grundlage ist der Ahtisaari-Plan. Nachdem das Kosovo seine Unabhängigkeit erklärt hat, hatte ich die Gelegenheit, dort zu sein. Es ist sehr positiv zu bewerten,
dass sowohl der kosovarische Präsident Sejdiu als auch
Ministerpräsident Thaçi sehr deutlich gesagt haben, dass
für sie weiterhin der Ahtisaari-Plan gilt, dass also die
Ziele des Minderheitenschutzes, der Einhaltung der
Menschenrechte und der Rückkehr der Flüchtlinge nach
wie vor gelten. Das ist die richtige Politik, um letztlich
zur Befriedung des Kosovo beizutragen.
Ich füge des Weiteren hinzu: Ich halte es für richtig,
dass wir Serbien, was Europa bzw. die euroatlantischen
Strukturen betrifft, eine Perspektive geben. In Bukarest
haben wir das im Hinblick auf die NATO bereits beschlossen, sodass es auch hier eine Grundlage für eine
friedliche Entwicklung gibt.
Eines will ich aber klar sagen: Grundlage des Einsatzes unserer Soldatinnen und Soldaten im Kosovo ist weiterhin die Resolution 1244 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen. Wir sind uns in der NATO einig, dass
wir diesen Einsatz nur auf dieser Basis durchführen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wer in der
jetzigen Situation den Abzug der Bundeswehr aus dem
Kosovo fordert, der handelt aus meiner Sicht verantwortungslos und gefährdet den Frieden und die Stabilität auf
dem Balkan.
({1})
Aus diesem Grunde wollen wir unser Engagement fortsetzen und bitten Sie hierfür um Ihre Zustimmung. Wir
verfolgen klare Ziele: erstens die Schaffung eines friedlichen und sicheren Umfeldes für die Bewohnerinnen und
Bewohner des Kosovo, zweitens die Unterstützung der
zivilen Missionen der internationalen Gemeinschaft und
drittens den Aufbau selbsttragender Sicherheitsstrukturen.
Ich halte es für richtig, dass wir unseren Beitrag zum
Abbau des Kosovo Protection Corps und zum Aufbau
der Kosovo Security Force leisten. Das heißt im Klartext, dass der Kosovo in die Lage versetzt werden soll,
selbst für seine Sicherheit zu sorgen. Ich denke, dass
man sich bei der Ausbildung der Kosovo Security Force
auf den Zivilschutz, die Krisenreaktion bzw. die friedliche Entwicklung und auf das konkrete Thema Kampfmittelbeseitigung konzentrieren sollte.
Wenn man all dies berücksichtigt, stellt man fest,
welch großer Beitrag bisher geleistet wurde und dass die
gegenwärtige friedliche und stabile Entwicklung ohne
den Einsatz der NATO nicht eingetreten wäre. Im Interesse von Frieden und Stabilität im Kosovo, aber auch
im Interesse einer friedlichen und stabilen Entwicklung
auf dem Balkan bitten wir daher um Ihre Zustimmung
zur Verlängerung des Mandats. Ich werbe für eine möglichst breite Unterstützung. Denn unsere Soldatinnen
und Soldaten leisten einen wichtigen Beitrag für den
Frieden. Deshalb haben sie eine breite Unterstützung des
Parlaments verdient.
Recht herzlichen Dank.
({2})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Monika Knoche,
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Herren und
Damen! Einer Fortsetzung der deutschen Beteiligung an
KFOR wird die Linke nicht zustimmen. Mehr noch: Wir
werden vor das Bundesverfassungsgericht gehen.
Wir bestreiten erstens, dass die Rechtsgrundlage für
die Präsenz deutscher Truppen, die Resolution 1244 des
UN-Sicherheitsrates, weiterhin Anwendung finden kann.
Wir widersprechen zweitens der Auffassung, dass die
Unabhängigkeitserklärung des Kosovo richtig, unvermeidbar und völkerrechtskonform war. Drittens. Wir
denken, dass die Aufgabenzuschreibung und die Abgrenzung zwischen KFOR, EULEX und UNMIK nicht
eindeutig sind. Darin sehen wir uns durch die Äußerungen der NATO von heute bestätigt. Eine UN-Mandatierung für EULEX ist nicht gesichert.
Es sind also politische, völkerrechtliche und diplomatische Gründe, weshalb wir dieser gravierenden Fehlentscheidung in der deutschen Balkanpolitik entgegentreten.
Das Kosovo hat am 17. Februar 2008 seine Unabhängigkeit erklärt. Damit wurde eine völkerrechtswidrige
Abtrennung aus dem Staatsgebiet Serbiens vollzogen.
Eine weitgehende Autonomie Kosovos wäre die zu unterstützende Alternative gewesen.
({0})
Im Übrigen hat auch Altbundeskanzler Gerhard
Schröder vor einigen Wochen bestätigt, dass es falsch
war, die Anerkennung zu vollziehen.
({1})
Mit dem Ende der Statusverhandlungen ist auch der
ursprüngliche Auftrag - darum geht es heute -, den
Übergangsprozess militärisch abzusichern, entfallen. Für
die neu geschaffene Realität hat die Bundeswehr unserer
Auffassung nach kein Mandat mehr. Für das zukünftige
Aufgabenspektrum liegt keine neue Resolution vor, und
es wird sie erwartungsgemäß auch nicht geben.
Diese prekäre Lage hat die Bundesregierung entscheidend mit herbeigeführt, indem sie die Separation des
Kosovos forciert hat. Für uns ist entscheidend, dass für
die deutsche Militärpräsenz im Kosovo seit Februar
2008 kein belastbares Bundestagsmandat mehr besteht.
({2})
Heute will die Regierung vom Parlament die Zustimmung für die Stationierung von fast 3 000 deutschen
Soldaten im Kosovo für eine noch nicht genau bestimmte Dauer. Bei der von mir genannten Grundlage
kann eine solche Entscheidung im Deutschen Bundestag
unseres Erachtens nicht getroffen werden.
Zur Lage im Kosovo. Der neue Status brachte keine
Stabilität. Im Gegenteil: Nur 41 Staaten haben anerkannt. Jetzt herrscht Stagnation. Die Völkerrechtswidrigkeit des Vorgangs hält die meisten der Staaten davon
ab, anzuerkennen. Der Sonderfall Kosovo könnte ansteckend wirken und eben kein Einzelfall bleiben.
Auch europapolitisch ist die Unabhängigkeit verhängnisvoll. Spanien, Großbritannien, Ungarn und Rumänien haben gespannte Konfliktlagen. Es ist also kein
Wunder, dass neben China und Russland sieben europäische Staaten bewusst nicht den Fehler machen, partiell
von der europäischen Idee der Integration und Multiethnizität abzurücken. Für Deutschlands Balkanpolitik gibt
es international nur einen sehr schwachen Rückhalt.
({3})
Kosovo ist bei allen Beschreibungen ein Failing State.
Er kann und will seine Minderheiten nicht selber schützen. Die stabile Multiethnizität einer Gesellschaft kann
aber nicht durch das Militär hergestellt werden.
Nach den Kommunalwahlen vor zwei Wochen - ich
war als Wahlbeobachterin der OSZE dort - werden sich
die Doppelstrukturen albanisch-serbisch vertiefen. De
facto heißt das, dass das Kosovo in einen albanischen
und einen serbischen Teil zerfallen ist. Wie es im Antrag
der Bundesregierung heißt, wird die KFOR dafür zuständig gemacht, zur Sicherheit aller Bewohnerinnen und
Bewohner - unabhängig von ihrer Volkszugehörigkeit friedliche und normale Lebensbedingungen herzustellen.
Die Tatsache, dass Kämpfer der nationalistischen
UCK heute in Politik, Militär und Polizei vertreten sind,
und der Umstand, dass Familienclans in den Machtstrukturen vorherrschen, lässt Rechtsstaatlichkeit und Bekämpfung von Korruption und Kriminalität auf absehbare Zeit zur Utopie werden. Wie konnte das Kosovo bei
diesen Tatsachen als unabhängiger Staat anerkannt werden? Welch eine Fehlentscheidung!
({4})
Welch gravierende Völkerrechtsprobleme haben Sie
damit heraufbeschworen? Die desolate Bilanz nach achtjähriger internationaler Präsenz ist eine große politische
Last. Wir sind überzeugt: Sie kann nur politisch und
nicht militärisch abgetragen werden.
Ich fasse zusammen: Eine Fortführung der deutschen
Beteiligung an KFOR hat keinerlei Völkerrechtsgrundlage in der UN-Resolution 1244; denn durch die Anerkennung des Kosovos ist der ursprüngliche Mandatsauftrag entfallen. Eine neue UN-Resolution kann und wird
es nicht geben. Wenn es nach rechtlichen Prinzipien
geht, müssen die Truppen mithin abgezogen werden.
Diese unsere Position werden wir dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung vorlegen.
({5})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Jürgen Trittin,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wer die
Welt nicht als Amtsgericht betrachtet, sondern sich konkret mit der Situation im Kosovo beschäftigt, stellt fest,
dass die Lage zurzeit unübersichtlich ist: zwar ruhig,
aber nicht stabil. Wer daran interessiert ist, Gewalt und
eine Verschlechterung der Situation zu verhindern und
zu vermeiden, dass sich beispielsweise die Vorfälle aus
dem Jahr 2004, als Serben Opfer von Attacken geworden sind, wiederholen, der kann zu diesem Zeitpunkt
nicht ernsthaft dafür plädieren, die Bundeswehr abzuziehen; vielmehr muss er für die Verlängerung des Mandats
stimmen.
({0})
Wenn man in Priština landet, wird man von einem
Schild mit der Aufschrift „Willkommen im unabhängigen Staat Kosovo“ empfangen. Im Pass findet man dann
aber einen Stempel von UNMIK. Die Lage ist also sehr
widersprüchlich.
Die Unabhängigkeit hat eben nicht alle Probleme gelöst, wie Sie, Herr Stinner, das geschildert haben und wie
Herr Rugova immer gehofft hat. Im Gegenteil: Die Situation hat sich nicht geändert. Man könnte gelassen sagen, dass dort, wo Realismus herrscht, auch die Enttäuschung weniger Chancen hat. Aber gerade weil die Lage
unverändert ist, ist es bedauerlich, dass die EULEXMission weiterhin blockiert ist, dass der organisierten
Kriminalität im Kosovo nur eine schwache Justiz gegenübersteht und dass es Verzögerungen im Aufbau rechtsstaatlicher Strukturen gibt. Das ist eine schwere Hypothek. Wer den Einfluss des organisierten Verbrechens
beklagt - das ist kein Phänomen, das erst seit der Unabhängigkeit aufgetreten ist; es beschränkt sich auch leider
nicht auf den Kosovo, wie ein Blick auf Serbien und andere Staaten dieser Region zeigt -, der muss alles dafür
tun, dass eine Rechtsstaatsmission wie EULEX dort wirken kann.
Deswegen sehe ich das eigentliche Problem darin,
Herr Außenminister, dass das, was die EU dort vorgeplant hat, bis heute blockiert ist und wir es mit einer
Doppelstruktur von UNMIK und EULEX zu tun haben.
Dafür gibt es im Grunde nur zwei Lösungen. Entweder
- darauf sind Sie nicht eingegangen - übernimmt
UNMIK die Zivilverwaltung im Norden - das entspricht
dem, was der serbische Teil des Kosovo will -, oder wir
finden einen Weg, um EULEX de facto in UNMIK einzugliedern. Das hätte den Vorteil, dass - anders als die
Linkspartei - Russland und Serbien UNMIK in vollem
Umfang akzeptieren. Ich glaube, wir müssen uns darum
sehr bemühen; denn anderenfalls droht ein desaströses
Neben- und Durcheinander der internationalen Organisationen, die sich dadurch selber blockieren.
Entgegen vielen Befürchtungen sind die großen Gewaltausbrüche bisher Gott sei Dank ausgeblieben. Das
ist auch ein Verdienst der deutschen Soldaten im Rahmen von KFOR. In den serbischen Enklaven ist es ruhig.
Dort - nicht im Norden des Kosovo - leben übrigens
zwei Drittel der Serben.
UNMIK hat zu Recht die Ergebnisse der Kommunalwahlen vom 11. Mai 2008 im Kosovo nicht anerkannt.
Die Situation im Norden ist dauerhaft angespannt. Dass
KPS und UNMIK-Polizei zwar an den Grenzen präsent
sind, aber faktisch keine Kontrollen durchführen, und
dass Mitarbeiter internationaler Organisationen nur in
Ausnahmefällen durchkommen, kann meines Erachtens
nicht auf Dauer akzeptiert werden. Dieser Umstand
zeigt, dass KFOR mindestens so wie bisher gebraucht
wird.
Dafür gibt es eine eindeutige Rechtsgrundlage: die
Resolution 1244 des Sicherheitsrates, deren Gültigkeit
Serbien und Russland ausdrücklich anerkennen. Wir alle
möchten nicht, dass KFOR dort auf Dauer präsent ist.
Die Verantwortung von KFOR besteht darin, für alle Bewohner des Kosovo und für die internationalen Helfer
die Sicherheit zu gewährleisten, bis diese dort selbst hergestellt werden kann und es eine politische Lösung gibt,
die auch von Russland und Serbien akzeptiert wird.
Liebe Frau Knoche, erst wenn es einen anderen Beschluss des Sicherheitsrats gibt, der die Resolution 1244
ersetzt, entfällt die völkerrechtliche Grundlage für die
Präsenz von KFOR.
({1})
Nach einem solchen politischen Kompromiss wird mittelfristig hoffentlich auch die Notwendigkeit für einen
weiteren Stabilisierungseinsatz durch KFOR entfallen.
Bis dahin halten wir diese Präsenz für notwendig und für
völkerrechtlich eindeutig legitimiert. Deswegen werden
wir einer Verlängerung dieses Mandats zustimmen.
Vielen Dank.
({2})
Nächster Redner ist der Kollege Gert Winkelmeier.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Es
gibt ein paar ethische Grundsätze und Handlungsmaximen, die universelle Gültigkeit haben. Wären sie bei den
großen Entscheidungen, etwa bei Entscheidungen über
Krieg und Frieden, die Richtschnur, gäbe es weniger
Elend auf der Welt. Verstöße gegen diese Grundsätze
durch die deutsche Politik hatten bis 1990 nur begrenzt
negative Auswirkungen, was einfach am begrenzten außenpolitischen Handlungsspielraum lag. Nach Erlangung der vollen Souveränität sieht dies inzwischen anders aus.
Hätte sich Rot-Grün 1998/99 an die uralte Regel gehalten, was immer du tust, handle klug und bedenke das
Ende, müssten wir heute nicht über den Antrag der Bundesregierung zur Verlängerung des Bundeswehreinsatzes
im Rahmen der Sicherheitstruppe KFOR debattieren.
({0})
Dann hätte es nämlich den völkerrechtswidrigen Luftkrieg gegen die zivile Infrastruktur Jugoslawiens nicht
gegeben.
({1})
Das war der Sündenfall aller, die am 13. Oktober 1998
dem Vorratsbeschluss für die NATO zugestimmt haben.
Dieser Sündenfall gebiert ein um das andere Mal neue
Rechtsbrüche, weil die Konsequenzen nicht bis zu Ende
bedacht worden sind.
Die Bundesregierung nennt als Rechtsgrundlage für
den Einsatz unserer Soldaten die Resolution 1244 des
Sicherheitsrates und das Militärisch-Technische Abkommen zwischen Serbien und der KFOR vom Juni 1999.
Das ist an Dreistigkeit wahrlich kaum mehr zu überbieten, und ich sage Ihnen auch, warum: Nach der durch
amerikanischen Druck beflügelten Lesart der Bundesregierung gehört das Kosovo nicht mehr zu Serbien. Die
Bundesrepublik hat die Unabhängigkeit der serbischen
Provinz deswegen als einer der ersten Staaten anerkannt.
Sowohl der Resolution 1244 als auch dem MilitärischTechnischen Abkommen hat Serbien auch für seine Provinz Kosovo zugestimmt, aber doch nicht für einen unabhängigen Staat Kosovo, den die Resolution 1244 zudem ausdrücklich ausschließt. Auf diese Resolution hat
sich Serbien verlassen.
Nun wollen Sie sich auf eine Rechtsgrundlage stützen, die zu einem völlig anderen Zweck geschaffen
wurde: zur Sicherung der Übergangsverwaltung unter
der Schirmherrschaft der UNO. Das ist doch einfach
abenteuerlich und ein Stück aus dem Tollhaus. Im Übrigen frage ich mich, wozu ein angeblich souveräner Staat
ausländische Truppen benötigt, um seiner ureigensten
Aufgabe nachzukommen und seine Staatsbürger zu
schützen. Aber vielleicht soll dies ja als ein Probelauf für
die sogenannte Schutzverantwortung genutzt werden.
1999 wurde von Deutschland das Recht gebrochen
und ein Präzedenzfall geschaffen, was jetzt mit der chartawidrigen Anerkennung des Kosovo und der EULEXMission gegen den Widerstand der UNO wiederholt
wird. Das wird sich rächen.
151 Staaten der Welt, unter ihnen fast alle afrikanischen, lateinamerikanischen und asiatischen Staaten sowie Rumänien, Spanien und Griechenland, verweigern
sich diesem Rechtsbruch. Sie halten sich an die Maxime
des großen Königsberger Philosophen:
Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du
zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.
Sein Geburtsland pfeift auf Immanuel Kant.
Vielen Dank.
({2})
Für die SPD-Fraktion gebe ich der Kollegin Uta Zapf
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Hätten wir damals, als wir entscheiden mussten, diesen
Krieg zu führen, wofür uns Herr Winkelmeier angegriffen hat, das Ende bedenken können, hätten wir trotzdem
so entschieden. Die Alternative wäre gewesen, einem
Massenmord zuzusehen.
({0})
Wir wollen lieber dem humanitären Gedanken der Verpflichtung zum Schutze der Menschen folgen, einem
Gedanken, der sich leider nur langsam durchsetzt, der
aber, wie ich glaube, bei unseren politischen Entscheidungen in der Zukunft noch öfter eine Rolle spielen
wird.
Die Verlängerung des KFOR-Mandates ist notwendig; das sehen außer der Linken und Herrn Winkelmeier
alle so. Niemand kann bezweifeln, dass die Lage im Kosovo dies erfordert. Natürlich wissen wir, wie schwierig
es ist, die EULEX-Mission, die nach dem Ahtisaari-Plan
vorgesehen ist, zu implementieren. Es ist bedauerlich,
dass sich Russland dem im Sicherheitsrat widersetzt.
Deshalb muss man eine Übergangslösung, wie wir sie
im Augenblick haben, ertragen.
Am 15. Juni soll die neue kosovarische Verfassung in
Kraft treten; an ebenjenem Tag wäre die Übergangsfrist
zu Ende gegangen, hätte der Übergang von UNMIK auf
die EU-Mission abgeschlossen sein sollen. Dann wird
die kosovarische Regierung eine souveräne Regierung
sein. Diese Regierung hat uns gebeten, die Mission aufrechtzuerhalten, um die Entwicklung zu einem sicheren,
souveränen und demokratischen Staat zu unterstützen.
({1})
Es ist schon erwähnt worden, dass bisher nur 300 der
eingeplanten 2 000 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen vor
Ort sind. Es gibt weitere Schwierigkeiten, weil der Prozess bei der UNO stockt. Ich wünschte, ich könnte den
Optimismus des Ministers, dass diese Probleme in absehbarer Zeit gelöst werden, teilen. Wir müssen uns dafür einsetzen, dass diese Probleme gelöst werden.
Die Bevölkerung ist beunruhigt, unter anderem weil
die UNMIK in Kosovo nicht so viel Anerkennung hat.
Die EU-Mission wird herbeigesehnt. Es besteht immer
das Risiko, dass neue Konflikte ausbrechen. Wir müssen
uns anstrengen, dass kritische Situationen nicht entstehen, dass kein Sicherheitsvakuum entsteht. Deshalb ist
es wichtig, dass wir KFOR ohne Wenn und Aber bestätigen. Ohne KFOR können eine Menge Probleme und
Konflikte auftauchen. Ich will ein paar davon benennen:
Die Regierung des Kosovo hat am Anfang geschlafen, sie war mit der Gesetzgebung langsam. Sie ist jetzt
aufgewacht. Es gibt aber Konflikte im Parlament.
Haradinaj, der vom Kriegsverbrechertribunal freigesprochen worden ist, ist zurückgekehrt und verfolgt seine eigenen Interessen, er möchte seinem Erzrivalen, Ministerpräsident Thaçi, die Hölle heiß machen. Man streitet
über Wahltermine, man streitet über die Gesetzgebung,
man streitet darüber, welche gesetzlichen Feiertage implementiert werden sollen.
Es gibt noch beunruhigendere Probleme. Ich schaue
nach Serbien und frage mich, wie sich die politische
Landschaft dort entwickeln wird. Zwar hat Präsident
Tadić ein veritables Ergebnis erreicht, er kann aber keine
Regierung bilden. Die andere Seite, die Radikalen, die
enorm zugelegt haben, kann ebenfalls keine Regierung
bilden. In der Mitte steht die ehemalige Milošević-Partei, um die sich beide nun bemühen. Man weiß noch
nicht, wie sich diese Partei, die möglicherweise auseinanderbrechen wird, entscheiden wird. Gleichzeitig droht
zum Beispiel der Kosovo-Minister aus Serbien, alle Ergebnisse der vorhin erwähnten illegalen Kommunalwahlen zu implementieren. Das führt unweigerlich zu Spannungen. Deshalb ist UNMIK unbedingt erforderlich.
KFOR wird um einige Aufgaben erweitert. Das
wurde gerade vom Verteidigungsminister erwähnt. Es ist
sicherlich wichtig, dass eine selbsttragende Sicherheitsarchitektur auf Dauer geschaffen wird. Ich glaube, dass
dort noch Gefahren bestehen; denn die Kosovaren haben
andere Vorstellungen von den Aufgaben, die ihnen nun
gegeben werden. Sie wollen ein bisschen mehr Militär,
als ihnen gewährt wird. Wir wissen zudem, dass die
UÇK noch immer über gute Waffenreserven in den Kellern verfügt und dass es illegale Milizen gibt, die noch
zum Problem werden können.
All das zusammengenommen - ich könnte noch viel
mehr erwähnen - ist ein Beweis dafür, dass KFOR im
Moment das wichtigste Element ist, um dort Stabilität,
Sicherheit und Schutz der Bevölkerung zu gewähren.
Das muss man schlicht und ergreifend trotz aller Probleme, die es auf internationaler Ebene noch gibt, berücksichtigen.
Kollegin Zapf, achten Sie bitte auf die Redezeit.
Ich bin sofort fertig. Das ist der letzte Satz, keine
Angst.
Ich bitte Sie deshalb, genauso wie die SPD der Verlängerung des Mandats zuzustimmen.
({0})
Sie verkennen die Situation. Ich habe überhaupt keine
Angst. Letztendlich habe ich hier einen Knopf, um das
anders zu beenden. Aber ich hätte es gerne, dass es für
alle fair zugeht und wir uns nicht gegenseitig mit der
Überziehung der Zeit sozusagen nötigen.
Das Wort für die Unionsfraktion hat der Kollege
Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wenn man sich die Länge des heute diskutierten
Mandats anschaut, dann stellt man fest, dass KFOR in
das zehnte Jahr geht. Vor zehn Jahren hat ein notwendiger außen- und sicherheitspolitischer Paradigmenwechsel stattgefunden. Manch einer von uns hat damals sicherlich gedacht, dass das bald vorüber sein wird. Nun
gibt es die bittere Erkenntnis, dass das Ganze nicht so
bald wie erhofft vorüber sein wird. Vor zehn Jahren
wurde die wichtige Grundentscheidung getroffen, kein
weiteres Morden und keinen weiteren Flächenbrand in
dieser Region zuzulassen sowie Grundlagen für Stabilität und Sicherheit dort und damit auch für unsere Sicherheit zu schaffen. All das wäre nicht allein durch
haarspalterische, völkerrechtliche Debatten möglich gewesen. Das hätte mit Sicherheit nicht genügt.
({0})
Es gab sicherlich Talsohlen. Aber KFOR hat klare Erfolge zu verzeichnen. Herr Bundesminister, wir haben
einmal im Jahr die Möglichkeit, Ihren Soldaten, die dort
ihren Dienst tun, zu danken. Wir danken auch den zivilen Helfern vor Ort. Es handelt sich um einen Gesamtansatz der internationalen Gemeinschaft, der dort zum Tragen kommt. Das verdient unseren Dank, unseren
Respekt und unsere Anerkennung.
({1})
Um den Aufgaben gerecht zu werden, vor denen wir
stehen, müssen wir uns fragen, welcher Zukunft das Kosovo, Serbien und die gesamte Region entgegengehen.
Auch das ist eine Frage, die wiederkehrt, die uns aber
immer wieder vor neue Herausforderungen stellt. Das
Kosovo hat sich für die Unabhängigkeit entschieden.
Herr Bundesaußenminister, es war ein schwieriger, aber
ein richtiger Schritt, die Anerkennung auszusprechen.
Der Verhandlungsprozess als solcher wurde nachhaltig
ausgeschöpft. Von daher sind die Einwürfe, die diesbezüglich kamen, schlechterdings falsch.
Die junge Unabhängigkeit hat ihre Schwächen, sie hat
Defizite, sie hat politische Schwächen. Sie hat natürlich
wirtschaftliche Defizite zu bekämpfen, aber diese Unabhängigkeit hat auch Bewegung in den politischen Prozess gebracht, eine Bewegung, die wir jetzt in einen Aufwärtsprozess münden lassen müssen, die wir nicht auf
eine schiefe Ebene geraten lassen dürfen, an deren Ende
wieder Gewalt und Rassismus stehen könnten. Das gilt
es zu vermeiden. Wir sind immer noch in einer instabilen
Übergangsphase, die aber auch gesichert werden muss.
Diese Sicherung ist mit dem KFOR-Mandat weiterhin
herzustellen.
Was den Übergang betrifft, so haben Sie, Herr Kollege
Trittin, die richtigen Fragen gestellt, auch in unseren Augen, was zum Beispiel den Übergang der Verantwortung
von den Vereinten Nationen auf die Europäische Union
anbelangt. Ich glaube, auch hier müssen wir genau abwägen, was möglich und machbar ist, und uns immer
wieder selbstkritisch die Frage stellen - die Diskussionen, die angestoßen werden, Frau Knoche, sind gar nicht
so falsch -, ob uns die Rechtsgrundlagen auf Dauer reichen. Ich glaube, die Rechtsgrundlage ist akzeptabel
- das ist unsere Überzeugung -, aber sie ist immer auch
optimierbar. Was nicht passieren darf, ist, dass wir in
eine Kultivierung einer völkerrechtlichen Debatte bei
dieser Frage hineinkommen, sondern wir müssen zusehen, dass wir eine Optimierung dieses Zustandes insgesamt darstellen können.
Bei der Frage, wie es mit Serbien weitergeht - der
zweiten Frage -, kann man nur sagen: hoffentlich mit
europäischer Vernunft - das Ergebnis für Tadić steht in
meinen Augen für diese europäische Vernunft -, hoffentlich auch mit einer europäischen Perspektive, nicht nur
von unserer Seite - wir erhalten diese aufrecht -, sondern auch in den Köpfen der Menschen in Serbien, und
hoffentlich mit einer verantwortungsvollen Regierungsbildung, die sich nicht das Beispiel Belgrad zum Maßstab nimmt. Es wäre verheerend, wenn die Entscheidung
in der Stadt, diese Entscheidung auf kommunaler Ebene,
übertragen würde und die Radikalen im Boot säßen bzw.
mit diesen eine Regierung gebildet werden müsste.
Bezüglich des Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommens für Serbien haben wir diskutiert, ob es richtig
oder falsch ist, dieses als Anreiz zu setzen. Nun wurde
der Anreiz gesetzt. Wenn man von dem Ergebnis ausgeht, kann man möglicherweise sagen, dass es ein richtiges Signal war. Wir haben da mit uns gerungen. Wir
werden uns aber auch vergewissern müssen, dass die
vereinbarten Bedingungen, Herr Bundesaußenminister,
sich in den unterschriebenen Texten tatsächlich wiederfinden. Sie müssen dort stehen. Wir müssen letztlich
auch hier Sicherheit für die zukünftigen Ansätze haben,
die wir verfolgen.
Wenn wir an die Region denken, dann dürfen wir, solange wir über Serbien und über das Kosovo diskutieren,
Bosnien-Herzegowina, Mazedonien und die gesamte Sicherheitsarchitektur als solche nicht aus dem Blick verlieren. Das ist unsere Aufgabe. Diese Aufgabe bedarf
immer einer immanenten Sicherung. Ein Teil dieser Sicherung wird durch KFOR gewährleistet. Vor diesem
Hintergrund stimmt auch die CDU/CSU einer Fortsetzung zu. Wir werden den gesamten Prozess, so wie er
angestoßen wurde, weiterhin unterstützen.
Vielen Dank.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/9287 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Der Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/9369
soll an dieselben Ausschüsse überwiesen werden, jedoch
an den Haushaltsausschuss ausschließlich zur Mitberatung. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Barbara Höll, Werner Dreibus, Ulla Lötzer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Entfernungspauschale sofort vollständig anerkennen - Verfassungsmäßigkeit und Steuergerechtigkeit herstellen
- Drucksache 16/9167 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion Die Linke fünf Minuten erhalten soll. - Ich
höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Für die Fraktion Die
Linke hat der Kollege Oskar Lafontaine das Wort.
({1})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Die gestiegenen Benzinpreise sind ein Problem
für viele Bürgerinnen und Bürger unseres Landes. Sie
sind im Besonderen ein Problem für viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die auf ein Auto angewiesen
sind, um ihren Arbeitsplatz zu erreichen. Deshalb stellt
sich mehr und mehr heraus, dass die Entscheidung im
Jahr 2007, die Pendlerpauschale deutlich zu reduzieren,
eine falsche Entscheidung war.
({0})
Nicht allein die gestiegenen Benzinpreise bewegen
die Menschen in Deutschland: Auch unsere Strompreise,
Gaspreise und Nahrungsmittelpreise steigen. Die isolierte Betrachtung der Benzinpreise würde hier also
überhaupt nicht weiterhelfen. Letztendlich haben wir
eine solche Veränderung bei den Energiekosten, dass immer mehr Menschen Schwierigkeiten haben, ihre Rechnungen zu begleichen. Deshalb müssen wir in irgendeiner Form Abhilfe schaffen.
({1})
Wir haben rechtzeitig darauf hingewiesen, dass diese
Entscheidung der Koalition eine falsche Entscheidung
war. Wir wurden damals des billigen Populismus bezichtigt. Mittlerweile sind wir froh darüber, dass die Populisten Zulauf bekommen haben.
({2})
Die CSU hat mittlerweile erkannt, dass es doch sinnvoll
wäre, hier etwas zu tun. Sie hat richtigerweise beschlossen, die Entfernungspauschale vom ersten Kilometer an
wieder einzuführen. Das ist zu begrüßen. Es gibt gar keinen Grund, sich darüber irgendwie lustig zu machen.
({3})
Wir wollen jetzt natürlich testen, ob die CSU auch
dazu steht. Wir haben schon öfter festgestellt, dass diejenigen, die in der Öffentlichkeit Forderungen erhoben haben, auf einmal nicht mehr da waren, als wir hier Vorschläge gemacht haben, diese Forderungen umzusetzen.
Wir wollen hier jetzt die Glaubwürdigkeit der CSU testen. Das ist ein Grund, warum wir diesen Antrag vorgelegt haben. Wir wollen, dass dieser Antrag hier tatsächlich zur Abstimmung kommt. Außerdem wollen wir - das
sage ich ganz klar -, dass er vor der bayerischen Landtagswahl zur Abstimmung kommt.
({4})
Wir wollen nämlich nicht durchgehen lassen, dass mit
diesen Versprechungen erst großartig gewedelt wird, bevor hier dann das Gegenteil beschlossen wird.
({5})
- Ich höre da etwas von Ausschussberatung. Man tut so,
als müsste man das alles sehr tief beraten. Die Bürgerinnen und Bürger sollen jetzt hören, welch ungeheuren Beratungsbedarf Sie hierbei haben. Wenn wir Manns oder
Frau genug dazu wären, Ja oder Nein zur Einführung der
Pendlerpauschale zu sagen, dann könnten wir heute hier
entscheiden. Da ist überhaupt nichts mehr zu beraten.
({6})
- Sie können sich noch so erregen; Sie verraten sich ja
nur.
({7})
Sie werden mit diesem Trick natürlich nicht durchkommen. Sie werden sich hier also bekennen müssen. Dazu
möchten wir Sie auf jeden Fall anhalten.
Es geht aber nicht nur um die gestiegenen Benzinpreise. Ich will darauf hinweisen: Es geht auch darum,
dass immer mehr Menschen niedrigere Löhne haben.
Wir dürfen bei dieser Entwicklung der Benzinpreise
nicht den Rest der gesellschaftlichen Entwicklung ausblenden. Deutschland hat mittlerweile den größten Niedriglohnsektor aller Industriestaaten. Dies war noch vor
einigen Jahren überhaupt nicht der Fall. Diese Entwicklung führt natürlich dazu, dass immer mehr Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Schwierigkeiten haben, ihre
Stromrechnung, ihre Gasrechnung und letztendlich die
Fahrt zum Arbeitsplatz zu bezahlen.
Diese Entwicklung zeigt auch, dass die Pendlerpauschale in sich schon ein Problem darstellt, weil sie denen
nicht mehr zugute kommt, die keine Steuern zahlen.
Darauf weist die Fraktion Die Linke immer wieder hin.
Wenn wir also etwas für diejenigen tun wollen, die ein
niedriges Einkommen, einen niedrigen Lohn haben und
trotzdem ihre Fahrten zum Arbeitsplatz bezahlen müssen, müssen wir darüber nachdenken, ob es nicht sinnvoll ist, die Pendlerpauschale in der Form umzubauen,
dass sie auch denen zugute kommt, die gar keine Steuern
mehr zahlen.
({8})
Auch für andere Bereiche gilt: Man weist Steuergutschriften aus, um dem einen oder anderen zu helfen. Das
führt dazu, dass 30 Prozent der Bevölkerung in Zukunft
ausgeklammert sind. Auch darüber müsste in dieser Debatte entschieden werden. Ich kann darauf aus Zeitgründen nicht weiter eingehen.
Wir weisen aber auch darauf hin, dass diese Entscheidung schon verfassungspolitisch äußerst problematisch
war. Wer immer wieder mit großem Fleiß darauf dringt,
dass Selbstständige oder Unternehmer ihre Kosten absetzen können, der kann hier nicht einfach beschließen,
dass Arbeitnehmer keinerlei Kosten von der Steuer absetzen dürfen. Die Lösung, die wir hier vorschlagen, ist
auch deshalb sofort anzustreben, weil das, was Sie beschlossen haben, nach unserer Überzeugung verfassungswidrig ist.
({9})
Ich fasse zusammen: Wir können den Beschluss jetzt
sofort fassen. Der Verdruss, den Sie, meine Damen und
Herren von der Großen Koalition, bei den Kommunalwahlen in Schleswig-Holstein wieder zu spüren bekommen haben, kommt nicht zuletzt daher, dass es in der Öffentlichkeit immer wieder große Ankündigungen gibt,
von denen aber dann, wenn hier im Parlament entschieden werden muss, auf einmal nichts mehr zu hören ist.
Das verärgert die Leute.
Herr Kollege Lafontaine, lassen Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Fricke zu?
Gerne.
Herr Kollege Lafontaine, als Haushälter versuche ich
immer zu verstehen, wo die Reise hingehen und wie viel
das Ganze kosten wird. Sie haben gerade erklärt, dass es
die Pauschale auch für diejenigen geben muss, die keine
Steuern bezahlen. Ich habe nur nicht ganz verstanden,
was dann für die Rentnerinnen und Rentner gilt, die ja
auch keine Steuern bezahlen. Heißt das, dass die Rentnerinnen und Rentner nach Ihrem Programm - ich möchte
es ja nur verstehen - zukünftig auch in den Genuss der
Pendlerpauschale kommen, wenn sie ein Auto haben
und darauf angewiesen sind?
({0})
Sie denken bestimmt, dass Sie uns jetzt fürchterlich
aufs Glatteis führen, Herr Kollege.
({0})
Das ist auch Ihr gutes Recht. Aber damit haben Sie sich
in die Nesseln gesetzt, denn es ist nun einmal so, dass
Rentnerinnen und Rentner nicht zur Arbeitsstätte fahren.
Insofern liegt die Frage völlig neben der Sache.
({1})
Sie fragen nach den Kosten. Ich will Ihnen die Antwort gern geben. Natürlich werden Kosten entstehen.
Aber wer in diesem Jahr Geld hatte, zum Beispiel den
Unternehmen trotz enormer Gewinne 22 Milliarden
Euro zu geben, der kann nicht sagen, die Pendlerpauschale sei nicht finanzierbar. Das ist total unglaubwürdig.
({2})
Ein letztes Argument gegen die Pendlerpauschale
könnte sein - entsprechende Zwischentöne sind hier angeklungen -, dass wir die ökologische Frage damit unsachgemäß beantworten würden. Diese Debatte ist schon
sehr alt. Aber der Anreiz zum Energiesparen hat über
steigende Strompreise, steigende Gaspreise, deutlich gestiegene Benzinpreise und steigende Heizölpreise bereits
ein sehr hohes Ausmaß erreicht. Gleichzeitig wissen
viele Menschen nicht mehr, wie sie diese überhaupt noch
bezahlen sollen. Daher tritt jetzt die soziale Frage in den
Vordergrund, und es ist sofort Abhilfe zu schaffen.
({3})
Für die Unionsfraktion hat der Kollege Olav Gutting
das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen!
Meine Herren! Lassen Sie mich zunächst dem Eindruck
entgegentreten, dass die Verfassungswidrigkeit der AbOlav Gutting
schaffung der Pendlerpauschale schon abgemachte
Sache ist. Die Linke fordert in ihrem Antrag, Verfassungsmäßigkeit herzustellen. Noch hat das Bundesverfassungsgericht aber überhaupt nicht entschieden. Keiner kann heute genau vorhersagen, wie Karlsruhe diesen
Fall entscheiden wird. Das gilt auch für Die Linke, und
das gilt auch für Sie, Herr Lafontaine, es sei denn, dass
Ihr Fraktionskollege Gysi vielleicht auch in Karlsruhe
gespitzelt hat.
Kollege Gutting, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Höll?
({0})
Nein, nicht an dieser Stelle. Ich habe gerade erst angefangen.
({0})
Ich will nur daran erinnern, dass im letzten Jahr einige
deutsche Finanzgerichte die aktuelle Regelung der Pendlerpauschale durchaus als verfassungskonform betrachtet haben. Die Große Koalition hat die Abschaffung der
Pendlerpauschale zum Jahreswechsel 2006/2007 ökonomisch und finanzpolitisch gut begründet. Auch andere
Länder wie die USA, Spanien oder Irland verfahren nach
dem Werkstorprinzip, nach dem die berufliche Sphäre
erst am Werkstor beginnt.
Es gibt viele schwerwiegende - auch umwelt- und
raumordnungspolitische - Argumente, die für die Beibehaltung der Abschaffung der Pendlerpauschale sprechen.
Dennoch sehe ich diesbezüglich Handlungsbedarf. Seit
wir im Jahr 2006 die Abschaffung der Pendlerpauschale
beschlossen haben, haben sich die Benzinpreise von
1,18 Euro auf über 1,50 Euro pro Liter entwickelt. Der
Preis für das Barrel Rohöl hat sich fast verdreifacht. Dieser massive Anstieg der Rohölpreise wurde vor allem
durch Spekulationen auf dem Weltmarkt hervorgerufen,
die in dieser Form keiner vorhersehen konnte.
Wir werden wohl auch zukünftig eine Erhöhung der
Spritpreise sehen. Im Hinblick darauf, dass China und
Indien immer mehr Energie vom Weltmarkt absaugen,
die Förderung von Erdöl gleichzeitig aber immer teurer
wird, kann jeder, der bis drei zählen kann, vorhersagen,
dass die Energiepreise auch in Zukunft steigen werden.
Jetzt gibt es einige, die meinen: Wenn der Liter Benzin 1,50 Euro kostet, dann klingelt beim Bundesfinanzminister die Kasse.
({1})
Richtig ist, dass die Steuerbelastung bei Benzin und Diesel - Mineralölsteuer, Ökosteuer, Mehrwertsteuer - ganz
beträchtlich ist. Aber der allseits zu hörende Vorwurf,
dass der Bundesfinanzminister der heimliche Profiteur
der steigenden Spritpreise sei, ist so nicht ganz richtig.
Seit der fünften Stufe der Ökosteuer unter Rot-Grün
2003 hat sich die Energiesteuer auf Kraftstoffe nicht
mehr erhöht.
({2})
Die Mineralölsteuer und die Ökosteuer betragen seit
2003 fix 65,5 Cent je Liter,
({3})
völlig egal, ob die Preise steigen oder fallen.
({4})
Bei dem aktuell sinkenden Verbrauch gehen die Einnahmen aus der Erhebung der Energiesteuer sogar zurück.
Richtig ist - das will ich gern zugeben -, dass der
Mehrwertsteueranteil gestiegen ist und dass in diesem
kleinen Mehrwertsteuerbereich
({5})
tatsächlich Mehreinnahmen beim Fiskus vorhanden
sind. Diese haben aber bei Weitem nicht ein Volumen
von 2,5 Milliarden Euro, wie Sie vorhin angeführt haben. Die Kosten für diese Regelung zur Pendlerpauschale betragen 2,5 Milliarden Euro. Das ist aber nicht
das Mehr bei den Mehrwertsteuereinnahmen. Die etwas
erhöhten Mehrwertsteuereinnahmen in diesem Bereich
taugen also nicht zur Gegenfinanzierung.
({6})
Warum erzähle ich Ihnen das? Bei allem, was wir fordern und tun, dürfen wir das Ziel des konsolidierten
Haushalts nicht vergessen. Das Ziel ist der ausgeglichene Haushalt, und dieses Ziel müssen wir mit der Entlastung der Pendler in Übereinstimmung bringen. Der
eingeschlagene Haushaltskonsolidierungskurs der Großen Koalition hat dabei absoluten Vorrang vor irgendwelchen populistischen Schnellschüssen.
({7})
In Verantwortung vor zukünftigen Generationen müssen die Staatsfinanzen saniert werden. Zurzeit fließt jeder sechste Steuereuro in den Schuldendienst. Selbst bei
einem ausgeglichenen Haushalt - einen solchen wollen
wir 2011 erreichen - müsste der Bund bei dem jetzigen
Zinssatz immer noch über 40 Milliarden Euro allein für
Zinsen aufbringen. Ein ausgeglichener Haushalt allein
wird deswegen gar nicht ausreichen, um die Staatsfinanzen zu sanieren.
({8})
Neben einer Schuldenbremse benötigen wir darum
eine kluge Wachstumspolitik. Jetzt sind wir wieder bei
den Pendlern. Die hohen Energiepreise haben natürlich
Einfluss auf unser Wachstum. Wenn die Menschen keine
Arbeit aufnehmen, weil es sich aufgrund der hohen
Benzinpreise für sie gar nicht mehr lohnt, zur Arbeit zu
fahren, dann wird das Auswirkungen auf unser Wirtschaftswachstum haben. Die Frage ist daher nicht, ob
wir Pendlerinnen und Pendler entlasten, sondern die
Frage ist lediglich, wie und wann.
({9})
Man kann es sich natürlich einfach machen, wie es
jetzt die Linke tut, und fordern: Her mit der alten Regelung! Ich pfeife auf die Schulden. Mögliche Vorgaben
des Bundesverfassungsgerichts interessieren mich sowieso nicht. - Seriöse Politik sieht anders aus. Wer sagt
denn überhaupt, dass das Bundesverfassungsgericht bei
der zu erwartenden Entscheidung die alte Regelung noch
als verfassungskonform ansieht?
Kollege Gutting, lassen Sie jetzt eine Zwischenfrage
der Kollegin Dr. Höll zu?
Nein. - Verfassungsrechtliche Sicherheit bei der Regelung der Pendlerpauschale werden wir erst nach der
Entscheidung von Karlsruhe haben. Deswegen macht es
Sinn, die Entscheidung des Gerichts abzuwarten und erst
dann die politischen Spielräume innerhalb der rechtlichen Vorgaben zu nutzen.
({0})
Dieses Abwarten ist auch deshalb vertretbar, weil
schon heute die folgende Situation gegeben ist: Jeder
Pendler kann sich einen Freibetrag entsprechend der alten Regelung auf der Lohnsteuerkarte eintragen lassen.
Das heißt, den Berufspendlern geht, wenn sie das auf ihrer Lohnsteuerkarte so eintragen lassen, zurzeit überhaupt nichts verloren.
Lassen Sie mich zusammenfassen: Die Voraussetzungen, die im Zeitpunkt der Änderung der Pendlerpauschale vorlagen, sind nicht mehr die gleichen wie heute.
Mit dieser Erkenntnis, gemäß den zu erwartenden Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts und auf der Grundlage einer seriösen Finanzierung wird sich die Unionsfraktion der Pendlerinnen und Pendler annehmen. Wer in
diesem Land arbeitet, wer morgens aufsteht, wer für sich
und seine Familie schuftet, wer dabei auch noch Flexibilität beweist und - nicht immer freiwillig - lange Wegstrecken zur Arbeit auf sich nimmt,
({1})
der kann sich darauf verlassen, dass die Union an seiner
Seite steht.
({2})
Ich plädiere deshalb für eine Neuregelung, die den zu erwartenden Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts entspricht und dabei das Ziel der Haushaltskonsolidierung
nicht über Bord wirft. Erst die Vorgaben aus Karlsruhe
abwarten, dann die Neuregelung der Pendlerpauschale
vornehmen!
({3})
Zu einer Kurzintervention hat nun die Kollegin
Dr. Barbara Höll das Wort.
Danke, Frau Präsidentin. - Herr Gutting, ich möchte
Sie fragen, ob Sie wirklich der Meinung sind, dass sich
das Hohe Haus in seiner Gesamtheit Ihrer abenteuerlichen Politikauffassung anschließen sollte, dass es richtig
ist, Gesetze wie dieses zu verabschieden, bei dem erstens
eine ganze Reihe von Sachverständigen im Rahmen der
Anhörung des Finanzausschusses darauf hingewiesen
haben,
({0})
dass es nicht verfassungskonform ist, und bei dem zweitens die Situation bestand, dass das Bundesverfassungsgericht im Rahmen des Urteils zur doppelten Haushaltsführung einige Jahren vorher das objektive Nettoprinzip
bestätigt hatte, gemäß dem allen Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmern ermöglicht werden muss, ihre erwerbsbedingten Ausgaben steuerlich geltend zu machen. Vor
diesem Hintergrund war es schon sehr abenteuerlich,
hier das Gesetz zu verabschieden. Noch abenteuerlicher
ist es, jetzt abwarten zu wollen, wie das Bundesverfassungsgericht entscheidet. Wir können uns dieser abenteuerlichen Politikauffassung nicht anschließen. Wir
stützen uns mit unserem Antrag auf die Meinung vieler
Sachverständiger, wonach der jetzige Zustand nicht verfassungskonform ist.
({1})
Herr Gutting, Sie haben die Möglichkeit zu einer Erwiderung, bitte.
Liebe Kollegin Frau Dr. Höll, ich bewundere Ihren juristischen Scharfsinn, insbesondere, weil Sie, wie ich gelesen habe, Philosophie studiert haben. Respekt!
({0})
Lassen Sie mich aber darauf hinweisen, was ich vorhin gesagt habe: In diesem und im letzten Jahr haben
drei deutsche Finanzgerichte bereits die Verfassungsmäßigkeit dieser Regelung akzeptiert.
({1})
Gedulden Sie sich noch einige Wochen oder Monate!
Dann sind wir alle schlauer. Dann können wir hier gerne
noch einmal darüber diskutieren.
({2})
Der Kollege Dr. Volker Wissing spricht nun für die
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zunächst einmal ist die Pendlerpauschale nicht abgeschafft worden, lieber Kollege Gutting, sondern sie
wurde erheblich eingeschränkt.
({0})
Ihrer Aussage, die Voraussetzungen haben sich seither
wesentlich verändert, stimme ich zu. Es ist nämlich seither zu einem deutlichen Anstieg der Energiepreise gekommen. Es ist seither auch zu erheblichen Mehrbelastungen der Bürgerinnen und Bürger gekommen.
({1})
Gleichzeitig ist seither das Steueraufkommen erheblich
gestiegen, sodass es ganz richtig ist, dass wir heute einmal darüber reden, wie wir die Bürgerinnen und Bürger
in Deutschland wieder entlasten können.
({2})
Die Haltung zu dieser Pendler- bzw. Entfernungspauschale ist ein Paradebeispiel dafür, um einmal zu testen,
wer hier wirklich ernsthaft für steuerliche Entlastung der
Bürgerinnen und Bürger steht oder wer hier nur Lippenbekenntnisse vor den Kameras draußen abgibt, in der
Bevölkerung immer wieder einen falschen Eindruck erweckt
({3})
und hier genau das Gegenteil von dem beschließt, was in
den Parteiprogrammen steht.
({4})
Ich möchte jetzt einmal auf die CSU zu sprechen
kommen: Diese ist ja in dieser Legislaturperiode vom
finanzpolitischen Saulus zum Paulus geworden. Die
Mehrwertsteuererhöhung haben Sie, liebe Kolleginnen
und Kollegen von der CSU, mitbeschlossen, die Kürzung der Pendlerpauschale haben Sie mitbeschlossen,
die Kürzung des Sparerfreibetrages haben Sie mitbeschlossen, die Abschaffung der Abzugsfähigkeit der
Steuerberatungskosten haben Sie mitbeschlossen. Jetzt
aber, wo die Bayern-Wahl näher rückt, erklären Sie uns,
Sie hätten das alles niemals machen wollen und seien
immer dagegen gewesen. Für so doof dürfen Sie die
Menschen in Deutschland nicht halten, dass sie das nicht
durchschauen. Sie wissen ganz genau, dass die CSU,
ebenso wie die CDU, für die Steuererhöhungen, die in
dieser Großen Koalition beschlossen worden sind, steht;
denn Sie haben das alles mitgemacht.
({5})
Sie befinden sich auch in guter Gesellschaft. Selbst
die SPD, die Steuererhöhungspartei in Deutschland,
sagt: Wir wollen die alte Pendlerpauschale wiederhaben.
({6})
- Ja, Sie sind die Steuererhöhungspartei in Deutschland.
So ist das.
({7})
Da kommt dann Herr Gabriel als Umweltminister und
sagt, die Pendlerpauschale müsse wieder wie früher gelten. Da fragt man sich: Wie kommt man denn auf so eine
Idee?
({8})
Wenn man einer Partei angehört, die die Pendlerpauschale zusammengestrichen hat, die den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in die Tasche gegriffen hat,
dann ist es doch unredlich, sich draußen hinzustellen und
zu sagen, das habe man nicht gewollt. Wenn Sie ehrlich
wären, dann würden Sie hier Initiativen ergreifen, um
das rückgängig zu machen, was Sie an finanzpolitischen
Sünden beschlossen haben.
({9})
Kommen wir zu den Grünen. Das ist ja die Partei der
hohen Energiepreise in Deutschland. Frau Höhn sagte,
sie habe den Übeltäter entdeckt: Die Spekulanten seien
es. Über den Daumen gepeilt, so sagte sie, seien 10 bis
20 Cent pro Liter an den Tankstellen auf internationale
Finanzspekulationen zurückzuführen.
({10})
Ich frage Sie: Wer hat denn die Ökosteuer eingeführt und
damit Energie systematisch teurer gemacht in Deutschland? Das waren doch Sie!
({11})
Die hohen Energiepreise in Deutschland sind Spätfolgen
rot-grüner Umwelt- und Finanzpolitik.
({12})
Auch das muss man bei diesem Thema hier einmal zur
Sprache bringen.
({13})
Wenn die Bürger heute bei einem Preis von 1,50 Euro
für einen Liter Benzin 89,4 Cent an Steuern zahlen müssen, dann ist das auch ein Ergebnis von sieben Jahren
rot-grüner Finanz- und Steuerpolitik.
({14})
Frau Höhn kritisiert zu Recht die Spekulationen. Aber
viel schlimmer sind doch die Preistreiber, die in Ihrer
Zeit Regierungsverantwortung hatten und die heute in
der Großen Koalition Regierungsverantwortung haben.
({15})
Benzin hat heute einen Literpreis von 1,50 Euro; davon entfallen 59,6 Prozent auf Steuern. Sie brauchen als
Grüne die Verantwortlichen nicht auf den internationalen
Finanzmärkten zu suchen. Schauen Sie sich die Regierungsbank an, und schauen Sie auch einmal in Ihre eigenen Reihen! Sie sind die Vertreter der Partei der hohen
Energiekosten in Deutschland.
({16})
Wenn Sie für die Finanzinvestoren die Rote Karte ziehen
wollen, dann ziehen Sie sie auch vor der rot-grünen und
der schwarz-roten Energieverteuerungspolitik.
Wir werden Ihnen von der CSU die Möglichkeit geben, hier darüber abzustimmen und klar Farbe zu bekennen, ob Sie das Steuerkonzept und die Steuersenkungen,
die Sie in Bayern den Menschen versprechen, auch hier
im Deutschen Bundestag vertreten. Das ist eine Glaubwürdigkeitsfrage, und wir werden Ihnen Gelegenheit geben, diese Glaubwürdigkeitsfrage vor den Wählerinnen
und Wählern rechtzeitig zu beantworten.
Kollege Wissing, wenn Sie eine Zwischenfrage gestatten, dann können wir das mit der soeben überzogenen Redezeit noch vertreten.
Ich lasse die Zwischenfrage gerne zu.
Herr Kollege Wissing, ich wollte Sie nur fragen, wie
das, was Sie gerade zu den Umweltsteuern vorgetragen
haben, zur Programmlage Ihrer Partei und insbesondere
zu dem entsprechenden Beschluss, den Sie zu den Umweltsteuern gefasst haben, passt.
Lieber Kollege Schick, im Gegensatz zu Ihnen vertreten wir konsequent eine Politik der steuerlichen Entlastung der Mitte in Deutschland.
({0})
Während Sie in der rot-grünen Regierungszeit eine Steuererhöhung nach der anderen beschlossen haben
({1})
und nichts vorlegen, was die Mitte in Deutschland steuerlich entlastet, stehen wir konsequent für das Gegenteil.
Wir wollen den Menschen in Deutschland die Möglichkeit zurückgeben, in Wohlstand zu leben.
({2})
Wir sind nicht bereit, hinzunehmen, dass die Löhne und
Gehälter in Deutschland um 3,5 Prozent sinken, die
Steuereinnahmen in der gleichen Zeit um 19 Prozent
steigen
({3})
und den Menschen, wenn sie Probleme mit den hohen
Energiepreisen haben, nichts zurückgegeben wird und
sie im Regen stehen gelassen werden. Dazu ist die FDP
nicht bereit.
({4})
- Herr Kollege Tauss, Sie sind einer derjenigen, die die
Kürzung der Pendlerpauschale beschlossen haben, und
einer derjenigen, die die Erhöhung der Mehrwertsteuer
um 3 Prozent beschlossen haben, wodurch die Energiekosten in Deutschland verteuert wurden. Sie sind einer
der Mitverantwortlichen dafür, dass Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer sinkende Einkommen in Deutschland
haben. Ich glaube, Sie sollten hier weniger lautstark dazwischenrufen
({5})
und sich stattdessen die Frage stellen, was die Bilanz der
von Ihnen mitverantworteten Politik in dieser Großen
Koalition ist.
Meine Damen und Herren, die Bayern sind nicht auf
den Kopf gefallen. Sie werden es Ihnen nicht abnehmen,
wenn Sie vor der Bayern-Wahl eine Senkung der Steuern
versprechen und sich hinterher nicht mehr daran erinnern lassen. Wir lassen Ihnen das nicht durchgehen.
Kollege Wissing, Sie müssen jetzt wirklich zum
Schluss kommen.
Ich komme zum Ende.
Sie wissen ganz genau, dass alle Sachverständigen in
der Anhörung gesagt haben, dass die Regelung, die Sie
zur Pendlerpauschale beschlossen haben, mit der VerfasDr. Volker Wissing
sung nicht vereinbar ist. Sie haben sie trotzdem eingeführt. Das wird Ihnen völlig zu Recht auf die Füße fallen.
({0})
Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Florian
Pronold das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Wenn es jemandem gelingt, Pinocchio und Münchhausen in den Schatten zu stellen, dann dem Kollegen
Wissing. Diese Ansammlung von Lügen und Falschdarstellungen, die er gerade präsentiert hat, ist in diesem
Haus fast schon einmalig.
({0})
Erste Wahrheit. Die höchste Steuerbelastung in der
Geschichte der Bundesrepublik Deutschland und die
meisten Steuererhöhungen hat die FDP während ihrer
Regierungszeit mitzuverantworten.
({1})
- Das ist so. Man kann dies anhand von Fakten nachweisen.
Zweite Wahrheit. Wer redet denn immer von einem
vereinfachten Steuerkonzept und lobt in diesem Zusammenhang den Kirchhof? Das sind doch Sie. Kirchhof
und die FDP fordern aber die komplette Abschaffung der
Pendlerpauschale als unzulässige Steuersubvention.
Wenn Sie sich jetzt hier hinstellen und die Pendlerpauschale verteidigen, dann ist das mehr als eine Lüge. Das
ist schon eine Frechheit und eine Wählerverdummung.
({2})
Ich komme zum eigentlichen Thema, nämlich zur
Pendlerpauschale.
({3})
- Das habe ich schon mehrmals dargestellt. Ich kann Ihnen es gerne noch einmal erklären.
({4})
Der vorliegende Antrag beinhaltet eine Forderung der
CSU. Deshalb bin ich überrascht, dass ein Abgeordneter
von der CDU dazu gesprochen hat. Ich hätte mich gefreut, wenn der Kollege Rupprecht, der sich am letzten
Freitag zur Pendlerpauschale geäußert und bei der Gelegenheit ein „Mea culpa“ abgegeben hat, zu diesem
Thema gesprochen hätte. Er hat nämlich gesagt, es sei
ein schwerer Fehler gewesen, der Kürzung der Pendlerpauschale zuzustimmen. Wie gesagt, es wundert mich,
dass er heute nicht geredet hat. Denn Erwin Huber hat
noch vor kurzem im Fernsehen erklärt, dass er nie etwas
mit der Kürzung der Pendlerpauschale zu tun hatte. Es
besteht in dieser Sache also ein kleiner Widerspruch.
({5})
Es stellt sich die Frage nach der Historie. Die Historie
ist, dass die SPD die Pendlerpauschale ab dem ersten Kilometer beibehalten wollte.
({6})
Die Union hat sich aber in diesem Punkt der Koalitionsvereinbarung durchgesetzt.
({7})
Wir haben dafür die Steuerfreiheit der Nacht- und Sonntagsarbeit erhalten können.
Wir haben der Union zweimal angeboten - das habe
ich hier schon mehrfach erwähnt -, diese Regelung zu
ändern. Dieser Vorstoß ist aber jeweils gescheitert.
({8})
Deswegen kommen wir zu dem bedauerlichen Ergebnis,
dass man die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts abwarten muss. Denn innerhalb der Koalition bekommen wir keine Mehrheit für eine andere Regelung.
Ich kann dies anhand von Fakten und von Erklärungen
dokumentieren.
Aus unserer Sicht kommt die Pendlerpauschale den
Menschen zugute, die flexibel sind und arbeiten gehen.
Kollege Pronold, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Spieth?
Ja, immer.
Besten Dank, Herr Kollege Pronold. - Ich habe eine
zweigeteilte Frage. Der haushaltspolitische Sprecher der
SPD-Bundestagsfraktion, Carsten Schneider, hat vor
vier Wochen in der Thüringer Allgemeinen erklärt:
Sollte uns das Bundesverfassungsgericht entgegen meiner Auffassung dazu verurteilen, die Pendlerpauschale
wieder ab dem ersten Kilometer zu zahlen, dann werden
wir, weil keine Gelder im Steuersäckel vorhanden sind,
diese Pendlerpauschale für alle halbieren.
Herr Finanzminister Steinbrück hat kürzlich erklärt:
Sollte uns das Bundesverfassungsgericht dazu verurteilen, ab dem ersten Kilometer zu zahlen, müssen wir
ernsthaft darüber nachdenken, von der Pendlerpauschale
ganz Abstand zu nehmen und das sogenannte Werkstorprinzip einzuführen, das heißt, Kosten nur noch ab
Werkstor zu erstatten.
Welche dieser beiden Positionen wird denn nun von
der SPD-Bundestagsfraktion vertreten? Ich glaube, die
Bürgerinnen und Bürger hätten in diesem Punkt gerne
Klarheit.
Zuerst darf ich einmal darauf hinweisen, dass jeder
Steuerausfall einer Gegenfinanzierung bedarf. Das ist
der Linken vielleicht nicht bewusst.
({0})
Wenn ich mir alle Ihre Forderungen anschaue, dann
wundert es mich schon, wie man immer davon ausgehen
kann: Man verschenkt etwas und gibt gleichzeitig das,
was man verschenkt hat, noch einmal als Staatsausgabe
aus. Das geht nicht.
({1})
- Natürlich. Aber ich will diesen zentralen Hinweis geben.
Wenn das Bundesverfassungsgerichtsurteil vorliegt,
werden wir zwei Antworten haben, nämlich auf die beiden von Ihnen gestellten Fragen. Das Erste ist: Wie Sie
wissen, muss eine Pauschale mit den realen Kosten zu
tun haben. Die Grünen werden nachher vermutlich sagen: Auch wir waren immer für die Pendlerpauschale. Aber hier im Bundestag sind sie auch einmal für eine
Halbierung auf 15 Cent eingetreten.
({2})
Das ist aus meiner Sicht verfassungsrechtlich schwer
haltbar, weil eine solche Pauschale nicht mehr die realen
Kosten abdeckt, die sie abdecken muss, damit sie verfassungskonform ist.
({3})
Das ist meine Rechtsauffassung zu dieser Frage. Ich
gehe davon aus, dass das Bundesverfassungsgericht
auch dazu etwas sagen wird.
Die zweite Antwort - dies wurde im BFH-Urteil angesprochen - betrifft das Werkstorprinzip. Im Kern
haben wir mit der Beschlusslage des Deutschen Bundestages das Werkstorprinzip eingeführt, weil die Pendlerpauschale zwar abgeschafft worden ist, aber ab dem
21. Kilometer de facto gezahlt wird. Der BFH - auch
frühere Rechtsprechungen des Bundesverfassungsgerichts - hat in seinem Urteil sehr ausführlich darauf hingewiesen, dass man das Werkstorprinzip prinzipiell einführen kann, dass es aber zum Nettoprinzip passen und
es im gesamten Steuerrecht entsprechende Konsequenzen geben muss.
({4})
Deswegen gehe ich davon aus, dass wir, wenn das Urteil
des Bundesverfassungsgerichts vorliegt, wieder eine
Pendlerpauschale ab dem ersten Kilometer einführen
werden und wir, weil wir eine seriöse Politik machen,
eine Gegenfinanzierung für die Steuerausfälle finden
müssen, die dadurch entstehen.
({5})
- Es wurde gerade der Zuruf gemacht, wir hätten keine
Gegenfinanzierung. Das ist falsch. Die SPD hat es immer anders gemacht, als es jetzt andere tun.
({6})
Denn jeder unserer Vorschläge dazu, wie wir zur Gewährung der Pendlerpauschale ab dem ersten Kilometer
zurückkommen, war immer - sei es damals in den
Berichterstattergesprächen, sei es in den Debatten im
Deutschen Bundestag oder sei es im November 2007 im
Koalitionsausschuss - mit einem Gegenfinanzierungsvorschlag unterlegt. Für uns steht im Mittelpunkt eine
solide Finanzpolitik, die den Leuten kein Wolkenkuckucksheim verspricht, sondern eine Gegenfinanzierung
vorsieht.
Kollege Pronold, lassen Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Schäffler zu?
Wenn meine Redezeit dadurch wieder verlängert
wird, nehme ich das gerne in Kauf.
Die Zeit wurde schon wieder angehalten, wie Sie sehen.
Herr Kollege Pronold, Sie haben gerade erklärt, dass
Sie für die Pendlerpauschale ab dem ersten Kilometer
sind. Wie hoch soll denn dann die Pendlerpauschale
sein?
Wir haben damals einen Gegenvorschlag unterbreitet,
der 25 Cent und nicht 30 Cent ab dem ersten Kilometer
vorgesehen hat. Das war der Versuch, über diesen Weg
einen Teil der Gegenfinanzierung zustande zu bekommen. Die Gegenfinanzierung betraf auch noch andere
Bereiche. Wir haben aber das, was Ausgangspunkt der
Debatte war, nämlich das absehbare Urteil, zu berücksichtigen, also die realen Kosten der Betroffenen.
({0})
- Nein. Vielleicht hören Sie einfach zu!
({1})
- Ich meine in diesem Fall nicht Sie, sondern die anderen Kolleginnen und Kollegen. Ihre Frage ist beantwortet; Sie dürfen sich setzen.
Wir müssen seriös gegenfinanzieren. Sie behaupten
zwar, dass das alles einfach ist. Aber zum Schluss muss
man das addieren, und dann muss der Haushalt aufgehen. Das wird nicht der Fall sein, wenn man das so
macht, wie das hier gefordert wird. Die Menschen haben
es satt, dass man ihnen etwas verspricht und man davon
nachher nichts mehr hört. Deswegen ist die einzige Antwort, die man darauf geben kann, die der SPD: Wir stehen zur Haushaltskonsolidierung, sind aber sehr wohl
bereit, zu einer Pendlerpauschale ab dem ersten Kilometer zurückzugehen. Wir haben das in diesem Haus immer
vertreten; dies stand schon in unserem Wahlprogramm.
({2})
Wir werden dies im Lichte des Verfassungsgerichtsurteils umsetzen.
Herzlichen Dank.
({3})
Kollege Pronold, diese Debatte wird zweifelsfrei sehr
emotional geführt. Ich bitte aber darum, dass Tatsachenbehauptungen, die in Bezug auf Kollegen in den Raum
gestellt werden, zum Beispiel, dass sie gelogen haben,
belegt werden oder andere Worte gefunden werden, um
Empörung auszudrücken.
({0})
Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege
Rupprecht.
Lieber Kollege Pronold, nachdem ich persönlich und
die CSU mehrfach angesprochen wurden, betone ich
noch einmal, was ich vor einer Woche hier im Plenum
formuliert habe: Es war ein Fehler, die Pendlerpauschale
derart zu kürzen.
Zur Erinnerung an die damalige Situation: ein strukturelles Defizit im Haushalt in Höhe von 60 Milliarden
Euro; darüber hinaus 5 Millionen Arbeitslose, was verheerende Folgen für diesen Haushalt hatte. In dieser
Notsituation haben sich die CSU-Parlamentarier auf Basis einer fachlichen Einschätzung des Bundesfinanzministeriums, nach der die Änderung verfassungskonform
ist, dazu durchgerungen, die Entscheidung mitzutragen.
Die Zeiten haben sich geändert. Beim Bundeshaushalt
und in anderen Punkten haben wir wesentliche Verbesserungen erreicht. Deswegen haben wir intensiv darüber
diskutiert und entschieden, dass wir als Partei für die
Rückkehr zur ursprünglichen Pendlerpauschale eintreten: 30 Cent ab dem ersten Kilometer, und zwar nicht,
wie es die SPD will, auf Kosten des Pauschbetrages.
({0})
Die CSU hat diese Position einstimmig formuliert.
Ich frage Sie an dieser Stelle, ob Sie in der SPD Ähnliches bewerkstelligen können. Können Sie einen entsprechenden Parteitags- oder Gremienbeschluss zustande
bringen? Können Sie den Finanzminister dahin gehend
überzeugen? Wenn dem so ist, können wir das - davon
bin ich überzeugt - zügig gemeinsam beschließen.
({1})
Sie haben die Möglichkeit zur Erwiderung.
Herr Kollege Rupprecht, wir haben, wie Sie vielleicht
wissen - manchmal vergisst man das ja -, eine Koalition
aus drei Parteien.
({0})
Nachdem die SPD sowohl im Jahr 2005 - ich kann
Ihnen den Brief an Herrn Ramsauer vorlesen, in dem wir
Sie aufgefordert haben, bei der Pendlerpauschale für Änderungen einzutreten - als auch im November 2007 Herr Struck hat in einer Sitzung des Koalitionsausschusses gesagt, dass wir bereit sind, die Pendlerpauschale ab
dem ersten Kilometer zu gewähren, und auch Herr
Steinbrück hat sich für diesen Vorschlag offen gezeigt Vorstöße gemacht hat, ist es nun an der CSU, die CDU
zu überzeugen, damit wir das hinbekommen können.
Dann werden wir das machen.
({1})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die
Kollegin Christine Scheel das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir finden es klasse, dass die Koalition ihre internen
Verhandlungen mittlerweile im Plenum führt. Man muss
sich aber schon fragen, ob es diese Koalition überhaupt
noch gibt.
({0})
Innerhalb der Koalition gibt es mindestens drei verschiedene Meinungen zum gleichen Thema,
({1})
obwohl man behauptet hat, man sei sich einig. Das kann
man aber wirklich nicht feststellen.
Was war die Ausgangssituation? Die Linke hat die
Wiedereinführung der Pendlerpauschale beantragt, weil
der Parteivorstand der CSU das kürzlich beschlossen
hat. In dem Beschluss heißt es - die Formulierung finden
wir auch im Antrag der Linken -:
Der Systemwechsel bei der Pendler-Pauschale zu
Beginn des Jahres 2007 hat sich als das Ärgernis
für viele Arbeitnehmer herausgestellt.
Jetzt weiß man, warum diese Debatte so verläuft, wie
sie verläuft: weil im September Landtagswahlen in Bayern stattfinden. Der Volksmund sagt dazu: weil der CSU
der Arsch auf Grundeis geht.
({2})
Dazu sagen wir: So kann man keine Politik machen.
({3})
Wir müssen berücksichtigen, mit welch großer Leidenschaft sich die Abgeordneten der CDU/CSU und der
SPD im Finanzausschuss dieses Themas angenommen
haben. Zur Haushaltskonsolidierung wollte man einen
Beitrag in der Größenordnung von 2,5 Milliarden Euro
leisten. Alle haben gesagt: Wir haben jetzt die richtige
Lösung gefunden und keine verfassungsrechtlichen Probleme. Unsere Juristinnen und Juristen haben das geprüft. Alle haben gesagt: Wir haben einen guten Konsens
gefunden.
Mittlerweile will bei Ihnen niemand mehr etwas von
dieser Entscheidung wissen. Ich bitte Sie, wenn es so ist,
den Mut zu haben und zu sagen, wie Sie es gemeinsam
haben wollen. Bieten Sie den Leuten nicht alles Mögliche an, nicht jeder etwas anderes, je nachdem, wo er gerade ist. Jedem wird nach dem Mund geredet.
({4})
Am Ende sagen die Leute: Wir werden von der Politik
nicht mehr ernst genommen. Die Politikverdrossenheit
wächst dadurch. Mit diesem Punkt müssen wir uns auch
unter demokratischen Gesichtspunkten auseinandersetzen. Man muss sich fragen, was für ein Bild Sie in der
Öffentlichkeit abgeben. Das ist das große Problem.
({5})
- Jetzt klatscht auch die FDP. Das freut mich. Aber ich
muss sagen, Kollege Wissing,
({6})
hinsichtlich der Umweltpolitik gibt es bei der FDP nur
ein ganz tiefes schwarzes Loch. In Ihrem Programm haben Sie geschrieben, dass man in der Energiepolitik Veränderungen braucht und ökologische Anreize setzen
muss. Das liest man bei Ihnen hie und da. Ich frage Sie:
Wie sollen diese ökologischen Anreize gesetzt werden?
({7})
Das haben Sie hier nicht beantwortet. Sie haben herumschwadroniert, die FDP sei die große Steuersenkungspartei.
Kollegin Scheel, lassen Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Dr. Höll zu?
Oh ja.
Liebe Kollegin Scheel, da Sie nur vier Minuten Redezeit haben,
({0})
sich bis jetzt sehr intensiv mit den anderen Parteien auseinandergesetzt haben und ich nicht weiß, ob Sie noch
zur Darstellung Ihrer eigenen Position kommen werden,
wollte ich Folgendes fragen: Sie haben, als wir das
Thema vor kurzem im Finanzausschuss beraten haben,
vehement vertreten, dass Sie schon immer gegen die Abschaffung der Entfernungspauschale waren. Am gleichen Tag erschien ein Artikel in der Financial Times, in
dem versucht wurde, die Steuerkonzepte der Parteien gegenüberzustellen. Da wurde Kollege Schick mit der
Aussage zitiert, die Grünen seien natürlich für die Abschaffung der Entfernungspauschale. Diesen Punkt
würde ich gerne klargestellt haben, damit man in der politischen Debatte weiß, wie die Mehrheitsmeinung Ihrer
Fraktion ist.
({1})
Vielen Dank für die Frage. Sie gibt mir die Gelegenheit, ein bisschen länger zu reden. Das finde ich klasse.
({0})
Ich möchte auf die Frage hin noch einmal in Erinnerung
rufen, dass die Einführung der Entfernungspauschale in
der Form, den Bürgern und Bürgerinnen ab dem ersten
Kilometer einen bestimmten Betrag zur Verfügung zu
stellen, und zwar unabhängig davon, ob sie mit dem
Fahrrad, mit der Bahn, mit dem Bus oder mit dem Auto
zur Arbeit fahren, damit wir die Verkehrsträger gleich
behandeln, ein Vorschlag der Grünen gewesen ist. Das
war ein Riesenfortschritt zur Vereinfachung. Diesen
Fortschritt hätten wir gerne weiterentwickelt, und zwar
an verschiedenen Punkten, Frau Abgeordnete.
Wir haben die ganz klare Aussage getroffen, dass wir
bei der Entfernungspauschale mit dem Betrag heruntergehen, sie aber aus verfassungsrechtlichen Gründen ab
dem ersten Kilometer für alle gewähren würden. Dazu
gehört auch, liebe Kollegin, dass wir möchten, dass die
Politik die Rahmenbedingungen so setzt, dass für die
Bürger und Bürgerinnen die Möglichkeit besteht, Fahrzeuge zu kaufen, die weniger Sprit verbrauchen. Deswegen muss die Automobilindustrie in Deutschland in
diese Richtung angeschoben werden. Das alles gehört
zusammen. Die Grünen haben Gesamtkonzepte, und
zwar kurz-, mittel- und langfristig.
({1})
Deswegen sind wir von allen Fraktionen im Deutschen
Bundestag hinsichtlich der Ökologie und des Ernstnehmens von Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen und
deren Belastungen am besten aufgestellt.
Danke schön.
({2})
Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Gabriele
Frechen das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich kann es fast nicht mehr sehen: schon wieder Pendlerpauschale. Das erinnert mich an Wilhelm
Busch und die Witwe Bolte: Wovon man besonders
schwärmt, wenn es wieder aufgewärmt. So verhält es
sich hier mit der Entfernungspauschale. Frau Scheel hat
uns Gott sei Dank deutlich gemacht - wir haben mit drei
Parteien in zwei Fraktionen manchmal zwei Meinungen -,
dass die Grünen nur eine Fraktion brauchen, um drei
Meinungen zustande zu kriegen. Oskar Lafontaine
bringt jetzt einen völlig neuen Vorschlag ins Spiel.
({0})
In Ihrem Antrag steht aber nicht, dass man mit dem
Geld, das man aufgrund der Pendlerpauschale bekommt,
die Stromrechnung bezahlen soll.
({1})
Das hat Herr Lafontaine erst jetzt in seinen mündlichen
Ausführungen so vorgetragen.
Herr Dr. Wissing und die FDP sind übrigens ganz toll.
({2})
Ich möchte Ihnen eine Grafik zeigen.
({3})
Sie können sie wahrscheinlich nicht genau erkennen.
({4})
Damit jeder weiß, was auf diesem Bild zu sehen ist: Als
Sie an die Regierung kamen, betrugen die Zinsen der
Bundesrepublik Deutschland 40 Milliarden.
({5})
Als Sie abgewählt wurden und wir die Regierung übernommen haben, hatte die Bundesrepublik Deutschland
nur noch 2 Milliarden Euro Zinsen. So viel zur „erfolgreichen“ Politik der FDP.
({6})
- Sie zumindest haben es verstanden. Sonst würden Sie
jetzt nicht so von unten erröten und dann von oben wieder blass werden, Herr Schäffler.
({7})
Es tut mir aber gut, zu sehen, wie Sie die Farbe wechseln.
Zur Entfernungspauschale hat Kollege Pronold genug
gesagt; das möchte ich nicht noch einmal deutlich machen.
({8})
Denn ich sage in jeder meiner Reden, dass wir ursprünglich ein anderes Konzept hatten, uns aber leider nicht
durchsetzen konnten. Herr Gutting hat recht, wenn er
darauf hinweist, dass wir uns in einer Haushaltssituation
befanden, die uns dazu zwang; das hat auch Herr
Rupprecht in seiner Kurzintervention ausgeführt.
Wir sind auch heute noch nicht aus dem Gröbsten
raus. Herr Engels, der Präsident des Bundesrechnungshofes, hat gesagt, dass im Bundeshaushalt insgesamt
22 Milliarden Euro fehlen;
({9})
so viel zum Thema Steuermehreinnahmen. Außerdem
machte er deutlich:
Bevor diese Lücke geschlossen ist, darf es keine
Steuerentlastung geben. Alles andere wäre unseriös.
({10})
- Wenn Sie mir eine Zwischenfrage stellen, sage ich
dazu etwas.
({11})
Richtig ist aber auch: Ein ausgeglichener Haushalt ist
kein Wert an sich. Wenn wir die Aussage, dass Kinder
unsere Zukunft sind, ernst meinen, dann müssen wir
auch die notwendige Verhandlungsmasse und die erforderlichen Spielräume schaffen, damit sie wirklich unsere
Zukunft werden können.
({12})
Dazu gehört, nicht ständig neue Schulden zu machen,
die letztlich unsere Kinder bezahlen müssen.
({13})
Dazu gehört auch Verständnis für die ältere Generation.
({14})
Dazu gehört Respekt. Dazu gehört aber auch Verständnis
für die Generation, die heute in Beschäftigung ist; denn
auch diese Generation darf man nicht überfordern.
Das schaffen wir nur gemeinsam. Es ist wichtig, dass
wir einen Konsens aller Generationen finden,
({15})
damit wir gemeinsam die richtige Politik machen können. Ich kann Ihnen sagen: Die SPD ist auf dem richtigen Weg.
({16})
Was war in dieser Woche in der Frankfurter Rundschau
zu lesen?
Auch wenn es unpopulär ist: Für die SPD ist ein
Lob fällig. Ihr Finanzkonzept ist gar nicht so
schlecht.
({17})
Überzeugend stellt sie klar, was wichtig ist und was
bloß wünschenswert.
Ich finde es richtig, das Wichtige jetzt zu tun und für das
Wünschenswerte in Zukunft zu kämpfen. Das ist zukunftsfähige Politik.
({18})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/9167 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 c auf:
a) - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes über die Anpassung
von Dienst- und Versorgungsbezügen im Bund
2008/2009 ({0})
- Drucksache 16/9059 - Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung des Bundesbesoldungsgesetzes
- Drucksache 16/1033 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({1})
- Drucksache 16/9341 Berichterstattung:
Abgeordnete Ralf Göbel
Dr. Max Stadler
Silke Stokar von Neuforn
- Bericht des Haushaltsausschusses ({2})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 16/9347 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Michael Luther
Bettina Hagedorn
Jürgen Koppelin
Roland Claus
Alexander Bonde
c) Beratung des Berichts des Innenausschusses
({3}) gemäß § 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung zu dem von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Dritten Gesetzes zur
Änderung des Bundesministergesetzes
- Drucksachen 16/5052, 16/9342 Berichterstattung:
Abgeordneter Sebastian Edathy
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Ralf Göbel für die Unionsfraktion.
({4})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In der letzten Sitzungswoche hatten wir bereits das Vergnügen, uns schon einmal mit diesem Gesetz zu beschäftigen. Allerdings war der Inhalt etwas anders als heute.
Ich will deshalb nicht mehr sehr viel zu den Detailregelungen des Gesetzes sagen, sondern eingangs nur
noch einmal auf den Einsparbeitrag hinweisen, den die
Beamtinnen und Beamten des Bundes in den vergangenen Jahren geleistet haben. Wir reden immer von vielen
Einsparbeiträgen, den die Rentner und andere Berufsgruppen erbringen müssen. Nach einer seriösen Berechnung - vorsichtig geschätzt - betrug der Einkommensverlust der Beamtinnen und Beamten des Bundes allein
in den Jahren 2004 bis 2006 etwa 1,1 Milliarden Euro.
Das ist ein ganz erheblicher Beitrag, den die Beamtinnen
und Beamten zur Sanierung des Bundeshaushaltes geleistet haben. Deshalb, finde ich, ist es auch an der Zeit
gewesen, dass wir uns jetzt mit einer Besoldungserhöhung, die der entspricht, die auch die Tarifbeschäftigten
erhalten, erkenntlich erweisen.
({0})
Es war bei weitem nicht selbstverständlich, dass wir
zeit-, inhalts- und wirkungsgleich übertragen. In der Vergangenheit wurden für die Beamtinnen und Beamten
und die Versorgungsempfänger die Tarifergebnisse immer mit zeitlicher Verschiebung und leichten Modifikationen übernommen. Ich sage es auch nicht ohne Stolz,
dass es dem Parlament gelungen ist, die ursprünglich geplante Absicht der Bundesregierung doch noch dahin gehend zu korrigieren, dass die Übertragung zum ersten
Mal seit sehr vielen Jahren zeit-, inhalts- und wirkungsgleich erfolgt.
({1})
Ich bin auch sehr froh, dass wir gestern im Innenausschuss bei diesem Thema einen großen Konsens aller
Fraktionen hatten.
Ich komme jetzt zum Änderungsantrag und will hier
auch gar nicht kneifen. Die Große Koalition hat den Änderungsantrag eingebracht. Mit diesem wird die Entscheidung der Fraktionsspitzen der SPD und der CDU/
CSU vom 20. Mai dieses Jahres umgesetzt. In dem Änderungsantrag ist nämlich die Streichung des Art. 13
vorgesehen. Das heißt für uns, dass die Diätenerhöhung
nach dieser Debatte kein Thema mehr sein wird. Ich will
sie aber auch in dieser Debatte nicht zum Thema machen. Aus meiner Sicht ist zu diesem Thema genug gesagt worden.
Auf eines will ich allerdings noch aufmerksam machen, weil wir hier ja auch interessierte Zuhörer haben.
Ich habe in dieser Debatte auch erlebt, dass der eine oder
andere Kollege bzw. die eine oder andere Kollegin aus
den Fraktionen, die am heftigsten gegen die Diätenerhöhung gewettert haben, klammheimlich zu mir gesagt haben: Aber Ihr werdet das doch durchbringen. - Auch das
sollte in diesem Hohen Hause einmal erwähnt werden,
weil damit die Diskrepanz zwischen dem öffentlichen
Schreien und der tatsächlichen Motivation, die oftmals
dahintersteht, beschrieben wird.
({2})
Durch diesen Änderungsantrag werden die Minister
und die Parlamentarischen Staatssekretäre ebenfalls von
der Besoldungserhöhung ausgenommen. Diesen Beschluss hat das Kabinett selbst mitgefasst. Ich glaube,
der Deutsche Bundestag sollte die Weisheit des Kabinetts in Anspruch nehmen. Dem Wollenden geschieht in
diesem Falle kein Unrecht.
Ich will in dieser Debatte aber auch noch kurz zum
Antrag der FDP kommen, die wiederum darauf hingewiesen hat, dass die Diäten zukünftig in einer Kommission außerhalb des Deutschen Bundestages festgesetzt
werden sollen. Es soll eine unabhängige Sachverständigenkommission eingerichtet werden. Wir hatten schon
einmal eine, wenn ich mich richtig erinnere, nämlich
1993. Diese hat uns 1995 gesagt, B 6/R 6 sei die richtige
Besoldungshöhe. Haben wir das umgesetzt? Nein, das
haben wir nicht. Im November des letzten Jahres haben
wir es zum ersten Mal nach vielen Jahren gewagt, diesen
Schritt zu gehen - auch damals mit viel Begleitmusik.
Im Übrigen gibt es auch verfassungsrechtliche Bedenken gegen diesen Antrag. Das Bundesverfassungsgericht hat zu dieser Frage 1975 ein Grundsatzurteil gefällt. Damals ging es darum, dass man im saarländischen
Landtag nicht selber über die Diäten bestimmen wollte,
sondern gesagt hat, dass der Präsident des Landtages das
machen sollte. Er sei die richtige Person. - Das hat das
Bundesverfassungsgericht abgelehnt. Ich zitiere:
In einer parlamentarischen Demokratie lässt es sich
nicht vermeiden, dass das Parlament in eigener Sache entscheidet, wenn es um die Festsetzung der
Höhe und um die nähere Ausgestaltung der mit dem
Abgeordnetenstatus verbundenen finanziellen Regelungen geht. Gerade in einem solchen Fall verlangt aber das demokratische und rechtsstaatliche
Prinzip …, dass der gesamte Willensbildungsprozess für den Bürger durchschaubar ist und das Ergebnis vor Augen der Öffentlichkeit beschlossen
wird. Denn dies ist die einzige wirksame Kontrolle.
So hat das Bundesverfassungsgericht geurteilt. Diesem Erfordernis, das das Bundesverfassungsgericht festgestellt hat, wird der Antrag der FDP nicht gerecht.
Noch etwas ist meines Erachtens übersehen worden:
Selbst wenn die Kommission, die vom Bundespräsidenten einberufen wird, eine Entscheidung trifft, heißt das
noch lange nicht, dass diese Entscheidung im Bundesgesetzblatt steht und sich im Bundeshaushalt manifestiert.
Wer glaubt, mit einer solchen Verlagerung der Entscheidung das Problem zu lösen, dass wir selber zu entscheiden haben, ob wir diese Empfehlung annehmen oder
nicht, der irrt. Das Problem bleibt weiter bestehen; denn
wir werden Diätenerhöhungen immer im Bundeshaushalt beschließen müssen.
Es ist zwar nett gemeint und verkauft sich auch populistisch gut, aber letzten Endes liegt die Entscheidung
- zu Recht, wie ich meine - beim Parlament.
({3})
Laut Tagesordnung haben wir heute über den Stand
der Beratungen zum Entwurf eines Dritten Gesetzes zur
Änderung des Bundesministergesetzes zu berichten.
Dazu werde ich kurz Stellung nehmen. Der Gesetzentwurf beinhaltet versorgungsrechtliche Regelungen für
die Bundesminister und die Parlamentarischen Staatssekretäre. Es besteht Einigkeit darüber, dass auf die derzeit amtierenden Minister und Staatssekretäre bzw. die
Versorgungsempfänger, die Versorgungsbezüge aus diesen Ämtern beziehen, die Regelungen angewandt werden, die das Bundeskabinett selber beschlossen hat. Insoweit gilt ebenfalls: Dem Wollenden geschieht kein
Unrecht. Das Parlament wird das auch umsetzen.
Wir - die beiden Fraktionen der Großen Koalition haben noch Beratungsbedarf, wer aus der Übergangsregierung der DDR in den Personenkreis derjenigen einbezogen werden soll, die eine „Ehrenpension“, wie ich
es nennen möchte, erhalten sollen bzw. ob dies nur für
die Minister gelten soll oder auch die Staatssekretäre.
Ich denke, dass wir in dieser Frage Einigkeit erzielen
können und in den nächsten Sitzungswochen die zweite
und dritte Beratung des Gesetzentwurfs im Plenum des
Deutschen Bundestages durchführen können.
Abschließend möchte ich die Gelegenheit nutzen,
mich bei den Kolleginnen und Kollegen im Innenausschuss zu bedanken, dass wir zu einer einvernehmlichen
Entscheidung gekommen sind. Das wird heute hoffentlich auch der Fall sein. Ich möchte mich auch bei denjenigen, die im Mittelpunkt dieses Gesetzgebungsverfahrens stehen - nämlich bei den Beamtinnen und Beamten
des Bundes -, für ihre Tätigkeit, die sie täglich verrichten, und die hervorragende Arbeit bedanken, die sie Jahr
für Jahr abliefern.
({4})
Für die FDP-Fraktion spricht nun der Kollege Ernst
Burgbacher.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Man muss schon noch einmal das ansprechen, was sich
in den letzten drei Wochen ereignet hat. Sie haben
klammheimlich damals in das Gesetz zur Erhöhung der
Beamtenbesoldung die Erhöhung der Abgeordnetendiäten hineingemogelt; man kann es nicht anders ausdrücken. Dann haben Sie den geballten Zorn der Öffentlichkeit gespürt und genauso klammheimlich den Rückzug
angetreten. Der dabei angerichtete Schaden ist immens.
({0})
Sie haben sich selbst geschadet, wie schon die Wahlen in Schleswig-Holstein gezeigt haben. Sie haben aber
auch dem Ansehen dieses Parlaments und damit dem
Ansehen der Demokratie einen Schaden zugefügt, den
man nicht so schnell wiedergutmachen kann. Diesen
Vorwurf müssen Sie sich gefallen lassen.
({1})
Einiges an Ihrem Vorgehen war seltsam. So ist es üblich, dass Parlamentsangelegenheiten vom Parlament
insgesamt erörtert werden. Sie haben daraus eine geheime Kommandosache gemacht. Die Opposition wurde
in keiner Phase in irgendein Gespräch miteinbezogen.
Allein das ist ein Skandal.
Ich frage die Abgeordneten dieser großen Diätenerhöhungskoalition: Wo bleibt Ihr Selbstverständnis als frei
gewählte Abgeordnete? Sie lassen sich von Ihren Häuptlingen etwas überstülpen. Davon haben Sie selbst erst
aus dem Frühstücksfernsehen erfahren. Dann kassieren
Sie die geballte Kritik der Öffentlichkeit, bis Sie plötzlich wieder aus dem Frühstücksfernsehen erfahren, dass
das Ganze abgeblasen worden ist. Dadurch, dass Sie das
mitmachen, schädigen Sie das Parlament. Das hat mit
unserer Rolle als frei gewählte Abgeordnete weiß Gott
nichts mehr zu tun.
({2})
Ein Weiteres. Das Bild, das die Große Koalition in der
Öffentlichkeit abgibt - wir im Parlament wissen das ja
schon lange -, kann verheerender eigentlich nicht mehr
werden. Dieses Land hat es nicht verdient, diese Koalition noch weitere 15 oder 16 Monate ertragen zu müssen. Machen Sie doch Schluss mit dem Gezerre! Es geht
nichts mehr in unserem Land; wir brauchen wieder politische Entscheidungen, nicht aber, wie sich auch an diesem Punkt wieder gezeigt hat, diese jämmerliche Regierung.
({3})
- Zunächst gehe ich noch auf etwas anderes ein.
({4})
Wir haben Ihnen Anträge mit einem anderen Modell
vorgelegt. Lieber Kollege Göbel, ich weiß, dass es verfassungsrechtliche Bedenken gibt. Deshalb haben wir einen Gesetzentwurf zur Änderung des Grundgesetzes und
einen Gesetzentwurf zur Einrichtung einer unabhängigen Kommission beim Bundespräsidenten eingebracht.
In diesem Gesetzentwurf - machen Sie sich einmal die
Mühe, ihn zu lesen! - sind alle Vorbehalte des Bundesverfassungsgerichtsurteils von 1975 aufgenommen. Es
geht also, und dass es geht, zeigen gerade auch die Stimmen aus Ihrer Fraktion. Nachdem viele aus Ihrer Fraktion und auch einige aus der SPD nach diesem Debakel
gesagt haben: „Wir brauchen ein anderes System, eine
unabhängige Kommission“, sind wir zuversichtlich, jetzt
in eine konstruktive Diskussion eintreten zu können.
Deshalb haben wir heute unseren Antrag nicht zur Abstimmung gestellt. Vielmehr wollen wir jetzt für eine
breite Mehrheit werben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, in unserem eigenen Interesse sowie im Interesse des
Ansehens von Parlament und Demokratie brauchen wir
ein anderes System. Sie sollten sich endlich dafür öffnen.
Wir unterstützen das heute zur Abstimmung vorliegende Gesetz. Es war auch ein Stück weit dem Druck
der FDP und der Gewerkschaften zu verdanken, dass es
zu einer Eins-zu-eins-Umsetzung des Tarifabschlusses
gekommen ist. Dies war von der Regierung ursprünglich
nicht so geplant; nach ihrer Vorstellung sollten die Beamten erneut ein Sonderopfer leisten. Dies haben wir
verhindert. Die Beamten haben es verdient, dass der Tarifabschluss eins zu eins auf sie übertragen wird. Das ist
auch richtig so.
({5})
Wir wollen eines aber nicht: dass in den Verhandlungen über einen Tarifabschluss auch die Diäten behandelt
werden. Ich sage noch einmal, dass ich Herrn Bsirske als
meinen Interessenvertreter ablehne. Das wäre das falsche System.
({6})
Es wird auch nicht reichen, was wir jetzt bei der Besoldung machen, sondern es sind weitere Schritte notwendig. Angesagt ist für die Menschen in diesem Land
- dies gilt insbesondere für die Beamten -: Mehr Netto
vom Brutto; weniger Steuern. Dafür werden wir konkrete Vorschläge vorlegen, die wir an diesem Wochenende konkretisieren werden. Nur dann, wenn wir weiter
in diese Richtung gehen, hat dieses Land wieder Zukunft
und haben die Bürger in diesem Land wieder neue Chancen.
Herzlichen Dank.
({7})
Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Siegmund
Ehrmann das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die erste Lesung des Gesetzentwurfs vor drei
Wochen war von zwei zentralen Diskussionssträngen geprägt. In breitem Einvernehmen und nahezu harmonisch
verlief die Debatte über die beabsichtigte Übertragung
des Tarifergebnisses auf den Bereich von Besoldung und
Versorgung. Zu diesem Thema betone ich vorab: Es ist
ausgesprochen richtig und gut, dass es uns nach den Jahren des Darbens, an die Herr Göbel vorhin auch erinnert
hat, gelungen ist, korrigierend aufs Regierungshandeln
einzuwirken und zu bewerkstelligen, dass in diesem Gesetzentwurf die Tarifergebnisse eins zu eins auf die Beschäftigten im öffentlich-rechtlichen Dienst- und Treueverhältnis übertragen werden.
Der zweite Teil der Debatte hingegen, in dem es um
die Diätenanpassung ging - daran hat Herr Burgbacher
gerade sehr plastisch erinnert -, verlief sehr kontrovers.
In der anschließenden öffentlichen Debatte hatten viele
Kollegen in der Tat vor Ort Erklärungsnöte. So haben
sich manche nicht mehr in der Lage gesehen, den von
den Koalitionsfraktionen nach - anders, als Herr
Burgbacher es glauben macht - intensiver und durchaus
kontroverser Debatte beschlossenen Schritt mitzutragen. Dass wir dieses Ziel aufgegeben haben, ist kein Beispiel für mangelndes Selbstbewusstsein von Parlamentariern. Wir haben in der Fraktion eine intensive Debatte
geführt, und wir haben eine Entscheidung getroffen. Ich
hätte mir gewünscht, dass wir gemeinsam die Kraft gehabt hätten, zu unserer ursprünglichen Entscheidung zu
stehen. Vor Ort konnte man, auch wenn das nicht einfach
war, durchaus plausibel machen, in welchem Zusammenhang unsere Entscheidung zu sehen ist.
Nun, das Ergebnis ist bekannt: Die Koalition hat gemeinsam das ursprüngliche Ziel aufgegeben. Der Ihnen
vorliegende Änderungsantrag trägt diesem Umstand
Rechnung: Art. 13 des Gesetzentwurfes wird gestrichen.
Ich kann mir nach diesem Vorlauf nicht vorstellen, dass
wir uns in der verbleibenden Zeit unserer Legislatur ein
weiteres Mal mit diesem Thema befassen werden; wir
haben schließlich andere wichtige Dinge zu bewerkstelligen.
({0})
Es wird daher die Aufgabe des nächsten Bundestages
sein, eine auch von der Öffentlichkeit als tragfähig anerkannte Lösung zu finden. Nach einiger Zeit der Distanz
sollten wir gemeinsam die Kraft aufbringen, auszuwerten, wie dieser Prozess gelaufen ist, um dann gemeinsam
einen öffentlichen Diskurs über die Möglichkeiten der
Ausgestaltung der Diäten zu eröffnen und letztendlich
Akzeptanz zu organisieren.
Es geht dabei - das wissen wir alle - nicht nur um die
Frage einer Kommission, die Empfehlungen zur Höhe
der Diäten ausspricht. Zentral war auch nicht die Höhe
des erwogenen Anpassungsschrittes. Auch das System
der Alterssicherung ist ein Thema. Das Gleiche gilt für
die steuerfreien Pauschalen. Es gibt Alternativen. Ich
denke, wir sollten ohne Zorn und Eifer nach etwas Distanz über dieses Thema sprechen, um den Vertrauensverlust zu beheben. Ich denke, wir nehmen wichtige Aufgaben für unser Gemeinwesen wahr. Wir sollten besondere
Umsicht walten lassen.
Ich möchte auf einen zweiten Aspekt des Änderungsantrages eingehen. Die Amtsbezüge der Mitglieder der
Bundesregierung knüpfen grundsätzlich an die Bezüge
der Beamten der Besoldungsgruppe B 11 an und wären
bei Besoldungserhöhungen anzupassen. Es gibt nun einen Kabinettsbeschluss, dass die Besoldung der Bundesminister und Parlamentarischen Staatssekretäre nicht angepasst wird. So etwas haben wir schon mehrfach erlebt.
1992 bis 1994 haben die Mitglieder der Bundesregierung
auf eigene Initiative auf eine Anpassung verzichtet,
ebenso 2003 und 2004. Das sogenannte Nichtanpassungsgesetz, das dies auch für die jetzige Runde vorschreibt, trägt diesem Beschluss der Bundesregierung
Rechnung. Im Ergebnis - auch das muss öffentlich dargelegt werden - führt das dazu, dass sich der Abstand
zwischen den Amtsbezügen der Mitglieder der Bundesregierung und denen von Vergleichsbesoldungsgruppen
auf insgesamt 21 Prozent erhöhen wird; so hoch ist der
Verzicht auf Anpassung. Das wirkt sich natürlich auch in
den Versorgungsmechanismen aus.
Lassen Sie mich im Zusammenhang mit dem Bundesbesoldungs- und -versorgungsanpassungsgesetz einen
Punkt ansprechen, zu dem ich schon gestern im Innenausschuss etwas gesagt habe. Es geht um ein für viele
nicht so wichtiges Detail, das allerdings rechtssystematisch nicht unerheblich ist. Es betrifft die Versorgungsempfänger. Im Gesetzentwurf ist fixiert, dass bei den
Versorgungsempfängern der sogenannte Riester-Faktor
dreimal anzuwenden ist. Unser Petitum ist, ihn nur zweimal anzuwenden. Eine zweimalige Anwendung wäre bei
der Struktur des jetzt umgesetzten Tarifergebnisses richtig und auch vertretbar, und zwar aus folgenden Gründen: Mit dem Versorgungsänderungsgesetz 2001 haben
wir den sogenannten Riester-Faktor, der seinerzeit eingeführt wurde, auf die Beamtenversorgung übertragen.
Wir haben festgelegt, dass bei Anpassungsschritten der
Riester-Faktor in acht Schritten umgesetzt wird, um die
Versorgungsniveaus abzuflachen und die sozialversicherungsrechtlichen Entscheidungen vergleichbar auf das
Versorgungsrecht zu übertragen.
Im vorliegenden Gesetzentwurf wird fingiert, dass die
Besoldungserhöhung zum 1. Januar 2008 aus zwei
Schritten besteht, obwohl es nach meiner Überzeugung
letztendlich ein Schritt ist, der allerdings aus zwei unterschiedlichen Strukturelementen besteht. Ich möchte es
nicht beschreien, vermute aber, dass sich diese Regelung
bei Verwaltungsstreitverfahren unter Umständen als „unfallträchtig“ erweist, und zwar insbesondere vor dem
Hintergrund, dass sich das Bundesverfassungsgericht
2005 damit befasst hat und unsere damaligen im Kontext
der Versorgungsempfänger getroffenen Entscheidungen
als gerade noch vertretbar angesehen hat. An dieser
Stelle kann ich nur sagen: Vorsicht an der Bahnsteigkante! Wir haben darüber intensiv verhandelt und konnten
uns mit unseren Argumenten - auch in der Koalition - an
dieser Stelle nicht durchsetzen. Es handelt sich aber
nicht um einen ideologischen, sondern eher um einen
rechtssystematischen Streit.
Zum Ministergesetz wurde schon einiges vorgetragen. Die SPD wird sich den Inhalten des im November
letzten Jahres eingebrachten Gesetzentwurfes in weiten
Teilen anschließen. Die Details will ich jetzt nicht in Erinnerung rufen. Aber es gibt einen Punkt - den hat Herr
Göbel bereits angesprochen -, bei dem in der Tat ein
letztendlich noch nicht ausverhandelter Dissens besteht.
Es geht um die Frage, ob und gegebenenfalls wie die
Mitglieder des letzten Ministerrates der ehemaligen
DDR in die Ministerversorgung einbezogen werden sollen. Es ist absolut anzuerkennen, dass die Persönlichkeiten, die seinerzeit Regierungsverantwortung hatten, in
einer außergewöhnlichen Zeit Unvergleichbares geleistet haben. Wie dies nun unter dem Aspekt der Amtsversorgung behandelt wird, scheint in der Tat nicht recht
und billig zu sein. Ich hoffe, dass wir in nächster Zeit
eine gute und zufriedenstellende Lösung finden.
Mit dem vorliegenden Entwurf eines Gesetzes zur
Besoldungs- und Versorgungsanpassung werden wir gemeinsam, insbesondere meine Fraktion, unserer Verantwortung gegenüber den Beamtinnen und Beamten sowie
den Besoldungsempfängern gerecht. Ich kündige von
dieser Stelle aus an, dass wir die offene Flanke des Ministergesetzes kurzfristig schließen werden. Wenn alles
gut geht, werden wir es so synchronisieren können, dass
wir das gemeinsam mit dem Dienstrechtsneuordnungsgesetz verabschieden werden.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Redeliste weist
aus, dass nun für die Fraktion Die Linke die Abgeord-
nete Petra Pau spricht. Da das aus sichtbaren Gründen
nicht möglich ist, nehmen wir diese Rede zu Protokoll.1)
({0})
Das Wort hat die Kollegin Silke Stokar von Neuforn
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich kann
mit dem Ergebnis meiner letzten Rede zu diesem Tagesordnungspunkt zufrieden sein.
({0})
Es kommt zwar selten vor, aber diesmal sind Sie den Anregungen aus meiner letzten Rede in allen Punkten gefolgt. Das ist ganz erfreulich.
Wir begrüßen, dass das Tarifergebnis auf die Beamtinnen und Beamten übertragen wird. In diesem Zusammenhang möchte ich besonders hervorheben, dass das
auf Bundesebene eine Besserstellung der Polizeibeamten
sowie der Soldatinnen und Soldaten bedeutet. Wir sind
uns im Innenausschuss einig, dass das fair, gerecht und
erforderlich ist.
({1})
Sie hatten letztes Mal die Möglichkeit, zwei Redner
zu stellen. Die Parlamentarischen Geschäftsführer haben
begründet, warum es unbedingt eine Diätenerhöhung ge-
ben muss. Wir alle kennen das Ergebnis dieser Debatte.
Die geplante Diätenerhöhung findet nicht statt. Ich finde
es richtig, dass man den Beschluss nach dieser öffentli-
chen Auseinandersetzung zurückgenommen hat. Ich
habe im Innenausschuss gesagt, dass mein Mitgefühl
durchaus den Abgeordneten der SPD gehört, die in der
einen Woche - wir hatten zwei sitzungsfreie Wochen -
1) Anlage 3
im Wahlkreis erklärt haben, warum die Diätenerhöhung
gerecht, erforderlich und nötig ist, und in der zweiten
Woche erklären mussten, warum der Beschluss zurückgenommen wurde. Das war keine einfache Situation.
Etwas überrascht hat mich allerdings die Stellungnahme von Herrn Ramsauer von der CSU in den Tagesthemen. Herr Ramsauer hat gesagt, dass nicht nur Eiseskälte in der Koalition herrsche, sondern klirrende Kälte.
Dies sagte er nicht im Zusammenhang mit den großen
ungeklärten Themen der Großen Koalition, sei es nun
die Rente, das Klimaschutzprogramm oder die Kinderbetreuung. Nein, Herr Ramsauer kündigte im Zusammenhang mit einer nicht erfolgten - aus guten Gründen
nicht erfolgten - Diätenerhöhung an, dass er seine Arbeit
mehr oder weniger einstellen werde.
({2})
Ich glaube, es geschieht zum ersten Mal in Deutschland,
dass die Koalitionsfrage wegen einer nicht vorgenommen Diätenerhöhung gestellt wird. Ich habe das bis
heute nicht verstanden, aber ich bin sicher, dass Herr
Ramsauer das in Bayern wird erklären können.
Wir haben hier heute gefordert, dass das Bundesministergesetz auf die Tagesordnung gesetzt wird. Sie
haben jetzt angekündigt, dass es zeitnah zu einer Entscheidung kommen wird. Ich möchte in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, dass dieses Ministergesetz
seit April 2004 auf Eis liegt - um beim Koalitionsklima
zu bleiben - und dass erst unsere Anforderung eines Berichts im Plenum zum Stand der Beratung dazu geführt
hat, dass Sie überhaupt die Beratung zu diesem Gesetzentwurf wieder aufgenommen haben. Ich finde es in
Ordnung, dass die Minister und Staatssekretäre und damit verbunden auch die Bundeskanzlerin nach einigen
Tagen der Überlegung erklärt haben, dass auch für sie
die vorgesehene Erhöhung der Bezüge nicht infrage
kommt.
Zum Gesamtergebnis kann ich sagen: Hätten Sie es
gleich so gemacht, wie ich hier gesagt habe, dann wären
uns 14 peinliche Tage für die Politik in Deutschland erspart geblieben. Sie haben die Gelegenheit, es beim
nächsten Mal anders und besser zu machen.
Danke schön.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurf eines Gesetzes über die Anpassung von Dienstund Versorgungsbezügen im Bund 2008/2009. Der Innenausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9341, den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf
Drucksache 16/9059 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Wer möchte sich enthalten? - Der
Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig
angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer möchte sich enthalten? Der Gesetzentwurf ist damit einstimmig angenommen.
Wir kommen nun zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Innenausschusses zu dem Entwurf eines Gesetzes des Bundesrates zur Änderung des
Bundesbesoldungsgesetzes. Der Innenausschuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9341, den Gesetzentwurf des Bundesrates auf
Drucksache 16/1033 für erledigt zu erklären. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Wer
möchte sich enthalten? - Die Beschlussempfehlung ist
ebenfalls einstimmig angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 sowie den Zusatzpunkt 4 auf:
11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte
Pothmer, Dr. Thea Dückert, Kerstin Andreae,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Rechte der Beschäftigten von Discountern verbessern
- Drucksache 16/9101 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Silke
Stokar von Neuforn, Kerstin Andreae, Volker
Beck ({1}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Persönlichkeitsrechte abhängig Beschäftigter
sichern - Datenschutz am Arbeitsplatz stärken
- Drucksache 16/9311 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten
soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Silke Stokar von Neuforn für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
({2})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In den
beiden grünen Anträgen, die ich hier heute einbringe,
geht es um zwei Themen: einmal um die Rechte der Beschäftigten, insbesondere bei Discountern, also bei Supermarktketten, zum anderen um die Notwendigkeit von
mehr Arbeitnehmerdatenschutz.
Das Schwarz-Buch Lidl, das vielen bekannt sein wird,
hat in sehr drastischer Weise deutlich gemacht, dass die
Forderung nach Mindestlöhnen in Deutschland auf jeden
Fall richtig ist, dass ihre Umsetzung aber nicht alle Probleme im Niedriglohnsektor lösen wird. Wir haben es
heute im Bereich des Niedriglohnsektors mit Arbeitsbedingungen zu tun, die ich nur als frühkapitalistisch bezeichnen kann. Wir haben es in diesem Bereich mit Arbeitsbedingungen zu tun, die einen Angriff auf die
Menschenwürde darstellen.
Wir sehen eine einzige Möglichkeit, die Rechte der
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Niedriglohnsektor - ich denke nicht nur an Lidl, Aldi, Schlecker und
wie sie alle heißen; diese Verhältnisse gibt es auch im
Gaststättengewerbe und im Baubereich - zu schützen:
Wir müssen die Möglichkeit, Betriebsräte zu gründen,
erheblich verbessern. In unserem ersten Antrag fordern
wir: Auch in Unternehmen mit vielen Filialen muss es
wieder möglich sein, Betriebsräte zu gründen; wer die
Wahl von Betriebsräten behindert, der muss mit Sanktionen rechnen.
({0})
Unser zweiter Antrag zum Arbeitnehmerdatenschutz
bezieht sich ebenfalls auf den Fall Lidl. Ich denke, dass
wir hier angesichts der heutigen Tickermeldungen im
Zusammenhang mit Verstößen gegen den Datenschutz
über einen anderen Skandal reden müssen. Ich habe es
bis heute nicht für möglich gehalten, dass wir in der Privatwirtschaft so einen Super-GAU, so einen Datenschutzskandal erleben, wie ihn die derzeit noch laufende
Telekom-Affäre offenbart.
Ich habe es nicht für möglich gehalten, dass ein Unternehmen, das den Auftrag hat, den Umgang mit Telefondaten sicherzustellen, selber in so eklatanter Art und
Weise gegen das Post- und Fernmeldegeheimnis verstößt. Ich habe es auch nicht für möglich gehalten, dass
ein großes deutsches DAX-Unternehmen Grundrechte
wie das Recht auf Pressefreiheit, Betätigung von Gewerkschaften und informationelle Selbstbestimmung
dermaßen mit den Füßen tritt. Wir wissen seit heute
Abend, dass die Telefondaten nicht nur von führenden
Mitarbeitern der Telekom, sondern auch von Mitgliedern
des Aufsichtsrats und von Journalisten, über die die Telekom verfügte, ganz offensichtlich über Jahre hinweg
gespeichert und analysiert worden sind.
Ich kann in diesem Zusammenhang nur noch einmal
deutlich machen, welche Gefahren wir in der Vorratsdatenspeicherung sehen. Dieser Telekom-Skandal hat deutlich gemacht, dass die Frage, wer, wann, wie lange, von
welchem Ort und mit wem telefoniert, von einer hohen
politischen Brisanz sein kann. Ich möchte nicht, dass
ehemalige Geheimdienstler, die ein Privatunternehmen,
eine Wirtschaftsdetektei gründen und heute in der Sicherheitszentrale der Telekom sitzen, meine Daten auf
einem schwarzen Datenmarkt verkaufen und in der Lage
sind, zu analysieren, welcher Politiker Kontakt mit welchem Journalisten hat und welcher Gewerkschafter Kontakt mit Wirtschaftsverbänden oder auch mit Journalisten hat. Ich möchte nicht, dass diese Informationen
analysiert und weitergegeben werden. Vorratsdatenspeicherung ist der Beginn von Korruption, von Missbrauch
und von politischer Erpressung.
({1})
Ich bin sicher, dass die Telekom-Affäre das Parlament
weiter beschäftigen wird. Wir stehen am Beginn des
größten deutschen Datenschutzskandals in der Privatwirtschaft.
Lassen Sie mich zum Schluss noch einen weiteren
Aspekt in die Diskussion einführen. Wir brauchen neue
gesetzliche Regelungen nicht nur zum Arbeitnehmerdatenschutz, sondern auch zum Informantenschutz. Nur
gesetzliche Regelungen zum Informantenschutz können
sicherstellen, dass solche ungeheuren Skandale in Zukunft schneller an die Öffentlichkeit kommen und nicht
so lange vertuscht werden können.
({2})
Ich möchte meine Betroffenheit zum Ausdruck bringen. Dies sage ich insbesondere mit Blick auf die für
diesen Skandal Verantwortlichen.
Kollegin Stokar von Neuforn, Sie haben zu Recht
festgestellt, dass wir am Anfang stehen. Aber Sie sind
jetzt eine Minute über Ihrer Redezeit.
Frau Präsidentin, Sie haben mich in meinem Schlusssatz erwischt. - Wir begrüßen die Aufklärung und stellen
nicht alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Telekom
unter Verdacht. Wir sagen aber ganz deutlich, dass dieser
Skandal aufgearbeitet werden muss. Das muss politische
und gesetzliche Folgen sowie Folgen für die Verantwortlichen haben.
Danke schön.
({0})
Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Paul
Lehrieder das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen
und Kollegen! Frau Kollegin Stokar von Neuforn, Sie
haben gerade am eigenen Leib in dramatischer Weise bemerkt, wie es ist, wenn man in seiner Rede überwacht
wird. Die Präsidentin hat Sie darauf hingewiesen, dass
Ihre Redezeit um eine Minute überschritten war. Allerdings wissen wir, dass wir bei der Einhaltung unserer
Redezeit vom Präsidium überwacht werden. Das ist der
Unterschied.
Wir sind uns sicherlich alle darin einig, dass die Freiheit unserer Bürgerinnen und Bürger das ist, was die Demokratie allen anderen Systemen überlegen macht. Es
gibt ein bewährtes Instrument, das sie im Alltag schützen soll: das Rechtsstaatsprinzip. Hier im Deutschen
Bundestag wird darum immer wieder und mit gutem
Recht darüber gestritten, wie weit wie auch immer geartete Überwachungsmaßnahmen gehen dürfen. Sie haben
das neueste Beispiel, das der Deutschen Telekom, bereits
angesprochen.
Umso weniger ist es erträglich, wenn sich Privatunternehmen ein Recht herausnehmen, das die Institutionen des demokratischen Rechtsstaats in dieser Form
nicht antasten, nämlich das Recht, die Daten von Mitarbeitern auf brauchbare Hinweise auf womöglich missliebiges Verhalten zu durchforsten. Überwachungsmethoden dieser Art, wie sie bei Lidl und anderen Firmen in
der letzten Zeit aufgedeckt worden sind, sind unwürdig
und mit unserem Rechtsstaat nicht vereinbar. Daran ändert auch das Argument nichts, man wolle mit Privatdetektiven und Überwachungskameras Ladendiebstähle
aufklären oder Hygienekontrollen durchführen. In engen
Grenzen ist das zwar möglich, eine Überwachung ist
dann aber mitbestimmungspflichtig. Sie muss vorher
mitgeteilt werden und gezielt sein, ohne andere Mitarbeiter einzuschließen. Außerdem muss ein konkreter
Anlass vorliegen. Ein Fehlverhalten könnte dann arbeitsrechtlich geahndet werden.
Die aktuellen Fälle von Mitarbeiterüberwachung aber
gehen darüber weit hinaus. Sie schränken die Mitarbeiter
in ihren Rechten ein und sind und bleiben Rechtsbrüche.
Deshalb müssen die gesetzlichen Regelungen konsequent angewandt und die Arbeitnehmer effektiv geschützt werden.
({0})
In diesem Punkt sind wir uns einig, liebe Kollegen
von den Grünen.
In Ihrem Antrag fordern Sie unter anderem ein Arbeitnehmerdatenschutzgesetz, enge Grenzen für die Datenerhebung und eine Stärkung der Persönlichkeitsrechte
abhängig Beschäftigter. Natürlich ist das sehr ehrenswert. Leider schießen Sie aber über das Ziel hinaus.
Landauf, landab sind immer wieder Forderungen nach
weniger Vorschriften und nach Verwaltungsvereinfachung zu hören. Kommt es aber zu einer größeren Gesetzesübertretung, werden sozusagen als Soforttherapie
neue und mehr Gesetze gefordert. Meister in der Disziplin „Populismus“ sind hier immer wieder gern meine
Freunde von der Linken.
({1})
Liebe Kollegen von den Grünen, wir haben ausreichende gesetzliche Grundlagen, um die Mitarbeiter von
Lebensmitteldiscountern wie andere Arbeitnehmer bereits jetzt vor einer unzulässigen Durchleuchtung durch
den Arbeitgeber zu schützen, auch wenn es in Deutschland noch kein einheitliches Arbeitnehmerdatenschutzgesetz gibt, wie Sie es fordern. Auch die Gründung von
Betriebsräten ist durch das Betriebsverfassungsgesetz
bereits hinreichend abgesichert und wesentlich vereinfacht worden.
Beim Schutz gegen unrechtmäßige Überwachung
greifen die Grundsätze des allgemeinen Datenschutzes
und des Arbeitnehmerdatenschutzes. Im Bundesdatenschutzgesetz und im Betriebsverfassungsgesetz gibt es
dazu einschlägige Bestimmungen. So belegt das Bundesdatenschutzgesetz die unbefugte Erhebung personenbezogener Daten in § 43 mit Bußgeldern bis zu 250 000
Euro. Das ist keine Lappalie. Was Sie gefordert haben,
nämlich dass der Betrag von 25 000 Euro erhöht werden
muss, ist bereits im Gesetz geregelt. Ein Blick ins Gesetz
erleichtert das Verständnis des Rechts. Weiter legt § 87
Abs. 1 Nr. 6 des Betriebsverfassungsgesetzes fest, dass
der Betriebsrat bei Einführung und Anwendung von
technischen Einrichtungen, die dazu bestimmt sind, das
Verhalten oder die Leistung der Arbeitnehmer zu überwachen, mitzubestimmen hat.
Die Rechtsprechung zum Schutz des Persönlichkeitsrechts des Arbeitnehmers hat darüber hinaus Regeln des allgemeinen arbeitsrechtlichen Informationsund Datenschutzes entwickelt. Dies gilt auch für die
Videoüberwachung von Arbeitnehmern. In einem Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 14. Dezember 2004
zur Videoüberwachung am Arbeitsplatz heißt es zum
Beispiel:
Die Videoüberwachung ist der Arbeitgeberin nicht
allein auf Grund ihres Hausrechts gestattet …
Wird die Videoüberwachung im privaten Bereich
nicht heimlich, sondern sichtbar durchgeführt, so
hat der Besucher grundsätzlich die Möglichkeit, der
Überwachung durch Fernbleiben von den überwachten Räumen zu entgehen … Der Arbeitnehmer
hat diese Möglichkeit nicht … Hinzu kommt, dass
auch der Arbeitgeber verpflichtet ist, den Arbeitnehmer vertragsgemäß zu beschäftigen. Sein Hausrecht unterliegt aus diesen Gründen einer Einschränkung …
Die … erheblichen Eingriffe in die Persönlichkeitsrechte der Arbeitnehmer sind nicht durch überwiegende schutzwürdige Belange der Arbeitgeberin …
gerechtfertigt.
Im Fall Lidl hat die beim baden-württembergischen
Innenministerium angesiedelte Datenschutzbehörde bereits ein Prüfverfahren eingeleitet, um den Sachverhalt
aufzuklären. Außerdem hat die Aufsichtsbehörde mehrere Filialen unangemeldet kontrolliert.
({2})
Dessen ungeachtet ist zunächst einmal zu klären, was
bei Lidl und anderen Firmen genau geschehen ist, welche strafrechtlichen Konsequenzen daraus abzuleiten
sind und ob Missstände auch wirklich abgestellt werden.
In der Aufarbeitung der Vorkommnisse wird sich zeigen,
ob die bestehenden Regelungen in den Datenschutzgesetzen und im Strafgesetzbuch ausreichen oder nicht.
Erst dann sollte der Gesetzgeber aktiv werden.
Eines muss immer wieder betont werden, auch wenn
sich in letzter Zeit die Fälle von Mitarbeiterüberwachung
zu häufen scheinen:
({3})
Die allermeisten in Deutschland ansässigen Unternehmen haben sich in dieser Hinsicht gegenüber ihren Mitarbeitern nichts zuschulden kommen lassen.
({4})
Sie könnten es sich auch gar nicht leisten. Der Imageverlust in einem solchen Fall wäre beträchtlich.
Anstelle eines kategorischen Verbotes der technischen Überwachung von Leistung und Verhalten der Arbeitnehmer hat der Gesetzgeber Arbeitgebern und Arbeitnehmern darum die Möglichkeit gegeben, über
Betriebsvereinbarungen zwischen der Geschäftsleitung
eines Betriebes und dem Betriebsrat dieses Betriebes
transparente, praktikable und für beide Seiten annehmbare Lösungen auszuhandeln, soweit unabdingbare gesetzliche Schutzbestimmungen eingehalten werden. Sie kommen in der Begründung Ihres Antrags auch zu
dieser begrenzten Überwachungsmöglichkeit unter Einbeziehung des Betriebsrats.
Die allermeisten Unternehmen - ich möchte das betonen, Herr Montag, nachdem Sie vorhin den Zwischenruf
gemacht haben - halten die Regeln des Betriebsverfassungsgesetzes ein, auch was die Einrichtung von Betriebsräten angeht. Was das betrifft, ist im Übrigen Ihre
Forderung nach einer leichteren Betriebsratsbildung in
Unternehmen in vielen Fällen schlicht obsolet. Die Erfahrung zeigt, dass auch große Unternehmen in ihren Filialen mehr als die fünf Arbeitnehmer beschäftigen, die
für die Gründung eines Betriebsrats notwendig sind.
Betriebliche Mitbestimmung hat sich bewährt. Sie
funktioniert in 99 Prozent aller Unternehmen.
({5})
Nirgendwo sind die Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechte der Arbeitnehmer im Unternehmen so weitgehend
geregelt wie hierzulande. Diese Rechte gilt es zu nutzen.
({6})
- Sie wollen mir eine Zwischenfrage stellen, Frau Kollegin?
Ich wollte Sie gerade fragen, ob Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Silke Stokar von Neuforn zulassen.
Ich freue mich darüber.
Herr Kollege Lehrieder, ist Ihnen bekannt, in wie vielen Filialen von Lidl - ich spreche jetzt erst einmal nur
von Lidl; wir könnten aber Aldi und andere mit einbeziehen - es überhaupt einen Betriebsrat gibt? Sie haben
eben gesagt, es bestehe kein Handlungsbedarf bezüglich
einer Vereinfachung der Betriebsratsgründung. In über
99 Prozent der Filialen von Discountern kann es keine
Vereinbarung geben, weil die Wahlen von Betriebsräten
be- oder verhindert werden.
Mir ist durchaus bekannt, Frau Stokar von Neuforn,
dass nur in einer geringen Anzahl der Filialen von Lidl
oder anderen Discountern überhaupt Betriebsräte bestehen. Aber durch den von Ihnen eingebrachten Antrag
wird die Gründung eines Betriebsrates im Verhältnis
zum Status quo nicht erleichtert. Das heißt, eine Gründung wäre auch nach Umsetzung Ihrer Vorschläge nicht
leichter möglich als derzeit. Die von Ihnen angedeutete
- ich sage das ganz bewusst so - Einschüchterung würde
letztendlich dadurch auch nicht aufhören.
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage der Kollegin Pothmer?
Gerne.
Bitte, Frau Pothmer.
Herr Lehrieder, kann ich Ihrer Antwort entnehmen,
dass Sie einen Vorschlag unterbreiten werden, durch den
die Gründung von Betriebsräten noch deutlicher erleichtert wird als durch unsere Vorschläge?
Wenn ich Ihren Vorschlag anschaue, stelle ich fest,
dass sich keine Regelungen finden, die die Gründung
von Betriebsräten im Verhältnis zum Status quo erleichtern. Sie schreiben:
Der Prozess der Einleitung von Betriebsratswahlen
muss gesetzlich besser geschützt werden. Die gerichtliche Bestellung eines Wahlvorstands auf Antrag der im Betrieb vertretenen Gewerkschaft muss
für Kleinbetriebe bis 100 Beschäftigte erleichtert
werden.
Hier findet sich nichts, was nicht ohnehin schon möglich
wäre.
({0})
Ich kann Ihnen, Frau Pothmer, allerdings sagen, um
Sie zu beruhigen: Es kommt kein eigener Antrag von
mir.
Meine Damen und Herren, die beiden vorgelegten
Anträge, über die wir heute diskutieren, werden wir aus
gutem Grund ablehnen. Wir werden die Ergebnisse der
Auswertung der Vorgänge bei Lidl abwarten, darüber in
der gebotenen Sachlichkeit sprechen und daraus die entsprechenden Schlüsse ziehen. Falls wir Handlungsbedarf
sehen, werden wir zu gegebener Zeit hier darüber diskutieren und sodann, Frau Kollegin Pothmer, sofern es erforderlich ist, eigene Anträge einbringen.
Herzlichen Dank.
({1})
Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege
Dr. Heinrich Kolb das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In den Anträgen der Grünen werden zwei Komplexe angesprochen: das Betriebsverfassungsgesetz und der
Schutz der Daten der Arbeitnehmer.
Ich möchte zunächst auf das Thema Betriebsverfassungsgesetz eingehen und darauf hinweisen, dass es die
FDP war, die 1972 gemeinsam mit der SPD die betriebliche Mitbestimmung in Deutschland eingeführt hat.
({0})
Leitbild war dabei die Kooperation von Arbeitnehmern
und Arbeitgebern in den Betrieben, das einvernehmliche
Miteinander von Unternehmen und Betriebsrat, nicht die
Konfrontation. Ich erwähne das, weil die Grünen als Reaktion auf unakzeptable Vorkommnisse - das gebe ich
hier gerne zu - bei sogenannten Discountern jetzt vorschlagen, mit einer allgemeingültigen und beileibe nicht
auf Discounter beschränkten Verschärfung der Vorschriften des Betriebsverfassungsgesetzes die streitige
Errichtung von Betriebsräten sozusagen zum Modell zu
erheben und damit das bisherige Regel-/Ausnahmeverhältnis umzukehren. Wenn ich mir so durchlese, was Sie
da so alles in Ihrem Antrag fordern, kann ich nur sagen,
Frau Stokar von Neuforn: Da war wohl Ihre Abteilung
„Agitation und Klassenkampf“ am Werke. Ich glaube
aber nicht, dass dieser Denkansatz auf Dauer Erfolg verspricht.
Jeder Unternehmer und auch die Arbeitnehmer in den
Betrieben wissen - wenn sie es noch nicht wissen, müssen sie es lernen -: Nur wenn es auf Dauer zu einem Interessenausgleich zwischen Arbeitnehmern und Unternehmern kommt, wenn Betriebsrat und Unternehmer
zum Wohle des Unternehmens und seiner Arbeitnehmer
zusammenarbeiten, ist der Bestand eines Unternehmens
und seiner Arbeitsplätze gesichert. Ich bin ähnlich wie
der Kollege Lehrieder der Meinung, dass ein solcher Interessenausgleich in den geltenden Vorschriften des Betriebsverfassungsgesetzes - gerade auch, was das Vorfeld einer Betriebsratsgründung angeht - ausreichend
verankert ist.
Vor dem Hintergrund, dass Rot-Grün im Jahre 2000
eine größere Reform des Betriebsverfassungsgesetzes
durchgeführt hat, frage ich mich schon, Frau Stokar von
Neuforn, warum Sie Ihre Forderungen nicht schon damals erhoben oder umgesetzt haben. Das Problem war
damals schon bekannt.
Nein, ich glaube, die Vorschläge der Grünen zur Änderung des Betriebsverfassungsgesetzes, zum Beispiel
die Entfristung eines befristeten Arbeitsverhältnisses für
die Dauer der Amtszeit eines Betriebsrates, gehen zu
weit. Sie wirken sich in der Praxis eher kontraproduktiv
aus.
({1})
Sie entsprechen auch nicht dem Gesetzesstand, so zum
Beispiel Ihre Forderung unter Ziffer 1 e Ihres Antrags.
Die Möglichkeit, auch ohne Vorliegen eines Tarifvertrages einen unternehmenseinheitlichen Betriebsrat einzurichten, gibt es nach § 3 Abs. 3 des Betriebsverfassungsgesetzes doch längst. Dieser Antrag ist zu sehr vom
Gedanken des Klassenkampfes geprägt und findet deshalb nicht unsere Zustimmung.
Schauen wir uns einmal Ihre Ausführungen zum Datenschutz an. Ich darf zunächst daran erinnern, dass der
Deutsche Bundestag die Bundesregierung schon mehrfach aufgefordert hat, den Arbeitnehmerdatenschutz zu
stärken,
({2})
und dazu bereits fraktionsübergreifend gemeinsame Entschließungen verabschiedet hat. Es stellt sich angesichts
der jüngsten Fälle schon die Frage, ob die geltenden
rechtlichen Regelungen ausreichen.
Fakt ist auch, dass die Stärkung des Arbeitnehmerdatenschutzes bereits von der rot-grünen Bundesregierung
für die letzte Wahlperiode angekündigt war. Sie lässt
aber noch immer auf sich warten. Insofern ist es schon
sonderbar, dass sich nun ausgerechnet die Grünen als
Hüterin von Bürgerrechten und Datenschutz gerieren.
Auch hier frage ich: Warum haben Sie nicht gehandelt,
als Sie die Gelegenheit dazu hatten?
({3})
Damals hat sich Ihre Regierung hinter Überlegungen auf
europäischer Ebene versteckt, die es angeblich abzuwarten galt. Danach hat man von dieser Sache nichts mehr
gehört.
Ihre Sorge um den Datenschutz und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung der Arbeitnehmerinnen
und der Arbeitnehmer ist aber, gemessen an Ihrem früheren Verhalten, höchst unglaubwürdig. Wir wollen und
werden nicht vergessen, dass es die rot-grüne Bundesregierung war, die die Axt wiederholt an die Bürgerrechte
gelegt hat. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an das
sogenannte Gesetz zur Förderung der Steuerehrlichkeit
und das Finanzmarktförderungsgesetz, mit dem das
Bankgeheimnis quasi abgeschafft wurde. Unter Ihrer Regierungsverantwortung wurde die Erhebung und Speicherung biometrischer Daten eingeführt.
({4})
Sie, die Grünen, waren es doch, die sogar einen Persilschein zur Aufgabe des Datenschutzes erteilten, bevor
die Voraussetzungen überhaupt klar geregelt waren. Darauf muss man an dieser Stelle hinweisen.
({5})
Zur aktuellen Situation möchte ich Folgendes sagen:
Die in der letzten Zeit aufgedeckten skandalösen Fälle
belegen, wie wichtig effektiver Datenschutz auch im privaten Bereich ist. Die Unternehmen müssen den Schutz
der informationellen Selbstbestimmung gegenüber ihren
Mitarbeitern wahren. Man gewinnt manchmal den Eindruck, dass Datenschutz ein Bürgerrecht zweiter Klasse
ist und Missbräuche oft gar nicht mehr als Missbräuche
definiert werden. Hier gilt es, Abstumpfungstendenzen
und der Herabsetzung von Hemmschwellen entgegenzutreten.
Wir brauchen dringend eine gesamtgesellschaftliche
Diskussion über den Stellenwert des Datenschutzes. Gerade die jüngsten Fälle bei der Telekom zeigen exemplarisch, dass große Datenmengen die Gefahr des Missbrauchs erhöhen. Deshalb bleibt die FDP bei ihrer
strikten Ablehnung der von der Großen Koalition eingeführten Vorratsspeicherung von Telekommunikationsdaten.
({6})
Wir glauben, dass das Bundesdatenschutzgesetz novelliert werden muss. Die schwarz-rote Bundesregierung
muss endlich initiativ werden, auch was die informationelle Selbstbestimmung in Arbeitsverhältnissen angeht.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Anette
Kramme das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Lassen Sie mich einen kurzen Auszug aus einem Buch vortragen:
Schlimm war bloß die Gedankenpolizei. In Winstons Rücken plapperte die Stimme aus dem Teleschirm noch immer von Roheisen und der Übererfüllung des IX. Dreijahresplans. … Jedes von
Winston verursachte Geräusch, das über ein gedämpftes Flüstern hinausging, würde registriert
werden; außerdem konnte er, solange er in dem von
der Metallplatte kontrollierten Sichtfeld blieb,
ebenso gut gesehen wie gehört werden. Man konnte
natürlich nie wissen, ob man im Augenblick gerade
beobachtet wurde oder nicht. Wie oft oder nach
welchem System sich die Gedankenpolizei in jede
Privatleitung einschaltete, darüber ließ sich bloß
spekulieren. Es war sogar denkbar, dass sie ständig
alle beobachtete.
Ich glaube, es ist nicht schwierig zu erraten, woraus
ich zitiert habe. Es ist natürlich das Buch „1984“ von
George Orwell. Orwells Großer Bruder hat leider viele
kleine Geschwister bekommen. Diese heißen beispielsweise Payback und studiVZ.
Mit beachtlicher Naivität geben leider viele Bürgerinnen und Bürger freiwillig Daten preis. Nur wenigen ist
bewusst, was mit ihren Daten letztlich passiert und wie
diese Daten genutzt werden können. Das Entscheidende
ist aber, dass dieses Handeln immerhin legal ist. Jeder
einzelne Bürger und jede einzelne Bürgerin entscheiden
darüber, ob und wie viel an Daten sie preisgeben.
Damit gibt es einen entscheidenden Unterschied zu
Lidl. Es ist schlichtweg unvorstellbar und skandalös,
was dort passiert ist. Halten wir fest: Der Discounter hat
mehr als 500 Filialen von insgesamt circa 2 900 Filialen
von Detektiven überwachen lassen. Es ist nach einem
einheitlichen Muster vorgegangen worden: Montagmorgens wurden die Kameras installiert, um angeblich Ladendiebe aufzuspüren. Es ist aber überwacht worden,
wann und wie häufig jemand auf Toilette ging. Es ist beobachtet worden, wer Tattoos hat und wer nicht. Es ist
festgehalten worden, wer mit wem liiert ist. Es ist beobachtet worden, ob Schweißflecken unter den Achseln
vorhanden sind oder nicht. Es ist natürlich auch festgehalten worden, wer sich wie zu beliebigen Themen äußert.
Man glaubt nicht, dass so etwas im Rechtsstaat
Deutschland möglich ist. Es ging nicht um den Schutz
vor Ladendieben. Was dort stattgefunden hat, ist vielmehr Leistungs- und Verhaltenskontrolle. Ein klein wenig spielt auch die Idee der Gedankenpolizei mit. Natürlich liegt hier eine Rechtsverletzung vor. Das allgemeine
Persönlichkeitsrecht, das durch das Grundgesetz geschützt ist, ist selbstverständlich verletzt. Es liegen natürlich auch schwerwiegende Verletzungen nach dem
Bundesdatenschutzgesetz vor.
Aber Ihr Antrag bezieht sich meines Erachtens viel zu
stark auf die Lebensmitteldiscounter, und da besonders
auf Lidl. Was wir brauchen, ist eine weitergehende Regelung. Denn es gibt auch Fälle bei IKEA. Frontal 21
berichtete, dass dort Arbeitnehmer ohne Zustimmung
des Betriebsrates überwacht werden. Es sind illegale
Protokolle aufgetaucht, in denen der Gesundheitszustand
von Mitarbeitern festgehalten wird. Bei Burger King
wollten Mitarbeiter erst im April dieses Jahres einen Betriebsrat wählen. Dazu hat es ein Vorbereitungstreffen
gegeben. Selbstverständlich wurde dieses Treffen gefilmt. Damit war klar, wer die Initiatoren des Geschehens waren. Die Mitarbeiter wurden identifiziert und
vom Konzern ins Gebet genommen.
Auch der Konzern Tönnies-Fleisch scheut sich nicht,
auf diese Art und Weise mit seinen Mitarbeitern umzugehen. Mit 3 000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern handelt es sich um den größten Fleischverarbeiter
Europas. Es wurde nicht nur die Fabrikation überwacht,
sondern es hat Kameras auch in Umkleidekabinen und in
Toiletten gegeben.
Nach all den Vorgängen ist es keine Überraschung
mehr, was wir bei der Telekom vorfinden. Dort sind Telefonate von Managern und von Aufsichtsräten überwacht und ausgewertet worden. Insbesondere die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat waren betroffen. Der
Bundesbeauftragte für den Datenschutz, Peter Schaar,
sagte, das Ganze sei nur die Spitze des Eisbergs, meistens finde die Überwachung unsichtbar und ohne Kameras statt, sodass niemand davon weiß.
Eigentlich müsste man erwarten, dass sich die Spitzen
dieser Konzerne und Unternehmen für das schämen, was
dort passiert ist. Aber man stellt nicht fest, dass dem so
ist. Wir in der Politik können nur erwarten, dass diese
Unternehmen und Konzerne wieder zurück zu Seriosität
und Ehrenhaftigkeit finden. Das bezieht sich nicht nur
auf das Recht auf informationelle Selbstbestimmung der
Arbeitnehmer. Da geht es um weit mehr. In diesem Zusammenhang kann man auch über die Spitzenverdienste
der Manager reden. Dies ist ein Antrag, den wir gerade
bearbeiten.
({0})
Noch einmal festgehalten: Selbstverständlich, diese
Vorgehensweisen sind illegal. Es ist richtig, meine Damen und Herren von den Grünen, dass Sie sagen, dass
der Betriebsrat ein umfassendes Mitbestimmungsrecht
bei der Einführung und Anwendung von technischen
Überwachungseinrichtungen hat. Ohne Weiteres können
viele Betriebsräte in diesem Land die Situation entschärfen. Es stimmt auch, dass es zu wenige Betriebsräte im
Bereich der Discounter, aber auch in anderen Bereichen
gibt. Das haben wir schon bei der Reform des Betriebsverfassungsgesetzes gesehen. Wir haben das vereinfachte Wahlverfahren eingeführt; GBR und KBR können
Wahlvorstände einsetzen. Wir haben das Kündigungsschutzgesetz an dieser Stelle ausgedehnt. Auch was wir
momentan machen, ist richtig, nämlich dass vor dem
Hintergrund der Lebensmittelskandale künftig im Futtermittelgesetz ein Informantenschutz vorgesehen sein soll.
Wir wissen, Betriebsräte, Betriebsratswahlen sind ein
hohes Risiko. Fast keine Betriebsratswahl findet mehr
beanstandungslos statt. Dort gibt es Kündigungen, dort
gibt es Abmahnungen. Da behalten Arbeitgeber Unterlagen ein, die mühselig eingeklagt werden müssen. Firmen
werden aufgespalten, um Betriebsräte zu verhindern.
Wir können uns gut vorstellen, dass wir in diesem Bereich gemeinsam agieren. Wir können uns gut vorstellen,
dass man sich überlegt, wie Wahlverfahren noch einmal
vereinfacht werden. Ihr Antrag bleibt an dieser Stelle leider unkonkret; aber die Stoßrichtung ist erkennbar.
Wovon ich persönlich nichts halte, ist eine Verschärfung der Strafvorschriften. Ich habe Erfahrungen damit
gemacht. § 119 des Betriebsverfassungsgesetzes kennt
von den Richtern fast niemand. Es fehlt ihnen das Problembewusstsein. Da wird beispielsweise drei Arbeitnehmerinnen gekündigt, die in einem Seniorenheim einen Betriebsrat gründen wollten. Am nächsten Tag
werden neue Arbeitnehmer eingestellt. Die Kündigungen erfolgten betriebsbedingt. Was gibt es an Geldbuße?
Da werden zweimal 500 Euro verhängt. Das ist das Geschehen. Wir werden mit erhöhten Strafrahmen und einer Verschärfung der Vorschriften nicht weiterkommen,
bevor wir dort nicht sensibilisieren.
Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Ich denke,
das Grundproblem, das wir haben, liegt nicht in der Gesetzesanwendung. Wir haben viele gesetzliche Regelungen, die die Themen aufgreifen und sie partiell lösen.
Wir haben vielmehr das Problem, dass Beschäftigte nach
wie vor existenzielle Ängste haben, wenn es darum geht,
Rechte geltend zu machen. Deshalb geht es darum, dass
wir in dieser Republik weiter dafür kämpfen, dass die
Arbeitslosigkeit sinkt. Es geht auch immer wieder darum, zu betonen: Arbeitnehmerrechte sind eine gesellschaftliche, eine wertvolle Errungenschaft. Das müssen
wir gerade als Bundestag immer wieder klar und deutlich machen.
In diesem Sinne herzlichen Dank.
({1})
Das Wort hat die Kollegin Sabine Zimmermann,
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Lehrieder, ich wusste gar nicht, dass wir Freunde in
der CSU haben. Hängt das mit der Bayern-Wahl zusammen? Suchen Sie schon einen Koalitionspartner?
({0})
Wir werden sehen, wie sich alles entwickelt.
Meine Damen und Herren, als Abgeordnete der Linken und Gewerkschafterin gratuliere ich den Beschäftigten der Lidl-Filiale in Renningen bei Stuttgart; denn ihnen ist es gelungen, am 2. Mai einen Betriebsrat zu
gründen, und das gegen alle Widerstände der Geschäftsführung. Es geht hier um ein im Betriebsverfassungsgesetz verbrieftes Recht. Die Politik muss alles unternehmen, damit dieses Gesetz nicht unterlaufen wird. Wir
sind zugleich solidarisch mit den Beschäftigten im Einzelhandel, die im Moment für ihre Rechte kämpfen. Ihnen gebührt unser Respekt. Sie sind in einem langen und
schwierigen Tarifkonflikt. Fast 200 000 Verkäuferinnen
und Verkäufer haben bisher über ein Jahr gestreikt, so
viele und so lange wie nie zuvor in der Geschichte der
Bundesrepublik.
Die Beschäftigten kämpfen für menschenwürdige Arbeitsbedingungen und höhere Löhne in einer Branche, in
der 70 Prozent Frauen arbeiten und mehr als die Hälfte
aller Arbeitsplätze Teilzeit- und Minijobs sind. 2006 gab
es etwa 60 000 Aufstocker im Einzelhandel. Das sind sozialversicherungspflichtig Beschäftigte, deren Löhne so
niedrig sind, dass sie zusätzlich Hartz IV beziehen. Das
ist Arbeit, die arm macht. Im Gegensatz dazu gehören
die Inhaber der großen Einzelhandelsketten Lidl und
Aldi zu den Reichsten in Deutschland. Sie besitzen ein
geschätztes Privatvermögen von 42 Milliarden Euro.
Dass die Schere zwischen Arm und Reich immer
mehr auseinanderklafft, dass sich die einen auf Kosten
der anderen bereichern, das ist der eigentliche Skandal in
Deutschland.
({1})
- Das kann ich Ihnen bestätigen.
Rot-Grün und die Große Koalition unter Frau Merkel
sind dafür verantwortlich, dass prekäre Beschäftigung
im Einzelhandel dermaßen auf dem Vormarsch ist. Wo,
wenn nicht hier, brauchen die Beschäftigten starke Gewerkschaften und Betriebsräte? Die Politik sollte
schauen, welchen Beitrag sie dazu leisten kann. Deshalb
unterstützen wir den Antrag der Grünen.
Discounter kommt von „discount“, was so viel heißt
wie Rabatt. Man könnte auch sagen: Hauptsache billig,
koste es, was es wolle. Discounter treiben das Preis- und
Lohndumping im Einzelhandel massiv voran. Billig zulasten der Beschäftigten. Erst vor vierzehn Tagen stellte
das Arbeitsgericht Dortmund fest: Der Textildiscounter
KiK zahlt sittenwidrige Löhne. 5,20 Euro pro Stunde hat
die Einzelhandelskette einer Minijobberin zugemutet.
Das ist die Hälfte vom Tariflohn. Neben Hungerlöhnen
und unbezahlter Mehrarbeit trifft man bei Discountern
häufig auf Bespitzelung und Überwachung; denn wir
wissen alle: Verängstigte und eingeschüchterte Mitarbeiter wehren sich nicht. Ich frage Sie in diesem Hause:
Wer von Ihnen möchte unter diesen Bedingungen arbeiten? Es geht um menschenwürdige Arbeit.
Zu lange hat die Bundesregierung zugeschaut, wie
Einzelhandelskonzerne mit fragwürdigen, bisweilen kriminellen Methoden das Recht der Beschäftigten, Betriebsräte zu bilden, unterlaufen. Beschäftigte werden
erpresst, bedroht oder bestochen. Kündigungen, Versetzungen, sogar der Vorwurf des Diebstahls, all dies ist
den Unternehmensleitungen recht, um die Gründung von
Betriebsräten und deren Arbeit zu verhindern. Als Gewerkschafterin sage ich Ihnen: Wir brauchen Gesetze,
die die Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
stärken.
({2})
Die Kolleginnen und Kollegen von Aldi, Lidl und wie
die Ketten alle heißen, haben unsere volle Unterstützung. Die Linke wird nicht locker lassen.
Ich danke Ihnen.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/9101 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Zusatzpunkt 4. Die Vorlage auf Drucksache 16/9311
soll ebenfalls an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse überwiesen werden. Die Federführung ist je-
doch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und der SPD
wünschen Federführung beim Ausschuss für Arbeit und
Soziales. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht
Federführung beim Innenausschuss.
Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, Federführung beim In-
nenausschuss, abstimmen. Wer stimmt für diesen Über-
weisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Enthal-
tungen? - Der Überweisungsvorschlag ist mit den
Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der Opposi-
tion abgelehnt.
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen der CDU/CSU und der SPD, Federführung
beim Ausschuss für Arbeit und Soziales, abstimmen.
Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Überweisungs-
vorschlag ist bei Enthaltung der Fraktion Die Linke mit
den Stimmen des Hauses im Übrigen angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 12 a und 12 b so-
wie Zusatzpunkt 5 auf:
12 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung der gesetzlichen Unfallversicherung
({0})
- Drucksache 16/9154 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten HeinzPeter Haustein, Dr. Heinrich L. Kolb, Jens
Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Mehr Wettbewerb und Kapitaldeckung in der
Unfallversicherung
- Drucksache 16/6645 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({2})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus
Kurth, Kerstin Andreae, Birgitt Bender, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Die gesetzliche Unfallversicherung fit für die
Dienstleistungsgesellschaft machen
- Drucksache 16/9312 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({3})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Klaus Brandner.
({4})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die gesetzliche Unfallversicherung ist ein Erfolgsmodell. Wer Erfolgsmodelle behalten
will, muss sie dem Wandel unterziehen und sie gelegentlich anpassen. Genau das wollen wir tun. Denn nur so
können wir den Bestand einer erfolgreichen Unfallversicherung auch erfolgreich weiterentwickeln. Diese Herausforderungen hat die Bundesregierung mit dem vorliegenden Gesetzentwurf angenommen. Lassen Sie mich
auf die wichtigsten Punkte aus dem Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung der gesetzlichen Unfallversicherung kurz eingehen.
({0})
Ein ganz wesentlicher Baustein zur Stabilisierung des
Systems, Herr Kolb, und zur Erhöhung der Effizienz und
Wirtschaftlichkeit ist die Reduzierung der Trägerzahl.
Die kleinteilige Organisationsstruktur in der gesetzlichen Unfallversicherung ist nicht zukunftsfähig. Wir
brauchen starke und leistungsfähige Träger. Da wird
auch Herr Kolb zustimmen.
({1})
Der Gesetzentwurf sieht deshalb die Reduzierung der
Trägerzahl im gewerblichen Bereich von derzeit 23 auf
9 Berufsgenossenschaften vor. Diese Zielvorgabe beruht auf einem Fusionskonzept der Selbstverwaltung.
Denn die Reform folgt von Beginn an dem Grundsatz:
Vorrang für die Selbstverwaltung. Wir wissen, dass der
Erfolg von Organisationsreformen nicht zuletzt vom
Engagement der Beschäftigten entscheidend abhängt. Im
Gesetzentwurf ist deswegen ausdrücklich angeordnet,
dass Fusionen sozialverträglich zu gestalten sind.
Auch im Bereich des Spitzenverbandes waren und
sind Veränderungen nötig. In den Eckpunkten ist die Errichtung einer gemeinsamen Spitzenkörperschaft vorgesehen. Die bis dahin bestehenden Spitzenverbände, der
Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften
und der Bundesverband der Unfallkassen, haben schnell
gehandelt und sich zum neuen Spitzenverband Deutsche
Gesetzliche Unfallversicherung e. V. zusammengeschlossen. Auf Wunsch der Selbstverwaltung wurde hier die
Vereinsform beibehalten.
Diskussionen gibt es derzeit noch über die Frage der
Beleihung und der Aufsicht. Allerdings - lassen Sie
mich das sagen - war von Anfang an klar: Soweit die
Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung als privatrechtlicher Verein hoheitlich handelt, muss sie beliehen
und unter Rechts- und Fachaufsicht gestellt werden. Das
ist nach unserer Auffassung aus verfassungsrechtlichen
Gründen nicht anders möglich. Ein privatrechtlicher
Verein ist sonst nicht hinreichend demokratisch legitimiert.
Nach innen privatrechtlich organisiert und nach außen
verbindliche Kompetenzen, das kann ohne Beleihung
und Aufsicht nicht erfolgreich gehen. Deswegen möchte
ich diejenigen, die befürchten, die Fachaufsicht könne zu
einer zu weit gehenden Einschränkung der Selbstverwaltung führen, auf Folgendes hinweisen: Die Träger stehen
im Bereich der Prävention seit jeher unter Fachaufsicht.
Praktiker wissen, wie moderne Fachaufsicht ausgeübt
wird, nämlich im Dialog und partnerschaftlich als Vertrauensaufsicht. Das wird auch bei der Aufsicht über die
Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung nicht anders
sein.
Flankierend zu den Fusionen der Träger wird der Lastenausgleich neu geregelt. Grundlage ist wiederum ein
Konzept der Selbstverwaltung. Ziel der Neuregelung ist
es, die Auswirkungen des wirtschaftlichen Strukturwandels auf die unterschiedlichen Bereiche der gewerblichen Unfallversicherung auszugleichen. Auf der einen
Seite stehen hier die Wirtschaftsbereiche mit rückläufigen Beschäftigtenzahlen, die aber unverändert hohe
Kosten für Arbeitsunfälle aus der Vergangenheit zu tragen haben. Ein prominentes Beispiel dafür ist die Bauwirtschaft. Auf der anderen Seite sind immer mehr Menschen etwa im Verwaltungsbereich tätig, ohne dass es
hier vergleichbar große Altlasten gäbe. Hier ist mehr Solidarität als in der Vergangenheit gefordert. Alte Lasten
werden künftig über alle Berufsgenossenschaften hinweg geschultert.
({2})
Nichts ist so gut, als dass man es nicht noch verbessern könnte. Dieser Satz gilt auch im Hinblick auf das
deutsche Arbeitsschutzsystem.
Ein weiterer wichtiger Bestandteil dieses Modernisierungsgesetzes sind die Regelungen zur gemeinsamen
deutschen Arbeitsschutzstrategie. Bund, Länder und Unfallversicherungsträger verpflichten sich auf ein systematischeres und stärker gemeinsames Vorgehen im Arbeitsschutz auf der Grundlage gemeinsam festgelegter
Arbeitsschutzziele. Diese Ziele werden dann in abgestimmten Programmen umgesetzt. Im Bereich der
Beratung und Überwachung der Betriebe wird die Zusammenarbeit der Aufsichtsdienste verbessert und arbeitsteilig organisiert. Darüber hinaus wird das Vorschriften- und Regelwerk durch die Einführung einer
restriktiven Bedarfsprüfung für den Erlass von Unfallverhütungsvorschriften einfacher und transparenter gestaltet.
Unter dem Strich gilt: Die gemeinsame deutsche Arbeitsschutzstrategie richtet den Arbeitsschutz an den Herausforderungen der modernen Arbeitswelt neu aus. Sie
fördert ein hohes Arbeitsschutzniveau zum Nutzen der
Beschäftigten und der Betriebe, und sie leistet einen Beitrag zu mehr Effizienz in der Beratung und Überwachung der Betriebe. Sie ist damit ein Garant für die Leistungskraft des Systems insgesamt.
Meine Damen und Herren, den Wandel erkennen und
aktiv gestalten, das ist es, was verantwortungsbewusste
Politik auszeichnet. Der Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung der gesetzlichen Unfallversicherung war
diesem Anspruch immer verpflichtet und wird diesem
Anspruch auch gerecht. Er stabilisiert das System auf
Dauer und macht ein Erfolgsmodell zukunftsfähig. Das
verdient meines Erachtens im Interesse eines erfolgreichen Prozesses die Zustimmung aller Mitglieder dieses
Hauses
({3})
- auch die der FDP, Herr Kolb - und die Unterstützung
der Beteiligten.
({4})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Heinz-Peter
Haustein, FDP-Fraktion.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Was man hier hört, ist ein ziemlich
starkes Stück. Herr Staatssekretär Brandner spricht von
einem „Erfolgsmodell“. Dabei geht es um ein Gesetz,
das seit 1884 besteht und seitdem kaum verändert
wurde.
({0})
Er sagt, das Gesetz sei erfolgreich und zukunftsfähig und
man habe auf den Wandel reagiert.
Ich fordere Sie auf: Erkundigen Sie sich einmal bei
Unternehmern, was sie zum Thema Berufsgenossenschaften sagen! Sie werden feststellen, dass Ihnen der
blanke Zorn entgegenkommt. Die Unternehmer und die
Handwerker sehen Rot, wenn sie das Wort „Berufsgenossenschaft“ nur hören.
({1})
Das muss einen Grund haben. Das ist vor allem darin begründet, dass es hierbei um ein Monopol geht und die
Unternehmer und Handwerker keine Wahlmöglichkeit
haben, sondern ihrer Berufsgenossenschaft ausgeliefert
sind.
Die Berufsgenossenschaft und die Unfallkasse sind
wichtige Bestandteile unserer sozialen Sicherungssysteme.
({2})
Ein Arbeitnehmer, der von einem Gerüst fällt, ist versichert - wer einen solchen Unfall hat, bekommt eine
Rente und eine Reha -, und ein Unternehmer hat damit
ein unbegrenztes Haftungsrisiko abgelöst. Wenn beispielsweise ein Fuhrunternehmer seine Lkw auf die Autobahn schickt und einer seiner Fahrer gegen einen Brückenpfeiler fährt und dadurch eine Brücke
zusammenstürzt, dann ist auch dieser Schaden bis zu einer Höhe von 20 Millionen Euro versichert.
({3})
Das ist eine gute Sache.
Wenn man sich aber das Gesetz ansieht, das die
Große Koalition mit einem Dreivierteljahr Verspätung in
den Bundestag einbringt, stellt man fest, dass sie in den
Hauptbestandteil, die 90 Prozent, die den Leistungsteil
betreffen, überhaupt nicht eingegriffen hat. Das ist, mit
Verlaub, eine blamable Vorstellung.
({4})
Es geht um immerhin 9,6 Milliarden Euro. Sie haben
in Ihrem Gesetzentwurf aber überhaupt nicht darauf reagiert, dass auch das System der Sozialversicherung zukunftsfest gemacht werden muss. Ich weiß, dass die verehrten Freunde von CDU und CSU den Leistungsteil
gern reformiert hätten,
({5})
weil es notwendig ist, die Unternehmen bei den Lohnnebenkosten zu entlasten. Die Beiträge zu Berufsgenossenschaften sind nämlich auch Lohnnebenkosten, meine lieben Freunde.
({6})
Es ist an dieser Stelle aber nichts passiert.
Ich werde Ihnen jetzt ein paar Vorschläge nennen, die
wir in unserem Antrag gemacht haben und die zeigen,
was wir verändern müssen, damit die Berufsgenossenschaft noch besser wird. Es ist gut, was Herr Breuer mit
seinen Truppen macht. Aber die Berufsgenossenschaft
kann noch besser werden.
Es geht einmal darum, dass man willkürlich neun Berufsgenossenschaften festgelegt hat, ohne zum Beispiel
zu fragen: Erzielt man damit Synergieeffekte?
({7})
Man hat also die Selbstverwaltung dazu überredet, das
so zu tun.
In dem Regierungsentwurf ist auch vorgesehen, dass
die Betriebsprüfungen der gesetzlichen Unfallkasse auf
den Prüfdienst der Deutschen Rentenversicherung übergehen. Das bedeutet wieder mehr Bürokratie und Belastung der Unternehmen. Das halte ich für überhaupt nicht
günstig. Man muss die Unternehmen von der Bürokratie
entlasten und sie nicht belasten.
({8})
Völlig falsch ist auch die Moratoriumslösung, die einen Eingriff in den Wettbewerb darstellt. Dass privatrechtlich organisierte Unternehmen des Staates bei den
Unfallversicherungsträgern der öffentlichen Hand versichert sind, ist nicht hinnehmbar; denn es ist ein Eingriff
in den Wettbewerb. Ebenso falsch ist es, dass die gesetzliche Unfallversicherung der Rechts- und Fachaufsicht
durch das BMAS unterstellt wird. Das ist doch eine Versicherung. Der Unternehmer hat die Pflicht, versichert
zu sein. Was hat aber der Staat noch darin herumzurühren, Herr Brandner?
({9})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Weiß?
Selbstverständlich.
Herr Kollege Haustein, ich habe bislang immer angenommen, die FDP sei ein Freund von Selbstverwaltung.
Ich finde, das, was Sie soeben geäußert haben, ist eine
ziemlich bösartige Unterstellung: Die Selbstverwaltung
der deutschen Berufsgenossenschaften hätte sich von der
Politik - den Koalitionsfraktionen, der Bundesregierung überreden lassen, neun Berufsgenossenschaften vorzuschlagen.
Ich finde das deswegen so ungeheuerlich, weil als politische Vorgabe ursprünglich sechs Berufsgenossenschaften vorgesehen waren. Die Selbstverwaltung hat
aus freien Stücken neun Berufsgenossenschaften vorgeschlagen, und die Koalitionsfraktionen und die Bundesregierung haben diesen Vorschlag übernommen.
({0})
Sprich: Der Zusammenhang ist vollkommen anders, als
Sie ihn darstellen.
Deswegen frage ich Sie, ob Sie diesen Vorwurf, die
Selbstverwaltung sei überredet worden, nicht zurücknehmen wollen und ob Sie nicht richtigerweise sagen
wollen, dass die Politik dem Vorschlag der Selbstverwaltung - statt sechs neun Berufsgenossenschaften - gefolgt
ist.
Liebe Kollege Weiß, ich sage immer noch das, was
ich möchte, und nicht das, was Sie mir vorschlagen. Hätten Sie mich ausreden lassen, dann hätte ich Ihnen das
auch noch erläutert.
Ich sage es noch einmal: Fusionen sind doch kein
Selbstzweck.
({0})
Genau das ist hier aber passiert. Man hat auf Teufel
komm raus fusioniert, um davon abzulenken, dass man
den Leistungsteil überhaupt nicht angreift. Das ist ja der
Hintergrund.
({1})
- Genau, Herr Dr. Kolb.
Was die Union und die SPD hier vorgelegt haben, ist
wirklich kein Meisterstück. Das zeigt aber, dass bei der
jetzigen Konstellation nur der kleinste gemeinsame Nenner möglich ist. Es kommt also nichts Entscheidendes
dabei heraus; denn der Unternehmer fragt vor allem:
Wie werde ich durch dieses Gesetz entlastet? Was bringt
es mir? Hier ist eben das Problem, dass es nichts bringt,
sondern dass die Unternehmen durch mehr Bürokratie
belastet werden.
Wenn man jetzt schon einmal an die Unfallkasse herangeht, um etwas Richtiges zu tun, dann muss man auch
Wettbewerbselemente einführen. Das haben wir mit unserem Vorschlag getan.
({2})
Wettbewerb heißt, dass man wählen kann, ob man die
Arbeitsunfälle bei den Berufsgenossenschaften oder einer anderen Versicherungsgesellschaft in Deutschland
versichert. Wettbewerb ist nach unserem Verständnis immer besser als ein Monopol.
({3})
Das muss auch gesagt werden: Bei den Berufskrankheiten geht das nicht so schnell. Das müsste mittelfristig geplant werden. Bei den Arbeitsunfällen geht das aber sofort und gleich, wenn man es nur will.
Da es hier auch um viel Geld geht, können wir nicht
Abstand davon nehmen, das Thema Wegeunfälle
anzusprechen. Noch einmal: Der Unternehmer alleine
bezahlt den Beitrag zur Unfallkasse. Der Weg zur Arbeit
und zurück stellt aber nicht allein ein Risiko des Unternehmens dar, sondern er ist auch Teil des Lebensrisikos.
Deshalb sollte man auch beim Thema Wegeunfälle darüber reden, ob das weiter so gehandhabt werden muss
oder ob es dort nicht eine paritätische Lösung geben
kann.
({4})
Zusammengefasst: Die von Ihnen vorgeschlagene Reform ist wie so oft bei der Großen Koalition keine wirkliche Reform. Ich weiß aber, dass derzeit nicht mehr
möglich ist, lieber Gerald Weiß. Ich hoffe, dass wir richtige Reformen durchführen werden, wenn wir eines Tages gemeinsam regieren.
In diesem Sinne ein herzliches Glückauf aus dem
sächsischen Erzgebirge.
({5})
Das Wort hat der Kollege Gerald Weiß, CDU/CSUFraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Dem geschätzten Kollegen
Haustein ist die Reform zu klein,
({0})
aber ohne Zweifel beginnt mit dem heutigen Tag der
Countdown zur umfassendsten Reform der gesetzlichen
Unfallversicherung seit vielen Jahrzehnten. Die Große
Koalition ist keine schlechte politische Voraussetzung,
um eine solche umfassende Reform unserer solidarischen Unfallversicherung zu organisieren, lieber Kollege
Haustein.
({1})
Es handelt sich um Reformen im System. Für einen
Systemwechsel gibt es keinen Anlass. Denn das System
der gesetzlichen Unfallversicherung - mein Vorredner
hat auf die Historie verwiesen; Bismarck hat es vor
124 Jahren in seinen Grundzügen geschaffen - hat sich
bewährt. In einem sehr langfristigen Trend sinkt die Zahl
der Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten.
Selbstverwaltung, Prävention, Branchen- und Risikogliederung, Rehabilitation, Schadensausgleich, Lastenausgleich, solidarische Haftung der Unternehmer füreinander, Leistungssicherheit der Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer sind die Grundbausteine für den Erfolg dieses Systems. Deshalb gehen wir weiterhin von
diesem System aus und gestalten es, wo nötig, ein Stück
weit neu. Das ist unser Ansatz.
({2})
Es gibt aber Reformbedarf, wie der Staatssekretär zu
Recht ausgeführt hat. Die Strukturen der Branchengliederung passen nicht mehr in unsere Zeit. Sie bilden zwar
ein Stück Wirtschaftsgeschichte ab, aber nicht die zeitgemäße Branchenstruktur, wie sie sich in Deutschland
entwickelt hat. Deshalb müssen wir jetzt so etwas wie
eine große Flurbereinigung durchführen und Strukturen
schaffen, die Synergieeffekte ermöglichen und die notwendigen Trägereinheiten von gewerblichen Berufsgenossenschaften und Unfallkassen herausbilden, die zukunftsfähig und leistungsfähig sind.
Die Politik hat zunächst einige Vorgaben gemacht.
Wir haben dann allerdings in die Selbstverwaltung das
Vertrauen gesetzt, dass sie selbst diese Flurbereinigung
angeht. Dieses Vertrauen ist nicht enttäuscht worden.
Die Selbstverwaltung hat ein überzeugendes Konzept
entwickelt, wie sie die Zahl der Berufsgenossenschaften
- lieber Kollege Haustein, das ist keine Erfindung der
Politik, sondern der Selbstverwaltung; sie hat sich auch
nicht überreden lassen müssen - von heute 25 auf
9 große Einheiten reduzieren kann. Eine verschlankte Organisation ist leistungsfähig und zukunftsfähig. Die Verringerung auf neun zukunftsfähige Träger der gesetzlichen
Unfallversicherung wollen wir im Gesetz abbilden.
Des Weiteren ging es um die Frage, unter welchem
Dach die Unfallversicherung nach der Flurbereinigung
zusammengeführt werden soll. In der Politik stand die
Idee einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft im Raum.
Die Union war von Anfang an dagegen, weil uns das zu
staatsnah war. Wir befürworten das tragende Prinzip
„Vorrang für die Selbstverwaltung“. Deshalb sind wir
sehr froh, dass die Selbstverwaltung aktiv geworden ist
und mit den Unfallkassen und gewerblichen Berufsgenossenschaften einen Verein als Dach dieser großen
neuen deutschen Unfallversicherung gegründet hat, und
zwar staatsfern, selbstbestimmt und selbstverantwortlich. Das ist die angemessene Antwort auf die Organisation der neuen gesetzlichen Unfallversicherung in
Deutschland.
({3})
Jetzt stellt sich natürlich im Hinblick auf diesen Verein die Frage nach dem Freiraum der Selbstverwaltung.
Diesbezüglich, Herr Staatssekretär Brandner, werden wir
im weiteren Gesetzgebungsverfahren noch Diskussionsbedarf haben. Es wäre ein Fehler, wenn wir den Verein,
den die Selbstverwaltung hervorgebracht hat und nun
weiterentwickelt, mit einer zu großen Staatsaufsicht
überzögen und zu sehr an die Kandare des Staates nähmen. Das wäre der Abschied vom Vorrang der Selbstverwaltung, der wir Geltung verschaffen wollen.
({4})
Die Selbstverwaltung hat auch ein neues Lastenausgleichssystem entwickelt, das Konzept des Überaltlastausgleichs, das die Antwort auf die Frage darstellt, was
Solidarität und was Eigenverantwortung leisten muss.
Gerald Weiß ({5})
Wer im Arbeitsschutz schlurt, muss mit höheren Beiträgen dafür bezahlen; das ist kein Fall für die Solidarität.
Wer aber unter einer langfristigen und massiven Strukturkrise leidet, dem soll die große Gemeinschaft der gesetzlichen Unfallversicherungen unter der Überschrift
„Solidarität“ helfen. Dies ist ebenfalls in Eigenverantwortung weit entwickelt worden, und wir schreiben auch
dies in das Gesetz hinein.
Aber die konkrete Lastenverteilung, bei der es um die
Grenzen der Solidarität geht, also darum, Nehmern so
weit wie möglich zu helfen, ohne die Geber zu überfordern, kann nicht Aufgabe der Selbstverwaltung sein.
Diesen Knoten muss die Politik durchschlagen.
({6})
Wegen der divergierenden Eigeninteressen kann dies
weder der Verband noch eine Berufsgenossenschaft leisten. Hinsichtlich des Verteilungsschlüssels muss die Politik in Abwägung aller Argumente - täglich werden uns
von allen Seiten neue Argumente geliefert - eine gerechte Antwort finden.
Das muss jetzt im parlamentarischen Beratungsprozess abgewogen werden, und dazu wird Rat eingeholt
werden müssen. Einige andere Fragen sind auch noch zu
klären. Anschließend wird teilweise neu und teilweise
anders entschieden werden. Bei diesem Gesetzgebungsprozess beschränken wir uns nicht auf eine Endmontage
angelieferter Fertigteile. Das Parlament ist das eigentliche Entscheidungszentrum, das diese Arbeit jetzt abschließt. Für die heutige erste Lesung halten wir fest,
dass der vorgelegte Regierungsentwurf eine tragfähige
Grundlage für diese Reformdiskussion ist.
Herzlichen Dank.
({7})
Nächster Redner ist der Kollege Volker Schneider,
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren auf den Tribünen! Die
beste Nachricht vorweg: Leistungskürzungen in der gesetzlichen Unfallversicherung wird es nicht geben, Wegeunfälle bleiben auch weiterhin geschützt, das Leistungsrecht ist nicht mehr Thema des hier vorliegenden
Gesetzentwurfs. Der Widerstand von Gewerkschaften,
Sozialverbänden und Politikern verschiedener Parteien
war also erfolgreich. Als Linke sagen wir im Gegensatz
zur FDP: Das ist auch gut so.
({0})
Aufgeschoben ist aber nicht aufgehoben. In der
nächsten Legislaturperiode soll eine solche Reform erneut angegangen werden. Auch dazu sagen wir als
Linke: Das ist gut so. Reformbedarf im Leistungsrecht
ist durchaus gegeben; die Anerkennung von Berufskrankheiten und die Praxis der Begutachtung sind durchaus eine Überprüfung wert.
Mit Recht stellt die Große Koalition inzwischen fest,
dass sich eine derart grundlegende Reform des Leistungsrechts nur im Dialog mit den Sozialpartnern und
keinesfalls gegen die Sozialpartner realisieren lässt.
Wenn aber Staatssekretär Lersch-Mense nun davon
spricht, die Bundesregierung müsse bei einem neuen
Anlauf eine bessere Überzeugungsarbeit leisten, dann
hat er offensichtlich noch immer den Schuss nicht gehört. Glaubt die Bundesregierung, bereits jetzt im Besitz
der allein selig machenden Weisheit zu sein? Haben es
alle anderen nur noch nicht richtig verstanden? Müssen
sie deshalb jetzt nur noch überzeugt werden? Wenn das
Ergebnis schon jetzt feststeht, hat das Ganze mit Dialog
nichts, aber auch gar nichts zu tun.
Die Linke begrüßt, dass die Große Koalition bei dem
hier vorliegenden Entwurf einer Organisationsreform
davon ausgeht, dass sich das System der gesetzlichen
Unfallversicherung grundlegend bewährt hat und erhalten werden muss.
({1})
Dennoch - dieser Meinung sind auch wir Linke - zwingt
der Wandel von der industriellen Produktion zur Dienstleistungsgesellschaft zu organisatorischen Veränderungen. Es gibt Branchen, deren Bedeutung geschwunden
ist oder die ganz verschwunden sind, und neue Branchen
sind entstanden. Das hat Auswirkungen auf die für diese
Branchen zuständigen Berufsgenossenschaften; auch
ihre Bedeutung verändert sich, auch sie müssen sich veränderten Strukturen der Arbeitswelt anpassen - eine gute
Gelegenheit, viele, kleinere Berufsgenossenschaften zu
größeren, leistungsfähigeren Einheiten zusammenzufassen.
Neben dieser grundlegenden Zustimmung zum Reformprozess haben wir Linke eine Reihe von Kritikpunkten im Detail, von denen ich hier die drei wichtigsten nennen möchte.
Erstens. Eine Rechts- und Fachaufsicht des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales über den Spitzenverband Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung lehnt
die Linke ab. Mit dem DGB und der Bundesvereinigung
der deutschen Arbeitgeberverbände - was für eine Koalition! - teilen wir die Auffassung, dass diese Art des
staatlichen Zugriffs das demokratische und sozialstaatliche Prinzip der Selbstverwaltung zerstört.
({2})
- Und mit der FDP; diese Koalition wird immer größer! - Zudem gefährden derartige ministerielle Eingriffsmöglichkeiten die Praxis einer engen Verzahnung
von Beratung, Prävention und Rehabilitation und ersetzen sie durch staatliche Fürsorge. Dazu sagen wir als
Linke deutlich Nein.
({3})
Volker Schneider ({4})
Nein sagen wir auch zu Kontrollen durch die Hintertür in
Gestalt von Prüfungen durch den Rechnungshof. Herr
Staatssekretär Brandner hat eben behauptet, eine solche
Regelung der Fach- und Rechtsaufsicht sei aus verfassungsrechtlicher Sicht unumgänglich; sein Kollege Staatssekretär Lersch-Mense spricht sogar von einem verfassungsrechtlichen Zwang. Das ist eine erstaunliche
Argumentation für eine Bundesregierung, die sonst nicht
gerade dadurch auffällt, dass sie verfassungsrechtliche
Bedenken sonderlich ernst nimmt.
({5})
Eine Rechtsaufsicht in dem Bereich, in dem die Unfallversicherung hoheitliche Aufgaben wahrnimmt, ist aus
unserer Sicht vollkommen ausreichend. Das sehen nicht
nur wir so, das sehen neben dem DGB und der BDA
auch einige Fachjuristen so. Dabei wäre allerdings noch
zu prüfen, ob und inwieweit die Deutsche Gesetzliche
Unfallversicherung tatsächlich hoheitliche Aufgaben
wahrnimmt.
Zweitens. Die Linke begrüßt zwar die Einführung einer nationalen Arbeitsschutzkonferenz und die Verpflichtung von Bund, Ländern und Unfallversicherungsträgern, eine gemeinsame Arbeitsschutzstrategie zu
entwickeln, wir fordern aber nachdrücklich eine stärkere
Einbindung der Sozialpartner in diesen Prozess.
({6})
Drittens. Die geplante Übernahme der Betriebsprüfungen für die Unfallversicherung durch die Rentenversicherung lehnen wir ab, weil es sich um völlig unterschiedliche Systeme handelt: Die Rentenversicherung
prüft die Daten einzelner Versicherter, während bei der
gesetzlichen Unfallversicherung die Unternehmen Beiträge je nach Gefahrenklasse und Höhe der Lohnsumme
an die Berufsgenossenschaft zahlen, unabhängig davon,
wie viele Beschäftigte hinter der Lohnsumme stehen. Sie
behaupten, durch einen Wegfall der Doppelprüfung
durch Renten- und Unfallversicherung würden die Unternehmen entlastet. Staatssekretär Lersch-Mense hat in
dieser Woche die Kosten für die Umstellung auf 3,4 Millionen Euro und die laufenden Kosten auf 120 000 Euro
beziffert. Ich muss schon sagen: Sie haben eine merkwürdige Auffassung davon, wie man Unternehmen entlastet.
Oder geht es Ihnen etwa gar nicht um eine Entlastung? Ist Ihr Hauptinteresse möglicherweise, dass Sie
auf diesem Weg heute ein Versichertenkataster einrichten, mit dem Sie morgen auch die Arbeitnehmer zur Beitragsleistung heranziehen können? Wir Linke sagen klar
und deutlich: Die Unfallversicherungsbeiträge werden
aus gutem Grund von den Arbeitgebern allein gezahlt.
Das soll auch so bleiben.
({7})
Herr Kollege Schneider!
Letzter Absatz.
Nein: nicht letzter Absatz, letzter Satz!
Letzter Satz; es ist tatsächlich nur einer, Sie dürfen
aufpassen. - Bei aller grundsätzlichen Übereinstimmung
stelle ich für meine Fraktion fest, dass wir noch Verhandlungsbedarf sehen und hoffen, dass auch dieses Gesetz den Bundestag nicht so verlässt, wie es eingebracht
wurde.
Danke schön.
({0})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Markus Kurth,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Große Koalition hat mit dem Gesetzentwurf sowohl
bezogen auf die Organisation der Unfallversicherungsträger als auch bezogen auf den Lastenausgleich nur eine
halbe Reform auf den Weg gebracht.
({0})
Mittlerweile sind seit dem Beschluss der Bund-LänderArbeitsgruppe zwei Jahre vergangen. Das Problem ist,
dass Sie den Bereich des Leistungsrechts und den Bereich des Berufskrankheitenrechts auf die lange Bank
geschoben haben. Aber das kennen wir schon.
({1})
- Richtig, das ist ein Armutszeugnis. - Auch beim Präventionsgesetz und beim Mindestlohn haben Sie nur
halbe Sachen gemacht. Der Gesundheitsfonds ist unfertig. Sie verschieben das auf die Zeit nach 2009. Dabei
wäre eine Reform des Leistungsrechts und des Berufskrankheitenrechts tatsächlich notwendig gewesen.
({2})
Bevor ich weiter Beifall von der falschen Seite bekomme, Herr Kolb: Eine Reform des Leistungsrechts,
wie sie sich Bündnis 90/Die Grünen vorstellen, wäre
sicherlich etwas anderes als das, was Ihnen vorschwebt
und Herr Haustein ausgeführt hat. Es ist tatsächlich notwendig, die Strukturprinzipien, nach denen die Berufskrankheiten ermittelt und bemessen werden, noch einmal genau zu überprüfen. Wir haben den Weg von der
Industriegesellschaft in die Dienstleistungsgesellschaft
genommen. Aber noch immer werden Berufskrankheiten nach monokausalen Ursachen bemessen. Die mechanistischen Vorgänge der Industriegesellschaft sind an
dieser Stelle noch immer der Maßstab. Wenn ich bei VW
am Band stehe, ständig eine Tür aus- und einhänge und
so mein Eckgelenk belaste, dann kann ich natürlich nach
20 Jahren Bandarbeit sagen: Der Eckgelenkverschleiß
ist eine arbeitsbedingte Erkrankung. Dann bekomme ich
die entsprechende Entschädigung und Rehabilitation.
Heutzutage sieht die Arbeitswelt aber anders aus. Bedeutsam sind insbesondere die Zunahme der Zahl der
psychischen Erkrankungen, die Verdichtung der Arbeitsprozesse und der häufige Wechsel der Tätigkeiten. Das
heißt, die berufsbedingten Erkrankungen sind vielfältiger geworden und müssen in ihrer Vielfalt in der Unfallversicherung erfasst werden. Im Moment werden nur
8 Prozent aller angezeigten Berufskrankheiten entschädigt. Das BKK-Team „Gesundheit“ schätzt die Kosten,
die durch berufsbedingte Erkrankungen jedes Jahr entstehen, auf 40 Milliarden Euro. Die Kosten sind also da,
werden aber nicht von den Verursachern, den Unternehmen, sondern von den gesetzlichen Krankenkassen
getragen. Sofern sich langwierige Berufskrankheiten
entwickeln, die zu Arbeitsunfähigkeit oder Arbeitsplatzverlust führen, zahlen die Jobcenter, die Sozialämter
oder die Rentenversicherung. Das heißt, hier muss
grundlegend auf die Veränderungen in der Arbeitswelt
reagiert werden. Die gesetzliche Unfallversicherung ist
fit für die Dienstleistungsgesellschaft zu machen.
({3})
Um Ihnen die Dringlichkeit des Problems zu verdeutlichen, möchte ich ein paar Zahlen nennen, die erst vor
wenigen Wochen vom Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen auf einer Pressekonferenz
veröffentlicht wurden. Danach ist der Anteil psychischer
Erkrankungen im Bereich arbeitsbedingte Erkrankungen
von 6,6 Prozent im Jahr 2001 auf 10,5 Prozent im Jahr
2005 angestiegen. Es gibt hier also eine Zunahme, während die Zahl der klassischen Arbeitsunfälle zurückgeht,
weil sich die Branchen und Tätigkeiten verändern. Noch
eine Zahl: Die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, ebenfalls eine seriöse Quelle, schätzt die
Kosten des Ausfalls an Bruttowertschöpfung im Bereich
der psychisch bedingten Erkrankungen auf 7 Milliarden
Euro. Das entspricht immerhin 0,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Das ist ein erheblicher Anteil.
Wir haben also die Verpflichtung, uns das Leistungsrecht noch einmal genau anzuschauen. Sie schaffen mit
der von Ihnen geplanten Organisationsreform keine
grundlegenden Änderungen. Ich bin froh, dass diese Reform des Leistungsrechts nicht verabschiedet wurde; das
will ich ganz offen sagen. Wir, das Parlament, müssen
erneut in Verhandlungen eintreten und das System
grundsätzlich verändern.
Da ich nicht mehr allzu viel Zeit habe, möchte ich
mich nur noch zu einem Punkt des vorliegenden Gesetzentwurfs äußern. Herr Schneider hat bereits die zusätzlichen Meldepflichten angesprochen. Der Normenkontrollrat hat uns im Ausschuss vorgerechnet, dass diese zu
56 Millionen zusätzliche Kosten bei der Fachaufsicht
führen. Zumindest an dieser Stelle besteht Handlungsbedarf und scheint ein erneuter Beratungsprozess geboten
zu sein.
Vielen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Wolfgang Grotthaus,
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Ich bin dem Kollegen Kurth dankbar, dass er nur
den Leistungsteil und den Bereich der Berufskrankheiten
angesprochen hat; denn diese beiden Teile stehen innerhalb des Gesetzentwurfes überhaupt nicht zur Diskussion. Das zeigt aber, dass Sie mit dem Gesetzentwurf aus
meiner Sicht äußerst zufrieden sind; denn Ihnen ist
nichts Kritisches dazu eingefallen. Ansonsten hätten Sie
sich viel intensiver um die Inhalte des Gesetzentwurfs
gekümmert.
({0})
Zu dem Kollegen Schneider muss ich sagen: Herr Kollege Schneider, toll! Der DGB hat Ihnen genauso wie
uns Informationsmaterial zugeschickt. Sie haben dieses
für Ihre Rede benutzt. Sie haben dann den Zusammenhang zwischen den Ausführungen des DGB und dem
Gesetzentwurf dargestellt und gesagt, dass wir den Leistungsteil ausgeklammert haben. Nein, sage ich Ihnen,
diesen Zusammenhang gibt es zwar, aber in der Form,
dass wir sehr intensiv mit dem DGB und den Einzelgewerkschaften im Vorfeld zusammengesessen und Lösungen gesucht haben, uns diese Lösungen aber nicht vor
die Füße gefallen sind. Deshalb haben wir gesagt, dass
wir diesen Leistungsteil zu einem späteren Zeitpunkt
ohne alle Aufgeregtheiten diskutieren wollen.
({1})
Daher werden wir, Herr Kollege Schneider, darauf achten, ob Sie dem, was der DGB schreibt und was sich in
großen Passagen in diesem Gesetzentwurf wiederfindet,
zustimmen werden. Daran machen wir es fest, wenn es
nachher zur Abstimmung kommt.
({2})
Zum Kollegen Weiß kann ich sagen: Ich kann mich den
Ausführungen meines Vorredners anschließen.
({3})
Ich will es Ihnen aber nicht zu leicht machen; denn der
Punkt ist: Das zeigt eigentlich, dass wir in der Großen
Koalition in dem Thema sehr eng zusammengearbeitet
haben und schon sehr weit sind.
({4})
Es müsste Ihnen eigentlich zu denken geben, dass dieses
breite Spektrum der SPD und der CDU/CSU in einem
Fall, in dem es um Organisationsfragen und zum Teil
ums Eingemachte, um Mitbestimmungsrechte und
Selbstverwaltungsrechte, geht, einer Meinung ist.
Lassen Sie mich, da auch ich nur begrenzte Zeit zur
Verfügung habe, nun einige Dinge ansprechen. Ich bin
dem Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften, nachträglich: Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung, sehr dankbar, dass er die Selbstverwaltung so
verstanden hat, wie sie von uns gewünscht ist. Er soll
nämlich im Rahmen eines Gesetzgebungsverfahrens
Ideen entwickeln, die die Selbstverwaltung tatsächlich in
den Vordergrund stellen und von denen die Politik sagen
kann: Das ist gut, das wollen wir nachvollziehen. - Das
ist zum Beispiel bei der Anzahl der neuen BGen der Fall.
Das gilt aber auch für den Überaltlastausgleich. Da sage
ich auch hier, damit Sie wissen, worauf das hinausläuft
und damit wir uns demnächst darüber streiten können:
Wir werden für eine Verteilung im Verhältnis 70 : 30
plädieren, wir werden uns aber gleichzeitig, um die finanzielle Belastung nicht zu stark werden zu lassen, für
eine Verlängerung des Zeitraums einsetzen,
({5})
sodass wir die zusätzliche Last, die wir den Berufsgenossenschaften mit dieser Verteilung auf den Rücken packen, über eine bestimmte Zeiteinheit verteilen. Wir gehen davon aus, dass diese Zeiteinheit bis zum Jahr 2012
dauern sollte. Dies hängt auch - da sehen Sie Zusammenhänge - damit zusammen, dass wir die Arbeitnehmerrechte bei der Zusammenführung von zwei BGen
nicht vergessen dürfen. Wenn zwei BGen zusammengeführt werden, dann gibt es keinen Personalrat und keinen
Betriebsrat mehr, weil es keinen abgebenden und keinen
aufnehmenden Betrieb gibt. Wir möchten gerne, dass im
Gesetz verankert wird, wie das auch beim Knappschaftsgesetz der Fall ist, dass dann, wenn Zusammenschlüsse
erfolgen, die Betriebsräte noch bis zum Ende der Wahlperiode miteinander und nicht nebeneinander im Interesse der Belegschaft arbeiten. Dies gilt im Übrigen auch
für die Gleichstellungsbeauftragte, die noch einen bestimmten Zeitraum bis zur Wiederwahl hat.
Es soll einen Übergang bei der Betriebsprüfung und
dem Lohnnachweis - da hat aus meiner Sicht der Bundesrat einen guten Vorschlag gemacht - bis zum Jahr
2012 geben. Die beiden Parteien, also die Deutsche Rentenversicherung und die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung, sollten sich einig darüber werden, wie
diese Übertragung erfolgen soll. Ich kündige aber an:
Wenn sie sich nicht einig werden, muss der Gesetzgeber
eingreifen. Daher klare Kante: Selbstverwaltung soll als
Erstes greifen.
Ein weiterer Punkt, der strittig ist, sind die neun
BGen. Das soll hier in aller Deutlichkeit gesagt werden;
auch der Kollege Weiß hat dies getan. Es gibt hier sehr
starke Emotionen von einer BG. Ich habe für diese BG
Verständnis, aber wenn wir hier aufweichen, bedeutet
dies, dass wir bei den jetzigen 23 verbleiben. Daher können wir nur darum bitten und diese BG auffordern, konsensuale Gespräche zu führen, damit auch hier ein Zusammenschluss mit einer anderen BG stattfindet. Ich
kann mir vorstellen, dass sich diese BG intensiver darum
kümmern wird und dass hier Lösungen gefunden werden, wenn die Gesetzesberatungen in vollem Gange
sind.
({6})
Ich möchte noch einige Sätze zur Bergbau-BG sagen.
Hier gibt es den Wunsch, die Übernahme der Rehakosten und der Verwaltungskosten mit in den Solidarausgleich zu bringen. Wir sagen Ja zu den Rehakosten, wir
sagen Nein zu den Verwaltungskosten. Dies wäre eine
Einmaligkeit und würde eine präjudizierende Wirkung
auf die anderen BGen ausüben. Auch sie würden den
Antrag stellen, alle Verwaltungskosten einzubringen.
Wir fordern die Bergbau-BG auf, die Verwaltungskosten
zu minimieren.
Wenn im Jahre 2012 die Revisionsklausel für den
Bergbau gezogen wird und wir tatsächlich zu dem
Schluss kommen, dass der Steinkohlenbergbau ausläuft,
dann werden wir uns natürlich auch über die Verwaltungskosten unterhalten müssen. Das ist dann naturgegeben. Daher sehen wir heute nicht die Notwendigkeit,
einen Beschluss zu fassen, der im Jahre 2012 wahrscheinlich eine Selbstverständlichkeit sein wird.
Jetzt komme ich zu dem Punkt, der für Sie vielleicht
von größter Wichtigkeit ist: zur Fachaufsicht. Dazu sage
ich Ihnen: Wir plädieren für eine größtmögliche Staatsferne. Wir wissen auch: Da, wo hoheitliche Aufgaben
übertragen werden, hat der Staat ein Zugriffsrecht. Wir
sagen dem Staatssekretär und dem Ministerium: Wir bitten darum, dass die hoheitlichen Aufgaben definiert werden. Das, was bisher gelaufen ist, was bisher in Selbstverwaltung gemacht worden ist, kann keine hoheitliche
Aufgabe sein.
({7})
Also müssen wir wissen, welche zusätzlichen Aufgaben
auf die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung zugekommen sind.
({8})
Wir werden zu prüfen haben, ob es sich tatsächlich um
hoheitliche Aufgaben handelt. Wenn es sich um hoheitliche Aufgaben handelt, dann werden wir darüber zu diskutieren haben, ob es dazu Zielvereinbarungen gibt, die
einzuhalten sind, und ob diese Zielvereinbarungen dann,
wenn sie nicht eingehalten werden, mit einer Fachaufsicht zu versehen sind. Hier sind wir noch ein bisschen
im Unklaren.
Ich sage Ihnen in aller Offenheit aber auch: Staatsferne und Selbstverwaltung sind auch für uns oberstes
Gebot; denn diese Berufsgenossenschaften und dieser
Hauptverband haben 124 Jahre lang vernünftig, im Interesse der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, aber
auch im Interesse der Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber
gearbeitet.
({9})
Herr Kollege Grotthaus!
Ich komme zum Schluss.
Ich habe Ihnen als Opposition einiges mit auf den
Weg gegeben. Ich hoffe, wir werden uns noch kräftig daran reiben. Ich hoffe, Sie machen konstruktive Vorschläge. Wir werden im Rahmen der Diskussion noch
Ihre Anträge behandeln. Ich sehe der Diskussion und
den nachfolgenden Gesetzesberatungen mit Freude entgegen. Ich wünsche uns allen dazu ein herzliches Glückauf!
({0})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Max
Straubinger, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Mit der heutigen Einbringung des Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung der gesetzlichen Unfallversicherung möchte ich dem Kollegen Gerald Weiß ausdrücklich beipflichten: Wir gehen jetzt eine der umfassendsten
Reformen an, zunächst nur der Organisation. Ich bin
dem Kollegen Grotthaus sehr dankbar, dass er darauf
hingewiesen hat, welches Zukunftspotenzial die Leistungsreform hat. Auch in dieser Koalition muss dieser
Gedanke weiterentwickelt werden.
Wichtig ist außerdem, dass die Organisationen angepasst werden und dass damit Wirtschaftlichkeitsstrukturen geschaffen werden, die geringere Verwaltungskosten
mit sich bringen, was für die Betriebe von eminenter Bedeutung ist. Vor allen Dingen muss angesichts der großen Beitragssatzspreizung, die wir jetzt haben, die Altlastenproblematik angegangen werden. Die jetzige
Beitragssatzspreizung von durchaus 7 Prozentpunkten
ist manchen Betrieben und manchen Branchen letztendlich nicht mehr zuzumuten. Auch unter diesem Gesichtspunkt ist die Modernisierung der gesetzlichen Unfallversicherung zu verstehen.
Bessere Verwaltungsstrukturen sind immer gut. Vorgängerbundesregierungen haben gerade im Bereich der
landwirtschaftlichen gesetzlichen Unfallversicherungen
eine gute Wegmarke gesetzt. Mittlerweile können wir in
diesem Bereich feststellen, dass die Verwaltungsstrukturen vergrößert, verbessert und vereinheitlicht worden
sind; darüber hinaus wird mit einheitlicheren Datenverarbeitungssystemen gearbeitet. Somit können im Sinne
der Versicherten schnelle Lösungen gefunden werden,
und zwar vor allen Dingen zu bezahlbaren Preisen.
Ich möchte den Trägern der gesetzlichen Unfallversicherung, den Selbstverwaltungen ausdrücklich dafür
danken, dass sie bereits während der vorbereitenden Diskussionen im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens
Vorschläge mit erarbeitet haben und sich auf neun zukünftige Berufsgenossenschaften geeinigt haben. Es ist
gut verstandene Selbstverwaltung, die Hausaufgaben,
die zu machen sind, bei allen Schwierigkeiten, die damit
verbunden sind, selbst mit zu gestalten und mit auf sich
zu nehmen. Ich glaube, dass die Träger der gesetzlichen
Unfallversicherung damit ein gutes Beispiel für moderne
Selbstverwaltung in unserem Land geben.
({0})
Vielleicht könnten sich die Bundesländer bei der Einrichtung der Unfallkassen auf 16 Träger eine Scheibe davon abschneiden.
Ich möchte herausstellen, dass mit dieser Reform ein
wirksamer Beitrag gegen Schwarzarbeit geleistet werden
kann. Diesbezüglich ist die Anregung des Bundesrates
hervorzuheben, die in den Diskussionen vielleicht noch
zu vertiefen ist. Es gibt vielfältige Klagen darüber - gerade aus der Unternehmerschaft -, dass manche im Hinblick auf die lange gesetzliche Meldefrist von sechs Wochen nicht sehr zeitnah handeln. Mit dem Gesetz kann
die entsprechende Problematik gelöst werden. Ich stehe
dem sehr offen gegenüber.
Wir sollten im Gesetzgebungsverfahren auch die Moratoriumslösung noch einmal ansprechen.
({1})
Gerade von staatlichen Betrieben, die am privaten Wettbewerb teilnehmen, muss man erwarten, dass sie zukünftig ihren Beitrag zu der gesetzlichen Unfallversicherung
leisten und damit den Solidaritätsgedanken unterstützen.
({2})
Jeder, der am Markt teilnimmt, soll die gleichen Bedingungen haben. Unter diesem Gesichtspunkt sollten wir
über die Moratoriumslösung durchaus mit diskutieren.
Ich finde es bedauerlich, dass die linke Fraktion immer
unterstellt, es seien in der Diskussion über die gesetzliche
Unfallversicherung gerade in der Bund-Länder-Arbeitsgruppe Verschlechterungen für die Versicherten, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vorgesehen gewesen.
({3})
Das stimmt in keiner Weise. Wir wollten ein zielgerichtetes und zielgerechtes Leistungsrecht erarbeiten. Ich
gebe dem Kollegen Grotthaus darin recht, dass wir
durchaus Diskussionsbedarf haben. Aber die Einteilung
in Erwerbsschaden und Gesundheitsschaden ist durchaus
sehr zielführend gewesen, und darüber ist meines Erachtens auch so zu diskutieren. Deshalb verwahren wir uns
gegen den Vorwurf, es seien Leistungskürzungen vorgesehen gewesen.
Herr Kollege Straubinger, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schneider?
Ja.
Bevor wieder gefordert wird, eine Zwischenfrage zu
stellen, möchte ich darauf hinweisen, dass nach unserer
Geschäftsordnung auch Zwischenbemerkungen möglich
sind.
Herr Kollege Straubinger, nur damit es kein Missverständnis gibt: Ich habe eben deutlich darauf hingewiesen, dass es auf der einen Seite gut ist, dass die Reform
des Leistungsrechts verschoben wurde - es gab durchaus
Elemente, die nicht nur von meiner Fraktion als Kürzungen angesehen wurden -, dass es auf der anderen Seite
aber notwendig und wichtig ist, diese Reform trotzdem
noch durchzuführen und dass man sie im Dialog durchführen sollte. Das ist keine Formulierung von mir, sondern diese hat Herr Tiemann selbst benutzt, als er sich
von uns im Ausschuss für Arbeit und Soziales verabschiedet hat. Insofern verstehe ich die Aufgeregtheit in
diesem Zusammenhang nicht. Aber vielleicht können
Sie mir das erläutern.
Sie haben in Ihrer Rede angeführt, dass Leistungskürzungen vorgesehen gewesen seien.
({0})
Gegen diesen Passus wehre ich mich. Damit sind keine
Leistungskürzungen verbunden gewesen, Herr Kollege
Schneider.
({1})
Worüber meines Erachtens durchaus zu diskutieren
wäre, auch wenn wir über Leistungsrecht an sich nicht
reden, ist die Abfindung von Kleinrenten und Kleinstrenten, weil die meines Erachtens dazu führt, dass unnötige Verwaltungsarbeiten über Jahre und Jahrzehnte entfallen können. Ein gutes Beispiel dafür, dass auch die
Versicherten in dieser Hinsicht sehr aufgeschlossen sind,
ist die Abfindungsaktion der landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften. Dass diese von den Landwirten
sehr rege, ja weit stärker in Anspruch genommen wird,
als es ursprünglich erwartet worden war - mittlerweile
sind fast alle Finanzmittel, die für diese Abfindungsaktion bereitgestellt worden sind, ausgegeben -, zeigt sehr
deutlich, dass dies auch den Versicherten entgegenkommt. Deshalb sollten wir darüber vielleicht noch diskutieren.
Etwas verwundert bin ich über den Antrag der FDP.
Wir haben natürlich noch Gelegenheit, über ihn intensiver zu diskutieren. Es wird dargestellt, wie leistungsfähig die gesetzliche Unfallversicherung bisher war, dass
die Zahl der Unfälle gesunken ist und die Beitragsbelastung insgesamt zurückgegangen ist. Angesichts dessen
verstehe ich nicht, dass jetzt gefordert wird, zukünftig
sollten private Unfallversicherungen tätig werden.
({2})
Herr Kollege Kolb, Sie wissen - davon bin ich überzeugt -, dass der Leistungskatalog der gesetzlichen Unfallversicherung - er umfasst Rehamaßnahmen und Präventionsmaßnahmen - in keiner Weise von einem
privaten Versicherer nach mathematischen Grundsätzen
kalkuliert werden kann. Von daher verstehe ich nicht,
wenn Sie sagen, damit würde ein stärkerer Wettbewerb
herbeigeführt und könnten günstigere Beiträge erreicht
werden. Ich bin überzeugt: Wir würden bei einem solchen System eine weit größere Spannbreite in den Beitragszahlungen haben als jetzt. Manche Gewerke würden
möglicherweise von keinem Versicherer aufgenommen,
weil das zu teuer wäre,
({3})
oder aber die Prämie, die der Unternehmer zahlen
müsste, wäre zu hoch.
Herr Kollege Straubinger.
Unter diesen Gesichtspunkten sollten wir darüber diskutieren.
({0})
Ihnen, Frau Präsidentin, herzlichen Dank für die Geduld und den Kolleginnen und Kollegen Dank für die
Aufmerksamkeit.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/9154, 16/6645 und 16/9312 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
gen. Die Vorlage auf Drucksache 16/6645 - Tagesord-
nungspunkt 12 b - soll zusätzlich an den Rechtsausschuss
überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? -
Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so be-
schlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13 a und 13 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael
Kauch, Horst Meierhofer, Angelika Brunkhorst,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Umweltschutz in Afrika - Gemeinsame Verantwortung für die Erde übernehmen
- Drucksache 16/5132 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ute
Koczy, Thilo Hoppe, Kerstin Müller ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Afrika beim Schutz der Umwelt, des Klimas
und der Anpassung an den Klimawandel unterstützen
- Drucksache 16/9313 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({2})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ich weise daraufhin, dass der Antrag zu Tagesordnungspunkt 13 b einen geänderten Titel hat.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion der FDP sechs Minuten erhalten soll. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Michael Kauch, FDP-Fraktion.
({3})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In Bonn
findet zurzeit die Vertragsstaatenkonferenz zur biologischen Vielfalt statt. Ich möchte die Gelegenheit der heutigen Beratung der Anträge nutzen, den Blick darauf zu
richten, dass ein Kontinent in ganz besonderem Maße
natürliche Ressourcen hat, aber in der Diskussion immer
wieder aus dem Blickfeld gerät.
Wenn wir über internationale Klimapolitik diskutieren, sprechen wir oft über Brasilien. Wir reden oft über
Indonesien, wenn es um Landnutzungsänderungen geht.
Wir sprechen aber sehr selten über Afrika. Dieses Thema
möchten wir mit unserem Antrag heute in die Ausschüsse tragen.
Drei Dinge sind aus meiner Sicht entscheidend, wenn
wir über Umweltschutz in Afrika reden. Das Erste ist das
Thema Biodiversität. Dabei geht es um die Frage: Welchen Beitrag leistet Afrika zum genetischen Potenzial
auf unserem Planeten, und wie können wir es unterstützen?
Zweitens der Einsatz von erneuerbaren Energien: Wie
können wir es schaffen, in den Ländern, in denen die
Sonne viel mehr scheint als bei uns, die erneuerbaren
Energien und insbesondere die Solartechnik besser zu
verankern?
Das Dritte ist: Wie schaffen wir es, dass der Transfer
von Technologie gerade für den Klimaschutz stärker den
afrikanischen Kontinent und eben nicht nur die Schwellenländer in Lateinamerika und Asien erreicht?
Unter dem Gesichtspunkt der Biodiversität befindet
sich der größte Schatz, den dieser Kontinent hat, im
Kongobecken in Form des riesigen Regenwaldes, der
sich dort befindet. Es kommt nun darauf an, dass wir einen Beitrag dazu leisten, dass eine nachhaltige Waldwirtschaft stattfindet, und dafür sorgen, dass dem illegalen Holzeinschlag ein Ende gemacht wird, dessen
Ausmaße in den betroffenen Ländern immer mehr zunimmt. Die Voraussetzung dafür ist aber, dass es funktionierende Regierungen in den betroffenen Ländern gibt
und man die Korruption dort in den Griff bekommt.
Schließlich müssen wir darauf vertrauen können, dass
entsprechende Holzzertifizierungen auch ehrlich durchgeführt werden. Um die entsprechende Kontrolle am Boden und durch Satelliten durchführen zu können, brauchen die dortigen Länder Unterstützung.
Gleichzeitig müssen Modelle zur Honorierung vermiedener Abholzung entwickelt werden. Diese Honorierung muss aber den Menschen vor Ort zugute kommen.
Außerdem müssen ihnen Einkommensalternativen eröffnet werden, wenn sie auf die nichtnachhaltige Nutzung
des Waldes verzichten. Es macht überhaupt keinen Sinn,
das Geld den Regierungen zu geben. Unser Eindruck ist,
dass dieser Gedanke bei den Waldschutzprogrammen,
die die Bundesregierung derzeit auflegt, leider noch
nicht ausreichend berücksichtigt wird.
({0})
Auch der Ausbau von Schutzgebieten leistet einen
wichtigen Beitrag zum Schutz der biologischen Vielfalt.
Allerdings wurde bei den Beratungen des Umweltausschusses am Dienstag in Bonn deutlich: Es dürfen keine
Naturschutzgebiete errichtet werden, aus denen die
Menschen ausgesperrt werden. Es darf nicht sein, dass
Menschen, die über Jahrhunderte im Einklang mit der
Natur gelebt haben oder gar heute noch als Jäger, Sammler oder nomadische Hirten leben, ausgesperrt werden,
wenn solche Naturschutzgebiete errichtet werden. Das
ist leider gerade in Afrika oft genug vorgekommen.
({1})
Ich möchte einige Beispiele anführen, die uns in Bonn
genannt wurden. Beim Aufbau des Ökotourismus in
Botswana wurden von den Verantwortlichen die indigenen Völker, die Buschleute, nicht einbezogen. Anstatt
ihr traditionelles Wissen zu nutzen, wurden sie umgesiedelt. Bei Landreformen in Namibia, gefördert durch
deutsche Entwicklungsgelder, wurden die Gebiete der
San zugunsten der Landwirtschaft der Mehrheitsbevölkerung in Mitleidenschaft gezogen. Am Dienstag wurde
uns auch vermittelt, welchen Eindruck indigene Völker
in Kenia von den Projekten von Nichtregierungsorganisationen wie dem WWF haben: Die zäunen unseren
Wald ein, und wir dürfen nicht mehr herein.
Über diese Dinge müssen wir hier ehrlich diskutieren.
Die Errichtung von neuen Schutzgebieten in Afrika ist
nicht generell gut für die Natur und die Menschen, die
dort leben.
({2})
Wir müssen, meine Damen und Herren, auch eine andere Wahrheit im Rahmen unserer Außenpolitik ehrlich
ansprechen, nämlich das Verhalten anderer Staaten in
Afrika. Wenn chinesische oder malaysische Unternehmen illegal Holz in Afrika einschlagen und durch die
Korrumpierung von Behörden das Holz außer Landes
schaffen oder wenn die Königsfamilie von Abu Dhabi
mit 100 Jeeps in Niger anrückt, alles abschießt, was sich
dort bewegt, und es in Kühlboxen nach Arabien schafft,
dann ist es Aufgabe der deutschen Außenpolitik, dies anzusprechen. Diese Zustände sind nicht hinnehmbarer
Neokolonialismus von Ländern, die früher selbst davon
betroffen waren.
({3})
Bezüglich des Einsatzes erneuerbarer Energien in
Afrika gibt es ein großes Projekt, für das wir uns als
Bundestagsabgeordnete hier stärker einsetzen sollten. Es
handelt sich um das Desertec-Projekt, die Vision eines
Stromverbundes zwischen Nordafrika und Europa, wodurch der Strom aus solarthermischen Kraftwerken in
der Sahara nach Europa gelangen könnte. Das wäre eine
gute Möglichkeit, Solarenergie kostengünstig hierzulande zugänglich zu machen. Dazu ist Forschung
notwendig. Dazu ist aber auch die Öffnung der Energiemärkte notwendig. Solange bestimmte Grenzen zwischen den europäischen Mitgliedstaaten für Strom eine
unüberwindbare Mauer darstellen, so lange werden auch
solche Projekte zum Einsatz erneuerbarer Energien in
Nordafrika keine Zukunft haben.
({4})
Hinsichtlich der Kooperation zwischen den Industrieländern und den sich entwickelnden Ländern sehen wir,
dass der beste Mechanismus für Technologietransfer immer noch der Clean-Development-Mechanism des
Kioto-Protokolls ist. Leider funktioniert dieser heutzutage mit den afrikanischen Staaten am wenigsten. Die
Projekte konzentrieren sich im Wesentlichen auf Asien
und Lateinamerika. Wir müssen Wege finden, die afrikanischen Staaten besser in die Projektplanung zu integrieren und uns im Rahmen der Verhandlungen auf Bali zu
überlegen, wie wir die Anwendung des CDM für afrikanische Staaten erleichtern können.
Es gibt viel zu tun. Ich freue mich auf eine konstruktive Beratung im Umweltausschuss.
Vielen Dank.
({5})
Für die CDU/CSU-Fraktion gebe ich dem Kollegen
Andreas Jung das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich selbst hatte bislang nur einmal die Gelegenheit, nach
Afrika zu reisen. Das war im letzten Jahr anlässlich der
Klimakonferenz in Nairobi. Dieser eine Besuch hat gereicht, um sehr tiefgreifende Eindrücke zu hinterlassen.
Zu den bleibenden Eindrücken gehörte Enttäuschung,
die es in Afrika nach dieser Konferenz gegeben hat.
Denn wir wollten nicht nur zum ersten Mal eine Konferenz in Afrika durchführen, sondern eine Konferenz für
Afrika. Man war damals enttäuscht und hat darauf hingewiesen, dass Afrika der Kontinent ist, der am wenigsten zum Wandel des globalen Klimas beiträgt, der aber
am meisten darunter leidet.
Wir in Deutschland und den Industriestaaten sind, pro
Kopf gesehen, die Hauptverursacher der Treibhausgasemissionen. Daraus ergibt sich für uns in Deutschland
und in der EU, also in den Industrienationen, die besondere Verantwortung, uns an der Seite Afrikas für Klimaschutz, Artenschutz und Umweltschutz einzusetzen.
({0})
Um Artenschutz geht es bei der UN-Artenschutzkonferenz, die zur Stunde in Bonn tagt. Es ist zu früh, um
eine Bilanz zu ziehen; die Konferenz ist noch nicht beendet. Man kann aber schon jetzt sagen, dass dort wichtige
Schritte gemacht werden. Es ist schon jetzt gelungen, erhebliche Fortschritte zu erzielen. Es ist klar geworden,
dass Deutschland, wenn es sich um Artenschutz handelt,
an der Spitze mit dabei ist. Dazu haben die Bundeskanzlerin und selbstverständlich auch der Umweltminister
beigetragen.
Ich finde es richtig, dass man diese Überlegungen anstellt. Ich finde es auch richtig, dass man ein weiteres
Mal die Frage in den Mittelpunkt der Konferenz gestellt
hat, wie es gelingen kann, den Regenwald zu erhalten.
Dafür gibt es mehrere Gründe. Ein Grund ist, dass die
grüne Lunge Regenwald ein Wert an sich ist. Wer sich
auf christliche Werte beruft, kann von der Bewahrung
der Schöpfung sprechen. Darüber hinaus sind die Regenwälder unsere Goldgrube für Artenvielfalt. Außerdem
tragen heutzutage die Brandrodung von Regenwäldern
und die Vernichtung von Mooren zu 20 Prozent zum Klimawandel bei.
Daraus ergibt sich unsere besondere Pflicht, Afrika
beiseitezustehen. Es geht natürlich um die Frage, wie wir
dafür finanzielle Ressourcen gewinnen können. Oftmals
stehen die Menschen in Afrika nicht vor der Frage, was
in fünf oder zehn Jahren passiert. Sie stellen sich die
Frage, wie sie die nächste Woche und den nächsten Monat überleben können. Der Regenwald wird also - neben
anderen Gründen - abgeholzt, um zu heizen und zu kochen. Dafür braucht man Holz.
Wir müssen uns die Frage stellen: Wie können wir Alternativen schaffen? Ein starkes Signal war - die Bundeskanzlerin hat es angekündigt und mit dem Bundesumweltminister und dem Bundesfinanzminister
abgestimmt -, dass die Bundesrepublik Deutschland in
den nächsten drei Jahren eine halbe Milliarde Euro für
den Schutz des Regenwaldes zur Verfügung stellen wird.
Sie hat ferner angekündigt, in den folgenden Jahren jährlich dieselbe Summe zur Verfügung zu stellen. Wir brauchen dieses Geld.
Andreas Jung ({1})
({2})
Daran anschließend werden wir über die Frage diskutieren müssen, wie es gelingen kann, diese Finanzierung
langfristig auf ein tragfähiges Fundament zu stellen. Ich
meine, dass wir zur Erreichung dieses Ziels den Emissionshandel noch viel mehr in den Fokus stellen müssen.
Dazu gehören die Frage, die die Bundeskanzlerin angesprochen hat, nämlich ob es gelingt, einen Teil der Erlöse der jetzt beschlossenen Auktionierung für den Regenwaldschutz zur Verfügung zu stellen, und die Frage
- über die auf Bali diskutiert wurde -, wie es gelingen
kann, den Walderhalt zu einem Element des internationalen Klimaschutzabkommens zu machen. Wir müssen
uns in diesem Zusammenhang auch fragen, wie es gelingen kann, nicht nur staatliche Mittel, sondern auch private Mittel für den Regenwaldschutz und für den Walderhalt zur Verfügung zu stellen. Die Staaten allein
werden überfordert sein. Wir brauchen hier den effizientesten Weg.
({3})
Neben der Frage nach den Finanzen steht natürlich
die Frage nach den Instrumenten im Mittelpunkt. Zurzeit
wird über zwei Instrumente in Bonn diskutiert, die sicherlich Schritte in die richtige Richtung darstellen.
Dazu gehört das Projekt ABS. Dabei geht es um die
Frage der gerechten Vorteilsverteilung. Die größte biologische Vielfalt ist zumeist in den Entwicklungsländern
anzutreffen. Aber die Profiteure sitzen hier bei uns. Es
handelt sich um Institute und Firmen, die von natürlichen Heilstoffen und von den Anleitungen, die uns die
Natur für technische Vorgänge gibt, profitieren. Die Biotechnologiebranche greift mehr und mehr auf die natürlichen Stoffe zurück. Hier müssen wir einen fairen Lastenausgleich finden. Darum geht es zurzeit in Bonn. In
diesem Zusammenhang wurden schon richtige Schritte
beschlossen.
Es geht auch um die Frage, wie es gelingt, Staaten,
die selbst keine finanziellen Mittel zur Verfügung haben,
um Schutzgebiete auszuweisen, dazu zu bringen, solche
Gebiete zur Verfügung zu stellen. Frau Merkel hat ein
entsprechendes Projekt, über das in Bonn diskutiert
wird, als Leuchtturmprojekt bezeichnet. Sie will sich
über diese Konferenz hinaus dafür einsetzen, dass es
eine partnerschaftliche Zusammenarbeit gibt. Die Entwicklungsländer weisen entsprechende Gebiete aus, und
die Industrieländer, aber auch private Institutionen werden als Geldgeber gewonnen. Auch das ist ein zukunftsorientierter Ansatz und ein gutes Instrument.
({4})
Es geht selbstverständlich auch um Verfahrensfragen,
die schon Michael Kauch angesprochen hat: Wer sind
unsere Verhandlungspartner? Wen beziehen wir in all
diese Bemühungen ein? Ich glaube, die Berichte, nach
denen indigene Völker teilweise aus ihren angestammten
Gebieten vertrieben wurden, weil diese als Schutzgebiete ausgewiesen wurden, haben uns alle erschüttert. Es
bedarf keiner weiteren Erörterung, um sagen zu können,
dass das keine nachhaltige Politik ist und dass es so etwas in Zukunft nicht mehr geben darf. Wir müssen verstärkt überlegen, wie wir nicht nur mit den Regierungen,
sondern auch mit den indigenen Völkern Regenwaldschutz betreiben.
({5})
Neben dem Regenwaldschutz und dem Walderhalt
wird es in Zukunft auch um die Frage gehen - sie wurde
von Michael Kauch ebenfalls angesprochen -, wie wir
Mittel für Anpassungsmaßnahmen gewinnen können.
Gerade in Afrika brauchen wir enorme Mittel im Bereich
der Anpassung. Wir müssen klären, wie ein besserer
Technologietransfer als bisher erreicht werden kann.
Auch hierzu wurden auf Bali Beschlüsse gefasst. Das
gehört zu den Erfolgen. Dort gab es konkrete Arbeitsaufträge, die jetzt in der Umsetzung sind. Wir brauchen
diese Ergebnisse. Auch für diesen Bereich werden wir
die Frage beantworten müssen, wie es uns gelingen
kann, private Mittel zu gewinnen.
Ich will noch den Aspekt CDM aufgreifen. Wir wollen, dass CDM mehr genutzt wird, als es heute der Fall
ist. Aus Nairobi ist mir das Gespräch mit dem Umweltminister von Kenia in Erinnerung. Er schrieb der deutschen Delegation auf, wie viele CDM-Projekte es weltweit gibt - das ist heute eine beachtliche Anzahl -, wie
viele Projekte es in Afrika gibt - es waren damals zehn
oder 20 - und wie viele Projekte es im vorletzten Jahr in
Kenia gab: nur ein einziges. Dies zeigt, dass wir da noch
Handlungsbedarf haben.
Es stimmt natürlich, dass die Probleme teilweise bei
den Ländern selbst liegen, weil es um Planungssicherheit, um Rechtssicherheit und um Korruption geht. Die
Frage richtet sich an uns, was wir auf Basis von Technologiepartnerschaften mit einzelnen Ländern in Afrika
und mittels Schaffung von besseren Rahmenbedingungen tun können, um mehr CDM-Projekte für Afrika zu
generieren.
Wir werden einige Fragen grundsätzlich klären müssen. Wir werden die Diskussion, in der es um zusätzliche
Projekte geht, zu einem positiven Ende führen müssen,
um die Voraussetzungen für ein glaubwürdiges Klimaschutzinstrument zu schaffen, das dann auch Afrika zugute kommt.
Das alles zeigt: Es gibt in der Tat viel zu tun. Die
Bundesrepublik Deutschland stellt sich ihrer Verantwortung zusammen mit den europäischen Partnern in gemeinsamer, aber differenzierter Verantwortung für Afrika.
Herzlichen Dank.
({6})
Nächster Redner ist der Kollege Hüseyin Aydin,
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Viele
haben bereits darauf hingewiesen: Der Klimawandel
wirkt sich in aller Schärfe in Afrika aus; das konnten wir
des Öfteren mit unseren eigenen Augen sehen. Die Wüsten werden sich um weitere 5 bis 8 Prozent ausdehnen.
Angesichts solch alarmierender Meldungen präsentiert
sich die Bundesregierung gerne als Vorkämpferin für das
Weltklima, allerdings nur, wenn sie mit einer breiten Berichterstattung rechnet wie zum G-8-Gipfeltreffen in
Heiligendamm und zum Weltklimagipfel auf Bali. Auf
dem Klimagipfel der afrikanischen Staaten aber, der im
November 2007 in Tunis tagte, glänzte die Bundesregierung durch Abwesenheit. Das zeigt, wie ernst die Bundesregierung den Umweltschutz in Afrika nimmt.
({0})
Deshalb begrüßt es die Linke, dass sich zumindest der
Bundestag heute diesem Thema widmet.
Der Antrag der Grünen findet unsere Unterstützung,
insbesondere die Kritik am Nuklearexport nach Afrika.
({1})
Dabei handelt es sich nicht um eine Energiepartnerschaft, sondern um die Verbreitung der gefährlichsten,
teuersten und vor allem giftigsten Technologie, die auf
diesem Sektor zu haben ist. Afrika hat Sonne im Überfluss. Warum finanziert Europa nicht mehr Fotovoltaikanlagen in der Sahara, worauf zu Recht hingewiesen
wurde?
Ich komme nun zum Antrag der FDP. Wie nicht anders zu erwarten, ignorieren die Liberalen die Rolle, die
die internationalen Konzerne beim Raubbau in Afrika
spielen. In ihrem Antrag wird eine einzige Sorte von Unternehmen kritisiert, nämlich die chinesischen. Das ist
aus meiner Sicht pure Heuchelei. Warum? Tatsache ist:
80 Prozent des zumeist illegal geschlagenen Holzes in
Westafrika, liebe Kollegen von der FDP, finden ihren
Absatz vor allem in Europa. Sie werden sich noch an die
Giftmülllieferung nach Abidjan an der Elfenbeinküste
im Jahre 2006 erinnern. Tausende Afrikaner wurden vergiftet, 15 starben daran. Woher kam das Schiff? Nicht
aus China, sondern aus Europa. Wir müssen vor der eigenen Türe kehren.
({2})
Ich sage: Europäischen Firmen, die mit illegalem Tropenholz handeln oder unkontrolliert giftigen Müll in
Afrika entladen, muss endlich das Handwerk gelegt werden, übrigens ebenso wie deren afrikanischen Komplizen. Doch dazu fällt der FDP nichts ein.
Sie fordern nun, dem Wassersektor höhere Prioritäten
einzuräumen. Aber unsere Anträge sowie die vom
Bündnis 90/Die Grünen, über eine Ticketabgabe zusätzlich Entwicklungshilfemittel zu mobilisieren, haben Sie
immer wieder abgelehnt. Damit hätten wir mehr Mittel
auch für diese Bereiche.
({3})
Auch liegt der Anteil der Projekte des Umweltschutzes seit Jahren zwischen 15 und 25 Prozent. Wenn man
kritisiert, dann sollte man konkret werden. Ein Beispiel:
Jeden Monat landen 400 000 alte Computer aus Europa
und Nordamerika in Lagos an, von denen drei Viertel
unter Freisetzung schwerer Umweltgifte verbrannt werden. Dies wäre wirklich ein Feld, auf das sich die deutsche Entwicklungszusammenarbeit, aber vor allem auch
die FDP konzentrieren könnte.
Kommen wir zum Klimaschutz. Auf der letzten Reise
des Entwicklungsausschusses nach Uganda konnten wir
beobachten, wie die Verteilung von über 250 000 verbesserten Herden im ganzen Land den Bedarf an Brennholz
drastisch verringert hat. Das ist vorbildlich. Doch was
kann die Entwicklungszusammenarbeit machen, wenn
im Großen alles schiefläuft?
Nehmen wir die Weltbank. Heute melden die Agenturen, dass bei der Weltbank ein neuer Fonds aufgelegt
werden soll, um Schwellenländer bei der Reduzierung
des Treibhausgasausstoßes zu unterstützen. Hört sich gut
an. Man muss nur wissen, dass die Weltbank ansonsten
immer mehr klimaschädliche Projekte fördert.
({4})
Allein im Jahre 2006 hat sie ihre Neuzusagen für Erdölund Erdgasprojekte um 93 Prozent gesteigert. Erneuerbare Energien und Energieeffizienz machten dagegen
nur 5 Prozent des Energieportfolios aus. Nichtregierungsorganisationen fordern ebenso wie die Linke und
Abgeordnete anderer Fraktionen im zuständigen Ausschuss eine Umkehr dieser Politik. Warum ignoriert die
Bundesregierung diese Stimmen? Hier besteht Handlungsbedarf.
({5})
Umweltschutz in Afrika kann man nur betreiben,
wenn konkrete und intensive Initiativen gestartet werden.
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Frau Präsidentin, ich komme zum letzten Satz meiner
Rede, wenn Sie ihn mir erlauben. - Wir werden uns im
Rahmen der weiteren Ausschussberatungen selbstverständlich intensiv mit den Anträgen von der FDP und
von Bündnis 90/Die Grünen auseinandersetzen. Ich
hoffe, vor allem für Afrika, dass wir die Einsicht gewinnen, dass wir uns noch mehr anstrengen müssen.
Danke schön.
({0})
Für die SPD-Fraktion gebe ich das Wort dem Kollegen Frank Schwabe.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Damen und Herren! Das
Thema Afrika steht nun schon seit längerer Zeit auf der
Tagesordnung. Die deutsche Präsidentschaft hat es zu einem wichtigen Thema gemacht. Auch die Weltklimakonferenz in Nairobi wurde schon angesprochen. Es ist
gut, dass FDP und Bündnis 90/Die Grünen heute Anträge dazu stellen. Das Thema steht unter anderem deshalb auf der Tagesordnung, weil es - das ist schon deutlich geworden - auf der Welle der Debatte über den
Klimawandel mitsurft.
Denn die Auswirkungen des Klimawandels, die durch
die industrialisierten Länder verursacht werden, werden
immer sichtbarer. Vor Ort gibt es Auswirkungen dessen,
was die industrialisierten Länder in den letzten Jahrzehnten und Jahrhunderten gemacht haben. Es geht um die
Hinterlassenschaften der Kolonialisierung, die Auswirkungen eines ungerechten Weltwirtschaftssystems und
den Raubbau von chinesischen, europäischen und nordamerikanischen Firmen an Rohstoffen und Wäldern.
Hinzugekommen ist der Klimawandel, der massive
Auswirkungen für Afrika hat. Die Ursachen sieht man
in Afrika nicht - sie liegen nämlich woanders -, aber
die Auswirkungen. So gibt es Prognosen, nach denen
im ägyptischen Nildelta ein Anstieg des Meeresspiegels um 50 Zentimeter - das ist leider nicht ganz unwahrscheinlich - zu einer Versalzung des Grundwassers
9 Kilometer landeinwärts führen wird. Andere Prognosen besagen, dass, wenn keine teuren Schutzmaßnahmen
ergriffen werden, bei einem Anstieg des Meeresspiegels
um „nur“ 50 Zentimeter 67 Prozent der Bevölkerung der
zweitgrößten Stadt Ägyptens, Alexandrias, im Prinzip
überschwemmt werden und ihre Behausung, ihre Heimat
verlieren. Gleichzeitig breiten sich Wüsten in Afrika rasant aus. Herr Staatssekretär Müller hat heute Morgen
darauf hingewiesen, dass bei einem Anstieg der Temperatur um 2 Grad Celsius ungefähr die Hälfte der landwirtschaftlichen Produktion in Afrika gefährdet ist. Das
alles sind Gründe für Kriege und Bürgerkriege.
Die Zahlen machen deutlich, wie ungerecht es weltweit zugeht: Circa 800 Millionen Afrikaner stoßen heute
etwa so viel CO2 aus wie die 80 Millionen Deutschen.
Deswegen ist es richtig - ich will das an dieser Stelle
ausdrücklich würdigen -, dass die Kanzlerin gefordert
hat, bis zum Jahr 2050 auf der Welt einen gerechten
CO2-Verbrauch von etwa 2 Tonnen pro Kopf hinzubekommen.
Der Klimawandel birgt unglaubliche Risiken, aber
auch Chancen. Denn das Thema Entwicklungszusammenarbeit geht mittlerweile nicht mehr nur die Entwicklungsländer etwas an, sondern die industrialisierten
Länder betreiben Entwicklungszusammenarbeit aus eigenem Interesse. Klar ist, wenn die Entwicklungsländer in Afrika und anderswo einen Entwicklungspfad so
beschreiten, wie wir in Europa es getan haben, dann wird
es auch für die industrialisierten Staaten ganz eng.
Es gibt einige wichtige Instrumente, mit denen man
etwas gegen die Auswirkungen des Klimawandels in
Afrika tun kann. Das Instrument CDM, Clean-Development-Mechanism, ist schon angesprochen worden.
Wichtig ist allerdings - das möchte ich betonen -, dass
diese Mechanismen auch für eine soziale Nachhaltigkeit
stehen. Das muss in die Prüfung mit einbezogen werden.
Wenn wir über die Situation der indigenen Völker reden,
sollten wir uns eigentlich gemeinsam dafür einsetzen,
dass die Kriterien der sozialen Nachhaltigkeit bei CDM
eine größere Rolle spielen.
Es geht um die Förderung erneuerbarer Energien und
um dezentrale Lösungen. Es geht um die Finanzierung
von Anpassungsmaßnahmen, zum Beispiel wenn der
Meeresspiegel steigt, und um die Finanzierung des Regenwaldschutzes. Darum geht es zurzeit auf der schon
angesprochenen CBD in Bonn.
In den beiden Anträgen von der FDP und den Grünen
wird zum einen die Herausforderung richtig beschrieben. Zum anderen werden auch die Maßnahmen,
glaube ich, durchaus richtig beschrieben. Ein Stück
weit fehlen mir jedoch Antworten auf die Fragen, wie
viel dies eigentlich kostet und wie es finanziert werden
soll. Auf der CBD gab es in der Tat einen sehr guten Finanzierungsvorschlag von Gabriel und Merkel: Man
solle einmal schauen, was es im Bereich der Erlöse des
Emissionshandels gibt. Ich kann alle in diesem Hause
nur ermuntern, frühzeitig einen Finger auf dieses Geld
zu legen. Unter uns sind gerade, glaube ich, wenige Finanzpolitiker; aber man kann dies natürlich nachlesen.
Ich appelliere noch einmal, dass dieses Geld hierfür
eingesetzt wird. Es ist zurzeit noch nicht da; wir haben
nur etwas aus der zweiten Handelsperiode. Aber wir
werden ab 2013 allein aus dem deutschen Bereich Einnahmen in Höhe von 5 Milliarden Euro aufwärts bekommen. Ich denke, es ist wichtig, dass die Fachpolitiker für Umwelt und für Entwicklungszusammenarbeit
fraktionsübergreifend darauf achten, dass dieses Geld in
den Klimaschutz, insbesondere in den internationalen
Klimaschutz, investiert wird.
({0})
Daran können wir gemeinsam arbeiten. Das ist eine
wichtige Herausforderung, der wir uns gemeinsam stellen sollten.
Vielen Dank. Glück auf!
({1})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Ute Koczy, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Unser heute hier eingebrachter grüner
Antrag will Brücken schlagen, und zwar einmal mehr
nach Afrika zum Schutz für mehr Klima und mehr
Umwelt und für die Unterstützung der Anpassung an den
Klimawandel. Der Antrag will heute von hier aus natürlich auch eine Brücke nach Bonn schlagen. Denn dort
findet zurzeit die COP 9 statt, und dort geht es darum,
den Schutz unserer natürlichen Welt zu vereinbaren. So
wie ich es bisher mitbekommen habe, ist dort außer der
Summe konzeptionell und substanziell verdammt wenig
- Entschuldigung - zu finden.
Es geht dabei um den Schutz Afrikas. Die Realität,
die wir dort antreffen, haben Sie hier alle schon wunderbar beschrieben. Wir stehen vor der Situation, dass sich
heute und morgen in Bonn etwas bewegen muss. Denn
hier werden die Weichen gestellt. Wenn die Weichen
jetzt nicht gestellt werden, haben wir für die nächsten
Jahre nichts in der Hand, um international am Artenschutz arbeiten zu können.
({0})
Wir brauchen schleunigst gemeinsames Handeln. Ich
finde, dass man nicht bis 2009 warten muss, bevor man
es im Haushalt vereinbart. Ich freue mich über die
Summe, die von der Kanzlerin zur Verfügung gestellt
wird.
({1})
Ich freue mich aber nicht darüber, dass das erst 2009
passiert. Denn das fällt in die nächste Regierungsphase.
Ob es dann trägt, wage ich zu bezweifeln.
({2})
Ich habe den Eindruck, dass den Ankündigungen, die
wir jetzt immer wieder gehört haben, was kommen soll
und was man alles erreichen will, nicht viel folgen wird.
Wenn ich jetzt zum Beispiel höre, dass im Februar im
Vergleich zum letzten Jahr der Ankauf von Geländewagen durch die Bevölkerung um 22 Prozent höher war,
dann frage ich mich, ob wir hier nicht auf dem falschen
Weg sind. Denn das, was wir hier machen, hat Konsequenzen in Afrika. Hier ist noch nichts bewegt worden,
um Afrika tatsächlich zu unterstützen.
({3})
Die Autorinnen und Autoren des Umweltprogramms
der Vereinten Nationen beschreiben im sogenannten
Africa Environment Outlook eine Reihe von gravierenden und sich verschärfenden Umweltproblemen. Diese
haben natürlich etwas mit unserem Leben hier zu tun.
Aber in Afrika gilt: Die Entwaldung durch Abholzung
und Nutzung von Holz zum Kochen und Heizen, das
Vordringen der Wüste, der Verlust der biologischen Vielfalt, der nicht nachhaltige Umgang mit Wasser sowie die
legale und oft auch illegale Art und Weise der Rohstoffgewinnung müssen als Weckruf dienen. Der Weckruf hat
schon letztes Jahr stattgefunden; aber er ist 2008 noch
nicht in konkretes Handeln umgesetzt worden.
Ja, es gibt auch positive Entwicklungen; das will ich
nicht verschweigen. Die Verleihung des Friedensnobelpreises an die Initiatorin des „Green Belt Movements“,
Wangari Maathai, war eine große Ermutigung für afrikanische Umweltaktivistinnen und -aktivisten.
({4})
Im African Climate Appeal kommen afrikanische Stimmen eindringlich und authentisch zu Wort. Es gibt Anzeichen, dass in der Afrikanischen Union und in der
neuen Partnerschaft für Afrika, NEPAD, dem Schutz der
Umwelt ein höherer Stellenwert eingeräumt wird. Und
doch: Umweltministerien und Umweltminister zählen
auf diesem Kontinent weiterhin zu den schwachen Akteuren. Das muss sich ändern.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es kann nicht heißen: entweder Umweltschutz oder Bekämpfung der Armut. Als Entwicklungspolitikerin sage ich: Umweltschutz und Armutsbekämpfung gehören unmittelbar
zusammen, ganz besonders in Afrika. Das darf uns nicht
wundern. Denn 70 Prozent der Bevölkerung Afrikas leben direkt vom Land und auf dem Land. In unserem Antrag konzentrieren wir uns auf die wesentlichen sechs
Felder.
Meine Redezeit ist knapp. Erlauben Sie mir aber noch
einige Anmerkungen zum Klimaschutz. Afrika ist tatsächlich der Kontinent, der vom Klimawandel am meisten betroffen ist. Es ist ein Treppenwitz der Geschichte,
dass der Kontinent, der am wenigsten verantwortlich ist,
am meisten betroffen ist. Das muss uns aufrütteln. Denn
es ist auch so, dass die Fähigkeit dieses Kontinents, aus
eigener Kraft eine Veränderung herbeizuführen, nicht in
ausreichendem Maße vorhanden ist. Hier Unterstützung
zu leisten, und zwar nicht nur im Mittelmeerraum, in
Ägypten und in den Ländern, die eigene Potenziale haben, sondern auch und gerade in Subsahara-Afrika, also
dort, wo die ärmsten Menschen Afrikas leben, das ist
eine Verantwortung, der wir uns endlich stellen müssen.
Danke.
({5})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Gabriele Groneberg, SPD-Fraktion.
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Es ist in der Tat zu begrüßen, dass wir
wieder einmal die Gelegenheit haben, uns mit Afrika im
Speziellen und mit dem Klimawandel und seinen Auswirkungen auf den afrikanischen Kontinent im Allgemeinen auseinanderzusetzen.
Herr Kollege Kauch, Sie haben Vorwürfe geäußert,
die ich nicht nachvollziehen kann. Ich war gerade erst
mit einer Gruppe des Ausschusses für Entwicklungszusammenarbeit im Ostkongo. Dort konnten wir uns vom
genauen Gegenteil dessen überzeugen, was Sie hier vorgetragen haben. Wir haben uns in einem Gebiet im OstGabriele Groneberg
kongo befunden, das von den Kriegswirren und den Unruhen nach wie vor am schlimmsten betroffen ist.
({0})
Wir konnten feststellen, dass ein GTZ-Projekt, das dort
seit Jahrzehnten durchgeführt wird, von der Bevölkerung so sehr adaptiert worden ist, dass die Menschen ihren Schutzpark während des Krieges verteidigt haben.
Manche Menschen haben, um dieses Projekt zu schützen, sogar ihr Leben gelassen. Sie haben immer gesagt:
Die Deutschen kommen zurück, und dann helfen sie uns;
denn wir haben auf unseren Park aufgepasst. - Ich finde,
das ist vorbildlich. Wir können uns bestimmt noch über
Einzelfälle unterhalten. Ich finde aber, dass die Menschen, die dort unter schwierigen Bedingungen leben
und sich trotz ihrer Armut für dieses Projekt eingesetzt
haben, unseren Respekt verdienen.
({1})
Dem Antrag der Fraktion der Grünen ist anzumerken,
dass er von der Sorge um den afrikanischen Nachbarkontinent angesichts des globalen Klimawandels getragen wird. Allerdings muss ich sagen: Bei genauerer Betrachtung fällt auf, dass diese Sorge um die Umwelt
Afrikas offenbar dazu geführt hat, dass dem Antrag eine
konkrete Hauptstoßrichtung fehlt.
Liebe Ute Koczy, leider muss ich sagen: Ihr Antrag
wirkt wie ein Sammelsurium umweltrelevanter Aspekte.
Dadurch verliert er aber seine notwendige Schärfe.
({2})
In Anbetracht dessen zieht auch der Vorwurf nicht, den
du gerade an uns gerichtet hast: dass wir in Deutschland
nichts unternehmen würden, um den Klimawandel in
Afrika positiv zu beeinflussen und dem Kontinent zu
helfen. Das stimmt so einfach nicht.
Ich frage mich zum Beispiel: Wie soll man die neunte
Forderung, die unter dem Aspekt „Afrika im Klimawandel“ aufgeführt ist, verstehen? Dort wird gefordert, sicherzustellen, dass die Finanzierung des Klimaschutzes
nicht zulasten der Finanzierung anderer Millenniumsentwicklungsziele erfolgt. Natürlich wird das nicht geschehen. Denn Klimaschutz wurde nicht explizit als Millenniumsentwicklungsziel definiert. Das ist bedauerlich.
Gerade deshalb aber geht die Durchführung von Klimaschutzmaßnahmen über die Forderung von Ziel sieben,
den Schutz der Umwelt, hinaus. Klimaschutzmaßnahmen dürfen nicht zulasten anderer Entwicklungsziele erfolgen. Denn Klimaschutz ist die Grundvoraussetzung
dafür, dass wir die anderen Entwicklungsziele überhaupt
erreichen können. Dieser Zusammenhang ist sehr wichtig. In Ihrem Antrag kommt er aber überhaupt nicht zum
Ausdruck.
({3})
Kollege Schwabe hat eindringlich erläutert, welche
Auswirkungen der Klimawandel in manchen Teilen
Afrikas hat. Der kenianische Präsident Kibaki hat es auf
den Punkt gebracht, als er sagte:
Der Klimawandel droht die Bemühungen zur Armutsreduzierung zu vereiteln und macht die Aussicht, die Millenniumsentwicklungsziele tatsächlich
zu erreichen, ungewisser.
Insofern müssen wir ein Interesse daran haben, dass
Klimaschutz- und Anpassungsmaßnahmen im Zusammenhang betrachtet werden. Die Armutsbekämpfungsstrategien müssen im Hinblick auf ihre mögliche Gefährdung durch den Klimawandel überprüft werden. Das
Thema Klimaschutz ist bereits im Sinne eines Mainstreams in die deutsche Entwicklungszusammenarbeit
integriert. Das ist wichtig; das machen wir seit Jahren.
Armut ist eine der Hauptursachen den Umweltzerstörung. Das wissen wir natürlich alle. Arme können nur
durch Waldrodung und die Ausnutzung von Land für ihr
Überleben sorgen, indem sie zum Beispiel durch Abholzen Brennmaterial zum Kochen und Heizen gewinnen.
Wir müssen die Wechselwirkung zwischen beiden Elementen im Auge haben. Sie muss auch bei der Zusammenarbeit in unseren entwicklungspolitischen Projekten
immer berücksichtigt werden.
({4})
Insofern freue ich mich auf die Diskussionen im Ausschuss. Ich finde es einfach gut, dass wir wiederholt darüber reden, weil ich glaube: Wenn es gelingt, die Medien
dafür zu sensibilisieren und das, was dort passiert, transparent zu machen, dann können wir alle nur gewinnen.
Vielen Dank.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/5132 und 16/9313 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe
Schummer, Ilse Aigner, Marcus Weinberg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU sowie der Abgeordneten Dr. Ernst Dieter
Rossmann, Ulla Burchardt, Willi Brase, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Rahmenbedingungen für Lebenslanges Lernen verbessern - Weiterbildung und Qualifizierung ausbauen und stärken
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
- zu dem Antrag der Abgeordneten Kornelia
Möller, Volker Schneider ({1}),
Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion DIE LINKE
Der beruflichen Weiterbildung den notwendigen Stellenwert einräumen
- Drucksachen 16/8380, 16/7527, 16/9298 Berichterstattung:
Abgeordnete Uwe Schummer
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Patrick Meinhardt
Volker Schneider ({2})
Priska Hinz ({3})
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu die-
sem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. - Ich
sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich um
folgende Kolleginnen und Kollegen: Uwe Schummer,
CDU/CSU, Dr. Ernst Dieter Rossmann, SPD, Patrick
Meinhardt, FDP, Volker Schneider, Die Linke, Priska
Hinz, Bündnis 90/Die Grünen.1)
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung auf Drucksache 16/9298 ({4}).
Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Be-
schlussempfehlung, den Antrag der Fraktionen der
CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/8380 in der
Ausschussfassung anzunehmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Ent-
haltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men der Koalition bei Gegenstimmen der Opposition an-
genommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion
Die Linke auf Drucksache 16/7527. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? -
Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist bei Ge-
genstimmen der Fraktion Die Linke mit den Stimmen
des restlichen Hauses angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Barbara Höll, Dr. Dietmar
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Kostenpflichtige Service-Telefonnummer der
Arbeitsagentur in eine gebührenfreie Rufnum-
mer umwandeln
- Drucksache 16/9097 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu die-
sem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. - Ich
sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich um
folgende Kolleginnen und Kollegen: Stefan Müller,
CDU/CSU-Fraktion, Katja Mast, SPD-Fraktion, Jörg
Rohde, FDP, Dr. Gesine Lötzsch, Die Linke, Brigitte
Pothmer, Bündnis 90/Die Grünen.2)
1) Anlage 4
2) Anlage 5
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/9097 an den Ausschuss für Arbeit und
Soziales vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({5}) zu der Unterrichtung
durch die Bundesregierung
Mitteilung der Kommission an den Rat, das
Europäische Parlament, den Europäischen
Wirtschafts- und Sozialausschuss und den
Ausschuss der Regionen:
Eine europäische Initiative zur Entwicklung
von Kleinstkrediten für mehr Wachstum und
Beschäftigung
KOM ({6}) 708 endg.; Ratsdok. 10215/07
- Drucksachen 16/7817 Nr. A.5, 16/8613 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Doris Barnett
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu die-
sem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. - Ich
sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich um
folgende Kolleginnen und Kollegen: Eckhardt Rehberg,
CDU/CSU, Doris Barnett, SPD, Paul K. Friedhoff, FDP,
Sabine Zimmermann, Die Linke, Kerstin Andreae,
Bündnis 90/Die Grünen.3)
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie auf Drucksache 16/8613. Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis
der Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen der Koalition und der FDP bei Gegenstimmen von Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 17 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({7}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Renate Künast,
Ulrike Höfken, Cornelia Behm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Gesundheitscheck der europäischen Agrarpolitik - Mit Klimabonus zu Klimaschutz, guter Ernährung und nachhaltiger Entwicklung
- Drucksachen 16/7709, 16/8534 Berichterstattung:
Abgeordnete Marlene Mortler
Waltraud Wolff ({8})
Hans-Michael Goldmann
Dr. Kirsten Tackmann
Ulrike Höfken
3) Anlage 6
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. -
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich
um folgende Kolleginnen und Kollegen: Waltraud
Wolff, SPD-Fraktion, Marlene Mortler, CDU/CSU-Frak-
tion, Hans-Michael Goldmann, FDP-Fraktion,
Dr. Kirsten Tackmann, Fraktion Die Linke, Ulrike
Höfken, Bündnis 90/Die Grünen.1)
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Er-
nährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz emp-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 16/8534, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 16/7709 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist Hauses bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen mit den Stimmen des Hauses im Übrigen an-
genommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD
Zukunft des Branntweinmonopols nach 2010
- Drucksache 16/9304 -
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu die-
sem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. - Ich
sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich um
folgende Kolleginnen und Kollegen: Norbert Schindler,
CDU/CSU, Lydia Westrich und Reinhard Schultz, SPD,
Dr. Volker Wissing, FDP, Dr. Barbara Höll, Die Linke,
Cornelia Behm, Bündnis 90/Die Grünen.2)
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/9304. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist bei
Enthaltung der FDP-Fraktion mit den Stimmen des Hauses im Übrigen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Patrick
Döring, Mechthild Dyckmans, Michael Kauch,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Mietrechtsänderungen zur Erleichterung
klima- und umweltfreundlicher Sanierungen
- Drucksache 16/7175 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({9})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um fol-
gende Kolleginnen und Kollegen: Norbert Geis, CDU/
1) Anlage 7
2) Anlage 8
CSU, Dirk Manzewski, SPD, Mechthild Dyckmans,
FDP, Heidrun Bluhm, Die Linke, Peter Hettlich,
Bündnis 90/Die Grünen.
Der Klimawandel ist zu einem großen Thema in der
Gesellschaft und in der Politik geworden. Zuweilen kann
man zwar den Eindruck gewinnen, dass es sich dabei um
eine in der Politik übliche Übertreibung handelt, weil das
Thema gerade Konjunktur hat. Auch kann man die Befürchtung hegen, dass im Kielwasser des Klimaschutzes
wirtschaftliche Ziele verfolgt werden, die wenig mit Klimaschutz zu tun haben, die aber ohne die Diskussion um
den Klimaschutz nicht durchzusetzen wären. Auch ist ein
gewisser Öko-Nihilismus in dieser Diskussion erkennbar.
Dennoch darf dieses dringlich politische Anliegen nicht
bagatellisiert werden. Für die Frau Bundeskanzlerin, die
Bundesregierung und die Koalition ist der Klimaschutz
ein zentrales politisches Vorhaben, das Schritt für Schritt
umgesetzt werden soll. Deshalb hat die Bundesregierung
rechtzeitig zur 13. Vertragsstaatenkonferenz vom 3. bis
14. Dezember 2007 auf Bali ein integriertes Energie- und
Klimaprogramm vorgelegt, dass, so die Bundesregierung,
weltweite Maßstäbe setzen soll. Beim Klimaschutz geht es
um einen Ausgleich der weltweit steigenden Energienachfrage und den dadurch mit verursachten Klimawandel.
Die Eckpunkte dieses „integrierten Energie- und Klimaprogramms“ der Bundesregierung beinhalten zahlreiche Umgestaltungen und Erweiterungen von bereits bestehenden Regelungen. Es geht um umfangreiche
Investitionsverpflichtungen. Es geht vor allem auch darum, regenerative Energie in vermehrtem Maße zu nutzen. Deshalb ist ein sogenanntes „Regenerationswärmegesetz“ vorgesehen mit weiteren, für den Wärmemarkt
notwendigen, Maßnahmen.
Bei all diesen Vorhaben geht es darum, die Energieversorgung langfristig zu sichern und gleichzeitig den Klimaschutz voranzutreiben.
Der Antrag der FDP erhebt nun den Vorwurf, dass die
Bundesregierung bei diesem Vorhaben zu wenig den
Wohnbereich berücksichtigt, in welchem ein hoher Energieverbrauch stattfindet und in welchem deshalb auch
eine hohe Klimagefährdung entsteht. So wird der Vorwurf
gemacht, dass die Bundesregierung es versäumt habe, für
die Vermieter hinreichende Anreize zu schaffen, um eine
energetische Sanierung privater Mietshäuser voranzutreiben. Insbesondere erhebt der Antrag den Vorwurf,
dass ein Haupthindernis für eine stärkere energetische
Sanierung im Gebäudebereich das Mietrecht sei, das von
der Bundesregierung aber überhaupt nicht ernsthaft angetastet werde.
In dem Antrag werden deshalb sechs Punkte angeführt, von deren Umsetzung sich die FDP letztlich eine
bessere Energieversorgung und einen besseren Klimaschutz erwartet. Allerdings wird in dem Antrag nicht immer sauber zwischen den Fragestellungen unterschieden.
Bei genauerer Strukturierung geht es um folgende Problemfelder:
Erstens. Mieterhöhung nach Sanierungsmaßnahmen,
die eine nachhaltige Einsparung von Energie und Wasser
bewirken ({0}).
Angesichts der stark gestiegenen Energie- und Heizkosten und der weltweiten Bemühungen um eine Reduzierung der CO2-Emissionen besteht ein Interesse daran,
den Energieverbrauch in Gebäuden der Privathaushalte
({1}) möglichst zu senken. Für Neubauten werden daher zunehmend strengere Vorgaben hinsichtlich
Wärmedämmung etc. erlassen. Schwieriger als die Schaffung und Umsetzung energetischer Standards für Neubauten ist es freilich, eine energetische Sanierung des
alten Wohnbestandes ({2}) voranzutreiben. Dabei geht es in der Regel um
moderne Heizanlagen und Wärmedämmungsmaßnahmen. Bei solchen Maßnahmen entstehen in der Regel
ganz erheblich Kosten, die häufig sowohl die Gebäudeeigentümer als auch die Mieter überfordern dürften. Deshalb auch hat der Gesetzgeber solche energetischen Sanierungsmaßnahmen für bestehende Wohnräume nicht
verpflichtend vorgeschrieben. Vielmehr soll durch finanzielle Förderung ein Anreiz geschaffen werden, einen
Eigentümer zur energetischen Sanierung bestehender
Gebäude zu bewegen. Dies dürfte sicherlich auch der
richtige Weg sein. Außerdem wurde im Mietrecht eine Regelung geschaffen, wonach der Eigentümer/Vermieter die
jährliche Miete um 11 Prozent der Sanierungskosten
({3}) erhöhen kann, wenn er bauliche Maßnahmen
durchgeführt hat, die eine nachhaltige Einsparung von
Energie oder Wasser bewirken ({4}).
Immerhin ist zu bedenken, dass solche Mieterhöhungen, die durch Modernisierungsanlagen veranlasst sind,
den Mieter erheblich belasten können. Entfallen bei einer
größeren Gebäudesanierung etwa 20 000 Euro Kosten
auf die Wohnung des Mieters, so gibt dies eine dauerhafte
Erhöhung der jährlichen Miete um 2 200 Euro. Allerdings kann der Mieter infolge der Sanierung Heizkosten
einsparen.
Die Vermieterseite hat wiederholt Kritik geübt, dass
die Anforderungen an die Modernisierungsmieterhöhung
({5}) zu hoch seien.
In diesem Zusammenhang sind die Ziffern 1, 4, und 5
des FDP-Antrages zu sehen:
a. Ziffer 1. des Antrages:
Der Vorschlag geht - soweit ersichtlich - dahin, dass
nach einer energetischen Sanierung eine Mieterhöhung
möglich sein soll, deren Höhe sich nicht an Kosten der
Sanierungsmaßnahme, sondern an der Betriebskostenersparnis orientiert. Auf den ersten Blick erscheint dies
richtig, da der Zusatzbelastung für den Mieter jeweils
eine äquivalente Einsparung gegenüberstehen würde.
Fraglich allerdings ist, ob eine derartige Regelung in der
Praxis durchführbar wäre. Der Mieter hätte es in der
Hand, die Mieterhöhung „abzuschöpfen“, indem er hohe
Heizkosten produziert. Die Berechnung der Betriebskostenersparnis würde außerdem einen erheblichen Verwaltungsaufwand erfordern und birgt hohes Streitpotenzial.
b. Ziffer 4. des Antrages:
Die Anforderungen an die Darlegung der für die jeweilige Wohnung aufgewendeten Sanierungskosten ergeben sich aus § 559 b BGB und erscheinen angesichts der
oft erheblichen Auswirkungen auf die Miethöhe nicht
überzogen. Aus der Rechtsprechung zu § 559 b BGB ergeben sich jedenfalls keine Anhaltspunkte für überzogene
Anforderungen an die Darlegungslast des Vermieters.
Deshalb sieht die Bundesregierung auch derzeit keine
Notwendigkeit zur Gesetzesänderung in diesem Bereich
({6}).
c. Ziffer 5. des Antrages:
Danach sollen Modernisierungsmieterhöhungen auch
für Wohnungen mit Staffel- oder Indexmietverträgen zugelassen werden. Die Bundesregierung hat in ihrer Antwort
auf die Kleine Anfrage der FDP ({7}) dieses Begehren zurückgewiesen. Ich
schließe mich den Ausführungen der Bundesregierung insoweit an und verweise darauf.
Zweitens. Duldung von Baumaßnahmen, die zur energetischen Sanierung durchgeführt werden.
Nach § 554 Abs. 2 Satz 1 BGB hat der Mieter ({8}) Baumaßnahmen zu dulden, die zur Einsparung von Energie und Wasser durchgeführt werden. Nicht völlig zweifelsfrei ist, ob hierunter
auch Baumaßnahmen zur Umstellung auf erneuerbare
Energien ({9}) fallen, da insoweit in
erster Linie ein Austausch der Energiequelle und nicht
unbedingt eine Verringerung des Energieverbrauches erfolgt.
Die Bundesregierung geht davon aus, dass auch der
Einbau von Solaranlagen eine Modernisierungsmaßnahme im Sinne des § Abs. 2 Satz 2 BGB darstellt ({10}). Allerdings könnte eine Klarstellung in § 554 Abs. 2
Satz 1 BGB dergestalt erfolgen, dass eine Duldungspflicht bei „Maßnahmen“ zu Gewährleistung der Nutzung erneuerbarer Energien ausdrücklich vorgesehen
wird. Der Bundesrat hat eine dahin gehende Änderung
des § 554 Abs. 2 Satz 1 BGB in seiner Stellungnahme zum
Entwurf eines Gesetztes zur Förderung Erneuerbarer
Energien im Wärmebereich ({11}) vorgeschlagen ({12}).
Soweit durch eine Modernisierungsmaßnahme/Umbaumaßnahme der Gebrauch der Mietwohnung ({13}) aufgehoben oder eingeschränkt wird, soll nach
unserer Auffassung die Regelung des § 536 BGB ({14}) greifen. Dies erscheint uns jedenfalls als
sachgerecht.
Drittens. Umlegung von Betriebskosten:
Die Ziffern 2. und 6. des Antrages betreffen die Frage,
inwieweit der Mieter nach einer Heizungsmodernisierung die Betriebskosten der Heizungsanlage noch auf den
Mieter umlegen kann. Die Umlegbarkeit von Betriebskosten richtet sich grundsätzlich nach der zwischen Vermieter und Mieter getroffenen Vereinbarung. Wurde im Mietvertrag die Umlegung von Betriebskosten nur für eine
bestimmte Beheizungsart ({15})
vereinbart, dürfen grundsätzlich auch nur die bei dieser
Beheizungsart anfallenden Betriebskosten umgelegt werZu Protokoll gegebene Reden
den. Tauscht der Vermieter eine alte Heizungsanlage gegen eine moderne aus, so kann er die Betriebskosten der
modernen Anlage weiter auf den Mieter umlegen, wenn
die im Mietvertrag vorgesehene Beheizungsart ({16}) gleich
bleibt. Probleme treten aber dann auf, wenn der Vermieter im Zuge der Modernisierung die Beheizungsart wechseln will. Dies gilt vor allem dann, wenn der Vermieter
nicht mehr selbst für die Wärmeversorgung einsteht, sondern diese einem Externen übertragen will ({17}). Nach der Rechtsprechung
ist für die Umstellung auf Wärmelieferung ({18}) die Zustimmung des
Mieters erforderlich, wenn ihm erhöhte oder zusätzliche
neue Kosten auferlegt werden sollen. Sofern der Mieter
nicht zustimmt, kann der Vermieter nur die nach dem
Mietvertrag zulässigen Wärmekosten umlegen, die dann
fiktiv zu berechnen sind. Die Bundesregierung hat bereits
in ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage der FDP ({19}) erklärt, dass durch ein
Gutachten von unabhängiger Stelle geklärt werden soll,
ob im Zusammenhang mit dem sogenannten Wärme-Contracting in der Praxis tatsächlich rechtliche Hindernisse
bestehen und wie diese gegebenenfalls beseitigt werden
können. Einer weiteren Aufforderung zur Einholung eines
Sachverständigengutachtens bedarf es daher nicht.
Der FDP geht es in ihrem Antrag um Mietrechtsänderungen zur Erleichterung klima- und umweltfreundlicher
Sanierungen. Der Titel verspricht einiges, ist dann allerdings auch schon das Einzige, was an dem Antrag beim
Durchlesen erfreut.
Unter dem Deckmantel der Ökologie wird hierin knallhart Klientelpolitik betrieben. Alleine die Behauptung,
der „ach so selbstlose Vermieter“ habe nun rein gar
nichts von entsprechenden Maßnahmen und alleine der
Mieter würde hiervon profitieren, spottet - wenn das
Ganze nicht so ernst wäre - jeder Beschreibung und
zwingt einen gerade dazu, der FDP in diesem Zusammenhang noch einmal die Prinzipien der Marktwirtschaft zu
erklären. Eine Wohnung, die klima- und umweltfreundlich saniert worden ist und hierdurch erhebliche Energiekosten spart, wird nicht nur einen höheren Marktwert
erhalten, sondern natürlich auch zu Mieterhöhungen berechtigen.
Ebenso wenig nachzuvollziehen sind die Vorschläge
für eine neue Möglichkeit zur Mieterhöhung im Zuge der
Modernisierungsmaßnahmen. Die FDP meint offenbar,
dass jede Mieterhöhung gerechtfertigt wäre, solange
diese durch die entsprechenden Betriebskostenersparnisse gedeckt sei. Das klingt alles herrlich theoretisch, erklärt aber noch nicht einmal, was denn hierunter eigentlich zu verstehen ist.
Betriebskosten in diesem Zusammenhang sind abhängig unter anderem vom Verbraucherverhalten, von der
Preisentwicklung, aber auch vom Klima in der Heizperiode. Ich glaube, es ist deshalb äußerst problematisch,
hier insoweit zu einer gerechten Darlegung und Berechnung der tatsächlichen Betriebskostenersparnis zu kommen.
Warum dies dann alles abhängig sein soll von einem
Drei-Viertel-Votum der Mieter, erschließt sich mir dabei
überhaupt nicht. Abgesehen davon, das hierdurch in individuelle Vertragsbeziehungen eingebrochen werden
würde - eigentlich für die FDP doch Teufelszeug -, muss
man mir einmal erklären, wieso Mieter dem eigentlich zustimmen sollten; denn außer Ärger - dazu komme ich
gleich - haben sie nach dem Vorschlag der FDP doch
nichts davon, da eine etwaige Betriebskostenersparnis ihnen nicht zugutekommt, sondern durch die entsprechende
Mieterhöhung aufgefressen wird.
Den Ärger hat der Mieter natürlich durch die Baumaßnahmen. Zunächst ist hier einmal klarzustellen, dass
- anders als behauptet - Modernisierungsmaßnahmen
zur Einsparung von Energie und Wasser und damit zur
Verbesserung der Mietsache - es sei denn, sie stellen eine
nicht zu rechtfertigende Härte für den Mieter dar - schon
heute zu dulden sind.
Warum der Mieter hier anders beurteilt werden soll,
bleibt schleierhaft. Entscheidend für eine Mietminderung
ist die nicht unerhebliche Minderung des vertragsgemäßen Gebrauchs der Mietsache. Ist also die Baumaßnahme
so umfangreich, das zum Beispiel ein Teil der Wohnung
gar nicht oder nur eingeschränkt genutzt werden kann, so
wird nicht der volle Mietzins geschuldet. Dies ist nur gerechtfertigt, da der Mieter auch nicht die ihm geschuldete
Leistung vertragsgerecht erhält.
Deshalb kann und darf es auch keinen Unterschied
machen, was letztendlich der Grund hierfür ist. Man kann
sich in diesem Zusammenhang nicht des Eindrucks erwehren, dass die FDP hier unter dem Deckmantel der
Ökologie knallharte Klientelpolitik betreiben will - und
nicht mehr.
Hierfür spricht auch der Vorschlag zur Vereinfachung
der Umlage von Modernisierungserhöhungen. § 559 BGB
gibt ja schon die Möglichkeit, die Kosten einer Modernisierung auf den Mieter umzulegen. Die Anforderungen
hierfür erscheinen nicht überzogen und zumutbar und haben sich - dies zeigt nun einmal die Praxis - bewährt.
Warum von der bewährten Praxis abgewichen werden
soll, ist deshalb ebenso schleierhaft, wie die Vorstellung,
dass man bei der Vielzahl von Modernisierungsmaßnahmen Pauschalwerte zulassen sollte, lebensnah ist. Die
FDP muss sich wirklich einmal fragen lassen, was denn
so verkehrt daran sein soll, dass die Kosten für eine Modernisierung vernünftig darzulegen und dann angemessen zu verteilen sind, zumal ja der Vermieter nach billigem Ermessen den Verteilungsschlüssel bestimmen kann.
Wenn die FDP abschließend die Umlage der Betriebskosten erleichtern möchte, bleibt unklar, was sie damit
meint. Ich würde schon einmal vorschlagen, dass man vor
einem solchen Antrag sich zunächst einmal genau damit
beschäftigt, was unter Modernisierung - explizit energetischen Sanierung - eigentlich zu verstehen und was insoweit alles bereits umlegbar ist.
Zu Protokoll gegebene Reden
Mir bleibt nur festzuhalten, dass der Antrag der FDP
so nie und nimmer unsere Zustimmung finden wird. Ich
schlage der FDP vor, beim nächsten ähnlich gelagerten
Antrag im Rahmen der Rechtsfortbildung vielleicht auch
einmal mit zu berücksichtigen, welche Rechte im umgekehrten Fall eigentlich der Mieter auf eine energetische
Sanierung haben könnte.
Ich persönlich gehe davon aus, dass es mit Ihrem Interesse an Mietrechtsänderungen zur Erleichterung klimaund umweltfreundlicher Sanierung dann schnell vorbei
sein würde und deutlich wird, wohin Ihr Begehren eigentlich zielt.
„Koalition verschiebt umstrittenes Klimapaket“ - so
und ähnlich lauteten die Schlagzeilen dieser Woche. Faktisch hat die Koalition die Arbeit eingestellt. Was die Regierung plant, außer im Amt zu bleiben, weiß in diesen
Tagen offensichtlich niemand.
Wo die Regierung ausfällt, kommt es umso mehr auf
die Opposition an. Wie man im Bereich klima- und umweltfreundlicher Sanierungsmaßnahmen weiterkommen
kann, ergibt sich aus dem heute zu beratenden Antrag der
FDP-Bundestagsfraktion. Die FDP setzt auf positive Anreize zur energetischen Sanierung für private Vermieter.
Ein Politikangebot, das sich wie das von CDU/CSU und
SPD auf Vorschriften, Verbote und Regulierungen beschränkt, lehnen wir ab. Statt auf Vorschriften und Verbote setzen wir auf eine Änderung des Mietrechts. Es ist
das Mietrecht, das das Haupthindernis für eine stärkere
energetische Sanierung im Gebäudebereich ist.
Wir alle wissen: Sinnvolle, politisch gewollte Investitionen in den Umweltschutz unterbleiben, weil der Vermieter nach geltendem Recht keinen bzw. kaum Ertrag
aus seinen Investitionen erzielen kann. Teilweise ist das
Recht sogar so restriktiv, dass der Vermieter schon daran
gehindert ist, die Arbeiten überhaupt durchführen zu können. So verlangt das geltende Recht zwar, dass Modernisierungsarbeiten durch alle Mieter zu dulden sind, jedoch
nur - so jedenfalls die herrschende Meinung - wenn sich
ein Vorteil mit der Maßnahme verbindet. Ist dies nicht der
Fall, etwa weil nur ein energetischer Austausch stattfindet, zum Beispiel beim Einbau von Solarkollektoren, kann
ein Mieter der Modernisierung von vornherein mit der
Begründung widersprechen, dass sich hieraus keine Einsparung ergebe. Hinzu kommt, dass der Vermieter nach
erfolgter energetischer Sanierung die Betriebskosten für
die neuen Anlagen regelmäßig nicht auf den Mieter umlegen kann, da diese zumeist nicht Bestandteil des Mietvertrags sind.
Will der Vermieter eine Mieterhöhung durchsetzen, um
die Modernisierungskosten zu refinanzieren, sieht er sich
einem bürokratischen Aufwand ausgesetzt, der vielleicht
von einer Behörde mit vielen Beschäftigen verlangt werden kann, einen privaten Vermieter aber regelmäßig
überfordern wird. So ist zum Beispiel für jede Wohnung
ein separater Antrag zu schreiben. Pauschale Abschläge
und Quoten sind nicht erlaubt. Arbeiten, die als Instandsetzung gelten und dem Vermieter zuzuordnen sind, sind
aus der Erhöhung herauszurechnen. Überdies wird eine
detaillierte Aufschlüsselung der Einspareffekte verlangt.
All dies hat abschreckende Wirkung und trägt mit dazu
bei, dass Maßnahmen unterbleiben.
Die Fachwelt spricht in diesem Zusammenhang von
dem sogenannten Nutzer-Investor-Dilemma, auch als Eigentümer-Nutzer-Problematik bezeichnet. Um diesen Zustand aufzubrechen, steht der Gesetzgeber in der Pflicht,
Rahmenbedingungen zu schaffen und positive Anreize zu
setzen. Damit das Mietrecht nicht länger der umweltfreundlichen Sanierung im Wege steht, schlägt die FDPBundestagsfraktion vor, dem Vermieter ein Wahlrecht einzuräumen. Der Vermieter soll sich zukünftig entscheiden
können zwischen der Modernisierungsmieterhöhung gemäß § 559 Abs. 1 BGB und einer Mieterhöhung im Wege
einer vertraglichen Vereinbarung, bei der der Vermieter
dem Mieter eine Betriebskostenersparnis mindestens in
Höhe der Mieterhöhung garantiert.
Weiterhin ist im Bürgerlichen Gesetzbuch zu regeln,
dass Baumaßnahmen, die zur energetischen Sanierung
oder zu anderen Umweltschutzzwecken durchgeführt
werden, vom Mieter zu dulden sind und nicht zur Mietminderung berechtigen. Auf diese Weise soll verhindert
werden, dass eine Maßnahme ganz unterbleibt oder aber
dazu führt, dass der Vermieter während der Bauphase
Mietausfälle zwischen 50 und 100 Prozent einkalkulieren
muss.
Weiterhin müssen Modernisierungsmieterhöhungen
vereinfacht und die Umlage der Betriebskosten, die infolge einer energetischen Sanierung entstehen, erleichtert werden. Damit der gesamte Wohnungsbestand erfasst
wird, sind Modernisierungsmieterhöhungen auch für
Wohnungen mit Staffel- oder Indexmietverträgen zuzulassen und die Regelungen für Gewerbemieten und öffentlich geförderte Wohnungen zu überprüfen.
Ein weiterer Ausweg aus dem Nutzer-Investor-Dilemma besteht im sogenannten Contracting, also in der
Durchführung energetischer Maßnahmen durch Dritte.
Hier handelt es sich um einen Bereich, der rechtlich und
tatsächlich sehr stark im Fluss und wegen seiner Dynamik äußerst komplex ist. Hier ist die Bundesregierung
aufgefordert, die hiermit im Zusammenhang stehenden
Rechtsfragen unverzüglich durch Einholung eines Sachverständigengutachtens zu klären. Die erheblichen Potenziale, die sich aus dem Contracting ergeben können,
dürfen nicht länger brachliegen, weil es in Deutschland
keinen bzw. nur einen suboptimalen Rechtsrahmen gibt.
Ich bin der Überzeugung, dass die FDP-Bundestagsfraktion hier und heute höchst praktikable Vorschläge unterbreitet hat, die nicht dem aktuellen Koalitionschaos
zum Opfer fallen dürfen, sondern von der Regierung
schleunigst umgesetzt werden sollten. Ich darf daran erinnern, die Regierung steht spätestens seit der Kabinettsklausur auf Schloss Meseberg im vergangenen Sommer
im Wort. Die Vermieter und Mieter, aber auch die Bauwirtschaft warten darauf, dass den Ankündigungen nunmehr endlich auch im Bereich des Wohnungsbaus Taten
folgen, Taten, die nicht nur wirtschaftlich etwas in Gang
setzen, sondern von denen gerade auch die Umwelt profitieren wird.
Zu Protokoll gegebene Reden
Für die Fraktion Die Linke ist die Verbindung der sozialen Frage mit ökologisch und ökonomisch tragfähigen
Konzepten von großer Wichtigkeit. Deshalb teilen auch
wir das Grundanliegen, durch energetische Sanierung
und Modernisierung der Gebäudesubstanz in der Bundesrepublik den CO2-Ausstoß zu reduzieren und damit
Heiz- und Warmwasserkosten einzusparen.
Die Bundesregierung hat im letzten Sommer Eckpunkte für ein Energie- und Klimaprogramm vorgelegt.
Das Programm soll dazu beitragen, den Energieverbrauch beim Heizen, bei Haushaltsgeräten, Autos und
Unternehmen zu senken. Die Bundesregierung hofft, bis
zum Jahr 2020 so 40 Prozent des CO2-Ausstoßes zu vermeiden. Mit den geplanten Maßnahmen wird dies nach
allen einschlägigen Berechnungen aber nicht erreichbar
sein. Wenn man sich die gegenwärtige Zerstrittenheit in
der Koalition insbesondere bei Klimaschutzmaßnahmen
im Verkehr ansieht, kann man davon ausgehen, dass wohl
nicht einmal die beschlossenen Eckpunkte umgesetzt werden. Von der letztjährigen Klimakanzlerin Merkel bleibt
so kaum mehr als deren vollmundige Ankündigungen übrig.
Die FDP-Fraktion hat das deutsche Mietrecht als ein
Hindernis, wenn nicht gar das größte, bei der klima- und
umweltfreundlichen Sanierung des Mietwohnungsbestandes in der Bundesrepublik ausgemacht und fordert in
dem vorliegenden Antrag Mietrechtsänderungen.
Die FDP kritisiert, ähnlich wie das Institut für Wirtschaftsforschung, dass Modernisierungen von Mietern
zwar grundsätzlich geduldet werden müssten, aber nicht,
wenn damit eine unzumutbare Härte für den Mieter verbunden ist, beispielsweise in Form von länger andauernden Lärmbelästigungen oder deutlichen Mietsteigerungen aufgrund der Modernisierungsumlagen. Sie
kritisieren zum Beispiel, dass der Eigentümer nur 11 Prozent der Modernisierungskosten über Mietsteigerungen
an den Mieter im Jahr weitergeben darf. Probleme gebe
es darüber hinaus auch bei den Staffel- oder den Indexmieten. Auch hier gebe es kaum Möglichkeiten, die Modernisierungskosten an die Mieter weiterzugeben.
Wir werden uns den Antrag der FDP sehr genau angucken. Eines kann ich schon jetzt versprechen: Einen Frontalangriff auf elementare Schutzbestimmungen für Mieterinnen und Mieter wird Die Linke nicht zulassen. Nicht
ohne Grund wohnen gerade im unsanierten oder teilsanierten Wohnungsbestand aufgrund der preiswerteren
Mieten einkommensschwache Bevölkerungsgruppen, die
in vielen Fällen noch staatliche Leistungen wie Wohngeld
oder KdU erhalten. Ungebremste Modernisierungsumlagen würden vor allem diese Menschen und die staatlichen
Sicherungssysteme treffen. Mietervertreibung und stärkere Belastung der öffentlichen Kassen wären die Folgen.
Das heißt nicht, dass wir gegen jegliche Möglichkeiten
der Umlage auf die Mietpreise wären. Selbstverständlich
haben auch die Mieterinnen und Mieter ein Interesse an
Energieeffizienzmaßnahmen und an dem Einsatz erneuerbarer Energien. Sie müssen und dürfen deshalb in einem vertretbaren Umfang an den dadurch entstehenden
Kosten beteiligt werden. Das bestehende Mietrecht
schafft hierfür ausreichende Grundlagen. Eine Belastung
der Mieterhaushalte über die bisherige gesetzliche Regelung hinaus ist sozial jedoch auf keinen Fall vertretbar.
Wir sehen aber noch andere Möglichkeiten, Anreize für
die energetische Sanierung der Wohnungsbestände zu
schaffen.
Das CO2-Förderprogramm muss verstetigt und finanziell ausgeweitet werden, Selbiges gilt für das Marktanreizprogramm für erneuerbare Energien. Vor allem aber
müsste in das gegenwärtig in der Koalition verhandelte
Erneuerbare-Energien-Wärmegesetz auch der Gebäudebestand einbezogen werden. Auch hier muss ein Mindestanteil erneuerbarer Energien vorgeschrieben werden,
wenn eine grundlegende Sanierung oder ein Austausch
der Heizungsanlage erfolgt. Aber da ist die Bundesregierung entgegen früherer Entwürfe vor der Immobilienwirtschaft eingeknickt.
Modellprojekte zeigen, dass durch Wärmedämmung,
neue Fenster oder effiziente Heizungen die Heizkosten
um die Hälfte oder mehr gesenkt werden können. Denkbar ist eine Reform der Heizkostenverordnung. So könnte
zum Beispiel für Gebäude mit Passivhaus-Standard eine
Ausnahme von der Anwendung der Heizkostenverordnung gemacht werden.
Eine Novellierung der Energieeinsparverordnung ist
dringend erforderlich, in der Koalition aber, nach allem,
was man liest, alles andere als unumstritten. Ab dem Jahr
2020 soll die Wärmeversorgung von Neubauten möglichst weitgehend unabhängig von fossilen Energieträgern sein. Im gleichen Zug müsste auch die Einhaltung
der Energieeinsparverordnung durch die Hauseigentümer durch bessere Kontrollen gewährleistet werden; hier
bestehen bislang noch große Defizite. So schreibt diese
vor, dass Hauseigentümer bei bestimmten Sanierungsarbeiten auch die Energieeffizienz des Hauses verbessern
müssen. Dies findet jedoch mangels Kontrollen durch die
Bauaufsicht kaum statt. Das liegt daran, dass bisher auf
das Festschreiben von Sanktionen gegen jene Hauseigentümer verzichtet wurde, welche die Einsparvorschriften
nicht einhalten. Hier gibt es Verbesserungsbedarf.
Wir setzen weiter auf den am 1. Juli dieses Jahres einzuführenden Energiepass. Ich hoffe, dass wir das politisch durchstehen.
Solange es um Maßnahmen zum Klima- und Umweltschutz geht, sind wir an der Seite der Damen und Herren
von der FDP-Fraktion. Bei Mietrechtsänderungen ist mit
uns nicht zu rechnen.
Die FDP-Fraktion macht es sich in der Frage des Klimaschutzes im Gebäudesektor wieder einmal einfach. Sie
stellt zunächst grundsätzlich ordnungsrechtliche Maßnahmen, unter anderem im EEW und in der EnEV 2009,
als „unzweckmäßig“ dar und sucht daher ihr Heil im
Emissionszertifikatehandel für den Wärmebereich. Dann
beklagt sie, dass es zu wenig positive Anreize - wie verhält es sich eigentlich mit dem KfW-CO2-Gebäudesanierungsprogramm? - und viel zu viele Vorschriften gebe.
Das Gedächtnis der FDP scheint sie aber gerade dann im
Zu Protokoll gegebene Reden
Stich zu lassen, wenn es um ihre eigenen Aktivitäten im
Ordnungsrecht zu gehen scheint. Oder war sie 1977 bei
der 1. Wärmeschutzverordnung ({0}), 1984 bei der
2. WSVO oder 1995 bei der 3. und letzten WSVO etwa
nicht an der Regierung beteiligt? Das ist typisch für Sie,
und es erinnert mich an die aktuelle Debatte um die Mineralölsteuer, von der zwar über 70 Prozent mit auf die
Kappe der FDP gegangen ist, woran sich bei Ihnen aber
auch niemand mehr erinnern will.
Und dann machen Sie als Schuldige natürlich die Mieter aus, die es den Hauseigentümern vergällen würden,
ihre Gebäude energetisch zu modernisieren. Da ist es
auch keine Überraschung, dass bei der Formulierung Ihres Antrages wohl die Eigentümerschutzgemeinschaft
Haus & Grund den Stift geführt hat, denn viele ihrer bekannten Forderungen finden sich im Antrag der FDP
wieder.
Bündnis 90/Die Grünen haben sich bislang bei Forderungen nach Mietrechtsänderungen zurückgehalten. Das
Mietrecht ist kein Steinbruch, in dem beliebig herumgesprengt und -gebaggert werden kann, sondern es stellt
eine bewährte Austarierung zwischen den Interessen von
Mietern und Vermietern dar. Dennoch setzen wir uns im
Rahmen der aktuellen Debatte zum Erneuerbare-Energien-Wärmegesetz ({1}), aber auch zur Novellierung
der Energieeinsparverordnung ({2}) mit Proble-
men des Mietrechts auseinander, und wir können uns da-
her auch Änderungen und Klarstellungen im Mietrecht
vorstellen.
Die Frage der Berechtigung von Mietminderungen
während Sanierungsmaßnahmen - § 536 BGB - lässt sich
aber nicht so beantworten, dass das Recht auf Minderung
stark eingeschränkt wird. Das hat ja selbst die FDP in ih-
ren Forderungsteil nicht übernehmen wollen, obwohl sie
vorher die angeblich überzogenen Mietminderungen bei
Modernisierungsmaßnahmen beklagt hat. Eine Abgren-
zung zwischen zu duldenden energetischen Sanierungs-
maßnahmen und versäumten Instandhaltungsmaßnah-
men des Eigentümers und damit auch die Frage nach der
Berechtigung einer Mietminderung wird sich auch wei-
terhin nur im Einzelfall und mit entsprechenden Nachwei-
sen beantworten lassen. Diese Hausarbeit werden wir
den Hauseigentümern nicht ersparen können, das gehört
zum Einmaleins einer Vermietertätigkeit dazu. Und ich
kann Sie beruhigen: Wenn Sie eine Sanierung vernünftig
planen und durchführen, haben Sie anschließend für viele
Jahre Ruhe im Haus.
Mit einer generellen Duldungspflicht bei energeti-
schen Modernisierungsmaßnahmen - § 554 BGB - wird
unserer Ansicht nach der Ausgleich sozialer und anderer
Härten aus dem Lot gebracht. Daher können wir uns hier
nur dann eine Änderung vorstellen, wenn a) über unmiss-
verständliche Definitionen der zu duldenden Maßnahmen
und b) gleichzeitig auch über die Höhe der Modernisie-
rungsmieterhöhung - § 559 BGB - gesprochen wird. Eine
Änderung des Umschlageschlüssels von bisher 11Prozent
pro Jahr auf zum Beispiel 5 Prozent pro Jahr, wie dies der
Deutsche Mieterbund im Rahmen der Anhörung für den
Einsatz erneuerbarer Energien - zum Beispiel Solarther-
mische Anlagen - vorgeschlagen hat, könnten wir uns
zum Beispiel auch für energetische Modernisierungs-
maßnahmen vorstellen.
Bei Modernisierungsmieterhöhungen für Staffel- oder
Indexmietverträgen verstehe ich nicht, warum wir den Ei-
gentümern hier aus der Bredouille helfen sollen, denn
schließlich ist es ja deren freie Entscheidung, welche
Form des Mietvertrages sie wählen. Man dürfte eigent-
lich erwarten, dass bei Staffelmieten die Modernisie-
rungsmieterhöhungen bereits mit eingepreist sind.
Einem Streichen der Nachweispflichten - § 559 b BGB -
werden wir ebenfalls keine Zustimmung erteilen. Sie stel-
len keine unzumutbare Belastung für die Eigentümer dar,
und auch von semiprofessionellen Vermietern darf erwar-
tet werden, dass sie sich mit dieser Materie aus-
einandersetzen.
Wir halten übrigens Wärme-Contracting- und Ener-
gie-Einspar-Contracting-Modelle für eine interessante
Alternative. Auch der Bundesgerichtshof hat sich in sei-
ner Rechtsprechung in jüngster Zeit nicht mehr als gene-
rell „contracting-feindlich“ dargestellt. Ich verweise in
diesem Zusammenhang auf das Gutachten des Instituts
für Energiewirtschaftsrecht der Universität Jena aus
2007, in dem übrigens auch ein Formulierungsvorschlag
für § 554 BGB für den Einbezug von Wärme-Contracting
erarbeitet worden ist.
Lassen Sie uns also in Ruhe und unaufgeregt über den
besten Weg bei der Umsetzung der Klimaschutzziele im
Gebäudebereich diskutieren. Schnellschüsse helfen uns
dabei nicht weiter.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/7175 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a bis 20 c auf:
a) Beratung der Unterrichtung durch die deutsche
Delegation in der Euromediterranen Parlamentarischen Versammlung
Zweite Plenartagung am 26. und 27. März
2006 in Brüssel ({0})
- Drucksache 16/9207 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
b) Beratung der Unterrichtung durch die deutsche
Delegation in der Euromediterranen Parlamentarischen Versammlung
Dritte Plenartagung vom 16. bis 18. März 2007
in Tunis
- Drucksache 16/8490 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({2})
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Auswärtiger Ausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
c) Beratung der Unterrichtung durch die deutsche
Delegation in der Euromediterranen Parlamentarischen Versammlung
Vierte Plenartagung am 26. und 27. März 2008
in Vouliagmeni ({3}), Griechenland
- Drucksache 16/9183 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({4})
Auswärtiger Ausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu die-
sem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. - Ich
sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich um
folgende Kolleginnen und Kollegen: Thomas Dörflinger
und Hans Raidel, CDU/CSU, Axel Schäfer, SPD,
Dr. Karl Addicks, FDP, Alexander Ulrich, Die Linke,
Rainder Steenblock, Bündnis 90/Die Grünen.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/9207, 16/8490 und 16/9183 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Jelpke, Wolfgang Nešković, Sevim Dağdelen,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
15 Jahre nach Änderung des Grundrechts auf
Asyl - Für einen rechtsstaatlichen Umgang
mit Schutzsuchenden in Deutschland und in
der Europäischen Union
- Drucksache 16/8838 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({5})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um folgende Kolleginnen und Kollegen: Reinhard Grindel,
CDU/CSU, Rüdiger Veit, SPD, Hartfrid Wolff, FDP,
Ulla Jelpke, Die Linke, Josef Winkler, Bündnis 90/Die
Grünen.
Eine Vorbemerkung: Dass sich die SED-Nachfolge-
partei, die sich bis heute nicht von Mauer, Stacheldraht
1) Anlage 9
und Schießbefehl distanziert hat, hier erdreistet, uns über
die angebliche Abschaffung des Grundrechts auf Asyl mit
einem infamen Antrag belehren zu wollen, ist ein unerträglicher Vorgang schlechthin. Sie haben weder politisch noch moralisch überhaupt das Recht, uns mit Belehrungen über die Rechte von politischen Flüchtlingen zu
behelligen. Mit der Grundgesetzänderung 1993 ist das
Grundrecht auf Asyl wieder auf seinen eigentlichen Kern,
nämlich den Schutz politisch Verfolgter, zurückgeführt
und ist der vieltausendfache Missbrauch dieses Grundrechts aus wirtschaftlichen Gründen sachgerecht bekämpft worden.
Wir müssen uns die Situation nochmals vor Augen führen, die damals in Deutschland geherrscht hat. 1992 hatten wir 432 000 Asylbewerber, schwerpunktmäßig aus
Rumänien und Bulgarien, die die betroffenen Städte und
Gemeinden vor große organisatorische Probleme gestellt
haben. Zur Unterbringung wurden Schulturnhallen umfunktioniert, sodass die Kinder keinen Sportunterricht
mehr hatten, Hotels wurden in großem Stil angemietet,
was zu enormen Kostenbelastungen für die betroffenen
Kommunen führte. Gleichzeitig waren über 95 Prozent
der Asylanträge offensichtlich unbegründet, und in den
Städten und Gemeinden, die besonders viele Asylbewerber hatten, stieg die Kriminalität spürbar an.
Das Resultat war, dass sich auch weltoffene und tolerante Menschen von diesem Ansturm überfordert fühlten.
Die Aufnahmebereitschaft der Zivilgesellschaft war nicht
mehr gegeben. Es waren gerade auch SPD-Bürgermeister aus den Kommunen vor Ort, die damals ganz erheblichen Druck auf ihre Genossen in Bonn machten, endlich
einer Grundgesetzänderung zuzustimmen, was dann auch
geschah. Mit der damals gemeinsam vereinbarten Drittstaatenregelung und der Vorschrift über die sicheren
Herkunftsländer wurde eine sachgerechte Ergänzung des
Asylgrundrechts vorgenommen, die vor allem auch im
Zusammenwirken mit den Rückübernahmeabkommen mit
einer Reihe von Herkunftsstaaten, wie etwa Rumänien, zu
einem massiven Rückgang der Asylbewerberzahlen führten.
Das Grundrecht auf Asyl als subjektives Recht eines
jeden einzelnen Flüchtlings wurde erhalten. Von einer
faktischen Abschaffung kann überhaupt nicht die Rede
sein. Dabei will ich darauf verweisen, dass fast alle anderen EU-Länder ein Asylrecht als subjektives Grundrecht nicht kennen, sondern es in den allermeisten Staaten
als Institutsgarantie und teilweise reines Gnadenrecht
ausgestaltet ist.
Wurde damals, 1993, davon gesprochen, Flüchtlinge
könnten nur noch mit einem Fallschirm über Deutschland
abspringen, um hier Asyl beantragen zu können, so sprechen die Zahlen eine deutlich andere Sprache. Nach wie
vor haben wir pro Jahr rund 20 000 Asylbewerber, die allerdings durch die zügigeren Verfahren schneller Klarheit
bekommen und die Kassen der Länder und Kommunen
nicht mehr so sehr belasten wie früher. Im Übrigen will
ich darauf verweisen, dass die Zahl der Asylbewerber in
diesem Jahr wieder steigt, was vor allem auf Antragsteller aus dem Irak zurückzuführen ist, die auch in aller
Regel einen Aufenthaltstitel erhalten. Das Grundrecht auf
Asyl wirkt also in seiner Kernfunktion.
Ich will bei dieser Gelegenheit allerdings betonen,
dass es integrationspolitisch sicher besser gewesen wäre,
wenn wir viel früher die Kraft zu einer Grundgesetzergänzung gefunden hätten. Der Missbrauch des Asylrechts in den 80er- und frühen 90er-Jahren hat zu einer
völlig ungesteuerten Zuwanderung nach Deutschland geführt. Die Menschen, die damals zu uns kamen und zu einem großen Teil aus verschiedenen Gründen bis heute
- Asylanerkennung ja oder nein - geblieben sind, wurden
nicht so frühzeitig mit Integrationsangeboten konfrontiert, wie das heute der Fall ist.
Ich weise ausdrücklich den Vorwurf der Linken zurück,
die Asylbewerber würden entwürdigend untergebracht
und ihre Versorgung sei diskriminierend. In kaum einem
anderen europäischen Land erhalten Asylbewerber solch
umfassende Sozialleistungen wie in Deutschland. Das hat
gerade Ende der 80er- und zu Beginn der 90er-Jahre zu
den Pull-Effekten geführt, die wir an den hohen Zugangszahlen ablesen konnten. Die Asylbewerber sind, beraten
durch Schlepper und Schleuser, damals gerade in die Regionen gezogen, wo es keine Naturalleistungen, sondern
Bargeld gab. Ich will nur darauf verweisen, dass es für
viele Frauen und Kinder zu erheblichen Problemen kam,
weil das Bargeld von den Familienvätern in aller Regel
nahezu vollständig für den Eigenverbrauch genutzt
wurde. Die Gemeinschaftsunterkünfte sind alle sehr menschenwürdig ausgestaltet und machen nicht nur eine gute
Verpflegung möglich, sondern sorgen auch dafür, dass die
Asylverfahren zügig durchgeführt werden können.
Ich will hier hervorheben, dass doch die Erfahrung
von vor 15 Jahren zeigt, dass es für ein friedliches Zusammenleben von Wohnbevölkerung und Asylbewerbern
notwendig ist, dass nicht der Eindruck einer Überversorgung der Asylbewerber entsteht.
Bei den Arbeitsmöglichkeiten für Asylbewerber kommt
es auf eine vernünftige Abwägung an. Einerseits dürfen
keine zusätzlichen Pull-Effekte entstehen, andererseits
wollen wir auch den Rahmen dafür schaffen, dass die
Asylbewerber selbst etwas zu ihrem Lebensunterhalt beitragen und damit die staatlichen Kassen entlasten. Deshalb ist das einjährige Arbeitsverbot ebenso sinnvoll wie
die deutlichen Erleichterungen, die wir im Arbeitserlaubnisrecht für Asylbewerber vorgenommen haben.
Das Dublin-Verfahren und die bisher auf EU-Ebene
verabschiedeten Asylrichtlinien sorgen für einheitlichere
Verfahren, die durch vergleichbarere Sozialstandards begleitet werden sollten. Wir brauchen Rechtsgrundlagen,
wonach sich gerade auch die Transitländer von Asylsuchenden verpflichtet fühlen, dem Missbrauch des Asylrechts entgegenzuwirken.
Gleichzeitig will ich mit Blick auf das von Frankreich
für deren Präsidentschaft im zweiten Halbjahr 2008 vorbereitete Asylpaket deutlich betonen, dass wir von einer
Möglichkeit, Asylanträge auch in Drittstaaten stellen zu
können, überhaupt nichts halten und dies ablehnen. Dieses würde nur zu einem neuerlichen Ansturm von Menschen führen, die aus wirtschaftlichen und sozialen, nicht
aber politischen Gründen ihr Land verlassen wollen.
Fluchtursachen müssen aber in erster Linie vor Ort bekämpft werden. Wir würden damit im Ergebnis auch nur
Schlepper- und Schleuserbanden zu den Gewinnern einer
solchen EU-Regelung machen. Die Entwicklung in vielen
anderen europäischen Ländern, wie Dänemark oder Italien, zeigt, dass nur durch einen konsequenten Kampf gegen Scheinasylanten und Wirtschaftsflüchtlinge dem
menschenverachtenden Schlepper- und Schleuserwesen
entgegengewirkt werden kann.
Der Antrag der Linken ist weltfremd, nicht europatauglich und vor allem integrationspolitisch gefährlich.
In Wahrheit geht es den Linken darum, das Asylrecht wieder zum Einfallstor für die von ihnen gewollte unbegrenzte und ungesteuerte Zuwanderung zu machen. Das
aber lehnen wir entschieden ab.
15 Jahre ist es her, dass die Asylrechtsreform beschlossen wurde. Die Fraktion Die Linke nimmt das zum Anlass,
sich für einen rechtsstaatlichen Umgang mit Schutzsuchenden in Deutschland und in der Europäischen Union
einzusetzen. In diesem Grundanliegen findet sie meine
volle Unterstützung. Ich darf an das erinnern, was ich bereits vor drei Wochen in diesem Kreis gesagt habe: Angesichts stetig sinkender Asylbewerberzahlen haben wir
keinerlei Anlass, etwaige hartherzige Abschottungstendenzen aufrechtzuerhalten.
Gleichwohl gibt der Antrag nicht in allen Punkten die
Positionen der SPD wieder. Wenn wir über die heutige Situation Asylsuchender sprechen, so müssen vorangegangene Bemühungen ebenso wie die geänderte Situation
nach dem Richtlinienumsetzungsgesetz nüchtern und
ausgewogen betrachtet werden. Zwar stimme ich dem Antrag in der Forderung zu, dass 16- bis 17-Jährige im Asylverfahren endlich mit anderen Minderjährigen gleichgestellt werden müssen. Das wird Sie nicht überraschen;
denn ich wiederhole damit nicht nur meine persönliche
Meinung, sondern auch die der SPD-Bundestagsfraktion.
Unter Rot-Grün haben wir ebendiese Forderung in mehreren Anträgen vorgebracht, sind aber bekanntlich am
Widerstand der Länder gescheitert.
Ebenso teile ich die Einschätzung, dass nicht alle EGRichtlinien vollständig umgesetzt wurden. In der Tat ist
die genannte Ausgestaltung von § 60 Abs. 7 AufenthG aus
gemeinschaftsrechtlicher Perspektive kritikwürdig. Die
sogenannte verfahrensrechtliche Sperrklausel, wonach
Gefahren, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, nur bei Duldungen nach § 60 a Abs. 1 Satz 1
AufenthG zu berücksichtigen, bleibt hinter dem Schutzniveau der Qualifikationsrichtlinie zurück.
Doch wenn schon die Umsetzung der EG-Richtlinien
angesprochen wird, so möchte ich auf ein nach wie vor
drängendes Problem hinweisen, das im Antrag leider
nicht benannt wird: Auch bei der Richtlinie über Aufnahmebedingungen sollten wir kritisch überprüfen, ob Opfer
von Folter und Gewalt die Leistungen erhalten, die ihnen
nach Gemeinschaftsrecht zustehen. Wir sind verpflichtet,
ihnen die erforderliche Behandlung zu gewähren. Die
Zu Protokoll gegebene Reden
geltenden Regeln des Asylbewerberleistungsgesetzes gewährleisten das nicht ausreichend.
Allerdings erwähnt der Antrag nicht, dass wir mit dem
Richtlinienumsetzungsgesetz auch Verbesserungen erreichen konnten. So spricht er zu Recht die Arbeits- und Ausbildungsverbote für Asylsuchende und Geduldete an. Leider aber verschweigt er, dass eben dieser Gruppe durch
die Bemühungen der SPD nunmehr nach vier Jahren der
Zugang zum Arbeitsmarkt ohne Arbeitsmarktprüfung und
ohne Beschränkung auf einen bestimmten Arbeitsplatz
ermöglicht werden kann. Auch andere Verbesserungen
konnten wir erreichen: Die Einbürgerungsfrist wurde von
acht bzw. sieben Jahren auf sechs vermindert, sofern entsprechende Deutschkenntnisse vorliegen. Als Nebenprodukt der - eigentlich nicht erwünschten - Einführung des
Transitgewahrsams wird nunmehr auch ansonsten der
Verbleib in der Flughafenunterkunft nur noch mit richterlicher Anordnung zulässig sein. Und zuletzt konnten wir
die gesetzliche Altfallregelung durchsetzen, die mir, wie
Sie alle wissen, stets ein besonderes Anliegen gewesen ist.
Zwar bleibt die Altfallregelung in vielen Punkten hinter dem zurück, was ich mir gewünscht habe. Doch bitte
ich Sie, zu berücksichtigen, was der Antrag der Fraktion
Die Linke eben gerade nicht berücksichtigt: Das Richtlinienumsetzungsgesetz war das Ergebnis schwieriger Verhandlungen zwischen Koalitionspartnern, die im Bereich
Asyl und Einwanderung sehr unterschiedliche programmatische Grundsätze haben. Dass die SPD dem Gesetz
zugestimmt hat, war Ergebnis eines langen Abwägungsprozesses. Nicht zuletzt um mehreren Zehntausend Geduldeten endlich die Integration zu ermöglichen, haben wir
uns mehrheitlich dafür entschieden, dem Kompromiss zuzustimmen.
Lassen Sie mich zuletzt die europäische Ebene ansprechen. Der Antrag verweist in aller Kürze auf zwei ebenso
drängende wie umstrittene Fragen. Zum einen ist dies die
Frage, ob das Zurückweisungsverbot der Genfer Flüchtlingskonvention auch auf hoher See gilt. Das bejahe ich.
Ich teile insoweit die Einschätzung des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen sowie des Deutschen Instituts für Menschenrechte und mehrerer
deutscher NGOs, die dies im vergangenen Jahr mit überzeugenden Studien belegt haben. Zum anderen ist dies die
im Antrag angesprochene Frage nach einem Lastenteilungssystem jenseits der geltenden Dublin-II-Verordnung. Über ein solches Lastenteilungssystem müssen wir
dringend diskutieren - dies aber nicht allein aus Solidarität gegenüber schutzsuchenden Flüchtlingen. Nein, als
Europäer trifft uns auch die Pflicht, uns gegenüber den
anderen Mitgliedstaaten solidarisch zu zeigen. Warum
beispielsweise soll ein kleiner Staat wie Malta eine im
Verhältnis zur eigenen Größe ungleich höhere Verantwortung tragen müssen als Deutschland?
Doch wenn schon die europäische Ebene angesprochen wird, dann möchte ich fragen: Warum so knapp? Im
Parlament haben wir bislang zu wenig über die Vorschläge diskutiert, die die Europäische Kommission im
vergangenen Sommer in ihrem „Grünbuch über das künftige gemeinsame Europäische Asylsystem“ gemacht hat,
und das, obwohl einige davon durchaus diskussionswürdig sind.
Lassen Sie mich drei davon aufgreifen. Erstens hat die
Kommission vorgeschlagen, bei der Asylverfahrensrichtlinie einzelne Verfahrensansätze kritisch zu überprüfen,
insbesondere die der sicheren Herkunftsländer, der sicheren Drittstaaten und der sicheren europäischen Drittstaaten. Zweitens regt sie an, in der Richtlinie über
Aufnahmebedingungen Asylbewerbern Zugang zum Arbeitsmarkt zu geben. Ich halte das zumindest dann für bedenkenswert, wenn sich das Asylverfahren über einen
langen Zeitraum zieht. Drittens und letztens stellt ein Vorschlag zur Qualifikationsrichtlinie eine wirkliche Innovation dar. Die Kommission möchte den Status von subsidiär Schutzberechtigten dem der Flüchtlinge im Sinne der
Genfer Flüchtlingskonvention angleichen. Lange wurde
davon ausgegangen, dass subsidiär Schutzberechtigte in
zeitlicher Hinsicht nicht so lange schutzbedürftig sind wie
Konventionsflüchtlinge. Das aber hat sich in der Lebenswirklichkeit als falsch herausgestellt. Sehen wir also den
Tatsachen ins Auge, und denken wir offen darüber nach,
ob wir Menschen mit gleichem Schutzbedürfnis künftig
die gleichen Rechte verleihen möchten.
Zusammenfassend möchte ich die guten Grundanliegen des Antrages der Linken nicht kleinreden. Ebenso wenig aber sollten wir das, was wir in Deutschland mit dem
Richtlinienumsetzungsgesetz erreicht haben - trotz seines
Kompromisscharakters -, kleinreden. Und zuletzt sollten
wir als Europäer nicht nur einzelne Bestandteile der europäischen Debatte aufgreifen, sondern uns ausführlich
und wohlwollend mit den Vorschlägen aus dem Grünbuch
befassen. Der Antrag der Fraktion Die Linke ist, jedenfalls in dieser Form, abzulehnen.
Der Antrag der Linken ist eine Zumutung. Er ist, insbesondere in der Begründung und auch generell in der
Tonlage inakzeptabel und ein einziger Affront gegen den
demokratischen Rechtsstaat Bundesrepublik Deutschland. Schon der Titel unterstellt, die Bundesrepublik sei in
den vergangenen 15 Jahren nicht rechtsstaatlich mit
Asylsuchenden umgegangen. In der Begründung behaupten die Linken, „rechte Kräfte“ hätten das deutsche
Asylrecht erfolgreich bekämpft und vor 15 Jahren die damalige Grundgesetzänderung herbeigeführt. Zudem behauptet die Linke, die damaligen Bundestagsabgeordneten seien eine „unheilige Allianz mit der Gewalt der
Straße“ eingegangen und hätten das „Anliegen der Gewalttäter“ bei „Übergriffen und Brandanschlägen von
Rechtsextremisten“ „geteilt“.
Das ist eine Beleidigung aller damals an dieser parlamentarischen Entscheidung mitwirkenden Parteien, also
nicht nur der CDU/CSU, sondern auch der FDP und der
SPD. Diese Ausführungen der Linken haben volksverhetzenden Charakter. Sie gipfeln in der Aussage:
Die handelnden Politiker waren es, die mit ihrer Instrumentalisierung von Überfremdungsängsten den
Hass in der Bevölkerung mit schürten.“
Zu Protokoll gegebene Reden
Hartfrid Wolff ({0})
Sie hätten sogar „das Pogrom in Rostock-Lichtenhagen“ für ihre Zwecke instrumentalisiert.
Es mag ja durchaus auch aus liberaler Sicht Verbesserungsbedarf in der deutschen Asylpraxis geben. Der beleidigende und den demokratischen Rechtsstaat Bundesrepublik herabsetzende Antrag der Linken macht eine
sachliche Auseinandersetzung mit diesem Thema allerdings unmöglich. Dazu mögen sich andere Anträge eignen - dieser sicherlich nicht. Eine Partei, die so etwas als
Antrag ins Parlament einbringt, sollte nicht als Mehrheitsbeschafferin für Bundespräsidentenwahlen hofiert,
sondern klar in ihre Schranken gewiesen werden. Sie hat
keinerlei moralische Legitimation, sich immer wieder als
Anwalt von Grund- und Menschenrechten aufzuspielen.
Fast auf den Tag genau vor 15 Jahren, am 26. Mai
1993, beschlossen die Fraktionen von Union, SPD und
FDP im Bundestag, das Grundrecht auf Asyl faktisch abzuschaffen. Das war damals der traurige Höhepunkt einer Entwicklung, die bereits in den 80er-Jahren begann.
Sie war gekennzeichnet von rassistischer Hetze aus der
sogenannten Mitte der Gesellschaft und neofaschistischer Gewalt gleichermaßen.
Zugespitzt hatte sich die damalige demokratie- und
menschenverachtende Stimmung in den Pogromen von
Hoyerswerda 1991, Rostock-Lichtenhagen und Mölln
1992. Von 1990 bis 1992 verfünffachte sich die Zahl rechter Gewalttaten. Ständig gab es Meldungen über Anschläge auf Asylbewerberheime. Drei Tage nach dem Beschluss des Bundestages starben fünf Menschen durch
einen rassistisch motivierten Brandanschlag auf ihr Haus
in Solingen.
Die Verantwortung für diese Stimmung lag bei einer
jahrelangen Hetzkampagne von Politik und Medien gegen angeblichen „Asylmissbrauch“ und „Sozialschmarotzer“ sowie eine herbeihalluzinierte „Asylantenflut“.
Führende Politiker schürten die Hetze, sodass gewalttätige Rassisten und Neonazis glauben konnten, die Vollstrecker des sogenannten Volkswillens zu sein.
Edmund Stoiber ({0}) hatte als bayerischer Innenminister bereits 1988 vor einer „durchmischten und
durchrassten Gesellschaft“ gewarnt. „Kein Volk wird
eine Überfremdung ohne Konflikt hinnehmen, es kann sie
gar nicht hinnehmen“, erklärte der CSU-Abgeordnete
Norbert Geis während der Asyldebatte im Bundestag.
Auch prominente Sozialdemokraten stimmten in den rassistischen Chor ein. „Wir können nicht der Lastesel für
die Armen der Welt sein“, wetterte der Münchner Oberbürgermeister Georg Kronawitter im September 1992.
„Der Unmut bei den Menschen ist riesig. Glauben Sie
denn, dass die ruhig hinnehmen werden, wenn Millionen
Ausländer ungeordnet in unser Land fluten?"
Was damals beschlossen wurde, nannte sich „Asylkompromiss“. Das war schon damals eine heuchlerische
Verschleierung. Denn inhaltlich ging es darum, zuvor ungeahnte Diskriminierungen einzuführen. Beschlossen
wurde die sogenannte Herkunfts- und Drittstaatenregelung. Damit wurden viele Asylantragsteller von vornherein von Schutz ausgeschlossen. Zugleich wurden die
Rechte der Betroffenen eingeschränkt, sich gerichtlich
gegen die Behörden zur Wehr zu setzen.
Beschlossen wurde das Asylbewerberleistungsgesetz,
mit dem die Sozialleistungen auf 360 D-Mark abgesenkt
wurden. Bis heute sind diese Sätze nicht erhöht worden;
die Betroffenen kriegen also knapp 184 Euro. Die meisten
Asylsuchenden erhalten aber Sachleistungen, kriegen
also Essen und Kleidung geliefert und leben in Sammelunterkünften. Damit werden sie in ihrer Lebensgestaltung
krass eingeschränkt.
Beschlossen wurde auch die Residenzpflicht. Asylsuchende dürfen sich nur in den Landkreisen oder Städten
bewegen, denen sie „zugeteilt“ worden sind.
Zusammengefasst: Schutzsuchende werden in diesem
Land an jeder Form eigenständiger Lebensgestaltung gehindert. Gleichzeitig stehen sie unter Arbeitsverbot und
sind vollständig der behördlichen Willkür ausgeliefert.
Die Entwicklung, die vor 15 Jahren in der faktischen Abschaffung des Asylrechts gipfelte, ist bis heute nicht abgeschlossen. Immer noch wird jede Änderung des Asyl- und
Flüchtlingsrechts in diesem Hause genutzt, um die Rechte
der Betroffenen einzuschränken.
In den letzten Jahren sind die Zahlen von Asylbewerbern und Flüchtlingen in Deutschland massiv gesunken.
Lediglich 19 000 Menschen gelang es im vergangenen
Jahr noch, einen Asylantrag zu stellen. Zum Vergleich:
Gegen 25 000 anerkannte Asylbewerber und Flüchtlinge
wurden im vergangenen Jahr Widerrufsverfahren eingeleitet. Damit wird eins deutlich: Die Maxime der Bundesregierung und der EU lautet: Abschottung geht vor Humanität.
Die Asyldebatte vor 15 Jahren war ein schwarzer Tag
für das Parlament, aber mehr noch für die schutzsuchenden Menschen. Die Substanz eines Grundrechts wurde
am 26. Mai 1993 zerstört. Übrig blieb eine bloße Hülle
wortreicher Paragrafen. Eine solche Politik nimmt die
Menschenrechte und die rechts- und sozialstaatlichen
Verpflichtungen der Verfassung nur dem Scheine nach
ernst.
Wir fordern daher die Wiederherstellung eines effektiven Flüchtlingsschutzes. Diese Forderung gilt nicht nur
für Deutschland, sondern auch für die EU. Es muss endlich Schluss damit sein, dass deutsche Innenminister an
vorderster Front den europäischen Flüchtlingsschutz
sturmreif schießen. Stattdessen fordern wir die konsequente Umsetzung des Zurückweisungsgebotes der Genfer Flüchtlingskonvention für die Flüchtlinge an den Außengrenzen der EU. Statt bürokratischer Verteilung von
Flüchtlingen innerhalb der EU brauchen wir endlich eine
solidarische europäische Lastenteilung.
In Deutschland muss dass menschenunwürdige System
der Abschreckung von Flüchtlingen endlich beendet werden. Wir fordern die Abschaffung der Residenzpflicht, des
Asylbewerberleistungsgesetzes und der geltenden Arbeits- und Ausbildungsverbote für Asylsuchende und Geduldete. Die UN-Kinderrechtskonvention muss endlich in
vollem Umfang auch für Flüchtlingskinder gelten. Die
Zu Protokoll gegebene Reden
Behandlung von 16- und 17-Jährigen als Erwachsene im
Asylverfahren muss endlich beendet werden.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist die volle Wiederherstellung des Rechtsschutzes in allen asyl- und aufenthaltsrechtlichen Verfahren. Es kann nicht sein, dass man
einen Menschen abschiebt, der noch ein Verfahren gegen
seine Ablehnung als Asylbewerber betreibt.
15 Jahre nach der faktischen Abschaffung des Rechts
auf Asyl wird es endlich Zeit, dass die Politik der Abschottung ein Ende hat. Dabei geht es nicht nur um die Verfolgten, die bei uns Schutz suchen. Heribert Prantl hat 1994
auf diesen Eingriff ins Grundgesetz zurückgeblickt und
schon damals festgestellt: „Die Asylpolitik der letzten
zwanzig Jahre ist … das Menetekel für die allgemeine
Politik der inneren Sicherheit in den nächsten zwanzig
Jahren.“ Die SPD reiche der Union die Hand bei der Demontage des Rechtsstaates. Diese Vorhersage hat sich
mittlerweile leider bestätigt.
Es ist schon erstaunlich, dass unter dem heute behandelten Antrag der Linksfraktion, der an die Asylgrundgesetzänderung vor 15 Jahren erinnern soll, ausgerechnet
der Name Oskar Lafontaine steht. Zur Erinnerung ein Zitat von Herbert Leuninger, damaliger Sprecher der
Flüchtlingsorganisation Pro Asyl und im Begründsteil
des vorliegenden Antrags einer der Kronzeugen der
Linksfraktion:
Oskar Lafontaine hat als wichtiger Vordenker der
SPD entscheidend dazu beigetragen, dass das
Grundrecht auf Asyl in der Verfassung eingeschränkt werden konnte. Lafontaine kündigt im Juli
1990 an, er schließe eine Änderung des Asylrechts
nicht mehr aus, und bietet im Bundesrat den Unionsparteien an, eine gemeinsame Position zu erarbeiten. Lafontaine hat einen entscheidenden Schritt
auf eine große Koalition hin gemacht. Der gewisse
Schutz, den Flüchtlinge in SPD-geführten Ländern
immer noch genossen, ist dabei so gut wie beseitigt
worden. Dies ist eine neue Dimension der Entsolidarisierung. Lafontaine hat es geschafft, dass sich
die Asylinitiativen wie nie zuvor auf die eigene
schmale Basis zurückgeworfen fühlen.
Ein weiteres Zitat, von Kollegin Ulla Jelpke - veröffentlicht in der Zeitschrift „Ossietzky“, 14/2005 -:
Es war Oskar Lafontaine, der 1989 jene Debatte
über angeblichen „Asylmißbrauch“ in Gang setzte,
die 1993 in die faktische Abschaffung des Asylrechtes mündete: Mit seiner Rhetorik gelang es Oskar
Lafontaine, das Asylrecht sturmreif zu schießen.
Schrittweise zog Lafontaine die Sozialdemokratie
auf seine Seite, bis sie den Widerstand gegen die
CDU/CSU aufgab und in einer faktischen großen
Koalition der faktischen Abschaffung des Asylrechtes zustimmte. Lafontaine brachte als erster in der
SPD die sogenannten sicheren Herkunftsstaaten ins
Spiel. Lafontaine sprach damals von der „Drittstaatenregelung“ als „von einem wirklichen Schritt
nach vorne“. Und es war Lafontaine, der als damaliger Ministerpräsident des Saartandes noch lange
vor der Einführung eines Asylbewerberleistungsgesetzes die Sozialhilfe für Flüchtlinge nicht mehr
auszahlte, sondern auf Sachleistungen umstellte.
Oskar Lafontaine muss sich die Frage nach seiner
Mitschuld an der heutigen rigiden Ausländerpolitik
gefallen lassen.
Sie gestehen mir zu, dass dies alles nicht für die Glaubwürdigkeit der Linksfraktion spricht. Art. 16, Abs. 2, Satz
2 des Grundgesetzes war die historische Antwort des Parlamentarischen Rates 1948/49 auf die Rettung vieler im
nationalsozialistischen Deutschland Verfolgter durch
Aufnahme im Ausland. Die Botschaft von Art. 16 GG
wurde in den 1980er-Jahren Anlass zum Streit um den Widerspruch zwischen Asylrecht und Asylpraxis - das heißt,
zwischen Verfassung und Verfassungswirklichkeit, und
schließlich um die Änderung des Grundgesetzartikels
selbst. Hintergrund waren die Dimensionen des Weltflüchtlingsproblems am Ende des 20. Jahrhunderts.
Die immer noch häufig verbreitete Meinung, wonach
Deutschland das liberalste Zugangsrecht in Europa habe,
ist spätestens seit dem Asylkompromiss von 1993 überholt. Im Gegenteil: Wir halten am restriktivsten Zugangsrecht fest, ohne uns eine liberale Anerkennungspraxis zu
leisten. Ziel des Asylverfahrens muss es aber sein, den
Schutzbedarf von Asylsuchenden zu ermitteln. Das gegenwärtige Asylsystem und seine periodische Reformierung seit Beginn der 80er-Jahre gehen jedoch davon aus,
den vermeintlichen „Asylmißbrauch“ zu bekämpfen. Sowohl auf der Seite der materiellen Anerkennungsvoraussetzungen als auch bezüglich des Verfahrens sind immer
noch eklatante Mängel zu verzeichnen. Resultat sind erhebliche Schutzlücken für Verfolgte und ein eklatanter
Vertrauensverlust in die Fähigkeit des deutschen Asylsystems, Schutzbedürftige zu erkennen und wirksam zu
schützen.
In den vergangenen Jahren ist ein undurchsichtiges
System von Zuständigkeiten für Entscheidungen über den
Schutz von Einzelnen und Gruppen entstanden. Deutlich
wird dabei nur eines: Ob Bund oder Land, Exekutive,
Parlament oder Gerichte, jeder kann rechtlich begründet
behaupten, er sei für die Entscheidung über das Schutzbegehren eines Flüchtlings nicht zuständig oder könne
dies nicht allein entscheiden. Das Bundesamt verweist
auf die Gerichte, das Bundesverwaltungsgericht auf die
Politik, die Bundespolitik kann nicht ohne die Länder, die
Länder nicht ohne den Bund und die Zustimmung der anderen Länder. Im Ergebnis überlässt das deutsche Asylsystem den Schutz von Flüchtlingen viel zu oft den fehlenden Flugverbindungen nach Kabul oder Mogadischu.
Das Interesse an einer Rückführung der Asylantragsteller in ihre Herkunftsländer bzw. in Dublin-II-Staaten
überlagert das Prüfungsverfahren bis in die in der Anhörung gestellten Fragen - hier ist vor allem der Reiseweg
interessant; das Verfolgungsschicksal der Antragsteller
ist eher von nachrangiger Bedeutung - hinein. Die persönliche Anhörung ist das Herzstück des Asylverfahrens.
Das Bundesamt erweckt hier oft den Eindruck, dass es
Zu Protokoll gegebene Reden
kein wirkliches Interesse an einer einzelfallbezogenen
Entscheidung hat, weil in der Praxis die persönliche Anhörung und die Abfassung des Bescheides häufig von
zwei verschiedenen Mitarbeitern vorgenommen werden.
Standardisierte Handlungsanleitungen mit Leitsätzen
und Textbausteinen der Amtsleitung führen zu Entscheidungen, die oft sehr wenig mit dem individuellen Schicksal des Asylbewerbers zu tun haben. Die Praxis der in
großer Zahl eingeleiteten Widerrufsverfahren gegen einmal gewährtes Asyl widerspricht den flüchtlingsrechtlichen Grundsätzen der Genfer Flüchtlingskonvention in
eklatanter Weise. Die Widerrufspraxis des Bundesamtes
blendet die Sicherheitsbedingungen in den jeweiligen
Herkunftsländern aus. Riesige Arbeitsbeschaffungsprogramme, die in tausendfachen Widerrufen der Flüchtlingseigenschaft münden, sind ein Verstoß gegen die
Genfer Flüchtlingskonvention, menschenrechtswidrig,
inhuman und schaffen nach dem Auslaufen der ohnehin
engherzigen gesetzlichen Bleiberechtsregelung für die
bislang Geduldeten die nächsten Geduldeten. Kein anderer EU-Staat kennt eine vergleichbare Praxis der Massenwiderrufe. Im wohlverstandenen Öffentlichen Interesse ist es nicht, wenn Zehntausende vom gesicherten
Status in die Duldung gedrängt werden, aber weder unter
zumutbaren Bedingungen ausreisen können, noch abgeschoben werden, weil die Bedingungen in den Herkunftsstaaten dies nicht zulassen.
Auch das im vergangenen Jahr beschlossene Gesetz
„zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der EU“ ist flüchtlingsfeindlich, rückwärtsgewandt
und integrationshemmend.
Wichtige gemeinschaftsrechtliche Verpflichtungen im
Flüchtlingsrecht wurden gar nicht, nur unvollständig
oder mangelhaft umgesetzt. Gleichzeitig enthält das Gesetz Rechtsänderungen, die in keinem Zusammenhang mit
dem Europarecht stehen. So wird die Umsetzung für Verschärfungen des Asylrechts missbraucht, etwa für die
Einführung einer „Zurückweisungshaft“.
Nach EU-Recht müssten Menschen, die vor „willkürlicher Gewalt“ im Rahmen von bewaffneten Konflikten
nach Deutschland geflohen sind, künftig einen Abschiebungsschutz erhalten. Das Gesetz enthält aber den
Begriff der „willkürlichen Gewalt“ nicht. Die Schutzbedürftigen sollen keinen individuellen Schutzanspruch einklagen können, sondern sind auf Abschiebungsstopps der
Bundesländer angewiesen. Die Länder drängen jedoch
auf Abschiebung - selbst nach Afghanistan und in den
Irak. Tausenden Betroffenen droht damit weiterhin die
Abschiebung in Kriegs- und Krisengebiete.
EU-Staaten dürfen künftig Asylsuchende zurückweisen, wenn der Verdacht besteht, dass ein anderer EU-Mitgliedstaat für das Asylverfahren zuständig sei. Gegen
eine solche Zuständigkeitsentscheidung gibt es grundsätzlich keinen Eilrechtsschutz mehr. Damit können Abschiebungen in andere EU-Staaten nicht verhindert werden, selbst wenn sie inhuman oder rechtswidrig sind,
Asylsuchende sollen so lange in Haft bleiben, bis die Zuständigkeit geklärt ist. Eine derartige „Zurückweisungshaft“ verletzt internationale Standards, nach denen
Flüchtlinge während des Asylverfahrens generell nicht in
Haft genommen werden sollen.
Ebenfalls ein menschenrechtlicher Skandal ist der
Kompromiss zur „Rückführungs-Richtlinie“, auf den sich
eine EU-Ratsarbeitsgruppe am 22. Mai in Brüssel geeinigt hat. In dieser Richtlinie werden die Dauer und die
Bedingungen der Abschiebehaft für die Mitgliedstaaten
verbindlich geregelt. Nach dem Kompromiss können abgelehnte Asylbewerber künftig bis zu 18 Monate lang inhaftiert werden, wohlgemerkt: ohne Straftäter zu sein.
Dies ist unverhältnismäßig und inhuman.
Perspektivisch müssen zur Verbesserung eines umfassenden Flüchtlingsschutzes folgende Maßnahmen ergriffen werden:
Zwar ist das Interesse der Mitgliedstaaten an Steuerung der Zuwanderung als solches legitim. Sie haben jedoch durch geeignete Vorkehrungen Sorge dafür zu tragen, dass durch ihre Maßnahmen nicht Schutzbedürftige
gegen ihren Willen unmittelbar oder mittelbar in ihre
Herkunftsländer zurückgeführt werden.
Es ist an der Zeit, europäische Aufnahmeprogramme
für Flüchtlinge - Refugee Resettlement Programmes - zu
beschließen.
Asylsuchenden ist während des Verfahrens grundsätzlich die Bewegungsfreiheit auf dem Bundesgebiet zu gewähren. Der weiteren Aufrechterhaltung aufenthaltsbeschränkender Maßnahmen gegenüber Asylsuchenden
mangelt es angesichts der im vergangenen Jahrzehnt
drastisch gesunkenen Zahl der Asylsuchenden an einer
Legitimation. Sie sind deshalb aufzuheben.
Für die asylrechtliche Tatsachenermittlung sind optimale verfahrensrechtliche Voraussetzungen zu schaffen.
Den vom allgemeinen Verfahrens- und Verwaltungsprozessrecht abweichenden Rechtsschutzverkürzungen
mangelt es angesichts der im vergangenen Jahrzehnt
drastisch gesunkenen Zahl der Asylsuchenden an Legitimation.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/8838 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Erb- und Verjährungsrechts
- Drucksache 16/8954 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({0})
Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dirk Manzewski.
({1})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Freunde der Rechtspolitik! Wir debattieren hier heute in
erster Lesung über die Reform des Erb- und Verjährungsrechts. Das Erbrecht, wie wir es kennen, besteht in
seiner Struktur seit über 100 Jahren. Es ist daher völlig
richtig und normal, immer wieder einmal zu überprüfen,
inwieweit dieses Erbrecht auf neue gesellschaftliche
Wertvorstellungen und geänderte gesellschaftliche Entwicklungen noch zeitgemäße Antworten bietet. Um eines aber gleich klarzustellen: Wir haben ein gutes Erbrecht, das sich grundsätzlich bewährt hat. Deshalb sollte
man jede beabsichtigte Veränderung im Hinblick auf ihren Sinn und Nutzen genauestens überprüfen.
({0})
In meiner Rede werde ich mich darauf konzentrieren,
einige kritische Fragen für die in den kommenden Wochen folgende Diskussion aufzuwerfen. So sieht der
Gesetzentwurf beim Erbausgleich eine bessere Honorierung von Pflegeleistungen vor. Künftig soll jeder gesetzliche Erbe einen Ausgleich für Pflegeleistungen erhalten, und zwar unabhängig davon, ob er für die
Pflegeleistungen auf ein eigenes berufliches Einkommen
verzichtet hat.
({1})
Das klingt erst einmal gut und auch fair; denn häufig
genug gehen diejenigen, die über Jahre ihre Angehörigen aufopferungsvoll gepflegt haben, mangels entsprechender Ausgleichsregelung im Testament leer aus, obwohl es nicht selten gerade dieser Einsatz ist, der
überhaupt erst dafür sorgt, dass noch ein Nachlass zu
verteilen ist und das Vermögen nicht bereits zuvor durch
die Inanspruchnahme beruflicher Pflegeinstitutionen
aufgezehrt wurde.
Ich sehe hierbei allerdings ein Problem auf uns zukommen, das vor allem etwas damit zu tun hat, dass die
Welt leider nicht so theoretisch ist, wie wir es uns vielleicht manchmal gerne vorstellen. Erbauseinandersetzungen laufen nicht selten alles andere als schiedlichfriedlich ab. Ich mag mir deshalb gar nicht vorstellen,
wie sich die Erben künftig im Nachhinein darüber streiten werden, ob überhaupt, von wem und in welchem
Umfang denn nun tatsächlich Pflegeleistungen erbracht
worden sind. Anders als bisher fällt ja das wichtige Kriterium weg, dass die Pflege unter Verzicht auf ein eigenes berufliches Einkommen erfolgt sein muss. Dies wird
die Sache verkomplizieren. So schön es für den Erblasser im Einzelfall auch sein mag, nun zu Lebzeiten möglicherweise häufiger Besuch von Verwandten zu erhalten,
befürchte ich doch, dass dies zu heftigen Erbauseinandersetzungen führen wird.
Eine Veränderung will der Gesetzentwurf auch beim
sogenannten Pflichtteilsergänzungsanspruch einführen.
Derzeit werden Schenkungen, die innerhalb von zehn
Jahren vor dem Erbfall erfolgt sind, zugunsten der
Pflichtteilsberechtigten so gewertet, als wären sie quasi
nicht erfolgt und der Nachlass und damit das Pflichtteil
um sie nicht entsprechend geschmälert worden. Sind seit
der Schenkung allerdings zehn Jahre verstrichen, bleibt
die Schenkung unberücksichtigt. Der Unterschied kann
damit einen Tag betragen. Die Reform will dieses Allesoder-nichts-Prinzip graduell ändern und die Schenkung
immer weniger Berücksichtigung finden lassen, je länger sie zurückliegt. Das ist gut für die Erben und, wenn
sie es denn nicht selbst sind, auch für die Beschenkten,
da es ihnen mehr Planungssicherheit gibt.
Allerdings werden wir uns fragen müssen, ob dies
auch gut für den Pflichtteilsberechtigten ist und ob die
angedachte Regel auch aus dessen Blickwinkel als gerecht anzusehen ist. Gibt es beispielsweise für den Lieblingssohn und zukünftigen Erben schon zu Lebzeiten im
Vorgriff auf das Erbe einen dicken Zuschuss zu dessen
Hausbau, dann bin ich mir nicht sicher, ob es gerecht ist,
dass diese Schenkung, die durchaus im sechsstelligen
Bereich liegen kann, schon nach fünf Jahren nur noch
mit der Hälfte ihres Wertes für den Nachlass und somit
auch für den Pflichtteil Berücksichtigung finden soll.
Hinzu kommt meiner Auffassung nach, dass wir damit
auch den Schenkungen in Benachteiligungsabsicht Vorschub leisten würden; denn bereits ab dem zweiten Jahr
der Schenkung würde sich der insoweit auf den Nachlass
anzurechnende Betrag vermindern.
Eine Schlechterstellung des Pflichtteilsberechtigten
sieht im Übrigen offenbar auch die neue Stundungsregelung des Pflichtteilsanspruchs vor. Natürlich hat die Praxis ein großes Bedürfnis nach Stundung des Pflichtteils,
insbesondere dann, wenn der Nachlass im Wesentlichen
aus einem Unternehmen oder einem Eigenheim besteht
und beides zur Erfüllung des Pflichtteils verkauft bzw.
zerschlagen werden müsste.
Warum allerdings die Schwelle für die Härtefälle, in
denen Stundung zu gewähren ist, weiter gesenkt und die
Zumutbarkeit für den Pflichtteilsberechtigten, diese
Stundung zu dulden, weiter erhöht werden soll, erschließt sich mir persönlich nicht. In Härtefällen ist
schon heute Stundung möglich. Warum die bisher insoweit gewährten Möglichkeiten nicht mehr ausreichend
sein sollen bzw. warum hier nun plötzlich gesetzgeberischer Handlungsbedarf gesehen wird, ist für mich derzeit weder ersichtlich, noch ergibt sich hierfür eine nachvollziehbare Begründung aus dem Gesetzentwurf.
Hierüber werden wir reden müssen.
Ansonsten, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist es ein
gelungener Gesetzentwurf. Mit den von mir aufgeworfenen Fragen sollten wir uns allerdings intensiv auseinandersetzen. Ich freue mich jedenfalls schon auf die anstehende Diskussion. Ich würde mich umso mehr freuen,
wenn auch Sie sich konstruktiv beteiligen würden.
Ich danke Ihnen.
({2})
Die Kollegin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger,
FDP-Fraktion, der Parlamentarische Staatssekretär
Alfred Hartenbach, die Kollegen Wolfgang Nešković,
Fraktion Die Linke, und Jerzy Montag, Bündnis 90/Die
Grünen, und die Kollegin Ute Granold, CDU/CSU-Frak-
tion, haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.1)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 16/8954 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Thea Dückert, Jerzy Montag, Fritz
Kuhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Keine Toleranz gegenüber Korruption
- Drucksachen 16/4459, 16/7731 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Herbert Schui
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden der folgenden Kolleginnen und Kollegen:
Dr. Georg Nüßlein, CDU/CSU, Garrelt Duin, SPD,
Paul K. Friedhoff, FDP, Ulla Lötzer, Die Linke, Dr. Thea
Dückert, Bündnis 90/Die Grünen.
Eine im Februar veröffentlichte Studie von Price-
Waterhouse-Coopers geht von einem durchschnittlichen
Schaden in den letzten zwei Jahren pro Unternehmen von
5 016 780 Euro durch Wirtschaftskriminalität aus. Kor-
ruption alleine ist verantwortlich für einen Schaden von
1 693 022 Euro pro Unternehmen weltweit.
Alle, Unternehmer, zivilgesellschaftliche Organisatio-
nen und Politiker haben erkannt, dass wir dieses Problem
nicht ignorieren können, und dies nicht erst seit den Ver-
fahren gegen Siemens und VW. Die Bekämpfung von Kor-
ruption ist sowohl im nationalen als auch im internatio-
nalen Rahmen ein außerordentlich wichtiges Anliegen.
Entgegen allen Anschuldigungen aus dem Antrag unter-
stützt die CDU/CSU-Bundestagsfraktion die Bundesre-
gierung in ihrem Kampf gegen Korruption nachdrück-
lich. Nur verfolgen wir eine andere Strategie als das
Bündnis 90/Die Grünen. Wir müssen uns verabschieden
von der ewigen Kleindenkerei bei globalen Problemen.
Korruption kann ein Staat nicht mit gelungenen Rechts-
vorschriften im Alleingang in den Griff bekommen. Wäre
dem so, befänden wir uns nicht mehr auf dem besten Weg,
sondern längst am Ziel.
Deutschland belegt auf dem Index von Transparency
International mit Platz 16 einen der vordersten Ränge.
1) Anlage 10
Schwarze Schafe müssen sich bei uns für ihre Vergehen
verantworten. Das größte Problem haben wir also nicht
im Geltungsbereich unserer Gesetze. Problematisch wird
das Thema Korruption erst dann, wenn global operierende Firmen auf korrupte Strukturen im Ausland treffen.
Besonders groß ist das Risiko der Studie von Price-Waterhouse-Coopers zufolge bei Geschäften mit China,
Russland, Indien, Brasilien, Mexiko, Indonesien und der
Türkei. Es ist wichtig, einzusehen, dass wir mit deutschen
Gesetzen in Kulturkreisen, wo Vorteilsgewährungen zum
Abschluss von größeren Geschäften zum Teil sogar erwartet werden, sicherlich nicht weiterkommen werden.
Mit einer Verschärfung der nationalen gesetzlichen Vorschriften erreichen wir hier aber nichts als Entmündigung und Benachteiligung deutscher Unternehmen im
globalen Wettbewerb. Deshalb ist es umso wichtiger,
nicht mehr nur national zu denken, sondern auch global
für einen Paradigmenwechsel einzutreten. Unser deutsches, nachweislich gut funktionierendes Korruptionsstrafrecht sollte hierfür als Beispiel dienen. Was wir brauchen, ist weltweite Prävention, wie sie bei Banken und
Finanzdienstleistern wegen der Gefahr von Geldwäsche
und Insiderhandel schon lange üblich sind.
Wo noch zusätzlich etwas getan werden kann, ist auf
der Unternehmerseite. Aber hier muss der Paradigmenwechsel auf freiwilligen Verpflichtungen fußen. Entgegen
ihrer Einschätzung erkennen Firmen inzwischen sehr
wohl, dass sie das Problem der Korruption nicht länger
ignorieren können. Allein in Geschäften mit den oben genannten Ländern beliefen sich die von den Unternehmen
gemeldeten Verluste laut Price-Waterhouse-Coopers auf
je 4,4 Millionen Euro. Wir sprechen von einem Schaden
von insgesamt 6 Milliarden Euro für deutsche Firmen.
Ein Compliance-Management kostet die Unternehmen eindeutig weniger. Viele Firmen haben inzwischen nachgerechnet. Siemens hat mittlerweile einen Antikorruptionsbeauftragten mit Vorstandsmandat. Die Deutsche Bahn hat
sich vor einem Jahr mit Wolfgang Schaupensteiner einen
ehemaligen Staatsanwalt mit Schwerpunkt Korruptionsbekämpfung als Chief Compliance Officer ins Boot geholt. Zusätzlich werden Mitarbeiter auf heikle Situationen vorbereitet. Sie brauchen Verhaltensstandards mit
klaren Regeln, sodass sie im entscheidenden Fall wissen,
wie sie sich zu verhalten haben.
In Ihrem Antrag fordern Sie die Einrichtung einer Verwaltung, die dafür verantwortlich sein soll, ein Korruptionsregister zu erstellen. Kann es im Sinne der Politik
sein, eine neue Behörde zu schaffen, wo wir doch gerade
auf allen Ebenen versuchen, Bürokratiekosten zu senken?
Unsere Korruptionswerte sind gut, und deutsche Unternehmen sind bei der Korruptionsbekämpfung mehr als
aktiv. Brauchen wir da noch einen staatlich finanzierten
Korruptionspranger? Sind Sie sich überhaupt darüber im
Klaren, was es für ein Unternehmen heißt, auf Verdacht
an den öffentlichen Pranger gestellt zu werden? Das Mittelalter haben wir hinter uns gelassen. Für mich ist dieser
Vorschlag nichts als zusätzliche Bürokratie.
Des Weiteren sind Sie für eine Novelle des Aktiengesetzes, die einen Wechsel vom Vorstand in den Aufsichtsrat
unmöglich macht. Sie unterstellen, dass ein solcher
Wechsel generell die Korruption fördert. Ja, glauben Sie
denn wirklich, dass die Kontrolle des Vorstandes ohne
Unternehmensinsider überhaupt möglich ist? Der Aufsichtsrat besteht aus Vertretern der Anteilseigner und
- als deutscher Sonderfall - in den meisten Unternehmen
zusätzlich aus Vertretern der Arbeitnehmer. Es kann doch
nicht sein, dass auf der Arbeitnehmerseite jede Menge
unternehmensinterne Vertreter sitzen, die über das entsprechende Wissen verfügen, während auf der Arbeitgeberseite keiner die Struktur des Unternehmens kennen
darf. Das führt bestimmt nicht zu einer Gleichgewichtung
in den Unternehmen. Wir brauchen auch auf Arbeitgeberseite Detailkenntnisse der Branche und der Strukturen
des zu kontrollierenden Unternehmens, um gerade auch
bei der Bekämpfung von Korruption Vorteile zu haben.
Das sind Realitäten, die wir anerkennen müssen. Mit Filz
und Korruption hat das nichts zu tun. Des Weiteren sollte
es ausschließlich Sache der Eigentümer des Unternehmens sein, verantwortungsbewusst zu entscheiden, wer
das Unternehmen kontrollieren soll.
Den letzten Punkt Ihres Forderungskatalogs, die Einrichtung von Schwerpunktstaatsanwaltschaften und entsprechenden zentralen polizeilichen Ermittlungsstellen,
möchte ich als völlig überflüssig bewerten. Sie existieren
bereits in den meisten Bundesländern. Wo sie nicht existieren, ist deren Einrichtung im Gange oder zumindest in
Planung.
Gestatten Sie mir eine letzte Bemerkung: Die Grünen
hätten in den sieben Jahren, in denen sie an der Regierung waren, bereits auf die Idee kommen können, das
Korruptionsstrafrecht zu erweitern. Sind sie aber nicht.
Stattdessen wurden auf internationaler Ebene überengagierte Standards beschlossen, die die wenigsten Länder
tatsächlich umsetzen werden. Jetzt ist die Zeit gekommen,
dass wir endlich mit realistischen Ansätzen vorgehen. Ich
wehre mich dagegen, bei einem derart sensiblen Thema
ausschließlich mit Generalverdächtigungen zu arbeiten.
Werte Kollegen vom Bündnis 90/Die Grünen: Ihr Ziel
ist ehrenhaft, aber auf diesem naiven Weg nicht zu erreichen.
Wie zuletzt sehr öffentlichkeitswirksam bei Siemens
werden immer wieder Korruptionsfälle aufgedeckt. Korruption und allein schon der Korruptionsverdacht ist
nicht nur für das Unternehmen selbst und damit auch für
die betroffenen Belegschaften ein großer Vertrauensverlust in die Unternehmensführung bzw. die jeweiligen Entscheidungsträger, sondern auch für Anlegerinnen und
Anleger, für die Kundinnen und Kunden.
Konzerne dieser Größenordnung erleiden damit einen
großen Imageschaden und dies formt ein negatives Bild
in der Öffentlichkeit. Wir sollten dabei nicht die Zulieferbetriebe vergessen, die nach Aufdeckung von spektakulären Korruptionsfällen oft um ihre Existenz bangen müssen. Bei ihnen entsteht oft der größte Schaden.
Aber es sind nicht nur die großen Konzerne, in denen
Korruption auftritt - der Giftpfeil der Korruption durchbohrt die gesamt Wirtschaftsbranche. Genaue Zahlen zur
Korruption, dem „zweitältesten Gewerbe der Welt“, sind
rar. Dennoch gilt sie für viele als ein weit verbreitetes
Übel: Nach der jährlich durchgeführten Umfrage der Antikorruptionsorganisation Transparency International
glauben 69 Prozent der in Deutschland lebenden Menschen, dass die Korruption in den nächsten Jahren noch
zunehmen werde. Sylvia Schenk, Vorsitzende von Transparency Deutschland, führt diese Sorge auf die Berichterstattung über Skandale bei Großunternehmen wie Siemens sowie auf viele Vorfälle auf lokaler Ebene zurück.
Die Menschen sind sensibilisiert und haben gemerkt,
dass Korruption auch in Deutschland ein Problem ist.
Gerade wir als Mitglieder des Deutschen Bundestages
müssen hier mit gutem Beispiel vorangehen. Für uns Politiker steht viel auf dem Spiel: unsere Vertrauenswürdigkeit. Wir vertreten die Interessen der Bürgerinnen und
Bürger. Daher dürfen wir einen Vertrauensverlust der
Menschen in die Gestaltungskraft von Politik nicht zulassen. Durch die Offenlegung jeglicher Nebeneinkünfte von
uns Abgeordneten haben wir einen richtigen Schritt getan, um im Kampf gegen Korruption unsere Glaubwürdigkeit zu bewahren.
Alle reden über Korruption, aber es gibt zu diesem
Übel weder präzises Zahlenmaterial noch eine einheitliche, allseits anerkannte Definition. Strafrechtlich gesehen handelt es sich um die Tatbestände Vorteilsnahme,
Bestechlichkeit, Vorteilsgewährung und Bestechung. Das
Strafrecht erfasst aber nur einen Ausschnitt dessen, was
landläufig unter Korruption verstanden wird. Weil bei der
Korruption - anders als bei vielen anderen Delikten - die
Täter auf beiden Seiten zu finden sind, werden den Strafverfolgungsbehörden offensichtlich nur wenige Fälle bekannt. 2005 wurden in der Polizeilichen Kriminalstatistik
2 160 Fälle registriert, rein quantitativ betrachtet sind
dies 0,03 Prozent des gesamten polizeilichen Fallaufkommens. Das Thema wird seit Anfang der 90er-Jahre unter
dem Eindruck aufsehenerregender Fälle verstärkt diskutiert. Wie die Bundesregierung in ihrem Zweiten Periodischen Sicherheitsbericht feststellt, ist seitdem die Liste
der Korruptionsfälle in der Politik, im Sport, in Verwaltung und Wirtschaft deutlich länger geworden.
Wenn es in früheren Jahrzehnten weniger dieser spektakulären Fälle gegeben hat, dann sollte das nicht zu dem
falschen Schluss verleiten, die Zeiten seien damals besser
gewesen und es habe weniger Korruption gegeben. Die
aktuellen Korruptionsfälle zeigen vor allem eines: Korruption wird intensiver verfolgt und es wird nicht davor
zurückgeschreckt, bei Korruptionsverdacht auch gegen
hohe Amtsträger oder Wirtschaftsunternehmen vorzugehen.
Deutschland zählt nach Angaben von Transparency
International weltweit zu den 20 Ländern mit der geringsten Korruption. Dies geht aus dem Korruptionsindex
2007 hervor. Deutschland steht in der Liste auf Platz 16.
Das ist ein wichtiger Punkt, wenn es um die Sicherung des
Standortes Deutschland geht, und es zeigt, dass wir auf
dem richtigen Weg sind.
Am Dienstag dieser Woche erschien ein Artikel in der
Berliner Morgenpost, dass die Deutsche Bahn stärker gegen Bestechung im Konzern vorgehen will und zu diesem
Zweck ihre Antikorruptionsabteilung ausbauen wird.
Zu Protokoll gegebene Reden
Dies macht sehr deutlich, dass auch die Unternehmen für
das Thema Korruption sensibilisiert sind, sie ihr Erscheinungsbild in der Öffentlichkeit sehr ernst nehmen und bemüht sind, ihre Strukturen transparenter zu gestalten.
Der Kampf gegen Korruption in Zeiten von Globalisierung und internationalem Wettbewerb darf nicht an
der Landesgrenze Halt machen. Hier sind internationale
Maßnahmen gefordert. Ein wichtiger Baustein für eine
erfolgreiche Bekämpfung der Korruption ist der Erfahrungsaustausch auf nationaler, aber auch auf internationaler Ebene. Transparency International ermittelte, dass
weltweit durch Korruption ein jährlicher Schaden von
400 Milliarden US-Dollar entsteht. Das sind gewaltige
Summen, die den eigentlichen Entwicklungsmöglichkeiten der Länder verloren gehen. Hier muss die internationale Zusammenarbeit der Ermittlungsbehörden weiter
intensiviert werden.
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fordert in ihrem
Antrag ein Register über korrupte Unternehmen, das juristische Personen führen soll. Bereits 2002 wurde ein
Korruptionsregister im Kampf gegen Korruption und
Lohndumping in deutschen Unternehmen eingeführt. Unternehmer, die strafrechtlich belangt werden, werden in
dieses Register aufgenommen. Allerdings können hier
keine juristischen Personen geführt werden. Strafrechtlich in Erscheinung treten können immer nur reale
Personen. Die Forderung nach einem Register, das juristische Personen führt, ist deshalb unsinnig. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die in einem solchen Unternehmen arbeiten, würden mitbestraft werden für
Verfehlungen anderer.
Unternehmen dürfen nicht auf Verdacht an den Pranger gestellt werden. Schäden, die durch vorschnelle Verdächtigungen entstehen können, müssen gerade im Interesse derer, die ehrlich am Wettbewerb teilnehmen, vermieden werden. Außerdem hieße dies ein Mehr an Bürokratie, und ein aufgebauschter bürokratischer Aufwand
ist im Hinblick auf die gewünschte Transparenz kontraproduktiv.
Freiwillig, wie es die Selbstverpflichtung im Corporate-Governance-Kodex vorgesehen hat, haben sich viele
Unternehmen zunächst nicht dazu durchringen können,
die Bezüge ihrer Manager zu veröffentlichen. Deshalb
haben wir eingegriffen. Mit den von uns beschlossenen
Gesetzen zur Offenlegung von Managergehältern haben
wir ein Instrument für mehr Transparenz geschaffen. Seit
dem Geschäftsbericht für das Jahr 2006 müssen börsennotierte Aktiengesellschaften angeben, welches Vorstandsmitglied wie viel bekommt. Dabei muss nicht nur
das Grundgehalt offengelegt werden. Auch der erfolgsbezogene Anteil der Bezüge, zum Beispiel Aktienoptionen
und vertraglich zugesagte Abfindungen oder Pensionen
müssen ausgewiesen sein. Nur die Aktionäre selbst können die Vorstände mit einer Dreiviertelmehrheit für fünf
Jahre von dieser Auskunftspflicht befreien. Aktionäre und
die interessierte Öffentlichkeit können so feststellen, ob
die Vorstände eines Unternehmens gemäß ihrer Leistung
bezahlt werden. Das ist das gute Recht der Anteilseigner.
Der Schutz der Aktionäre hat in diesem Fall Vorrang vor
der Geheimniskrämerei von Managern. Denn es sind
diese Anteilseigner, denen das Unternehmen gehört. Dies
ist auch ein Schutz vor Strippenzieherei im Dunklen durch
Bestechung und Korruption.
Die Forderung im Antrag der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen zum arbeitsrechtlichen Schutz von Hinweisgebern ist problematisch. So könnte unter Umständen
eine Misstrauenskultur in den Unternehmen entstehen. Es
dürfen keine Spitzel in den Belegschaften herangezüchtet
werden. Der bessere Weg ist, eine transparente und offene
Unternehmenskultur mit leistungsbereiten und leistungsgerecht bezahlten Mitarbeitern zu etablieren, in der Korruption keinen Fuß fassen kann.
Wir müssen den Kampf gegen Korruption in alle Ebenen hineintragen. Besonders wenn es um die Führung
von Unternehmen und die Unternehmenskultur geht. Es
ist wichtig, das Bewusstsein für Korruption und Bestechung zu schärfen und gezielte unternehmensinterne
Maßnahmen dagegen zu ergreifen. Korruptionsbekämpfung muss möglichst früh ansetzen. Vorbeugen heißt vor
allem, korruptionsanfällige Situationen erst gar nicht
entstehen zu lassen. Das Korruptionsrisiko muss deutlich
verringert werden. Zur Korruptionsbekämpfung gehört
aber nicht nur Vorbeugung, sondern auch die Strafverfolgung. Ermittlung und Verurteilung von Straftätern gestalten sich hier aber besonders schwierig. Wenn trotz dieser
Schwierigkeiten in den letzten Jahren besonders viele
Korruptionsfälle ans Licht gekommen sind, dann sind wir
doch auf einem richtigen Weg.
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen schlägt in ihrem
Antrag auch die Einführung von Schwerpunktstaatsanwaltschaften vor. Es gibt diese bereits in sieben Bundesländern. Überall dort in Deutschland, wo sich Schwerpunktstaatsanwaltschaften zu Korruption etablierten und
Kommunen energisch an die Trockenlegung des Schmiergeldsumpfes gingen, schnellten die Fallzahlen sprunghaft
in die Höhe. Im Kampf gegen Korruption sind Schwerpunktstaatsanwaltschaften ein guter Weg. Aber er wird
bereits gegangen.
Es ist in diesem Haus Konsens über alle Fraktionen
hinweg: Wir sind gegen Korruption; wir sind uns einig,
dass alle Anstrengungen unternommen werden müssen,
Korruption zu bekämpfen.
Leider gibt es dennoch Korruption. Weniger bei uns im
Inland, mehr in sogenannten Entwicklungsländern. Wir
dürfen uns natürlich nicht zurücklehnen und auf „die anderen“ zeigen, sondern müssen mit geeigneten Maßnahmen der Korruption beikommen. Die weltweite Verflechtung der Wirtschaft legt eine Regelung auf der
supranationalen Ebene nahe.
Gesetze, die in anderen Ländern gelten, können wir
von hieraus nur wenig beeinflussen. Wohl können wir mit
gutem Beispiel vorangehen. Dazu müssen wir dafür sorgen, dass die Gesetze, die hier gelten, auch angewendet
werden. Das Gesetz zur Bekämpfung der Korruption aus
dem Jahr 1997 trägt die Handschrift des damaligen liberalen Justizministers Edzard Schmidt-Jortzig und ist als
Rechtsgrundlage völlig ausreichend.
Zu Protokoll gegebene Reden
Um Verstößen gegen das geltende Recht entgegenzuwirken, hilft es nicht, Gesetze zu verändern und neue hinzuzufügen. Der Antrag der Grünen-Fraktion beinhaltet
Forderungen nach Gesetzesänderungen und nach neuer
Bürokratie. Das von den Grünen geforderte nationale
Korruptionsregister hätte eine Wirkung wie ein Pranger
und würde dem Problem nicht gerecht, sondern brächte
vor allem einen weiteren Wust von Bürokratie mit sich.
Firmenvorstände werden zwar nicht an einen solch
fragwürdigen Pranger, aber immerhin unter Generalverdacht gestellt: Im Antrag der Grünen-Fraktion wird gefordert, Vorständen zu verbieten, in den Aufsichtsrat zu
wechseln. Ich hoffe, dass wir dabei bleiben können, dass
die Eigentümer eines Betriebs darüber entscheiden, wer
den Aufsichtsrat besetzt, und nicht die Politik! Natürlich
kann es sinnvoll sein, ein ehemaliges Vorstandsmitglied
in den Aufsichtsrat der Firma zu berufen, denn es kennt
die Firma, die beaufsichtigt werden soll, besser als jeder
andere.
Unsere Wirtschaft braucht Spielregeln, Es ist wichtig,
dass sich alle daran halten. Ein fairer Wettbewerb kann
anders nicht funktionieren - das weiß ich als Unternehmer wohl. Deshalb unterstützen wir den Kampf gegen
Korruption, den Antrag der Grünen unterstützen wir aber
nicht. Wir Liberale wollen geltendes Recht umsetzen, wir
wollen aber keine überflüssigen neuen Gesetze und Vorschriften - vor allem wollen wir keine zusätzliche Bürokratie!
Längst ist Korruption nicht mehr nur das Problem von
Entwicklungsländern. Fast täglich können wir in den Tageszeitungen über Korruptionsfälle bei deutschen Unternehmen lesen. Das reicht von der Kölner Müllfirma
Trienekens über den „Sachsensumpf“ bis hin zu den
1,3 Milliarden Euro Schmiergeldzahlungen von Siemens.
Zahlungsempfänger sind korrupte Politiker, Ingenieurbüros und andere Auftraggeber.
Selten kommt so ein Skandal ans Tageslicht. Sofort
versuchen dann Politik und Management, die Folgen
klein zu reden und alles unter den Teppich zu kehren.
Groß angelegte Gerichtsverfahren verlaufen meist nach
der Regel „Kleine Diebe hängt man, große lässt man laufen.“ Denn um nichts anderes als Diebstahl und Betrug
handelt es sich bei Korruption. Bestohlen werden die
Verbraucherinnen und Verbraucher sowie die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler. Sie müssen später die überdimensionierten und überteuerten Investitionen einschließlich der Bestechungsgelder über Gebühren oder Steuern
wieder bezahlen. Die Folgen dieser Affären sind jedoch
nicht nur monetär. Sie erschüttern auch das Vertrauen der
Bürgerinnen und Bürger in die Demokratie und den
Rechtsstaat.
Dies vor Augen, bleibt der Grünen-Antrag hinter den
Anforderungen für eine wirksame Korruptionsbekämpfung zurück. Zu stark wird der Schwerpunkt auf die Korruption bei internationalen Geschäften gelegt. Zu stark
wird auf freiwillige Vereinbarungen mit der Industrie gesetzt. Wir teilen die Forderungen der Grünen nach einem
bundesweiten Register für korrupte Unternehmen, nach
Schutz von Whistle-Blowern oder Schwerpunkt-Staatsanwaltschaften in den Bundesländern zur Korruptionsbekämpfung. Wir haben selbst bereits einen Entwurf zur
Novellierung des Aktiengesetzes eingebracht, mit dem
der Wechsel vom Vorstand in den Aufsichtsrat eines Unternehmens unterbunden werden soll. Dies alles sind
richtige Forderungen, aber sie reichen nicht aus.
Es fehlt die Frage des Lobbyismus, der personellen
Verflechtungen zwischen Politik, Ministerien und Konzernen. Wir haben dazu als ersten Schritt einen Antrag
eingebracht, der die Bundesregierung auffordert, auf
Einnahmen aus Sponsoring zu verzichten. Wenn zum Beispiel die EADS regelmäßig Bälle, Empfänge und Essen
für das Verteidigungsministerium, die Bundeswehr und
ihre Gäste sponsort, dann schafft das Verbindlichkeiten.
Insgesamt sind es 55 Millionen Euro, die die Bundesregierung von August 2003 bis Ende 2004 von großen
Unternehmen für ihre Festivitäten erhalten hat. Wo fängt
die Korruption an? Zugegebenermaßen eine Grauzone aber die gilt es zu beseitigen, wenn man Korruption tatsächlich wirksam bekämpfen will. Da ist es bedauerlich
und inkonsequent, dass die Grünen unserem Antrag nicht
zugestimmt haben.
Es fehlt die Forderung nach Ratifizierung des UNÜbereinkommens gegen Korruption. 108 Staaten haben
diese Konvention bisher ratifiziert, Deutschland nicht.
Knackpunkt hierbei ist, dass die UN-Konvention die Abgeordnetenbestechung viel weiter fasst als das deutsche
Strafrecht, das nur den direkten Stimmenkauf ahndet. Die
Konvention verlangt, dass der Amtsträger bzw. Abgeordnete „weder mittelbar noch unmittelbar ein ungerechtfertigter Vorteil für diesen selbst oder für eine andere Person
oder Stelle versprochen, angeboten oder gewährt werden
darf, damit der Amtsträger in Ausübung seiner Dienstpflichten eine Handlung vornimmt oder unterlässt“. Was
ist aber, wenn Minister oder Staatssekretäre Entscheidungen zugunsten eines Unternehmens fällen und anschließend mit Posten in den Unternehmen oder Tochterunternehmen belohnt werden? Ich erinnere hier nur
beispielhaft an den Wechsel von Minister Müller zur
RAG AG, von Staatssekretär Tacke zur STEAG oder
Herrn Wiesheu zur Deutsche Bahn AG. Diese Liste wäre
lange fortzusetzen.
Es fehlt die Forderung nach einer Verschärfung der
Korruptionsbekämpfung im Zusammenhang mit der Gewährung von Hermeskrediten. Hier hat die Bundesregierung einen konkreten Hebel zur Korruptionsbekämpfung
in der Hand. Sie könnte bei jedem Antrag auf eine Hermeskreditversicherung darauf bestehen, dass die Namen
der beteiligten Agenten und Details über die Höhe und
den Zweck etwaiger Provisionen bekannt gegeben werden. Bei 26 von 31 Exportkreditagenturen von OECDMitgliedsländern ist dies Standard - bei der deutschen
nicht. Und die Bundesregierung will diese Standardabfrage auch künftig nicht einführen, wie sie auf eine
Anfrage der Linksfraktion zugab. Vom 1. Januar bis
15. August wurden 1 413 Anträge auf Übernahme einer
Einzeldeckung gestellt und nur in acht Fällen wurde
überhaupt eine vertiefte Prüfung auf Korruption durchgeführt. Der Bundesregierung ist die Förderung der
Zu Protokoll gegebene Reden
deutschen Exportwirtschaft eben immer noch wichtiger
ist als die Bekämpfung von Kriminalität.
Korruption ist ein Krebsgeschwür für jede Gesellschaft, das anstelle von Transparenz und Gleichbehandlung nach festen Regeln Bestechungsgelder und Vetternwirtschaft setzt. Ihr muss mit allen Mitteln begegnet
werden. Und deshalb stimmen wir dem Grünen-Antrag
zu, auch wenn er wichtige Forderungen nicht berücksichtigt.
Korruption ist kein Problem, das andere anderswo haben. Kriminelle Netzwerke gibt es nicht nur in Neapel,
Korruption ist nicht dubiosen Staatschefs in Dritte-WeltLändern vorbehalten und Schmiergelder werden nicht
nur von schmierigen Waffenlobbyisten gezahlt. Korruption ist längst im Alltag der deutschen Wirtschaft angekommen. Korruption ist ein ernsthaftes Problem in
Deutschland und für Deutschland.
Prominente Beispiele gibt es genug: Ich erinnere an
den Schmiergeldskandal beim Bau des Münchener Fußballstadions, an den VW-Skandal und natürlich - das war
klar der Tiefpunkt - an den Korruptions-GAU bei
Siemens.
Der Siemens-Skandal ist so schrecklich, weil er gerade
deutlich gemacht hat, dass es sich nicht um Verfehlungen
Einzelner handelt, sondern dass Korruption Teil einer
Unternehmensstrategie war. Zum Prozessauftakt diese
Woche hat der erste Angeklagte gleich gestanden und die
frühere Konzernführung schwer belastet. Dass zwischenzeitlich auch der französische Siemens-Konkurrent
Alstom unter Korruptionsverdacht steht, zeigt, wie nah
wir auf einigen Märkten schon vor der Situation stehen,
wo der Ehrliche der Dumme ist.
Beim Radsport hat sich gezeigt, was passiert, wenn ein
Großteil der Fahrer davon überzeugt ist, dass andere dopen und man selbst ohne illegale Nachhilfe keine Chance
zu haben glaubt. Gibt es eine kritische Masse an schwarzen Schafen, bricht ein Damm und illegales Verhalten
wird zum Massenphänomen. Deshalb legen wir Grüne
unseren Antrag „Keine Toleranz für Korruption“ vor. Ist
oder scheint Korruption nämlich erst einmal selbstverständlich, ist der Kampf verloren.
Dass dies keine Panikmache ist, zeigt eine Studie von
Ernst & Young. Die Wirtschaftsprüfer haben bei einer Befragung herausgefunden, dass es in manchen Firmen fast
als normal angesehen wird, vor allem in Schwellenländern Schmiergelder zu zahlen. Das Argument: Die Konkurrenz tue dies ja auch. Den Schaden haben die Bürgerinnen und Bürger durch überhöhte Preise und schlechte
Qualität. Den Schaden haben aber auch die ehrlichen
Unternehmer und ihre Beschäftigten. Wir müssen deshalb
endlich handeln.
In unserem Antrag schlagen wir eine ganze Reihe von
Maßnahmen vor: Wir brauchen einen Dialog mit Gewerkschaften, Wirtschaft und Politik; Korruption muss
Thema des Corporate Governance Kodex werden; wir
brauchen eine Selbstverpflichtung der Wirtschaft und
eine Unternehmenskultur, die Korruption ächtet.
Solange Mitarbeitern das Gefühl vermittelt wird, mit
Bestechung tue man dem Unternehmen etwas Gutes, werden wir bei der Korruptionsbekämpfung nur wenig vorankommen. Oftmals werden Mitarbeiter, die Korruptionsfälle
publik machen, sogar als Nestbeschmutzer diffamiert.
Dem Ehrlichen drohen Mobbing und Karriereknick. Wir
müssen diese Mitarbeiter besser schützen.
Nötig ist aber auch mehr Transparenz und Kontrolle in
den Unternehmen. Der Wechsel vom Vorstandsvorsitz auf
den Chefposten im Aufsichtsrat muss verboten werden.
Gleichzeitig sollte niemand mehr als fünf Aufsichtsratsmandate gleichzeitig ausüben dürfen. Die Aufsichtsratssitzungen dürfen nicht zum Feierabendtreff ehemaliger
Führungskräfte werden, sondern müssen die Vorstände
effektiv kontrollieren. Wir brauchen ein Korruptionsregister, in dem Unternehmen aufgeführt werden, die sich
der Korruption schuldig gemacht haben. Dann können
wir solche Unternehmen von der öffentlichen Auftragsvergabe ausschließen. Die Länder müssen Schwerpunktstaatsanwaltschaften für Korruption und Wirtschaftskriminalität einrichten. Die Personalausstattung mit
Spezialisten ist für die sehr komplizierten Wirtschaftsfälle
derzeit viel zu schwach.
Klar ist: Bei der Korruptionsbekämpfung allein auf
die Selbstreinigungskräfte der Unternehmen zu setzen, ist
keine erfolgversprechende Strategie. Auch die Politik
muss ihren Beitrag leisten. Die Bundesregierung hat das
Thema bislang ignoriert. Wir haben unsere Vorschläge
vorgelegt. Jetzt ist es Zeit zu handeln.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/7731, den Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/4459
abzulehnen. - Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition
bei Gegenstimmen von Bündnis 90/Die Grünen und
Fraktion Die Linke und bei Enthaltung der FDP angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 a auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des Schornsteinfegerwesens
- Drucksache 16/9237 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({0})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu die-
sem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. - Ich
sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich um
die Reden der folgenden Kolleginnen und Kollegen:
Lena Strothmann, CDU/CSU, Andrea Wicklein, SPD,
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
Paul K. Friedhoff, FDP, Sabine Zimmermann, Die
Linke, Kerstin Andreae, Bündnis 90/Die Grünen.1)
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/9237 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse und zusätzlich an den
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige
Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Heimkehrerstiftungsaufhebungsgesetzes
- Drucksache 16/9058 - Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({1})
- Drucksache 16/9318 Berichterstattung:
Abgeordnete Günter Baumann
Gerold Reichenbach
Jan Korte
- Bericht des Haushaltsausschusses ({2}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 16/9348 Berichterstattung:
Abgeordnete Steffen Kampeter
Carsten Schneider ({3})
Dr. Gesine Lötzsch
Alexander Bonde
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden der folgenden Kolleginnen und Kollegen: Günter
Baumann, CDU/CSU, Maik Reichel, SPD, Dr. Max
Stadler, FDP, Petra Pau, Die Linke, Wolfgang Wieland,
Bündnis 90/Die Grünen und Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Christoph Bergner.
Günter Baumann ({4})
Besonders uns Abgeordnete aus den neuen Bundeslän-
dern erreichten in der letzten Zeit Briefe, in denen zum ei-
nen die beschlossene Entschädigung für Kriegsspätheim-
kehrer auf dem Gebiet der ehemaligen DDR begrüßt
wurde. Zugleich wurde aber scharf und für mich auch be-
rechtigt gegen eine Auszahlung erst ab dem Jahr 2009
protestiert. Es war für die Betroffenen nicht nach zu voll-
ziehen, dass erst 17 Jahre nach der politischen Wende
eine symbolische Entschädigung für eine begründete Op-
fergruppe erfolgen soll. Mit dem nun heute zu beschlie-
ßenden Änderungsgesetz zum Heimkehrerstiftungsaufhe-
1) Anlage 11
bungsgesetz ist es uns gelungen, dass bereits ab dem
1. Juli 2008 mit den Entschädigungszahlungen an die
etwa 15 000 in die ehemalige DDR entlassenen Kriegsund Geltungskriegsgefangenen begonnen werden kann.
Bereits am 9. November 2007 hatten wir mit dem
1. Gesetz für eine Entschädigung der Kriegsspätheimkehrer, die in die ehemalige DDR zurückgekehrt sind,
eine gestaffelte Einmalentschädigung verabschiedet. Die
Höhe der Entschädigung richtet sich nach dem Entlassungsjahr; sie beträgt 500 Euro bei den Entlassungsjahren 1947/48 und 1 000 Euro für die Entlassungsjahrgänge 1949/50. Heimkehrer ab 1951 erhalten eine
Einmalzahlung von 1 500 Euro. Diese Regelungen sollten
nach der alten Gesetzeslage erst am 1. Januar 2009 in
Kraft treten. Dieses späte Inkrafttreten war dem Umstand
geschuldet, dass zum Zeitpunkt der Diskussion des Gesetzes im Herbst 2007 kurzfristig eine verwaltungsmäßige
Umsetzung nicht in Aussicht stand. Gleichzeitig war die
finanzielle Sicherung im Haushaltausschuss für das
Haushaltjahr 2008 durch eine Blockadehaltung unseres
Koalitionspartners nicht sichergestellt.
Doch was nutzt uns der Blick zurück im Zorn. Es wird
mit dem vorliegenden Änderungsgesetz im Ergebnis etwas Positives im Sinne der Betroffenen nun endlich erreicht - und das ist meiner Ansicht nach das Wichtigste.
Das Vorziehen des Inkrafttretenstermins war uns in der
CDU/CSU-Fraktion wegen des hohen Alters der Betroffenen ein besonders wichtiges Anliegen. Auch unter dem
Blickwinkel der Nichtvererbbarkeit des Anspruchs war
für uns der späte Inkrafttretenstermin sehr unbefriedigend.
Mit der Bereitstellung außerplanmäßiger Mittel im
Haushaltsjahr 2008 von voraussichtlich 15,8 Millionen
Euro und im Haushaltsjahr 2009 von rund 1 Million Euro
kann die Entschädigung für die Heimkehrer durch das
Bundesverwaltungsamt in Bonn auch zügig umgesetzt
werden. Schon jetzt haben viele Betroffene bereits vorläufige Anträge gestellt. Leistungsberechtigt sind ehemalige
Kriegsgefangene und Geltungskriegsgefangene, das
heißt Zivilinternierte und Zivilverschleppte, die im unmittelbaren ursächlichen Zusammenhang mit den Kriegsereignissen ein den Kriegsgefangenen vergleichbares
Schicksal erlitten haben. Der Anspruch auf Einmalentschädigung ist weder vererbbar, da das Gesetz an das
Einzelschicksal der Betroffenen anknüpft, noch pfändbar.
Weiterhin wird sie nicht auf einkommensabhängige Sozialleistungen angerechnet.
Zum Schluss möchte ich mich recht herzlich bei den
Abgeordneten bedanken, die seit vielen Jahren dieses offene Problem der Kriegsspätheimkehrer nicht aus dem
Auge verloren haben und immer wieder bereit waren, dafür zu kämpfen. Ein ganz besonderer Dank den Betroffenen, die nach unserem 1. Gesetz sich deutlich zu Wort
meldeten und damit das Vorziehen des Inkrafttretens mit
entscheidend erreichten. Die beschlossene Entschädigung sorgt nun endlich mehr als 60 Jahre nach dem Krieg
dafür, dass die ostdeutschen Kriegsheimkehrer und Zivilverschleppten eine symbolische Anerkennung für ihr erlittenes Schicksal erhalten.
Im November des vergangenen Jahres haben wir mit
dem Gesetz zur Aufhebung der Heimkehrerstiftung als
Art. 3 auch die neue Heimkehrerentschädigung Ost auf
den Weg gebracht. Damals haben wir betont, wie erfreulich diese neue Entschädigungsregelung ist. Von den
Interessenverbänden der Heimkehrer und Kriegsgefangenen, aber auch einzelnen Betroffenen habe ich - wie
sicher viele andere Kollegen - berührende Briefe erhalten, die Dankbarkeit über diese Geste der Wiedergutmachung und Anerkennung schwerer Schicksale bekunden.
Es ist nichts so gut, dass es nicht noch nachgebessert
werden kann. In Anbetracht des hohen Alters und der persönlichen Umstände der Betroffenen sind noch einmal die
Möglichkeiten überprüft worden, die Wartezeit zu verkürzen. Dank der gemeinsamen Anstrengungen und auch
dank der Bemühungen der Finanzpolitiker ist dies nun
gelungen. Zudem begrüße ich, dass unsere Forderung der
Übernahme aller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der
ehemaligen Heimkehrerstiftung in Bonn nun zum 1. Januar 2008 vom Bundesverwaltungsamt positiv umgesetzt
wurde. Ich hoffe, dass die Problematik der Nichtanerkennung der Vorbeschäftigungszeiten aus der Heimkehrerstiftung für diese Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter noch
zu deren Gunsten geklärt werden kann. An dieser Stelle
möchte ich den ehemaligen Beschäftigten der Heimkehrerstiftung für ihre jahrelange Arbeit noch einmal
herzlich danken und ihnen in ihrer neuen Verwendung alles Gute wünschen.
Danken möchte ich ebenfalls meinen Kollegen Günter
Baumann und dem Parlamentarischen Staatssekretär
Bergner. Die gemeinsame Arbeit an der Gesetzgebung
zur Heimkehrerentschädigung Ost war ein gutes Beispiel
einer wirklich konstruktiven Zusammenarbeit im Interesse und zum Nutzen der Betroffenen. Diese erhalten nun
bereits ab dem 1. Juli 2008 statt ab dem 1. Januar 2009
eine entsprechende einmalige Entschädigung zwischen
500 und 1 500 Euro. Mit dieser letzten Änderung kann
nun ein Schlusspunkt gesetzt werden unter die langen Bestrebungen zu einer eigenständigen Entschädigung für
die Kriegsgefangenen, die nach ihrer Gefangenschaft in
den Osten Deutschlands, die DDR, zurückkehrten. Man
kann nicht abstreiten, dass es ein langwieriger Prozess
war, geschuldet auch dem diffizilen Gefüge parteipolitischer Sichtweisen auf die geschichtliche Zusammenhänge. Die Aufarbeitung der Geschichte ist immer ein
sehr komplexer Prozess.
Die Menschen, um die es hier geht, sind in besonders
drastischer Weise betroffen von der deutschen Geschichte
vor und nach dem Zweiten Weltkrieg und zusätzlich von
der deutschen Teilung. Nach den Erschütterungen des
Krieges, an dem sie aktiv beteiligt und in den sie verstrickt waren, gerieten sie in eine unbestreitbar harte Gefangenschaft. Schwere physische Arbeit, Hunger und
Kälte überlebten viele von ihnen nicht. Dazu kam die
Belastung des Gewissens, die Auseinandersetzung mit
möglicher eigener Schuld, mit der Erkenntnis der Verstrickungen in ein verbrecherisches System. Diejenigen, die
nach der Gefangenschaft in die sowjetische Besatzungszone bzw. später in die DDR zurückkehrten, waren mit
diesen Erfahrungen allein und zum Schweigen verurteilt.
Öffentlich darüber zu sprechen, war tabu; auch im Familien- und Freundeskreis gelang dies nur eingeschränkt.
Sie galten a priori als schuldig, bezahlten persönlich den
Preis für die Kriegsverbrechen eines ganzen Systems. Sobald sie über diese Erfahrungen sprechen wollten, unterlagen sie oft dem Vorwurf einer unbilligen Rechtfertigung. Solche Tabuisierungen haben das gesellschaftliche
Klima im Osten Deutschlands Jahrzehnte lang gelähmt
und auch viele andere Menschen haben dort ähnliche Erfahrungen mit diesem erzwungenen Schweigen über offiziell unliebsame Erfahrungen mit der Geschichte gemacht.
Ich freue mich, dass wir diesen Betroffenen über den
Weg der einmaligen materiellen Entschädigung - die
schätzungsweise nach momentanen Erkenntnissen über
20 000 Menschen betrifft - deutlich zeigen können, dass
die Gesellschaft ihr Schicksal anerkennt und würdigt.
Die FDP hatte seinerzeit die Einmalleistung für
Kriegsgefangene und Geltungskriegsgefangene als Symbol der Anerkennung und als Geste der Wiedergutmachung gegenüber ostdeutschen Heimkehrern begrüßt.
Wir waren allerdings nicht damit einverstanden, dass erst
ein sehr spätes Inkrafttreten zum 1. Januar 2009 vorgesehen war. Die FDP-Bundestagsfraktion hatte stattdessen
eine großzügigere Lösung angeregt. Die noch lebenden
ehemaligen Kriegsgefangenen befinden sich nämlich in
einem weit fortgeschrittenen Alter. Ein weiteres Zuwarten
erschien uns daher nicht angebracht. Dies habe ich für
die FDP-Bundestagsfraktion schon in der Plenardebatte
am 8. November 2007 zum Ausdruck gebracht.
Mit dem jetzigen Gesetzentwurf greifen die Koalitionsfraktionen diesen zentralen Kritikpunkt der FDP-Bundestagsfraktion auf.
Dieser Meinungsumschwung innerhalb der Regierungsfraktionen ist zu begrüßen. Wir unterstützen daher
den nunmehrigen Gesetzentwurf der CDU/CSU und der
SPD. Die FDP stimmt daher dem Änderungsgesetz zu.
Mit dem Gesetz zur Aufhebung der Heimkehrerstiftung, deren Zweck in der finanziellen Unterstützung
deutscher Kriegsheimkehrer lag, wurde ein Heimkehrerentschädigungsgesetz beschlossen, mit dem die Befriedigung der noch ausstehenden Anträge durch eine zu beantragende einmalige Zahlung erfolgen soll. Der Termin für
das Inkrafttreten dieses Gesetzes wurde im Aufhebungsgesetz auf den 1. Januar 2009 festgelegt und soll jetzt auf
den 1. Juli 2008 vorgezogen werden. Hiermit soll den
sehr betagten Anspruchsberechtigten eine unnötig lange
Wartefrist erspart werden. Folge ist ein außerplanmäßiger Mittelbedarf im Haushalt 2008 von 15,8 Millionen
Euro, der entsprechend 2009 eingespart wird.
Die Linke hat der Aufhebung der Heimkehrerstiftung
zugestimmt und stimmt deshalb selbstverständlich auch
dem Änderungsgesetz zu.
Zu Protokoll gegebene Reden
Mit dem heute zu beschließenden Gesetz kommt ein
Vorhaben zu einem guten Ende, das in seinem Ablauf min-
destens unverständlich zu nennen ist.
Die Große Koalition hatte ursprünglich vorgeschla-
gen, die Heimkehrerstiftung aufzuheben. Die Stiftung half
Menschen, die nach dem Zweiten Weltkrieg - oft erst nach
Jahren - aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt
waren, mit Einmalzahlungen im Bedarfsfall und vor al-
lem auch mit Ergänzungsleistungen zur Rente. Das war
nötig, weil die Betroffenen durch die Gefangenschaft na-
türlich keine Möglichkeit hatten, in Deutschland zu
arbeiten und damit ein Vermögen aufzubauen und Ren-
tenanwartschaften zu erwerben. Die von der Stiftung Un-
terstützten waren also in den allermeisten Fällen sehr
alte Menschen in schlechter wirtschaftlicher Lage.
Warum diesen Menschen nun nicht mehr länger gehol-
fen werden sollte, bleibt das Geheimnis der Bundesregie-
rung. Die Leistungen nach dem Stiftungsgesetz hätten bis
Ende 2009 noch etwa zehn Millionen Euro Haushaltsmit-
tel erfordert. Danach wäre über einen Zeitraum von noch
einmal höchstens zehn Jahren eine weitere, aber kleinere
Summe erforderlich gewesen. Das ist auch nicht kein
Geld, aber bei so einer Summe muss man schon sagen:
Ein kleiner, ein kleinster Schritt für den Bundesfinanzmi-
nister. Aber eben ein großer Einschnitt für den einzelnen
Leistungsempfänger.
Bis dahin handelte es sich also um ein sinnloses Gesetz
mit einem angemessenen Titel.
Nach langer Diskussion, heftigem Protest der Betrof-
fenen, verschiedener Sozialverbände und der Opposi-
tionsfraktionen hat die Koalition dann in letzter Minute
ihre Pläne geändert. Es bleibt bei den Rentenzusatzleis-
tungen, und es wird auch - endlich - eine Leistung für
diejenigen Spätheimkehrer eingeführt, die in die heutigen
neuen Bundesländer zurückgekehrt waren. Damit wird,
wenn auch in kleinem Umfang, einer oft besonders be-
dürftigen Gruppe von Menschen nach Jahrzehnten end-
lich geholfen.
Diese Änderungen haben wir begrüßt und unterstützt,
denn statt dem Motto „Haushaltskonsolidierung ist an-
gewandte Knauserigkeit“ galt nun wieder das Prinzip
Augenmaß. Damit hatten wir nun ein angemessenes Ge-
setz mit einem sinnlosen Titel, denn aufgehoben wird ja
nun nicht mehr.
Es blieb noch ein Problem, das wir nun heute lösen
wollen: Die Entschädigung für die Heimkehrer in die
neuen Bundesländer sollte am 1. Januar 2009 beginnen
können. Das ist angesichts des Alters der Betroffenen
reichlich spät. Denn wenn man Menschen, die ja zumeist
in den 1910er- und 1920er-Jahren geboren sind, helfen
will, dann sollte man nicht bis zu ihrem 99. Geburtstag
warten.
Ein sachlicher Grund für diesen Termin war auch
nicht erkennbar, also hat die Koalition nun die nächste
Änderung vorgelegt. Damit wird der Beginn der Entschä-
digung auf den 1. Juli dieses Jahres vorgezogen, Anträge
können schon jetzt formlos gestellt werden. Das ist gut
und richtig so, deshalb unterstützen wir dieses Anliegen.
Damit wäre dann auch dieser handwerkliche Fehler aus-
gebügelt.
Dr. Christoph Bergner, Parlamentarischer Staats-
sekretär beim Bundesminister des Innern:
Der Deutsche Bundestag hat im vergangenen Novem-
ber in zweiter und dritter Lesung das Heimkehrer-
stiftungsaufhebungsgesetz beschlossen. Art. 3 dieses
Gesetzes beinhaltet das Gesetz über eine einmalige Ent-
schädigung an die Heimkehrer aus dem Beitrittsgebiet.
Als Anerkennung ihres Leidens und als Geste der Wieder-
gutmachung sieht das Heimkehrerentschädigungsgesetz
eine nach Dauer der Kriegsgefangenschaft gestaffelte
Einmalleistung an Kriegs- und Geltungskriegsgefangene
vor. Die in die SBZ bzw. DDR heimgekehrten Kriegs- und
Geltungskriegsgefangenen erhalten danach endlich eine
Leistung, die der in den westlichen Bundesländern ge-
währten Kriegsgefangenenentschädigung vergleichbar
ist. Darüber dürfen sich die in das Gebiet der SBZ bzw.
ehemaligen DDR aus der Kriegsgefangenschaft Heimge-
kehrten freuen. Die geschaffene Regelung soll zur Gleich-
behandlung mit den in die alten Bundesländer Heimge-
kehrten beitragen.
Dabei geht es um unser grundsätzliches Verständnis
bei der Aufarbeitung der Folgen des Zweiten Weltkrieges
und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Für
die Bundesrepublik Deutschland ging es dabei neben der
Aussöhnung und Wiedergutmachung gegenüber den Op-
fern des nationalsozialistischen Völkermordes und der
Hitler’schen Aggressionskriege immer auch um die Soli-
darität unter den Deutschen, die von den Folgen des
Krieges oft sehr unterschiedlich betroffen waren.
So haben die Spätheimkehrer in Arbeitslagern und an
anderen Einsatzorten meist schwerste Arbeit unter teil-
weise furchtbaren Umständen leisten müssen. Sie haben
damit seinerzeit die Folgen der katastrophalen Politik des
nationalsozialistischen Deutschlands in besonderer
Weise tragen und an ihnen leiden müssen. Man kann sa-
gen: Sie haben oft stellvertretend für andere Lasten der
deutschen Geschichte auf sich nehmen müssen und sind
im Westen Deutschlands deshalb auch nach dem Kriegs-
gefangenenentschädigungsgesetz entschädigt worden.
Die DDR sah keine Verpflichtung für staatliche Soli-
daritätsleistungen gegenüber Spätheimkehrern. Der
SED-Staat ignorierte die individuelle Betroffenheit und
überließ es allein der Zufälligkeit unterschiedlicher
Schicksalswege, wenn es darum ging, Kriegsfolgen zu be-
wältigen. Dies muss und soll für die Spätheimkehrer end-
lich korrigiert werden. Wir beenden also ein ideologisch
geprägtes Missverständnis der DDR, wenn wir uns für
die Heimkehrerentschädigung Ost entscheiden und damit
anerkennen, dass diese Kriegsgefangenen mit ihrer lan-
gen Gefangenschaft eine Leistung stellvertretend für das
ganze deutsche Volk erbringen mussten.
Dabei ist bis zu dieser Entscheidung bereits viel Zeit
vergangen. Es war nun die letzte Gelegenheit, die Heim-
kehrerentschädigung zusammen mit der Aufhebung der
Heimkehrerstiftung zu beschließen. Denn die Vorge-
schichte des Heimkehrerentschädigungsgesetzes zeigt,
dass sonst wohl bis heute keine entsprechende Regelung
zustande gekommen wäre. Schließlich hatten gleichge-
richtete Initiativen der CDU/CSU-Fraktion und des Bun-
desrats in der 14. und 15. Legislaturperiode keinen Er-
folg. Aber: Das Heimkehrerentschädigungsgesetz würde
Zu Protokoll gegebene Reden
Dr. Christoph Bergner, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Innern
nach bisheriger Rechtslage erst am 1. Januar 2009 in
Kraft treten. Damit können die Ostheimkehrer nicht zu-
frieden sein. Damit wollten sich auch die Koalitionsfrak-
tionen nicht abfinden.
Der entsprechende Gesetzesbeschluss Ende letzten
Jahres war zwar richtig, um eine Entschädigung der
Ostheimkehrer auf den Weg zu bringen. Er konnte seiner-
zeit auch nicht günstiger gefasst werden, weil in der kur-
zen, nach den Beratungen Ende des vergangenen Jahres
zur Verfügung stehenden Zeit weder die personellen Vo-
raussetzungen für die Auszahlung der Entschädigung
durch das Bundesverwaltungsamt zum 1. Januar 2008
sichergestellt noch die entsprechenden Haushaltsmittel
bereitgestellt werden konnten. So wenig wie deshalb da-
mals ein früherer Inkrafttretenstermin festgeschrieben
werden konnte, so wenig befriedigend war und ist diese
Situation für die Ostheimkehrer. Dass ein Heimkehrer fast
60 Jahre nach Ende der Kriegsgefangenschaft noch auf
eine endlich beschlossene symbolische Entschädigung
warten soll, war nicht vermittelbar. Angesichts ihres ho-
hen Alters besteht bei dem späten Inkrafttretenstermin zu-
dem die Gefahr, dass die Berechtigten die Auszahlung der
Entschädigung nicht mehr erleben.
Deshalb haben die Bundesregierung und die Koali-
tionsfraktionen gehandelt: die Bundesregierung, indem
sie die verfahrensmäßigen Voraussetzungen für einen Be-
ginn der Auszahlungen zur Mitte dieses Jahres geschaffen
hat, die Koalitionsfraktionen, indem sie mit dem heute ab-
schließend beratenen Entwurf eines Änderungsgesetzes
eine Vorverlegung des Termins des Inkrafttretens des
Heimkehrerentschädigungsgesetzes auf den 1. Juli 2008
bestimmen. Das ist zu begrüßen.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Innenausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 16/9318, den Gesetzentwurf der Fraktionen der
CDU/CSU und SPD auf Drucksache 16/9058 anzuneh-
men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zu-
stimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstim-
men? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in
zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses
angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzent-
wurf ist auch in dritter Beratung mit den Stimmen des
ganzen Hauses angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 26 a und 26 b auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung haftungsrechtlicher Vorschriften des
Atomgesetzes und zur Änderung sonstiger
Rechtsvorschriften
- Drucksache 16/9077 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Protokollen vom 12. Februar 2004 zur Änderung
des Übereinkommens vom 29. Juli 1960 über
die Haftung gegenüber Dritten auf dem Gebiet
der Kernenergie in der Fassung des Zusatzprotokolls vom 28. Januar 1964 und des Protokolls vom 16. November 1982 und zur
Änderung des Zusatzübereinkommens vom
31. Januar 1963 zum Pariser Übereinkommen
vom 29. Juli 1960 über die Haftung gegenüber
Dritten auf dem Gebiet der Kernenergie in der
Fassung des Zusatzprotokolls vom 28. Januar
1964 und des Protokolls vom 16. November
1982 ({1})
- Drucksache 16/9078 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({2})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden der folgenden Kolleginnen und Kollegen:
Dr. Georg Nüßlein, CDU/CSU, Christoph Pries, SPD,
Angelika Brunkhorst, FDP, Hans-Kurt Hill, Die Linke,
Sylvia Kotting-Uhl, Bündnis 90/Die Grünen.
Eine verantwortungsvolle Energiepolitik wird eine der
großen politischen Aufgaben in den nächsten Jahren und
Jahrzehnten sein. Die heute im Plenum zu behandelnden
Gesetzesvorlagen, den haftungsrechtlichen Schutz im Bereich Kernenergie betreffend, sind ein wichtiger Teil einer
verantwortungsbewussten Energiepolitik.
Der Aspekt der Haftung ist in der Kette einer verantwortungsbewussten Energiepolitik ein wichtiges, wenn
auch mehr juristisches und letztes Glied. Ich möchte die
Gelegenheit nutzen, auch außerhalb des Haftungsrechts
eine verantwortungsbewusste Energie- und Umweltpolitik abzustecken, um dann auf die Kettenglieder Sicherheit
und Haftung zurückzukommen.
Die Unwägbarkeiten bei der Energielieferung und die
rasant gestiegenen Energiepreise sind mir, wie Ihnen,
hinlänglich bekannt. Die Notwendigkeit der Klimaschutzziele ist unbestritten. Es stellt sich die Frage: Können wir
vor diesem Hintergrund am anvisierten Ausstieg aus der
Kernenergie festhalten, oder brauchen wir Laufzeitverlängerungen, weil wir auf die Kernenergie als Brückentechnologie in einen neuen Energiemix nicht verzichten
können?
Nach jetziger Lage sollen bis spätestens 2023 alle
17 Kernkraftwerke vom Netz und 21 000 Megawatt Leistung ersetzt werden. Gleichzeitig müssen die Treibhausgase drastisch reduziert werden, damit der Klimawandel
und seine Folgen beherrschbar bleiben. Dabei ist unstreitig: Nationale Anstrengungen sind nicht genug. Die Klimaschutzziele Europas sind nur ein erster wegweisender
Ansatz: Die Treibhausgasemissionen müssen gesenkt, der
Anteil der erneuerbaren Energien erhöht und die Energieeffizienz gesteigert werden.
Wenn wir dabei in Deutschland unser ehrgeiziges Ziel
schaffen, bis zum Jahr 2020 rund 30 Prozent unseres
Strombedarfs aus erneuerbaren Energiequellen zu decken: Wo kommen die übrigen 70 Prozent her? Wer jetzt
mit dem Argument der Effizienzgewinne kommt, kann
nicht Prozentrechnen. Wenn ich von 70 Prozent des
Strombedarfs spreche, dann ist der Effizienzgewinn vorher bereits abgezogen.
Hier spreche ich auch und speziell den Bereich der
Grundlast an. Die Kernenergie leistet in Deutschland
fast die Hälfte der Grundlastversorgung. Entweder: Wir
setzen im Bereich der grundlastfähigen Stromversorgung
fossile Energieträger ein, und das bedeutet einen erheblichen zusätzlichen CO2-Ausstoß. Oder: Deutsche Stromverbraucher beziehen in absehbarer Zeit teueren Atomstrom aus dem Ausland.
Vor diesem Hintergrund sage ich: Wir brauchen die
Kernenergie als Brückentechnologie auf dem Weg zu einem neuen Energiemix; denn es ist die verantwortliche
Aufgabe der Politik, dass wir Wirtschaftlichkeit und
Wachstum mit Ressourcenschonung und Klimaschutz verbinden.
An dieser Stelle will ich ankündigungsgemäß überleiten zum Thema Sicherheit und Haftung. Die deutschen
Kernkraftwerke zählen weltweit unstreitig zu den Sichersten. Alle in Deutschland betriebenen Kernkraftwerke
werden stets dem aktuellen Stand der Sicherheit angepasst. Den gilt es zu exportieren. Das kann aber nur, wer
die Technik im eigenen Land einsetzt und an andere verkauft.
Und: Dieser Hightech-Sicherheitsstandard, den
Deutschland marktbeherrschend und kontinuierlich weiterentwickelt, der muss beibehalten werden; denn weltweit wird in mehr als 30 Ländern Kernenergie genutzt,
und international ist im Bereich der Kernenergie ein steter Ausbau zu verzeichnen. Auch vor diesem Hintergrund
ist der heute vorgesehene Finalausstieg Deutschlands
nicht sinnvoll, denn im Bereich der Kernenergie brauchen wir zwingend über die nationalen Grenzen hinaus
den hohen deutschen Sicherheitsanspruch.
Neben dieser technologischen Sicherheit steht der haftungsrechtliche Teil der Sicherheit: Das Atomhaftungsrecht ist ein von internationalen Übereinkommen geprägtes Rechtsgebiet. Die alsbald nach Ende des Zweiten
Weltkriegs einsetzende Nutzung der Atomkraft für friedliche Zwecke, namentlich zur Energieerzeugung, warf unmittelbar die Frage nach einem angemessenen Haftungsregime für nukleare Unfälle auf. Im Laufe der Jahrzehnte
entwickelte sich ein immer effektiveres, an den besonderen Risiken der Atomenergie und den Erfordernissen des
Opferschutzes orientiertes Haftungsregime.
Regelungsgegenstand der uns heute vorliegenden Gesetzesentwürfe ist es, die Änderungsprotokolle zum Pariser
Übereinkommen und zum Brüsseler Zusatzübereinkommen
zu ratifizieren sowie die entsprechende Umsetzung in nationales Recht vorzunehmen. Ziel der Überarbeitung dieser internationalen Übereinkommen war die Verbesserung einer multilateralen Haftungsgrundlage für
nukleare Schäden.
Wichtige bereits bestehende Haftungsgrundsätze im
Falle eintretender nuklearer Schäden sind dabei beibehalten worden, so etwa die Gefährdungshaftung des Inhabers
einer Kernanlage oder der Grundsatz der Gleichbehandlung aller Geschädigten, unabhängig von Staatsangehörigkeit oder Wohnort.
Die heute in Rede stehende Neuregelung war auch und
gerade vor dem Hintergrund notwendig geworden, dass
in einigen Vertragsstaaten noch immer verhältnismäßig
niedrige Haftungshöchstgrenzen bestanden haben. Neue
Regelungsinhalte zur Verbesserung der Schadensausgleichssituation sind demzufolge unter anderem die Erhöhung der Haftung des Inhabers einer Kernanlage um
ein Mehrfaches auf einen Mindestbetrag von 700 Millionen Euro, die ausdrückliche Zulassung der unbegrenzten
Haftung des Inhabers einer Kernanlage, und die Anhebung
der Mindesthaftung im Bereich der Transporte nuklearen
Materials. Darüberhinaus wurde etwa der territoriale
Anwendungsbereich des Übereinkommens erweitert und
eine Regelung zum Staatenklagerecht aufgenommen.
Auf dieser Basis konnte das Nuklearhaftungsniveau
angehoben und eine international harmonisierte Verbesserung des haftungsrechtlichen Schutzes auf dem Gebiet
der Kernenergie erfolgen.
Wir debattieren heute zwei Gesetzentwürfe im Bereich
des internationalen Atomhaftungsrechts. Zum einen geht
es um die Ratifizierung der Protokolle vom 12. Februar
2004 zur Änderung des Pariser Übereinkommens und des
Brüsseler Zusatzübereinkommens zur Haftung gegenüber
Dritten auf dem Gebiet der Kernenergie, die sogenannten
Pariser Atomhaftungsprotokolle. Zum anderen geht es
um die Umsetzung der Pariser Atomhaftungsprotokolle in
nationales Recht.
Beide Gesetzentwürfe dürften auf eine breite Zustimmung im Deutschen Bundestag stoßen, denn sie enthalten
substanzielle Verbesserungen im internationalen Haftungsrecht im Falle eines nuklearen Schadens. Daran ist
uns allen gelegen.
Bereits seit Beginn der Nutzung der Atomenergie zur
Erzeugung von Elektrizität in den 1950er-Jahren stellte
sich die Frage nach einem angemessenen Haftungsregime für nukleare Unfälle. Aufgrund des Ausmaßes und
des potenziell grenzüberschreitenden Charakters nuklearer Ereignisse und Schäden war man sich bereits früh
darüber im Klaren, dass es der internationalen Kooperation auf diesem Gebiet bedürfe. Das auf Europa begrenzte
Pariser Übereinkommen über die Haftung gegenüber
Dritten auf dem Gebiet der Kernenergie von 1960, ergänzt durch das Brüsseler Zusatzübereinkommen von
1963, und das weltweit angelegte Wiener Übereinkommen über die Haftung für nukleare Schäden im Rahmen
der Internationalen Atomenergie-Organisation aus demselben Jahr bilden bis heute die Grundlage des internationalen Atomhaftungsrechts. Die lange Zeit bestehende und
kritisierte wechselseitige Exklusivität des Pariser und
Zu Protokoll gegebene Reden
Wiener Übereinkommens konnte 1988 durch ein gemeinsames Protokoll überwunden werden.
Darüber hinaus wurden die Regelungen der beiden
Übereinkommen aber in drei Bereichen als unzureichend
empfunden: erstens, die zu geringen Haftungssummen
und deren Begrenzung; zweitens, der unzureichende Opferschutz aufgrund des beschränkten Anwendungsbereiches der Übereinkommen; drittens, der dem modernen
Umweltrecht nicht mehr entsprechende enge Schadensbegriff.
Vor diesem Hintergrund nahmen Anfang 1998 die damals 14 Vertragsstaaten des Pariser Übereinkommens im
Rahmen einer Arbeitsgruppe die Verhandlungen zur Revision des Übereinkommens auf. Dies war auch deshalb
nötig, weil 1997 das Wiener Atomhaftungsübereinkommen grundlegend revidiert worden war. Die jetzt zur Ratifizierung und Umsetzung vorliegenden Änderungsprotokolle zum Pariser Übereinkommen und Brüsseler
Zusatzübereinkommen wurden am 12. Februar 2004 in
Paris unterzeichnet.
Die Pariser Atomhaftungsprotokolle bedeuten: eine
Verbesserung des Opferschutzes, eine Erhöhung der zur
Verfügung stehenden Haftungssummen, eine territoriale
Ausdehnung der Haftung, eine Erweiterung des Kreises
der ersatzfähigen Schäden und eine Wiederherstellung
der weitgehenden Parallelität der Bestimmungen des regionalen Pariser/Brüsseler mit dem globalen Wiener
Atomhaftungsabkommen.
Im Detail möchte ich auf drei Punkte eingehen, die aus
unserer Sicht besonders erfreulich sind:
Erstens. Der territoriale Anwendungsbereich des
Übereinkommens wurde deutlich erweitert. Die Neufassung trägt den Anliegen der Nichtatomstaaten - zum Beispiel Österreich oder die Republik Irland - Rechnung, da
das Übereinkommen nun automatisch auch für nukleare
Schäden in diesen Ländern gilt. Bisher war die Ausweitung des Übereinkommens auf Nichtvertragsstaaten in
das Ermessen der Vertragsparteien gestellt. Die Bundesrepublik Deutschland hat von dieser Möglichkeit bereits
Gebrauch gemacht und den Geltungsbereich des Übereinkommens entsprechend ausgedehnt.
Zweitens. Der Begriff des nuklearen Schadens wurde
deutlich erweitert. Durch die Aufnahme der Kosten zur
Wiederherstellung geschädigter Umwelt wurde eine Anpassung des Pariser Übereinkommens an das moderne
Umwelthaftungsrecht vollzogen.
Drittens. Die Haftungssummen wurden deutlich angehoben und die Haftungshöchst- zu Referenzbeträgen umgewandelt. Die Haftungshöchstbeträge von rund 15 Millionen Euro nach dem Pariser und 300 Millionen Euro
nach dem Brüsseler Übereinkommen werden auf
700 Millionen Euro bzw. 1,5 Milliarden Euro angehoben.
Dabei handelt es sich nicht mehr um Höchst-, sondern um
Mindesthaftungssummen. Das bedeutet: Die im deutschen Atomgesetz seit 2002 bereits umgesetzte Festsetzung einer unbegrenzten Haftung der Anlagenbetreiber
ist somit mit dem Übereinkommen vereinbar.
Insgesamt bleibt festzuhalten: Die Pariser Atomhaftungsprotokolle stellen eine deutliche Verbesserung im
Bereich der internationalen Atomhaftung dar. Die materiellen Auswirkungen des Übereinkommens auf Deutschland bleiben durch die 2002 eingeführten weiter gehenden nationalen Haftungsregelungen des Atomgesetzes
begrenzt. Dass die Pariser Atomhaftungsprotokolle auch
mehr als vier Jahre nach der Unterzeichnung bisher von
keiner der 15 Vertragsparteien ratifiziert wurde, ist allerdings bedauerlich. Ich hoffe daher, dass Deutschland wie
bei der Ausgestaltung auch bei der Ratifizierung der Pariser Atomhaftungsprotokolle eine Vorreiterrolle übernimmt.
Die FDP-Bundestagsfraktion kritisiert die heute debattierten Gesetzentwürfe der Bundesregierung in Teilen,
stimmt ihnen in der Summe aber zu.
Die deutliche Erhöhung der Haftungshöchstsummen
für alle Beteiligten, für die Betreiber kerntechnischer Anlagen, die einzelnen Vertragsstaaten sowie für die Gemeinschaft der Vertragsstaaten, begrüßen wir ausdrücklich. Ebenso begrüßen wir, dass die betroffenen Bürger im
Fall eines nuklearen Ereignisses umfassender entschädigt werden, insbesondere dann, wenn die fragliche Anlage im benachbarten Ausland liegt.
Wir schließen uns allerdings der Kritik des Bundesrates an, die die Bundesregierung zurückgewiesen hat.
Der Bundesrat hatte der Bundesregierung empfohlen,
Art. 3 und 4 und in der Folge davon Art. 5 Abs. 2 zu streichen. Damit hat sich der Bundesrat dagegen ausgesprochen, das Bundesamt für Strahlenschutz in die Lage zu
versetzen, künftig auch von Bund, Ländern, Gemeinden
und bestimmten juristischen Personen des öffentlichen
Rechts sowie von gemeinnützigen Forschungseinrichtungen Gebühren zu erheben. Die Bundesregierung ist dieser
Empfehlung bedauerlicherweise nicht gefolgt.
Wir reden hier über Einnahmen von etwa 350 000 Euro
pro Jahr. Dieses Geld soll nun also den kerntechnischen
Forschungseinrichtungen weggenommen und an das
Bundesamt für Strahlenschutz überwiesen werden. Unsere - sowieso schon chronisch unterfinanzierten - Forschungseinrichtungen benötigen dieses Geld dringend,
um ihre internationalen hohen Standards zu halten.
Die Bundesregierung bringt hier in einem Artikelgesetz, das eigentlich nur der Umsetzung internationaler
Abkommen dient, eine Regelung unter, die die nuklearen
Forschungseinrichtungen belastet. Das hat mit dem eigentlichen Anlass des Gesetzes nichts zu tun, sondern ist
eine reine Schikane, als deren Hintergrundmotiv man getrost die allgemeine Feindseeligkeit der Bundesregierung
gegenüber der Kernenergie unterstellen darf. Wie verträgt sich dieser Winkelzug eigentlich mit den Beteuerungen aus dem für Forschung zuständigen Ministerium?
Gerade mal ein paar Wochen ist es her, dass der im
BMBF zuständige Staatssekretär Meyer-Krahmer sich öffentlich damit gebrüstet hat, steigende Fördermittel würden dafür sorgen, dass Arbeiten zur Strahlenforschung
und zur nuklearen Sicherheitsforschung weitergehen und
dass die Kompetenz im Bereich nukleare Sicherheit in
Zu Protokoll gegebene Reden
Deutschland erhalten bleibt. Und nun das. Sie führen die
Menschen hinters Licht und glauben allen Ernstes, die
Menschen würden es nicht merken. Die FDP wird zu derartigen Mätzchen jedenfalls nicht schweigen, auch wenn
dies natürlich nicht Grund genug ist, um so wichtige Gesetze abzulehnen. Ein Verstoß gegen die „gesetzgeberische Hygiene“ ist es aber dennoch. Es sind Mätzchen, die
- wie gesagt - absolut nichts mit dem eigentlichen Anlass
des Gesetzes zu tun haben.
Deutschland darf seine Führungsrolle in der kerntechnischen Forschung nicht durch bisher unübliche Zusatzbelastungen behindern - im Sinne der Sicherheit vorhandener und künftiger Anlagen, der Nichtverbreitung, der
Behandlung radioaktiver Abfälle und der Stilllegung ausgedienter kerntechnischer Anlagen. Dass die Bundesregierung mit den hier debattierten Gesetzentwürfen unter
anderem auch kerntechnischen Forschungseinrichtungen finanziell das Leben schwerer machen will, wundert
allerdings nicht. Es passt vielmehr zum sozialdemokratischen Starrsinn und zum Stillschweigen der CDU/CSU
bezüglich der Kernenergie. Wie erbärmlich, meine Damen und Herren Kollegen von der Union, wie erbärmlich
und unehrlich!
Aus europäischer Sicht verheißt die heutige deutsche
Haltung nichts Gutes. Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ schrieb am 19. Mai 2008: Wie ein Spaltpilz wirkt in
der deutsch-französischen Energiepolitik der von der rotgrünen Koalition unter Bundeskanzler Schröder beschlossene „Atomausstieg“ nach. Leider hat sie damit
vollkommen recht.
Die FDP-Bundestagsfraktion kritisiert die vorgelegten
Gesetzentwürfe in Teilen, befürwortet aber die Umsetzung internationaler Abkommen auf nationaler Ebene.
Wir stimmen den Gesetzentwürfen der Bundesregierung
daher zu.
Mit der Vorlage der Bundesregierung sollen die Haftungssummen für Atomtransporte und bestimmte Atomanlagen neu festgelegt und EU-weit vereinheitlicht werden. Außerdem kann das Bundesamt für Strahlenschutz
zukünftig Kosten für Verwaltungsaufgaben bei den Betreibern der Atomanlagen in Rechnung stellen. Das ist zunächst zu begrüßen, denn es ist nicht gerechtfertigt, dass
die Bürgerinnen und Bürger die Kosten der gefährlichen
Atomenergie durch die Hintertür bezahlen.
Bei genauerem Hinsehen entpuppt sich der Entwurf
aber als Luftnummer. Die Mindesthaftung bei Atomtransporten soll 80 Millionen Euro betragen. Bei einem Unfall
mit abgebranntem Nuklearmaterial wird diese Summe
nicht einmal im Ansatz reichen. Die Summe müsste um
das Einhundertfache erhöht werden, um den Folgen eines
Schadensfalls ernsthaft gewachsen zu sein.
Gleichzeitig klammert die Änderung des Atomgesetzes
eine längst überfällige Haftungsreglung für deutsche
Atomkraftwerke aus. Die Bundesregierung hält es
schlicht nicht für nötig, das Kassemachen der Atomkonzerne auf Kosten der Bürgerinnen und Bürger zu beenden. So heißt es im Gesetzentwurf, die Änderung „erfordert keine inhaltlichen Anpassungen des nationalen
Rechts“.
Damit wir uns richtig verstehen: Die Energiebosse haben für ihre Atomkraftwerke jeweils eine Haftungsbegrenzung von 2,5 Milliarden Euro. Die Folgekosten eines
Kernschmelzeunfalls werden aber mit 500 Milliarden bis
5 Billionen Euro angegeben. Ungeheure Summen würden
im Ernstfall auf die Allgemeinheit abgewälzt. Das würde
auch die deutsche Volkswirtschaft für längere Zeit lähmen.
So etwas ist nicht hinnehmbar und verdeckt die tatsächlichen Kosten der Atomenergienutzung. Diese rechnet sich für die Anlagenbetreiber doch nur, weil die enormen Zusatzkosten und Risiken auf die öffentliche Hand
abgewälzt werden. Bezieht man die sozialen, ökologischen und gesundheitlichen Risiken in die Stromrechnung
mit ein, würde Atomstrom je Kilowatt nicht zwei Cent,
sondern zwei Euro kosten.
Damit ist klar: Atomenergie ist unwirtschaftlich, gefährlich und nicht beherrschbar, ganz abgesehen davon,
dass die Frage der Endlagerung hochradioaktiver Stoffe
wohl nie abschließend geklärt werden kann.
Die Linksfraktion fordert die Bundesregierung deshalb auf, die Haftungsfrage auch in Deutschland mit der
vorliegenden Gesetzesvorlage neu zu regeln. Man muss
schließlich auch zur Kenntnis nehmen, dass die Energiekonzerne mit jedem der maroden Atomblöcke pro Jahr
mindestens 300 Millionen Euro Profit machen. Die wahren Kosten der Atomenergie müssen endlich offengelegt
werden. Letztendlich muss die Konsequenz aber lauten:
Raus aus der gefährlichen Atomenergie, so schnell wie
möglich.
Im Rahmen der internationalen Verhandlungen zur
Verbesserung der Haftung bei Atomunfällen ist im Februar 2004 das Pariser Abkommen vereinbart worden.
Heute debattiert der Bundestag die Übernahme dieser
Regelungen ins deutsche Atomgesetz. Wir Grüne haben
die Nutzung der Atomkraft stets abgelehnt, weil ihre Gefahr für Mensch und Umwelt zu groß ist. Deshalb begrüßen wir im Grundsatz die Präzisierung im Gesetzentwurf,
wonach zukünftig allein die Inhaber von Atomanlagen
- das sind die großen Energiekonzerne - für Schäden haften müssen. Ausdrücklich ist vorgesehen, dass der Staat
den betreffenden Konzern dazu heranziehen kann, unbegrenzt zu haften. Die bisher gültigen, viel zu niedrigen
Haftungsobergrenzen werden abgeschafft. Eine unbegrenzte Haftung entspricht unserer grünen Überzeugung,
dass Betreiber von Atomanlagen bei einem Atomunfall
voll in die Verantwortung genommen werden müssen, so
wie sie ja auch die Gewinne aus dem Atomstromverkauf
voll abschöpfen.
Angesichts der Verwüstungen, die durch einen größten
anzunehmenden Unfall eines AKW im dichtbesiedelten
Deutschland entstehen würden, muss ich allerdings feststellen, dass die weiterhin bestehende garantierte Deckungssumme von 2,5 Milliarden Euro dazu in krassem
Missverhältnis steht. Im Wirtschaftsleben ist es gängige
Praxis, dass ein Unternehmen eine betriebliche RisikoZu Protokoll gegebene Reden
vorsorge zu treffen hat, die sich in der Größenordnung
des tatsächlich möglichen Schadens bewegt. Das gilt beispielsweise auch beim Bau einer Windkraftanlage. Es ist
kaum vermittelbar, dass ausgerechnet die Risikotechnologie Atomkraft von diesem Prinzip ausgenommen ist.
Die Umweltverbände und die Ärzte gegen den Atomkrieg
sprechen an diesem Punkt von einer Subventionierung,
die die Politik der Atomwirtschaft trotz ihrer exorbitanten
Gewinne gewährt. Der Zusammenhang ist darin begründet, dass auch die unzureichende Verpflichtung zur Schadensvorsorge dazu führt, dass sich die Stromproduktionskosten für die Atomlobby derart günstig darstellen. Das
Prognos-Institut hat ermittelt, dass ein GAU Schäden in
Höhe von etwa 5 000 Milliarden Euro verursachen
würde. Das entspricht dem 20-fachen Wert des Bundeshaushalts und übertrifft die Deckungsvorsorge um den
2 500-fachen Faktor. Angesichts dieser Zahlen wird deutlich: Selbst aus rein fiskalischer Betrachtung ist das Risiko der Atomkraft zu hoch, von den menschlichen Tragödien gar nicht zu reden.
Erfinder- und Ingenieursgeist hat die Alternativen zur
Atomstromproduktion längst hervorgebracht. Deutschland gehört zu den führenden Exporteuren der Technologien für erneuerbare Energien. Tausende von neuen Arbeitsplätzen wurden in den vergangenen Jahren
geschaffen. Trotzdem wollen uns die Energiekonzerne
weismachen, dass der Übergang in das postfossile Energiezeitalter nicht ohne die Verlängerungen der Laufzeiten
der Atomkraftwerke zu bewerkstelligen sei. Diese Behauptung ist falsch und lenkt von den eigentlichen Zukunftsaufgaben ab: Es muss vermehrt darum gehen, dass
die Politik die Vorsorge gestaltet, dass die zahlreichen Risiken, die die zunehmende Industrialisierung mit sich
bringt, möglichst minimiert werden. Am Atomausstieg
muss festgehalten werden.
Für die Haftungsregelungen im AtG fordern wir eine
deutliche Erhöhung der garantierten Deckungsvorsorge.
Die garantierte Deckung im Promillebereich eines möglichen Schadens ist nicht hinnehmbar. Tatsächlich müsste
das gesamte Risiko versichert werden. Bekanntermaßen
ist dazu keine Versicherung bereit. In einem Staat, der
Vorsorge ernst nimmt, müsste im Prinzip gelten, dass ein
Risiko, das nicht versichert werden kann, gesellschaftlich
nicht tragfähig ist. Zumindest ist es an der Zeit, die Organisationsstruktur der finanziellen Vorsorge zu verändern.
Wir sind der Ansicht, dass diese Geldmittel unter staatliche Kontrolle gestellt werden sollten. Die politisch Verantwortlichen sind dann in der Pflicht, zu entscheiden,
wie mit den Geldern zu verfahren ist. Sinnvoll ist die Einrichtung einer Stiftung oder eines Fonds, die aus den Zinsen der Einlagen die Entwicklung sicherer, unbedenklicher Energieformen fördern.
Unsere Mindestforderungen sind: deutliche Anhebung
der Deckungsvorsorge, staatliche Kontrolle der Vorsorgegelder und Investition der Zinserträge in unbedenkliche Zukunftsenergien.
Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 16/9077 und 16/9078 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das
ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 sowie Zusatzpunkt 6 auf:
27 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({0})
zu dem Antrag der Abgeordneten Sibylle Pfeiffer,
Dr. Christian Ruck, Dr. Wolf Bauer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie
der Abgeordneten Dr. Wolfgang Wodarg,
Dr. Sascha Raabe, Gregor Amann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Deutschlands globale Verantwortung für die
Bekämpfung vernachlässigter Krankheiten Innovation fördern und Zugang zu Medikamenten für alle sichern
- Drucksachen 16/8884, 16/9320 Berichterstattung:
Abgeordnete Sibylle Pfeiffer
Dr. Karl Addicks
Ute Koczy
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Karl
Addicks, Hellmut Königshaus, Cornelia Pieper,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Tropische Armutskrankheiten stärker in der
deutschen Entwicklungszusammenarbeit berücksichtigen - Forschungsanstrengungen ausweiten
- Drucksache 16/9309 Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Sibylle
Pfeiffer, CDU/CSU, Dr. Wolfgang Wodarg, SPD,
Dr. Karl Addicks, FDP, Monika Knoche, Die Linke, und
Ute Koczy, Bündnis 90/Die Grünen.
Als wir diesen Antrag vor vier Wochen debattiert haben, geschah dies im Vorfeld der Tagung der „Intergovernmental Working Group on Public Health, Innovation an Intellectual Property“.
Die Vollversammlung der Weltgesundheitsorganisation hat die Ergebnisse ebendieser Arbeitsgruppe der
Vereinten Nationen am letzten Samstag angenommen.
Man sieht: Die Koalition hat auf aktuelle Ereignisse
schnell reagiert - im Gegensatz zur FDP, die erst jetzt mit
ihrem Antrag kommt. Drei der acht Millenniumsziele beziehen sich auf die Gesundheit in den Entwicklungsländern. Das ist nicht verwunderlich, weil wir wissen, dass
zwischen Armut und Krankheit ein unheilvoller Zusammenhang besteht. Um die Kindersterblichkeit in den Entwicklungsländern zu verringern, um die Gesundheit von
Müttern zu verbessern und um die schlimmsten InfekSibylle Pfeiffer
tionskrankheiten zu bekämpfen, bedarf es eines vielseitigen, eines umfassenden und eines nachhaltigen Ansatzes.
Dieser nachhaltige Ansatz beinhaltet die Schaffung
von sozialen Sicherungssystemen genauso wie die Einrichtung von Gesundheitsdiensten. Natürlich spielt in
diesem Zusammenhang das Thema Medikamente eine
wichtige Rolle. Ohne Medikamente ist die Bekämpfung
und Vermeidung von Krankheiten nun einmal nicht möglich. Die armen Länder leiden schwer unter den sogenannten vernachlässigten Krankheiten beziehungsweise
unter den armutsbedingten Tropenkrankheiten. Für diese
Krankheiten gibt es keine oder nicht ausreichende Medikamente. Gerade mit diesem Missstand beschäftigt sich
unser Antrag. Wir zeigen Wege auf, wie dieser Missstand
behoben werden kann.
Warum fehlen für diese Krankheiten Medikamente,
Diagnostika und Impfstoffe? Warum ist die Erforschung
dieser Krankheiten vernachlässigt? Was können wir dagegen tun? Wir müssen feststellen, dass es in diesem Bereich ein Ungleichgewicht in der Forschung gibt. Nur
10 Prozent der weltweiten Forschungsgelder im biomedizinischen Bereich werden für die Entwicklung von Medikamenten für Krankheiten eingesetzt, unter denen 90 Prozent der Menschen leiden. Und wir ahnen es: Die meisten
Menschen der 90 Prozent leben in den ärmsten Regionen
der Welt. Folgender Schluss liegt nahe: Weil es keinen
entsprechenden Markt gibt, wird kaum in dem Bereich
der armutsbedingten Tropenkrankheiten geforscht.
Nun, es mag keinen Markt geben, aber es gibt sehr
wohl einen Bedarf - und der ist enorm. Bis zu 1 Milliarde
Menschen leidet unter den vernachlässigten Krankheiten.
Von 1974 bis 2004 wurden fast 1 600 neue Wirkstoffe auf
den Markt gebracht, davon aber nur acht für Malaria und
drei für Tuberkulose. Bei anderen Krankheiten ist die Situation nicht besser. In der Tat können wir von vernachlässigten Krankheiten sprechen. Doch wir dürfen nicht
vergessen, dass damit auch die kranken Menschen vernachlässigt werden. Das dürfen wir nicht zulassen.
Es ist nicht hinnehmbar, dass jährlich unzählige Menschen an Krankheiten sterben, die relativ leicht behandelbar wären. Durch vernachlässigte Krankheiten gehen jedes Jahr 140 Millionen Lebensjahre in Gesundheit
verloren. Zu dem unermesslichen Leid der Menschen
kommt hinzu, dass diese Jahre der Wirtschaft der Entwicklungsländer fehlen. Dies wiederum macht den Ausstieg aus der Armut noch schwieriger.
Die Analyse der Situation ist eindeutig. Wir müssen
handeln, und zwar schnell. Die Entwicklung von Medikamenten ist ein langwieriger Prozess. Es kann fünf bis
20 Jahre dauern, bis ein Medikament entwickelt wird. Ich
möchte die Verantwortung Deutschlands in dieser Frage
nicht relativieren. Ich denke aber, dass nationale Alleingänge nicht effektiv genug sind. Meiner Meinung nach
steht die gesamte internationale Gemeinschaft in der
Pflicht. Politik, Wirtschaft und Wissenschaft müssen auf
globaler Ebene zusammenarbeiten, damit die Tropenkrankheiten effektiv bekämpft werden können. Mir ist allerdings wichtig, dass sich Deutschland nicht hinter der
Anonymität der Globalisierung versteckt, sondern dass
wir das machen, was in unseren Möglichkeiten liegt.
Auch deshalb haben wir diesen Antrag eingebracht.
In unserer ersten Debatte habe ich gesagt, dass ich von
einseitigen Schuldzuweisungen nichts halte. Den Schwarzen Peter möchte ich nicht allein der Pharmaindustrie zuschieben. Es ist ja nicht so, dass die Pharmaindustrie die
Hände in den Schoß legt und nichts unternimmt. Auf unseren Reisen können wir uns überzeugen, dass die Arzneimittelhersteller viele Projekte finanzieren, die segensreich für die Menschen in den Entwicklungsländern sind.
Wir wissen, dass Medikamentenforschung teuer ist. Es
ist legitim, dass wirtschaftlich gedacht und gehandelt
wird. Kosten müssen gedeckt und Mittel für neue Forschung verdient werden. Dennoch möchte ich ausdrücklich betonen, dass die Pharmaindustrie in der Pflicht
steht. Eigentum verpflichtet. Auch geistiges Eigentum
verpflichtet, erst recht, wenn es sich dabei um das Wissen,
wie Krankheiten behandelt werden können, handelt, und
erst recht, wenn es sich dabei um Wissen handelt, wie
Menschenleben gerettet werden können. Die Hersteller
von Medikamenten müssen sich die Frage, warum sie die
Forschung bei den armutsbedingten Tropenkrankheiten
derart vernachlässigt haben, gefallen lassen. Sie sind
aufgefordert, einen entscheidenden Beitrag zu leisten, damit dieser Missstand endlich behoben wird.
Wir, die Parlamentarier, wollen unseren Beitrag hierzu
leisten. In unserem Antrag haben wir Möglichkeiten aufgezeigt, wie die Forschung an neuen Medikamenten gegen Armutskrankheiten vorangetrieben werden kann. Natürlich spielen dabei die Patentrechte eine Rolle. Wir
wissen: Das ist ein sensibles Thema, weil Patentrechte
nicht gleich Patentrechte sind. Ein Patent für eine Motorsäge ist nun einmal anders zu bewerten als ein Patent für
ein Medikament. Die deutsche Regierung und das deutsche Parlament haben bewiesen, dass diese Herausforderungen sehr ernst genommen werden. Anlässlich der G-8Präsidentschaft fand im Bundestag die internationale
G-8-Parlamentarier-Konferenz zum Thema „Gesundheit
in Entwicklungsländern“ statt. Über 100 Parlamentarier
haben detaillierten Forderungen an die Regierungen der
G-8-Staaten formuliert.
Ich habe bereits erwähnt, dass weltweit nur 10 Prozent
der Forschungsgelder für die Entwicklung von Medikamenten für Krankheiten eingesetzt werden, unter denen
90 Prozent der Menschen leiden. Dieser Zustand ist unhaltbar. Unser Antrag zeigt Möglichkeiten auf, wie Forschungsanreize für Medikamente gegen vernachlässigte
Krankheiten gegeben werden können. Die Forschung
muss dort Schwerpunkte setzen, wo die Hilfe am nötigsten
ist - ohne Rücksicht auf die Kaufkraft der Betroffenen.
Daher ist meiner Meinung nach wichtig, dass die Entwicklungskosten von Medikamenten gegen vernachlässigte Krankheiten vom Produktpreis in armen Ländern
abgekoppelt werden können.
Wir brauchen einen fairen Interessensausgleich zwischen Industrieländern und Entwicklungsländern, auch
im Bereich der Medikamente.
Zu Protokoll gegebene Reden
Täglich lesen wir über neue Fortschritte in der Medizin und über die konstante Steigerung der Lebenserwartung. So ist es nicht überall auf der ganzen Welt. Die immer größer werdende Kluft zwischen armen und
wohlhabenden Ländern liegt in unzureichenden gesundheitlichen Versorgungsstrukturen aber auch in der ungleichmäßigen Verteilung und im nicht bedarfsgerechten
Zugang zu lebenswichtigen Medikamenten.
Dort, wo jetzt Millionen von Menschen jährlich an
übertragbaren Krankheiten sterben, stammen die dürftigen Therapiemöglichkeiten oft noch aus der Kolonialzeit
und wurden seitdem nicht mehr verbessert. Sie sind oft zu
teuer, schwierig zu verabreichen und belastend durch erhebliche Nebenwirkungen. Bei einigen Medikamenten,
zum Beispiel denen gegen Tuberkulose, gibt es eine wachsende Zahl von Resistenzen. Die Zahlen sprechen eine
deutliche Sprache: Lediglich 1,3 Prozent aller seit 1975
auf den Markt gebrachten Medikamente wurden für die
Bekämpfung von tropischen Krankheiten und Tuberkulose entwickelt.
Dabei wurde weltweit noch nie so viel in Forschung
und Entwicklung von neuen Medikamenten investiert wie
in den letzten zwei Jahrzehnten. Krankheiten wie
Dengue-Fieber, Chagas, Bilharziose oder Loa loa sind
aber offenbar so weit außerhalb der Interessen reicher
Industrienationen, dass sie von den FuE-Bemühungen
der Pharmaindustrien nicht berücksichtigt werden.
Geforscht wird da, wo die schnelle Rendite lockt - und
da spielen die Länder mit endemischen Wurm- oder
Durchfallerkrankungen, die zusammen mit anderen Armuts- und Infektionskrankheiten Millionen Menschen im
Süden das Leben kosten, keine Rolle. Mehr Geld verdienen kann man auf dieser Welt mit Medikamenten gegen
Haarausfall, Fettleibigkeit, Impotenz oder andere „Krankheiten“ reicher Länder.
Es gibt unterschiedliche Methoden, den Fortschritt in
der Medizin voranzubringen. Das Normale wäre, dass
sich Gesellschaften und betroffene Länder zusammenschließen, in denen bestimmte Krankheiten einen hohen
Schaden anrichten, und Mittel in ihren Forschungshaushalt einstellen oder, wenn sie arm sind, von anderen Ländern erbitten, um hier möglichst schnell gemeinsam eine
kostengünstige und wirksame Abhilfe zu entwickeln. Leider sind nur wenige Entwicklungsländer stabil und stark
genug, diesen Weg zu gehen. Die Länder, die Eigeninitiative entwickeln, brauchen unsere Hilfe und Begleitung.
Viele Regionen in tropischen Ländern leiden nicht nur
unter Krankheiten, sondern auch noch unter schwachen
oder eigennützigen Regierungen. Hier sind es oft internationale oder ausländische Organisationen, welche versuchen, die nötigen Gesundheitshilfen zu organisieren und
zu ersetzen. Auch diese sind jedoch nicht in der Lage,
Forschung zu betreiben oder gar zu finanzieren.
Neues medizinisches Wissen wird am schnellsten in offenen internationalen Netzwerken entwickelt, denen die
dafür erforderlichen Mittel bereitgestellt werden. Als positives Beispiel mag hier das Human Genome Project dienen, welches ohne Wissensmonopolisierung durch Patentstrategien in kürzester Zeit eine der komplexesten
Fragestellungen gelöst hat: die Entschlüsselung des
menschlichen Genoms.
Die Bundeskanzlerin hat sich für den Schutz von geistigem Eigentum stark gemacht. Das ist grundsätzlich eine
richtige Forderung. Doch im Bereich der Lebenswissenschaften, in der Medizin, sind diese Gesetze des Wissensmarktes tödlich für alle, die aus finanziellen Gründen
nicht teilhaben können. Da Armut und Krankheit weitgehend zusammenfallen entsteht hier aus Patentstrategien
und aus Wissensmonopolisierung im gesundheitlichen
Bereich ein unerträgliches humanitäres Problem.
Die Pharmaindustrie erpresste die Gesellschaft in der
Vergangenheit wiederholt mit dem Slogan: „No Patent No Cure!“ Diese Sicht verdrängt völlig, dass bis vor wenigen Jahrzehnten, in den Zeiten raschen medizinischen
Fortschritts, die meisten Wirksubstanzen ohne Patente
erforscht und dem Markt zur Verfügung gestellt wurden.
Auch der Generikamarkt ist, wie wir wissen, lukrativ. Es
geht also um die Forschungs- und Entwicklungsfinanzierung.
Angesichts der genannten Zusammenhänge fordern
wir eine öffentlich geförderte Forschungsfinanzierung
zumindest für das verwaiste Gebiet der vorherrschenden
Erkrankungen in den armen Ländern. Impfstoffe, Medikamente, Präventions- und Versorgungsstrategien müssen in einer internationalen gemeinsamen Anstrengung
erforscht und entwickelt werden.
Manche Pharmakonzerne haben das bereits gesehen
und gehandelt. Firmen wie Merck oder Sanofi Aventis
stellen bereits Medikamente im Wert von Millionen von
Dollar kostenlos zu Verfügung. Diese Spendenprogramme sind sehr zu begrüßen.
Leider sind sie kurzfristig und lösen das grundsätzliche Problem nicht. Ein bedürfnisorientiertes System kann
nicht allein auf Freiwilligkeit beruhen. Eine nachhaltige
weltweite Versorgung mit lebenswichtigen Medikamenten
verlangt, dass die Wissenschaft, die Forschung, die Wirtschaft und die Politik Verpflichtungen eingehen.
Auch die Weltgesundheitsorganisation hat das Problem erkannt. Die spezielle Arbeitsgruppe von WHOMitgliedstaaten, die Intergovernmental Working Group
on Public Health, Innovation and Intellectual Property
- IGWG - arbeitet seit etwa zwei Jahren an einem Aktionsplan, der alternative Anreize zum Patentsystem vorschlagen soll. Die Ergebnisse dieser Gruppe wurden
letzte Woche während der Weltgesundheitsversammlung
in Genf vorgestellt. Der Aktionsplan wurde von der Vollversammlung der WHO-Mitgliedstaaten inzwischen angenommen.
Somit hat jetzt die UN-Organisation das klare Mandat,
sich mit dem aktuellen Patentsystem auseinanderzusetzen
und die beschlossenen Schritte umzusetzen. Der WHOBeschluss sieht die Förderung von alternativen Forschungsanreizen vor, wie wir sie auch in unserem Antrag
fordern. Mit unserer Initiative hier wollten wir genau diesen Prozess, dessen wichtigen ersten Schritt, der jetzt gerade in Genf abgeschlossen wurde, auch in Deutschland
begleiten.
Zu Protokoll gegebene Reden
Der jetzige Beschluss der WHO-Mitgliedstaaten soll
nun möglichst schnell umgesetzt werden. Als Parlamentarier es ist unsere Aufgabe, das Engagement Deutschlands bei dieser Problematik zu steigern, nach dem
Motto: global denken und lokal handeln. Als reiches Industrieland wollen wir uns nicht vor unserer Verantwortung drücken.
Deswegen fordern wir im Antrag der Koalition die Festlegung einer politischen Agenda mit Forschungsprioritäten auf Grundlage der Beschlüsse der IGWG. Die öffentliche Forschungsförderung muss massiv zunehmen und
aktiv von Deutschland unterstützt werden. Eine nachhaltige Finanzierung ist notwendig.
Nach Angaben von Ärzte ohne Grenzen wurden im
Jahr 2007 in Deutschland insgesamt nur 20,7 Millionen
Euro für die Forschungsförderung im Bereich der Tuberkulose, Malaria und vernachlässigten Krankheiten ausgegeben. Im Vergleich: In Großbritannien soll die Unterstützung von Forschung und Entwicklung im Bereich der
vernachlässigten Forschungsbereiche - einschließlich
der vernachlässigten Krankheiten - durch die nationale
Entwicklungsorganisation DFID eine Milliarde Pfund
- 1,25 Milliarden Euro - für die nächsten fünf Jahre betragen. Dort soll für die Förderung von Gesundheit der
aktuelle jährliche Betrag von 50 Millionen Pfund ab dem
nächsten Jahr erhöht werden. Die Briten wollen neben
Produktentwicklungspartnerschaften auch Aufkaufsverpflichtungen als Anreiz für die Forschung einsetzen.
Diese dargestellten Summen sind sehr hoch im Vergleich
zu Deutschlands Aktivitäten.
Unser Antrag fordert weiter eine alternative Preisgestaltung. Einige machen das schon - positive Beispiele
habe ich bereits genannt -, andere sperren sich. Das
heißt, man soll den Pharmaunternehmen andere Anreize
geben, die sie dazu motivieren, auch für bis jetzt nicht lukrative Märkte ihr schöpferisches Denken und ihr Knowhow einzusetzen. Hier soll und muss natürlich Geld verdient werden. Die Frage ist allerdings, welche Anreize
wir dazu setzen. Viele Möglichkeiten habe ich bereits erwähnt.
Öffentlich-private Partnerschaften bieten auch eine
besonders erfolgreiche Alternative. Solche Bündnisse
bringen Pharmafirmen, Forschungsinstitute von Universitäten und Nichtregierungsorganisationen zusammen.
Die Organisation DNDi - Drugs for Neglected Diseases
initiative - führte beispielsweise bereits erfolgreich zwei
Kombinationspräparate gegen Malaria patientenfreundlich und preiswert in den Markt ein. Das erste Präparat
behandelt Malariafälle in Afrika. Mit dem zweiten lassen
sich viele Malariafälle in Lateinamerika und Südostasien
behandeln. Ab nächstes Jahr soll es in Brasilien kostenlos
verteilt werden. Es zeigt, dass die Entwicklung neuer Medikamente auch ohne Patentschutz möglich ist.
Ich freue mich, dass die FDP in ihrem Antrag auch
eine ähnliche Position vertritt, was die Notwendigkeit
neuer Forschungsanreize für die Pharmaindustrie betrifft. Aber nirgendwo wird das grundsätzliche Problem
erwähnt: die Realwirkung des Patentsystems auf die Gesundheit von armen Menschen. Offenbar scheint es der
FDP in ihrem Antrag wichtiger zu sein, die Pharmaindustrie in Schutz zu nehmen, statt die Dinge beim Namen zu
nennen. Ihre Forderungen nach einer verstärkten Unterstützung der Product Development Partnerships - PDP -,
einer Strategie zur Bekämpfung der tropischen Armutskrankheiten und einer erhöhten Bereitstellung von öffentlichen Finanzmitteln für tropische Krankheiten sind zwar
richtig und wir teilen sie. Nur eines passt nicht richtig zusammen: Einerseits wünscht sich die FDP eine Erhöhung
der öffentlichen Zuwendungen für diesen Bereich, andererseits ist sie aber sprichwörtlich die Partei, die überall
Steuersenkungen will.
Ihr Antrag kommt außerdem ein bisschen spät. Die
Verhandlungen bei der IGWG sind abgeschlossen, und
die WHO hat bereits letzte Woche einen Beschluss bezüglich alternativer Forschungsanreize verabschiedet. In
der Koalition haben wir zum Glück diese Problematik
rechtzeitig aufgegriffen und für eine größere politische
Aufmerksamkeit in diesem Haus gesorgt.
Zurück zu dem Antrag der Koalition. Dort reden wir
von fehlender Forschung und Innovation. Der Zugang zu
vorhandenen patentgeschützten Medikamenten muss jedoch ebenfalls erleichtert werden. Einige Firmen sind
hier einsichtiger als andere. Die TRIPS-Abkommen ermöglichen es bereits jetzt grundsätzlich, dass arme Länder auch patentgeschütze Medikamente nachproduzieren. Die bisherige Erfahrung zeigt aber, dass dies nur
mühsam funktioniert. Als Thailand als erstes Land Nutzung von diesem Recht machte, war die Reaktion der Industrie feindlich aggressiv - man fürchtete dieses mutige
Beispiel. Es darf nicht sein, dass die Wirtschaft und sogar
der EU-Kommissar Mandelson den armen Ländern den
Zugang zu ihren im TRIPS-Abkommen zugesicherten
Möglichkeiten erschweren oder verweigern.
Weiterhin soll die Produktion von Arzneimitteln durch
die Entwicklungsländer selbst vermehrt ermöglicht werden. In Ländern wie Indien, das noch vor einigen Jahren
ein armes Land war, sind Technologie und Wissen hierfür
zunehmend verfügbar. Das ist jedoch noch längst nicht
überall möglich. Der Zugang zum klinischen Know-how,
die Verbesserung der klinischen Kapazitäten, die Verbesserung des Forschungspotenzials der Entwicklungsländer: Das sind Maßnahmen, auf deren Umsetzung
Deutschland hinwirken soll.
Wir sprechen über den Standort Deutschland. Die Initiative „Deutschland - Land der Ideen“ preist den Gedankenreichtum, die Kreativität und die Schöpferkraft
unseres Landes an. Aber diese Ideen, dieser Einfallsreichtum beinhalten auch eine tiefe Verantwortung: Wir
dürfen unser Wissen und Können nicht denen vorenthalten, die ohne es zugrunde gehen würden.
Vor acht Jahren hat sich die internationale Gemeinschaft mit den acht Millennium Development Goals
({0}) zu verstärkten Anstrengungen im Bereich der
Entwicklungszusammenarbeit bis zum Jahr 2015 verpflichtet. Drei der acht MDGs haben die Verbesserung
der Gesundheit in Entwicklungsländern zum Ziel: Die
Verringerung der Kindersterblichkeit, die Verbesserung
der Gesundheit der Mütter sowie die Bekämpfung von
Zu Protokoll gegebene Reden
HIV/Aids, Malaria und von anderen übertragbaren
Krankheiten. Nun haben wir noch sieben Jahre, bis wir
diese Ziele erreicht haben wollen. Halbzeit! Zeit, Bilanz
zu ziehen. Leider sieht diese Bilanz wenig erfreulich aus.
Wir haben es heute wieder im Ausschuss gehört, die Erreichung der MDGs rückt in immer weitere Ferne, ob nun
bei HIV/Aids, Malaria oder Tuberkulose. Die meisten
Entwicklungsländer machen nicht die gewünschten Fortschritte, einige sogar Rückschritte. Keines der acht
MDG-Ziele wird in Subsahara-Afrika erreicht werden.
Insbesondere im Bereich der Reduzierung der Kinderund Müttersterblichkeit wartet noch viel Arbeit auf uns.
Das Leben der Kinder ist laut des UNICEF-Berichts
zur Lage der Kinder in der Welt von 2008 am stärksten
gefährdet, insbesondere in Subsahara-Afrika! Durchschnittlich liegt die Kindersterblichkeit bei 160 Todesfällen pro 1 000 Lebendgeburten. Jedes sechste Kind stirbt
vor dem Erreichen des fünften Lebensjahrs, viele an tropischen Krankheiten. Allein durch HIV/Aids, Malaria
und Tuberkulose und andere tropische Krankheiten gehen jedes Jahr 140 Millionen Lebensjahre in Gesundheit
verloren. Hinzu kommen Sterbefälle durch vermeidbare
und leicht behandelbare Krankheiten wie Durchfallerkrankungen, hervorgerufen durch schlechte oder nicht
vorhandene sanitäre Einrichtungen. Eine bisher wenig
beachtete Todesursache stellen armutsbedingte Tropenkrankheiten wie Flussblindheit, Dengue-Fieber oder
auch die Schlafkrankheit dar. Wenn auch nicht immer lebensbedrohlich, sind diese Krankheiten mit viel Leid, Behinderungen und Beeinträchtigungen im Alltag der Betroffenen verbunden. Die Zahl der Menschen, die unter
tropischen Krankheiten leiden, ist erschreckend hoch und
vielen nicht bewusst: Eine Milliarde Menschen leidet unter tropischen Krankheiten. Für die meisten gibt es bisher
noch keine oder nur unzureichende Therapiemöglichkeiten.
Derzeit sind die Forschungs- und Entwicklungsanstrengungen für viele dieser Krankheiten noch nicht in
dem Maße aufgenommen worden, wie sie vonnöten wären, um eine umfassende Gesundheitsversorgung zu gewährleisten. Gleichwohl sind aber erste Bestrebungen,
auch aus der Wirtschaft, zu erkennen, die Forschung an
und die Entwicklung von Medikamenten für Malaria und
auch Tropenkrankheiten zu verbessern. Angesichts der
gewaltigen Herausforderung im Bereich der Wirkstoffforschung müssen die Privatwirtschaft und die Politik gemeinsam nach neuen Möglichkeiten suchen, um diese
Herausforderungen zu bewältigen. Nur wenn alle Partner - Politik, Wirtschaft und Wissenschaft - international
gemeinsam an dieser Herausforderung arbeiten, wird
nachhaltig eine Verbesserung der Lage zu erreichen sein.
Dabei dürfen wir auch neue Modelle der Forschungsförderung nicht außer Acht lassen: Ein internationaler
Forschungsfonds, der öffentliche und private Geldgeber
mit wissenschaftlicher Expertise vereint, um die Forschung und Entwicklung an tropischen Armutskrankheiten zu verbessern, wird derzeit diskutiert. Auch die
stärkere Nutzung von Public-Private-Partnership-Modellen, wie Product Development Partnerships ({1}),
müssen stärker genutzt und gefördert werden. Aber auch
eine kohärente Strategie der Bundesregierung bei der Bekämpfung von tropischen Armutskrankheiten ist dringend
vonnöten. Aus der Wissenschaft und Wirtschaft wird immer wieder auf die ungeklärten Zuständigkeiten bei den
beteiligten Ministerien ({2}) hingewiesen. Wir fordern ganz klar die Bundesregierung auf, in
diesem Bereich ihrer Verantwortung gerecht zu werden.
Lassen Sie mich noch einen sehr wichtigen Punkt in
diesem Zusammenhang erwähnen: Nicht nur die Geberländer sehe ich hier in der Verantwortung, sondern auch
die Nehmerländer. So haben die Mehrheit der afrikanischen Länder die Abuja-Erklärung von 2001, mindestens
15 Prozent ihrer nationalen Haushalte für den Bereich
Gesundheit auszugeben, immer noch nicht ansatzweise
umgesetzt. Dazu gehört auch, dass die in den letzten Jahren stark vernachlässigten eigenen Forschungs- und Entwicklungsanstrengungen wieder ausgebaut werden.
Hinzu kommen die immer noch schwachen und schlecht
ausgebauten Gesundheitssysteme, die einen Zugang für
viele Menschen zu vorhandenen Medikamenten unmöglich machen. Korruption ist in diesem Zusammenhang
nur ein weiteres Stichwort.
Tropische Armutskrankheiten führen zu einer Verminderung der Lebenserwartung und treffen gerade die Altersgruppen im arbeitsfähigen Alter, die besonders produktiv sind. Die Förderung von Gesundheit ist damit
nicht nur eine moralische Verpflichtung, sondern auch
ein Beitrag zur wirtschaftlichen Entwicklung dieser Länder. Die Bundesregierung hat sich zu ihrer internationalen Verantwortung bekannt, die Gesundheit in Entwicklungsländern zu verbessern. Sie sollte es nun endlich in
die Tat umsetzen.
Wie schon zu anderen drängenden Fragen der Gesundheitssituation in armen Ländern legen auch heute
die Regierungsfraktionen der CDU/CSU und der SPD einen beachtenswerten Antrag vor. Es geht um das für Millionen Menschen dieser Welt so zentrale Problem, dass
sie keine oder keine adäquate Medizin zur Verfügung haben, um selbst leicht behandelbare oder heilbare Krankheiten vermeiden zu können.
Es ist richtig, deutlich darauf hinzuweisen, dass eine
Vielzahl der Gründe für die mangelhafte oder nicht existente Versorgungslage in den betreffenden Ländern nicht
selbstverschuldet ist. Es ist gut, dass deutlich wird, wie
wir als reiche und forschungspotente Staaten dazu beitragen können und müssen, unverzüglich die Barrieren zu
beseitigen, die die Ausprägung guter Gesundheitsversorgungsstrukturen beschränken. Denn wir wissen viel, auch
darüber, dass insbesondere der Klimawandel, verursacht
durch die Industrienationen, noch massiv auf die Verbreitung der Neglected Deseases einwirken wird.
Umso größer ist also unsere Verantwortung dafür, dass
die am meisten unter dieser Wohlstands- und Wachstumsfixierung Leidenden Infrastrukturhilfe und Medikamentenversorgung bekommen, die sie aus eigener Kraft nicht
generieren können.
Insofern ist die Liste der Vorschläge, die im Antrag gemacht werden, zwar nicht abschließend. Wenn die RegieZu Protokoll gegebene Reden
rung jedoch die Kraft aufbringt, die vorgeschlagenen entwicklungspolitischen Initiativen umzusetzen, könnten wir
dazu nur gratulieren.
Doch eines ist auch klar: Solange das Patentrecht die
Forschung und die Pharmaproduktion beherrscht, wird
es eine Lösung der Probleme der mangelnden Medikamentenzugänge und Profitkalkulationen bei der Erforschung von neuen Medikamenten, Impfungen und der
Entwicklung von angepassten Behandlungskonzepten
nicht geben. Auch Diagnostiken werden patentiert, was
einen Eingriff in die ärztliche Freiheit darstellt.
Das TRIPS-Abkommen ist ein schwerer Sündenfall der
internationalen Politik. Denn neue Medikamente sind oft
20 Jahre für die Patenthalter vor Nachahmung geschützt.
Weltweit haben sich die Pharmakonzerne ihre Patente gesichert. So hat man Indien gegenüber versucht, über den
Weg von Patentanträgen den Export von preiswerten
Nachahmerprodukten zu verwehren. Genauso unfassbar
ist, dass die EU diese Handelspolitik vorantreibt, wie mit
Drohungen gegenüber Thailand geschehen.
Auch die weltweit grassierende Wettbewerbs- und
Marktideologie bewirkt einen Druck, das Grundnahrungsmittel Wasser zur privatwirtschaftlich gehandelten
Ware zu machen. Es ist nicht vorstellbar, was das für
Menschen bedeutet, die heute schon keinen Zugang zu
sauberem Wasser haben - eben eine der größten Ursachen dafür, dass Menschen in anderen Ländern aufgrund
schlechten Wassers an absolut vermeidbaren Krankheiten sterben müssen.
Jeglicher Druck vonseiten internationaler Geldgeber
muss aufhören, Wasserversorgungssysteme und Wasser
zu privatisieren. Ich möchte mit meinen Äußerungen aufzeigen, dass europäische Wirtschaftspolitik und international völkerrechtlich verbindliche Verträge wie das
TRIPS-Abkommen ursächlich dazu beitragen, die Gesundheitslage der Menschen in armen Ländern dramatisch zu verschlechtern.
Auch unseren Krankenkassen und Beitragszahlenden
im eigenen Land täte es gut, würde das Patentrecht in der
heutigen Form überwunden und stattdessen Preise für Innovationen vergeben, die die Forschungsaktivitäten belohnen.
Ich fordere die Koalitionsfraktionen auf, eine interministerielle Arbeitsgruppe einzurichten, um die in dieser
Frage divergierenden Interessen zu überwinden, und einen qualifizierten Stab aus BMZ, BMBF und BMG zur
Bekämpfung von vernachlässigten Krankheiten - übrigens gibt es diese auch in westlichen Ländern - und Armutskrankheiten zu schaffen.
Zentral ist jedoch: Die Kompetenz und Führungszuständigkeit für Gesundheitsprogramme und Prävention
soll in jedem Staat dieser Erde in der Hand des Staats liegen. Die Idee der Public-Private-Partnerships ist
zweifelsohne aus der Not geboren. Mag es auch Spendenprogramme aus der Wirtschaft geben, die positiven Einfluss auf die Medikamentenversorgung bei Aids, Malaria,
Tuberkulose und Tropenkranheiten haben, so ist es aus
unserer Sicht vordringlich, arme Länder durch gezielte
Budgethilfe zum Auf- und Ausbau einer allgemein zugänglichen öffentlichen Gesundheitsversorgung zu verhelfen.
Ich möchte nicht, dass die Entwicklung und Verfügbarkeit neuer Therapien und bezahlbarer Medikamente vom
Good Will einzelner Wirtschaftsunternehmen abhängig
wird.
Dementgegen ist es eine Forderung an die Wirtschaft,
die Bereitstellung und Förderung von Gesundheitsversorgung in den Ländern, in denen sie sich niederlassen,
zu gewährleisten, und eben nicht auf Sonderwirtschaftszonen zu drängen, in denen sie steuerfrei Geschäfte tätigen können.
Nehmen wir bei der weiteren Behandlung dieses Antrags also auch wirtschaftsfreiheitsbegrenzende Konzeptionen auf; denn das Grundanliegen und die richtige Problembeschreibung ermöglichen es allemal, hier im Haus
Gemeinsames voranzubringen.
Es ist erfreulich, wie stark in den letzten Wochen und
Monaten die Aufmerksamkeit für die sogenannten vernachlässigten Krankheiten zugenommen hat. Das ist zum
einen der entschiedenen Lobbyarbeit verschiedener, in
diesem Bereich sehr engagierter Nichtregierungsorganisationen zu verdanken. Zum anderen gibt es - und das
finde ich hocherfreulich - ein fraktionsübergreifendes
Bewusstsein in unserem Ausschuss für dieses Thema.
Ich stelle fest, dass es sehr viele Übereinstimmungen
zwischen unserer Position und denen der anderen Fraktionen im Deutschen Bundestag gibt. Meine Fraktion
kann sich in vielen Punkten der beiden Anträge, die hier
zur Abstimmung stehen, wiederfinden. Trotzdem werden
sich Bündnis 90/Die Grünen zu beiden Anträgen enthalten.
Etwa eine Milliarde Menschen leidet unter tropischen
Krankheiten. Krankheiten, die in unseren Breitengraden
nicht vorkommen und den wenigstens überhaupt bekannt
sind. Die Weltgesundheitsorganisation WHO listet insgesamt 14 dieser Krankheiten, wie zum Beispiel Flussblindheit oder Schlafkrankheit. Ich möchte betonen, dass es
außer diesen Seuchen noch zwei weitere Krankheiten
gibt, die vernachlässigt werden: Malaria und Tuberkulose. Alle diese Krankheiten haben eines gemeinsam: Die
Erkrankten sind in der überwältigenden Mehrzahl arme
Menschen in den Entwicklungsländern Afrikas, Asiens
und Lateinamerikas und verursachen dort immenses
Leid. Trotzdem hat die pharmazeutische Forschung diese
Erkrankungen vernachlässigt. Denn arme Menschen bieten keinen lukrativen Markt für teuer erforschte Medikamente.
Was gilt es aus unserer Sicht zu tun, um diese Situation
zu verändern? Wir sagen: Die Forschung muss vorangebracht werden durch öffentliche Förderung in den hoch
entwickelten und wohlhabenden Industrieländern, die
sich zu den Entwicklungszielen der UN bekannt haben.
Öffentliche Forschungsinstitute, und davon haben wir in
Deutschland viele renommierte, brauchen die finanzielle
Unterstützung und die politische Vorgabe, um zu tropischen Armutskrankheiten zu forschen. Darüber hinaus
Zu Protokoll gegebene Reden
gilt es, die schon jetzt sehr erfolgreichen Product Development Partnerships zu fördern und darüber hinaus innovative Forschungsanreize zu setzen. Ich denke da zum
Beispiel an Forschungsprämien. Der Aspekt der öffentlichen Forschung und die sehr zurückhaltende Rolle
Deutschlands dabei kommen leider in dem Antrag der
Koalitionsfraktionen viel zu kurz. Das ist ein gewichtiger
Grund für die Enthaltung der Grünen bei diesem Antrag.
In dem Antrag der FDP-Fraktion wird die Frage des
Zugangs zu Forschungsergebnissen nicht thematisiert.
Das ist ein großes Manko. Um das Leid durch die tropischen Armutskrankheiten ernsthaft zu mindern, muss
Forschung und Entwicklung auf der einen Seite und der
Zugang zu den Ergebnissen und Produkten auf der anderen Seite unbedingt zusammen gedacht werden. Das bedeutet, dass die Ergebnisse öffentlich finanzierter Forschung direkt und ohne Wenn und Aber frei zugänglich
sein müssen, so, wie es die Product Development Partnership „Drugs on Neglected Diseases initiative“
- DNDi - mit der Entwicklung ihres innovativen Malariamedikaments vorgemacht hat. Und bei lebensnotwendigen Medikamenten, die Pharmaunternehmen entwickelt haben und dem Patenschutz unterliegen, müssen die
Möglichkeiten des TRIPS-Abkommens besser greifen.
Damit Entwicklungsländer von ihrem Recht Gebrauch
machen können, über Zwangslizenzen verbilligte Medikamente für ihre Bevölkerung herzustellen oder herstellen zu lassen, brauchen sie sowohl technische wie auch
die politische Unterstützung. Beides kann Deutschland
leisten und sollte es auch leisten. Da diese für unsere
Fraktion wichtigen Punkte fehlen, werden sich Bündnis 90/Die Grünen bei dem Antrag der FDP Fraktion enthalten.
Die Zeichen stehen gut für eine Wende bei der Forschung und Entwicklung von Therapien für die tropischen
Armutskrankheiten. Wir können die vernachlässigten
Krankheiten nicht alleine der marktgesteuerten pharmazeutischen Forschung überlassen. Das hat auch die
Weltgesundheitsorganisation erkannt und 2006 eine Arbeitsgruppe eingerichtet, die die Situation zu den Armutskrankheiten eruiert und Lösungsvorschläge erarbeitet
hat.
Auf der WHO-Generalversammlung in der vergangenen Woche in Genf wurden die Ergebnisse dieser Arbeitsgruppe angenommen. Das ist ein enorm wichtiger Schritt
für die Bekämpfung der vernachlässigten Krankheiten.
Und es ist ein Signal, dass die Staaten gemeinsam diese
wichtige Aufgabe angehen müssen. Jetzt gilt es, die Beschlüsse aus dem WHO-Prozess politisch auszugestalten
und mit Leben zu füllen. Lassen Sie uns daran gemeinsam
arbeiten und die Bundesregierung in die Pflicht nehmen,
sich substanziell an neuen innovativen Forschungsinstrumenten zu beteiligen.
Wir kommen zur Abstimmung. Tagesordnungspunkt 27:
Der Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 16/9320, den Antrag der Fraktionen von
CDU/CSU und SPD auf Drucksache 16/8884 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD und CDU/CSU
bei Gegenstimmen der Fraktion der FDP und Enthaltungen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke angenommen.
Zusatzpunkt 6: Wir kommen zur Abstimmung über den
Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/9309.
Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen der
Fraktion Die Linke, SPD und CDU/CSU bei Enthaltung
der Grünen und Gegenstimmen der Fraktion der FDP abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Michael
Kauch, Gudrun Kopp, Angelika Brunkhorst,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
FDP
Vorschlag der EU-Kommission für den
Emissionshandel nach 2012 überarbeiten Klima schützen, Stromverbraucher entlasten, Wettbewerb stärken
- zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2003/87/EG zwecks Verbesserung und Ausweitung des EU-Systems
für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten ({1})
KOM ({2})16 endg.; Ratsdok. 5862/08
- Drucksachen 16/8075, 16/8455 Nr. A.16,
16/9334 Berichterstattung:
Abgeordnete Andreas Jung ({3})
Michael Kauch
Bärbel Höhn
Zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung liegt
jeweils ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke
und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Andreas
Jung, CDU/CSU, Frank Schwabe, SPD, Gabriele
Groneberg, SPD, Michael Kauch, FDP, Eva BullingSchröter, Die Linke, und Bärbel Höhn, Bündnis 90/
Die Grünen.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion bekennt sich zu
den Klimazielen, die im Paket, das die Europäische Kommission am 23. Januar 2008 vorgestellt hat, enthalten
sind: zur Reduzierung der Treibhausgasemissionen in der
EU bis 2020 um 20 Prozent gegenüber 1990 und um
30 Prozent für den Fall, dass ein wirksames internationales Klimaschutzabkommen verabschiedet wird.
Vor diesem Hintergrund ist die Weiterentwicklung des
europäischen Emissionshandels unerlässlich. Ihm kommt
eine doppelte Bedeutung zu: Das Erreichen der Klimaziele sicherzustellen sowie das europäische Emissionshandelssystem als Vorbild für andere Regionen der Welt
zu etablieren.
Die Haltung der Unionsfraktion zu den Punkten im
Einzelnen wird im Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen, der im Umweltausschuss am 7. Mai 2008 beschlossen wurde, deutlich.
Wir begrüßen die Einführung europaweit einheitlicher
Allokationsmethoden. Dies ist ein Beitrag zur Verhinderung von Wettbewerbsverzerrungen zwischen den Mitgliedstaaten der EU. Die einzelnen Regeln stellen sicher,
dass nicht mehr jene Staaten, die, wie Deutschland, die
Vorgaben des Emissionshandels konsequent umsetzen,
gegenüber anderen benachteiligt werden.
Wir fordern die Bundesregierung auf, im Rahmen der
Verhandlungen sicherzustellen, dass auch im Rahmen des
Effort-sharings Verzerrungen vermieden werden. Sowohl
hohe kohlenstoffbasierte Stromerzeugungsanteile der
Mitgliedstaaten sind daher zu berücksichtigen als auch
die bereits erbrachten Vorleistungen.
An der vorgeschlagenen 100-prozentigen Auktionierung in der Stromwirtschaft soll festgehalten werden. Kritisch steht die Union dagegen einer Auktionierung im Bereich des produzierenden Gewerbes gegenüber. Beim
Zustandekommen eines internationalen Klimaabkommens, das tatsächlich weltweit vergleichbare Rahmenbedingungen für die im Wettbewerb stehenden Unternehmen sicherstellt, würde hierin ein Nachteil für
europäische Unternehmen zu sehen sein. Konsequenz
könnte die Abwanderung dieser Unternehmen sein, die
letztlich dem Klimaschutz nicht dienen, dem Wirtschaftsstandort aber schaden würde.
Für Veränderungen gegenüber dem Kommissionsvorschlag setzen wir uns bei der Verwendung der Auktionierungserlöse ein. Die Mittel müssen in vollem Umfang und
ohne jegliche Zweckbindung dem Mitgliedstaat zufließen,
in dem sie generiert werden. Ansonsten würde die Auktionierung zu einem Umverteilungsinstrument zulasten
Deutschlands. Wir sind der Auffassung, dass zumindest
ein erheblicher Anteil dieser Erlöse sodann zur Senkung
der Energiekosten einzusetzen ist. Für wichtig halten wir,
dass jene Zertifikate, die nicht versteigert werden, anhand von BAT-Benchmarks verteilt werden. Dies sorgt
dafür, dass effiziente Anlagen privilegiert werden und
dass neue Investitionen angestoßen werden.
Die Union spricht sich für eine stärkere Berücksichtigung der flexiblen Instrumente CDM und Jl aus. Die
Nutzung dieser Instrumente stellt sicher, dass der wirtschaftlichste Weg zur Erreichung der Klimaschutzziele
beschritten wird. Um die Voraussetzung für einen Ausbau
der Instrumente zu schaffen, sind zeitnah Maßnahmen
umzusetzen, die sicherstellen, dass alle genehmigten Projekte den an sie zu stellenden Kriterien, insbesondere der
Zusätzlichkeit, gerecht werden.
Schließlich ist die Union der Auffassung, dass die konkrete Ausgestaltung der ab 2013 anzuwendenden Zuteilungsmethoden bereits in der Richtlinie selbst festgelegt
wird. Dies ist anzustreben, da Investitionsentscheidungen
langfristig getroffen werden und die erforderliche Planungssicherheit durch eine Entscheidung erst 2011 beeinträchtigt würde.
Die Fakten sind eindeutig. Die globale Temperatur
steigt, die Weltbevölkerung nimmt zu, Weltwirtschaft und
Industrialisierung erfassen jeden Winkel dieser Erde. Damit steigen der weltweite Energiehunger und - inzwischen auf breiter Front - die Energiepreise. Die Gletscher schmelzen in nie gekannter Geschwindigkeit, und
die Wüstenbildung schreitet voran.
Deswegen begrüßen wir den Vorschlag der Europäischen Kommission vom 23. Januar, in dem die Kommission vorgeschlagen hat, dass die Europäische Union bis
2020 mindestens 20 Prozent der Treibhausgase gegenüber 1990 einsparen wird und 20 Prozent des Endenergieverbrauchs aus erneuerbaren Energien decken wird.
Bei Abschluss internationaler Klimaschutzvereinbarungen wird die EU 30 Prozent Treibhausgase einsparen.
Des Weiteren begrüßt die SPD die Vorschläge der EUKommission zur Aufteilung der Verantwortung zur CO2Reduktion, die Vorschläge zum Emissionshandel, für den
Ausbau der erneuerbaren Energien sowie den Vorschlag
zur Speicherung von CO2. Auch die Vorschläge zur Reduzierung des CO2-Ausstoßes sind wegweisend. Ich glaube,
es ist notwendig, dass wir bei aller Kritik im Detail betonen, dass die Vorschläge, die die Kommission vorgelegt
hat, hervorragend sind.
Diese Vorschläge verdienen Deutschlands Unterstützung, und diese Unterstützung hat der Umweltausschuss
des Deutschen Bundestages schon bekundet. Am 7. Mai
hat der Umweltausschuss mit seiner Mehrheit den Antrag
von CDU/CSU und SPD angenommen, in dem er begrüßt,
dass mit dem vorgelegten Richtlinienentwurf die Schwächen des bestehenden Emissionshandelssystems aufgegriffen und angegangen werden. Besonders möchte ich
hervorheben, dass sich die Koalitionsfraktionen darauf
geeinigt haben, die CO2-Zertifikate im Energiebereich zu
100 Prozent zu versteigern. Dieser Punkt ist äußerst
wichtig, um die Stromwirtschaft in die Verantwortung zu
nehmen. So wird in Zukunft unterbunden, dass die Stromwirtschaft Zertifikate geschenkt bekommt, diese dann
aber in den Strompreis einbezieht und so unverdiente Milliardenprofite einstreicht.
Es ist mutig, dass das elende Gefeilsche um die nationalen Allokationspläne beendet wird. Es wird jetzt eine
Einheitlichkeit in Europa geben, durch die Wettbewerbsverzerrungen zumindest teilweise vermieden werden. Die
Unternehmen bekommen dadurch, dass die 3. HandelsZu Protokoll gegebene Reden
periode länger dauern wird, Planungssicherheit. Auch ist
zu erwähnen, dass in Zukunft weitere Treibhausgase in
den Emissionshandel einbezogen werden. Endlich wird es
einen Verzicht auf 27 verschiedene Obergrenzen für die
CO2-Emissionen aus der Stromproduktion in den Mitgliedstaaten geben und stattdessen die Einführung eines
einheitlichen Cap für die CO2-Emissionen aus der Stromproduktion für ganz Europa und das Ziel einer 100-prozentigen Auktionierung in der 3. Handelsperiode.
Besonders gut finde ich, dass sich die EU-Kommission
klar zu einer 30-prozentigen Senkung des CO2-Ausstoßes
bis 2020 bekennt. In der konkreten Ausarbeitung der Vorschläge wird von einer Senkung um 20 Prozent ausgegangen; es ist aber eine Klausel eingebaut, die deutlich
macht, dass wir eigentlich eine Senkung um 30 Prozent
wollen. Damit die Europäische Union in den internationalen Verhandlungen glaubwürdig bleibt, ist es wichtig,
dass ihre Maßnahmenprogramme nicht nur das einseitig
von der EU erklärte Ziel einer 20-prozentigen Minderung
der Treibhausgasemissionen bis 2020 gegenüber dem
Jahr 1990 abbilden. Die EU muss, um glaubwürdig für
die internationalen Klimaschutzverhandlungen zu bleiben, gleichzeitig auch die Maßnahmen abbilden, die es
ihr erlauben, im Fall des Erfolgs der Verhandlungen auf
das 30-prozentige Minderungsziel der Industriestaaten
zu kommen. Die Bundesregierung wird sich deshalb in ihrer Zielsetzung auch von diesem Ziel leiten lassen und
hält deshalb in ihrer nationalen Klimaschutzpolitik am
Ziel einer 40-prozentigen Senkung der Treibhausgase
fest, um ein 30-prozentiges EU-Ziel weiterhin zu ermöglichen. Der Flugverkehr wird in den Emissionshandel
einbezogen. Der für CCS vorgeschlagene Rechtsrahmen
ist eine gute Basis für die geplanten Pilotprojekte.
Gleichzeitig habe ich - nach dem derzeitigen Stand Bedenken in folgenden Punkten: Bislang fehlen weitgehend Vorschläge, wie wir das Ziel einer 20-prozentigen
Steigerung der Energieeffizienz in Europa erreichen wollen. Die EU-Kommission muss dazu Vorschläge vorlegen,
die insbesondere dynamische Effizienzstandards wie das
Top-Runner-Modell in Europa ermöglichen. Als zweiten
wichtigen Punkt möchte ich anführen, dass die erfolgreichen nationalen Fördersysteme wie das deutsche Erneuerbare-Energien-Gesetz nicht durch einen künstlichen
Handel mit erneuerbaren Energien gefährdet werden
dürfen.
Die Folgen der Energie- und Rohstoffentwicklung und
der Klimaveränderungen betreffen alle Menschen. Doch
besonders negativ sind die Ärmeren und Schwächeren
vom Klimawandel betroffen. Dies gilt vor allem für
Afrika. Doch auch bei uns in Deutschland treffen steigende Energiekosten für die fossilen Energieträger auf
soziale Ungleichheit. Deshalb müssen wir uns mit diesem
Thema in Zukunft verstärkt befassen und dafür Lösungsvorschläge beraten. Wir, die Sozialdemokratische Partei,
werden in den nächsten Monaten intensiv darüber diskutieren, wie wir die Energiepreissteigerungen sozial
gerecht abfedern können. Den Aufschlag für diese Diskussion machen wir schon nächste Woche: Als Bundestagsfraktion organisieren wir eine große Konferenz zum
Thema Klimaschutz und soziale Gerechtigkeit. Wir möchten den Klimaschutz mit einem anderen politischen Kernanliegen der Sozialdemokratie, der sozialen Gerechtigkeit, verbinden.
Wir wissen, dass wir je nach Region ganz unterschiedlich vom Klimawandel betroffen sein werden. Aber wie
trifft es die Menschen in ihrer jeweiligen Lebenssituation? Wer wird sich wie anpassen müssen? Was muss die
Politik tun, um die Auswirkungen abzufedern? Ist es gerecht, dass zukünftige Generationen die Lasten des Klimawandels tragen müssen, die von uns gestern und heute
verursacht worden sind? In jedem Fall müssen die Anstrengungen beim Klimaschutz gerecht verteilt werden.
Kann es richtig sein, dass die Menschen ihren Teil zum
Klimaschutz leisten, die Unternehmen demgegenüber die
Standortfrage stellen und die Kosten für den Klimaschutz
auf den Verbraucher abgewälzt werden? Auf diese und
andere Fragen müssen wir Antworten finden.
Wir haben jetzt zweierlei zu tun: Zum einen müssen wir
in der nationalen Debatte für Glaubwürdigkeit sorgen
und die Meseberg-Beschlüsse so umsetzen, dass es zu einer wirklich effektiven Gesetzgebung kommt. Das Klimapaket der Bundesregierung darf nicht zur Luftnummer
werden. Das sage ich vor allem Richtung von Wirtschaftsminister Glos. Zum anderen haben wir als Große Koalition - das sage ich ausdrücklich - die Aufgabe, gemeinsam zu überlegen, wie wir das, was wir in Meseberg
beschlossen haben, noch steigern können, bis wir das
40-Prozent-Ziel erreicht haben, welches wir uns gemeinsam vorgenommen haben. Das kann aber nur gelingen,
wenn wir als Koalition gemeinsam arbeiten und nicht gegeneinander.
Der Emissionshandel hat sich als Klimaschutzinstrument in Europa etabliert und bewährt, auch wenn es Verbesserungsmöglichkeiten gibt. Zum ersten Mal wird innerhalb eines Handelssystems dem CO2-Ausstoß ein
Geldwert zugeordnet. Das heißt, die Luftverschmutzung
wird marktwirtschaftlich relevant. Dieses System ist nicht
nur innovativ, es ist auch flexibel. Denn das europäische
Emissionshandelssystem bindet auch die Schwellen- und
Entwicklungsländer mit ein über den sogenannten CleanDevelopment-Mechanism. Sicherlich ist es richtig, die
Quote für dieses Instrument EU-weit zu beschränken, um
ein Unterlaufen der Klimaschutzmaßnahmen in Europa
zu vermeiden.
Allerdings sehe ich im CDM eine starke entwicklungspolitische Komponente, denn er bietet die Möglichkeit
Entwicklungsländer mit erneuerbaren Energien zu versorgen. Vor diesem Hintergrund stelle ich fest, dass nicht
in allen Entwicklungsländern dieser Mechanismus gleichermaßen zum Einsatz kommt. In Afrika beispielsweise
werden nur 3 Prozent aller CDM-Projekte umgesetzt. Im
Vergleich zu den sogenannten Rising Powers, wie Indien
und China, gibt es dort nur geringe CO2-Einsparpotenziale aufgrund des schwach entwickelten Industrie- und
Energiesektors. Da finanzielle Anreize aus den CER-Einnahmen fehlen, erscheinen Investitionen der Privatwirtschaft auf dem afrikanischen Kontinent wenig attraktiv.
Zudem erweist sich die kaum vorhandene institutionelle
Infrastruktur als zusätzliche Barriere. Einige Länder
Zu Protokoll gegebene Reden
Afrikas sind außerdem belastet durch Korruption, Kriege
und Unruhen und bieten somit kein stabiles Umfeld, das
für die Durchführung von CDM-Projekten notwendig
wäre.
Gerade eine dezentrale Energieversorgung aber leistet einen entscheidenden Beitrag zur Armutsreduzierung.
Durch die Ausweitung von Projekten im Bereich erneuerbarer Energien im Rahmen des CDM könnte beispielsweise für Afrika die entwicklungspolitische Komponente
dieses flexiblen Instruments stärker zum Tragen kommen.
Bisher fehlen allerdings Strategien zur Ausweitung des
CDM in Afrika, die die dortigen Herausforderungen besonders in den Blick nehmen.
Eine Intensivierung des CDM ist grundsätzlich zu begrüßen. Dies gilt vor allen Dingen auch in Hinblick auf
den Anpassungsfonds, der sich aus einer zweiprozentigen
Abgabe aus CDM-Projekten speist. Das Interesse und
Engagement der Privatwirtschaft und der Finanzinstitutionen wird jedoch durch den bürokratischen Aufwand
und die hohen Transaktionskosten geschmälert und erweist sich bei der Ausweitung der CDM-Projekte als kontraproduktiv.
Klimaschutz ist nicht nur eine Frage der nationalen,
sondern vor allem der globalen Verantwortung. Ich sehe
es als unsere Aufgabe, dass wir bei der Gestaltung und
Verbesserung der bereits vorhandenen und wirksamen Instrumente mitwirken.
Europa muss seinen Beitrag zum internationalen Klimaschutz leisten. Mit der Ratsentscheidung im März
2007 hat die EU wichtige Klimaschutzziele beschlossen.
Bis 2020 sollen die Emissionen um mindestens 20 Prozent
gesenkt werden. Die FDP-Bundestagsfraktion begrüßt
dies; wir hoffen aber gleichzeitig, dass dies noch nicht
das letzte Wort gewesen ist. Eine Zielmarke von 30 Prozent ist aus unserer Sicht für einen ambitionierten Klimaschutz nicht nur notwendig, sondern auch realisierbar.
Die Kommission hat nun Richtlinienvorschläge zur
Erreichung dieser Ziele gemacht. Kernstück einer effizienten Klimaschutzpolitik ist der Emissionshandel. Allerdings kritisieren wir, dass in der aktuellen Vorlage der
EU die Lastenverteilung zwischen den Mitgliedstaaten
nicht gerecht ist. Hier wird Deutschland durch das späte
Basisjahr 2005 massiv benachteiligt. Wir sind der Auffassung, historisch frühzeitige Anstrengungen der Länder im
Klimaschutz sollten Berücksichtigung finden. In diesem
Sinne ist das Basisjahr 2005 nicht sachgerecht. Doch
auch das ist Teil eines Verteilungskampfes, den wir auf
europäischer Ebene erleben. Wir erwarten, dass sich die
Bundesregierung in Brüssel deutlich für die Interessen
Deutschlands einsetzt.
Die FDP begrüßt die geplante vollständige Versteigerung der Emissionszertifikate im Stromsektor. Zusatzprofite der Stromkonzerne aus dem Emissionshandel werden
damit vermieden. Allerdings ist es falsch, wenn die EU
den Mitgliedstaaten die Verwendung der Versteigerungserlöse vorschreiben will. Die Rahmenbedingungen sind
in den einzelnen Mitgliedstaaten sehr unterschiedlich. Sie
sollten daher selbst über die Verwendung entscheiden.
Die FDP-Bundestagsfraktion schlägt in ihrem Antrag
vor, das Geld den Verbraucherinnen und Verbrauchern
durch eine Senkung oder Abschaffung der Stromsteuer
zurückzugeben. Das ist unsere Antwort auf steigende
Energiepreise, die der Staat durch einen zu hohen Steueranteil an der Energie mitzuverantworten hat. Der Staat
ist einer der Preistreiber bei den Energiekosten, wir wollen das ändern.
Ein europäisches Emissionshandelssystem muss auch
wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und Wettbewerbsfähigkeit bestimmter Industriezweige beachten. Solange es
kein globales Klimaschutzabkommen gibt, müssen wir
gewährleisten, dass diejenigen Unternehmen, die energieintensiv produzieren müssen und zugleich im weltweiten Wettbewerb stehen, faire Wettbewerbschancen haben.
Es hilft der Umwelt nicht, wenn Stahl, Papier und Zement
statt in der EU in China oder der Ukraine produziert werden.
Die Lösung der EU-Kommission, die Emissionsrechte
an Unternehmen, die einer besonderen Wettbewerbssituation unterliegen, zu verschenken, ist aus unserer
Sicht nur die zweitbeste Lösung. Die FDP schlägt dagegen vor: Die Emissionsrechte sollen auch an energieintensive Unternehmen versteigert werden. Allerdings muss
das mit einem konsistenten Rückerstattungssystem verbunden werden, sodass die Preisanreize des Emissionshandels greifen können, der Steuerungsmechanismus
erhalten bleibt und den Branchen nicht das für den Wettbewerb notwendige Vermögen entzogen wird. Die FDP
appelliert an die Bundesregierung, unseren Vorschlag als
Alternative zum Entwurf der Kommission in die Diskussion einzubringen.
Geradezu schädlich für das Exportland Deutschland,
aber auch für die ganze EU sind allerdings die Überlegungen, Importen aus Nicht-Kioto-Staaten Zölle aufzuerlegen. Dass ein solcher Schritt im Welthandel Gegenreaktionen herausfordern würde, ist sicher. Zölle - auch
zum Zwecke des Klimaschutzes - sind ein Anschlag auf
den Freihandel und gefährden die Exportwirtschaft in
Deutschland und damit Arbeitsplätze in unserem Land.
Wir sehen mit Sorge, dass sich Teile der EU-Kommission für diesen Vorschlag offen zeigen. Ein Exportland
wie Deutschland kann es sich aber nicht leisten, seine
wirtschaftlichen Chancen auf den Märkten durch protektionistische Maßnahmen zu gefährden. Die Bundesregierung ist aufgefordert, dem insbesondere von Frankreich
favorisierten Vorschlag eine klare Absage zu erteilen und
eine Umsetzung zu verhindern.
Dank einem Bericht der Süddeutschen Zeitung vom
22. März sind wir in der Lage, einmal konkret zur deutschen Verhandlungsposition zum Klimaschutzpaket der
EU-Kommission zu reden.
Ich muss schon sagen: Die Position des Bundeswirtschaftsministeriums zum Emissionshandel ab 2013 hat
mich umgehauen. Da stellt doch Herr Glos in seinen
Zu Protokoll gegebene Reden
Änderungen zum Eckpunktepapier der deutschen Verhandlungsposition tatsächlich die Versteigerung der
Emissionsrechte an die Energieversorger infrage - und
das nach den bisherigen Erfahrungen. Weil ihnen die
weitvollen Zertifikate bislang geschenkt wurden, haben
die Stromkonzerne in der ersten Handelsperiode 2005 bis
2007 europaweit bis zu 24 Milliarden an Windfall-Profits
eingefahren. In Phase zwei bis 2012 werden sie nach
Schätzungen noch einmal 14 bis 34 Milliarden Euro Extraprofite einstreichen. Und dies soll nun so weitergehen
bis in alle Ewigkeit?
Ich sage Ihnen ganz deutlich: Sollten die wertvollen
Emissionsrechte am Ende wiederum verschenkt werden,
dann hat sich das Instrument endgültig diskreditiert. Ich
kann Ihnen versichern, dass die Linke dann alles daran
setzen wird, den Emissionshandel und seine Derivate mit
aller Kraft zu bekämpfen. Dabei werden wir bei den meisten Umweltverbänden Verbündete finden, in der Bevölkerung sowieso. Bedenken Sie: Mit einer vollständigen Versteigerung der Zertifikate - natürlich auf Grundlage
anspruchsvoller CO2-Minderungsziele - und einer Begrenzung der Anrechenbarkeit der missbrauchsanfälligen flexiblen Instrumente wie CDM könnten wir einen
Emissionshandel haben, der tatsächlich ein scharfes
Schwert im Klimaschutz wäre. So wie es jetzt läuft, ist es
aber die Perversion eines umweltökonomischen Instruments. Angesichts der Extraprofite sollten die Versorger
- nebenbei bemerkt - keinen Cent an öffentlichen
Geldern für die fragwürdigen CCS-Pilotprojekte der unterirdischen Verklappung von Kraftwerksemissionen bekommen. Die können die Unternehmen nämlich aus der
Portokasse bezahlen.
Doch zurück zu Herrn Glos und seinem Ministerium.
Das BMWi fordert auch zusätzliche Zertifikate für Unternehmen, die AKWs stilllegen. Heißt das etwa, dass an die
Stelle der AKWs nun Kohlekraftwerke treten sollen? Das
lehnen wir ab. Wir sind der Auffassung - und das belegen
auch Studien -, dass bei einem geplanten Atomausstieg
keine zusätzlichen Kohlekraftwerke benötigt werden.
Dazu braucht es aber wirksame Energieeffizienzmaßnahmen und einen deutlichen Ausbau von KWKs und erneuerbaren Energien.
Im Hinblick auf das produzierende Gewerbe sei laut
Bundeswirtschaftsministerium „ein vollständiger Verzicht auf die Auktionierung erforderlich“. Dies steht
ebenfalls dem Vorschlag der EU-Kommission entgegen,
nach dem über entsprechende Sonder- oder Schutzregelungen für diesen Sektor erst dann beraten werden soll,
wenn klar ist, ob es ein anspruchsvolles internationales
Kioto-Nachfolgeabkommen geben wird oder nicht. Gäbe
es ein solches Abkommen, so würde die außereuropäische
Konkurrenz vergleichbare Lasten zu tragen haben. Dementsprechend wäre die Auktionierung kein Nachteil im internationalen Wettbewerb. Wir folgen dieser Logik.
Wird es kein Nachfolgeabkommen geben, kann 2010
immer noch darüber beraten werden, in welcher Weise
besonders betroffenen Branchen geholfen werden kann,
beispielsweise durch einen Klimazoll oder durch teilweise kostenlose Vergabe der Zertifikate. Dabei kann es
aber unserer Ansicht nach nur um jene Branchen gehen,
die zwei Kriterien gleichzeitig erfüllen: Erstens. Sie produzieren trotz fortschrittlicher Technik sehr energieintensiv. Zweitens. Sie stehen auch tatsächlich im größeren
Umfang im Wettbewerb mit Unternehmen außerhalb der
EU.
Das Bundeswirtschaftsministerium - und wohl auch
das BMU - fordert im Eckpunktepapier weiterhin eine
Ausweitung der Anrechenbarkeit von CDM- und JI-Emissionsgutschriften. Die Linke ist jedoch froh, dass die Anrechenbarkeit im Kommissionsentwurf nunmehr stärker
begrenzt ist. Wir alle wissen - ich habe das schon angedeutet -, dass CDM-Projekte sehr anfällig für Manipulationen sind. Die ökologische Integrität ist vielfach nicht
gewährleistet. Es wird in den Projekten im Süden eben
vielfach nicht das zusätzlich eingespart, was im Norden
mit den Emissionsgutschriften zusätzlich ausgestoßen
wird. So wird aus dem Nullsummenspiel eine zusätzliche
Belastung der Erdatmosphäre.
Unsere Position zu den Dingen habe ich hiermit umrissen. Sie können sie auch unserem Entschließungsantrag entnehmen. Die Linke wendet sich dort strikt gegen die Aufweichung des Klima- und Energiepakets der
Kommission durch das BMWi und fordert Wirtschaftsminister Glos auf, endlich eine konstruktive Haltung im
Sinne des Klimaschutzes anzunehmen.
In diesem Zusammenhang begrüßen wir, dass sich
Union und SPD im Bundestag in ihrem Ausschussantrag
wenigstens zur vollständigen Auktionierung im Energiesektor bekannt haben. An anderer Stelle greifen sie
jedoch die Bestimmung an, nach der 20 Prozent der Auktionseinnahmen für Klimaschutzmaßnahmen und zur Abfederung des Strukturwandels zu verwenden sind. Genau
dies unterstützen wir jedoch. Im Gegenteil, der Anteil
hierfür könnte noch deutlich steigen.
Letzteres fordern auch die Grünen in ihrem Antrag.
Leider haben sie aber die Illusion, dass sich der Missbrauch von CDM durch Reformen vollständig ausschließen ließe. Entsprechend fordern sie keine Begrenzung der
Anrechenbarkeit. Ich finde, das ist erstens naiv und zweitens strategischer Unsinn.
In der zweiten Handelsperiode lautet das Minderungsziel der EU im Emissionshandelssektor 107 Millionen
Tonnen CO2. Mehr als das Doppelte, nämlich 221 Millionen Tonnen, können über die flexiblen Instrumente abgerechnet werden. Das hat zur Folge, dass in Europa
künftig mehr Klimagase ausgestoßen werden könnten als
jemals zuvor. Selbst wenn jedes einzelne Emissionsrecht
aus CDM und Jl auf echten Klimagaseinsparungen außerhalb Europas beruhen würde, kann dies bei diesen
Größenordnungen nur als Hemmschuh für den innereuropäischen Strukturwandel hin zu einer kohlenstoffarmen Energieversorgung bezeichnet werden. Der Beginn einer nachhaltigen Energiewende wird sträflich in
die Zukunft verschoben. Und tatsächlich: In Österreich
beklagen die Grünen gerade, dass die Regierung nur
21 Millionen Euro für erneuerbare Energien im Inland
ausgeben will, dafür aber 531 Millionen Euro in Klimaschutzprojekte im Ausland steckt.
Zu Protokoll gegebene Reden
Aus diesem Grunde werden wir uns beim Entschließungsantrag der Grünen enthalten. Da die FDP die
Anrechnung von CDM sogar ausdehnen will, lehnen wir
deren Antrag ab. Das Gleiche gilt für die Beschlussempfehlung, da die Koalition hier unter anderem fordert, die
von der Kommission vorgeschlagene Mittelverwendung
der Auktionseinnahmen für soziale und Umweltschutzzwecke zu beerdigen. Das ist schade, weil die zugrunde
liegende Entschließung ansonsten zu begrüßen ist.
Wir beraten heute über die Vorschläge der EU-Kommission zur Weiterentwicklung des Emissionshandels in
der Zeit von 2013 bis 2020 und damit über ein zentrales
Instrument des Klimaschutzes. Bis 2020 müssen die Industriestaaten ihre Treibhausgas-Emissionen um mindestens 25 bis 40 Prozent gegenüber dem Jahr 1990 reduzieren, wenn eine langfristige Begrenzung der weltweiten
Klimaerwärmung auf 2 Grad gelingen soll. Dazu muss
Europa ambitionierter sein, als es die Kommission anstrebt. Die EU-Staaten müssen sich ohne Wenn und Aber
zu einer mindestens 30-prozentigen Emissionssenkung
bis 2020 verpflichten. Entsprechend niedrig müssen die
Emissionsobergrenzen für den Emissionshandel in der
dritten Handelsperiode festgelegt werden. Hier ist die
EU-Kommission wie auch die Bundesregierung nicht
ehrgeizig genug.
Davon abgesehen gehen die meisten Vorschläge der
Kommission in die richtige Richtung. So ist positiv zu bewerten, dass der internationale Flugverkehr endlich in
den Emissionshandel einbezogen werden soll und dass der
Emissionshandel auf bisher nicht erfasste Treibhausgase
ausgedehnt wird. Für die Verbesserung des Emissionshandels noch wichtiger ist, dass die Emissionszertifikate für
die Energiewirtschaft in der 3. Handelsperiode nicht
mehr kostenlos zugeteilt werden, sondern zu 100 Prozent
versteigert werden sollen. Das haben wir Grüne lange gefordert. Denn damit ist Schluss mit den ungerechtfertigten
Milliardengewinnen, die die Energiekonzerne bisher zulasten der Verbraucherinnen und Verbraucher erzielt haben, indem sie die geschenkten Zertifikate ihren Kunden
teuer in Rechnung stellten. Auch für die bisher praktizierte Bevorzugung der klimaschädlichen Kohle bei der
Zuteilung der Emissionszertifikate ist in Zukunft kein
Raum mehr. Das ist gut so.
Auch für andere Branchen und für den Flugverkehr
sollte die Versteigerung der Regelfall werden. Ob für besonders energieintensive Unternehmen Sonderregelungen nötig sein werden, um Wettbewerbsnachteile und eine
Verlagerung von CO2-intensiven Betrieben zu vermeiden,
ist noch nicht klar. Denn vorrangiges Ziel sollte es sein,
das Problem durch ein ambitioniertes Kioto-Nachfolgeabkommen zu lösen, das international faire Wettbewerbsbedingungen schafft. Nur wenn dies nicht gelingt, sind
Sonderregeln und Schutzmaßnahmen für besonders energieintensive Branchen gerechtfertigt. Auf jeden Fall sollten entsprechende Regeln aber so ausgestaltet werden,
dass auch für energieintensive Unternehmen ein wirtschaftlicher Anreiz zur Minderung ihrer Emissionen verbleibt.
Ein Problem des Emissionshandels, das noch nicht gelöst ist, liegt im Bereich der projektbasierten Mechanismen CDM und JI. Umweltverbände haben aufgezeigt,
dass viele dieser Projekte nur einen zweifelhaften Nutzen
für den Klimaschutz haben, zum Beispiel weil sie keine
zusätzlichen Emissionsreduktionen erbringen, die nicht
ohnehin auch ohne CDM erfolgt wären. Solche „faulen“
CDM-Projekte können dazu führen, dass durch den Emissionshandel insgesamt weniger Emissionen eingespart
werden als vorgesehen. Deshalb müssen Deutschland
und die Europäische Union bei den Verhandlungen über
das Kioto-Nachfolgeprotokoll strengere Regeln und bessere Kontrollen für CDM- und JI-Projekte durchsetzen.
Gelingt das nicht, ist eine weitere Ausdehnung der Anerkennung derartiger Projekte nicht zu rechtfertigen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Entschließungsanträge. Wer stimmt für den Entschließungsantrag
der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/9370? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke mit
den Stimmen des Hauses im Übrigen abgelehnt.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/9371? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen von SPD und CDU/
CSU bei Enthaltung der Fraktion Die Linke und der FDP
bei Gegenstimmen von Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt.
Damit sind wir am Schluss der heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 30. Mai 2008, um
9 Uhr, ein.
Ich wünsche allen Kolleginnen und Kollegen, den
Gästen auf der Zuschauertribüne sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Hauses noch einen schönen
Abend.
Die Sitzung ist geschlossen.