Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 5/29/2008

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Sitzung ist eröffnet. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alle herzlich. Bevor wir in die heutige Tagesordnung eintreten, habe ich einige Mitteilungen zu machen: Ich beginne mit Geburtstagsglückwünschen. Die Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk hat am 15. Mai ihren 60. Geburtstag gefeiert und der Kollege Willy Wimmer am 18. Mai seinen 65. Im Namen des ganzen Hauses gratuliere ich beiden herzlich und wünsche alles Gute. ({0}) In der vorletzten Woche haben die Kollegin Anja Hajduk und der Kollege Bernward Müller auf ihre Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet, nachdem sie Mitglied des Senats in Hamburg bzw. der Landesregierung in Thüringen geworden sind. Als Nachfolger begrüße ich sehr herzlich den Kollegen Manuel Sarrazin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und den Kollegen Christian Hirte in der CDU/ CSU-Fraktion. Herzlich willkommen und gute Zusammenarbeit! ({1}) Es gibt eine interfraktionelle Vereinbarung, nach der die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern ist: ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD: Berichte aus den Unterlagen der Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen, Marianne Birthler, über vertrauliche Gespräche, die Gregor Gysi 1979/80 als DDR-Rechtsanwalt mit Mandanten geführt hat ({2}) ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren ({3}) a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ina Lenke, Sibylle Laurischk, Miriam Gruß, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Faire Chancen für private und privat-gewerbliche Anbieter bei der Kinderbetreuung Ohne weiteres Zögern Entwurf des Kinderförderungsgesetzes vorlegen - Drucksache 16/8406 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({4}) Innenausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hüseyin-Kenan Aydin, Heike Hänsel, Karin Binder, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Hermes-Bürgschaft für das Ilisu-Staudammprojekt zurückziehen - Drucksache 16/9308 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({5}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Hermann Otto Solms, Carl-Ludwig Thiele, Frank Schäffler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Mehr Netto für alle - Drucksache 16/9310 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({6}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Haushaltsausschuss d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Bettina Herlitzius, Britta Haßelmann, Markus Kurth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Redetext Präsident Dr. Norbert Lammert Barrierefreiheit und demografischer Wandel Auf die Herausforderungen für den Tourismus reagieren - Drucksache 16/9315 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Tourismus ({7}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung e) Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht über die Auswirkungen von Rabattvereinbarungen für Arzneimittel, insbesondere auf die Wirksamkeit der Festbetragsregelung - Drucksache 16/9284 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit ZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Unterschiedliche Meinungen in der Bundesregierung zum Energie- und Klimapaket ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Silke Stokar von Neuforn, Kerstin Andreae, Volker Beck ({8}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Persönlichkeitsrechte abhängig Beschäftigter sichern - Datenschutz am Arbeitsplatz stärken - Drucksache 16/9311 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({9}) Innenausschuss ({10}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Federführung strittig ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus Kurth, Kerstin Andreae, Birgitt Bender, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Die gesetzliche Unfallversicherung fit für die Dienstleistungsgesellschaft machen - Drucksache 16/9312 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({11}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Gesundheit ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Karl Addicks, Hellmut Königshaus, Cornelia Pieper, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Tropische Armutskrankheiten stärker in der deutschen Entwicklungszusammenarbeit be- rücksichtigen - Forschungsanstrengungen aus- weiten - Drucksache 16/9309 - ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Dagmar Enkelmann, Dorothée Menzner, Dr. Gesine Lötzsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Zukunft der Bahn für die Menschen sichern - Bahnprivatisierung stoppen - Drucksache 16/9306 - ZP 8 Weitere Wahlen zu Gremien a) Wahlvorschläge der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN Wahl von Mitgliedern in den Stiftungsrat der „Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Dikta- tur“ - Drucksache 16/9352 - b) Wahlvorschlag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wahl eines Mitglieds des Gremiums gemäß § 3 des Bundesschuldenwesengesetzes - Drucksache 16/9353 - c) Wahlvorschlag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wahl eines vom Deutschen Bundestag zu ent- sendenden Mitglieds der gemeinsamen Kom- mission zur Modernisierung der Bund-Länder Finanzbeziehungen - Drucksache 16/9354 - d) Wahlvorschlag der Fraktion der CDU/CSU Wahl eines Mitglieds des Verwaltungsrates der Deutschen Nationalbibliothek gemäß § 6 Abs. 1 Nummer 1 des Gesetzes über die Deut- sche Nationalbibliothek - Drucksache 16/9355 - e) Wahlvorschlag der Fraktion der CDU/CSU Wahl eines Mitglieds des Verwaltungsrates der Filmförderungsanstalt gemäß § 6 des Filmförderungsgesetzes ({12}) - Drucksache 16/9356 - f) Wahlvorschlag der Fraktion der CDU/CSU Wahl eines Mitglieds des Stiftungsrates der „Deutschen Stiftung Friedensforschung ({13})“ - Drucksache 16/9357 Dabei soll von der Frist für den Beginn der Beratungen - soweit erforderlich - abgewichen werden. Die Tagesordnungspunkte 10 b, 24 b und 34 müssen abgesetzt werden. Schließlich mache ich noch auf zwei nachträgliche Ausschussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam: Präsident Dr. Norbert Lammert Der in der 145. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({14}) zur Mitberatung überwiesen werden. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuches sowie anderer Vorschriften - Drucksache 16/8100 Überwiesen: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({15}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Der in der 160. Sitzung des Deutschen Bundestages überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Ausschuss für Arbeit und Soziales ({16}) zur Mitberatung überwiesen werden. Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried Nachtwei, Alexander Bonde, Markus Kurth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Oslo-Prozess zum Erfolg führen - Jegliche Streumunition ächten - Drucksachen 16/8909 überwiesen: Auswärtiger Ausschuss ({17}) Ausschuss für Arbeit und Soziales Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? Das sieht so aus. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe unseren Tagesordnungspunkt 3 auf: Vereinbarte Debatte 60 Jahre Israel Die Fraktionen haben sich darauf verständigt, für die Debatte eineinhalb Stunden vorzusehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst der Kollege Peter Struck für die SPD-Fraktion. ({18})

Dr. Peter Struck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002278, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor 60 Jahren hat sich die Sehnsucht von Millionen von Juden in aller Welt erfüllt die Sehnsucht nach einer Heimstatt, die der jüdischen Leidensgeschichte von Ausgrenzung und Vertreibung, Flucht und Exil ein Ende setzen würde. Diese Leidensgeschichte hat in den Jahren 1933 und folgende ihren schrecklichen Höhepunkt gefunden. Mit der systematischen Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden während der Nazizeit haben die Deutschen unendliche Schuld auf sich geladen - eine Schuld, die niemals vergeht. Für viele Millionen Juden in Europa kam die Gründung des Staates Israel zu spät. Für viele der Überlebenden aber war der neue Staat ein Signal der Hoffnung und des Aufbruchs, ein Ort der Zuflucht. Die Erinnerungsberichte von Zeitzeugen bleiben auch heute noch bewegend. Sie führen vor Augen, mit welch hoffnungsvoller Erwartung Juden in aller Welt an den Radioempfängern mitgefiebert haben, als die Vereinten Nationen im November 1947 über den Teilungsplan entschieden haben - jenen Plan, der den Weg für die Gründung des Staates Israel frei gemacht hat. Wer die Memoiren der Staatsgründer liest, der kann verstehen, wie groß die Freude und die Erleichterung darüber waren, dass sich der Traum Theodor Herzls mit der Gründung des Staates Israel im Mai 1948 erfüllt hat. Man spürt bis heute den Stolz der israelischen Juden auf ihren Staat und die Entschlossenheit, ihn nach innen zu stärken und nach außen gegen seine Feinde zu verteidigen. Was in den Jahrzehnten nach der Staatsgründung geschaffen wurde, zeugt von diesem Stolz und dieser Entschlossenheit. Israel ist heute eine vitale Demokratie und ein blühendes Land voller Dynamik und Innovationskraft. Meine Damen und Herren, Israel konnte auf seinem Weg immer auf die feste Unterstützung Deutschlands rechnen. Die Verbrechen der Nazis haben eine immerwährende Verantwortung der Deutschen für den jüdischen Staat begründet. Diese Verantwortung war und ist Teil deutscher Staatsräson. ({0}) Wir können feststellen, dass in dieser Frage bei den Volksparteien, aber auch aufseiten der FDP und der Grünen große Einigkeit herrscht. Für uns als Deutsche war deshalb das Jahr 2005, als wir den 40. Jahrestag der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Deutschland und Israel feiern konnten, vielleicht sogar ein noch bedeutenderes Datum als das diesjährige Gründungsjubiläum. Dass das Volk der Opfer gerade einmal 20 Jahre nach dem Holocaust diesen Schritt auf das Volk der Täter zugegangen ist, war eine beispiellose Geste, für die wir als Deutsche zutiefst dankbar sein müssen. ({1}) Unsere Beziehungen haben sich seit damals Schritt für Schritt weiterentwickelt und vertieft: Wir sind enge Wirtschaftspartner, wir kooperieren in Wissenschaft und Forschung, es gibt einen regen kulturellen Austausch. Dennoch, so alltäglich der Umgang miteinander über die Jahrzehnte glücklicherweise geworden ist, wird unser Verhältnis zu Israel niemals normal im üblichen Wortsinne sein. Die Vergangenheit wird nicht vergehen. Um es mit einem Zitat Johannes Raus aus seiner Rede vor der Knesset im Jahre 2000 zu sagen: Das Verhältnis zwischen unseren Ländern wird für immer ein besonderes sein. Im Wissen um das Geschehene halten wir die Erinnerung wach. Mit den Lehren aus der Vergangenheit gestalten wir gemeinsame Zukunft. Das ist deutsch-israelische Normalität. Meine Damen und Herren, diese Rede von Bundespräsident Johannes Rau vor der Knesset im Jahr 2000 war zweifellos ein historisches Ereignis. Das erste Mal war ein Deutscher eingeladen, um vor dem Parlament des israelischen Volkes in der Sprache der Täter um Vergebung zu bitten. Johannes Rau hat mit seiner Rede dem deutsch-israelischen Verhältnis einen großen, einen bleibenden Dienst erwiesen. Auch Sie, Frau Bundeskanzlerin, die Sie vor wenigen Wochen die Ehre hatten, als erste Kanzlerin vor der Knesset zu reden, und Sie, Herr Außenminister, haben es geschafft, unsere beiden Völker noch ein Stück näher zusammenrücken zu lassen. Die regelmäßigen Regierungskonsultationen, die Sie mit unseren israelischen Freunden vereinbart haben, markieren einen weiteren Meilenstein in unseren Beziehungen zu Israel. ({2}) 60 Jahre Israel sind zweifellos eine Erfolgsgeschichte eine Erfolgsgeschichte allerdings, die mit einem schweren Makel behaftet bleibt. Auch 60 Jahre nach seiner Gründung kann sich Israel seiner Existenz nicht sicher sein. Beinahe täglich drohen die extremistischen Feinde, den jüdischen Staat zu vernichten. Wir dürfen das nicht widerspruchslos hinnehmen. Das Existenzrecht Israels steht für uns außerhalb jeder Diskussion. ({3}) Dieses Recht darf von niemandem infrage gestellt werden, weder vom Iran noch von anderen radikalen Kräften in der Region. Wir werden dem entschieden entgegentreten. ({4}) Es ist das legitime Recht Israels, sich gegen solche Bedrohungen zu wehren und zu verteidigen. Aber eines ist auch klar: Die Situation, wie sie ist, kann letztlich in niemandes Interesse liegen: nicht im Interesse Israels, das sich fortwährender Bedrohung ausgesetzt sieht und für die Gewährleistung seiner Sicherheit enorme Anstrengungen unternehmen muss, und schon gar nicht im Interesse der Palästinenser, deren Sehnsucht nach Frieden, Wohlstand und einem eigenen Staat bis heute unerfüllt geblieben ist. Alle Akteure in der Region sind deshalb aufgerufen, die hoffnungsvollen Zeichen, die wir im Augenblick sehen - im Libanon, im israelisch-syrischen Verhältnis und auch in Gaza -, zu erkennen und die sich bietende Chance auf echte Fortschritte in Richtung Frieden zu nutzen. Das erfordert von allen Seiten viel Mut und Entschlossenheit. Denn es gilt, auch die jeweils eigene Bevölkerung von unpopulären Entscheidungen zu überzeugen. Aber nur wenn die politischen Führungen in der Region selbst den Willen und die Kraft aufbringen, wird es einen dauerhaften Frieden geben können. Wir als Deutsche sollten uns angesichts unserer Geschichte mit allzu wohlfeilen Vorschlägen zurückhalten. Aber wir sollten helfen, wo wir können und wo wir gefragt sind, um zu einer Friedenslösung beizutragen. Den Frieden im Nahen Osten, so hat es Johannes Rau vor der Knesset formuliert, können nur die Beteiligten selber schließen. Aber bei der Gestaltung des Friedens kann und will auch Europa Ihnen helfen. Zu diesem Versprechen stehen wir uneingeschränkt. ({5}) Ich möchte zum Abschluss für meine Fraktion an die israelischen Freunde gewandt hinzufügen: Seien Sie versichert, dass wir, wie schon in der Vergangenheit, auch in Zukunft an Ihrer Seite stehen. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Dr. Guido Westerwelle, FDP-Fraktion.

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! 60 Jahre Israel, das ist ein Grund zur Freude und zum Feiern, in Israel und besonders auch bei uns in Deutschland. Wir feiern dieses Jubiläum nicht nur hier im Deutschen Bundestag mit dieser Debatte, sondern auch in vielen Veranstaltungen in unserer Republik mit unseren israelischen Freunden, denen wir von Herzen zu ihrem Staatsjubiläum gratulieren. Ohne dem Herrn Bundestagspräsidenten vorgreifen zu wollen, erlaube ich mir, den Herrn Gesandten Mor stellvertretend von dieser Stelle aus herzlich zu begrüßen und Ihnen zu gratulieren. ({0}) Meine Damen und Herren, wir alle spüren das: 60 Jahre Israel, das ist für uns Deutsche kein Jubiläum wie jedes andere. Aber es ist eine schöne Gelegenheit, einen Augenblick innezuhalten und sich klarzumachen, dass, wie es der Kollege Struck zu Recht formuliert hat, das deutsch-israelische Verhältnis, die guten freundschaftlichen Beziehungen Teil der Staatsräson dieser Republik sind. Bei allem, was wir an kontroversen Debatten in diesem Hohen Hause führen und was die Bürgerinnen und Bürger an den Fernsehschirmen in den Abendnachrichten und am nächsten Tag in den Zeitungen beschäftigt, ist es vielleicht ein gutes Zeichen, dass sie auch einmal erkennen, dass uns, wenn es um die großen Linien geht, in diesem Hohen Hause weit mehr verbindet, als uns trennt. ({1}) Ich denke, es ist auch an uns, die Aufbauleistung der Politikergenerationen, die vor uns Verantwortung getragen haben, zu würdigen. Denn dass uns heute eine von politischer Gemeinsamkeit, Offenheit und Intensität geprägte Freundschaft geschenkt wird, ist etwas, worauf vor 60 Jahren niemand ernsthaft hätte hoffen können. Wenn man sich vorstellt, welche Leistung hier von der ersten Politikergeneration nach der Schoah erbracht wurde, dann wirken unsere Debatten - so leidenschaftlich und voller Überzeugung wir sie auf allen Seiten auch führen - im Vergleich dazu gelegentlich klein. Wir wollen festhalten, dass das deutsch-israelische Verhältnis, die deutsch-israelische Freundschaft, die guten gemeinsamen Beziehungen immer in guten Händen gewesen sind, bei allen Bundesregierungen seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland. Das gilt von Konrad Adenauer über Theodor Heuss, Willy Brandt und Walter Scheel bis zur heutigen Regierung Merkel/Steinmeier, und es tut auch einer Opposition keinen Abbruch, wenn das hier ausdrücklich anerkannt wird. ({2}) Die Aussöhnungsleistung, die von der Kriegs- und Nachkriegsgeneration in Israel und Deutschland erbracht wurde, ist das große Geschenk an die Generation von heute. Man muss sich bewusst machen, in welcher Zeit und nach welcher Menschheitskatastrophe, von deutschen Händen bewirkt, diese Aussöhnung begonnen wurde. Was Deutschland und Israel heute verbindet, ist aber nicht nur das Wunder der Aussöhnung, sondern die echte Partnerschaft zwischen zwei Demokratien, die uns von Tag zu Tag trägt. Wir schätzen Israel als Partner, der die gleichen Traditionen und Werte in sich trägt und der die einzige wirklich voll ausgeprägte Demokratie in der gesamten Region ist. Was unsere Freundschaft mit Israel ausmacht, ist eben nicht nur die Verantwortung, die uns unsere Geschichte mitgibt, sondern auch die Wertegemeinschaft unter Demokraten. Vielen jungen Menschen, die heute zur Schule gehen, muss man nachdrücklich sagen: Es geht nicht nur um eure persönliche Verantwortung, der ihr euch aufgrund der Geschichte nicht entziehen könnt. Es geht auch um unser eigenes und um das europäische Interesse. Es ist nicht nur unsere moralische Verantwortung, die uns zu guten deutsch-israelischen Beziehungen veranlasst. Es ist auch unser eigenes Interesse, weil Israel die einzige Demokratie der gesamten Region ist. Es gibt eine Wertegemeinschaft unter Demokraten. ({3}) Die Freundschaft zwischen Deutschland und Israel wird nicht allein durch Regierungen, Parlamente und kleine Zirkel stabil, so wichtig deren Wirken ist. Die heutige Freundschaft zwischen Deutschland und Israel geht tief in die Gesellschaften hinein. Das ist der erfreulichste und wichtigste Punkt, den man heute sagen kann. Mehr als 100 Partnerschaften zwischen deutschen und israelischen Städten, Hochschulkooperationen, ein sehr reger Jugendaustausch und jedes Jahr viele Tausend Besucher sind - mit Verlaub gesagt - mehr wert als das, was Regierungen richtigerweise leisten oder auch leisten können. Die Freundschaft der Völker ist es, die uns heute trägt, und nicht nur eine Freundschaft von Regierungen. Die Tatsache, dass in Deutschland die jüdische Kultur wieder einen festen Platz hat und eine unschätzbare Bereicherung darstellt, ist der beste Ausdruck für diese tiefe Verbundenheit, die uns heute trägt. Was wir anlässlich der Staatsgründung Israels vor 60 Jahren an Veranstaltungen quer durch ganz Deutschland erleben, ist ein beeindruckendes Beispiel für diese enge gesellschaftliche Verbundenheit. Herr Mor, genau darauf kommt es natürlich auch an. ({4}) Ich möchte mit einer kurzen persönlichen Betrachtung schließen. Wie viele von Ihnen - ich vermute, fast alle - habe auch ich bereits als junger Mensch - ich war damals Mitte zwanzig - Israel bereisen dürfen. Wir waren damals sehr beeindruckt von den vielen historischen Stätten der Altstadt Jerusalems und von anderen Orten in Israel sowie von der Freundlichkeit und Herzlichkeit der Menschen und natürlich von vielem anderen mehr. Am besten erinnere ich mich persönlich an den Moment, als ich auf den Golan-Höhen stand und - im übertragenen Sinne - das ganze Land so überblicken konnte, dass ich das Gefühl hatte, alles wäre zum Greifen nahe. Denn Israel ist ja viel kleiner, als es uns abends in der Tagesschau auf den Landkarten erscheint. Ich spreche jetzt nicht über die völkerrechtliche Problematik der Golan-Höhen, was mich als Studenten vielleicht theoretisch, aber weniger praktisch beschäftigt hat. Ich spreche einfach nur von diesem Gefühl, das ich auf den GolanHöhen empfand. Wenn man dort steht, dann versteht man auch die Verletzlichkeit dieses Staates. ({5}) Das ist es, was das Leben der Menschen in Israel prägt: die Verletzlichkeit. Wenn man diese Verletzlichkeit und das Gefühl für die Verletzlichkeit kennt und wenn man lernt, dafür sensibel zu sein, dann ist eine wichtige Grundlage für gute Beziehungen geschaffen. Uns ist bewusst: Wir haben - so hat es Herr Kollege Struck schon gesagt, und ich bin sicher, auch Sie, Herr Kollege Kauder, und andere Redner nach mir werden dies betonen - eine gemeinsame Verantwortung für die Existenz Israels. Unser gemeinsames Ziel liegt darin, eine politisch solide abgesicherte Basis für Frieden und Sicherheit der Menschen in Israel zu schaffen. Daran wollen wir mitwirken. Wir wollen natürlich aber auch nicht vergessen: Dauerhaften Frieden wird es in dieser Region nur geben, wenn die einen das Existenzrecht Israels und die anderen das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser wirklich anerkennen und sich auch so verhalten. Die Aussöhnungsleistung nach Ende des Zweiten Weltkrieges war eine große humane Anstrengung. Es ist an uns, dies fortzuführen. Es ist an uns, sich dieser Verantwortung für die Zukunft bewusst zu sein. Ich habe gar keinen Zweifel daran, dass sich die große Mehrheit unseres Volkes und selbstverständlich auch die große Mehrheit der politischen Entscheidungsträger dieser Verantwortung für die Geschichte, für die Gegenwart und für die Zukunft in vollem Umfange bewusst sind. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist Volker Kauder für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Volker Kauder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001074, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion gratuliert Israel, seinen Bürgerinnen und Bürgern und Ihnen, Herr Gesandter Mor, der Sie heute den Staat Israel vertreten, recht herzlich zum 60-jährigen Jubiläum. Wir gratulieren als Freunde. Es ist ein schönes Symbol der Freundschaft, dass heute nicht nur der Vertreter Israels auf der Tribüne Platz genommen hat, sondern auch der Präsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, unser früherer Kollege Jochen Feilcke. Dieses schöne Symbol zeigt, wie wir in den Jahren zusammengewachsen sind und dass wir gemeinsame Interessen und Ziele vertreten. Wenn wir heute wie selbstverständlich sagen, dass Deutschland und Israel eine tiefe Freundschaft verbindet, so war dies beim Start gar nicht selbstverständlich. Der brutale Naziterror und die Schoah standen trennend zwischen uns. Da bedurfte es schon zweier mutiger und besonnener Männer wie Konrad Adenauer und David Ben-Gurion, um hier einen neuen Schritt zu machen, einen neuen Weg zu wagen. Für beide war es nicht einfach. Konrad Adenauer war es ein Herzensanliegen, die Versöhnung zu erreichen. Er wusste ganz genau, dass Voraussetzung dafür war, dass die Schuld für das bedingungslos anerkannt wurde, was den Juden in Europa im Dritten Reich im Namen der Deutschen zugestoßen ist. Voraussetzung dafür war auch, dass wir über die konkrete geschichtliche Zeit hinaus dauerhaft Verantwortung dafür übernommen haben, dass so etwas nie wieder passiert. Es war David Ben-Gurion, der die ausgestreckte Hand entgegengenommen hat und in seinem Land dafür werben musste, dass wir nur so eine gemeinsame Zukunft haben. Wie lang der Weg dann noch war, wissen wir. Es hat bis 1965 gedauert, bis wir diplomatische Beziehungen aufnehmen konnten. Die Regierungen in Deutschland und die demokratischen Parteien haben diesen Weg immer konsequent begleitet - mit dem bisher vorläufigen Höhepunkt, dass mit Angela Merkel ein deutscher Regierungschef in einer beeindruckenden Rede und in einem historischen Auftritt vor der Knesset gesprochen hat. Herzlichen Dank dafür, was in dieser Rede gesagt worden ist und was uns alle, die Welt und Israel, beeindruckt hat! ({0}) Uns verbindet mit Israel nicht nur die Geschichte. Wir vertreten auch dieselben Werte. Israel - dies ist bereits gesagt worden - ist die einzige Demokratie im Nahen Osten. Israel ist eine Demokratie, in der Pressefreiheit gewährleistet wird. Gerade im Nahen Osten ist von besonderer Bedeutung: Israel gewährleistet Religionsfreiheit. Deshalb: Wer sich zum Existenzrecht Israels bekennt, bekennt sich auch zur christlich-jüdischen Tradition, zu der Israel gehört, und zu den gemeinsamen Werten, die Demokratien verbinden. ({1}) Die Menschen in dieser Demokratie - das kann sich keiner von uns vorstellen - konnten in den vergangenen 60 Jahren keinen einzigen Tag wirklich in Frieden leben. Ständig wurden die Demokratie, der Frieden und die Freiheit bekämpft. Jeden Tag mit Gewalt, mit Selbstmordattentaten rechnen zu müssen - das ist Alltag in Israel. Deswegen ist völlig klar, dass es im Nahen Osten nur dann Frieden geben kann, wenn das Existenzrecht Israels anerkannt wird, das für uns zur Staatsräson der Bundesrepublik Deutschland gehört. ({2}) Nicht Israel gefährdet den Frieden im Nahen Osten, sondern die Staaten, die das Existenzrecht Israels nicht anerkennen; die allermeisten davon grenzen übrigens an Israel. Nicht Israel gefährdet den Frieden im Nahen Osten, sondern ein Land wie der Iran, der atomar aufrüstet, dessen Staatschef den unglaublichen Satz sagte, dass Israel von der Landkarte getilgt werden müsse. Mit solchen Reden, mit solchen Vorstellungen wird es im Nahen Osten auf gar keinen Fall Frieden geben. Auch diejenigen gefährden den Frieden, die glauben, ihre Vorstellungen mit Selbstmordattentaten in die Tat umsetzen zu können. Wir wissen aus leidvollen Erfahrungen, die wir in der Geschichte und der Gegenwart gesammelt haben, dass mit Gewalt kein Frieden erreicht werden kann, sondern nur im politischen Dialog. Wir wissen, dass jeder auf Maximalforderungen verzichten und man aufeinander zugehen muss. Diesen Weg des Dialogs werden Deutschland und Europa mit ganzer Kraft begleiten. ({3}) Neben dem Existenzrecht Israels sehen wir aber auch die Wünsche der Palästinenser. Israel hat sich darüber gefreut, endlich in einem eigenen Staat die Zukunft gestalten zu können. So wie wir diesen Wunsch anerkannt haben, erkennen wir natürlich auch den Wunsch der Palästinenser an, in einem eigenen Staat die Zukunft zu geVolker Kauder stalten. Den Menschen in Palästina muss man aber sagen: Lassen Sie sich nicht von Terroristen, von Radikalen, von Extremisten vertreten, sondern setzen Sie darauf, dass man im Gespräch zueinanderkommt. Niemand hat es treffender und pointierter formuliert als der Historiker Arno Lustiger: Wenn die Araber die Waffen endlich niederlegen, wird es keinen Krieg mehr geben. Aber wenn Israel die Waffen niederlegt, wird es kein Israel mehr geben. Das ist die Situation im Nahen Osten. Der Nahostkonflikt darf nicht die Sicht auf das verstellen, was in Israel in 60 Jahren geleistet wurde: Israel hat die Wüste zum Blühen gebracht; Israel ist ein Land mit moderner Technologie; Israel ist ein Land von Wissenschaft und Forschung; Israel ist ein Land mit einer hohen Kultur - ich nenne nur Kunst, Literatur und Musik. Es ist eine der beglückenden Erfahrungen der Nachkriegsgeneration in Deutschland, dass nach Naziterror und Schoah in Deutschland und vor allem in Berlin, Herr Gesandter Mor, wieder pulsierendes, aktives jüdisches Leben entstanden ist. ({4}) Bei allen Problemen, die die jüdischen Gemeinden haben, sehen wir mit großer Freude die Kraft, die darin steckt. Wir unterstützen jüdisches Leben in Deutschland und Berlin. Das können wir beispielsweise dadurch tun, dass wir an den Jüdischen Kulturtagen, die einmal im Jahr in Berlin stattfinden, teilnehmen. Hier wird uns die ganze Fülle dessen präsentiert, was wir während des Naziterrors vernichtet haben. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sehen mit Zuversicht die zarten, leichten Versuche, sich aufeinander zuzubewegen, zum Beispiel jetzt in inoffiziellen Kontakten mit Syrien. Ich habe gestern mit großer Freude gelesen, dass es mit der Hisbollah im Libanon erste Gespräche darüber gibt, Gefangene auszutauschen. Ich war im vorvergangenen Jahr in Israel und habe dort mit den Ehefrauen der Männer gesprochen, die im Libanon gefangen gehalten werden. Ich kann mir vorstellen, welche Freude bei diesen jungen Frauen entstehen wird, wenn sie erfahren, dass ihre Männer zurückkehren. Dies ist noch lange nicht die Lösung des Problems. Aber wir wissen aus der Erfahrung im Nahostkonflikt, dass wir aus diesen kleinen Bewegungen heraus Zuversicht schöpfen können, dass sich etwas in die richtige Richtung bewegt. Wir werden immer an der Seite Israels stehen. Israel kann sich auf unsere tiefe Freundschaft verlassen. Wir wollen, dass diese Demokratie im Nahen Osten ansteckend wirkt. Wir wollen auch, dass die Menschen im Nahen Osten mit der Perspektive auf Frieden leben können - die Menschen in Israel und die Palästinenser. Den Beitrag, den wir leisten können, werden wir leisten. Es ist noch ein weiter Weg. Ich hoffe, Herr Mor, dass wir beim hundertjährigen Jubiläum feststellen können: Israel lebt in Frieden und Freiheit mit seinen Nachbarn. Das, was wir in Europa erreicht haben, wünschen wir Ihnen von Herzen. Herzlichen Glückwunsch zum 60-jährigen Jubiläum! ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält jetzt die Kollegin Petra Pau, Fraktion Die Linke. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir reden über einen Jahrestag, der alles andere als alltäglich ist. 60 Jahre Israel sind etwas Besonderes, weil es eine einmalig schlimme Vorgeschichte gibt: den Holocaust. 60 Jahre Israel sind nicht alltäglich, weil nie absehbar war, ob Israel 60 Jahre alt wird. 60 Jahre Israel beantworten nicht die Frage, was künftig sein wird. Vor reichlich einem Jahr sprach hier Imre Kertész. Er las aus seinem Buch Kaddisch für ein nicht geborenes Kind. Er versuchte, uns nahezubringen, dass der Holocaust nicht nur ein Völkermord an 6 Millionen Jüdinnen und Juden war, nein, er hat auch tiefe Furchen in das Leben der Überlebenden und in das der jüdischen Nachfahren gebrannt. In einem Interview hat Imre Kertész es so formuliert: Vor Auschwitz war Auschwitz unvorstellbar, heute ist es das nicht mehr. Da Auschwitz in Wirklichkeit passierte, ist es in unsere Fantasie eingedrungen, wurde ein fester Bestandteil von uns. Was wir uns vorstellen können, weil es in Wirklichkeit passiert ist, das kann wieder passieren. Auschwitz ist tief in unsere Fantasie eingedrungen. Schon dieser Satz mag beschreiben, warum Israel für Jüdinnen und Juden in aller Welt heute nicht nur aus religiösen Gründen heilig ist. Der Staat Israel ist für sie eine Überlebensversicherung. So begründet allein schon das Menschenrecht auf Leben das Existenzrecht des Staates Israel. ({0}) Oder anders gesagt: Wer das Existenzrecht Israels infrage stellt, rüttelt am Lebensrecht von Jüdinnen und Juden. Das ist letztlich die logische Konsequenz gerade aus der deutschen Geschichte. Deshalb sollte es im Deutschen Bundestag fraktionsübergreifend keinen Zweifel geben: 60 Jahre Israel, das ist auch für uns ein wichtiges Jubiläum. Schalom! ({1}) Schalom bedeutet unter anderem Sicherheit und Frieden. Der Gruß Schalom hat übrigens eine Entsprechung im Arabischen: Salam. Aber Schalom und Salam kommen nicht zusammen. Auch das gehört zur Geschichte von 60 Jahren Israel. Das Hochgefühl der Gründung Israels vor 60 Jahren barg von Anfang an einen Konflikt, der noch immer ungelöst ist. Im Kalten Krieg wurde er oft zu einem „pro Israel“ kontra „pro Palästina“ versimpelt. Der Konflikt wurde, wie viele andere auch, zum Stellvertreterkrieg zwischen den Weltblöcken West und Ost. Heute ist klar: Das war keine Lösung. Letztlich wurden die Spannungen, die im Nahen Osten ohnehin existierten, dadurch sogar noch verschärft. Hinzu kommt: Es ist keine Lösung in Sicht. Ich denke, auch deshalb sollte keiner von uns beanspruchen, wir hätten die Lösung in der Tasche. Das wäre vermessen, und das wäre unangemessen gegenüber Jüdinnen und Juden, aber auch gegenüber Palästinenserinnen und Palästinensern, zumal die Gegenüberstellung „Hier die Juden, da die Palästinenser“ im wahren Leben so auch nicht stimmt. Wer in Israel genau hinhört, wird kritische Debatten erleben, die hierzulande fälschlicherweise als unkorrekt gelten. Wer nachdenklichen Palästinensern zuhört, wird Debatten erleben, die vom Wunsch nach dem überfälligen Frieden zwischen Israel und Palästina beseelt sind. Beide beziehen sich aufeinander, weil sie miteinander nach einer Lösung suchen. ({2}) So wünsche ich mir zum Beispiel von den deutschen Medien, dass sie die Initiativen, die Schalom und Salam wirklich zusammenführen wollen, viel mehr unterstützen; auch das gehört für mich zur historischen Verantwortung Deutschlands. Es gibt solche Initiativen in Israel, in Palästina und auch hierzulande. Gleichwohl sind 60 Jahre Israel auch 60 Jahre Nahostkonflikt. Er harrt einer Lösung, für die unmittelbar Betroffenen in Israel und Palästina, aber auch darüber hinaus. Denn der Nahostkonflikt birgt Sprengstoff für die Welt insgesamt. Hier stellt sich natürlich die grundsätzliche Frage: Welche Position der Vernunft kommt dabei Deutschland zu? Ich finde, es darf keinerlei Zweifel am Existenzrecht Israels geben. Es darf aber auch keinen Zweifel am Recht der Palästinenser geben, in Würde zu leben. Wir haben eine Doppelverantwortung: Wir stehen gegenüber Jüdinnen und Juden in tiefer Schuld. Genau deshalb darf es aber nicht so sein, dass die Palästinenser unter der historischen Schuld Deutschlands leiden. ({3}) Wer 60 Jahre Israel begrüßt - ich tue das ausdrücklich -, muss zugleich das Schicksal der Palästinenser im Blick haben. Denn so unklar die Zukunft im Nahen Osten ist, so klar ist: Frieden wird es nur miteinander und nie gegeneinander geben. Letztlich trägt eine Lösung für alle nur dann, wenn sie vor dem Völkerrecht Bestand hat. Die tiefste rechtliche Konsequenz aus der mörderischen Praxis des NS-Regimes wurde in Art. 1 des Grundgesetzes verankert: Die Würde des Menschen, aller Menschen, ist unantastbar. Das heißt für mich aber auch: Sogenannte nationale Befreiungsbewegungen, die Attentate verüben und dabei Unschuldige morden, sind keine Menschenrechtsbewegungen. ({4}) Es wäre aber unredlich, Millionen Palästinenser - Frauen, Männer, Kinder und Greise - dafür kollektiv zu bestrafen. Die Geburt Israels vor 60 Jahren war ein historisches Ereignis. Aber sie war, wie der israelische Journalist Igal Avidan schreibt, ein „Kaiserschnitt“, ein Kaiserschnitt, der heute noch blutet. So mischt sich Jubiläumsfreude mit anhaltender Sorge. Ich bin vor Wochen gebeten worden, ein Grußwort „60 Jahre Israel“ zu schreiben. Dazu war ich gerne bereit, zumal ich erst kurz vorher in Israel war. Dort hatte ich in Jerusalem an einer internationalen Konferenz gegen Antisemitismus teilgenommen. Natürlich kam ich mit Eindrücken zurück, die so vielfältig und widersprüchlich wie Israel selbst sind. Umso länger dachte ich dann über mein Grußwort nach. Ich entschied mich schließlich für eine Anleihe beim Friedenslied von Bertolt Brecht: Friede in unserem Hause! Friede im Hause nebenan! Friede dem friedlichen Nachbarn, Daß jedes gedeihen kann. Einen Vers aus dem Friedenslied habe ich allerdings bewusst weggelassen: Friede in unserem Lande! Friede in unserer Stadt! Daß sie den gut behause, Der sie gebauet hat! Ich habe ihn bewusst ausgelassen, weil ich die Siedlungspolitik in diesem Grußwort nicht gutheißen wollte; denn auch sie ist ein Grund dafür, dass, um im Bild zu bleiben, der Kaiserschnitt noch immer blutet. ({5}) Nun spreche ich hier auch als Innenpolitikerin der Fraktion Die Linke. Meine Pro-Themen sind Bürgerrechte und Demokratie, meine Anti-Themen sind Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus. Deshalb sage ich auch: Man kann nicht 60 Jahre Israel würdigen und zugleich den Antisemitismus hierzulande ausblenden. ({6}) Es ist richtig: Es gibt wieder jüdisches Leben. Das ist ein historisch unverdientes Geschenk der Jüdinnen und Juden an Deutschland und eine Bereicherung unserer Vielfalt und Kultur. Das jüdische Leben hierzulande ist aber alles andere als normal. Noch immer müssen Synagogen und jüdische Schulen sowie Kindergärten besonders geschützt werden. Im statistischen Schnitt wird in der Bundesrepublik Woche für Woche ein jüdischer Friedhof geschändet. Soziologische Untersuchungen belegen: Mehr als ein Drittel der Deutschen ist latent antisemitisch eingestellt - im Westen der Republik übrigens mehr als im Osten. Das ist der aktuelle Befund. Antisemitismus aber ist keine politische Kritik. Antisemitismus ist eine menschenverachtende Ideologie. ({7}) Sie grassiert noch immer oder schon wieder inmitten der Gesellschaft: an Stammtischen, in Chefetagen, im Alltag. Umso wichtiger finde ich es, dass sich nunmehr über die heutige Debatte hinaus im Bundestag Kolleginnen und Kollegen aus allen Fraktionen zusammengefunden haben und zusammenfinden, um sich diesen gesellschaftlichen Problemen fern aller Parteirituale ernsthafter als bisher zuzuwenden. Ich persönlich werde meinen Beitrag dazu leisten - als Lehre aus der Geschichte und aus Sorge um die Zukunft. ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Fritz Kuhn, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Fritz Kuhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003577, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Fraktion und meine Partei haben den Israelis aus vollem Herzen und tiefer Überzeugung zum 60. Jahrestag ihrer Staatsgründung gratuliert. Wir teilen die immer wieder auch hier geäußerte Auffassung und Überzeugung, dass das Existenzrecht Israels zur Staatsräson der Bundesrepublik Deutschland gehört. Dies gilt für alle Parteien. Frau Pau, ich wünsche Ihnen ganz aufrichtig, dass die Position, die Sie hier mit Ihrer Rede vertreten haben, auch in Ihrer Partei eine eindeutige Mehrheit findet. ({0}) Ich finde, wir müssen uns aber auch konkret mit den Konsequenzen der Aussage befassen, dass das Existenzrecht Israels politische Priorität in der Staatsräson Deutschlands hat. Denn es geht nicht nur um das Existenzrecht Israels, sondern auch um seine Existenz. Sechs Kriege und zwei Intifadas in diesen 60 Jahren zeugen von einer tragischen und blutigen Geschichte. Welche Konsequenzen muss dies alles für uns und die praktische Politik haben? Erstens darf die Erinnerung an den Holocaust und die Bewältigung dieser deutschen Vergangenheit niemals aufgegeben werden. Das bleibt auch unsere Aufgabe für die Zukunft. Zweitens muss die Bekämpfung des Antisemitismus und der Ausländerfeindlichkeit in Deutschland für uns höchste Priorität haben. Ohne diese Überzeugung machen alle Bekenntnisse wenig Sinn. ({1}) Drittens müssen wir die Intensivierung der Beziehungen zu Israel, die wohl niemals normal sein werden, fortsetzen. Ich glaube, dass auch bei den Fraktionen und der Regierung der Wille dazu vorhanden ist. Wir müssen Israel auch konkret sowohl vor der propagandistischen Ächtung, wie sie von der derzeitigen Regierung im Iran ausgeht, als auch vor einer möglichen militärischen Bedrohung schützen. ({2}) Die vergangenen Montag von der IAEA vorgelegten Berichte geben Anlass zur ernsten Sorge, was in Teheran geplant wird und geschieht. Wir sind der Überzeugung, dass man nur durch eine kluge Verbindung von Sanktionen und politischen Gesprächen die Situation im Sinne einer friedlichen Klärung lösen kann. Man muss konsequent klarmachen, dass eine atomare Bedrohung Israels für uns nicht akzeptabel ist. ({3}) Ich möchte auf den aktuellen Friedensprozess im Nahen Osten eingehen. Eine genaue Betrachtung zeigt, dass die Erfolge des Annapolis-Prozesses sehr stark gefährdet sind. Ich halte es auch in einer Debatte wie dieser für notwendig, an die Palästinenser - jedenfalls an diejenigen, die glauben, dass Gewalt eine Lösung sein kann die klare Botschaft zu richten, dass sie durch Terror und Gewalt niemals Frieden und Wohlstand für ihre Bevölkerung erlangen können. ({4}) Das sage ich als jemand, der tief davon überzeugt ist, dass die Palästinenser ein Selbstbestimmungsrecht und ein Recht darauf haben, einen eigenen Staat im Rahmen einer Zweistaatenlösung zu gestalten, die uns als einzige mögliche Lösung für die Region erscheint. Auch Israel - ich betrachte das nicht als einen Ratschlag von außen, Frau Bundeskanzlerin - muss die Friedenswilligen, Gewaltfreien und Gewaltablehnenden im Palästinenserlager mehr stärken, als dies seit Annapolis geschehen ist. Wer glaubt, den Präsidenten Abu Masen zu stärken, indem er nach der Annapolis-Konferenz neue Siedlungen in Jerusalem baut und von der Politik der zunehmenden Sicherheitskontrollen und Checkpoints nicht abrückt, der täuscht sich möglicherweise und stärkt eher die Gegner. Auch dies möchte ich als Grüner in dieser Debatte festhalten. ({5}) Dass der Verteidigungsminister Israels, Ehud Barak, nach Ihrem Besuch gesagt hat, es würden keine Checkpoints geräumt, ist kein ermutigendes Zeichen. Ich möchte noch einen dritten Punkt ansprechen. Wer Israel helfen will - dies gilt insbesondere für alle Europäer -, der muss alles tun, um die Zahl der Feinde Israels zu reduzieren. Deswegen begrüßen wir auch die türkischen Vermittlungsversuche, um zwischen Syrien und Israel zu einem Frieden zu kommen. Es war richtig, dass der Bundesaußenminister diese Politik einer möglichen Öffnung gegenüber Syrien oder wenigstens des Eruierens dieser Öffnung im vergangenen Jahr aktiv angegangen ist. ({6}) Wir haben auch Hoffnungen, dass es wenigstens zu indirekten Verhandlungen mit Hamas kommen kann, zum Beispiel durch die ägyptische Vermittlung, was einen konkreten Waffenstillstand zwischen den Menschen im Gazastreifen und Israel angeht; denn ein Waffenstillstand ist auch ein Baustein auf dem schwierigen Weg zu einem Frieden zweier Staaten nach der Konferenz von Annapolis. Politik besteht darin - so schwierig das im Detail sein kann -, aus Feinden Gesprächspartner zu machen. Ich wünsche mir, dass die Europäische Union diesen Prozess des Friedens nach Annapolis mit allem, was ihr zur Verfügung steht, stärkt. Darin sehe jedenfalls ich die Aufgabe der deutschen Politik, wenn sie ihre Verantwortung aus unserer Geschichte wirklich ernst nimmt. Vielen Dank. ({7})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile nun das Wort dem Bundesminister des Auswärtigen, Frank-Walter Steinmeier. ({0})

Dr. Frank Walter Steinmeier (Minister:in)

Politiker ID: 11004167

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor 60 Jahren hielten die Bürger des gerade neu gegründeten Staates Israel ihre ersten Reisepässe in der Hand. Diese Reisepässe hatten eine Besonderheit. Sie trugen den Vermerk: Dieser Reisepass gilt in allen Ländern mit Ausnahme Deutschlands. - Das war vor 60 Jahren. Vor zweieinhalb Monaten standen wir, neun Mitglieder des Bundeskabinetts, mit unseren israelischen Amtskollegen im gemeinsamen Gedenken in Jad Waschem. Ich habe hier bekannt: Das war einer der bewegendsten Momente in meinem politischen Leben. Zwischen diesem Sperrvermerk, von dem ich gesprochen habe, und den deutsch-israelischen Regierungskonsultationen vor zweieinhalb Monaten liegen 60 Jahre; 60 Jahre der Arbeit der Repräsentanten israelischer und deutscher Politik, aber auch 60 Jahre der Arbeit von Bürgerinnen und Bürgern. Wissenschaftler und Gewerkschafter waren es, die die ersten Kontakte auf der zivilgesellschaftlichen Ebene zwischen Deutschland und Israel geknüpft haben. Heute, 43 Jahre nach der Aufnahme diplomatischer Beziehungen, sind unsere Beziehungen zu Israel so vielfältig und inhaltsreich wie mit kaum einem anderen Land dieser Welt. Israel zählt Deutschland inzwischen zu seinen engsten Verbündeten und Freunden, eine Entwicklung, die uns ganz sicher mit Dankbarkeit erfüllen muss. ({0}) Dennoch - darauf haben viele hingewiesen - müssen wir wohl akzeptieren, wenn Amos Oz schreibt: Keine Normalisierung. Normale Beziehungen zwischen Deutschland und Israel sind nicht möglich und nicht angemessen. Die Schoah, der millionenfache Mord, das unermessliche Leid, das Deutsche über Deutsche und andere Europäer jüdischen Glaubens gebracht haben, ist Teil unserer Geschichte. Die tägliche Erinnerung und die tägliche Auseinandersetzung mit der Schoah, mit Rassismus, ja auch mit Antisemitismus bei uns ist deshalb Teil unserer Gegenwart und wird und muss Teil unserer Zukunft bleiben. Darum werden eben unsere Beziehungen zu Israel für immer besondere Beziehungen sein. Was bedeutet das aber heute, 60 Jahre nach der Gründung Israels? Für mich ergeben sich daraus drei Kernaufgaben für deutsche Außenpolitik: Die erste Aufgabe - das haben alle gesagt - ist das Eintreten für die Existenz und für die Sicherheit des Staates Israel. Das muss eine Konstante deutscher Außenpolitik bleiben. Dazu gehört in der Tat auch, dem Gerede des iranischen Staatspräsidenten immer wieder entgegenzutreten. Seine Leugnung des Holocaust ist ebenso unerträglich wie das Infragestellen des Existenzrechts Israels. Dazu muss es klare Botschaften geben. ({1}) Meine Damen und Herren, zum Beistand für Israel gehört nach meiner Überzeugung aber auch noch etwas anderes. Ich zitiere noch einmal Amos Oz: Was Israel am allermeisten brauchen wird, ist eine emotionale Versicherung. Denn wir fühlen uns als Geächtete, verflucht und gehasst. Ein solcher Rückhalt würde keinen Pfennig kosten, nur Empathie. Dazu muss man nicht mit der israelischen Politik einverstanden sein. Aber ein europäisches Mitgefühl für die heute schwierige Lage Israels könnte den Moderaten und Tauben hier helfen. Bei diesen Worten von Amos Oz dachte ich persönlich an die manchmal etwas wohlfeile Art, in der wir aus unserem europäischen Ohrensessel mit klugen Kommentaren über den Nahostfriedensprozess urteilen und unseren Frust über ausbleibende Fortschritte mit schlauen Ratschlägen an die Adresse Israels garnieren. Man muss in der Tat nicht mit jedem Vorschlag der israelischen Politik einverstanden sein, und dort, wo es Dissens gibt, muss man auch offen darüber sprechen. Aber meine Erfahrung ist eben auch, dass ein kritisches Wort umso leichter oder vielleicht auch nur dann akzeptiert wird, wenn es von einem Freund kommt, der wirklich Verständnis und Empathie für die Zwangslage - viele haben zu Recht von einer Bedrohungslage gesprochen - des anderen hat und zeigt. ({2}) Den zweiten Auftrag für die deutsche Außenpolitik sehe ich darin, dass wir unsere bilateralen Beziehungen noch dichter gestalten und zukunftsorientierter ausbauen. In den Regierungskonsultationen vor zweieinhalb Monaten haben wir ein neues Kapitel aufgeschlagen. Neue Felder der Zusammenarbeit sind verabredet worden und werden bearbeitet werden. Vor allen Dingen wird das deutsch-israelische Zukunftsforum in diesem Jahr in Gang kommen. Es wird einer jungen Generation Perspektiven bei der Zusammenarbeit in Wirtschaft, Kultur und Wissenschaft bieten. Die dritte wichtige Aufgabe, die aus der Besonderheit der Beziehungen zwischen Deutschland und Israel erwächst, ist unser Engagement für Frieden im Nahen Osten. Die Verantwortung für die Vergangenheit - das habe ich heute Morgen ebenfalls aus vielen Reden herausgehört - ist in der Tat eine Triebfeder für dieses Engagement Deutschlands im Nahen Osten und muss es auch bleiben. Wir wissen, dass die Umsetzung der Zweistaatenlösung allen Partnern schwierige Kompromisse abverlangen wird. Wir wissen auch - zumindest sollten wir es wissen -, dass wir die dazu erforderliche Entschlossenheit und Weitsicht von Europa aus nicht ersetzen können. Aber wir können bei der Arbeit an den Rahmenbedingungen helfen. Dies haben wir durch Wiederbelebung des Nahostquartettes, durch Werbung dafür, dass die arabischen Staaten einbezogen werden, sowie dadurch getan, dass wir im vergangenen Jahr eine EUAktionsstrategie für den Nahen Osten auf den Weg gebracht haben, die die von mir angesprochenen Rahmenbedingungen verbessert. ({3}) Diese klassische Diplomatie gehört dazu, wird aber aus meiner Sicht der Situation im Nahen Osten alles in allem noch nicht gerecht. Wer in Ramallah, in Jericho, in Jerusalem und in Tel Aviv mit den Menschen spricht, wird auf zwei Dinge stoßen: Sowohl die Friedenssehnsucht als auch die Ernüchterung über die in Jahrzehnten fehlgeschlagenen Versuche einer Lösung sind inzwischen überall spürbar. Dies bedeutet aus meiner Sicht, dass wir uns noch stärker gehalten fühlen müssen, an konkreten Maßnahmen zu arbeiten und die Menschen in der Region spüren zu lassen, dass sich der Weg zum Frieden lohnt. Das tun wir durch viele Maßnahmen, die ich nicht alle aufzählen will. Dazu zählt die große internationale Konferenz für Sicherheit in Palästina, die am 24. Juni hier in Berlin stattfinden wird. Auf dieser Konferenz wollen wir die Voraussetzungen dafür schaffen, dass die internationale Staatengemeinschaft ihren Beitrag dazu leistet, dass Palästina die Verantwortung für seine Sicherheit selbst übernehmen kann. Warum sage ich das? Ich sage das, weil wir uns bei all dem von der Erkenntnis leiten lassen, dass mehr Sicherheit in Palästina letztlich auch mehr Sicherheit für Israel bedeutet. ({4}) Herr Gesandter, ich freue mich, dass das auch die israelische Regierung so sieht, dass die Reaktion der israelischen Seite auf die Einberufung dieser Konferenz positiv war. Ich werde am Samstag zu meiner inzwischen achten Reise in den Nahen Osten aufbrechen, nach Beirut, Jerusalem und Ramallah. Der - ich will es so sagen - nahöstliche Himmel hat sich leicht aufgehellt. Ich freue mich darüber, dass die Krise im Libanon durch Vermittlung der Arabischen Liga beigelegt werden konnte. Die Wahl des neuen libanesischen Staatspräsidenten schafft vielleicht jetzt die Voraussetzungen dafür, dass der Wiederaufbau funktionierender staatlicher Institutionen im Libanon vorangeht. Ich freue mich auch darüber, dass indirekte Gespräche zwischen Israel und Syrien stattfinden. Der türkische Außenminister wird uns, wenn er morgen in Berlin sein wird, sicherlich über den Stand dieser Gespräche informieren. Das folgt der Überzeugung, dass es umfassende und nachhaltige Friedenslösungen im Nahen Osten ohne die Einbeziehung schwieriger Partner, insbesondere ohne die Einbeziehung Syriens, wahrscheinlich nicht geben wird. Ich habe die Signale aus der Region immer so verstanden, dass man mit beiden Seiten Vertrauensbildung betreiben muss. Wir wünschen Israel und seinen Menschen zum 60. Jahrestag der Staatsgründung vor allem eines: Frieden, einen Frieden, den die Menschen verdienen; einen Frieden, der unseren Beitrag verlangt. Aus der Verantwortung für die Vergangenheit erwächst Verpflichtung für die Zukunft. Herzlichen Dank. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Der Kollege Dirk Niebel ist der nächste Redner für die FDP-Fraktion.

Dr. h. c. Dirk Niebel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003198, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn Freunde Geburtstag feiern, insbesondere wenn sie einen runden Geburtstag feiern, ist das für den Jubilar meistens schwieriger als für die Gäste. Dass das bei Staaten anders ist als bei Menschen, kann damit zusammenhängen, dass man bei Staaten den Alterungsprozess nicht so unmittelbar wie bei Menschen erkennt und dass die Alterung bei Staaten eher die Chance bedeutet, dass ein längerer Zeitraum für Entwicklungsprozesse zur Verfügung stand. Wer sich die Entwicklung ansieht, die Israel in 60 Jahren durchlaufen hat, wird feststellen, dass Israel - bei allen politisch schwierigen Rahmenbedingungen - eine Erfolgsgeschichte ist: Beginnend bei der Urbarmachung des Landes - durch die Entwässerung der Sümpfe und die Bewässerung der Wüsten - schon vor der Staatsgründung, hat sich Israel über einen Agrarstaat mit umfangreicher, vielfältiger, qualitativ hochwertiger Produktion zu einem Hightechstandort entwickelt, der insbesondere im Bereich von Zukunftstechnologien wie der Biotechnologie führend ist, einem Bereich, in dem wir in Mitteleuropa teilweise nicht mehr die Lehrenden sind, sondern zu Lernenden geworden sind. Israel hat eine große Integrationskraft: Menschen, die aus mehr als 100 verschiedenen Staaten gekommen sind, sind - bei allem, was an Fehlern passiert ist und an Problemen bestanden hat - so integriert worden, dass sich eine Gesamtgesellschaft entwickelt hat. Das alles geschah in einem wirklich alles andere als freundlich gesinnten Umfeld und unter Wahrung der Möglichkeiten, die eine echte Demokratie hat. Das verdient unsere Anerkennung. ({0}) Die guten Beziehungen Deutschlands zu Israel wurden von vielen Rednern bereits angesprochen. Guido Westerwelle hat auf die vielfältigen Städtepartnerschaften, den Jugendaustausch und andere Möglichkeiten kultureller Vielfalt im Austausch zwischen unseren beiden Ländern hingewiesen. Ich möchte mir erlauben, in dieser vereinbarten Debatte darauf hinzuweisen: Es gibt auch gute Kontakte zwischen den Parlamenten, zwischen dem Deutschen Bundestag und der Knesset. Diese Kontakte, die weit unterhalb dessen stattfinden, was, in Fernsehsendungen und Nachrichtenmagazinen sichtbar, auf diplomatischer Ebene passiert, wirken meinungsbildend bei denjenigen, die später die Entscheidungen in den Parlamenten auf beiden Seiten mitzutragen haben. ({1}) Als ich 1998 stellvertretender Vorsitzender der Deutsch-Israelischen Parlamentariergruppe wurde, habe ich - zusammen mit meinen Kolleginnen und Kollegen aus den anderen Fraktionen - begonnen, mich zu bemühen, dass das Internationale Parlamentarische Patenschafts-Programm, IPP, auf Israel und Deutschland ausgeweitet wird. Das hing lange von der Frage ab, ob die Knesset in der Lage ist, die notwendigen Mittel zur Verfügung zu stellen, deren es bedurfte. Ich kann Ihnen mitteilen, dass im nächsten Jahr die ersten deutsch-israelischen Stipendiatenaustausche stattfinden, sodass wir auch auf dieser Ebene die parlamentarischen Kontakte ausweiten werden. Das wird zum Verständnis der jeweils anderen Seite beitragen. ({2}) Ich möchte Ihnen kurz von einer guten Freundin erzählen: Margot Kupferberg, die im Jahre 2006 im Alter von 94 Jahren im Kibbuz Kfar Giladi nahe der libanesischen Grenze gestorben ist. Sie wurde 1912 in Deutschland geboren. Ich habe sie 1982 während des ersten Libanon-Krieges kennengelernt. Sie hat mir ein Stück der Geschichte ihres Lebens erzählt. Ich glaube, ich beurteile es richtig, wenn ich sage, dass sie eine glückliche Frau war. Aber sie hat ein Leben in ständiger Angst geführt, von der Flucht vor den Nazis nach Südamerika bis hin zum Nachhausekommen nach der Staatsgründung Israels nach dem Unabhängigkeitskrieg, der von weiteren fünf Kriegen und zwei Aufständen gefolgt wurde. Alle ihre Kinder und Enkel dienten in der Armee. Einer ihrer Söhne hatte als Egged-Busfahrer über lange Zeit einen der gefährlichsten Arbeitsplätze in Israel. Obwohl diese Frau in ständiger Angst gelebt hat, hat sie als politischer Mensch in tiefster Überzeugung für die demokratischen Gepflogenheiten in Israel eingestanden. Wenn ich sehe, wie wir uns im letzten Jahr an den sogenannten deutschen Herbst vor 30 Jahren erinnert haben, dann muss ich feststellen, dass eine Gesellschaft, die bereit ist, unter dem Druck der Terrorgefahr Bürger- und Freiheitsrechte aufzugeben, und zwar eine Gesellschaft, in der der Terror im Wesentlichen auf bestimmte Gruppen und führende Persönlichkeiten und nicht auf jeden Einzelnen bei den Verrichtungen des täglichen Lebens zielte, von einer Gesellschaft, in der jeder Einzelne bei den Verrichtungen des täglichen Lebens bedroht ist, lernen kann, wie man trotz Gefahr und Angst demokratische Gepflogenheiten aufrechterhalten sowie Lebensqualität und Lebensfreude haben kann. Das kann man in Israel lernen. Man muss ganz deutlich sagen, dass diejenigen, die der ständigen Bedrohung ausgesetzt sind, ihre Werte und Überzeugungen trotz der Bedrohung nicht vergessen haben. Dafür leben sie in Zukunft hoffentlich in Frieden in einem jüdischen Staat mit sicheren Grenzen und frei von Angst vor Terror. ({3}) Herr Präsident, obwohl ich die Redezeit schon überschritten habe, sei mir ein letzter Satz erlaubt. Unter Freunden kann man offen reden. Deswegen sage ich ausdrücklich: Der Teilungsbeschluss der Vereinten Nationen sieht eigentlich eine Zweistaatenlösung vor, über die wir noch heute diskutieren. Welche Verschwendung von Leben und Ressourcen in diesen 60 Jahren! Es ist an der Zeit, auf den in der Roadmap aufgezeigten Weg zurückzukommen. Das gilt für alle Beteiligten; denn nur so wird man für die in dieser Region lebenden Menschen auf Dauer vernünftige und friedliche Rahmenbedingungen schaffen können. Vielen herzlichen Dank. ({4})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort nun dem Kollegen Dr. Peter Ramsauer, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Peter Ramsauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001772, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! 60 Jahre Staat Israel - das ist für uns ein froher Anlass, zu dem wir gern und von Herzen gratulieren und den wir gerne in voller Freude feiern. Hinter diesen 60 Jahren stehen eine ebenso großartige wie beispiellose Aufbauleistung und eine beeindruckende Geschichte, eine, so kann man, glaube ich, sagen, beeindruckende Geschichte auch der Selbstbehauptung. Die Erfolgsgeschichte dieses Staates ist einzigartig. Bei meinen inzwischen vielen Besuchen in Israel war ich immer wieder tief beeindruckt: Wüsten sind fruchtbar gemacht worden, die Metropolen dieses Landes zeugen von Vitalität, von Kraft. Man erlebt die volle Bandbreite der Dienstleistungen, Forschung und Entwicklung haben höchstes Niveau, und der westliche Lebensstil, den man dort vorfindet, lässt zunächst einmal die Probleme der Region in Vergessenheit geraten. Israel ist die einzig funktionierende Demokratie in dieser Region. Israel ist ein Beispiel für Zusammenhalt und Zuversicht, und Israel ist ein großartiges Beispiel auch für Integrationskraft. ({0}) Seit Beginn der jüdischen Wiederbesiedlung im 19. Jahrhundert haben Menschen aus den verschiedensten Regionen der Welt gelernt, miteinander zu leben, zuletzt im Zusammenhang mit der Aufnahme einer großen Zahl von Juden beispielsweise aus der Sowjetunion und aus Russland. Vor 60 Jahren haben die Israelis ihre Selbstbestimmung durchgesetzt, mit Unterstützung der Großmächte und natürlich der großen Mehrheit der Völkergemeinschaft. Sie bauten und - ich sage das ganz bewusst auch im Präsens - bauen Israel auf, sie machen den Traum ihrer Väter und Großväter wahr. Die Wahrheit ist: Sie taten das immer mit ausgestreckter Hand auch gegenüber der arabischen Bevölkerung innerhalb Israels und gegenüber ihren arabischen Nachbarn. Überlebende des Holocaust, Einwanderer aus aller Welt, gläubige Juden und überzeugten Zionisten - sie alle hatten die Vision von einem Land, in dem sie und andere frei und sicher leben können, ohne Angst vor Benachteiligung und ohne Angst vor Ausgrenzung. Mit Anwar al-Sadat und Menachim Begin, mit Yitzhak Rabin und Jassir Arafat hat sich Hoffnung auf Frieden verbunden. Diese Hoffnung auf Frieden hat sich leider bis heute nicht oder nicht voll erfüllt. Vom Frieden werden aber alle profitieren, Israelis wie Araber, Juden, Muslime und Christen gleichermaßen. Dennoch: Zu viele haben heute den Glauben daran verloren. Die Situation im Gazastreifen und im besetzten Westjordanland hat viele verbittert. Dass im Schatten der Mauer, die zwischen Israel und Palästina errichtet worden ist, auf Dauer Frieden wächst, das bleibt unsere ganz große und auch meine persönliche Hoffnung. ({1}) Hier sind Gräben zu überwinden und Brücken zu bauen, hier ist langfristig wieder eine Mauer zu überwinden. Es ist deshalb unser herausragendes Ziel, mit unserer Außenpolitik dazu beizutragen, gemeinsam mit den Europäern, aber auch ganz bewusst als Deutsche. Israel und seine Zukunft können uns Deutschen nämlich nicht gleichgültig sein. Wir stellen uns der Geschichte und unserer Verantwortung. Dies ist in den Reden dieser Debatte immer wieder in hervorragender Weise herausgestellt worden. Dabei geht es gerade um unsere Verantwortung, die uns aus Vergangenem zuwächst. Wir sind zwar nicht in der Position - wir können es wohl auch nicht sein und wollen es auch nicht -, einen Frieden zu diktieren. Wir Europäer können unser Allerbestes tun, um zu vermitteln. Wir haben als Deutsche und Europäer auch ein eigenes Interesse daran, Frieden in dieser Region zu fördern. Sicherheit und Freiheit der Israelis und Sicherheit und Freiheit für die Menschen in der nahöstlichen Region sind zwei Seiten ein und derselben Medaille. ({2}) Israel wird nur dann eine Zukunft haben, wenn es ein Auskommen mit den Palästinensern findet. Ich glaube, die Reden aus allen Fraktionen haben gezeigt, wie sehr wir in diesem Punkt übereinstimmen. Damit Radikalität und Gewalt ihr Ende finden, müssen beide Seiten aus ihrer jeweiligen Sicht wohl schmerzhafte Zugeständnisse machen. Klar ist: Am Existenzrecht Israels kann und darf es keinerlei Zweifel geben. Nur der Anerkennung des Existenzrechts Israels können Gespräche über einen Frieden in der Region folgen. Eine bessere Zukunft durch gemeinsame Sicherheit, das ist meine Botschaft, wenn ich in die Länder dieser Region reise, wie zuletzt in den Libanon oder in der vergangenen Woche in den Iran. Ich glaube, das ist aktiver Einsatz für die Interessen Israels. Auch Sie, Herr Bundesaußenminister Steinmeier, haben angekündigt, in allernächster Zukunft wieder eine solche Reise zu machen. Diese Interessen des Friedens sind auch zutiefst unsere eigenen Interessen. In all diesen Ländern trifft man Persönlichkeiten, die sich ehrlich um Frieden bemühen. Noch sind die Widerstände aber - leider Gottes - stärker. Die Hisbollah hat den Süden des Libanon - man muss das nüchtern so feststellen - fest im Griff. Trotz der Erleichterung - unser aller Erleichterung - über das Abkommen von Doha, das zur Wahl von Präsident Suleiman geführt hat, bleibt ein ganz bitterer Nachgeschmack. Der neue Schlüssel der Machtverteilung im Libanon wurde von der Hisbollah mehr oder weniger mit ihrer Waffengewalt durchgesetzt. Dieses Gewaltpotenzial verfügt über modernste Telekommunikation und stellt mit seiner Waffengewalt eine beängstigende wachsende Bedrohung für Israel dar. Die Selbstpreisung der Hisbollah als Befreierin überzeugt natürlich nicht. Ein paar Almwiesen bei Sheba sollen sozusagen das Trugbild von angeblicher israelischer Besatzung Libanons stützen. Es geht um ein Stück Land, dessen völkerrechtliche Zugehörigkeit noch nicht einmal zweifelsfrei feststeht. Sehr bewusst habe ich im Libanon mit Vertretern der Hisbollah gesprochen und nicht lockergelassen, um herauszufinden, was mit den seit 2006 entführten israelischen Soldaten passiert ist. Wir müssen alle miteinander Zeichen setzen, dass ihr Schicksal uns nicht gleichgültig ist. Volker Kauder hat bereits von unserem Gespräch erzählt, das wir mit den Familien dieser beiden entführten Soldaten bei einem Besuch geführt haben. Mit der Unterstützung der Hisbollah und der Hamas isoliert sich der Iran in der Völkergemeinschaft. Unser Appell an den Iran muss unmissverständlich sein. Das habe ich auch bei all meinen Gesprächen im Iran, unter anderem mit Außenminister Mottaki oder dem früheren Präsidenten Chatami, immer wieder klar und unmissverständlich gesagt: Der Iran hat alles zu unterlassen, was die Sicherheit Israels gefährdet, und alles zu tun, was zur Sicherheit Israels beiträgt. ({3}) Dazu gehört auch, von der Unterstützung von Hamas und Hisbollah definitiv abzulassen. Die Sorgen über das iranische Nuklearprogramm sind ebenso unsere Sorgen, wie sie die Sorgen Israels sind. Der jüngste Bericht der Wiener Agentur IAEO ist leider kritischer ausgefallen, als wir es erwartet hatten. Die Gespräche unter türkischer Vermittlung zwischen Syrien und Israel, die offensichtlich weit gediehen sind, sind ein wirklich neues und gutes Zeichen der Hoffnung. Wenn diesbezüglich etwas in Bewegung geriete, wäre dies ein großer Fortschritt für die Region. 1957 trafen sich der damalige Generalsekretär des israelischen Verteidigungsministeriums und der damalige deutsche Verteidigungsminister heimlich bei München. Es ging um die deutsche Unterstützung für Israel in einer ausgesprochen schwierigen und bedrohlichen Situation. Der damalige israelische Beamte ist heute Friedensnobelpreisträger und Präsident des Staates Israel. Schimon Peres erinnert sich; er schreibt: Wir kamen an, und wir fanden einen Mann mit einem sehr durchsetzungsstarken Geist und mit Überzeugung. Einen Mann, der den Mut hatte, Israel tatkräftig zu helfen, als es Hilfe dringend brauchte. Dem Erbe von Franz Josef Strauß fühlt sich meine Partei auch diesbezüglich aufs Engste verpflichtet. ({4}) In uns hat Israel einen treuen - wenn es sein muss, bisweilen auch kritischen - Freund. Darauf ist Verlass. Vielen herzlichen Dank. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Kerstin Müller ist die nächste Rednerin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Kerstin Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002741, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! 60 Jahre Israel, das ist vor allem aus deutscher Sicht ein besonderes Jubiläum, denn - viele von Ihnen haben es heute bereits gesagt - es ist nicht selbstverständlich, dass 63 Jahre nach dem Kriegsende, den nationalsozialistischen Verbrechen und der Schoah heute enge und vertrauensvolle Beziehungen zwischen Deutschland und Israel bestehen. Seit der Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen entwickelte sich zwischen der Bundesrepublik und Israel ein immer enger werdender, sehr guter Dialog auf politischer, kultureller und persönlicher Ebene sowie ein intensiver und sehr konkreter Austausch, den Sie mit Programmen, die bei den Regierungsverhandlungen beschlossen wurden, fortsetzen. Im Hinblick auf die Ergebnisse von Umfragen anlässlich des 60-jährigen Jubiläums Israels ist dieser Austausch - vor allem unter Jugendlichen - für die Zukunft unserer Beziehungen besonders wichtig. ({0}) Denn - Herr Westerwelle, Sie haben es am Anfang Ihrer Rede angesprochen - das, was in diesem Hause Konsens ist und von allen betont wurde, dass wir Deutschen aufgrund unserer Geschichte eine bleibende und besondere Verantwortung für die Existenz und die Sicherheit Israels haben, sieht eine Mehrheit der Deutschen - nämlich 53 Prozent bis 63 Prozent - laut aktueller Untersuchungen inzwischen anders. Diese Mehrheit sieht diese besondere Verantwortung Deutschlands für den Staat Israel nicht mehr. Wir alle müssen gemeinsam daran arbeiten, dass sich dieser Eindruck nicht verfestigt. ({1}) Ich habe im Dialog mit Jugendlichen im Rahmen des Johannes-Rau-Stipendienprogramms erlebt, wie das konkret geschehen kann. Dieses Programm ist eine sehr gute Sache. Ganz konkretes Erleben kann die Bilder in den Köpfen auf beiden Seiten verändern. Jugendliche aus Israel, die zwei Wochen in Deutschland waren, sagen danach, dass sie ein ganz anderes Bild von den Deutschen gewonnen haben und dieses mit nach Hause nehmen. So verändern sich auch Bilder von Deutschen, wenn sie in Israel sind und da ganz konkret erleben, wie sehr die Schoah, der Holocaust, immer noch das israelische Leben prägt und daher nach wie vor Grundlage der Beziehungen zwischen Israelis und Deutschen ist. Daher will ich das heute, an diesem Tag, an dieser Stelle noch einmal als dringliche Bitte äußern: Wir müssen auf allen Ebenen noch viel mehr Möglichkeiten für einen solch intensiven Jugendaustausch schaffen. - Ich Kerstin Müller ({2}) denke, ich habe dafür die Unterstützung aller hier im Hause. ({3}) 60 Jahre Israel, das ist die Geschichte eines eigenen Staates, der für seine Bürgerinnen und Bürger, für viele Jüdinnen und Juden in der ganzen Welt vor allem mit Blick auf die leidvolle Vergangenheit nicht selbstverständlich ist; denn „60 Jahre Israel“ bedeutet leider auch heute noch die Suche nach Sicherheit, nach Normalität und nach einem friedlichen Leben ohne ständige Bedrohung. Ich habe selbst erlebt, wie existenziell diese Frage der Sicherheit für die Menschen in Israel ist. Am Abend des 1. Juni 2001, als einer der schrecklichsten Anschläge in Tel Aviv verübt wurde, nämlich auf eine Diskothek, das „Dolphinarium“, bin ich gemeinsam mit Joschka Fischer dort angekommen. Wir haben dieses furchtbare Blutbad erlebt, bei dem 21 junge unschuldige Israelis im Alter von 14 bis 32 Jahren starben und über 100 verletzt wurden. Es war ein Desaster. Es war absolut entsetzlich. Ich sage sehr deutlich: Jede demokratisch gewählte Regierung dieser Welt muss und wird alles versuchen, ihre Bevölkerung vor einem solchen Terror zu schützen. Deshalb gilt: Solange Staaten wie Iran und Syrien das Existenzrecht Israels nicht anerkennen, solange radikalislamistische Palästinensergruppen wie die Hamas Israels Zivilbevölkerung mit Anschlägen terrorisieren, so lange wird diese Sicherheitsfrage für jede israelische Regierung, ob links oder konservativ, zu Recht die Kernfrage in allen Friedensverhandlungen bleiben; da braucht man sich keine Illusionen zu machen. ({4}) Spätestens seit ich den Terror in dieser Nacht konkret erlebt habe, treibt mich, wie viele hier auch, um, wie denn die Sicherheit Israels am besten erreicht werden kann. Die Mehrheit der Israelis weiß sehr wohl, dass langfristig nur eine friedliche Zweistaatenlösung, und zwar entlang den 67er-Grenzen, mit allen Kompromissen, etwa in der Siedlungsfrage, und nicht eine militärische Lösung wirklich mehr Sicherheit bringen wird. Gerade von uns wird wegen unserer besonderen Verantwortung zu Recht erwartet, dass wir auch die kritischen Punkte des Nahost-Friedensprozesses ansprechen, und zwar in beide Richtungen. Beilin, der Vorsitzende der israelischen Meretz-Yachad-Partei und Hauptinitiator der Genfer Initiative, hat es so formuliert: Ein wirklicher Freund mischt sich in den Friedensprozess ein. Das erwarten wir. Was sind die kritischen Punkte? Eine Zweistaatenlösung und damit mehr Sicherheit für die Israelis wird es nicht geben ohne Rückzug aus dem größten Teil der Siedlungen, ohne einen Kompromiss in der JerusalemFrage und ohne Zugeständnisse in der Palästinenser-, in der Flüchtlingsfrage. Natürlich erwartet niemand von der Frau Bundeskanzlerin, dass sie in einer einmaligen Rede vor der Knesset, zumal zum 60. Geburtstag, die Agenda der Roadmap erklärt. Aber sich bei einem solchen Anlass so fast ganz aus dem Friedensprozess herauszuhalten, das, meine ich, beschreibt den Beitrag und die Rolle, die Deutschland und die Europäische Union zu einem Frieden leisten können und sollten, völlig unzureichend. Deutschland und die EU könnten eine viel größere Rolle in der Vermittlung spielen. Diese Rolle müssen wir in der Zukunft dringend besser ausfüllen. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin.

Kerstin Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002741, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich komme zum Schluss. Wir sollten die Israeli ebenso wie die Palästinenser mit der Lösung des Konflikts ausdrücklich nicht alleinlassen. Entscheidende Voraussetzungen für die dauerhafte Sicherheit Israels sind eine Akzeptanz durch die Nachbarn und die Verwirklichung einer Zweistaatenlösung. Gerade aus dieser Erkenntnis heraus wünschen wir Israel zum 60. Geburtstag nichts sehnlicher, als gemeinsam mit seinen Nachbarn den notwendigen Mut zum Frieden zu finden. Vielen Dank. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Thomas Oppermann, SPD-Fraktion.

Thomas Oppermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003820, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine verehrten Kollegen und Kolleginnen! Ich freue mich, dass 60 Jahre nach der Gründung des israelischen Staates die Aussichten für Frieden im Nahen Osten wieder etwas günstiger geworden sind. Ich glaube, nichts ist Israel so sehr zu wünschen wie ein dauerhafter friedlicher Ausgleich mit seinen Nachbarn und das Ende der Bedrohungen durch Raketenangriffe und terroristische Selbstmordattentäter. ({0}) Die Sicherheit und Zukunft Israels ist Teil unserer politischen Identität; meine Vorredner haben das im Einzelnen dargelegt. Wir Deutschen haben ein besonderes Verhältnis zu Israel, das sich aus unserer historischen Verantwortung für den Holocaust ergibt. Aber Deutschland und Israel verbindet nicht nur die Vergangenheit, uns verbinden auch gemeinsame Wertvorstellungen. Unsere Staaten fußen auf dem gleichen Verständnis von Freiheit, Recht und Demokratie. In einem Land, das in seiner 60-jährigen Geschichte fast immer um seine Existenz kämpfen musste und immer von Krieg und Terror bedroht war, einen funktionierenden Rechtsstaat und eine freiheitliche Gesellschaft durchzuhalten, das, finde ich, ist eine ganz besondere Leistung. Ich bin mir nicht sicher, ob wir Deutschen das schaffen würden. ({1}) Das sollten besonders jene bedenken, die in Deutschland unter linken Vorzeichen antizionistische Kritik an Israel üben. Ich finde es bemerkenswert, dass Sie, Frau Pau, und auch Sie, Herr Gysi, sich mit dem Antizionismus in Ihren Reihen kritisch auseinandersetzen wollen. Aber völlig inakzeptabel ist es, wenn Ihr außenpolitischer Sprecher Verständnis für Raketenangriffe der Hamas auf Israel äußert. ({2}) Eine besondere Verantwortung für Israel wahrzunehmen, heißt für mich auch, dass wir uns mit antisemitischen Tendenzen, in welcher Form auch immer sie erscheinen, auseinandersetzen und diesen unmissverständlich entgegentreten. Ich glaube, dass heute die große Mehrheit der Deutschen durch die kritische Aufarbeitung der nationalsozialistischen Judenverfolgung gegen Antisemitismus immunisiert ist. Wenn aber eine neonazistische Partei wie die NPD ganz offen und unverblümt antisemitische Propaganda betreibt und dafür auch noch auf staatliche Parteienfinanzierung zurückgreifen kann, stößt das nicht nur in Israel zu Recht auf Empörung. ({3}) In meiner Fraktion sind es vor allem die jüngeren Abgeordneten, die sich auch jenseits der Außenpolitik für Israel interessieren, für ein modernes, kulturell faszinierendes Land, das voller kreativer Impulse steckt. 65 Prozent der hochmotivierten jungen Menschen studieren an den ausgezeichneten Universitäten und Technischen Hochschulen des Landes. In Deutschland haben wir große Mühe, einen Anteil von 40 Prozent zu erreichen. Israel ist das Land mit der höchsten Ingenieursdichte auf der ganzen Welt. Es stellt sagenhafte 4,5 Prozent seines Bruttoinlandsproduktes für Forschung und Entwicklung bereit. Während wir uns Mühe geben, 3 Prozent zu erreichen, hat sich Israel für die nächsten Jahre schon 10 Prozent als Zielmarke gesetzt. Die Folge ist: Israel gehört zu den innovativsten Technologiestandorten der Welt. Es gibt 3 000 Hightechunternehmen. Jedes Jahr schaffen es 200 neue Start-ups in den Markt. Das ist eine inspirierende wirtschaftliche Dynamik, von der sich auch viele deutsche Wissenschaftler und Unternehmer begeistern lassen. Nicht umsonst ist die deutsch-israelische Wissenschaftskooperation eine der intensivsten zwischen den beiden Ländern. Es verbindet uns also nicht nur die Vergangenheit; es verbindet uns auch die gemeinsame Gestaltung der Zukunft. ({4}) Es gibt viele Möglichkeiten, die guten Beziehungen zwischen Deutschland und Israel auszubauen. Die Kontakte zwischen den Regierungen und Institutionen sind eng, vertrauensvoll und verlässlich. Wenn uns aber über eine Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen - Frau Müller hatte das schon erwähnt - zur Kenntnis gebracht wird, dass 53 Prozent der Deutschen gegenüber Israel keine besondere historische Verantwortung mehr sehen und diese Haltung bei den Jüngeren sogar noch stärker ausgeprägt ist, dann müssen wir etwas tun. Die Freundschaft zwischen den Staaten muss immer auch durch eine Freundschaft zwischen den Menschen untermauert werden. ({5}) Wir können den Jugendaustausch noch besser fördern oder Organisationen wie Aktion Sühnezeichen Friedensdienste unterstützen, über die bisher schon 1 500 Menschen einen mehrmonatigen sozialen Friedensdienst in Israel absolviert haben. Wir können auch kleine Initiativen unterstützen wie das Willy-Brandt-Zentrum in Jerusalem, wo junge Deutsche, Israelis und Palästinenser darüber debattieren, wie Frieden erreicht werden kann. Solche zivilgesellschaftlichen Initiativen können helfen, den Frieden im Nahen Osten zu fördern und unsere Freundschaft mit Israel zu festigen; denn Freundschaft erwächst aus Verständnis, Verständnis aus Dialog und Dialog aus Begegnung. Bauen wir also die Brücke für die deutsch-israelische Freundschaft auch in die nächste Generation! Vielen Dank. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Eckart von Klaeden, CDU/CSU-Fraktion.

Eckart Klaeden (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002698, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! Die Diskussion über ein Land ist immer auch eine Diskussion über unsere Beziehung zu diesem Land und damit auch eine Diskussion über uns selbst. Das gilt in keinem Fall so sehr wie bei Israel, weil seine Existenz uns auf Dauer an die deutsche Schuld für den Holocaust erinnern wird. Deswegen haben diejenigen ein besonderes Problem mit der Existenz Israels, die mit dieser Schuld nicht umzugehen wissen oder nicht mit ihr umgehen wollen. Das gilt zunächst für die Antisemiten von rechts, auf die die Kollegin Pau und der Kollege Kuhn schon hingewiesen haben. Es gilt aber auch für die Antisemiten von links, von denen der Kollege Oppermann gerade gesprochen hat, die Antizionismus, Antisemitismus und Antiamerikanismus miteinander verbinden. Weiterhin gilt es für einen leider auch in unserem Land zunehmenden islamistisch motivierten Antisemitismus. Diese Antisemitismen verbinden sich miteinander und nehmen aufeinander Bezug, wenn zum Beispiel der iranische Präsident Ahmadinedschad das Existenzrecht Israels und den Holocaust leugnet, eine Terrororganisation wie die Hamas unterstützt und wenn gleichzeitig der terroristische Charakter der Hamas verniedlicht oder geleugnet wird. ({0}) In dieser Diskussion wird - ich glaube, das ist einer der Gründe für die Ergebnisse der Umfrage, die Sie, Herr Oppermann, gerade zitiert haben - häufig persönliche Schuld mit politischer Verantwortung aus der Geschichte verwechselt. Das gilt insbesondere für die jungen Menschen. Viele verstehen, wenn sie nach einer besonderen politischen Verantwortung gefragt werden, das als Frage nach ihrer persönlichen Schuld und verneinen es deshalb. Aber es gibt auch das Phänomen, dass Antisemiten und Extremisten diese Verwechslung oder dieses Missverständnis bewusst instrumentalisieren, um es als Einfallstor für antisemitische und antiisraelische Argumentation in der Mitte unserer Gesellschaft zu nutzen. Dafür will ich ein paar Beispiele nennen. Das geläufigste „Argument“ ist, man dürfe Israel nicht kritisieren. Das ist barer Unsinn; denn kein Land wird in unserem Land so sehr kritisiert wie Israel. Die Beispiele sind hier schon genannt worden. Ein weiteres „Argument“ ist, die Existenz Israels an sich sei Ursache für das palästinensische Leid. Da fand ich, Frau Kollegin Pau, Ihre sonst gerade vor dem Hintergrund der Geschichte Ihrer Partei bemerkenswerte Rede etwas verkorkst. Denn von der Gründung Israels als einem immer noch blutenden „Kaiserschnitt“ zu sprechen, halte ich für ein falsches Bild ({1}) - ich weiß -, auch wenn dieses Zitat von einem Israeli stammt. Von dieser Argumentation ist es nur ein kleiner Schritt zu dem „Argument“ - ich sage nicht, dass Sie es sich zu eigen gemacht haben -, das der iranische Präsident Ahmadinedschad immer wieder anführt, nämlich dass die Gründung des Staates Israel die Folge deutscher Schuld und des Holocaust sei und der Staat Israel deswegen nach Europa verlegt werden müsse. ({2}) Das ist gerade falsch. Die Gründung des Staates Israel und seine moralische Legitimation als jüdischer Staat sind in dem Holocaust begründet. Aber das Existenzrecht Israels ist nicht allein durch die deutschen Verbrechen begründet. Ein anderes „Argument“, das immer vorgebracht wird, ist, die Juden behandelten die Palästinenser wie die Nazis die Juden. Es wird auch von einem Vernichtungskrieg der Israelis gegen die Palästinenser gesprochen. Wer so argumentiert, versucht, dem israelischen Staat seine moralische Legitimationsgrundlage zu entziehen, und stellt damit das Existenzrecht Israels infrage. Ich nenne ein weiteres Beispiel. So richtig es ist, die israelische Siedlungspolitik und den Verlauf des Grenzzauns zu kritisieren, so falsch und antisemitisch ist es, diesen Sicherheitszaun, wie man es häufig hört, mit der Berliner Mauer gleichzusetzen. An der Berliner Mauer wurden friedliche Bürger, die ihr Land verlassen wollten, ermordet; am Sicherheitszaun aber werden Selbstmordattentäter daran gehindert, nach Israel zu gelangen. ({3}) Richard Herzinger hat in der Welt am Sonntag vom 4. Mai dieses Jahres zu Recht folgende Fragen gestellt: Wäre man gegenüber dem Existenzrecht des jüdischen Staates etwa weniger entschieden, hätte es den Holocaust nicht gegeben? Solidarisiert man sich mit Israel etwa nur aus schlechtem historischen Gewissen, nicht aber, weil das heutige Israel an sich unbedingt verteidigungswert ist? Damit bringt er zu Recht zum Ausdruck, dass unsere Solidarität mit Israel auch und vor allem eine Frage unserer Selbstachtung als Demokraten ist. Aufgrund dieser Solidarität müssen wir den Worten auch Taten folgen lassen. Israel ist ein Land mit einer außerordentlich schwierigen Nachbarschaft; darauf haben andere Redner schon hingewiesen. Unmittelbar nach seiner Gründung ist es von seinen arabischen Nachbarn mit dem Ziel angegriffen worden, es zu vernichten. Wenn wir uns die Friedensverträge anschauen, die Israel geschlossen hat, so können wir den bemerkenswerten Umstand feststellen, dass Israel nur mit solchen Nachbarn Friedensverträge hat, die selber über ein Gewaltmonopol - oder jedenfalls über ein einigermaßen ausgebildetes Gewaltmonopol verfügen wie Jordanien und Ägypten. Es gibt aber keine Friedensverträge mit Staaten, in denen das Gewaltmonopol nicht geregelt ist, wie zum Beispiel in den palästinensischen Territorien oder im Libanon. Es ist eine Politik Arafats gewesen, dieses Gewaltmonopol zu verhindern. Nach dem Motto „divide et impera“ hat er die Milizen seines eigenen palästinensischen Volkes gegeneinander ausspielen können. Gerade deswegen ist die Initiative der Bundesregierung - jetzt komme ich zu den Taten -, sich um den Aufbau der palästinensischen Polizei zu bemühen und dafür zu sorgen, dass es zu der Ausbildung eines Gewaltmonopols auch in den palästinensischen Territorien kommen kann, so wichtig für die Friedensfähigkeit der palästinensischen Seite. Nur so kann ein verlässlicher Frieden erreicht werden. Ich glaube, wir haben noch einen langen Weg zum Frieden vor uns. Gerade vor dem Hintergrund unseres Engagements im Rahmen des UNIFIL-Mandates ist Europa heute im Nahen Osten mehr gefragt als je zuvor. Das begründet für uns neben der historischen auch eine besondere neue deutsche Verantwortung. ({4})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Zum Schluss dieser Debatte erhält der Kollege Gert Weisskirchen für die SPD-Fraktion das Wort.

Gert Weisskirchen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002465, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der jüdische Staat Israel, so sagt Claude Lanzmann, ist der Unmöglichkeit abgetrotzt worden. Tel Aviv, der Frühlingshügel, wird im nächsten Jahr 100 Jahre alt. Das heißt, die Geschichte Israels beginnt nicht erst mit der Unabhängigkeitserklärung; sie ist 2000 Jahre alt. Tel Aviv, so lautet, ins Hebräische übersetzt, der Titel des utopischen Romans von Theodor Herzl, dem er im Deutschen den Titel „Altneuland“ gab. Herzl führte Ende des 19. Jahrhunderts in seinem Konzept die nationalen Gründungsideen Europas auf. Was war damals, Ende des 19. Jahrhunderts, in Europa die Sorge? Der wachsende Antisemitismus - wie manchmal auch heute wieder. Dies scheint also leider so etwas wie ein fester Bestandteil der europäischen Staaten zu sein - und nicht nur der europäischen. Im Zeitalter des Nationalstaates, sagte Theodor Herzl, sei es nötig, eine zionistische Antwort auf die damalige Frage zu geben. Die Antwort hieß: den Weg zum jüdischen Staat zu öffnen. Das war übrigens, wenn man noch einmal auf das 19. Jahrhundert zurückblickt, eine Antwort auf die misslungenen Versuche nach der Aufklärung, die jüdische Emanzipation mit der Demokratie und der Modernisierung zu verknüpfen. Dieser Versuch war leider am Ende des 19. Jahrhunderts nicht gelungen. Danach konnte der Nationalismus übrigens bis in die Mitte des letzten Jahrhunderts - historisch gesehen hat das leider so lange gedauert - gegenüber der Emanzipation und dem Gedanken der Aufklärung triumphieren. Wir stehen also vor einem Versuch in Israel, europäisches Denken in einer Region zu realisieren, was deshalb hochgradig gefährdet ist, weil diese Region selbst frei ist von den Gedanken der Aufklärung und der Emanzipation. Juden waren es zuerst im 19. Jahrhundert, die dieses Beben gespürt haben, das schließlich zum Holocaust geführt hat. Sie haben gespürt, dass der Boden unter ihnen wankt. Die Angst der sich ethnisch säubernden, reinigenden Nationalstaaten ist ganz schnell bei der jüdischen Minderheit deutlich geworden. Sie haben viel früher als alle anderen gespürt, dass da etwas heranrückt: der Gedanke, der aus der Aufklärung kommt, der dann in den sich reinigenden Nationalstaat führt und der dann die jüdische Minderheit auszuschließen begann, aus der nationalen Gemeinschaft ausstieß. Ich will heute daran erinnern, dass es im Reichstag sozialdemokratische Abgeordnete jüdischer Geburt und Glaubenszugehörigkeit gab, die bis zum Schluss dagegen angekämpft haben, dass der Versuch der Reinigung des Nationalstaates von Minderheiten, der dann nachher erkennbar in die Nazidiktatur führte, stattfand. Ich erinnere an Rudolf Hilferding, der bei Karl Kautsky mitgearbeitet hat. Ich erinnere an Ludwig Marum aus Karlsruhe, der leider in einem der frühen Konzentrationslager erdrosselt worden ist. Ich erinnere an einen Berliner Abgeordneten, an Kurt Löwenstein, der die Kinderrepublik unterstützt hat. Er war ein großer Bildungspolitiker in der Stadt Berlin. Sie alle haben deutlich gemacht: Sie wollten diesen Versuch mit der Kraft ihrer eigenen Persönlichkeit verhindern. Es ist ihnen nicht gelungen - leider. Die Unabhängigkeit Israels im Mai 1948 war, wie ich finde, die einzige richtige Antwort, die auf diese gefährliche Entwicklung des Nationalstaats hin zum Nationalismus gefunden wurde. Ich bin heute dankbar dafür - wir alle sind es -, dass die Vereinten Nationen dies zuvor beschlossen hatten. Wir sind glücklich darüber, dass es den jüdischen Staat Israel gibt. Er ist nämlich am Ende, wenn es nicht anders geht, die einzige Zuflucht für diejenigen, die in der Diaspora sind. Weil Auschwitz immer möglich sein kann - dies ist vorhin gesagt worden -, brauchen alle Juden dieser Erde die Chance, in den jüdischen Staat Israel zu gehen, wenn es denn lebensnotwendig ist. Das ist die Existenzberechtigung dieses Staates. ({0}) Wir sind dafür, dass wir das Existenzrecht Israels schützen, stärken und zur Staatsräson erklären, nicht, weil es sich bei Israel um irgendeinen Nationalstaat handelt, sondern weil Juden eine Überlebensversicherung brauchen, wenn sie bedroht werden, wenn der Antisemitismus - wo auch immer - explodiert. Sie brauchen diesen Staat. Deshalb ist es Staatsräson der Bundesrepublik Deutschland, mit dafür zu sorgen, dass dieser Staat lebensfähig ist, dass er Kraft hat, dass er die Fähigkeit besitzt, sich zu wehren, und in der Lage ist, sich mit den Ländern dieser Erde zu verbinden, die mit Israel gemeinsam dafür kämpfen, dass die Mittelmeerregion - man sagt Mare Nostrum und meint das Meer, das uns verbindet - durch eine Sicherheitspartnerschaft verbunden wird.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Weisskirchen, bitte.

Gert Weisskirchen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002465, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die Europäische Union hat eine ganze Menge Instrumente zur Verfügung. Es wäre unsere Aufgabe, mitzuhelfen - auch das sollte zur Staatsräson gehören -, dass die Europäische Union ein Angebot an Israel erarbeitet, infolge dessen Israel irgendwann die Chance hat, selbstständiger Bestandteil des gemeinsamen Raumes Europa zu sein. Ich finde, das wäre eine gute Aufgabe für die Zukunft. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache. Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b auf: a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bundesbericht Forschung und Innovation 2008 - Drucksache 16/9260 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({0}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Präsident Dr. Norbert Lammert Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Kultur und Medien b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Gutachten zu Forschung, Innovation und technologischer Leistungsfähigkeit 2008 - Drucksache 16/8600 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({1}) Sportausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Kultur und Medien Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für diese Aussprache 75 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der Bundesministerin Dr. Annette Schavan.

Dr. Annette Schavan (Minister:in)

Politiker ID: 11003836

Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Die HightechStrategie der Bundesregierung - das ist eine der zentralen Aussagen des Bundesberichtes Forschung und Innovation 2008 - besitzt eine hohe Mobilisierungswirkung. Ich stelle diese Bemerkung bewusst an den Anfang meiner Berichterstattung, weil uns die Frage, ob dieses Konzept, das wir miteinander entwickeln, geeignet ist, um Investitionen in dem Bereich Forschung und Entwicklung zu mobilisieren und das Innovationsklima in Deutschland zu verbessern, sowohl im Ausschuss als auch im Plenum beschäftigt hat. Die Aussage, dass sich das Innovationsklima deutlich verbessert hat, gehört ebenfalls zu den zentralen Aussagen des Berichts. Das wird auch bei Unternehmensumfragen deutlich. Wir haben einen Zuwachs an hochqualifizierten Arbeitsplätzen im Bereich Forschung und Entwicklung. Die Unternehmen haben ihren Anteil an Investitionen im Bereich Forschung und Entwicklung erhöht; für den Zeitraum zwischen 2005 und 2008 verzeichnen wir einen deutlichen Zuwachs des Bundesanteils. Wir halten am 3-Prozent-Ziel fest. Wir sind davon überzeugt, dass das eine zentrale Quelle für mehr Wachstum und Beschäftigung ist. ({0}) Beide Regierungsfraktionen sind fest davon überzeugt - das gilt seit Abschluss des Koalitionsvertrages -, dass diese Entwicklung als Teil der Lissabon-Strategie in vielerlei Hinsicht zu Verbesserungen im Wissenschaftssystem führen wird. Sie wird zu neuen Allianzen und Kooperationen zwischen Wissenschaft und Wirtschaft führen. Das gilt nicht zuletzt mit Blick auf die Weiterentwicklung der Internationalisierung; denn die Hightech-Strategie ist als Teil einer europäischen Strategie geeignet, zu noch mehr internationaler Kooperation mit dem Ziel der Stärkung der Innovationskraft auf dem Gebiet Technologieentwicklung beizutragen. ({1}) Die Ausgaben im Bereich Forschung und Entwicklung sind von 2005 bis 2008 um 2,1 Milliarden Euro gestiegen. Das ist immerhin ein Aufwuchs um 24 Prozent. Wir investieren seitens des Bundes mittlerweile über 11 Milliarden Euro. Das ist ein wichtiges Signal für die anderen Partner. Ich nenne namentlich die Länder und die Unternehmen. Klar ist: Das 3-Prozent-Ziel wird nicht allein durch Investitionen des Bundes erreicht. Wir brauchen entsprechende Entwicklungen in allen 16 Ländern und in den Unternehmen in Deutschland. Wir streben seitens des Bundes für 2008 einen Anteil von 2,7 Prozent am BIP an. Unser Beitrag zur Erreichung unseres Ziels stimmt. Im Haushalt 2009 streben wir eine weitere Stufe an. Sie wissen, dass die Haushaltsverhandlungen gerade laufen. Deutschland bewegt sich damit in der Spitzengruppe in Europa. Es wird darauf geschaut, wie der Weg Deutschlands als starker Partner in der Europäischen Union aussieht, die ihrerseits viel tun muss, um im internationalen Wettbewerb um Wachstum, Beschäftigung und Innovationen zu bestehen. Wer die Entwicklungen in Indien, China und Japan kennt, der weiß, dass es in Europa insgesamt mehr Leidenschaft mit Blick auf Innovationen im Bereich Forschung und Entwicklung geben muss. Wir haben ein gutes 7. Forschungsrahmenprogramm. Wer sich aber die Subventionen der Europäischen Union ansieht, kommt nicht auf die Idee, dass ausreichend Innovationsleidenschaft in Europa vorhanden ist. ({2}) Wir haben bereits eine gute Wegstrecke zurückgelegt mit Blick auf Investitionen und die konzeptionelle Kraft, die damit verbunden ist, und auch hinsichtlich der Fachkräfte sowie der jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der nächsten Generation. Jetzt besteht unsere Aufgabe darin, dafür Sorge zu tragen, dass das Erreichte nicht Episode bleibt, sondern Verstetigung erfährt. Die Haushaltsverhandlungen 2009 sind hierfür ein Praxistest; das gilt aber auch für andere Themen und Weichenstellungen, an denen wir gemeinsam arbeiten. Ich will über die Prioritäten sprechen. Wer sich die Frage stellt, welches in der nächsten Dekade international die zentralen Stichworte im Bereich Forschung sein werden, der kommt zuallererst auf die beiden großen Stichworte Energie und Gesundheit. ({3}) Auf diesen Gebieten werden wir an einer internationalen Forschungsagenda arbeiten; viele Wissenschaftszweige, Fakultäten und ganz unterschiedliche technologische Entwicklungen im Bereich Energie und Gesundheit sind davon betroffen. Wir sind gerade dabei - Stichwort Demenzzentrum -, strukturelle Weiterentwicklungen in der Gesundheitsforschung voranzubringen. Deshalb ist es richtig, dass wir, was die Themen Klima- und Ressourcenschutz und Energie angeht, einen Aufwuchs der Mittel in Höhe von 23 Prozent und, was den Bereich Gesundheit und Medizintechnik anbetrifft, einen Aufwuchs in Höhe von 15 Prozent haben. Das sind unsere Flaggschiffe. Übrigens gibt es in beiden Bereichen - ich nenne nur das DKFZ in Heidelberg - neu entstehende interessante Kooperationen auf europäischer Ebene und international. Ich nenne als weiteres Beispiel, weil es hier einen besonders interessanten Beschäftigungszuwachs gibt, die optischen Technologien. Auch hier erweist sich Deutschland immer mehr als ein interessanter internationaler Partner. Wenn wir eine gute Weiterentwicklung wollen, müssen wir uns jetzt vor allem um die kleinen und mittelständischen Unternehmen kümmern. Wir alle kennen die besondere Situation, es gibt ein großes Innovationspotenzial. 65 Prozent dieser Unternehmen gelten als mögliche Innovationsträger. Deshalb ist es wichtig, dass wir auch hier umgestellt haben. Wir haben die Mittel für diesen Bereich um 20 Prozent auf rund 750 Millionen Euro erhöht, und es wird weitere Steigerungen geben. Mindestens so wichtig wie die Erhöhung der Mittel ist das Beratungswesen, die zentrale, ressortübergreifende Beratungsstelle für alle Fragen zur Forschungsund Innovationsförderung des Bundes. Denn kleine und mittelständische Unternehmen haben keine eigenen Abteilungen, die sich mit allen Forschungsprogrammen beschäftigen können. Deshalb wird es wichtig sein, über alle beteiligten Häuser den Zugang für kleine und mittlere Unternehmen kontinuierlich zu verbessern. Wir brauchen offene Programme. Wir müssen uns auf die Entwicklungsideen der Unternehmen einstellen und dürfen nicht schon vorab festlegen, was überhaupt gefördert werden kann. ({4}) Die Ideen vor Ort müssen zum Tragen kommen. Nur dann können wir die Innovationskraft der KMU stärken. ({5}) - Ich freue mich, dass das Frau Flach außerordentlich gut gefällt. ({6}) Ich habe dieses Beispiel genannt, hätte aber auch viele andere Beispiele anführen können. Denn uns allen ist völlig klar: Es geht nicht nur um Geld, sondern es geht auch um die Weiterentwicklung von Strukturen und Konzepten. Die Hightech-Strategie ist der Inbegriff dessen, was wir im Hinblick auf neue Innovationsallianzen und im Hinblick auf das Wissenschaftssystem erreichen wollen. Ich verweise an dieser Stelle nur auf das KIT; auch hier geht es weiter. Wir haben zwischen 2005 und 2007 in struktureller, konzeptioneller und finanzieller Hinsicht eine wichtige Wegstrecke hinter uns gebracht. Jetzt geht es darum, eine Verstetigung zu erreichen und das Potenzial, das entstanden ist, weiter auszubauen. Sie wissen, welche die weiteren Schritte sind; sie alle sind schon angesprochen worden. Es geht um die Fragen: Wie können wir das Steuersystem als Teil des Innovationssystems weiterentwickeln? Wie setzen wir Anreize für kleine und mittlere Unternehmen, in Forschung und Entwicklung zu investieren? Das Jahr 2008, meine Damen und Herren, wird das Jahr sein, in dem wir die Weichen für die nächsten Jahre stellen müssen. Vielen Dank. ({7})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die Kollegin Cornelia Pieper hat jetzt das Wort für die FDP-Fraktion. ({0})

Cornelia Pieper (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003208, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Frau Ministerin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es liegt in unserer Hand, ob Deutschland als führender Forschungs- und Industriestandort auch künftig als Schrittmacher in Forschung, Entwicklung und Innovation auftritt, und es ist noch nicht zu spät, die Weichen hin zu einem effizienten Forschungs- und Innovationssystem zu stellen. ({0}) Deutschland liegt bei den Ausgaben für Forschung und Entwicklung mit rund 59 Milliarden Euro im OECD-Vergleich auf Platz drei, hinter den USA und Japan und deutlich vor Frankreich, Großbritannien und Schweden. Aber weltweit - Frau Ministerin hat das zu Recht gesagt - ist eine Aufholjagd ungeheuren Ausmaßes eingeleitet, angetrieben von China und Indien. Indien gehört heute zu den Top Ten der Weltrangliste. China hat uns als Exportweltmeister längst überholt. Beide Länder haben ein mehr als 10-prozentiges Wirtschaftswachstum. Schwellenländer wie Indien und China, aber auch die Schwellenländer in Südamerika holen in einem rasanten Tempo nach, was sie bei Forschung und Entwicklung in den letzten Jahren versäumt haben. Ein „Weiter so“, meine Damen und Herren, darf es auch nach den Empfehlungen der unabhängigen Expertenkommission „Forschung und Innovation“ nicht geben. Deswegen meinen auch wir, die Liberalen: Die Bundesregierung muss bei diesem Thema ein viel höheres Tempo als bisher vorlegen. ({1}) In dem Sachverständigengutachten steht diesbezüglich folgender Schluss: Die internationalen Herausforderungen an unser gesamtes Wissenschaftssystem sind in den alten Strukturen staatlicher Aufsicht und Detailsteuerung so nicht mehr zu bewältigen. - Das heißt, wenn wir im Wettbewerb um die besten Köpfe wirklich als atCornelia Pieper traktiver Wissenschaftsstandort bestehen wollen, dann brauchen wir nicht nur mehr Investitionen in Bildung und Forschung. Es geht nicht allein um Geld. Zuallererst geht es nach unserer Auffassung auch um mehr Freiheit für die Hochschulen und Forschungseinrichtungen selbst. ({2}) Dazu kann ich nur sagen: Frau Ministerin, in diesem Punkt hat uns die Bundesregierung gerade in dieser bzw. in der letzten Woche eine Bauchlandung par excellence vorgemacht. ({3}) Sie haben ein Wissenschaftsfreiheitsgesetz angekündigt und sind durch Ihren Koalitionspartner - Ihre Kollegen aus der SPD -, der, wie wir wissen, noch nie viel von Freiräumen für die Wissenschaftseinrichtungen gehalten hat, blockiert worden. ({4}) Die SPD setzt auf Regulierungswut, die der Wissenschaft und der Wirtschaft nur schaden kann. Das ist mit uns nicht zu machen. ({5}) Statt eines Gesetzes wollen Sie nun Verwaltungsvorschriften vorlegen und in fünf Jahren noch einmal darüber nachdenken, ob es nicht doch ein Wissenschaftsfreiheitsgesetz geben kann. Ich finde das Ganze nur lächerlich. Frau Ministerin, nehmen Sie sich ein Beispiel an Nordrhein-Westfalen, ({6}) wo der Innovationsminister ein Hochschulfreiheitsgesetz eingebracht hat. Das ist der richtige Weg. Das bedeutet Tempo. ({7}) Wir brauchen ein positives Forschungsklima und müssen von den ideologischen Debatten wegkommen. Deswegen haben wir als FDP-Bundestagsfraktion bereits im Januar hier einen Antrag vorgelegt, mit dem wir Sie auffordern, ein Wissenschaftsfreiheitsgesetz einzubringen. Wir brauchen mehr Freiheit für die Forschungseinrichtungen. Wir wollen Globalhaushalte eingeführt sehen. Wir wollen die Abkehr von der kameralistischen Haushaltsführung. Der Vergaberahmen, durch den die Leistungsbezüge in der Professorenbesoldung gedeckelt werden, muss fallen. Die Alterssysteme der Forschungseinrichtungen in Deutschland müssen finanziell attraktiver gestaltet werden. Ich glaube auch, die Altersgrenze muss fallen. Unbürokratische Aufenthalts- bzw. Arbeitsgenehmigungen für Hochqualifizierte aus dem Ausland und ihre Familien gehören ebenfalls dazu. ({8}) Hier fordere ich die Bundesregierung auf, endlich zu handeln und nicht nur zu reden. Meine Damen und Herren, die Große Koalition steht sich offensichtlich selbst auf den Füßen und ist auf der Schlussetappe der Wahlperiode auch in forschungspolitischer Sicht einfach handlungsunfähig. ({9}) Die Zahlen des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft haben uns vor Augen geführt: Wenn wir im internationalen Wettbewerb bestehen wollen, müssen wir die Forschungsinvestitionen von Bund und Ländern steigern und vor allen Dingen auch mehr Anreizsysteme für die Wirtschaft schaffen, die ja zwei Drittel des dreiprozentigen Anteils am Bruttoinlandsprodukt für die Forschungsausgaben erbringen soll. ({10}) Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, Ihr bürokratisches System für die Forschungsprämie ({11}) hat letztendlich dazu geführt, dass bisher nur 20 Prozent der Haushaltsmittel abgerufen wurden. Wir haben darauf gedrängt, dass Sie keine bürokratischen Hürden mit Ober- und Untergrenzen aufstellen, sondern dass Sie diese Forschungsprämie freigeben und ein unbürokratisches Antragsverfahren einführen. Auch damit haben Sie aus meiner Sicht eine Bauchlandung erlitten. ({12}) Ich fordere Sie auf, auch hier zu handeln, und will noch einmal daran erinnern: Es ist nicht alles Gold, was glänzt. Fakt ist auch: Seit 2000 ist die Wachstumsrate der FuE-Intensität in Deutschland und Europa rückläufig. Wir müssen hier mehr tun. Ich ermahne uns ernsthaft, auch über eine steuerliche Förderung der Forschung nachzudenken, wie das die meisten OECDStaaten tun. Wir brauchen mehr Anreize für die Wirtschaft, mehr in Forschung und Entwicklung zu investieren. Ich kann uns und besonders der Bundesregierung nur raten: Nur wer wagt, gewinnt. Handeln Sie! Deutschland muss Spitze in der Forschung bleiben. Vielen Dank. ({13})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Jetzt hat der Kollege René Röspel für die SPD-Fraktion das Wort. ({0})

René Röspel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003210, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Nach zehn Jahren sozialdemokratischer Forschungspolitik in Verantwortung und - wie jetzt - Mitverantwortung steht Deutschland gut da. Frau Pieper, Sie haben in Ihrem Schlusssatz ja gesagt, dass sich Deutschland bei der Forschung tatsächlich an der Spitze bewegt. ({0}) Das ist zwar kein wörtliches Zitat aus dem Gutachten zu Forschung, Innovation und technologischer Leistungsfähigkeit, aber es ist eine gute Quintessenz. Eine Bemerkung zu Ihren Ausführungen, Frau Pieper, sei mir erlaubt. ({1}) Es ist sicherlich Recht und Aufgabe der Opposition, Kritik zu üben und miesepetrig zu sein, aber dazu gehört manchmal auch, ehrlich in die Vergangenheit zurückzublicken. Im Gutachten wird festgestellt, dass Deutschland sich bis Mitte der 80er-Jahre in Forschung und Entwicklung eine Spitzenposition unter den Industrieländern erarbeitet hatte, diese Dynamik zu Beginn der 90er-Jahre aber jäh abbrach und erst Ende der 90er-Jahre erneut einsetzte. ({2}) Man kann das so übersetzen, dass Sie als FDP nur einmal an einer erfolgreichen Forschungspolitik beteiligt waren. Das war zu Zeiten der sozialliberalen Koalition. Aber auch da wurden alle Forschungsminister von der SPD gestellt. Die Dynamik, die Sie in Ihrer Koalitionszeit im Bund abgewürgt haben, wie es im Gutachten festgestellt wird, haben wir erst unter Rot-Grün wieder aufgenommen und setzen sie jetzt mit Frau Schavan und Finanzminister Steinbrück mit einem guten Etat fort. ({3}) - Lesen Sie das Gutachten! Das stammt nicht von mir, sondern von der unabhängigen Kommission. Deutschland ist immer noch Exportweltmeister. 2005 hat Deutschland forschungs- und entwicklungsintensive Waren im Wert von 430 Milliarden Euro exportiert. Deutschland war damit vor Japan und den USA weltweit führender Technologieexporteur. Den Großteil der exportierten Waren machten allerdings die sogenannten hochwertigen Technologiegüter aus. Automobilbau, Maschinenbau, Chemie und Pharmazie sind, wie wir wissen, seit Jahren Deutschlands Zugpferde im Export, in der Wissenschaft und in der Technologie. Zugpferde muss man pflegen. Aber man muss auch bereit sein und die Weitsicht haben, umzusatteln. Wenn die Zugpferde irgendwann nicht mehr funktionieren oder zu alt sind, dann muss man gute neue Pferde im Stall haben, auf die man umsatteln kann. Das ist die Spitzentechnologie. An dieser Stelle gibt das Gutachten in der Tat kritisch zu bedenken, dass die Spitzentechnologie nur ein Viertel der technologieintensiven Güter, die wir exportiert haben, ausmacht. Deswegen ist es sehr gut, dass die Bundesregierung und die Große Koalition schon vor einigen Jahren begonnen haben, in die Spitzentechnologie zu investieren und damit diese neuen Pferde zu satteln. Das ist mit der Hightech-Strategie und den dabei vorgesehenen Innovationsallianzen in den Bereichen Gesundheit, Mobilität, Luft- und Raumfahrt und der Entwicklung neuer Elektromobile und Brennstoffzellen gelungen. Ich will das nicht näher ausführen, weil Frau Ministerin Schavan bereits sehr ausführlich und gut darauf eingegangen ist. Mit der Zielsetzung, die Entwicklung neuer Energiespeicher, Leuchtdioden, Beleuchtungssysteme, Elektronik und Fotovoltaik anzuregen und zu fördern, haben wir den ersten Schritt gemacht. Im Gutachten wird auch festgestellt - ich zitiere -: Die Mobilisierung innovativer Kräfte in Deutschland scheint … zu gelingen. ({4}) Das ist die erste Prognose. Das heißt, wir haben recht mit der Hightech-Strategie und dem, was wir machen. Allerdings - es geht nicht nur um Selbstlob, sondern auch um Selbstkritik - gibt es Bereiche, in denen wir stärker investieren müssen. Dazu gehören die Bereiche Umwelt, Klima und Nachhaltigkeit. Darin sind wir bereits stark. Wir sind Weltmarktführer im Technologieund Patentbereich bei Solar- und Windenergie. Aber es gibt noch viel mehr Potenzial, das gehoben und gefördert werden muss. Deswegen müssen wir an dieser Stelle nachlegen. Das ist gar keine Frage. Das Gutachten regt auch an - auch damit müssen wir uns befassen -, dass Forschung und Investitionsförderung des Bundes generell verstärkt auf Spitzentechnologien auszurichten sei. Wir müssen den Blick darauf richten, inwieweit das bisher erfolgt. Das Gutachten weist auch darauf hin, dass der größte Beschäftigungszuwachs in den letzten Jahren im Bereich der wissensintensiven Dienstleistungen erfolgt ist. Das spiegelt den Strukturwandel zur Dienstleistungsgesellschaft wider, den wir vollziehen. Deshalb war es gut - darauf wird Kollege Hagemann als Haushaltspolitiker vielleicht eingehen -, dass die SPD in den Haushaltsberatungen Bereiche wie Arbeit, Kompetenzentwicklung und innovative Dienstleistungen gegen die Kürzungsvorschläge der anderen Fraktionen verteidigt hat. ({5}) Deutschland ist ein guter Forschungsstandort. Auf Seite 24 des Gutachtens ist zu lesen: Deutschland ist nach den Vereinigten Staaten weltweit der größte Forschungsstandort für ausländische Unternehmen. Entgegen den Unkenrufen - beispielsweise seit Jahren der FDP -, dass wir mit Abwanderung rechnen müssen, ist das also nicht der Fall. Wir sind der zweitstärkste Forschungsstandort für ausländische Unternehmen. Sie kommen nach Deutschland. Allerdings steht in dem Gutachten auch: Verlagerungen deutscher FuE-Standorte sind derzeit noch selten, dürften mittelfristig aber zunehmen. Jetzt kommt der wichtige Satz: Dabei spielt weniger der Lohnunterschied als vielmehr die Verfügbarkeit von Fachkräften eine Rolle. Es ist die dringende Warnung dieses Gutachtens, dass der Fachkräftemangel in Deutschland, der nicht nur sichtbar, sondern inzwischen in den Unternehmen auch greifbar geworden ist, das Innovationssystem belastet. Wir brauchen nicht nur viel mehr gut ausgebildete Auszubildende im dualen System, sondern mindestens jedes Jahr 50 000 zusätzliche Akademiker in Deutschland. Das müssen wir schaffen, zum Beispiel über die Steigerung der Erwerbsquote von Frauen oder eben über eine erhöhte Zahl von Jugendlichen in Ausbildung. Die Große Koalition reagiert bereits auf diesen Bedarf. Heute Nachmittag werden wir das Kinderförderungsgesetz in erster Lesung beraten. Das Bundesforschungsministerium und die Große Koalition wollen mithilfe des Hochschulpaktes 2007 bis 2010 jedes Jahr 90 000 zusätzliche Studienanfänger gewinnen. Wir wollen Aufstiegsstipendien für beruflich qualifizierte Menschen vergeben. Wir wollen, dass der Hochschulzugang für qualifizierte Berufsabgänger leichter wird; denn der Meister ist genauso gut qualifiziert wie ein Abiturient und sollte studieren können. Wir wollen endlich die mangelhafte Weiterbildungsquote in Deutschland verbessern. Wir müssen es erreichen, dass Unternehmen und Arbeitnehmer mehr Weiterbildung machen. Wir legen ein Professorinnenprogramm auf und noch vieles andere. Der dringende Appell dieses Gutachtens zum Thema Fachkräftemangel ist weniger an den Bund, sondern in erster Linie an die Länder gerichtet. Ich fordere die Länder auf, gemeinsam mit dem Bund und den Kommunen diesem gesellschaftlichen Skandal entgegenzutreten, dass jedes Jahr 80 000 junge Menschen ohne Schulabschluss in die Gesellschaft entlassen werden, ({6}) dass 15 Prozent der 20- bis 29-Jährigen in unserem Land keinen Berufsabschluss haben, dass wir mit 15 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund ein großes Potenzial im Wesentlichen brachliegen lassen, das gesellschaftlich und ökonomisch für unser Land so wichtig ist. Das alles ist ein Skandal für ein Land, das sich „sozial“ nennt. Das kann zur Katastrophe für ein Land werden, das Technologieführer bleiben will. Meinen letzten Bereich möchte ich damit abschließen, dass die Forderung des Gutachtens, das Bildungssystem zu verändern, unterschiedliche politische Antworten in unserem Land findet. In meinem Heimatland Nordrhein-Westfalen, in dem CDU und FDP in der Regierung sind, wird die Forderung nach Veränderung des Bildungssystems mit höheren Kindergartengebühren, stärkerer Aufteilung nach sozialer Herkunft und der Einführung von Studiengebühren beantwortet. Das erlebe ich als Vater von Kindern in der Schule und im Kindergarten. Wir als SPD wollen - da machen wir die Unterschiede deutlich - eine gute und kostenfreie Bildung für alle, keine Kindergartengebühren und keine Studiengebühren. Wir kämpfen für das BAföG. Wir wollen, dass jeder Jugendliche in dieser Gesellschaft eine Chance bekommt, einen Berufsabschluss zu machen. Wenn er diese erste Chance nicht nutzt, dann soll er um seiner selbst willen eine zweite und eine dritte bekommen, weil er es wert ist und weil wir Technologieführer bleiben wollen. ({7})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die Kollegin Dr. Petra Sitte spricht jetzt für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Petra Sitte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003848, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Danke schön. - Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Zukunft beginnt heute, das sollte doch wohl die Kernbotschaft eines Bundesforschungsberichtes sein. Es geht letztlich um nichts Geringeres als darum, Strategien für die Sicherung des Wohlstandes einer Gesellschaft zu entwickeln, in der es gerechter und ökologischer zugeht und in der Kultur und Ethik auch als zivilisatorische Gewinne begriffen werden. Immerhin könnten Forschung und Innovation wesentliche Potenziale für gerechtere Lebenschancen von Menschen unabhängig von ihrer sozialen Herkunft freisetzen, wenn, ja wenn Politik ihre Ziele tatsächlich an diesem „langfristigen Nutzen für Bürgerinnen und Bürger“ ausrichten würde. Genau so wurde es in dem von Herrn Röspel bereits zitierten Gutachten der Expertenkommission „Forschung und Innovation“ im Februar 2008 auf den Punkt gebracht. Dazu kann ich nur sagen: So sieht es auch die Linke. ({0}) Die Bundesregierung allerdings bezeichnet Innovationspolitik als „zentrales Element ihrer Wachstumspolitik“. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist ein Schritt zurück. Dies sage ich insbesondere an die Adresse der SPD: Sie haben im Jahre 2000 zusammen mit den Grünen eine nationale Nachhaltigkeitsstrategie aufgelegt. Die strategische Ausrichtung sollte darauf hinauslaufen, die Bedürfnisse der heutigen Generation zu befriedigen, ohne die Bedürfnisse künftiger Generationen zu gefährden. Einen solchen solidarischen Ansatz unterstützt auch die Linke. Dem Bericht hingegen kann man entnehmen: Im Zweifel geht Wachstum vor Nachhaltigkeit. So ist der Bundesforschungsbericht zunächst nichts als eine interessante Sammlung von Zahlen und Fakten. Allerdings werden an keiner Stelle die Folgen der Unterordnung von Forschung und Entwicklung unter die Interessen von Wirtschaft und dort wiederum insbesondere unter die Interessen von Großunternehmen reflektiert. Damit liefern wir uns auch in diesem Bereich nahezu ungeschützt global vernetzten Finanzmärkten mit ihren Spekulationspotenzialen und den Konzernen als Global Playern aus. ({1}) Die Bundesregierung konzentriert die Förderung auf Branchen wie Automobil- und Pharmaindustrie, Energie sowie Luft- und Raumfahrt. Gerade diese Branchen aber werden von einigen wenigen international agierenden Unternehmen bestimmt. Damit stellt sich zwangsläufig die Frage: Sind die Schwerpunkte der Innovationspolitik richtig und im richtigen Verhältnis zueinander gesetzt, wenn wir Sozial- und Beschäftigungssysteme, aber eben auch die Umwelt nachhaltig konditionieren wollen? Die Linke sagt: Dazu bedarf es einer weiteren und neuen gesellschaftlichen Diskussion. ({2}) Dies beginnt für uns damit, dass die Entscheidungsräume öffentlicher Kontrolle wieder zurückgeholt werden müssen. Warum ist es mir so wichtig, das hier zu sagen? Weil inzwischen die Lobbyisten großer Unternehmen und ihrer Verbände in Gremien der Bundesregierung die öffentliche Forschungsförderung nachhaltig beeinflussen, beispielsweise in der Forschungsunion oder den sogenannten Innovationskreisen. Was dort stattfindet, ist äußerst grenzwertig: Sie helfen nicht nur beim Schreiben von Gesetzen - das haben wir nun auch schon in anderen Bereichen erfahren -, nein, sie sitzen eigentlich direkt an der Quelle und nehmen lange vor der Erarbeitung von Gesetzen Einfluss auf die strategische Ausrichtung von Förderprogrammen der Bundesregierung. Inzwischen gibt es zwar erfreuliche Bemühungen um kleine und mittelständische Unternehmen; aber die größten Beträge fließen nach wie vor an die Großen der bereits zitierten Branchen: Diese wären allemal selbst stark genug, die Forschungsrisiken aus eigener Kraft zu schultern. ({3}) Es gibt Länder, in denen genau diese Philosophie vertreten wird, beispielsweise die Schweiz. Durch dieses Herangehen bleiben grundsätzliche Probleme in Inhalten und Strukturen der Förderpolitik ungelöst. Unsere beiden Grundkritiken bestehen erstens in der Selektivität unseres Bildungs-, aber auch des Forschungssystems und zweitens in der mangelnden Nachhaltigkeit von Forschung und Wirtschaft in Deutschland. Zur ersten Grundkritik: Schülerinnen und Schüler unterliegen einem Ausleseprozess, der viel stärker an ihre soziale Herkunft als an ihre Fähigkeiten anknüpft. Sie wissen, dass das zu irreversiblen Folgen für ganze Lebensläufe führt, insbesondere bei Kindern und Jugendlichen, die in irgendeiner Form behindert sind. Auch die jüngste Qualifizierungsoffensive doktert letztlich nur an Symptomen herum. Dabei wäre es notwendig, ursächlich anzusetzen. ({4}) Wir brauchen ein homogenes System - wohlgemerkt: ein homogenes und kein gleichmachendes System - über alle Bundesländer hinweg, dessen Bildungsangebote konsequent im frühkindlichen Bereich beginnen und über die gesamte Berufszeit durch Weiterbildung erhalten bleiben. Dafür nimmt die Bundesregierung zwar Geld in die Hand, aber aus unserer Sicht viel zu wenig. ({5}) Deshalb fragen wir Sie: Wann eigentlich wollen Sie die gravierenden Ungleichgewichte zwischen öffentlicher Bildungsfinanzierung einerseits und Technologieförderung andererseits nachhaltig korrigieren? Diese Defizite schränken letztlich - das hat sich bereits gezeigt die Chancen für den wissenschaftlichen Nachwuchs an den Hochschulen ein. Dort nehmen nämlich befristete und ungesicherte Beschäftigungen zu. Das wäre mit dem Wissenschaftsfreiheitsgesetz, Frau Pieper, noch viel schlimmer gekommen. ({6}) Dies wirkt sich auch besonders negativ auf Frauen in der Wissenschaft aus. Hinzu kommt verschärfend - das muss man hier unbedingt sagen -, dass das Hochschulsystem in Gänze unterfinanziert ist und bleibt. Dieses Austrocknen von Quellen muss aufhören. Damit leider nicht genug: An Weiterbildungsmaßnahmen - dies wurde schon gesagt - nehmen in Deutschland nur 12 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer teil. Bei den Trägern qualifizierter Weiterbildungsangebote findet seit Jahren ein massenhaftes Absterben statt. Der Preis dafür sind Niedriglöhne in diesem Bereich und Tausende arbeitslose Weiterbilder. Was hört man allerorten? Fachkräftemangel! Schon so oft haben wir hier über Fachkräftemangel diskutiert. Was bitte ist das für eine Innovationspolitik, die intellektuelle Potenziale in solch einem Umfang ungenutzt lässt? Die Linke sagt: Da muss man endlich umsteuern! ({7}) Schließlich und endlich wirkt diese Innovationspolitik auch innerhalb des Forschungssystems selektiv. So war die Grundlagenforschung Deutschlands international hoch angesehen. Jetzt mehren sich warnende Stimmen, dass die Grundlagenforschung durch Überbetonung der Anwendungsorientierung bei der Forschungsförderung wegzubrechen beginnt. Zugleich vertiefen sich die Abhängigkeiten der Hochschulen von Geldgebern aus der Wirtschaft. Ich kann nur sagen: Die Freiheit von Forschung und Lehre - wie sie das Grundgesetz versteht - ist auf eine völlig andere Art, als wir das bisher kannten, bedroht. Wir warnen vor der Aushöhlung dieses Grundrechts. ({8}) Die zweite Grundkritik der Linken bezieht sich auf die mangelnde Nachhaltigkeit deutscher Innovationspolitik. Der jüngste Forschrittsbericht zur Nationalen Nachhaltigkeitsstrategie zeigt: Die Milliardenmittel für Innovation steigern das Wirtschaftswachstum, aber auf Kosten einer nachhaltigen sozialen und ökologischen Entwicklung. Beispielsweise werden wieder verstärkt die Nuklearforschung oder die höchst fragwürdige Einlagerung von CO2 unter der Erde gefördert. Das hat mit Ökologie überhaupt nichts zu tun; denn die Ergebnisse sind völlig offen und kommen letztlich nur den Energiemonopolisten zugute. ({9}) Auch die Automobilindustrie baut ihre Marktstellung mit öffentlichen Geldern aus. Angesichts dessen, dass diese Gelder bei hochklassigen Pkws, die, wie wir wissen, Spritfresser sind, ankommen, frage ich mich: Was ist das für eine Innovationspolitik? Zugleich fehlen uns innovative Wege zu besserem öffentlichen Personenverkehr. Meine Damen und Herren, unbestritten sind kleine und mittelständische Unternehmen entscheidende Impulsgeber für neue, innovative Projekte. Aber deren Anteil an Forschung und Entwicklung ist, wie Gutachten gezeigt haben, rückläufig. Das ist insbesondere für Ostdeutschland fatal. Leider Gottes sind viel weniger neue Arbeitsplätze entstanden, als notwendig sind und ursprünglich erwartet wurden. Das soll nicht heißen, dass diese Förderung falsch ist. Wir brauchen allerdings ostspezifische Programme. Diese werden im Bildungs- und Forschungsbereich zumeist - na, immerhin - secondhand aufgelegt, und zwar genau dann, wenn wir praktisch vorgeführt bekommen haben, dass die ostdeutschen Länder bei wettbewerblich angelegter Forschungsförderung wie etwa der Nominierung von Eliteuniversitäten fast chancenlos geblieben sind, ja bleiben mussten. ({10}) So ist der Abstand zwischen Ost und West nicht nur im Sozialen, sondern auch im Bereich der Wissenschaft wieder gewachsen. Wir wollen das nicht hinnehmen. ({11}) Die Linke findet: Innovation boomt nicht nur, wenn der Markt Hurra schreit. Mindestens genauso innovativ ist es doch, wenn Forschung und Entwicklung soziale und ökologische Impulse setzen. Das stünde im Übrigen auch einer Forschungsministerin, die sich selbst als wertkonservativ versteht, gut zu Gesicht. Ich danke. ({12})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Priska Hinz hat jetzt das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.

Priska Hinz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003769, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die Grünen sind der Meinung, dass gute Bildung, die Förderung von Neugier und Wissensdurst die Voraussetzungen für Forschung und Innovation sind. Einrichtungen wie Kindergarten und Schule haben dafür einen zentralen Stellenwert. Ohne gute Bildung gibt es keine gute Forschung und keine Qualifizierung von Nachwuchs. Eben weil wir schon einen Fachkräftemangel haben, wird die Bildung zur Schlüsselfrage, um Forschung und Innovation in Deutschland zu sichern. Schauen wir uns einmal an, was die Expertenkommission „Forschung und Innovation“ dazu schreibt. Sie beschreibt in dem Bericht Bildungsstagnation und geringe Weiterbildung als Gefahren für den Innovationsstandort Deutschland. Sie macht die Problematik einer sehr frühen Trennung im deutschen Schulsystem deutlich. Sie kritisiert, dass im Übergangssystem keine voll qualifizierenden Abschlüsse erlangt werden und dass die Studierendenquote zu gering ist. Diese Kritik war auch schon im letzten Bericht nachzulesen und wurde in der Debatte im letzten Jahr angesprochen. Leider hat die Koalition wenig getan, um gerade diese drängenden Probleme zu lösen. Die notwendige Strukturreform in der Ausbildung findet nicht statt. In der Weiterbildung gibt es nach drei Jahren endlich ein schriftliches Konzept. Der Hochschulpakt ist unterfinanziert. Der Bildungsgipfel, der im kommenden Herbst stattfinden soll, droht an den Einsprüchen der Kultusminister und der Ministerpräsidenten der Union erneut zu scheitern und zu einer Maus zu werden. ({0}) Bildung muss von gesamtstaatlicher Verantwortung getragen werden. Sonst werden wir den Anschluss in der Qualifizierung einer bedarfsgerechten Zahl an Fachkräften und unsere Wettbewerbsfähigkeit verlieren. Frau Schavan, wir erwarten von Ihnen, dass Sie sich endlich für diese Themen einsetzen und sich durchsetzen. ({1}) Leider haben Sie in der letzten Woche einmal mehr Ihren Ruf als Ministerin der großen Worte und der kleinen Taten gefestigt. In Meseberg haben Sie vollmundig ein Wissenschaftsfreiheitsgesetz angekündigt. Was machen Sie jetzt, da der nächste Sommer naht? Es wird still und leise beerdigt, wie der Presse zu entnehmen ist. ({2}) Wieder einmal wurde aus einem großen Ballon die Luft herausgelassen. Jetzt wollen Sie kleine Schritte auf dem Verwaltungsweg gehen. Aber wir wissen, was von solchen Versprechungen Ihrerseits zu halten ist. Sie haben auch eine Änderung des Vergaberechts versprochen und gesagt, dass die Bagatellgrenze für Forschungseinrichtungen bei der freihändigen Vergabe von 8 000 auf 30 000 Euro anzuheben sei. Nun hat Herr Glos einen Gesetzentwurf zum Vergaberecht vorgelegt. Aber nichts lässt sich von dem finden, was Sie angekündigt haben. Sie hätten unsere Unterstützung gehabt. So lösen Sie Ihre Versprechen ein! Ich befürchte, dass die Forschungseinrichtungen noch lange darauf warten können, dass sich endlich etwas ändert. ({3}) Priska Hinz ({4}) Diese Regierung ist einst mit dem Motto „Sanieren, Reformieren, Investieren“ angetreten. ({5}) Das Motto der Regierung heute lautet aber: Ankündigen, Aufschieben, Beerdigen. ({6}) Das gilt auch beim Klimaschutz. Hier versagt die Bundesregierung auf der ganzen Linie. Schon jetzt ist klar: Die Bundesregierung wird mit den geplanten Maßnahmen ihre Klimaschutzziele meilenweit verfehlen. Anstatt sich endlich auf konkrete Schritte zu einigen, streitet die Regierung wochenlang vor sich hin. Angesichts dessen muss sich eine Forschungsministerin doch fragen lassen, was die Aufwüchse im Forschungsbereich dann eigentlich wert sind. Manche Neuerungen brauchen doch den Anreiz durch staatliche Programme, um die Marktschwelle zu nehmen. Ihr Credo in der HightechStrategie war, die gesamte Wertschöpfungskette in den Blick zu nehmen. Aber beim Klimaschutz gilt das anscheinend nicht. Innovation fördern sieht anders aus, Frau Schavan. ({7}) Beim Erreichen des 3-Prozent-Ziels für Investitionen in Forschung und Entwicklung gibt es Fortschritte; das gestehen wir zu. Das ist gut. Aber die gegenwärtigen Erfolge sind auf konjunkturellem Sand gebaut. Das sagt selbst die von Ihnen eingesetzte Expertenkommission „Forschung und Innovation“. Sie schreibt, „dass ein Teil der Zunahme der deutschen F-und-E-Aufwendungen im Jahr 2006 nur konjunktureller und nicht struktureller Natur ist“. Vor diesem Hintergrund ist die entscheidende Frage: Was ändert sich strukturell? Wie sieht hier die Bilanz der Bundesregierung aus? Die Unternehmensteuerreform ist ein Desaster für innovative Unternehmen. Der beschleunigte Wegfall von Verlustvorträgen, mehr Bürokratie und steuerliche Belastungen von Forschung und Entwicklung schwächen den Innovationsstandort Deutschland. Das ist das Gegenteil dessen, was wir brauchen. Stichwort „Wagniskapital“. Hier sind Sie halbherzig und zu kurz gesprungen. Ihr Gesetz sollte die Finanzierung von Unternehmen mit Wagniskapital verbessern. Was sagt Ihre Kommission dazu? Das Gesetz geht zwar in die richtige Richtung, ist aber derart restriktiv, dass es nur einen Bruchteil des Marktes erfasst. Das ist maximal ein Ungenügend. Herr Riesenhuber, eigentlich müssten Sie bei einer solchen Bemerkung in diesem Bericht aufschreien. ({8}) Wir Grünen fordern, innovative kleine bis mittelgroße Unternehmen, die zunächst mindestens 30 Prozent ihrer Umsätze in Forschung und Entwicklung investieren, und ihre Wagniskapitalgeber steuerlich zu fördern. Wir fordern Sie, Frau Bundesministerin, hier nachdrücklich auf, sich für Verbesserungen einzusetzen; sonst haben Sie Ihr Ziel verfehlt, strukturell etwas zu verändern. ({9}) Auch die Forschungsprämie ist ein Flop. ({10}) Bisher wurden gerade einmal 20 Prozent der Mittel abgerufen. Da muss man sich als verantwortliche Ministerin doch fragen lassen, ob das Instrument richtig konzipiert ist. Eigentlich müssten Sie sagen, was Sie da verändern wollen. ({11}) Aber man hört nichts von Ihnen. Einen Sprecher Ihres Ministeriums lassen Sie verlautbaren, dass es die Zeit schon richten werde. Von viel Tatkraft ist da nichts zu merken. Ich möchte nun auf ein wichtiges Forschungsfeld zu sprechen kommen. Bei der Nanoforschung stehen Entscheidungen von wegweisender Bedeutung für diese Schlüsseltechnologie an. Wir Grünen haben von Anfang an die Nanotechnologie gefördert. Aber wir sind der Meinung, dass die Chancen und die Risiken stärker als bislang erforscht werden müssen. Deutschland ist auf dem Feld zwar ganz gut aufgestellt, aber wir können nur dauerhaft mit einem Wettbewerbsvorteil rechnen, wenn die Produkte und Produktionsprozesse mit Nanotechnologie nicht nur gut, sondern auch wirklich sicher sind. Deshalb brauchen wir Leitbilder für den Umgang mit Nanomaterialien, und die heißen Nachhaltigkeit und Sicherheit. Bisher hat die Bundesregierung nicht den Eindruck gemacht, als sei ihr dieses Thema besonders wichtig. Den Bericht, den wir als Opposition Ihnen mühsam abringen mussten, der inzwischen schon wochenlang - um nicht zu sagen: monatelang - im Ausschuss liegt, der spricht eine deutliche Sprache. ({12}) - Sie brauchen gar nicht so verwundert mit dem Kopf zu schütteln. Herr Tauss, wir mussten einen Antrag stellen, damit die Bundesregierung einem Beschluss des Bundestages nachkommt, zwei Jahre nach einem festgelegten Datum endlich einen Bericht vorzulegen. Da können Sie doch nicht so tun, als sei es ein selbstverständlicher Vorgang, dass die Bundesregierung zum Handeln getragen werden muss. ({13}) Auch zum Verhaltenskodex der EU-Kommission für verantwortungsvolle Forschung im Bereich der Nanowissenschaften vom Februar 2008 gibt es bislang noch keine Reaktionen der Bundesregierung. Der Wettbewerbsrat tagt Ende dieser Woche. In der Vorausschau hat die Bundesministerin uns mitgeteilt, es gebe überhaupt Priska Hinz ({14}) keine Vorlage für einen EU-Verhaltenskodex. Frau Schavan, Sie werden sich zu den EU-Forderungen nach Nachhaltigkeit, Vorsorge und Verantwortlichkeit äußern müssen. Sie werden Farbe bekennen müssen, wie ernst Sie es damit meinen, wenn Sie sagen, dass wir diese Produkte wirklich wollen. Diese erhalten nämlich nur dann wirklich Akzeptanz in der Bevölkerung, wenn man die Risikoforschung vorantreibt und all diese Produkte standardisiert. ({15}) Ich komme zum Schluss. Die Empfehlung der Kommission ist sehr interessant. So soll die strategische Ausrichtung auf nachhaltiges Wirtschaften und der Ausbau wissensintensiver Dienstleistungen umgesetzt werden. Das ist ganz in grünem Sinne. Wir haben für die ganze Bandbreite schon Vorschläge gemacht. Wir sind der Meinung, dass eine Regierung sich keine Blöße gibt, wenn sie gute Vorschläge der Opposition umsetzt. Da bauen wir auf Sie. Danke schön. ({16})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ilse Aigner spricht jetzt für die Fraktion der CDU/ CSU. ({0})

Ilse Aigner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003028, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nachdem das Wissenschaftsfreiheitsgesetz hier mehrfach angesprochen worden ist, möchte ich dazu schon zwei Takte sagen. Sehr geehrte Frau Hinz, wie beim Hochschulpakt haben wir nicht nur etwas angekündigt, sondern wir werden auch etwas umsetzen: Im Sommer dieses Jahres werden die zuständigen Minister eine untergesetzliche Lösung vorlegen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich würde sagen: Es ist eigentlich egal, auf welchem Wege man etwas zustande bringt; Hauptsache, es bewegt sich etwas. ({0}) Dass gerade die FDP, die immer für Entbürokratisierung steht, ein Gesetz fordert, finde ich etwas verwunderlich. ({1}) Ich glaube, man kann auch einen anderen Weg als den der Verabschiedung eines Gesetzes beschreiten. Das Ergebnis ist das Entscheidende. Etwas, wodurch dieses Ergebnis erreicht wird, werden wir dementsprechend vorlegen. ({2}) Wir beraten heute den Bundesforschungsbericht und nicht den Bundesbildungsbericht und auch nicht den Bundesweiterbildungsbericht. ({3}) Deshalb schlage ich vor, dass wir schwerpunktmäßig dieses Thema, nämlich die Forschung, fokussieren. Ein wichtiges Thema ist - es ist hier immer wieder angesprochen worden - das sogenannte 3-Prozent-Ziel. Unseren Zuhörerinnen und Zuhörern, die vielleicht gar nicht wissen, was das 3-Prozent-Ziel eigentlich ist und warum wir es brauchen, möchte ich zur Erläuterung kurz sagen: Es geht darum, dass ein fortschrittlicher Staat 3 Prozent seines Bruttoinlandsproduktes in Forschung und Entwicklung investieren sollte, und dies nicht einfach aus Jux und Tollerei, sondern weil es einen direkten Zusammenhang zwischen Wirtschaftswachstum und vorgelagerter Forschungsförderung gibt. Übrigens wird in diesem Bundesforschungsbericht an einer Abbildung eindeutig unter Beweis gestellt, dass hohe Forschungsförderung hohes Wirtschaftswachstum nach sich zieht. Zur Frage der Finanzen. Sehr geehrter Herr Röspel, ich würde es so nicht sagen, aber aufgrund dessen, dass Sie immer wieder betonen, alles habe etwas mit der SPD zu tun, muss ich es doch etwas auf die Union fokussieren: Von 2002 bis 2005 haben die Ausgaben für Forschung und Entwicklung bei ungefähr 9 Milliarden Euro stagniert. ({4}) - Nein, im Bundesetat. - 2008 werden über 11 Milliarden Euro in Forschung und Entwicklung investiert - das ist nachgewiesen; das steht sogar im Bundesforschungsbericht -; diese Zahl wird hoffentlich noch gesteigert. Es handelt sich also um eine Zunahme von fast 25 Prozent. ({5}) Liebe Damen und Herren, egal aus welcher Fraktion, jeder Forschungspolitiker in diesem Hause müsste über einen solchen Zuwachs in Forschung und Entwicklung jubeln. ({6}) Sehr geehrter Herr Staatssekretär der Finanzen - vielleicht leiten Sie es an unseren Bundesminister der Finanzen weiter -, wir würden es natürlich gerne sehen, wenn es zu einer Verstetigung käme. Die Ministerin hat dementsprechend angemeldet, weiterhin den Weg der Erfüllung des 3-Prozent-Ziels zu beschreiten; wir unterstützen sie darin. Ich glaube, wir sollten uns sehr stark an unseren Koalitionsvertrag halten und uns auch in Zukunft daran orientieren, damit wir dieses Ziel 2010 erreichen werden. Wird das Geld effizient eingesetzt? Ich sage, ja. Das ist nicht nur meine Auffassung. Ich zitiere aus dem Bundesforschungsbericht: Zudem geben die befragten Unternehmen an, ihre FuE-Aufwendungen ebenfalls, und zwar um durchschnittlich 7 Prozent, steigern zu wollen. Die Mobilisierung innovativer Kräfte in Deutschland scheint demnach zu gelingen. Das heißt, die Hightech-Strategie zeigt Wirkung. Ein wichtiges Instrument der Forschungsförderung ist die Projektförderung. Weit über 98 Prozent der Mittel für die Projektförderung sind abgeflossen. Man sollte wegen eines kleinen Teils wie der Forschungsprämie - sie ist ein neues Instrument; dahin fließen unter 1 Prozent der Mittel für die Projektförderung - nicht den Erfolg der Hightech-Strategie infrage stellen. ({7}) Wir sollten das nicht kleinreden lassen. Ich hatte letzte Woche das Vergnügen, mehrere Firmen in meinem Wahlkreis besuchen zu dürfen, die Projektförderung des Forschungsministeriums erhalten. Ein Unternehmen davon beschäftigt sich mit der Fernerkundung von Binnengewässern. Es wirkt mit an einem multidisziplinären Verbund zur nachhaltigen Entwicklung des Mekongdeltas. Jetzt fragen Sie: Was hat das mit uns zu tun? Ich sage das nur deshalb, weil aus dieser Projektförderung eine neue Geschäftsidee entstanden ist. Mit dieser neuen Geschäftsidee werden in Deutschland zusätzliche Wertschöpfung und neue Arbeitsplätze generiert. Das ist es doch eigentlich, was wir wollen. ({8}) Ein wichtiges Ziel ist die Mobilisierung von FuE-Investitionen in der Wirtschaft; denn diese muss zwei Drittel des 3-Prozent-Zieles schultern. Es geht aber nicht um die Zahl allein, sondern auch um internationale Konkurrenzfähigkeit, Wachstum und Arbeitsplätze. Deshalb müssen wir zusammen mit der Wirtschaft und in die Wirtschaft investieren. Ein entsprechendes Instrument sind die sogenannten Innovationsallianzen. Der Einsatz von 500 Millionen Euro Steuergeldern hat auf der Wirtschaftsseite zu Investitionen in Forschung und Entwicklung in Höhe von 2,6 Milliarden Euro geführt. Auf jeden Euro, den wir aus Steuergeldern investiert haben, hat die Wirtschaft über 5 Euro draufgelegt. Wenn das keine Hebelwirkung ist, dann weiß ich es auch nicht! ({9}) Wir werden noch weitere Instrumente prüfen, zum Beispiel die steuerliche Förderung von FuE. Diesbezüglich gibt es vielleicht sogar innerhalb unserer eigenen Fraktion noch Diskussionsbedarf; das will ich gar nicht leugnen. Aber wir werden dieses Thema weiterverfolgen, weil die steuerliche Förderung ein Instrument sein könnte, das eine zusätzliche Hebelwirkung bei der Projektförderung auslöst. Das werden wir in den nächsten Wochen und Monaten noch diskutieren. Das Gutachten lobt besonders, dass wir in wichtige Felder, die die Ministerin schon angesprochen hat, wie die Umweltforschung, die Energieforschung und die medizinische Forschung investieren. Aber es zeigt auch die komplette Breite und ist ein hervorragendes Nachschlagewerk von über 600 Seiten Länge zu allem, was sich in Forschung, Entwicklung und Innovation in der Bundesrepublik Deutschland tut. Ich bin mir sicher, dass jedes Mitglied dieses Hohen Hauses alle 600 Seiten genau gelesen, wahrscheinlich sogar schon auswendig gelernt hat. ({10}) Falls dies noch nicht geschehen sein sollte, haben wir in den Ausschussberatungen ausführlich Gelegenheit und Zeit, uns über jede der 600 Seiten zu unterhalten. Letztlich geht es darum, welche Schwerpunkte wir zum Beispiel in den Haushaltsberatungen für unser Land setzen wollen. Im Vergleich zu den Investitionen in Forschung und Entwicklung geben wir siebenmal so viel für die Finanzierung der Rente, viermal so viel für die Finanzierung des Arbeitsmarktes und nach wie vor fast viermal so viel für Zinsen aus. Ich glaube, dass es den Schweiß der Edlen dieses Hauses wert ist, sich weiterhin dafür einzusetzen, dass wir noch mehr in Forschung und Entwicklung und damit in unsere Zukunft investieren. Dafür will ich heute werben. Herzlichen Dank! ({11})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die Kollegin Ulla Burchardt spricht jetzt für die SPDFraktion.

Ulla Burchardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000306, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal möchte ich feststellen, dass wir 2006 eine gute Entscheidung damit getroffen haben, das bis dahin geltende Berichtssystem durch die beiden jetzt vorliegenden Berichte zu ersetzen. Insbesondere das Gutachten macht deutlich, dass Innovation ein sehr komplexes Geschehen ist, an dem viele beteiligt sind, nicht nur die Ressorts Bildung und Forschung sowie Wirtschaft. Deswegen ist es gut, dass dieses Gutachten eine sehr breite und differenzierte Analyse enthält und die Handlungsempfehlungen, liebe Kollegin Aigner, sich nicht nur an den Bund, aber auch nicht nur an die Forschungspolitik richten; darauf gehe ich gleich noch weiter ein. Frau Ministerin hat es mir dankenswerterweise abgenommen, die Positivbilanz aufzuführen. Ich kann jedes Wort, das Sie dazu gesagt haben, nur unterstreichen. Gleichwohl hat Kollege Röspel recht, wenn er sagt, dass das Gute nicht erst 2005 begonnen hat. Ihre Behauptung ist zwar menschlich gesehen naheliegend, faktisch hat aber die rot-grüne Koalition - und zwar nicht nur die Grünen in der Koalition, Kollegin Hinz - 1998 begonnen, entscheidende Weichenstellungen vorzunehmen, die heute ihre Wirksamkeit entfalten und durch die Hightech-Strategie weitergeführt werden. Ich nenne nur den Pakt für Forschung und Innovation, die Exzellenzinitiative und die Clusterförderung. All das zusammen zeigt jetzt Wirkung. Diesbezüglich sollte man bei der historischen Wahrheit bleiben. ({0}) Das Gleiche gilt für die von Frau Aigner angesprochene Stagnation bis 2005. Frau Kollegin Aigner, Sie wissen doch genau, welche automatische Antwort Ihre Aussage provoziert: ({1}) Wenn die Union in den Ländern nicht so lange blockiert hätte, hätten wir den riesigen Investitionsschub in FuE schon viel früher haben können. ({2}) Wir freuen uns aber, dass Sie jetzt endlich auf unseren Zug aufgesprungen sind. Ich teile auch völlig die Einschätzung im Bericht des BMBF, dass Politik, Hochschul- und Forschungsinstitutionen sowie Unternehmen sich mit dem Erreichten nicht zufriedengeben können; völlig klar. Aber ein bisschen stolz darf man schon darauf sein, auch wenn es wirklich noch viel zu tun gibt. Ich will auf drei Punkte eingehen: Der erste Punkt, Kollegin Aigner, ist das Bildungssystem. Natürlich liegt uns hier kein Bildungsbericht vor; aber es ist doch sehr deutlich, was die Gutachter schreiben, nämlich dass das Fundament für das Innovationsgeschehen in Deutschland das Bildungssystem ist. Dieses System hat gewaltige Risse. Es ist nicht leistungsfähig genug. Wenn wir an dieser Stelle nicht mächtig vorankommen, dann nützen uns alle Ausgaben für F und E nichts, weil die Fachkräfte fehlen. ({3}) Die Zielvorgabe der Gutachter ist unmissverständlich: „Den Anteil der Bildungsarmen drastisch senken und den Anteil der Bildungsreichen in beträchtlichem Umfang erhöhen“, sagen die Gutachter, die vom BMBF eingesetzt worden sind. Wir haben in der frühkindlichen Bildung mit dem 4-Milliarden-Programm und dem Rechtsanspruch auf Betreuung für unter Dreijährige jetzt gemeinsam eine Menge auf den Weg gebracht. Bemerkenswert ist, dass es wieder einmal in einem Gutachten zur Innovation und technologischen Leistungsfähigkeit heißt: Das dreigliederige Schulsystem mit seiner starken Selektion ist wirklich kontraproduktiv, wenn es darum geht, alle Potenziale auszuschöpfen. ({4}) Da wird eine Ideologie zum Rieseninnovationshemmnis. An dieser Stelle muss man sich doch irgendwann bewegen. Herr Kollege Schummer, mehr wissenschaftliche Empfehlungen kann man überhaupt nicht präsentieren. Schauen Sie doch einmal in das Gutachten hinein, das Sie und Ihre Kollegen mit auf den Weg gebracht haben! Deswegen sehen wir Sozialdemokraten uns in der Einschätzung bestätigt, dass „eine Schule für alle“ notwendiger Bestandteil von Innovationspolitik ist und dass es höchste Zeit für ein zweites Ganztagsschulprogramm wird. Auch dies ist nun wissenschaftlich wirklich sauber noch einmal unterfüttert worden. ({5}) Was die Aus- und Weiterbildung betrifft, ist die Deutlichkeit in dem Gutachten schon bemerkenswert. - Eine so deutliche Sprache in einem Gutachten ist überhaupt bemerkenswert. Ich bedanke mich ausdrücklich dafür und bitte darum, diesen Dank weiterzugeben. - Unmissverständlich ist die Kritik in Richtung Wirtschaft, was die Aus- und Weiterbildung angeht. Es wird deutlich gesagt: Der Fachkräftemangel, über den jetzt überall geklagt wird - er wird immer drastischer; das Faktum ist richtig -, ist durch die Wirtschaft selbst verantwortet, weil in der Vergangenheit zu wenig Ausbildungsplätze zur Verfügung gestellt worden sind und zu wenig für die Weiterbildung getan worden ist. ({6}) Von daher ist es konsequent, wenn die Gutachter darauf hinweisen, dass die Unternehmen an dieser Stelle und die Tarifvertragsparteien, wenn es um Weiterbildungstarifverträge geht, eine Bringschuld haben. Wir haben das Thema „Weiterbildung und lebenslanges Lernen“ heute Abend noch einmal auf der Tagesordnung. Deshalb will ich nicht im Detail darauf eingehen und nur so viel sagen: Wir haben mit dem Koalitionspartner kleine Schritte in die richtige Richtung auf den Weg gebracht - auch das ist durch das Gutachten bestätigt worden -; wir Sozialdemokraten sind aber bei weitem nicht zufrieden mit der Geschwindigkeit und dem Maß der Schritte, die im Bereich Weiterbildung/lebenslanges Lernen auf den Weg gebracht worden sind. Da müssen das Tempo und die Entschlossenheit noch deutlich erhöht werden. Wenn wir das Gutachten ernst nehmen, dann sollten wir uns in der nächsten Zeit schleunigst zusammensetzen, um zu klären: Was können wir außer Meister-BAföG, Bildungsprämie und Qualifizierungsgipfel in dieser Legislaturperiode an großem Wurf noch auf die Reihe bekommen? Für uns Sozialdemokraten ist eines völlig klar: Wir wollen nicht Bestenauslese und Bestenförderung, sondern wir wollen verlässliche Rahmenbedingungen, sodass jeder in diesem Land das Beste aus sich machen kann. ({7}) Dazu gehören Rechtsansprüche. An dieser Stelle soll ganz deutlich gesagt werden: Der erste Schritt dazu ist der Rechtsanspruch auf eine zweite und dritte Chance. Wir unterstützen ausdrücklich das Vorhaben des Bundesarbeitsministers, den Rechtsanspruch auf einen grundlegenden Schulabschluss einzuführen; das ist überfällig. ({8}) Jeder, der dies kritisiert, muss sich darüber im Klaren sein, dass er im Glashaus sitzt. Was das Thema Hochschule angeht, noch ein Wort. Wir haben mit dem Gutachten gute Unterlagen bekommen. Es lohnt sich an dieser Stelle auch der Blick in die Basisstudie. Darin wird sehr deutlich gesagt, was die Gründe dafür sind, dass die Zahl der Studierenden immer noch stagniert. Die Hemmschwellen sind unter anderem flächendeckend lokale NCs, die Unüberschaubarkeit der Studienangebote und -zugänge sowie finanzielle Hürden, das heißt auch Studiengebühren. Von daher haben wir zur Verbesserung der Bedingungen für den Innovationsstandort in der nächsten Zeit, wenn es um den Hochschulpakt II, die weitere Debatte über die Hochschulzulassung und die Frage der Finanzierung von Hochschulen geht, mehr zu tun als das, was möglicherweise bis jetzt angedacht ist. Wir sagen: Der Hochschulpakt II muss ein Pakt für gute Lehre werden und gut finanziert werden, damit 200 000 zusätzliche Studienplätze dabei herauskommen. Wir brauchen bundeseinheitliche Zugangsregeln für die Hochschulen, und statt Studiengebühren macht die Neuordnung der Hochschulfinanzierung nach dem Zöllner-Modell „Geld folgt Studierenden“ Sinn. Das alles sind Beispiele für eine mit Vernunft betriebene Innovationspolitik. Zu dem Thema Finanzierung von Innovationen einige wenige Anmerkungen: Was der Forschungsbericht barmherzig zudeckt, sprechen die Gutachter aus: In der Vergangenheit gab es deutlich zu geringe FuE-Aufwendungen vonseiten der Wirtschaft. Deutlich fällt auch die Kritik an den Banken aus: Sie stellen viel zu wenig Risikokapital für junge Unternehmer bereit. Sie sind damit für die zu geringe Gründungsdynamik verantwortlich. Dabei scheuen doch die Banken ansonsten auf den internationalen Kapitalmärkten kein Risiko. Dieses Gebaren ist also schon etwas merkwürdig. Ich kann nur unterstreichen, dass an dieser Stelle wirklich deutlich mehr Druck gemacht werden muss. ({9}) Zum Thema steuerliche Forschungsförderung sagen wir: Klar, das sollte man prüfen; das ist keine Frage. Es gibt Länder, in denen es sie gibt, und Länder, in denen es sie nicht gibt. Nur, ein Vorgehen nach dem Gießkannenprinzip war noch nie erfolgreich. Insofern muss man bei diesem Punkt etwas genauer hinschauen. Bezüglich der Frage, wie Ideen schneller in Produkte und Dienstleistungen umgesetzt werden können, haben wir innerhalb der Koalition ein Programm zur Validierungsforschung angeregt und erfolgreich durchgesetzt. Wir werden sicherlich bei der Debatte über den nächsten Bericht sehen, dass das ein guter Ansatzpunkt ist. Im Bereich Investitionen in Innovationen ist die Bundesseite im Forschungsbereich gut aufgestellt. Das ist überhaupt keine Frage. Es stimmt aber auch, wie die Gutachter allen ins Stammbuch schreiben: Es fehlen Investitionen ins Bildungssystem. Deswegen ist der aktuelle Wettlauf um Steuersenkungen absolut kontraproduktiv. ({10}) Die Debatte, die darüber geführt wird, ist ja nun wirklich eine Innovationshinderungsdebatte. Wir freuen uns ausdrücklich über die Unterstützung von Frau Schavan für unsere Position, dass Bildungsinvestitionen Vorrang vor Steuersenkungen haben müssen. Ich gehe einmal davon aus, dass sich auch alle anderen Kollegen von der Union dieser Position anschließen werden. ({11}) Abschließend möchte ich noch auf einen Hinweis eingehen, den die Gutachter sehr deutlich bezüglich der Frage geben, wo es denn Innovationshemmnisse und -bremsen geben könnte. Sie sagen denjenigen, die Forschungs- und Innovationspolitik machen: Achtet doch bitte darauf, dass die derzeit dominanten Akteure in Wirtschaft, Wissenschaft und öffentlicher Verwaltung nicht immer hohes Interesse daran haben, gesellschaftlich nutzbringende Innovationspfade zu unterstützen. Innovationen können immerhin angestammte Positionen von Macht, Einfluss oder Profit im Sinne der „schöpferischen Zerstörung“ bedrohen. Das ist, wie ich finde, ein wichtiger Hinweis. Vor diesem Hintergrund müsste man sich auch einmal die Besetzung von Räten anschauen, beispielsweise die Besetzung des Rates für Wachstum und Innovation, und einmal hinterfragen, ob es denn richtig ist, dass daran nur das Forschungs- und das Wirtschaftsministerium beteiligt sind, oder ob es im Sinne einer ganzheitlichen Innovationsförderung nicht besser wäre, wenn beispielsweise auch das Umwelt- und das Arbeitsministerium daran beteiligt würden.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Frau Kollegin!

Ulla Burchardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000306, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wenn man dann noch sieht, dass die Vertreter der großen Konzerne dort immer noch deutlich besseren Zugang finden und damit eher direkt Einfluss nehmen können als die Vertreter von kleinen und mittleren Unternehmen, ergibt sich ein weiterer Hinweis für die Beratungen darüber, was man tun kann, um die kleinen und mittleren Unternehmen besser zu fördern. Danke. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Uwe Barth spricht jetzt für die FDP-Fraktion. ({0})

Uwe Barth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003735, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Deutschland als Forschungsstandort an der Weltspitze zu etablieren, dieses Ziel eint uns alle hier im Hohen Hause. Wenn es uns allerdings nicht gelingt, eine entsprechende Anzahl Forschungsstandorte in den neuen Ländern zu etablieren, die diesem Anspruch ebenfalls gerecht werden, wird Deutschland dieses Ziel insgesamt nicht erreichen können. ({0}) Dessen sind sich die Bundesregierung und offenbar auch die Koalitionsfraktionen bewusst; denn schon im Koalitionsvertrag ist das Ziel formuliert, eine Großforschungseinrichtung in den neuen Ländern anzusiedeln. Leider warten wir darauf bisher vergebens. Die größte Chance, Frau Ministerin, wurde bei der Neutronen-Spallationsquelle vertan. Die Beteiligung am europäischen Fusionsprojekt bei Greifswald und das Biomasseforschungszentrum in Leipzig können beide dem Anspruch einer Großforschungseinrichtung nicht gerecht werden. Der „Bundesbericht Forschung und Innovation 2008“ sagt viel über die hervorragende Arbeit der Forscher und Wissenschaftler an den Standorten in den neuen Ländern aus. Ich sage ausdrücklich nicht: der ostdeutschen Forscher; denn es handelt sich hier in aller Regel um international zusammengesetzte und international agierende Forscherteams. Der Bericht weist aber auch auf grundlegende strukturelle Probleme hin. Für die, die ihn nicht auswendig gelernt haben wie die Kollegin Aigner, zitiere ich aus dem Bericht. Es heißt: Hinsichtlich des in Bund/Land-finanzierten Forschungseinrichtungen tätigen Personals besteht zum Bundesdurchschnitt ein deutlicher Rückstand. Entscheidende Ursache hierfür ist, dass Thüringen über keine Großforschungseinrichtung verfügt. Das ist ein Zitat aus dem Teil des Berichts für Thüringen. Weiter heißt es: Thüringen konnte im Jahr 2006 seinen Spitzenplatz innerhalb der neuen Länder mit 27 Patenten je 100 000 Einwohnern … behaupten, erreichte aber nicht den Durchschnitt der alten Länder ({1}). Thüringen und Sachsen zählen hinsichtlich der FuE-Beschäftigten, so heißt es abschließend, zu den potenzialstärksten neuen Bundesländern. Dennoch wird das Niveau der alten Länder bei Weitem noch nicht erreicht. Das zeigt, dass es zwar ein Potenzial gibt, dass aber das Problem besteht, dass die Chancen zur Nutzung dieses Potenzials seitens des Bundes bisher verspielt oder einfach nicht ergriffen wurden. ({2}) Viele Möglichkeiten hierzu wird es in den nächsten Jahren, insbesondere auf europäischer Ebene - hier spielt forschungspolitisch nun einmal die große Musik -, auch nicht mehr geben. In diesen Tagen gibt es nun diese große Chance. Die Bundesregierung hat die Bewerbung von Jena um den Sitz des Europäischen Technologieinstitutes unterstützt. Das freut mich ausdrücklich. Ich habe das Ihnen, Frau Ministerin, gegenüber auch zum Ausdruck gebracht. Es ist klar, dass es hier um mehr als nur um einen Verwaltungssitz geht. Jena ist nicht nur Sitz einer international anerkannten Universität, die übrigens dieses Jahr 450 Jahre alt wird, einer Fachhochschule, Standort von Hightechindustrie und Sitz von weltweit agierenden forschenden Unternehmen. In Jena gibt es 30 Forschungseinrichtungen, darunter drei Max-Planck-Institute, zwei Leibniz-Institute und ein Fraunhofer-Institut. Gerade die Aufgabe des Europäischen Technologieinstituts, die Zusammenarbeit von Forschung und Wirtschaft und damit auch Innovation und Spitzenforschung zu fördern, Cluster herauszubilden, Netzwerke der leistungsfähigsten, leistungsstärksten Institute, Universitäten und industriellen Forschungszentren aufzubauen, ist in Jena in den vergangenen Jahren bereits beispielhaft gelungen. Mit der Universität, der Fachhochschule, dem interdisziplinären Campus am Beutenberg und einer ganzen Reihe höchstkarätiger forschender Unternehmen hat sich Jena nicht nur zu einem Vorzeigestandort in den neuen Ländern entwickelt, sondern ist als Wissenschafts- und Forschungsstandort auch international ein Begriff. Darüber hinaus - das ist das Besondere an dieser Bewerbung - ist Jena mit seinen historisch gewachsenen Verbindungen nach Ost und West fast natürlicher Kristallisationspunkt für genau die Aufgabe, die das EIT hat, nämlich künftig Motor und Vermittler in der europäischen Forschungspolitik zu sein.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege!

Uwe Barth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003735, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Deshalb - lassen Sie mich das zum Abschluss noch sagen, sehr verehrte Frau Präsidentin - wären mit einer Entscheidung für Jena mehrere Zeichen verbunden: zum einen Anerkennung der Aufbauleistung gerade im Bereich Wissenschaft, Forschung und Bildung und zum anderen ein Signal an die Beitrittsländer der EU, dass der Aufbau gelingen kann. Ich hoffe deshalb, dass sich die Bundesregierung auch heute Abend in Brüssel mit all ihren Mitteln für Jena als Standort in den neuen Ländern einsetzt. Ich bin sicher, dass dadurch der Forschungsstandort Deutschland insgesamt, auch in Karlsruhe, eine erhebliche Stärkung im internationalen Spiel der Forschungsstandorte erfährt. Herzlichen Dank. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Nur wegen Jena habe ich Sie noch weitersprechen lassen. Der Kollege Dr. Heinz Riesenhuber hat das Wort für die Fraktion der CDU/CSU. ({0})

Prof. Dr. Dr. Heinz Riesenhuber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001849, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Hochverehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kollegen! Frau Burchardt hat zu Recht das interessante Gutachten der EFI, der Expertenkommission für Forschung und Innovation, herausgestellt. An einigen Stellen kann man sich noch gewisse Verbesserungen vorstellen. Die Gliederung könnte ein bisschen straffer und das Inhaltsverzeichnis instruktiver sein. Der Aufbau könnte schlüssiger und die Überschneidungen geringer sein. ({0}) Dies alles ist richtig. Wenn das realisiert würde, bekämen wir eine Qualität, die vergleichbar wäre mit dem Gutachten des Sachverständigenrats des Wirtschaftsministers. Das wäre eine schöne Sache. Interessant ist aber, wo die Experten die Schwerpunkte setzen. Sie suchen in den Programmen nicht danach, an welchen einzelnen Stellen es noch Optimierungspotenzial gibt, sondern sie schauen, wie man die strukturellen Schwerpunkte anders setzen kann. Ich will jetzt nicht über Fragen philosophieren, die wir alle kennen. Dazu gehört die Frage, wo wir stark sind, also im Bereich der Automobilindustrie, der Medizintechnik, der Chemie und des Maschinenbaus. Ich will nicht darüber sprechen, wie stark unsere Infrastruktur insgesamt ist. Dazu gehören der Arbeitsfrieden, die Verkehrsinfrastruktur und die Infrastruktur im Bereich der Kommunikationstechnik. Ich will auch nicht über unsere Position, was die Anzahl der Patentanmeldungen angeht, und über die Hightech-Strategie im Einzelnen sprechen, die von Frau Schavan angelegt wurde. Denn im Grunde ist der Kern der Botschaft auf wenige Punkte zusammenzufassen. Diese Botschaft lautet, man solle sozusagen von oben an das Problem herangehen. Frau Schavan hat entschieden gefordert - das ist der erste Punkt -, dafür zu sorgen, dass genügend Geld für die Forschung ausgegeben wird. Die Kollegin Ilse Aigner hat dargestellt, dass der Bund hier wirklich auf Linie ist. Wir müssen es schaffen, die Länder mitzunehmen, die bis jetzt unterschiedlich auf entsprechende Forderungen reagieren. „Allianz Bayern Innovativ: Netzwerke für Bayern“; das Programm „LOEWE“ in Hessen und der Innovationspreis in Nordrhein-Westfalen sind prächtige Sachen. Wir müssen aber dafür sorgen, dass es auf breiter Front vorangeht. Die letzten Zahlen stammen aus dem Jahr 2005. Vielleicht sind die Länder besser, als wir glauben. Wir erfahren im Juni die neuen Zahlen und müssen dann dafür sorgen, dass die Länder mitziehen. Denn nur mit ihnen gemeinsam können wir die Wirtschaft zu der Anstrengung veranlassen, die wir brauchen. Dementsprechend müssen wir handeln. ({1}) Die EFI setzt in ihrer Weisheit einige Schwerpunkte. Da ist zunächst einmal die Spitzenforschung. Das alte Paradigma der deutschen Forschungspolitik war, dass wir Meister der Systeme, aber selten in der Spitze sind. Das reicht aber in dieser kompetitiven Welt nicht mehr aus. Wenn China fünfmal so viele Ingenieure bei vergleichbarer Qualifikation als wir ausbildet, dann müssen wir wesentlich besser sein, um auf den Weltmärkten angesichts unserer hohen Löhne bestehen zu können. Die Frage lautet: Wo setzen wir an? Eine Antwort ist: Bei der Spitzenforschung. Es sollen 3 Prozent pro Jahr mehr für die Deutsche Forschungsgemeinschaft und für die Max-Planck-Gesellschaft ausgegeben werden. Es gibt außerdem die Exzellenzinitiative und den Spitzencluster-Wettbewerb. Das sind zwar schöne Dinge. Aber die Frage ist, wie wir neue Produkte und neue Ideen aus der Grundlagenforschung auf den Markt bekommen. Diese Frage ist nicht simpel zu beantworten, und wir haben noch keine Antwort darauf, obwohl das Paradigma der Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Wirtschaft seit Jahren ein zentraler Bestandteil unserer Forschungspolitik ist. Zur Spitzenforschung gehören auch die wissensintensiven Dienstleistungen. Die EFI schreibt, dass 30 Prozent der Wertschöpfung in Deutschland auf wissensintensiven Dienstleistungen und nur 14 Prozent auf Waren, die aufgrund der Forschung produziert wurden, beruhen. Das heißt, hier liegt ein enormes Potenzial. Das wissen wir seit 22 Jahren. Aber dieses Potenzial zu nutzen ist sehr schwierig in Bezug auf die Abgrenzung zwischen Wirtschaft und Wissenschaft und die Zielgenauigkeit der aufgelegten Programme. Die Programme, die die Forschungsministerin hier initiiert, einschließlich der neuen Validierungsprogramme, sind außerordentlich interessant. ({2}) Die Frage ist, ob davon auch die Innovationsstrategien kleiner und mittlerer Unternehmen profitieren. Ich nenne in diesem Zusammenhang die neue Form des ZIM-Programms, worüber wir in Kürze wohl diskutieren werden. Die Aufwendungen des Mittelstands für Innovationen stagnieren zum Teil schon seit mehreren Jahren, ungefähr seit dem Jahr 2000. Dass wir in den letzten Jahren, seit 2005, die Mittel jährlich um rund 10 Prozent gesteigert haben, ist eine großartige Sache. Wir hoffen, es zündet. Aber genügt dies schon? So können Sie es auch bei den Gründungen sagen. Mit den Programmen - EXIST, ProBio, dem EIF-ERPProgramm, dem Programm des Hightech-Gründerfonds usw. - tut der Staat viel. Aber bringt dies die Sache endgültig voran? Das heißt, wohin Sie schauen, haben wir das, was wir in einem klassischen Modell tun können, in vorzüglicher Weise vorangebracht. Aber dann spricht der Expertenrat davon: Wir müssen bei den Steuern ansetzen. Frau Hinz, Sie haben zu Recht darauf hingewiesen: Wir sind noch nicht uneingeschränkt glücklich mit dem MoRak, was das Wagniskapital betrifft. Wir haben durchaus noch Entwicklungspotenzial. Darüber verhandeln wir ja auch. Wir haben uns übrigens vorgenommen, das Ganze in zwei Jahren zu evaluieren; vielleicht muss der Sprung sehr viel größer sein. Ein anderer Punkt aber ist, die Gesamtstrategie darzustellen. ({3}) - Wir verhandeln, liebe Frau Flach. Sie sollten ebenso nachdrücklich verhandeln. Der Parlamentarische Staatssekretär des Finanzministeriums lächelt freundlich; das ist ein gutes Zeichen für die Zukunft Deutschlands. Darauf wollen wir weiter bauen. ({4}) Genauso ist in weitgehendem Konsens und offen die Fragestellung zu diskutieren: Wollen wir nicht eine stärkere Forschungsförderung über die Steuern hinbekommen? ({5}) Wie legen wir dies an? Wie können wir dies gezielt erreichen? Wenn wir beides zusammennehmen - die steuerliche Förderung des Wagniskapitals in der vernünftigen Konzeption, die wir haben, und die steuerliche Förderung der mittelständischen Forschung über Tax Credits -, ({6}) dann haben wir eine Strategie, die durchschlagen kann. Sie wird Produkte, die im Rahmen von Spitzenforschung entstehen, schneller auf den Markt bringen. Das ist eine Lösung dieses Problems. Sie wird die kleinen und mittleren Unternehmen ohne Bürokratie zu größeren Forschungsanstrengungen führen. Sie wird die wissenschaftsbasierten Dienstleistungen so angehen, dass wir damit eine schnelle Umsetzung neuen Wissens in neue Arbeitsplätze erzielen. Wenn wir an die steuerlichen Maßnahmen im Wagniskapitalbereich bis hin zum Bereich der Gründungsförderung und im Bereich der Forschungsförderung insbesondere mittelständischer Unternehmen breit und unbürokratisch herangehen, dann haben wir eine neue Lage.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Prof. Dr. Dr. Heinz Riesenhuber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001849, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gnädige Frau!

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

- Ihre Redezeit ist jetzt mehr als überschritten.

Prof. Dr. Dr. Heinz Riesenhuber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001849, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich habe hier noch vier -

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Da ist ein Minus davor. ({0})

Prof. Dr. Dr. Heinz Riesenhuber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001849, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich achte die Autorität der Präsidentin. Liebe Kollegen, es kommt also in der Sache auf Folgendes an: ({0}) Lassen Sie uns dem, was wir hier so prächtig entwickelt haben, eine neue Dimension der Forschungsstrategie hinzufügen, indem wir die Steuern nutzen, um die Forschung zu steuern, sodass jeder mit fröhlichem Unternehmungsgeist in die Wirklichkeit aufbricht. ({1})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Aufbruch ist ein gutes Stichwort, Herr Riesenhuber.

Prof. Dr. Dr. Heinz Riesenhuber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001849, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nietzsche hat einmal gesagt: Fröhlicher müssten die Christen sein, damit ich an ihren Gott glaube. ({0}) Lassen Sie uns die Fröhlichkeit in der ganzen Breite dieses prachtvollen Parlaments in die Forschung bringen! Dann haben wir den Geist im Land, der die Zukunft für alle erobert. ({1})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Das war jetzt kurz vor rhythmischem Applaus für Nietzsche. Wer hätte das gedacht. Ich gebe jetzt dem Kollegen Klaus Hagemann das Wort für die SPD-Fraktion. ({0})

Klaus Hagemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002668, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich kann leider wegen einer kleinen schmerzhaften Stelle am Fuß meine Rede nicht so tänzelnd vortragen, wie wir das eben erlebt haben. ({0}) - Das ist schade, lieber Kollege Jürgen Koppelin. Ich bin auch nicht ganz einverstanden mit dem tollen Gemälde, das Kollege Riesenhuber in Bezug auf die steuerliche Regulierung der Forschungsausgaben gezeichnet hat. ({1}) Frau Flach, jetzt rufe ich Sie als Zeugin auf: Auf unserer Reise nach Kanada und in die Vereinigten Staaten im vergangenen Jahr haben wir natürlich auch Negatives gehört. ({2}) Dort hat man dieses Instrument schon und ist eben nicht so außerordentlich begeistert, wie es Herr Riesenhuber dargestellt hat. In dem Bericht, der uns vorgelegt worden ist, ist einer der wichtigsten Sätze: Deutschland ist ein attraktiver und begehrter Forschungsstandort. ({3}) Das ist sicherlich richtig. Entgegen der Schwarzmalerei der Oppositionsparteien bestätigt der Forschungsbericht - das möchte ich unterstreichen -, dass in den letzten zehn Jahren viel Gutes geleistet worden ist. Es geht dabei nicht nur um die Jahre 2005 bis 2007, sondern auch um die Jahre davor. 2008 werden 10,5 bis 11 Milliarden Euro Bundesmittel für den Bereich Forschung zur Verfügung stehen. Ich betone, dass es sich dabei um Bundesmittel handelt. Mehr als zwei Drittel, nämlich 68 Prozent der gesamten Forschungsmittel, werden durch den Bund gestemmt. Das sollten wir uns noch einmal in Erinnerung rufen. ({4}) Kollegin Aigner, ich spreche von den staatlichen Mitteln. Die Länder profitieren sehr stark von den Forschungseinrichtungen, hauptsächlich von den Instituten der Helmholtz-Gemeinschaft. Diese Einrichtungen sorgen nämlich dafür, dass im Umfeld noch mehr Forschungsinstitutionen entstehen. Bei uns in Rheinhessen sagt man: Wo Tauben sind, fliegen weitere Tauben hin. Das gilt beispielsweise für die süddeutschen Länder, die von den Entscheidungen und Geldern des Bundes sehr stark profitieren. Das sollen sie ruhig, aber wir müssen auch an die anderen Regionen denken, die unterschiedlich stark profitieren. ({5}) Wir wissen, wie wichtig erfolgreiche Forschungsergebnisse von heute für neue, innovative Produkte und Dienstleistungen und damit für die Arbeitsplätze von morgen sind. In diesem Zusammenhang spielt natürlich auch Regionalpolitik eine Rolle. Dynamik gibt es überall dort in der Wirtschaft, wo geforscht wird. Deswegen wollen wir die Forschung in den Mittelpunkt stellen. Um erfolgreich forschen zu können, braucht man gute und gut ausgebildete Forscher; das wird uns immer wieder deutlich gemacht. Deshalb ist es sinnvoll, den Hochschulpakt, den wir beschlossen haben, weiterzuführen, die Exzellenzinitiative zu evaluieren und weiterzuführen, Mittel für den Hochschulbau zur Verfügung zu stellen und das BAföG, die Stipendien sowie das MeisterBAföG voranzubringen. Ich bin insbesondere unserem Finanzminister dankbar dafür, dass er entsprechende Initiativen unterstützt hat. Diejenigen, die jetzt am lautesten über Fachkräftemangel klagen, sind diejenigen, die die wenigsten Ausbildungsplätze und zu wenig Ingenieurstellen zur Verfügung gestellt haben. ({6}) Wir sind mit unserer Forschungspolitik auf einem guten Weg. Wir dürfen uns auf den Lorbeeren aber nicht ausruhen - das ist sehr wichtig -; ({7}) denn Stillstand wäre Rückschritt, darauf ist der Fokus zu richten. Andere Länder - sie sind heute schon genannt worden schlafen nicht, sondern wirken. Ich möchte ein Beispiel aus der Türkei nennen. Ich war in der vorigen Woche in Istanbul. Es wurde ein Gesetz beschlossen, dass in den nächsten Jahren in der Türkei 39 neue Universitäten gegründet werden sollen. Wir sind gefordert, entsprechend voranzugehen. Es wurde bereits von Schwachstellen im System gesprochen. In diesem Zusammenhang ist die Umsetzung der Forschungsergebnisse in Produkte und Dienstleistungen anzusprechen. Meine Kollegin Ulla Burchardt hat darauf hingewiesen, dass in dem Bericht deutlich hervorgehoben wird, dass mehr Wagniskapital für Innovationen mobilisiert werden muss, um Leitmärkte entwickeln zu können. Es müssen Regelungen für eine wirksame und international wettbewerbsfähige Förderung von Wagniskapital gefunden werden. Die Kapitalseite darf nicht zu restriktiv behandelt werden. Wenn ich Betriebe besuche, höre ich immer wieder, dass das Wagniskapital fehlt oder die Kreditinstitute nur unter schwierigen Bedingungen Kredite bereitstellen. Unsere staatlichen Instrumente, zum Beispiel unsere Förderprogramme, müssen darauf abgeklopft werden. Aber auch die Zusammenarbeit mit der Kreditanstalt für Wiederaufbau, der KfW, sei in diesem Zusammenhang genannt. Lassen Sie mich ein Beispiel in Erinnerung rufen: den berühmten MP3-Player. Ich sehe auf der Besuchertribüne viele Jugendliche. Bestimmt haben fast alle von ihnen einen MP3-Player. Das ist eine deutsche Entwicklung, eine Entwicklung der Fraunhofer-Gesellschaft. Die Kapitalseite wurde damals gebeten, die Finanzierung vorzunehmen, um in die Produktion einsteigen zu können. Die deutsche Seite war aber nicht bereit, dieses Wagnis einzugehen. Was haben die Entwickler und die Forscher getan? Sie sind in die USA gegangen und haben das Produkt dort in Serie gehen lassen. Jetzt verkaufen sie es, und es ist ein Verkaufsschlager. Die Arbeitsplätze sind in den USA geschaffen worden. So kann es nicht gehen. ({8}) Das ist nicht das einzige Beispiel in diesem Zusammenhang. Wir wissen, dass es beim Faxgerät in den 80erJahren ähnlich gelaufen ist. Es war eine deutsche Entwicklung, die nachher in Japan weitergeführt worden ist. Wer am letzten Forschungsfrühstück der HelmholtzGemeinschaft vor 14 Tagen teilgenommen hat, der konnte ähnliche Signale hören. Es gibt ausgereifte Techniken für den Verbund von Wind-, Solar- und Biogasanlagen bei der alternativen Energieerzeugung. Professor Dinjus hat darauf hingewiesen; der Vizepräsident der Helmholtz-Gemeinschaft ebenso. Es kommen immer wieder Klagen, dass die deutsche Wirtschaft nicht bereit ist, das zu finanzieren und zu unterstützen. Man muss darauf achten, dass hier andere Wege eingeschlagen werden. ({9}) Denn - auch das war beim Forschungsfrühstück deutlich zu hören - die Angebote aus dem Ausland, beispielsweise aus Frankreich, diese ausgereifte Technik zu übernehmen, sind vorhanden. Hier muss im deutschen Interesse entsprechend gehandelt werden. ({10}) Lassen Sie mich zum Schluss noch ein Thema ansprechen - meine Redezeit geht langsam zu Ende -: Wir finanzieren mit Forschungsgeldern die Zukunft. Aber wir haben mit Forschungsgeldern auch sehr viel Vergangenes zu finanzieren, nämlich die Beseitigung des atomaren Abfalls der Forschungsreaktoren, beispielsweise in Karlsruhe. Man hatte damit gerechnet, die Beseitigung dieser 60 Kubikmeter Atommüll mit 1 Milliarde Euro finanzieren zu können. Zwischenzeitlich stellte man fest, dass man jetzt schon 2,17 Milliarden Euro zur Beseitigung dieser 60 Kubikmeter Atommüll benötigt. Das ist nicht Zukunftsunterstützung, sondern Vergangenheitsbewältigung. Natürlich muss der Dreck weg; das ist klar. ({11})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege.

Klaus Hagemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002668, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Aber die Kosten laufen uns davon.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege.

Klaus Hagemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002668, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Mein letzter Satz - ich folge hier meinem Vorredner -: Die öffentliche Hand braucht ausreichend Steuereinnahmen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Ich musste die Zwischenfrage von Herrn Tauss abweisen, weil er sich nach Ablauf Ihrer Redezeit dazu gemeldet hat. Aber Ihr letzter Satz soll Ihnen gewährt sein.

Klaus Hagemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002668, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Mein letzter Gedanke. Kollegin Aigner hat darauf hingewiesen, dass wir noch viel Geld benötigen, um die Forschung zu finanzieren. Dafür muss der Staat natürlich auch die entsprechenden Einnahmen haben. ({0}) Deswegen muss beispielsweise die CSU noch einmal darüber nachdenken, ob ihr Steuerkonzept auf Pump geeignet ist, um Zukunftsinvestitionen durch den Staat fördern

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege.

Klaus Hagemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002668, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

- und unterstützen zu können. Die Süddeutsche Zeitung hat gestern unter der Überschrift „Ein Lob der SPD“ formuliert: „Ihr Finanzkonzept ist seriöser als das der CSU“. Recht hat sie. Vielen Dank, meine Damen und Herren. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/9260 und 16/8600 an die in der Ta- gesordnung vorgesehenen Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich sehe, damit sind Sie einverstanden. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 35 a bis 35 l sowie die Zusatzpunkte 2 a bis 2 e auf: 35 a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Jörn Wunderlich, Klaus Ernst, Dr. Martina Bunge, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Unterhaltsvorschussgesetzes - Drucksache 16/7889 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0}) Rechtsausschuss b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 7. Dezember 2004 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und dem Schweizerischen Bundesrat zum Vertrag vom 23. November 1964 über die Einbeziehung der Gemeinde Büsingen am Hochrhein in das schweizerische Zollgebiet über die Erhebung und die Ausrichtung eines Anteils der von der Schweiz in ihrem Staatsgebiet und im Gebiet der Gemeinde Büsingen am Hochrhein erhobenen leistungsabhängigen Schwerverkehrsabgabe ({1}) - Drucksache 16/9041 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({2}) Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Güterkraftverkehrsgesetzes und anderer Gesetze - Drucksache 16/9236 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({3}) Innenausschuss d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur verbesserten Einbeziehung der selbstgenutzten Wohnimmobilie in die geförderte Altersvorsorge ({4}) - Drucksache 16/9274 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({5}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO e) Erste Beratung des von den Fraktionen CDU/ CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Europaabgeordnetengesetzes und eines … Gesetzes zur Änderung des Abgeordnetengesetzes - Drucksache 16/9300 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({6}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Achten Gesetzes zur Änderung des Gemeindefinanzreformgesetzes - Drucksachen 16/9275, 16/9288 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({7}) Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Haushaltsausschuss Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt g) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 8. November 2007 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich Saudi-Arabien zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen von Luftfahrtunternehmen und der Steuern von den Vergütungen ihrer Arbeitnehmer - Drucksache 16/9276 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({8}) Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung h) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 31. August 2006 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Sozialistischen Republik Vietnam über die Zusammenarbeit bei der Bekämpfung von schwerwiegenden Straftaten und der Organisierten Kriminalität - Drucksache 16/9277 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({9}) Rechtsausschuss i) Beratung des Antrags des Bundesministeriums der Finanzen Entlastung der Bundesregierung für das Haushaltsjahr 2007 - Vorlage der Haushalts- und Vermögensrechnung des Bundes ({10}) - - Drucksache 16/8834 - Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss j) Beratung des Antrags der Abgeordneten Laurenz Meyer ({11}), Dr. Heinz Riesenhuber, Dr. Michael Fuchs, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Ute Berg, Dr. Rainer Wend, Doris Barnett, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Das neue Zentrale Innovationsprogramm Mittelstand ZIM optimal ausgestalten und konsolidierungskonform finanzieren - Drucksache 16/8905 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({12}) Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss k) Beratung des Antrags des Präsidenten des Bun- desrechnungshofes Rechnung des Bundesrechnungshofes für das Haushaltsjahr 2007 - Einzelplan 20 - - Drucksache 16/9046 - Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss l) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Erster Erfahrungsbericht der Bundesregierung gemäß § 24 des Soldatinnen- und Soldatengleichstellungsgesetzes ({13}) - Drucksache 16/7920 Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuss ({14}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ZP 2 a)Beratung des Antrags der Abgeordneten Ina Lenke, Sibylle Laurischk, Miriam Gruß, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Faire Chancen für private und privat-gewerbliche Anbieter bei der Kinderbetreuung Ohne weiteres Zögern Entwurf des Kinderförderungsgesetzes vorlegen - Drucksache 16/8406 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({15}) Innenausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hüseyin-Kenan Aydin, Heike Hänsel, Karin Binder, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Hermesbürgschaft für das Ilisu-Staudammprojekt zurückziehen - Drucksache 16/9308 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({16}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Hermann Otto Solms, Carl-Ludwig Thiele, Frank Schäffler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Mehr Netto für alle - Drucksache 16/9310 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({17}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Haushaltsausschuss d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Bettina Herlitzius, Britta Haßelmann, Markus Kurth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Barrierefreiheit und demografischer Wandel Auf die Herausforderungen für den Tourismus reagieren - Drucksache 16/9315 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Tourismus ({18}) Rechtsausschuss Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung e) Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht über die Auswirkungen von Rabattvereinbarungen für Arzneimittel, insbesondere auf die Wirksamkeit der Festbetragsregelung - Drucksache 16/9284 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit Es handelt sich hierbei um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Die Vorlage auf Drucksache 16/9308 - Zusatzpunkt 2 b - soll abweichend von dem in der Tagesordnung aufgeführten Ausschuss federführend im Ausschuss für Wirtschaft und Technologie beraten werden. Damit sind Sie einverstanden. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 36 a bis 36 i auf. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Tagesordnungspunkt 36 a: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ältestenrats - zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD Chancen der Charta der Vielfalt nutzen - zu dem Entschließungsantrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu der Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Volker Beck ({19}), Irmingard Schewe-Gerigk, Marieluise Beck ({20}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Europäisches Jahr der Chancengleichheit für alle - Drucksachen 16/8502, 16/7537, 16/9219 Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Norbert Lammert Der Ältestenrat empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung, in Kenntnis seines Beschlusses vom 8. Mai 2008 den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 16/8502 mit dem Titel „Chancen der Charta der Vielfalt nutzen“ für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen mit den Stimmen von CDU/CSU SPD, der Linken und FDP gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen. Unter Nr. 2 empfiehlt der Ältestenrat, den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/7537 zu der Großen Anfrage mit dem Titel „Europäisches Jahr der Chancengleichheit für alle“ für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalition und der FDP gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen. Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Tagesordnungspunkt 36 b: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({21}) Sammelübersicht 407 zu Petitionen - Drucksache 16/9081 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 407 ist einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 36 c: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({22}) Sammelübersicht 408 zu Petitionen - Drucksache 16/9082 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 408 ist ebenfalls einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 36 d: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({23}) Sammelübersicht 409 zu Petitionen - Drucksache 16/9083 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist bei Zustimmung des Hauses mit Ausnahme des Bündnisses 90/Die Grünen, das dagegen gestimmt hat, angenommen. Tagesordnungspunkt 36 e: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({24}) Sammelübersicht 410 zu Petitionen - Drucksache 16/9084 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist bei Zustimmung des Hauses mit Ausnahme der Fraktion Die Linke, die dagegen gestimmt hat, angenommen.

Not found (Mitglied des Präsidiums)

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({0}) Sammelübersicht 411 zu Petitionen - Drucksache 16/9085 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist mit den Stimmen des Hauses mit Ausnahme der FDP, die dagegen gestimmt hat, ebenfalls angenommen. Tagesordnungspunkt 36 g: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({1}) Sammelübersicht 412 zu Petitionen - Drucksache 16/9086 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist mit den Stimmen von Koalition und FDP bei Gegenstimmen des Bündnisses 90/ Die Grünen und der Linken angenommen. Tagesordnungspunkt 36 h: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({2}) Sammelübersicht 413 zu Petitionen - Drucksache 16/9087 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist bei Zustimmung von Koalition und Bündnis 90/Die Grünen und Gegenstimmen der FDP und der Linken angenommen. Tagesordnungspunkt 36 i: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({3}) Sammelübersicht 414 zu Petitionen - Drucksache 16/9088 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist bei Zustimmung der Koalition und Gegenstimmen der Oppositionsfraktionen angenommen. Jetzt rufe ich Tagesordnungspunkt 5 auf: Wahl der Mitglieder des Rundfunkrates und des Verwaltungsrates der Deutschen Welle gemäß §§ 31 und 36 des Deutsche-Welle-Gesetzes ({4}) - Drucksachen 16/9350, 16/9351 Ich erteile zunächst dem Kollegen Hans-Joachim Otto, der für die Oppositionsfraktionen spricht, das Wort. ({5})

Hans Joachim Otto (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001666, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein Mindestmaß an Mitwirkungs-, Informations- und Kontrollrechten der Oppositionsfraktionen nicht nur im Parlament und in seinen Ausschüssen, sondern auch in den mit Parlamentariern zu besetzenden externen Gremien ist ein konstitutives Element jeder Demokratie. ({0}) Der Grundsatz, dass die Mehrheit im Parlament nicht alles darf, dass sie auch nicht alle Positionen besetzen darf, darf nicht zur Disposition stehen; vielmehr kommt ihm durchaus Verfassungsrang zu. ({1}) Gegen dieses demokratische Grundprinzip verstößt die Große Koalition ständig, zwar, wie ich fairerweise zugeben muss, nicht in allen Fällen, aber immer wieder. Es gibt sicherlich eine dreistellige Anzahl von Gremien innerhalb und außerhalb des Parlaments, in die nur Mitglieder der Koalitionsfraktionen entsendet werden. Das Fass zum Überlaufen brachte jetzt die Nachbesetzung der Gremien der Deutschen Welle. Es handelt sich hierbei nicht um eine Klitsche, sondern um den deutschen Auslandssender, dem nach § 4 des DeutscheWelle-Gesetzes folgende hehre Ziele zukommen - ich darf zitieren -: Die Angebote der Deutschen Welle sollen Deutschland als europäisch gewachsene Kulturnation und freiheitlich verfassten demokratischen Rechtsstaat verständlich machen. Sie sollen deutschen und anderen Sichtweisen zu wesentlichen Themen vor allem der Politik, Kultur und Wirtschaft sowohl in Europa wie in anderen Kontinenten ein Forum geben mit dem Ziel, das Verständnis und den Austausch der Kulturen und Völker zu fördern. Der Rundfunkrat vertritt nach § 32 des Deutsche-WelleGesetzes „die Interessen der Allgemeinheit“ innerhalb der Gremien der Deutschen Welle. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfraktionen, Hand aufs Herz: Meinen Sie wirklich, Sie könnten die parlamentarische Opposition hier vollständig außen vor lassen? ({3}) Platz gäbe es in den Gremien der Deutschen Welle genug. Die Gremien sind durchaus politiknah zusammengesetzt. ({4})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Herr Kollege Otto, einen ganz kleinen Augenblick. Ich sehe, dass eine ganze Reihe von Abgeordneten hier vorne zuhören möchte, das aber nicht kann, weil es insbesondere hinten im Saal besonders laut ist. Ich versuche es jetzt einmal mit der Glocke und fände es gut, Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt wenn wir den zwei Rednern in dieser Debatte zuhören könnten.

Hans Joachim Otto (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001666, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich darf zu Ihrer Information aufzählen: Drei Mitglieder und drei stellvertretende Mitglieder des Rundfunkrates stellt die Bundesregierung, zwei Mitglieder und zwei stellvertretende Mitglieder des Rundfunkrates stellt der Bundesrat und zwei Mitglieder und zwei stellvertretende Mitglieder des Rundfunkrates stellt der Bundestag. In den Verwaltungsrat wird ein Mitglied durch den Bundesrat, ein Mitglied durch den Bundestag und ein stellvertretendes Mitglied durch die Bundesregierung entsendet. Das macht zusammen 17 - in Worten: siebzehn - Vertreter der Politik in den Gremien der Deutschen Welle. Sie wollen alle Sitze durch Unions- und SPD-Mitglieder besetzen. Das Ganze sollte dann auch noch heimlich, still und leise hier durchgewunken werden. 17 Vertreter! ({0}) Es gab im Vorfeld durchaus Gespräche mit der Koalition, ob sie nicht wenigstens einen Stellvertretersitz der Opposition überlassen könnte. Selbst dieser überaus bescheidene Wunsch wurde von den Fraktionsführungen abgelehnt. ({1}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit hier überhaupt nicht der Eindruck entstehen kann, uns Freien Demokraten ginge es hier nicht um die Sache, sondern um Pöstchen, haben wir von vornherein nicht ein Mitglied der FDP-Fraktion, sondern eine Kollegin aus einer anderen Fraktion vorgeschlagen, von deren fachlichen und auch menschlichen Qualifikationen wir total überzeugt sind. ({2}) Es gibt keinen vernünftigen Grund dagegen. Dr. Uschi Eid wäre für den Rundfunkrat der Deutschen Welle eine große Bereicherung. ({3}) Ich werbe daher gleichermaßen aus fachlichen, menschlichen und demokratischen Gründen um Ihre Stimme für Dr. Uschi Eid und bitte Sie um Ihre Unterstützung. Vielen Dank. ({4})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Der Kollege Dr. Günter Krings hat jetzt für die Koalitionsfraktionen das Wort. ({0})

Dr. Günter Krings (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003574, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen! Der Kollege Otto hat eben für die Oppositionsfraktionen begründet, wie er sich in dieser Abstimmung verhalten wird. Ich werde das als Mitglied einer der beiden Koalitionsfraktionen ebenfalls tun. Es wundert mich allerdings, dass Sie versuchen, einen Vorgang zu skandalisieren, bei dem es darum geht, dass ein CDU/CSU-Vertreter durch einen neuen CDU/CSUVertreter und ein SPD-Vertreter durch einen neuen SPDVertreter im Rundfunkrat ersetzt werden. ({0}) Allerdings sind wir uns - das ist mir wichtig - in der Maßstäblichkeit der Entscheidung einig. Es geht um das Interesse der Allgemeinheit, wie es auch im DeutscheWelle-Gesetz zum Ausdruck kommt. ({1}) Gerade dieses Interesse der Allgemeinheit fordert uns als gute Demokraten dazu auf, die Fraktionen in diesem Hause nach ihrer Stärke zu berücksichtigen. ({2}) Das Mehrheitsprinzip ist das Prinzip der demokratischen Repräsentation. Das zeigt ein Blick in Art. 20 des Grundgesetzes jedem, der bereit ist, das Grundgesetz zu lesen. In der letzten Bundestagswahl haben sich über 70 Prozent der Wählerinnen und Wähler in diesem Lande für die CDU/CSU oder die SPD ausgesprochen, ob Ihnen das gefällt oder nicht. ({3}) Das heißt, jede der Regierungsfraktionen ist für sich genommen stärker als alle drei Oppositionsfraktionen zusammen. ({4}) Das kann man aus Ihrer Sicht bedauern. Aber die Gesetze der Mathematik lassen sich nicht nach dem Gusto der Opposition außer Kraft setzen. Deswegen folgen auch alle unsere Personalentscheidungen im Deutschen Bundestag den Stärkeverhältnissen der Fraktionen, von der Sitzverteilung in den Ausschüssen über die Aufteilung der Ausschussvorsitzenden bis hin zur Besetzung externer Gremien. Entscheidend ist das Stärkeverhältnis der Fraktionen. Der Bundestag entscheidet heute über zwei ordentliche Mitglieder des Rundfunkrates. Wenn Sie, Herr Kollege Otto, versuchen, eine Aufrechnung mit den von der Bundesregierung entsandten Mitgliedern vorzunehmen, dann entspricht das nach meinem Geschmack einem sehr schwierigen parlamentarischen Verständnis. Wer den Bundestag sozusagen zur Kompensation einer Entscheidung der Bundesregierung heranziehen will, hat anscheinend eine Auffassung vom Bundestag als einem bloßen Anhängsel der Bundesregierung. Das ist ausdrücklich nicht meine Auffassung. Das entspricht nicht der Würde unseres Hauses. ({5}) Es ist zu simpel, unseren Bundestag in Regierungsabgeordnete und Oppositionsabgeordnete aufzuspalten. Auch in einer Regierungskoalition behalten die Fraktionen ihre Eigenständigkeit. Es wundert mich gerade in dieser Woche ein bisschen, dass Ihnen das nicht aufgefallen zu sein scheint. Die Arbeit des Deutschen Bundestages basiert insbesondere auf zwei Grundsätzen. Der erste Grundsatz ist die Gleichheit aller Abgeordneten. Der zweite Grundsatz ist das Recht der Abgeordneten, sich zu Fraktionen zusammenzuschließen und in Fraktionen zusammenzuarbeiten. Beide Grundsätze würden eklatant missachtet, wenn man es einer der beiden Regierungsfraktionen mit weit über 200 Mitgliedern des Bundestages versagen würde, ein Mitglied in den Rundfunkrat zu entsenden, während eine Oppositionsfraktion mit nur 51 Mitgliedern ein Mitglied entsenden dürfte. ({6}) In unserer parlamentarischen Demokratie besitzt eine Oppositionsfraktion keinen höheren Vertretungsanspruch als eine Regierungsfraktion. Es gibt keine Fraktionen erster und zweiter Klasse, genauso wenig wie es in diesem Hause Abgeordnete erster und zweiter Klasse gibt. ({7}) Aus diesem Grunde ist das Interesse der Allgemeinheit dem Deutsche-Welle-Gesetz gemäß der gültige Maßstab. Dieses Interesse der Allgemeinheit wird in der Demokratie aber nicht nach dem Geschmack Einzelner - auch nicht einzelner Oppositionspolitiker - definiert; es definiert sich in der Demokratie vielmehr nach dem Willen der Wählermehrheit. Dieser Mehrheitswille sollte sich in unserer Wahl zum Rundfunkrat der Deutschen Welle heute auch widerspiegeln. Vielen Dank. ({8})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Mir obliegt es jetzt, das Wahlverfahren zu erläutern. Wir kommen zunächst zur Wahl der ordentlichen Mit- glieder des Rundfunkrates der Deutschen Welle. Dazu liegen Ihnen ein Wahlvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/9350 sowie ein weiterer Wahlvorschlag der Fraktionen der FDP und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/9351 vor. Ich gebe zunächst einige Hinweise. Es ist vereinbart, dass die Wahl der ordentlichen Mitglieder des Rund- funkrates mittels Stimmkarte und Wahlausweis erfolgen soll. Die Wahlen der stellvertretenden Mitglieder des Rundfunkrates sowie des Mitgliedes und des stellvertre- tenden Mitgliedes des Verwaltungsrates der Deutschen Welle erfolgen im Anschluss mittels Handzeichen. Die Stimmkarten für die Wahl wurden verteilt. Sollte noch jemand keine haben, so sind sie bei den Plenaras- sistenten und -assistentinnen erhältlich. Außerdem benö- tigen Sie Ihren Wahlausweis, den Sie, soweit noch nicht geschehen, bitte Ihrem Stimmkartenfach draußen ent- nehmen. Bitte achten Sie unbedingt darauf, dass der Wahlausweis der Ihrige ist und sich dadurch auszeichnet, dass darauf Ihr Name steht. Die Wahlen finden offen statt. Sie können die Stimm- karten also auch an Ihrem Platz ankreuzen. Sie haben für diese Wahl zwei Stimmen. Das heißt, dass Stimmkarten, die mehr als zwei Kreuze, andere Zusätze wie Zeichnun- gen oder Ähnliches enthalten, ungültig sind. Gewählt als ordentliche Mitglieder des Rundfunkrates sind die bei- den Abgeordneten, die die meisten Stimmen erhalten ha- ben. Bevor die Stimmkarte in eine der Wahlurnen gewor- fen wird, übergeben Sie bitte Ihren Wahlausweis der Schriftführerin oder dem Schriftführer an den Wahlur- nen. Der Nachweis der Teilnahme an der Wahl kann nur durch die Abgabe des Wahlausweises erbracht werden. Die Schriftführerinnen und Schriftführer bitte ich, ihrer- seits darauf zu achten, dass vor der Stimmabgabe der Wahlausweis tatsächlich übergeben wird. Jetzt bitte ich die Schriftführerinnen und Schriftfüh- rer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Haben jetzt alle Schriftführerinnen und Schriftführer die Plätze ein- genommen? - Das scheint der Fall zu sein. Dann eröffne ich die Wahl. Haben alle Mitglieder des Hauses ihre Stimme abge- geben? Ich soll ausdrücklich fragen, ob das auch die Schriftführerinnen und Schriftführer getan haben. - Das scheint der Fall zu sein. Ich schließe die Wahl, bedanke mich herzlich und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung der Stimmen zu be- ginnen. Das Ergebnis der Wahl wird Ihnen später be- kanntgegeben.1) Wir kommen nun zur Wahl der stellvertretenden Mit- glieder des Rundfunkrates gemäß § 31 des Deutsche- Welle-Gesetzes. Hierzu liegt ein Wahlvorschlag der Frak- tionen von CDU/CSU und SPD auf Drucksache 16/9350 1) Ergebnis Seite 17163 D Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt vor. Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Wahlvorschlag einstimmig angenommen. Wir kommen nun zur Wahl des Mitglieds und des stellvertretenden Mitglieds des Verwaltungsrates gemäß § 36 des Deutsche-Welle-Gesetzes. Hierzu liegt ebenfalls ein Wahlvorschlag der Fraktionen von CDU/CSU und SPD auf Drucksache 16/9350 vor. Wer stimmt für diesen Wahlvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Auch dieser Wahlvorschlag ist einstimmig angenommen. Nun rufe ich den Zusatzpunkt 3 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Unterschiedliche Meinungen in der Bundesregierung zum Energie- und Klimapaket Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin Renate Künast, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.

Renate Künast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003576, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Warum müssen wir heute über das Thema Klima- und Energiepolitik in Deutschland reden? Ich sage es ganz klar: wahrscheinlich, weil die Klima- und Energiepolitik der Bundesregierung ungefähr so ist wie die derzeitige Repräsentanz der Mitglieder der Bundesregierung auf der Regierungsbank. Das halte ich für ein Stück aus dem Tollhaus. ({0}) - Der eine oder andere; aber Staatssekretäre sind nicht Mitglieder der Regierung. Hin und wieder würde ich auch aus anderen Ressorts gern Regierungsmitglieder sehen. Das drückt aus, was Sie von der Regierung - ({1}) - Nicht alle sind da, Herr Kelber, nun mal langsam! ({2}) - Ist ja gut, Sie dürfen hier ja gleich reden. Man sieht hier, wie das Interesse oder Desinteresse an der Klima- und Energiepolitik ist, die nicht allein Aufgabe des Bundesumweltministers, der gerade in Bonn verhandelt, sondern eine Querschnittsaufgabe ist, die alle Ressorts betrifft, auch das Wirtschaftsressort. Wo sind dessen Vertreter eigentlich, wenn sie nicht gerade blockieren? ({3}) - Ja, ein Rücktritt wäre hilfreich. Meine Damen und Herren, es wird in diesem Land viel über Klima- und Energiepolitik geredet, und man versucht, sich zum Weltklimaretter aufzubauen. Auch „frau“ versucht dies, nämlich Frau Merkel. Am Ende aber muss man sagen: Angesichts dessen, was Sie als Große Koalition, als schwarz-rote Koalition, im Augenblick vorlegen, sind Sie kein Weltklimaretter; vielmehr ist das Vorgehen von Schwarz-Rot eine Katastrophe für den internationalen Klimaschutz. ({4}) Dies gilt auch und gerade für diejenigen, die schon heute unter dem Klimawandel leiden und Opfer dieses Klimawandels sind. Denken wir an die Küstenstaaten, an die Entwicklungsländer und an die Inseln dieser Welt, auf denen den Menschen das Wasser im wahrsten Sinne des Wortes bis zum Halse steigt. Wie soll eigentlich Ende nächsten Jahres in Kopenhagen „Kioto PLUS“ funktionieren, wenn unser Land an dieser Stelle allen Entwicklungs- und Schwellenländern und vornan den USA signalisiert, dass Deutschland gar nicht willens ist, Klima- und Energiepolitik zu machen? Das ist ein Desaster, und das liegt in Ihrer Verantwortung! ({5}) Man muss das nun damit verbinden, dass dies auch eine Bankrotterklärung dieser Regierung insgesamt ist, die versucht hat, das Thema Klima- und Energiepolitik zu einem der Herzstücke ihrer Arbeit zu machen. Auch an dieser Stelle sind Sie am Ende. ({6}) Frau Merkel müsste einmal erklären, wie es weitergehen soll. Es ist ja schön, dass sie gestern - nach Jahren des Gedrängtwerdens - endlich Geld für den Waldschutz zur Verfügung gestellt hat. Es geht aber auch darum, dass die Bundeskanzlerin ihre Richtlinienkompetenz nicht freiwillig der deutschen Energie- oder Automobillobby überträgt; denn genau das hat sie getan. ({7}) Faktisch haben wir seit Heiligendamm Stillstand; Heiligendamm war geradezu die Hoch-Zeit der Willenserklärungen. In Kürze findet der nächste G-8-Gipfel statt, diesmal in Japan. Neue Ziele wurden vereinbart. Doch wieder ist von einer Reduktion der CO2-Emissionen um 50 Prozent bis 2050 die Rede. Wir Grünen sagen Ihnen: Wir dürfen nicht ausschließlich über Fernziele reden, wir müssen heute damit beginnen, die Realität zu verändern! Die Messlatte 2008 heißt: die CO2-Emissionen bis 2020 um 40 Prozent reduzieren. Die gegenwärtige Bundesregierung ist von diesem Ziel nicht nur weit, sondern von Tag zu Tag weiter entfernt, sie geht in die falsche Richtung. ({8}) Man darf sich nicht auf den Schoß der Automobilkonzerne setzen! Streichen Sie endlich das Steuerprivileg für Dienstwagen! Durch dieses Privileg wird mittlerweile jeder zweite in Deutschland neu zugelassene Spritschlucker steuerlich subventioniert. Weg mit diesem Steuerprivileg! ({9}) Beenden Sie in Brüssel Ihre Blockade wirksamer CO2Grenzwerte für Autos! Die Verbraucherinnen und Verbraucher haben ein Recht darauf, dass die Politik nachhilft, dass endlich verbrauchsärmere Fahrzeuge, Fahrzeuge mit anderer Technologie gebaut werden, damit man nicht länger an der Tankstelle eine Herzattacke bekommt, wenn die Mineralölkonzerne wieder ihre Kartelle wirken lassen. ({10}) Man kann es auch anders sagen: Es ist in sozialer Hinsicht ein Skandal, dass diese Regierung selbst angesichts eines Ölpreises von mittlerweile 135 Dollar nicht dafür sorgt, dass man sparsamere Autos kaufen kann. Das ist im Hinblick auf die soziale Frage ein Skandal; denn insbesondere die, die auf dem Land leben, sind auf das Auto angewiesen, um zur Arbeit zu kommen. ({11}) Sie gefährden mit Ihrer Politik die Arbeitsplätze der Zukunft. Die Arbeitsplätze werden am Ende nicht mit den Porsches erhalten, sondern dadurch, dass man mit sicheren, gut funktionierenden, modernen, ökologischen Autos Mobilität ermöglicht. Wenn Ihre Politik fortgesetzt wird, werden uns die Inder und die Chinesen in Sachen Auto überholen. ({12}) - Schön, dass auch Sie schon vom Hybridfahrzeug gehört haben. Das Hybridfahrzeug ist eine gute Sache. Das hat mittlerweile auch VW erkannt: VW überlegt jetzt, wie man ein Auto baut, das erst im sechsten Gang auf Spritbetrieb umschaltet und die ersten fünf Gänge mit Hybridantrieb fährt. Das Auto gibt es aber noch nicht. VW ist spät dran, sodass andere möglicherweise früher mit so etwas auf dem Markt sein werden. Das kostet Klimaschutz und das kostet Arbeitsplätze. ({13}) Das Gleiche gilt für die Heizkosten: Es ist ein Fehler, bei der energetischen Sanierung Altbauten außen vor zu lassen. Sie lassen die Mieter im Stich! Es ist ein Fehler, dass Sie nicht für Wettbewerb auf dem Strom- und Gasmarkt sorgen. Und hören Sie auf, die Erfolgsgeschichte des grünen EEG an dieser Stelle zu gefährden! Sorgen Sie dafür, dass die Investitionseinbrüche in diesem Bereich, zum Beispiel bei der Windenergie, nicht zunehmen! Sie müssen diese Bereiche weiterentwickeln! ({14}) Die Quote der erneuerbaren Energien muss rapide steigen. Verlassen Sie den Schoß der Lobbyisten, den Schoß der Vorstände der Energiekonzerne, der Mineralölkonzerne, der Autokonzerne! Sorgen Sie dafür, dass sich dieses Land bewegt! Was wir nicht brauchen können, ist, dass bis Herbst 2009 nichts passiert. Das ist unökologisch und unsozial. ({15})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003132

Die Kollegin Dr. Maria Flachsbarth hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Maria Flachsbarth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003527, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Liebe Frau Künast, ich kenne aus der Vergangenheit eine Landwirtschaftsministerin, die von Ölscheichs der Zukunft gesprochen hat und heute nicht mehr gerne daran erinnert wird. Lassen Sie uns wieder in der Gegenwart ankommen und schauen, welche Politik tatsächlich gemacht wird. Die schwarz-rote Koalition hat die Energie- und Klimaschutzpolitik ganz oben auf die politische Agenda gesetzt und im letzten Jahr die G-8-Präsidentschaft und die EU-Ratspräsidentschaft dazu genutzt, unter Federführung unserer Bundeskanzlerin international sehr ambitionierte Klimaschutzziele zu etablieren. Mit dem integrierten Energie- und Klimaprogramm setzen Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat diese Ziele nun in nationale Politik um. Wir haben im Dezember letzten Jahres ein erstes Paket vorgelegt, das sich jetzt in den regulären parlamentarischen Beratungen befindet. Diverse Anhörungen haben stattgefunden. Ein zweites Gesetzespaket wird im Juni folgen. Es gibt kein vergleichbares Industrieland mit einem ähnlichen ambitionierten und konkret ausgestalteten Programm. ({0}) Energie- und Klimapolitik können jedoch nicht unabhängig voneinander diskutiert werden. Die Beachtung des Zieldreiecks Versorgungssicherheit, Wirtschaftlichkeit und Umweltverträglichkeit ist entscheidend für eine konsistente Politik. Wir dürfen nicht das Umfeld aus dem Auge verlieren, innerhalb dessen Politik agiert. Die Union nimmt deshalb die Sorgen und Nöte der Menschen sehr ernst, die sie sich wegen der derzeit extrem steigenden Energiepreise machen, die wiederum aus einem unguten Mix aus erhöhter Nachfrage, begrenztem Angebot und Finanzspekulationen entstehen. Wir müssen leider davon ausgehen, dass die Energiepreise in nächster Zukunft nicht nachhaltig sinken werden. Bürger und Industrie sind die Leidtragenden. Das Statistische Bundesamt hat mitgeteilt, dass die Inflation in Deutschland im Mai voraussichtlich wieder in die Nähe des Jahreshochs von 3 Prozent steigen wird. Ganz konkret: Die hohen Ölpreise von über 135 Dollar pro Barrel haben dazu geführt, dass an den Tankstellen 1,50 Euro pro Liter verlangt wird. Heizöl verteuerte sich von April bis Mai um 13 Prozent und im Vergleich zum letzten Jahr sogar um 65 Prozent. Angesichts dessen sind der effiziente Einsatz und der intelligente Ersatz von fossilen Brennstoffen durch regenerative Energien bei ohne Zweifel zunächst einmal anfallenden zusätzlichen Investitionskosten auch ein Schritt, sich von den steigenden Energiekosten abzukoppeln, und natürlich eine Frage der Generationengerechtigkeit, der Nachhaltigkeit und des Klimaschutzes. ({1}) Deshalb ist von großer Bedeutung, dass der Bundestag in der nächsten Woche über den Entwurf eines neuen Erneuerbare-Energien-Wärmegesetzes abschließend berät. Dieses Gesetz schreibt den Einsatz erneuerbarer Energien in Neubauten - gegebenenfalls in Kombination mit besserer Dämmung sowie Nutzung von Ab- und Fernwärme - vor und gibt wesentliche Anreize, Gebäude energetisch zu optimieren. Frau Künast, für Neu- und Bestandsgebäude gibt es das Marktanreizprogramm und das CO2-Gebäudesanierungsprogramm. Im Rahmen des MAP sind im ersten Quartal dieses Jahres bereits fast 30 000 Anträge mit einem Fördervolumen von 26 Millionen Euro gestellt worden. Das CO2-Gebäudesanierungsprogramm führte im ersten Quartal dieses Jahres bereits zu Kreditzusagen in Höhe von 1,4 Milliarden Euro. Das sind 44 Prozent mehr als im letzten Jahr. Das entspricht einem Investitionsvolumen von 2,9 Milliarden Euro. Das ist gut für das Klima, den Geldbeutel der Menschen und - auch das sollten wir nicht ganz vergessen - das örtliche Handwerk. Dass nichts getan wird, ist schlicht und ergreifend falsch. ({2}) Bei der Stromerzeugung aus regenerativen Energien sind wir auf einem guten Weg. Das Erneuerbare-Energien-Wärmegesetz wird planmäßig novelliert und steht, wie gesagt, vor der abschließenden Beratung in der nächsten Woche. Dabei ist das meiste von dem, was die Medien tagein, tagaus an Wasserstandsmeldungen berichten, Spekulation. Verhandelt wird in den Verhandlungen. Abschließende Ergebnisse liegen immer erst nach den Verhandlungen vor. Auch hier müssen wir mit Augenmaß Klimaschutz, Versorgungssicherheit und Wirtschaftlichkeit im Gleichgewicht halten. Wir werden das auch tun. Der Anteil des EEG am Strompreis - viel diskutiert im Moment - beträgt 3 bis 4 Prozent. Ein durchschnittlicher Haushalt mit vier Personen und mit 3 500 Kilowattstunden Jahresverbrauch zahlt dafür im Jahr 25 Euro. Das ist zwar ein stolzer, aber, umgelegt auf vier Personen für ein Jahr, vielleicht doch ein angemessener Preis. Der Staat hat jedoch über Mehrwertsteuer, Konzessionsabgabe und Ökosteuer unbestritten einen Anteil von 40 Prozent an den Strompreisen. Dies müssen wir gemeinsam mit den Haushalts- und Finanzpolitikern angehen. Außerdem bleibt von den 3,3 Milliarden Euro Differenzkosten 2006 für erneuerbare Energien vom Anlagenbau bis zur Energieerzeugung ein Großteil der Wertschöpfung in Deutschland, mit positiven Auswirkungen auf Wirtschaft, Arbeitsplätze und Steuereinnahmen im Inland. Die 70 Milliarden Euro, die wir jedes Jahr für Öl-, Gas- und Kohleimporte ausgeben, sind allerdings weg. Alles in allem: Die Bundesrepublik stellt mit dem IKEP die zentralen energie- und klimapolitischen Weichenstellungen für die Zukunft. Wir, die CDU/CSUFraktion, werden alles daran setzen, die Vorhaben auf Basis der ehrgeizigen Klimaschutzziele und des Dreiklangs von Umweltschutz, Wirtschaftlichkeit und Versorgungssicherheit sehr erfolgreich zu gestalten. Herzlichen Dank. ({3})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Michael Kauch, für die FDP-Fraktion.

Michael Kauch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003698, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Was wir derzeit erleben, auch in der Umweltpolitik, ist der Anfang vom Ende der Großen Koalition. Wie zwei Boxer, die des Kämpfens müde sind, schleppen Sie sich durch den Ring und hoffen, dass bald Schluss mit der ungeliebten Schicksalsgemeinschaft ist. ({0}) Diese Bundesregierung beweist derzeit, dass sie handlungsunfähig ist, wenn sie nicht einmal mehr unmissverständliche Vereinbarungen des Koalitionsvertrages wie die Umstellung der Kfz-Steuer umzusetzen vermag. Die Klimapolitik ist nur ein Beispiel für das Scheitern der Großen Koalition, aber ein politisch sehr bedeutsames. Die Klimapolitik der Bundesregierung fällt langsam zusammen wie ein Kartenhaus im Wind. Nach der Rücknahme eines Teils Ihrer verfehlten Biokraftstoffpolitik wissen Sie nicht wirklich, wie es weiter vorangehen soll. Bei der Frage der CO2-abhängigen Kfz-Steuer eröffnen Sie ein weiteres Kapitel der Uneinigkeit. ({1}) Aber das Chaos geht noch weiter. Sie haben keine klare Vorstellung - das war auch in der letzten Sitzung des Umweltausschusses deutlich -, wie Sie denn beim Emissionshandel nach 2012 mit den energieintensiven Branchen umgehen sollen. Fassungslos steht man im Zusammenhang mit der EEG-Novelle vor der Solarenergieförderung. Da will das Umweltministerium im nächsten Jahr eine Degression von 9 Prozent, einige SPD-Abgeordnete finden das zu viel, die Union fordert jetzt, wie man in der Zeitung lesen konnte, 20 Prozent, und zwischenzeitlich hat man auch schon einmal 25 Prozent gehört. ({2}) Das geht frei nach dem Motto: Wer bietet mehr, wer bietet weniger? - Wie schlampig ist eigentlich die Datenbasis in der Bundesregierung vorbereitet, wenn Ihre Vorstellungen derart weit auseinandergehen? ({3}) Auch beim Erneuerbare-Wärme-Gesetz, das Frau Flachsbarth gerade sehr gelobt hat, muss man sich die Frage stellen, ob Sie die Ziele, die Sie einmal ausgegeben haben, erreichen oder überhaupt noch verfolgen. Sie sind beim Erneuerbare-Wärme-Gesetz einmal mit dem Anspruch angetreten, die erneuerbare Wärme zu fördern, ohne Haushaltsmittel einzusetzen. Haushaltsneutralität war Ihr Anliegen. Es gab zum Beispiel von der SPDFraktion Vorschläge, wie man das hätte machen können. Im Ergebnis haben Sie sich auf nichts geeinigt. ({4}) Dadurch, dass Sie das Erneuerbare-Wärme-Gesetz auf Neubauten beschränken, werden Sie den wesentlichen Teil der Gebäude nicht erfassen. Um das auszugleichen, wird das Marktanreizprogramm nicht auslaufen, sondern die Subventionen werden nach dem Motto „Viel hilft viel“ verdoppelt, weil Ihnen nichts einfällt. ({5}) Schauen wir uns an, wie es denn mit der Technologieoffenheit dieses Gesetzes aussieht. Das ist ein Solarthermie-Förderprogramm, und zwar deshalb, weil Sie das Biogas diskriminieren, weil Sie das Biogas auf wenige Anwendungen einschränken, anstatt eine Wettbewerbsgleichheit der Technologien zu ermöglichen. Ein anderes Beispiel für Ihre fehlende Technologieoffenheit ist die Erleichterung des Zwanganschlusses an Fernwärme nach dem Motto: Die Leute sollen ihre Gasheizung herausreißen, damit sie zwangsweise an Fernwärmenetze angeschlossen werden können. - Das ist im Entwurf der Bundesregierung enthalten. Man kann nur hoffen, dass das noch herausfliegt, aber ich habe da wenig Hoffnung. ({6}) Es bleibt abzuwarten, ob die Bundesregierung dieses Chaos beendet und wenigstens den Rest ihres Klimaprogramms noch vor der Sommerpause beschließt. Auf der politischen Bühne der Welt gibt die Kanzlerin gerne die große Klimaretterin. ({7}) Aber man muss dazu ein bisschen mehr machen, als nur das Scheckbuch zücken. ({8}) Man muss auch ein Konzept haben, wie man es für andere Staaten attraktiv macht, die Vorreiterrolle Deutschlands zu sehen und uns in ein neues Klimaabkommen zu folgen. Wenn Sie derart uneins sind, wie Sie es hier zeigen, dann senden Sie kein Signal in die Welt. Bei der Kanzlerin muss man sich schon fragen, wo sie Führungsstärke zeigt. Sie lässt zu, dass die Minister sich streiten und dass die Vorschläge zerredet werden. Seitens des Wirtschaftsministeriums wird ständig gestänkert; es gibt keine konstruktiven Vorschläge. Herr Glos ist heute nicht einmal hier, um seine immer wieder gegen das Umweltministerium gerichteten Vorschläge zu begründen. Es fehlt an ordnungspolitischer Orientierung in diesem Wirtschaftsministerium. Die Anwesenheit der Staatssekretäre reicht an dieser Stelle eben nicht aus. ({9}) Wenn die Kanzlerin dieses Chaos der Minister so weiter zulässt, dann wird dieses Führungsproblem auch ein Führungsproblem der Bundeskanzlerin. In diesem Sinne war es durchaus notwendig, dass wir hier über die Uneinigkeit der Bundesregierung sprechen; denn sie gefährdet die nationalen Interessen dieses Landes. Dazu gehört der Klimaschutz in einem globalen Vertragswerk. Das können wir nur erreichen, wenn wir hier klare Botschaften in die Welt senden und kein Chaos anrichten. ({10})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Das Wort hat nun der Kollege Ulrich Kelber für die SPD-Fraktion. ({0})

Ulrich Kelber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003450, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir wissen, dass Deutschland bis 2020 den Ausstoß von Treibhausgasen um 40 Prozent gegenüber 1990 senken will. Wir haben in den letzten Wochen erfahren müssen, dass sich der Ölpreis in einem gewissen Zeitraum verdoppelt hat. Darauf kann Deutschland eigentlich nur eine Antwort geben, nämlich den Ölverbrauch zu halbieren, durch mehr Effizienz und durch den Ausbau von erneuerbaren Energien, und das mit einer Technologie, die nicht nur den Ölverbrauch halbiert, sondern auch den Gas- und Stromverbrauch sowie den Verbrauch von Kohle reduziert. Eine solche integrierte Strategie ist die richtige Antwort, weil sie gut für den Klimaschutz und gut für den Geldbeutel ist. Denn wenn man weniger Energie verbraucht, schlagen selbst steigende Weltmarktpreise auf die Rechnung nicht so durch. Außerdem ist diese Strategie gut für Jobs. Bereits jetzt haben wir 250 000 Arbeitsplätze im Bereich der erneuerbaren Energien. Bis 2020 wird ihre Anzahl auf eine halbe Million anwachsen. Das ist der Dreh- und Angelpunkt: Wir müssen heute in die niedrigen Energierechnungen von morgen, in die Versorgungssicherheit und in den Klimaschutz investieren. Dazu gehört, dass die verschiedenen Maßnahmen für diese Investitionen - etwa das Wärmedämmungsprogramm oder das Marktanreizprogramm - noch einmal angepasst werden müssen, um vor allem denen zu helfen, die nicht selber über ausreichend Geld verfügen, um in weniger Energieverbrauch zu investieren. Wir dürfen die Menschen mit einem hohen Energieverbrauch bei steigenden Energiepreisen nicht im Stich lassen. Wir können nicht die Weltmarktpreise beeinflussen; aber wir können jedem helfen, jedem Privathaushalt und jedem Unternehmen, den Energieverbrauch zu senken und damit die Energierechnungen bezahlbar zu halten. ({0}) Dazu gehören nicht nur Förderprogramme, sondern natürlich auch beherzte Vorschriften für einen niedrigen Verbrauch, die für einen längeren Zeitraum gelten. Wir dürfen nicht nur sagen, wie es im nächsten Jahr aussehen soll. Es bedarf einer breitestmöglichen Mehrheit, damit niemand das Gefühl hat, nach der nächsten Wahl, wenn hier womöglich irgendeine andere Konstellation die Mehrheit hat, komme es wieder zu anderen Beschlüssen darüber, wie diese Vorschriften 2012, 2015 oder 2020 aussehen. Es muss klar sein, wie viel ein neugebautes Haus oder ein Automobil dann noch verbrauchen darf oder wie die Vorschriften für Elektrogeräte aussehen. Es geht darum, eines zu erreichen: einen Wettlauf der Ingenieure und Architekten zugunsten des Geldbeutels der Verbraucherinnen und Verbraucher und nicht nur um das bestaussehende Produkt. Es muss mehr Energieeffizienz in das System gebracht werden. Ich habe mich bei der Kritik des Kollegen Kauch am Wirtschaftsminister gerade in der Tat zu einem Klatschen hinreißen lassen; auch das muss man ansprechen. ({1}) Ich erwarte von einem Wirtschaftsminister, dass er dafür wirbt, dass im Land Investitionen vorgenommen werden, und nicht, dass er den Leuten einredet, dass Investitionen in weniger Energieverbrauch Kosten sind, die sie möglichst vermeiden sollten. Das ist das, was Herr Glos mit seinem Gerede in den letzten Monaten leider erreicht hat: Bei modernen Heizungen herrscht Kaufzurückhaltung. ({2}) Weniger Leute investieren in Wärmedämmung, weil man ihnen einredet, das seien Kosten, die sie vermeiden sollten. Der Wirtschaftsminister muss durch das Land reisen und sagen: Wir haben die besten Förderprogramme Europas. Kauft! Investiert! Verbraucht weniger Energie! Das ist der beste Schutz. - Es wäre gut, wenn das nicht nur der Umweltminister täte, sondern auch der Wirtschaftsminister. ({3}) Es gibt noch weitere Stellen, an denen wir arbeiten können. Nachdem wir uns darauf geeinigt haben, wie die Energieeinsparverordnung für neue Gebäude ab 2009 verschärft wird - es wird ein im Vergleich zu bisher 30 Prozent niedrigerer Energieverbrauch vorgeschrieben -, müssen wir jetzt relativ schnell sagen, was wir ab 2012 wollen. Wir müssen noch einmal um 30 Prozent herunter. Bis 2020 muss der Passivhausstandard in Deutschland der Standard für neue Gebäude werden. Die entsprechende Technologie gibt es. Fragen Sie einmal einen Menschen, der sein Haus nach dem Passivhausstandard gebaut hat, nach seinen Heizungskosten. Er wird Ihnen antworten, dass er Heizungskosten von 100 Euro pro Jahr hat - pro Jahr, nicht pro Monat! Diese Technologie brauchen die Haushalte. Das Gleiche müssen wir bei den Autos und Elektrogeräten erreichen. ({4}) Das effizienteste Gerät muss der Standard werden. Es darf kein Gerät mehr verkauft werden, das nicht mindestens so effizient ist wie das beste fünf Jahre zuvor. ({5}) Das ist der beste Weg in diesem Bereich. Zuletzt möchte ich noch etwas zu der Debatte über die Fotovoltaik sagen. Es ist kein Wunder, dass die großen Energiekonzerne 2004 alle erneuerbaren Energien angegriffen haben, 2008 aber nicht mehr. Denn sie haben gemerkt, dass sie mit Biomasse, Wind, Wasser und Geothermie verdienen können. Nur die Fotovoltaik wird eines Tages die Versicherung des kleinen Mannes gegen steigende Stromtarife sein. Die Welt hat gegen die Fotovoltaik geschrieben und eine Grafik veröffentlicht, der man allerdings entnehmen konnte, dass in Deutschland der Strom aus einer Fotovoltaikanlage bereits im Jahre 2014 günstiger als der Strom aus der Steckdose sein wird. Dann werden die Leute Fotovoltaikanlagen auch ohne Förderung bauen, um endlich unabhängig von den Preissteigerungen von Eon, RWE und Co. zu werden. Ich freue mich auf diesen Tag. Vielen Dank! ({6})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Bevor wir die Aktuelle Stunde fortsetzen, komme ich zurück zu dem Tagesordnungspunkt 5 und gebe das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Er- gebnis der Wahl der Mitglieder des Rundfunkrats der Deutschen Welle bekannt, Drucksache 16/9350. Abgegebene Stimmkarten 482. Davon waren gültig 479. Für Wolfgang Börnsen haben gestimmt 360 Abgeord- nete. Für Fritz Rudolf Körper haben 321 Kollegen ge- stimmt, für Dr. Uschi Eid 138. Damit stelle ich fest, dass die Abgeordneten Wolfgang Börnsen und Fritz Rudolf Körper als Mitglieder des Rundfunkrats der Deutschen Welle gewählt sind.1) ({0}) Wir setzen die Aktuelle Stunde fort. Ich erteile dem Kollegen Hans-Kurt Hill für die Fraktion Die Linke das Wort. ({1}) 1) Namensverzeichnis der Teilnehmer an der Wahl siehe Anlage 2

Hans Kurt Hill (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003767, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Wir halten unser Versprechen“ - so lautet der Titel des Energie- und Klimapakets der Bundesregierung. Aber die Wahrheit sieht anders aus: Die Bundesregierung steht beim Klimaschutz mit beiden Füßen auf der Bremse, Herr Kelber. Die versprochene Umsetzung des Energie- und Klimapakets wird teilweise vertagt, und die erklärten Ziele zur Senkung des Klimagasausstoßes werden nur zur Hälfte erfüllt, wenn überhaupt. ({0}) Uneinigkeit einigt diese Regierungskoalition, liebe Genossen. ({1}) - Liebe Kolleginnen und Kollegen, nach der Debatte von gestern verzeihen Sie mir das bestimmt. Erstens. Herr Glos will keine erneuerbaren Energien im Altbau, aber marode Atomblöcke statt effizienter Kraft-Wärme-Kopplung. Zweitens. Herr Gabriel lässt die Solarbranche hängen, will aber neue Kohlekraftwerke. Drittens. Der Umweltminister sagt Ja zu Agrosprit, der Raubbau und Vertreibung in den Ländern des Südens bewirkt und eine schlechte CO2-Bilanz hat. Viertens. Der Wirtschaftsminister wiederum sackt bei klimafreundlicher Verkehrspolitik ein. Die Folge ist, dass die Gesetzentwürfe dieser Regierung auf ein Minimum zusammengekürzt werden, das nahe Null liegt. Doch gehen wir der Sache einmal genauer nach. Kraft-Wärme-Kopplung: Der Fördertopf für die Zukunftskraftwerke hat einen festen Deckel und ist so klein, dass der versprochene Zuwachs bis 2020 nur zur Hälfte erreicht werden kann. Strom aus erneuerbaren Energien: Das Potenzial von Strom aus Wind, Sonne und Biomasse wird von der Bundesregierung ignoriert, Herr Kelber. Was Sie eben gesagt haben, stimmt nämlich bei Weitem nicht. Obwohl die Prognosen für das Wachstum der erneuerbaren Energien immer wieder übertroffen werden, ist die Zielsetzung im EEG zu niedrig. Nicht ein Viertel, sondern ein Drittel Strom aus erneuerbaren Energien ist bis 2020 machbar. Das geht allerdings nur - da gebe ich Ihnen vollkommen recht -, wenn die Bundesregierung den Kuschelkurs mit den Energiekonzernen endlich aufgibt. ({2}) Es ist bezeichnend, dass der Solarstrom abgewürgt werden soll, obwohl Zehntausende sichere Arbeitsplätze in Handwerk und Industrie geschaffen wurden und der solare Beitrag zum Klimaschutz wirksamer und kostengünstiger ist als der Emissionshandel. Damit sind wir beim Stichwort „Emissionshandel“. Wenn die Bundesregierung weiter tatenlos zusieht, werden die zusätzlichen Kohleblöcke nicht nur zu steigendem CO2-Ausstoß führen, ({3}) sondern auch die neu geplanten Stromnetze besetzen, die eigentlich für den Strom aus Windenergie vorgesehen sind. Die größte Nullnummer aber ist wohl das Erneuerbare-Energien-Wärmegesetz. Es soll nur für Neubauten gelten - meines Erachtens ist das Schwachsinn -, also lediglich für 1 Prozent der Gebäude, und zusätzlich sieht man noch eine zu geringe CO2-Einsparung vor. Wenn das Gesetz aber keine Wirkung entfaltet, so frage ich Sie allen Ernstes, was soll das dann? Wozu ist das Gesetz dann gut? Diese Erkenntnis ist der Bundesregierung wohl auch im Verkehrsbereich gekommen. Ihre Biospritstrategie ist, wie angekündigt, gescheitert, und Wirtschaftsminister Glos lehnt die versprochene CO2-bezogene KfzSteuer für Neuwagen schlicht ab. Unterm Strich sieht das so aus: Statt der versprochenen Senkung des Ausstoßes von Klimagasen um 36 Prozent bis zum Jahr 2020 werden nur 25 Prozent erreicht. Da schon 18 Prozent insbesondere durch den Nachwendeeffekt erreicht sind, reden wir über 7 Prozent in zwölf Jahren - 7 Prozent in zwölf Jahren! Das schafft die Bundesregierung in der Tat, ohne etwas zu tun. Man muss es ganz klar sagen: Mit dem Titel Ihres Papiers hat das nichts mehr zu tun; denn im Klimaschutz hat die Bundesregierung ihre Versprechen gebrochen. ({4}) Sie hat sich selbst blockiert und streitet lieber über Kandidatinnen und Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten. Wir, die Linke, fordern Sie auf, sich endlich zu bewegen und Ihre Versprechen zu halten. Stimmen Sie bei den jetzt anstehenden Beschlüssen zum Integrierten Klima- und Energieprogramm unseren Anträgen zu! Produzieren Sie nicht nur heiße Luft! Denn wenn man es richtig macht, liebe Kolleginnen und Kollegen, zahlt sich Klimaschutz für die Bürgerinnen, für die Bürger, aber auch für die Umwelt aus. Vielen Dank. ({5})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächste Rednerin ist die Kollegin Patricia Lips für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Patricia Lips (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003582, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Klimaschutz ist gut, wichtig und vor allen Dingen in unserer Bevölkerung akzeptiert. Am Ende ist entPatricia Lips scheidend: Diese Akzeptanz, das „Ich will mitmachen“, dürfen wir nicht verspielen, indem wir Entscheidungen treffen, mit welchen es nicht mehr gelingt, die Menschen auf unserem Weg auch weiterhin mitzunehmen. ({0}) Klimaschutz gibt es nicht umsonst. Das ist uns allen bewusst, auch den Menschen draußen. Maßnahmen werden in den Augen der meisten Menschen aber immer nur da Akzeptanz finden, wo sie vernünftig sind und/oder bezahlbar bleiben. Deshalb gilt: Angesichts der aktuellen Vorgänge auf den Rohstoffmärkten mit den bekannten Auswirkungen im Energiebereich muss natürlich verstärkt die Frage erlaubt sein, ob wirklich jede Technik, sei es Wind, Wasser, Sonne, Biomasse, Biogas - es gibt schon eine ganze Menge in diesem Land -, an jedem Ort effektiv genutzt werden kann, ob wir inzwischen nicht auch hin und wieder dazu neigen, eine kleine Monstranz vor uns herzutragen. Frau Künast, Sie haben das Beispiel Wind gebracht. Ich möchte das ganz kurz daran festmachen. Ich vertrete einen Wahlkreis, der in Teilen stark landwirtschaftlich geprägt ist. Dort nutzen wir Holz als nachwachsenden Rohstoff, Biomasse, Biogas. All das erfährt eine hohe Akzeptanz und Unterstützung über Parteigrenzen hinweg. Aber wenn Sie den Bürgern begreiflich machen wollen, dass es auch notwendig ist, Windkraftanlagen mit einer Höhe von 180 Metern aufzustellen, weil überhaupt erst in der Höhe die Windhöffigkeit gegeben ist, haben Sie ein Problem. Es wird dann schwer, die Menschen in der Region mitzunehmen. Ein anderes Beispiel. Mein Bundesland verliert aus unterschiedlichen Gründen - das ist in ganz Deutschland so - bereits heute rund 6 Hektar Ackerland pro Tag Fläche, die für den Anbau von Pflanzen für die Lebensmittelproduktion verloren geht. Zu dem bereits vorhandenen Anbau nachwachsender Rohstoffe - das wollen wir ja auch - kommen nun neu Anträge auf Genehmigung von Fotovoltaikanlagen auf solchen Böden hinzu. Meine sehr geehrten Damen und Herren, nicht, dass wir uns falsch verstehen: Solarenergie wird, wie anderes auch, von vielen Menschen in diesem Land aus Überzeugung angewendet. Das ist politisch so gewollt; sie sichert Arbeitsplätze und soll natürlich auch weiterhin Förderung erfahren. Niemand will irgendetwas „abwürgen“. Aber: Dieses Beispiel mag auch dazu dienen, einmal innezuhalten und darüber nachzudenken, ob wir noch Grenzen sehen - und wenn ja, wo - und ob sich nicht gutgemeinter Klimaschutz manchmal ins Gegenteil verkehrt. ({1}) Wenn Sie heute auf die Straße gehen und Menschen fragen: Finden Sie es gut, wenn sich die Kfz-Steuer künftig nach dem Schadstoffausstoß berechnet?, dann ist klar, dass diese Frage gerade in dieser Formulierung natürlich das tief in uns allen verwurzelte Gefühl nach Gerechtigkeit bedient. Dieses Gefühl ändert sich jedoch bei Ihrem Gegenüber in aller Regel, wenn er oder sie die Botschaft erfährt - gestatten Sie mir, dass ich das etwas lapidar ausdrücke -: Du bist mit deinem fünf Jahre alten Wagen ziemlich sicher von einer höheren Belastung betroffen, es sei denn, du kaufst dir einen sparsamen neueren. Wir hoffen, du hast das Geld dafür. Du bist nicht die Ausnahme, sondern die Regel. - All das in Zeiten stark steigender Energiepreise! Hier wird Politik auf einmal sehr real, meine sehr geehrten Damen und Herren, und es ist an uns, dies zu berücksichtigen. Eine Partei wie die Grünen, deren Ziel einmal ein Benzinpreis von 5 DM war - vielleicht auch noch ist; man weiß es ja nicht so genau -, mag es freuen. Vielleicht erinnern Sie, Frau Künast, sich bei Ihrer lautstarken Kritik an der Regierung auch daran, dass Sie bis vor kurzem selbst noch am Kabinettstisch saßen. ({2}) Der Kollege im Umweltbereich hieß Trittin. Mit welchem persönlichen Ergebnis angesichts dessen, was Sie nicht alles in diesem Bereich hätten machen können? ({3}) Wir müssen uns aber darüber hinaus auch fragen: Was wollen wir denn am Ende mit welcher Lenkungsmaßnahme erreichen? Ist das Ziel realistisch? Vor allem müssen wir uns fragen: Wen treffen wir damit? Bleiben wir einmal beim Beispiel Kfz: Wir leben hier in Deutschland, und die meisten Menschen haben das Gefühl bzw. sind davon überzeugt, dass sie etwas davon verstehen. Das tun sie mit Sicherheit auch. Es muss also erlaubt sein, noch einmal nachzudenken und Alternativen zu prüfen, die den Altbestand von Fahrzeugen, ob privat oder geschäftlich genutzt, weniger stark belasten. Was nützt es, Kolleginnen und Kollegen, wenn folgende Situation eintritt: Klimaschutz findet statt und keiner geht hin, weil er es entweder nicht mehr versteht, als ungerecht empfindet oder nicht bezahlen kann. Es liegt auch in unserer Verantwortung, das zur Beratung anstehende Klimaschutzpaket so zu gestalten, dass es nicht nur hier im Hause eine Mehrheit erhält, sondern auch draußen bei den Menschen die erforderliche Akzeptanz. ({4}) Wir haben seit der letzten Bundestagswahl bereits vieles erreicht. Auf diesem Weg gehen wir weiter. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die Kollegin Bärbel Höhn das Wort.

Bärbel Höhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im letzten Herbst hat sich die Kanzlerin vor der Generalversammlung der UN in New York zum Klimawandel geäußert und dabei gesagt, dieser sei die „zentrale Herausforderung für die Menschheit“. Sie hat warnend hinzugefügt: Nicht zu handeln, das würde immense Kosten und weltweit neue Konflikte verursachen. Recht hat sie. Aber wenn man so redet, muss man auch konkret handeln. Was ist aber das, was Sie hier hauptsächlich tun? Sie streiten sich über die Kfz-Steuer. Sie bekommen noch nicht einmal eine popelige Veränderung bei der KfzSteuer hin. ({0}) Das passt nicht mit dem zusammen, was die Bundeskanzlerin in New York gesagt hat. Wir sehen hier einen tiefen Abgrund zwischen Taten und Worten. ({1}) Nun kann man sich ja über die Gestaltung der KfzSteuer streiten. So etwas ist durchaus auch ab und zu in einer Koalition üblich. Aber die Frage ist doch nicht allein, ob Sie eine Neuregelung bei der Kfz-Steuer hinbekommen, sondern es geht heute um die viel grundsätzlichere Frage, ob Sie in der Koalition überhaupt noch etwas hinbekommen, was dem Klimaschutz dient. Das ist doch Ihr Problem. ({2}) Schauen wir uns einmal die drei entscheidenden Bereiche an: Erstens Wärme: Was bleibt im Gebäudebereich an Maßnahmen zur Minderung des CO2-Ausstoßes übrig, wenn die erneuerbare Wärmeenergie in Altbauten gestrichen wird und nur noch bei Neubauten zum Einsatz kommen soll, wie Sie es jetzt verkündet haben? Sie wissen, wie wenig Neubauten wir im Verhältnis zu den Altbauten haben. Was bleibt übrig, wenn die Vorgaben zu Energiestandards für Ein- und Zweifamilienhäuser gestrichen werden? Was bleibt übrig, wenn das verbesserte Mietrecht - Herr Kelber, weil Sie von sozialen Problemen gesprochen haben; die Mieter müssen auch Rechte bekommen, das durchzusetzen - gestrichen wird? ({3}) Ich habe gestern die Staatssekretärin gefragt, wie das, was Sie streichen, kompensiert werden soll und wie hoch die Streichungen bezüglich CO2-Minderung zu bewerten sind - keine Antwort. Was haben Sie denn zweitens im Verkehrsbereich gemacht? Das Thema Beimischung ist gefloppt. Das Thema Kfz-Steuer wurde eben schon angesprochen. Die Sache mit den effizienteren Autos funktioniert nicht. Das Tempolimit bekommen Sie nicht hin. Ich habe die Staatssekretärin gestern gebeten: Nennen Sie mir nur eine Maßnahme, die Sie umgesetzt haben, um CO2 im Verkehrsbereich zu reduzieren! Keine Antwort, Achselzucken. Nichts haben Sie im Verkehrsbereich hinbekommen und fast gar nichts im Wärmebereich. So funktioniert das nicht. Schauen wir uns drittens einmal den Strombereich an. Der Minister sagt ja immer, alle Ausfälle sollen durch den Strombereich kompensiert werden. Sie sind gerade dabei, die Photovoltaik im Strombereich kaputtzumachen, meine Damen und Herren von der CDU/CSU. Es gibt genug CDU-Parteifreunde in Ostdeutschland, die Sie dafür kritisieren, weil Sie damit gerade die Arbeitsplätze in den neuen Ländern aufs Spiel setzen. Lassen Sie die Hände davon, und machen Sie die Fotovoltaik nicht kaputt! ({4}) Die Resultate sieht man. Tatsächlich ist es so, dass in der Bundesrepublik Deutschland in 2006 mehr CO2 ausgestoßen wurde als im Jahr zuvor. Sie haben nicht ein Weniger, sondern ein Mehr an CO2 bewirkt. Diese Aufzählung - Wärmebereich, Verkehrsbereich und Strombereich - ist eine Liste des Versagens der schwarz-roten Bundesregierung. ({5}) Wenn man sich das Klimapaket einmal genau anschaut, stellt man fest, dass es wie ein Schweizer Käse ist. Der Schweizer Käse ist dagegen allerdings ganz gut; er hat nämlich mehr Käse als Löcher. Ihr Klimapaket hat mehr Löcher, und der Rest ist dann auch noch Käse. Das ist das Problem. ({6}) Den Grund dafür hat Herr Ramsauer beschrieben. Er hat nämlich gesagt: Das ist nicht mehr Frost in der Koalition, sondern das Klima ist schon klirrend. - Man könnte sagen: Weil Sie gemeinsam keine Maßnahme gegen die Klimaerwärmung mehr hinbekommen, haben Sie sich auf die Eiszeit am Kabinettstisch geeinigt. Das ist aber keine gute Klimapolitik. ({7}) Handeln ist dringend geboten. Eben hat Herr Kelber zu Recht darauf hingewiesen, dass der Ölpreis steigt. Was sollen wir den Menschen bieten? Was sind Ihre Konzepte? Frau Lips, da muss ich ganz ehrlich sagen: Sie treten hier auf, als ob Maßnahmen für den Klimaschutz letzten Endes immer eine Belastung sind. Ich sage Ihnen: Bei dem steigenden Ölpreis und dem steigenden Energiepreis sind Effizienzmaßnahmen, Maßnahmen für erneuerbare Energien eine Befreiung vom Öl und deshalb keine Belastung, sondern etwas Gutes. Wir müssen durchsetzen, dass das funktioniert. ({8}) Schauen Sie sich doch einmal an, wie der Ölpreis explodiert. Haben Sie nicht im Kopf, dass am Anfang des Jahres 1 Barrel noch 100 Dollar gekostet hat und jetzt bereits bei 135 Dollar liegt? Die Schere geht hier weiter auseinander. Wir müssen das Öl verlassen, ehe es uns verlässt. Sonst werden viele Leute es sich nicht mehr leisten können. Deshalb ist eine Politik auf EU-Ebene, den Bau effizienterer Autos zu blockieren, wie die CDU es getan hat, eine Politik gegen die Menschen in Deutschland. Denn die Menschen in Deutschland haben ein Interesse an effizienten Autos. Deshalb hätten Sie diese Blockade auf EU-Ebene nicht machen dürfen. Ich erwarte klare Worte von der Kanzlerin zum Klimaschutz. Sie soll nicht „basta“ sagen; wir wissen ja, dass das nicht immer gut funktioniert. Aber sie kann klare Worte zum Klimaschutz abstrakt sagen. Sie sagt klare Worte zu einzelnen Projekten. Zum Beispiel sagt sie Nein zum Tempolimit und Ja zu Kohlekraftwerken. Sie sagt Nein zu effizienteren Autos auf EU-Ebene. Ich meine, sie sollte nicht nur Nein sagen zu Projekten, die gegen den Klimaschutz sind, sondern sie sollte auch Ja sagen zu Projekten, die für den Klimaschutz sind. Das wäre eine gute Sache. ({9}) Meine Damen und Herren, ich komme zum Ende. Kanzlerin Merkel hat - ich zitiere sie noch einmal - in Bezug auf den Klimawandel gesagt: … wir können dem nicht tatenlos zusehen, zumal wir … wissen, welche … Kosten sich aus dem Nichthandeln ergeben. Deshalb ist es Zeit, zu handeln, und deshalb muss gehandelt werden. Deshalb sage ich: Handeln Sie endlich! Ihr Klimaschutzpaket kommt mir vor wie ein Eisberg bei der Klimaerwärmung. Jedes Mal, wenn man hinsieht, hat er mehr Löcher. Das ist nicht gut. Ändern Sie Ihre Politik, handeln Sie, tun Sie etwas für den Klimaschutz! Danke. ({10})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Für die Bundesregierung spricht nun der Parlamentarische Staatssekretär Michael Müller.

Michael Müller (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001561

Meine Damen und Herren! Es gibt bestimmte Themen, bei denen die üblichen Formeln, die in der Politik eingerissen sind, nicht passen. ({0}) Die ständige Steigerung der rhetorischen Dosis des Populismus ist da nicht angebracht. ({1}) - Das gilt auch für Sie, Frau Künast. Man könnte auch über die Geschichte der Grünen, was den Klimaschutz angeht, sprechen. ({2}) Aber ich glaube nicht, dass uns das wirklich weiterbringt. Jürgen Trittin - und niemand anderes - hat beispielsweise in der letzten Legislaturperiode das Minus25-Prozent-Ziel aufgegeben. ({3}) Wir dürfen auch nicht die Anpassung an aktuelle Zwänge im Auge behalten. Denn wir haben es hier mit einem Thema zu tun, bei dem die traditionellen Formen unserer politischen Auseinandersetzung an Grenzen stoßen. Wir brauchen eine andere Form von Verantwortung, Gestaltungsfähigkeit und vor allem eine andere Form von Gerechtigkeitsverständnis, weil wir es mit zwei Punkten zu tun haben, die in unseren politischen Entscheidungen bisher keine zentrale Rolle mehr spielen. Erster Punkt. Der Klimawandel ist sozusagen ein tagtäglicher Angriff auf die Zukunft. Die Auswirkungen dieses Angriffs werden wir erst später spüren. Das heißt, nirgendwo sonst ist das Thema Vorsorge so weitreichend gefasst wie an dieser Stelle. Zweiter Punkt. Im Gegensatz zu anderen Themen haben wir es mit Endlichkeit und Grenzen zu tun. Unser alter Ansatz, alles über mehr Wachstum nach dem Motto „schneller und mehr“ zu lösen, funktioniert nicht. Wir haben es mit einer anderen Form der Herausforderung zu tun. Ich habe oft den Eindruck - Entschuldigung, wenn ich das sage -, dass unsere politische Auseinandersetzung in einem eklatanten Widerspruch zu dieser Herausforderung steht. Um es auf den Punkt zu bringen: Das ist verantwortungslos. Ich will es an einem Beispiel klarmachen: In den letzten 650 000 Jahren lag der höchste Wert der Kohlendioxidkonzentration in der Atmosphäre bei etwa 300 Teilen CO2 auf 1 Million Luftteile. Jetzt beträgt dieser Wert 384. Das bedeutet, eine Erwärmung um etwa 1,5 Grad ist nicht mehr zu verhindern. Derzeit steigt die Konzentration um 2 ppm pro Jahr. Vor zehn Jahren betrug diese Steigerung noch 1,2 ppm. Wenn die Entwicklung ohne eine zusätzliche Steigerung, was eher unwahrscheinlich ist, so weitergeht, dann liegen wir in 30 Jahren bei einem Wert von 450 ppm. Das entspricht einer Erwärmung um 2 Grad. Ist uns eigentlich klar, was das für eine Herausforderung ist? Ich möchte das an einem Beispiel verdeutlichen. In Afrika sind etwa 250 Millionen Menschen schwer oder dauerhaft unterernährt. Eine Erwärmung der Atmosphäre um 2 Grad bedeutet für Afrika eine Halbierung der Ernteerträge. Was ist das für eine Herausforderung für die Menschheit! Ich frage mich, wie man angesichts dieser Herausforderung so kleinkariert debattieren kann. Ich habe da ein anderes Verständnis von Politik. ({4}) Im Deutschen Bundestag gibt es zwischen allen Parteien den Grundkonsens, das Thema Klimaschutz voranzutreiben. Es ist gar keine Frage, dass es Unterschiede in der Radikalität unserer Forderungen gibt. Es gab übrigens auch einmal einen Grundkonsens in der Atomfrage. Ich erinnere mich, dass wir im Deutschen Bundestag einen Beschluss gefasst hatten, in dem die Feststellung enthalten war, dass die Atomkraft unsere Probleme nicht lösen wird. Auch das gehört zur historischen Wahrheit. ({5}) Das hat sich nun alles verschoben. Im Jahr 2007 haben wir eine Reduktion der Treibhausgase gegenüber dem Jahr 1990 um 20,4 Prozent erreicht. Nach dem Kioto-Vertrag müssen wir bis zum Jahre 2012 21 Prozent erreichen. Ich will durchaus zugeben, dass es mehr sein könnte. Aber das Ergebnis von 20,4 Prozent liegt weit über dem Ergebnis fast aller anderen Länder. Auch das muss man feststellen. Man darf also nicht so tun, als hätten wir nichts erreicht. Jetzt müssen wir allerdings das Tempo erhöhen - das sehe ich genauso -, wenn wir das Minus-40-Prozent-Ziel erreichen wollen. Dieses Ziel bedeutet in der Konsequenz: Wir müssen bis zum Jahre 2020 den Stromverbrauch um etwa 11 Prozent reduzieren; das ist machbar. Wir müssen den Anteil der Kraft-Wärme-Kopplung von heute etwa 11 Prozent auf 25 Prozent erhöhen. Wir müssen im Stromsektor den Anteil der regenerativen Energien auf 30 Prozent erhöhen. Das sind ehrgeizige, aber machbare Ziele. Lassen Sie uns deshalb über diese drei Hauptpunkte reden. Es lohnt sich in der Tat, darüber zu streiten, ob wir da den richtigen Weg gehen. ({6}) Unser Maßstab muss ein Minus von 40 Prozent bei den CO2-Emissionen sein. Das Integrierte Klima- und Energieprogramm trägt einen Teil zu diesen minus 40 Prozent bei, aber eben nicht allein. Dazu gehört erstens der Emissionshandel. Zweitens müssen wir in Bezug auf den geplanten Zeitraum sagen: Natürlich müssen wir in Zukunft - Klimaschutz hört mit dem IKEP nicht auf - weitere Maßnahmen hinzufügen. Aber der Maßstab sind minus 40 Prozent. Dies zu erreichen, wäre für die Welt ein positives Beispiel dafür, dass man den ökologischen Umbau erfolgreich gestalten kann. Deshalb lassen Sie uns konstruktiv darüber reden, wie wir ihn hinbekommen, anstatt uns über taktische Auseinandersetzungen zu zerstreiten. ({7}) Ich finde - um auch das zu sagen - manches in der augenblicklichen Diskussion nicht gut. Denn ich befürchte, durch zwei Zuspitzungen stehen die eigentlichen Bewährungsproben beim Klimaschutz noch bevor: Das ist erstens das gesamte Rohstoffthema. Es ist alarmierend, was da abläuft. Wir hatten im Jahre 2000 pro Barrel Rohöl einen Preis von 18 US-Dollar und heute einen Preis von 137 US-Dollar. Die Auseinandersetzung geht aber noch viel tiefer - dies ist gewissermaßen die zweite Zuspitzung -: Was wir im Augenblick erleben, ist, dass die Spekulationen, die in den letzten Jahren im Immobiliensektor stattgefunden haben, auf Nahrungsmittel, Energie und Rohstoffe übergehen. Das ist eine gefährliche Entwicklung. Darauf gibt es zwei Reaktionsweisen: Reaktionsweise eins ist, defensiv zu sein und zu sehen, wie man diese nächste Phase übersteht, indem man durch alle möglichen kurzfristigen Maßnahmen Ausgleich schafft, was ich für eine Illusion halte. Die Reaktionsweise zwei ist, dass wir das Tempo der ökologischen Modernisierung umso mehr vorantreiben. Ich plädiere sehr für das Zweite. Es gibt dazu keine Alternative. Allerdings ist das Bewusstsein in der Gesellschaft bisher noch nicht so weit. Eher herrscht im Augenblick massive Angst. Überall fragen uns die Leute: Was soll ich machen, entweder vernünftig wohnen oder das Auto behalten? Wir müssen jetzt eine offensive Strategie in Richtung Effizienz entwickeln, und zwar so, dass wir alle Menschen und nicht nur einen Teil der Gesellschaft mitnehmen. ({8}) Das wird die erste Herausforderung sein. Die zweite Herausforderung ist - auch darüber sollte man sich im Klaren sein -: Wir, der Norden, sind nicht mehr allein diejenigen, die die Welt bestimmen. In China liegen die Emissionen pro Kopf bei 3,66 Tonnen, in Amerika bei 19,74 Tonnen. In Amerika liegen sie um das Fünffache höher. Trotz dieses gewaltigen Unterschiedes wird China in wenigen Jahren der größte Emittent der Welt sein. ({9}) Wir haben ein neues Gerechtigkeitsproblem und ein Zukunftsproblem, wie wir dies in dieser Form noch nie hatten. Insofern heißt Klimaschutz nicht - darüber muss sich jeder im Klaren sein -, dass ich einfach an ein paar Schrauben drehe. Dies ist eine Auseinandersetzung mit drei Fragen, die völlig neu sind: mit der Endlichkeit, mit der Begrenzung in der Belastung der Natur und mit der nachholenden Industrialisierung, aus der eine nachholende Naturzerstörung wird. Dies verlangt von uns ein ganz anderes Bewusstsein. In dieser Frage sollen wir uns zerstreiten. Ich würde für etwas anderes plädieren: dass wir bei allen Unterschieden versuchen, an einer so großen Aufgabe in der Form gemeinsam zu arbeiten, dass sie gelingt. Dann würden wir einen Beitrag zum Frieden, zur Gerechtigkeit und zur Freiheit in der Welt leisten. Das wäre das Beste. ({10})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nun spricht für die Bundesregierung die Parlamentarische Staatssekretärin Dagmar Wöhrl. ({0})

Dagmar G. Wöhrl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002829

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Lieber Kollege Müller, mit dem IEKP haben wir gemeinsame Lösungen gefunden. Ich glaube schon, sagen zu können: Dies ist das ehrgeizigste Energie- und Klimaprogramm, das je eine Bundesregierung auf den Weg gebracht hat. Intensive Beratungen sind vorangegangen, um das klimapolitisch Notwendige so zu gestalten, dass es auch energiepolitisch sinnvoll ist. Schauen Sie sich an, vor welchen Herausforderungen wir klimaschutzpolitisch bei steigenden Weltenergiemarktpreisen, steigenden Ölpreisen, steigenden Gaspreisen stehen. Wir wissen, dass wir uns diesen Herausforderungen stellen müssen. Wir wissen, dass die Energie zukünftig noch weit effizienter eingesetzt werden muss, als dies bis jetzt geschehen ist. Wir wissen, dass wir eine breite Palette von Energieträgern nutzen müssen. Wir wissen, dass wir das Energiesparen fördern müssen. Wir wissen natürlich auch um die Notwendigkeit des Ausbaus der erneuerbaren Energien, lieber Kollege Göppel. Wir wissen aber auch, dass es wichtig für uns ist, die Energieversorgung wirtschaftlich sinnvoll zu gestalten und sie zukunftssicher zu machen. Das heißt unserer Ansicht nach: Effizienter Klimaschutz ist bezahlbarer Klimaschutz, und er muss mit einer wirtschaftlichen Entwicklung einhergehen. Nur so können wir dafür sorgen, dass Unternehmen, die Arbeitsplätze schaffen, weiterhin wettbewerbsfähig produzieren können. Nur so werden wir erreichen, dass die Energiepreise auch in Zukunft für unsere Verbraucher bezahlbar sind. ({0}) Wir müssen auf das Kosten-Nutzen-Verhältnis achten und den richtigen Weg einschlagen. Die Verbraucher, die Unternehmer, die Autofahrer und die Mieter erwarten von uns zu Recht, dass wir die Kosten, die mit dem Ziel der CO2-Verminderung verbunden sind, für sie so gering wie möglich halten: Die Verpflichtung zur energetischen Nachrüstung älterer Gebäude - Herr Kelber, Sie haben das vorhin angesprochen - ist für viele Menschen mit niedrigem Einkommen - gleich, ob das Singles oder Rentner sind - eine starke oder sogar unzumutbare Belastung. Dieser Aspekt muss in unsere Überlegungen einfließen. Deswegen ist es auch richtig, dass wir beim KraftWärme-Kopplungsgesetz hinsichtlich der Fördersumme eine Obergrenze festgelegt haben. So werden die Verbraucher nicht durch noch höhere Stromkosten noch stärker belastet. Deswegen ist es ferner richtig, dass wir bei der Novelle des Erneuerbare-Energien-Gesetzes auf eine stärkere Degression der Einspeisevergütung für Strom aus Fotovoltaik gesetzt haben. Deswegen ist es auch richtig, dass wir beim Erneuerbare-Energien-Wärmegesetz den Gebäudebestand nicht einbeziehen, Frau Höhn, sondern auf Förderung, das heißt, auf Anreize und nicht auf Zwang setzen. Wir wollen keinen Zwang in diesem Bereich. Auch bei der Öffnung des Messwesens beim Strom wollen wir keinen Zwang. Hier geht es um die Verbreitung von intelligenten Zählern. Wir wollen, dass die Verbraucher sich frei entscheiden können. Sie sollen erkennen, dass ein intelligenter Zähler auch bei ihnen zu Einsparungen führt, und sie sollen sich freiwillig für die Anschaffung eines solchen Zählers entscheiden. Zum zweiten Teil des Klimapakets: Wir haben insgesamt sechs Vorhaben, zu denen die Gesetzes- und Verordnungstexte noch ausstehen. Wir wissen, dass sich die Umsetzung ein wenig verzögern wird. Uns liegt daran, dass die Ziele, die wir alle haben - Klimaschutz und Ausbau der erneuerbaren Energien -, effizient und wirtschaftlich erreicht werden. Wir wollen keine Gängelung und keine unnötige Kostensteigerung in diesem Bereich. Insofern geht es auch beim zweiten Teil des Klimapakets nicht um das Ob des Klimaschutzes - diesbezüglich besteht, glaube ich, Konsens im ganzen Haus -, sondern es geht um das Wie. In den Ressortgesprächen zum zweiten Teil des Klimapakets wurden viele inhaltliche Punkte bereits geklärt; einige Punkte sind noch offen. Das ist ein zukunftsweisendes Vorhaben, mit dem neue Wege beschritten werden. Manchmal ist es nicht ganz einfach, neue Wege zu beschreiten. Manchmal dauert das ein bisschen länger. Wichtig ist, dass wir am Schluss zufriedenstellende Lösungen haben. Ich bin mir ganz sicher, dass wir unser Ziel erreichen werden. Liebe Frau Kollegin Höhn, Sie haben die Kfz-Steuer als popeliges Thema bezeichnet. ({1}) Ich weiß nicht recht. Ich finde, das ist kein popeliges Thema. Wir alle haben ein Interesse daran, emissionsärmere Neuwagen zu fördern. Das ist überhaupt kein Thema. Wir müssen uns aber der Tatsache stellen, dass viele Menschen ältere Autos fahren, die einen schadstoffreicheren Ausstoß haben. Wir müssen auch an diese Menschen denken. Der Vorschlag, der uns bisher vorlag, hätte zu einer starken Belastung dieser Menschen, die zum Teil sozial schwächer sind und sich vielleicht kein neueres, emissionsärmeres Auto leisten können, geführt. Damit müssen wir uns auseinandersetzen. Wir wollen das Ziel erreichen. Der Finanzminister ist aufgefordert, in diesem Bereich einen neuen Vorschlag auf den Tisch zu legen. Auch mit dem Umweltministerium besteht sicherlich noch Diskussionsbedarf, insbesondere wenn es um die Verkabelung der dena-I-Trassen geht. Hinsichtlich des Netzausbaus sind wir uns einig. Gut, wir haben Diskussionen darüber, ob wir auch Erdkabel oder HGÜ-Technik einsetzen sollen. Aber wir werden auch hier eine Lösung finden. Wir müssen jedoch beachten, dass der Umweltminister im Gesetz festschreiben will, dass die Mehrkosten der HGÜ-Technik auf die Netzentgelte aufgeschlagen werden, also umlagefähig sind. Das heißt, dass der Verbraucher zukünftig die Rechnung dafür zahlt. Wir wissen: Die HGÜ-Technik ist teuer. Sie ist noch nicht so erprobt, wie wir es uns vorstellen. Deswegen dürfen wir die Wirtschaftlichkeitsprinzipien hier nicht aus den Augen lassen. Wir müssen immer eine Abwägung vornehmen. Da sind wir als Gesetzgeber gefordert, auch angesichts der hohen Strompreise, die wir schon jetzt haben. Das erwarten unsere Bürgerinnen und Bürger. Mehrbelastungen haben sie schon genug - das wissen wir; darüber brauchen wir nicht zu reden -, etwa durch die Kraft-Wärme-Kopplung, die erneuerbaren Energien und natürlich die Energiepreise an sich. Deswegen müssen wir darauf achten, dass wir durch unsere Gesetzesvorhaben nicht dazu beitragen, die Strompreise unnötig nach oben zu treiben. Es macht keinen Sinn, einerseits Sozialtarife zu fordern und andererseits durch unsere Gesetze die Kosten weiter nach oben zu treiben. ({2}) Wichtig für uns ist, immer wieder zu evaluieren: Sind unsere Klimaschutzziele, die wir erreichen wollen - ich bin davon überzeugt, dass wir sie erreichen werden -, erreichbar? Eine Evaluation wird immer notwendig sein, und zwar nicht nur bei unserer Regierung. Viele nachfolgende Regierungen werden immer wieder evaluieren müssen, ob diese Ziele erreichbar sind. Das Motto wird lauten: Ständig überprüfen. Wir wissen, dass es natürlich auch einfachere und preisgünstigere Lösungen geben würde. Es würde auch klimafreundlichere Lösungen geben. Ich hätte es nicht angesprochen, wenn der Kollege es nicht schon angesprochen hätte: die Verlängerung der Laufzeit der Kernkraftwerke. Wir haben hier eine Vereinbarung. Das ist kein Thema; ich muss es trotzdem ansprechen. Wir sind hier leider in einer energiepolitischen Sackgasse gefangen. Ich hoffe, dass irgendwann einmal die Vernunft in den Vordergrund tritt und wir versuchen, möglichst schnell aus dieser energiepolitischen Sackgasse zu kommen, damit wir auch in der Zukunft eine verlässliche, bezahlbare und klimafreundliche Stromversorgung haben. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist für die SPD-Fraktion der Kollege Reinhard Schultz. ({0})

Reinhard Schultz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002791, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer das Paket von Meseberg beschlossen hat, dem musste von vornherein klar sein, dass es keine einfache Baustelle wird. Es enthält sehr anspruchsvolle Klimaschutzziele und eine Vielzahl von Ansätzen, diese Ziele umzusetzen. Jetzt geht es sozusagen an die operationale Arbeit. Wie schaffen wir es, die Ziele zu erreichen und gleichzeitig die Menschen nicht zu überfordern? Das ist in einem Satz zusammengefasst der Konflikt, um den es im Augenblick geht. Ich glaube, es ehrt uns alle, wenn wir darum ringen, die Frage der Belastbarkeit der Menschen heute und gleichzeitig das Erreichen unserer Ziele für die Zukunft so sorgfältig wie möglich abzuwägen und nicht mit leichter Hand zu behandeln. Ob wir nun eine oder zwei Wochen früher oder später mit dem zweiten IEKP über die Rampe kommen, wird für den weiteren Verlauf der Weltgeschichte unerheblich sein. Hauptsache wir kommen damit über die Rampe. Ich bin davon überzeugt, dass man zum Beispiel heute bei den Verhandlungen über die Weiterentwicklung des EEG zu Ergebnissen kommen wird. Dass das nicht einfach ist, dass da hart gerungen wird und dass oft sehr unterschiedliche Vorstellungen dabei eine Rolle spielen, ist doch völlig klar. Trotzdem wird man zu einem Ergebnis kommen. Zum Beispiel die Degression bei der Fotovoltaik: Die einen sagen, dass es möglicherweise einen Fadenriss für die ganze Branche gibt, wenn man den Degressionspfad zu steil macht. Andere, sogar Vorstandsprecher von Herstellern von Fotozellen, Q-CELLS zum Beispiel, sagen: Wir brauchen den Druck der Degression, damit wir eine effizientere Produktion bekommen. ({0}) Beide Gesichtspunkte sind wichtig. Die Kunst wird letztlich darin bestehen, sie zusammenzuführen. Verehrte Kollegin Wöhrl, ich glaube allerdings, auch der ständige Hinweis - ceterum censeo -, dass die Laufzeiten für Atomkraftwerke verlängert werden müssen, hilft nicht weiter. Das würde erst recht zu einem Investitionsfatalismus führen; denn dann müsste man gar nichts tun. ({1}) Wenn man die Laufzeiten verlängert, braucht man weder zu sparen noch neue Kohlekraftwerke zu bauen. Dann müsste man gar nichts tun. Man hätte lediglich die Verlängerung des goldenen Endes längst abgeschriebener Anlagen erreicht, ohne dass sich dadurch aber die Preise ändern würden. Wie werden die Preise gebildet? Das Kraftwerk, das als Letztes in Betrieb genommen wurde, ist immer das teuerste. Es bestimmt für alle, die eher in Betrieb gingen, den Preis an der Börse mit. Das hätte zur Folge, dass für die kostengünstige alte Kernkraft dieselben hohen Preise verlangt werden könnten wie für die aus einem Grenzkraftwerk. Damit wird man möglicherweise einen Beitrag zur guten Börsenperformance der Energieversorgungsunternehmen leisten, aber nicht zur Preissicherheit und zur Investitionssicherheit - im Gegenteil. ({2}) Insofern gibt es gute ökonomische Gründe, die dafür sprechen, von diesem Gedanken Abstand zu nehmen. Zum Thema Kfz-Steuer. Frau Höhn, hier wird deutlich, dass wir uns manchmal in einer Zwickmühle befinden, aus der wir durch intelligente Lösungen herauskommen müssen. Es gibt mehrere Vorgaben: Im Rahmen der Reinhard Schultz ({3}) Kfz-Besteuerung wollen wir CO2-ärmeren Fahrzeugen einen Bonus gewähren. Gleichzeitig wollen wir aber nicht, dass die vielen Pendler, die auf ihr Auto angewiesen sind und sich kein neues leisten können, neben den derzeit sehr hohen Spritpreisen noch zusätzlich belastet werden. Außerdem haben wir die Vereinbarung getroffen - hier schließt sich der circulus vitiosus -, dass das Ganze aufwendungsneutral bzw. kostenneutral sein soll. Das geht natürlich nicht. Man kann ein Steuersystem nicht umstellen, indem man die einen fördert und die anderen ausnimmt, nur damit es kostenneutral ist. Ich sage für die SPD ausdrücklich: In den weiteren Beratungen müssen wir das Dogma der Aufkommensneutralität zwingend aufgeben. Sonst werden wir dieses Problem nicht lösen können. Ich rate auch der Bundesregierung dringend, in diese Richtung zu denken. ({4}) Die Finanzpolitiker der SPD befürworten diesen Weg. Wir haben gestern gemeinsam mit unseren mitberatenden Arbeitsgruppen beschlossen, den Weg dafür freizumachen. Dann wird es davon abhängen, ob die Länder mitmachen. ({5}) Die Länder waren auch in anderen Fragen durchaus beweglich. Es geht hierbei um ein großes Ziel. Außerdem handelt es sich lediglich um eine Übergangssituation. Denn selbst das jüngste Altfahrzeug wird irgendwann einmal den Weg alles Menschlichen gehen. Dann werden wir in einer neuen Normalität ankommen. Ich denke, für diese Übergangszeit muss man das in Kauf nehmen. Es gibt noch eine Reihe anderer Baustellen, und die Probleme, die dort bestehen, sind nicht einfach zu lösen. Natürlich ist der Netzausbau ein sehr wichtiger Aspekt, wenn es darum geht, den Strommarkt zu öffnen, Offshore-Technologie anzubinden und auf internationaler Ebene mehr Wettbewerb zu ermöglichen. Allerdings werden gegen den Bau jeder neuen Trasse Bürgerinitiativen gegründet; das ist ähnlich wie beim Bau neuer Kraftwerke. Ich kann alle Politiker, die kluge Ideen verbreiten und schlaue Gesetze machen wollen, nur dazu auffordern, dort, wo eine Hochspannungstrasse, ein KWK-Kraftwerk oder eine Biogasanlage gebaut werden soll, ihr Kreuz durchzudrücken und dem Widerstand der verängstigten Bevölkerung entgegenzutreten. Wir müssen den Menschen deutlich machen, dass es sich um ein Gesamtkonzept handelt. Wir können Klimaschutz nicht nur in Oberammergau, in Greven oder in Hamburg betreiben, sondern wir müssen unsere Ziele insgesamt erreichen. An einigen Standorten werden zu diesem Zweck moderne Kohlekraftwerke gebaut, an anderen Biogasanlagen. Was zählt, ist das Gesamtergebnis. ({6}) Um unsere Ziele zu erreichen, brauchen wir dringend mehr politischen Mut. Vielen Dank. ({7})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Franz Obermeier das Wort. ({0})

Franz Obermeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003201, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Diese Aktuelle Stunde hat, was die Art der Diskussion betrifft, eine sehr positive Wende genommen. Teilweise wurde sie von den Oppositionspolitikern nämlich in einer solchen Unsachlichkeit geführt, die den Problemen, vor denen wir stehen, in keiner Weise angemessen ist. ({0}) Wer behauptet, dass der Bundeswirtschaftsminister die erneuerbaren Energien kaputtmacht, verkennt die Situation. Wer behauptet, dass die Fotovoltaik in Deutschland kaputtgemacht werden soll, hat irgendetwas falsch verstanden. Der Anteil der Fotovoltaik muss auf ein niedrigeres Maß zurückgeführt werden, sodass sie in Deutschland nicht zu einer volkswirtschaftlichen Belastung ersten Ranges führt. Herr Staatssekretär Müller, es ist wahr: Der Anstieg der CO2-Emissionen, der zur Erhöhung der Treibhausgaskonzentration führt, beträgt 2 ppm per anno. Ich sage bei dieser Betrachtung immer ganz gerne dazu, dass wir als Bundesrepublik Deutschland an diesem Aufwuchs mit einem Anteil von fünf Hundertstel beteiligt sind. Daran sieht man, dass Deutschland die Welt nicht retten wird. Unser Augenmerk muss über die nationalen Dinge hinaus auf die Entwicklungen in den Schwellenländern gelegt werden. Es wird in unserer Diskussion viel zu wenig gewürdigt, dass in China wöchentlich zwei Kohlekraftwerke ans Netz gehen, deren Technologie und damit Wirkungsgrade nicht vergleichbar sind mit denen, die wir hier in Deutschland hätten. ({1}) Herr Staatssekretär, ich habe schon das Gefühl, dass wir in diesem Hause nach wie vor einen Grundkonsens hinsichtlich der Reduzierung der CO2-Emissionen auf nationaler Ebene haben. ({2}) Bei allen Angriffen seitens der Opposition, die man aushalten muss: Ich halte es für einen guten demokratischen Prozess, dass zwischen den einzelnen Häusern der Bundesregierung um den richtigen Weg hart gerungen und manchmal sogar gestritten wird, um dorthin zu kommen, wo wir hinwollen. Die Bundeskanzlerin hat sich dafür ausgesprochen, die CO2-Emissionen auf nationaler und europäischer Ebene entsprechend zu reduzieren. Es ist selbstverständlich, dass unterschiedliche Häuser unterschiedliche Interessen vertreten. Wichtig ist, was herauskommt. Für meine Begriffe kamen die Vorwürfe, die hier und heute in dieser Aktuellen Stunde der Bundesregierung gemacht wurden, wesentlich zu früh. Sie wissen ja noch gar nicht, was letzten Endes vereinbart wird. Sie wissen zum Beispiel überhaupt noch nicht, was heute Nachmittag in Bezug auf das ErneuerbareEnergien-Gesetz und dessen Potenziale in der Regierungskoalition vereinbart wird. Wieso machen Sie uns derart erhebliche Vorwürfe? ({3}) Das, was Sie hier vorgetragen haben, war völlig unangemessen. Damit sind Sie weit über das Ziel hinausgeschossen. ({4}) Bei der gesamten Debatte haben wir im Übrigen auch noch ein paar andere Dinge zu berücksichtigen. Ich lege allergrößten Wert darauf, dass wir den Klimaschutz in Verbindung mit dem nationalen Wirtschaftswachstum und der Entwicklung auf dem Arbeitsplatzsektor in der Bundesrepublik Deutschland stellen. Das heißt, wir müssen uns beim Klimaschutz in der Bundesrepublik Deutschland dringendst an den Kosten für die Reduzierung je Tonne CO2 orientieren. Es gibt noch ein paar andere Parameter, die wir berücksichtigen müssen. Ich möchte aber nicht, dass die gute Entwicklung der zurückliegenden zweieinhalb Jahre in Bezug auf den Arbeitsplatzaufbau durch die Klimaschutzprogramme gehemmt wird, weil wir beim Abbau von CO2-Emissionen nicht den preiswertesten Weg gewählt haben. ({5}) Das ist für mich eine zentrale Frage. Daran werden wir auch arbeiten. Es gibt noch eine ganze Reihe Dinge, die man hierzu sagen könnte. Wichtig ist in dem Zusammenhang, dass wir die Bevölkerung mitnehmen und auf das Rücksicht nehmen, was unsere Bürgerinnen und Bürger beim tagtäglichen Gebrauch von Energie draußen bewegt. Deswegen bin ich guter Dinge, dass wir das IEKP - Teil II zu einem guten Ende bringen werden. Herzlichen Dank. ({6})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Christian Carstensen für die SPD-Fraktion.

Christian Carstensen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003745, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Obermeier, gleich zu Anfang: Ihre Sorgen in allen Ehren, aber wir müssen auch einmal die Erfahrung der letzten Jahre nachvollziehen, dass der Umweltschutz ein Arbeitsmarktprogramm ist und dass durch ihn in der Zwischenzeit viele Arbeitsplätze geschaffen wurden. Insofern teile ich die Sorge eher nicht. ({0}) Auch als Verkehrspolitiker freue ich mich natürlich, dass wir heute die Gelegenheit haben, über das sehr ambitionierte Programm der Bundesregierung zum Klimaschutz und zum Energiesparen zu sprechen.Dabei geht es um das Ziel, bis 2020 zusätzlich zu den bereits erreichten 18 Prozent CO2-Emissionen weitere 22 Prozent einzusparen. Ich finde es bemerkenswert, wie hier diskutiert wurde. Herr Hill hat jetzt schon für das Jahr 2020 Bilanz gezogen ({1}) und festgestellt, dass wir nur 7 Prozent CO2-Emissionen einsparen werden. Nach Auffassung der Grünen - das habe ich heute Morgen in der Vorbereitung auf diese Debatte gelesen - ist mit 10 Prozent zu rechnen. Ich finde es interessant, was für ein Wettlauf hier stattfindet. Lassen Sie uns bei den anspruchsvollen und ambitionierten Zielen bleiben! Es geht darum, weniger Energie zu verbrauchen und damit das Klima zu schonen, die Wirtschaft zu stärken, nach Möglichkeit zusätzliche Anreize für Investitionen und Kaufentscheidungen zu bieten und dadurch Arbeitsplätze zu schaffen sowie die Ausgaben für Bürgerinnen und Bürger zu begrenzen. An diesem Programm gibt es aus meiner Sicht nichts, aber auch wirklich gar nichts zu kritisieren. Wahr ist allerdings, dass das Programm auch umgesetzt werden muss. Insofern gilt Bundesumweltminister Sigmar Gabriel unsere volle Unterstützung. Ich hoffe, dass er diese Unterstützung vom gesamten Haus, aber auch von der gesamten Bundesregierung erhält. ({2}) - Vielen Dank. - Ebenso gehe ich davon aus, dass auch dem Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, Wolfgang Tiefensee, unsere Unterstützung gilt; ({3}) denn in den Bereichen Gebäude und Verkehr liegen große Potenziale, die wir nutzen müssen, wissen wir doch, dass rund 20 Prozent des gesamten CO2-Ausstoßes in Deutschland an Gebäuden verursacht werden. Im Verkehr müssen wir den Ausgleich zwischen einem immer größeren Bedürfnis nach Mobilität und der Notwendigkeit der Energieeinsparung schaffen. Deswegen möchte ich kurz die wichtigsten klimarelevanten Maßnahmen in diesem Bereich aufführen. Im Gebäudebereich ist erstens das bereits erwähnte CO2Gebäudesanierungsprogramm zu nennen, das eine ausgesprochene Erfolgsgeschichte ist. Durch die geförderten Maßnahmen können wir den CO2-Ausstoß jährlich um rund 1 Million Tonnen reduzieren. Es ist richtig, dieses Programm zu verstetigen und durch den Investitionspakt zur Sanierung der sozialen Infrastruktur - also von Schulen, Kindertagesstätten und Jugendeinrichtungen Christian Carstensen zu ergänzen. Dazu sollen insgesamt weitere 600 Millionen Euro bereitgestellt werden. Dieser Punkt wird in dem von den Grünen selbst in Auftrag gegebenen Kurzgutachten nicht erwähnt, und zwar zu Unrecht, wie ich finde, weil das eine wichtige Weiterung darstellt. Zweitens ist die Energieeinsparverordnung zu nennen. Hierbei soll der maximale Energiebedarf bei Neubauten gegenüber der geltenden Regelung kurzfristig um 30 Prozent und mittelfristig sogar um 50 Prozent gesenkt werden. Die Anforderungen an die energetische Qualität bei Haussanierungen wollen wir um rund 30 Prozent anheben. Das Erneuerbare-Energien-Wärmegesetz ist hinreichend angesprochen worden. Die Novellierung der Heizkostenverordnung, das sogenannte Contracting bei Mietwohnungen und das Programm zur energetischen Sanierung von Bundesbauten sind weitere Bestandteile, um die anspruchsvollen Klimaschutzziele ebenso wie die Ziele für den Ausbau der erneuerbaren Energien und die Steigerung der Energieeffizienz zu erreichen. Das gilt auch für den Verkehrsbereich. Nicht umsonst steht das derzeit stattfindende Weltverkehrsforum in Leipzig unter dem Motto „Transport und Energie - die Herausforderung des Klimawandels“. Wir sind uns dieser Herausforderung bewusst. Deswegen stellen wir innerhalb der nächsten zehn Jahre zusammen mit der Industrie 1 Milliarde Euro für die Entwicklung und Anwendung der Wasserstoff- und Brennstoffzellentechnologie bereit. Wir wollen die LkwMaut entsprechend umgestalten, um die Lenkungswirkung zu erhöhen. Darüber hinaus wollen wir auch bei den Pkws durch eine neue Kennzeichnung für Anreize sorgen. Das müssen wir demnächst auf den Weg bringen. Genauso wichtig ist aus meiner Sicht die Umstellung der Kfz-Steuer. Wenn wir uns alle einig sind, dann gelingt es uns vielleicht, auch Herrn Glos und die CSU davon zu überzeugen. Dabei hilft es allerdings wenig, wenn die Grünen zwar kritisieren, dass dieses Vorhaben nichts bringen würde, aber darüber, dass es verschoben wird, die gleichen Krokodilstränen vergießen. ({4}) Wir können insofern im Bereich Verkehr eine ganze Menge zur Verringerung der CO2-Emissionen beitragen. Wir werden dieses Thema morgen noch einmal ausführlich diskutieren. Dann werde ich zum Beispiel auch zum Bereich Luftverkehr, zu den emissionsabhängigen Landeentgelten und zur Einbeziehung in den Emissionshandel etwas sagen. Sie sehen: Das Ziel, das mit diesem Programm ins Auge gefasst wurde, verlieren wir eben nicht aus den Augen. Wir arbeiten daran. Sie alle sind herzlich eingeladen, daran konstruktiv mitzuarbeiten. Vielen Dank. ({5})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege Volkmar Vogel für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Volkmar Uwe Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003650, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als Baupolitiker darf ich die Debatte der letzten Stunde zusammenfassen. Ich kann es auf den Punkt bringen - ich denke, darin sind wir uns einig -: Im Klimabereich hängt alles mit allem zusammen. Es gibt nicht den allein selig machenden Königsweg, um die Probleme, vor denen wir jetzt und in den nächsten Jahren stehen, zu lösen. Klimaschutz ist ein hochkomplexes Thema. Nur wenn es uns gelingt, die Instrumente sinnvoll miteinander zu verzahnen, dann sind auch Synergien und tatsächliche Effizienzverbesserungen möglich. Daher ist es wichtig, dass wir all die Instrumente, über die wir derzeit beraten, ob es das Erneuerbare-Energien-Wärmegesetz ist, ob es die EnEV ist, an der wir zwar nicht direkt beteiligt sind, die aber auch eine maßgebliche Rolle spielt, ob es das EEG oder die Kraft-Wärme-Kopplung ist, im Zusammenhang betrachten. Schnellschüsse und Aktionismus, wie das auch heute in der Debatte wieder anklang, schaden dabei nur, ganz besonders dann, wenn es um eine so komplexe und sehr komplizierte Materie geht. ({0}) Daher - deswegen können wir die Kritik der Grünen nicht teilen - ist es Ausdruck seriöser Politik, wenn wir hier nichts übers Knie brechen. Es ist allemal besser, sich ein paar Tage Zeit mehr zu nehmen, um über alle notwendigen, möglichen und mitunter weitreichenden Konsequenzen zu diskutieren. Wir halten an den ehrgeizigen Zielen von Meseberg fest; das ist überhaupt keine Frage. Dabei muss man bedenken: Wir als ein hochentwickeltes Industrieland tragen für unsere Welt eine besondere Verantwortung, eine Verantwortung auch und gerade gegenüber denjenigen, die in Armut leben und die den Klimawandel viel direkter und brutaler spüren als wir hier in Mitteleuropa. ({1}) Dieser Verantwortung dürfen wir uns nicht verschließen. Gleichzeitig - das ist die andere Seite der Medaille sind Klimaschutzmaßnahmen auch eine Chance, eine Chance, die meiner Meinung nach in der Diskussion der letzten Stunde zu wenig Beachtung gefunden hat. Sie sind eine Chance für Innovation, Forschung und neue Entwicklungen. Sie bieten Möglichkeiten für Wirtschaftswachstum, für Arbeitsplätze und auch für Standortvorteile in unserem Land. Gerade Deutschland ist hier gut aufgestellt. Wir können die Herausforderungen der Zukunft für die Möglichkeiten nutzen, die bei uns bestehen. So sind wir bei vielen umweltrelevanten Technologien Weltmarktführer bzw. in der Spitzengruppe. In der politischen Diskussion dürfen wir daher nicht den Fehler machen, uns in endlosen, kleinteiligen Debatten um Kennziffern und Einzelmaßnahmen zu verfangen und zu verstricken. ({2}) Wir in unserer politischen Verantwortung müssen vor allem die Ziele formulieren und dann den Akteuren am Markt die Spielräume zur Umsetzung geben. Für die Union steht fest, dass technische und technologische Grundprinzipien der Physik Vorrang vor ideologisch geprägten Wünschen und Utopien haben müssen. ({3}) Ein verantwortungsbewusster und nachhaltiger Umgang mit Energie, zum Beispiel im Gebäudebereich, aber auch im Verkehrsbereich, heißt für uns an erster Stelle Verbesserung der Effizienz beim Umgang mit Energie und an zweiter Stelle Einsatz von erneuerbaren und regenerativen Energien da, wo es irgendwie geht und wirtschaftlich vertretbar ist. ({4}) In diesem Sinne werbe ich zumindest für den Baubereich für die Fortschreibung der Energieeinsparverordnung. Herr Kelber hat angemahnt, dass wir in unseren politischen Entscheidungen den betroffenen Bürgern nachhaltig und langfristig Planungssicherheit geben sollen. Gerade mit der EnEV und deren Fortschreibung zur EnEV 2009, mit der im Kern eine Verschärfung der Anforderungen um 30 Prozent vorgesehen ist, geben wir den Fahrplan vor und können das auch über die nächsten Jahre weiterentwickeln. Damit geben wir den Bauherren und den Nutzern von Gebäuden die notwendige Planungssicherheit. Die Vorgehensweise der letzten Jahre zeigt auch, dass es ganz entscheidend ist, den Bürger durch Information und Aufklärung von der Wichtigkeit von Energieeinsparmaßnahmen zu überzeugen. Dem einzelnen Bürger sind leider auch heute noch nicht alle Möglichkeiten zum Energieeinsparen bewusst, und er weiß auch nicht, in welcher Art und Weise er tatsächlich von ihnen profitieren kann. Dies zeigt auch der im März veröffentlichte CO2-Gebäudereport des Bundesbauministeriums. Die Bürger schätzen mehrheitlich immer noch ein, dass die Einsparpotenziale im Gebäudebereich zu gering und die Kosten zu hoch seien. Deshalb, meine sehr verehrten Damen und Herren, muss für uns - auch dies lasse ich jetzt noch in die Debatte einfließen - so viel Aufklärung und Information der Bürger wie möglich ein Ziel sein. Vorgaben und Vorschriften hingegen brauchen wir nur dort, wo es zwingend nötig ist. Allein das Erreichen eines Anteils von jetzt schon 8 Prozent erneuerbarer Energien bei den Gebäuden zeigt, dass wir auf dem richtigen Weg sind, da wir uns als Ziel 14 Prozent gesetzt hatten. Aber auch wir sind der Meinung, dass die jeweiligen regionalen, örtlichen und individuellen Gegebenheiten Beachtung finden müssen und auch die ganz konkrete Situation des jeweiligen Bauherrn berücksichtigt werden muss.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, denken Sie bitte an die Redezeit.

Volkmar Uwe Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003650, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bin gleich fertig. ({0}) Deswegen wollen wir Ziele vorgeben, dem Bürger jedoch die größtmögliche Flexibilität bei deren Umsetzung zubilligen. Auf diese Art und Weise gelingt es am besten, Kreativität und Akzeptanz bei Anbietern und Nachfragern, also in der Wirtschaft und bei den Bauherren, zu sichern. Dies wird dazu führen, dass wir unsere Ziele mit Anreizen und ohne Zwang erreichen können. ({1})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, jetzt war ich aber sehr großzügig.

Volkmar Uwe Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003650, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Einen Satz noch, Frau Präsidentin. - Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie wir wissen, kostet Klimaschutz Geld. Aber wir müssen den richtigen Weg verfolgen, um das Machbare auch wirtschaftlich möglich zu machen. Dafür lohnt es sich, ein paar Tage länger darüber nachzudenken. Vielen Dank. ({0})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Damit sind wir am Ende der Aktuellen Stunde. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Hartfrid Wolff ({0}), Dr. Heinrich L. Kolb, Patrick Meinhardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Zuwanderung durch ein Punktesystem steuern - Fachkräftemangel wirksam bekämpfen - Drucksache 16/8492 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({1}) Auswärtiger Ausschuss Sportausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Kultur und Medien Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich sehe und höre dazu keinen Widerspruch. Dann werden wir so verfahren. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Hartfrid Wolff für die FDP-Fraktion das Wort. ({2})

Hartfrid Wolff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003866, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nach aktuellen Zahlen des Instituts der deutschen Wirtschaft fehlen in Deutschland rund 95 000 Ingenieure. Allein für IT-Spezialisten gibt es über 40 000 offene Stellen. Dasselbe Institut stellt fest, dass der deutschen Volkswirtschaft jährlich rund 18 Milliarden Euro oder 0,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts durch fehlende Fachkräfte verloren gehen. Wir sind auf die gesteuerte Zuwanderung von Hochqualifizierten und Fachkräften angewiesen. Deutschland droht den Wettbewerb um die klügsten Köpfe zu verlieren. Es wird Zeit, endlich alten ideologischen Ballast über Bord zu werfen und sich modernen Konzepten zuzuwenden. ({0}) Es reicht nicht, weltweit mit dem Oktoberfest oder Neuschwanstein auf Werbetour für Fachkräfte zu gehen. Wir brauchen ein klares Umdenken bei der Zuwanderungssteuerung. Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände sind sich einig, dass der stärkere Zuzug von Fachkräften nach Deutschland einen Beitrag zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit bei uns darstellt; denn der Einsatz jeder weiteren Fachkraft zieht weitere Arbeitsplätze nach sich. Andere Staaten wie Großbritannien, die USA und Kanada sind aufgrund ihrer klaren und transparenten Zuwanderungsregelungen Deutschland meilenweit voraus. Die Bundesregierung verschläft diese dynamische Entwicklung, zulasten des Wirtschafts- und Forschungsstandorts Deutschland. ({1}) Natürlich müssen wir versuchen, durch schnell wirksame Maßnahmen in Bildung, Ausbildung und betriebliche Weiterbildung den Bedarf mit inländischen Arbeitnehmern zu decken. Auch müssen endlich die Beschäftigungsperspektiven von Frauen und älteren Menschen verbessert werden. Das ist Konsens. Zur Deckung des Fachkräftebedarfs scheint dies allerdings nicht auszureichen. Meine Damen und Herren, die Arbeitswelt, der Arbeitsmarkt ist längst global. Produkte werden nicht mehr an ein und demselben Standort erdacht, entwickelt, produziert, vertrieben. Deutschland hat die Chance, auch in Zukunft Teil dieses Arbeitsprozesses zu sein, und zwar vor allem bei Forschung und Entwicklung. Doch wenn wir nicht aufpassen, kann sich das schnell ändern. Hochqualifizierte Forscher und Entwickler, egal ob sie in Unternehmen, in Hochschulen oder in Forschungseinrichtungen arbeiten, sind international, leben diese Internationalität. Es muss ihnen deutlich einfacher gemacht werden, sich in Deutschland anzusiedeln. Die demografische Entwicklung lässt erwarten, dass wir den wirtschaftlichen Standard mittelfristig nicht werden halten können, wenn wir nicht für qualifizierte Zuwanderung offen sind. Das bisherige Ausländerrecht hat die deutliche Botschaft: Deutschland will eigentlich keine Zuwanderung. Dabei hat zum Beispiel auch der saarländische Ministerpräsident Peter Müller einmal festgestellt: Das Boot wird immer leerer. - Es wird hingenommen, dass sogar die EU-interne Migration an Deutschland vorbeigeht. Gerade Fachkräfte aus Polen, seien es nun Pflegekräfte oder seien es Ingenieure, wandern lieber nach Großbritannien aus, als in der Nachbarschaft, bei uns, zu arbeiten. ({2}) - Eben, Herr Kollege. Das muss geändert werden! ({3}) Nur große Unternehmen haben die Chance, die extrem hohen Einkommensschwellen für Arbeitnehmer aus Drittstaaten und die weiteren Hürden wie die individuelle Vorrangprüfung zu überspringen. Dabei ist gerade der Mittelstand auf kreative Köpfe und Fachkräfte angewiesen. Ein Gegenmodell zum restriktiven Modell der Bundesregierung legt Ihnen die FDP heute vor: ({4}) Wir brauchen ein Punktesystem, mit dem die Zuwanderung nach klaren Kriterien gesteuert wird und mit dem unsere Interessen und Erwartungen an die Zuwanderer klar definiert werden. Ein Punktesystem ist ein flexibles und modernes System zur Steuerung der Zuwanderung. Damit kann der Bedarf an dringend benötigten Arbeitskräften befriedigt, bei fehlendem Bedarf aber auch eine Reduzierung der Zuwanderung verfügt werden. Bei diesem System spielen vor allem die Ausbildung, die berufliche Erfahrung, das Alter und die Kenntnisse der deutschen Sprache eine große Rolle. Es kommt vor allem auf die professionelle Qualifikation und die gesellschaftliche Integrationsfähigkeit der Migranten an. Die FDP schlägt vor, dass diejenigen, die die höchsten Hürden des Punktesystems überspringen, freie Arbeitsplatzwahl in Deutschland bekommen sollen. Fachkräfte bzw. qualifizierte Arbeitnehmer, die eine geringere Punktzahl erreichen, die Hürden des Punktesystems gleichwohl nehmen, sollen einwandern dürfen, wenn sie in einer Branche oder einem Bereich, in dem erheblicher Bedarf besteht, ein konkretes Arbeitsplatzangebot haben. Ausländische Hochschulabsolventen aus Drittstaaten sollen nach ihrer Studienzeit und ihrem Abschluss schnell und unkompliziert in Deutschland Arbeit aufnehmen können. Es ist für mich unverständlich, weshalb wir Menschen, die in Deutschland studiert haben, hier integriert sind, Menschen, in die wir als Gesellschaft Geld investiert haben, nach dem Abschluss mitteilen: Bei uns arbeiten darfst du nicht, auch wenn wir dich dringend brauchten. ({5}) Hartfrid Wolff ({6}) Das ist paradox, Herr Kollege. Der Exportweltmeister Deutschland agiert auf dem internationalen Arbeitsmarkt wie ein viertklassiger Fußballverein, der das Transfersystem noch nicht begriffen hat. ({7}) Wie kann es sich ein Exportweltmeister erlauben, bei der Zuwanderung provinziell zu agieren? Entscheidend ist: Wen wollen wir nach Deutschland einladen, wer kann unsere Gesellschaft weiterbringen? Unser Punktesystem ist ein moderner Ansatz für eine vernünftige Steuerung der Zuwanderung. ({8}) Ich zitiere selten aus fremden Parteiprogrammen; ({9}) aber ich möchte dem Kollegen Reinhard Grindel zuliebe aus dem Beschluss des Parteitags der CDU 2006 in Dresden zitieren. Auf Seite 87 steht: Die Zuwanderung von Arbeitskräften muss einfach und übersichtlich geregelt werden … Weiter heißt es: Die Auswahl der betreffenden Personen erfolgt auf der Basis eines Punktesystems, das Alter, Schulausbildung, Beruf, Sprachkenntnisse, Berufserfahrung … berücksichtigt. Bei den Sozialdemokraten liest sich das 2007 so: „Die SPD steht weiter zu dem von der sogenannten SüssmuthKommission ausgearbeiteten Punktesystem.“ ({10}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und SPD, Sie haben jetzt in der Regierung die Chance, Ihre eigenen, offensichtlich sogar einmal übereinstimmenden Beschlüsse umzusetzen. ({11}) Wir brauchen eine Willkommenskultur, die es Hochqualifizierten und Fachkräften aus dem Ausland erleichtert, sich für Deutschland zu entscheiden. Eine moderne Zuwanderungssteuerung mit einem Punktesystem stellt unsere nationalen Interessen als Wirtschaftsstandort im Zeitalter der Globalisierung in den Vordergrund. Ein solches System verdrängt nicht einheimische Arbeitskräfte, sondern schafft auch für sie neue berufliche Perspektiven. Es hilft Deutschland, seine Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern. Eine moderne Zuwanderungssteuerung ist überfällig. ({12})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Reinhard Grindel für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Reinhard Grindel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003539, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist wahr, Herr Kollege Wolff: Wir haben in einigen Regionen und Branchen einen Fachkräftemangel zu verzeichnen. Es ist aber auch wahr, dass wir im Ausländerund Arbeitserlaubnisrecht völlig ausreichende Regelungen haben, die es Unternehmen schon jetzt erlauben, den Fachkräftemangel durch die Anwerbung ausländischer Arbeitnehmer zu bekämpfen. Das Instrumentarium ist da. ({0}) Das Instrument eines Punktesystems ist arbeitsmarktpolitisch überflüssig und integrationspolitisch sogar gefährlich. Deshalb lehnen wir Ihren Antrag ab. Ein Blick ins Gesetz erleichtert die Rechtsfindung. Nach dem geltenden Aufenthaltsrecht können schon heute ausländische Arbeitnehmer eine Arbeitserlaubnis bekommen, wenn dafür ein Bedarf besteht und im Inland Arbeitnehmer nicht zur Verfügung stehen. ({1}) Nach der Beschäftigungsverordnung gehören dazu ITFachkräfte und Personen mit besonderen Spezialkenntnissen, die es so unter den heimischen Arbeitslosen nicht gibt. ({2}) - Herr Kollege Wolff, das alles ist geltende Rechtslage ohne Punktesystem. - Zusätzlich kann die Bundesagentur für Arbeit bereits heute den Zugang zum Arbeitsmarkt für einzelne Berufsgruppen und regionale Wirtschaftszweige ohne die sogenannte Vorrangprüfung zulassen, wenn das arbeitsmarkt- und integrationspolitisch verantwortbar ist. Es sind auch im Jahr 2007 - das haben Sie unterschlagen - wieder 63 000 ausländische Arbeitskräfte mit Arbeitserlaubnissen ausgestattet worden. Sie haben bei uns gearbeitet. Das ist doch ein Beleg dafür, dass wir längst einen funktionierenden Rechtsrahmen in unserem Land besitzen. ({3}) - Liebe Frau Kollegin, da Sie genauso wie ich aus Niedersachsen kommen, müssten Sie wissen, wie viele Saisonarbeitskräfte im niedersächsischen Spargelgewerbe und anderswo beschäftigt werden. Die 63 000 ausländischen Arbeitskräfte sind nach § 18 ganz normale Arbeitnehmer. Die Zahl der gesamten Saisonarbeitskräfte liegt weit über 200 000; das ist eine ganz andere Baustelle. Wenn Sie solche Anträge kommentieren, sollten Sie sich vorher informieren, über welche Arbeitnehmer wir reden. Es ist nicht ernsthaft zu bestreiten, dass es angesichts von noch immer 3,3 Millionen Arbeitslosen, darunter mindestens 150 000 Akademikern, sinnvoll ist, dass man, bevor ein Ausländer auf den deutschen Arbeitsmarkt kommt, erst einmal schaut, ob nicht unter den heimischen Arbeitslosen ebenso qualifizierte Kräfte existieren, die den Arbeitsplatz genauso gut besetzen könnten. ({4}) Wir dürfen doch nicht übersehen, dass sich unter den Arbeitslosen viele ausländische Mitbürger befinden. Es ist integrationspolitisch sehr wichtig, dass wir uns nicht mit einer so hohen Zahl von ausländischen Jugendlichen abfinden, die ohne Berufsausbildung auf den Arbeitsmarkt drängen und dort keine Chance haben. Herr Kollege Wolff, ich bleibe dabei: Es ist nicht richtig, 50-Jährige zum alten Eisen zu werfen, ({5}) Aus- und Fortbildung einzustellen, aber dann junge Leute für billiges Geld aus dem Ausland zu holen. Das hat nichts mit einer verantwortlichen sozialen Marktwirtschaft zu tun, um das ganz klar zu sagen. ({6}) Meine Damen und Herren von der FDP, ich gäbe Ihnen recht, wenn Sie sagten: Die Vorrangprüfung, die die Bundesagentur für Arbeit vorzunehmen hat, dauert oft zu lange. Auch ich finde, dass wir klare Ansprechpartner für die Unternehmer in jeder einzelnen Geschäftsstelle der Bundesagentur brauchen und dass diese Experten der BA einen genauen Überblick über den regionalen Arbeitsmarkt haben müssen, um schnell die Vorrangprüfung vornehmen zu können. Aber da reicht mehr Flexibilität im Verwaltungsvollzug. Dafür brauchen wir keine neuen Gesetze, zumal - das will ich betonen - das Punktesystem integrationspolitisch gefährlich ist, weil es zu einer ungesteuerten Zuwanderung auf dem Arbeitsmarkt führt. ({7})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Bürsch?

Reinhard Grindel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003539, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja. ({0})

Dr. Michael Bürsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003018, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Grindel, bevor Sie sich an dem Thema Integrationspolitik und dem, was richtig und falsch ist, abarbeiten, würde mich interessieren, wie Sie zu dem Dresdner Programm stehen, das Herr Wolff verdienstvollerweise zitiert hat. Klarer könnte in der Tat die SPD nicht sagen, was ein Punktesystem ist und was dafür spricht. Dann bitte ich, das Ganze, was Sie jetzt vorhaben, für falsch zu erklären und auch im Lichte Ihrer lichtvollen Dresdner Programmsätze zu erläutern.

Reinhard Grindel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003539, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Kollege Bürsch, bei uns gelten die Grundsatzprogramme und die letzten Wahlprogramme. ({0}) Was das Dresdner Programm angeht: Es geht um die Ausgestaltung des Punktesystems. Ich will Ihnen den entscheidenden Punkt dabei sagen. Es ist die Frage - darauf wäre ich jetzt eingegangen -, ob Sie in das Punktesystem auch den Nachweis eines ganz konkreten Arbeitsplatzes aufnehmen. Darauf verzichtet die FDP ausdrücklich in ihrem Antrag. Wie Sie dazu stehen, können Sie noch sagen; denn das Entscheidende ist, dass es dann, wenn einem Arbeitnehmer, der aus dem Ausland zu uns kommt - das werde ich gleich darstellen -, kein konkreter Arbeitsplatz in unserem Land gegenübersteht, eine ungesteuerte Zuwanderung ist, ({1}) weil Sie niemals erkennen können, ob dieser ausländische Arbeitnehmer überhaupt auf dem Arbeitsmarkt ankommt oder am Ende nicht doch in den Sozialsystemen landet. Der entscheidende Punkt ist: ({2}) Gibt es ein konkretes Arbeitsplatzangebot oder nicht? So ist auch der Dresdner Beschluss zu verstehen. ({3})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, darf ich Sie noch einmal unterbrechen? Es gibt einen zweiten Wunsch einer Zwischenfrage, dieses Mal von der Kollegin Sevim Dağdelen.

Reinhard Grindel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003539, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Bitte sehr.

Sevim Dağdelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003746, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Herr Kollege. - Sie haben kurz dargelegt, dass es nicht angehen kann, dass man junge, frische, dynamische Fachkräfte aus dem Ausland holt und die inländischen Langzeitarbeitslosen, darunter auch sehr viele Akademikerinnen und Akademiker, nicht fördern möchte. Ich habe hier eine Pressemitteilung der Bundesregierung vom 8. Mai 2008 mit der Überschrift: „Böhmer: Potenziale von Zugewanderten besser nutzen.“ Es geht vor allen Dingen darum, dass akademische Abschlüsse, die Ausländerinnen und Ausländer im Ausland erworben haben, hier nicht anerkannt werden. Das ergab eine Studie aus Osnabrück. Seit Anfang des Jahres liegt ein Antrag meiner Fraktion zu einer Vereinfachung der Anerkennungsverfahren vor. Das sind rund eine halbe Million Menschen, darunter Ärztinnen und Ärzte.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Frau Kollegin, Sie wollten eine Frage stellen.

Sevim Dağdelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003746, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Gut. Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Ich möchte Sie bitten, mir darzustellen, was die Bundesregierung bzw. Ihre Regierungsfraktion zu tun gedenkt, damit diese Bildungsabschlüsse anerkannt werden.

Reinhard Grindel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003539, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das haben wir im Nationalen Integrationsplan alles sauber festgelegt. Das ist eine Sache - das wissen Sie ganz genau -, bei der wir die Länder brauchen, weil die Anerkennung der Abschlüsse Ländersache ist. Die Länder waren an der Erarbeitung des Nationalen Integrationsplans beteiligt. Das heißt, es muss hier zu vereinfachten Lösungen kommen, insbesondere wenn Berufskammern mit beteiligt sind. Ich kann Ihnen sagen, dass wir, Vertreter der CDU/CSU-Fraktion, gerade vor wenigen Wochen ein Gespräch mit den Vertretern der Ärztekammer in Berlin geführt und überlegt haben, was man tun kann, um mit wenigen Hilfestellungen, mit der einen oder anderen Zusatzqualifikation, etwa Ärzte aus Osteuropa, die wir dringend zum Beispiel für die Nachbesetzung von Praxen im ländlichen Raum brauchen, in die Lage zu versetzen, als Ärzte zu arbeiten; denn diese brauchen wir, wir brauchen keine Personen, die mit dem Taxi durch Berlin fahren; von denen haben wir genug. Genau das ist unsere Politik. Das ist genau ein Argument gegen das Punktesystem, weil diese ausländischen Arbeitskräfte und diese Aussiedler schon im Land sind. Da kann ich nur sagen: Lasst uns doch die Schätze, die hier verborgen sind, für den Arbeitsmarkt heben! ({0}) Lassen Sie uns diese Menschen qualifizieren und nicht das Problem der Integration durch ungesteuerte Zuwanderung weiter verschärfen! Das ist gerade ein Argument gegen den Antrag der FDP. ({1}) - Wenn Sie von gesteuerter Zuwanderung reden, dann wollen wir uns einmal anschauen, lieber Herr Kollege Wolff, was Sie sich darunter vorstellen. Sie sagen: Nachgewiesen werden müssen Qualifikation, Berufserfahrung, Alter und Sprachkenntnisse; wenn dieser Nachweis erbracht ist, erhält man sofort eine Arbeitserlaubnis für zwei Jahre. ({2}) Wie sieht das wohl in der Praxis aus? Qualifikation und Berufserfahrung: In jedem Land mit erheblichem Migrationsdruck bekommt man jedes Examen, jedes Zeugnis gegen eine entsprechende Geldleistung. ({3}) Wie wollen Sie denn kontrollieren, ob jemand aus der Ukraine, aus Ghana oder aus Venezuela tatsächlich einen Abschluss erworben hat bzw. die Berufserfahrung hat, die er vorgibt? Da ist dem Missbrauch Tür und Tor geöffnet. Ich sage Ihnen: Die beste Maßnahme, um Qualifikation festzustellen, ist, dass man den Arbeitgeber fragt, der einen bestimmten Arbeitnehmer aus dem Ausland haben will. Er kann entscheiden, ob er dessen Qualifikation braucht. Warum wollen Sie nicht, dass diese Arbeitsplatzzusage entscheidend ist? Niemand kann besser als ein Arbeitgeber entscheiden, ob er einen bestimmten Ausländer braucht. Wenn er ihn braucht und wenn es auf dem deutschen Arbeitsmarkt niemanden gibt, der diesen Arbeitsplatz genauso gut besetzen kann, dann bekommt er diese ausländische Arbeitskraft auch, wie 63 000-mal im Jahr 2007 geschehen, Herr Kollege Wolff. ({4}) Was Sprachkenntnisse angeht, verlangen Sie das Niveau B 1. Das schreiben wir bei den Integrationskursen für Neuankömmlinge in Deutschland vor. Sprachkenntnisse auf diesem Niveau reichen für weite Teile, gerade von qualifizierter Beschäftigung - darum geht es hier -, wahrlich nicht aus. ({5}) Ich gehe davon aus - Sie haben es angesprochen -, dass Parallelen zu den Punktesystemen in Kanada und Australien gezogen werden. Schauen Sie sich das einmal an! Dort ist der Nachweis eines Arbeitsplatzes ein Qualifikationselement, mit dem Punkte erworben werden, und zwar meistens genau diejenige Punktzahl, die man braucht, um eine sogenannte „pass mark“, also eine Arbeitserlaubnis, zu erhalten. Ich frage mich: Warum lehnen Sie hier das als weiteres Qualifikationsmerkmal ab, was in Kanada und in Australien gut funktioniert hat? Ich kann das nicht nachvollziehen. ({6}) - Das haben Sie nicht drin. Das ist schlicht und ergreifend die Unwahrheit. ({7}) Zur Säule 1 - dort geht es um die hochqualifizierten Arbeitskräfte - heißt es in Ihrem Antrag ausdrücklich: Ein konkretes Arbeitsplatzangebot ist nicht erforderlich. ({8}) Das ist der springende Punkt; darum geht es uns. Das bedeutet ungesteuerte Zuwanderung. Diese Menschen kommen nach Ihrer Vorstellung auf den Arbeitsmarkt, ohne dass klar ist, in welchem Unternehmen sie Arbeit finden. Aufgrund meiner Erfahrung in der Ausländerpolitik in den letzten 15 Jahren sage ich: Das endet mit einer Zuwanderung in die Sozialsysteme und eben nicht mit einer Zuwanderung auf den Arbeitsmarkt. Das wollen wir nicht, lieber Kollege Wolff. ({9}) Unser geltendes Recht ermöglicht - das muss man den Menschen, die uns hier zuschauen, sagen - eine Vielzahl von Zugängen zum Arbeitsmarkt, indem sogar auf die Vorrangprüfung verzichtet wird. Bei uns gibt es die Zugangsmöglichkeit für die Höchstqualifizierten, die mehr als 85 000 Euro verdienen. Unabhängig von dieser Gehaltsgrenze gibt es bei uns die Zugangsmöglichkeit für ausländische Wissenschaftler und für Fachkräfte im internationalen Personalaustausch. Wir haben - entgegen dem, was Sie gesagt haben - den Arbeitsmarkt für Ingenieure aus den neuen EU-Beitrittsländern geöffnet. In all diesen Fällen bedarf es keiner Vorrangprüfung. Es stimmt auch nicht, was Sie über die Hochschulabsolventen gesagt haben. Jeder ausländische Student, der hier einen Abschluss macht, hat ein ganzes Jahr lang, für das er eine Aufenthaltserlaubnis bekommt, Zeit, um sich einen Arbeitsplatz in Deutschland zu suchen. Er kann in dieser Zeit sogar Arbeiten machen, die nicht seiner Qualifikation entsprechen, damit er seinen Lebensunterhalt bestreiten kann. Diese Maßnahme ist geeignet, um zu erreichen, dass diejenigen, die wir ausgebildet haben, auf dem deutschen Arbeitsmarkt in qualifizierte Positionen kommen. ({10}) Wir haben mit der Verabschiedung des Zuwanderungsgesetzes bereits vor über zwei Jahren eine völlig richtige Politik betrieben, Herr Kollege. ({11}) Ich stelle bei den Kollegen der Sozialdemokratie eine gewisse emotional-fonetische Zurückhaltung fest. ({12}) Lieber Herr Bürsch, Sie waren doch dabei, als wir über die Frage der Zuwanderung auf den Arbeitsmarkt im Rahmen der Zuwanderungsgesetzgebung diskutiert haben. Wir haben - das kann man hier im Plenum des Deutschen Bundestages ruhig sagen - angeboten, auch bei Berufsanfängern auf die Vorrangprüfung zu verzichten, wenn - Stichwort: Hochqualifizierte - ein Jahreseinkommen von mindestens 60 000 Euro erzielt wird. Wir sind also für eine Absenkung der Einkommensgrenzen eingetreten. Liebe Kollegen Veit, Wiefelspütz und Bürsch, Sie waren doch alle dabei, als der damalige Staatssekretär Andres in unsere Koalitionsvereinbarungen hineingeplatzt ist - dieses Wort hat in diesem Zusammenhang durchaus seine Berechtigung - und gesagt hat, selbst diese kleine Änderung nicht zuzulassen. ({13}) - Das ist eine tolle Sache. Herr Andres ist nicht mehr Staatssekretär. ({14}) - Mit Ihrem Zwischenruf behaupten zu wollen, Herr Müntefering und Herr Scholz hätten sich durch eine Personalentscheidung inhaltlich korrigiert, ist neben der Spur. - Herr Andres war noch nicht einmal bereit, diese kleine Änderung zuzulassen, und hat gesagt, im Bereich des Arbeitserlaubnisrechts sei da mit dem Arbeitsministerium überhaupt nichts zu machen. Die Sozialdemokraten sind in der Verantwortung, einmal zu klären, was ihre Position ist. Das ist eine Übung, die Sie in diesen Wochen reichlich praktizieren, vielleicht auch einmal im Hinblick auf das Zuwanderungsrecht. ({15}) Die Abwanderung von deutschen Fachkräften ist ein weiteres Argument dafür - das wird auch im Antrag der FDP angesprochen -, dass es nicht das Ausländerrecht ist, das dazu führt, dass wir im Kampf um die klugen Köpfe der Welt nicht besonders erfolgreich sind. ({16}) Es liegt zum Beispiel an der Sprache und daran, dass Unternehmen in Deutschland, anders als solche im Ausland, lieber Praktika als ordentliche Arbeitsverträge vergeben, und es hängt mit der Frage zusammen, wie viel man verdienen kann. Es liegt zudem an den Forschungsmöglichkeiten und vielen anderen Dingen, die mit dem Ausländerrecht und dem Aufenthaltsrecht nichts zu tun haben. ({17}) Angesichts von 3,3 Millionen Arbeitslosen darf der Arbeitsmarkt nicht unkontrolliert geöffnet werden. Die bestehenden Vorschriften ermöglichen es den Unternehmen, auf ausländische Fachkräfte zurückzugreifen, wenn der deutsche Arbeitsmarkt nichts hergibt. Ich will noch einmal betonen

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, ganz kurz.

Reinhard Grindel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003539, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

- ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin -, dass es niemandem hilft, wenn älteren Arbeitnehmern keine Chancen mehr gegeben werden und Aus- und Fortbildung nicht mehr erfolgen, dafür aber junge Leute, die noch nicht einmal eine konkrete Arbeitsplatzzusage haben, aus dem Ausland geholt werden. Das führt zu einer Zuwanderung in die Sozialsysteme, aber hilft den deutschen Unternehmen nicht. Dies wollen wir nicht, gerade auch im Interesse der Ausländer, die bei uns in Deutschland Ausbildungs- und Arbeitsplätze suchen. Herzlichen Dank. ({0})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächste Rednerin ist die Kollegin Sevim Dağdelen für die Fraktion Die Linke. ({0})

Sevim Dağdelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003746, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor 15 Jahren haben Sie, meine Damen und Herren von SPD, CDU/CSU und FDP, mit Ihrer Asylrechtsreform das Grundrecht auf Asyl faktisch abgeschafft. ({0}) - Das hat sehr viel damit zu tun, Herr Edathy. - Seitdem führen Sie die migrationspolitische Debatte angeregter als je zuvor auf der Grundlage der Nützlichkeit der Menschen, der Gesetzmäßigkeiten kapitalistischer Verwertungslogik. Alles muss sich rechnen. Menschen, gleichgültig ob In- oder Ausländer, werden eingeteilt in Leistungsträger - also nützliches Humankapital - und in „Unnütze“, die keinen Gewinn bringen. Die FDP zeigt sich mit ihrem aktuellen Antrag zur Steuerung von Zuwanderung durch ein Punktesystem als herausragender Vertreter dieser menschenverachtenden Logik. ({1}) Das heißt nämlich im Klartext, dass Menschen nach betriebswirtschaftlichen Merkmalen vermessen werden. Im Jahr 15 nach dem Brandanschlag in Solingen scheint es salonfähig und ohne Hemmungen möglich zu sein, Menschen nach Kosten-Nutzen-Kalkül zu selektieren. Ich bin empört über diese Haltung. Die Linke lehnt sie selbstverständlich ab. ({2}) Die Linke ist für Migration; in unserem Antrag aus dem letzten Jahr mit dem Titel „Für Humanität und Menschenrechte statt wirtschaftlicher ‚Nützlichkeit’ als Grundprinzipen der Migrationspolitik“ haben wir das auch dargelegt. Wir sind dagegen, dass Menschen durch ein Punktesystem ein Wert zugemessen wird und abhängig vom erzielten Punktewert ihre jeweiligen Rechte bemessen werden. ({3}) Wir akzeptieren keinesfalls, dass Migrantinnen und Migranten nach Qualifikation und Arbeitsmarktlage in „Nützliche“ und „Unnütze“, in „Erwünschte“ und „Unerwünschte“ eingeteilt werden. Das Punktesystem, Herr Kollege Edathy, zementiert und legitimiert diesen gesellschaftlichen Status quo und damit die soziale Ungleichheit; denn Qualifizierung und Ausbildung werden gegen das Recht auf Migration ausgespielt. Sie reden von Punkten, meine Damen und Herren. Ich rede von Menschenrechten und Humanität. ({4}) Wir lehnen eine Bewegungs- und Einreisefreiheit nur für die Gebildeten und die Reichen ab. ({5}) Die FDP gibt mit dem Punktemodell die ihr eigene, nämlich dem Kapital verpflichtete, Antwort auf die wirtschaftlichen, demografischen und sozialen Herausforderungen. Dieses Modell folgt auch dem EU-weiten Trend. Es existieren unterschiedliche Konzepte, am wirtschaftlichen Nutzen orientierte Modelle - von Frankreich bis Italien. Aber ob das Kind nun „Greencard“, „temporäre Migration“ oder auch „zirkuläre Migration“, „Bluecard“ oder „Punktesystem“ heißt, ist egal. Die Konzepte sprechen allesamt die Sprache der nationalen Kosten-Nutzen-Kalkulation, und das lehnen wir, wie gesagt, ab. Dass Hochqualifizierte und Qualifizierte weniger Hürden auf dem Weg zu einem dauerhaften Aufenthalt mit rechtlicher und sozialer Absicherung haben, steht fest. Übel dran sind aber die Menschen, die zur Überbrückung von saisonalen Engpässen im Niedriglohnsektor eingestellt werden. Das ist nichts Neues. Das ist die zwingende Konsequenz aus der neoliberalen Logik, die Sie heute dartun: Alles für den Wirtschaftsstandort Deutschland, aber bitte nicht auf Kosten unserer nationalen Sicherungssysteme und auch nur, wenn die Anpassung an die deutsche Leitkultur gegeben ist! - Es geht um die alte Verbindung zwischen nationalistischem und ökonomischem Kalkül. Ziel des Punktesystems soll die wirksame Bekämpfung des von der Wirtschaft beklagten Fachkräftemangels sein. Herr Grindel hat mir da vorgegriffen. Der sogenannte Fachkräftemangel ist umstritten. Eine Untersuchung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit hat 13 500 Betriebe einbezogen. Die Studie hat ergeben, dass es keinen flächendeckenden Fachkräftemangel gibt. Der Wirtschaft - so diese Studie - gehe es offenbar vor allem um eine schnellere Besetzung offener Stellen und die Verhinderung höherer Lohnzahlung an die inländischen Fachkräfte. Es geht also um Lohndumping. Kein Wort hier darüber, dass der beklagte Fachkräftemangel hausgemacht und auch politisch gewollt ist! Seit Jahren wird die Wirtschaft dafür belohnt, dass sie die Jugendlichen nicht mehr ausbildet. Kein Wort über die massiven Verbote und Einschränkungen für hier lebende Migrantinnen und Migranten bei der Ausbildung und auch bei der Erwerbsarbeit! Kein Wort auch über die halbe Million Akademikerinnen und Akademiker, deren Abschlüsse hier nicht anerkannt werden! Tatsache ist, dass die FDP den Unternehmen auch weiterhin die gesellschaftlichen Kosten für die schulische und berufliche Ausbildung ersparen möchte. Da passt das Punktesystem gut. Was wir zur Lösung der sozialen Herausforderungen in der Bundesrepublik und auch in Europa stattdessen brauchen, sind Mindeststandards - Mindeststandards für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, ob sie nun aus Deutschland, aus Europa oder aus Staaten in anderen Teilen der Welt kommen. ({6}) Was wir mit Sicherheit nicht brauchen, ist das Punktesystem. Sozialdumping hat nichts mit Zuwanderung zu tun. Das sehen Sie auch an den 1-Euro-Jobs, die es in Deutschland flächendeckend gibt. ({7}) In der EU bzw. in der Bundesrepublik muss endlich dafür gesorgt werden, dass am gleichen Ort für gleiche Arbeit auch der gleiche Lohn gezahlt wird. Das fordert auch der DGB. Deshalb: Her mit dem gesetzlichen Mindestlohn! ({8}) Erhöhen Sie die Erwerbsquote von Frauen in diesem Bereich! ({9}) - Sehen Sie sich die Studie vom IAB an! Wenn Sie das tun, werden Sie feststellen, dass der Fachkräftemangel in einem Mangel an jungen männlichen Ingenieuren besteht. Wir müssen die Erwerbsquote von Frauen in diesem Bereich steigern; denn die Frauen sind es, die arbeitslos sind und nicht in diesen Beschäftigungsbereich aufgenommen werden. Sorgen Sie endlich für eine Ausbildungsplatzumlage, damit Jugendliche nicht ohne Berufsausbildung bleiben! Ich will es nicht akzeptieren, dass circa 15 Prozent der Jugendlichen in diesem Land keine Berufsausbildung haben; anscheinend haben Sie sich damit abgefunden. 80 000 junge Menschen jährlich verlassen die Schule ohne Schulabschluss. Ich will mich damit nicht abfinden. Ich möchte eine Reformierung des Schulsystems und der Schulstrukturen. ({10}) Es geht nicht an, immer nur nach jungen, männlichen, dynamischen, gesunden Ingenieuren im Ausland Ausschau zu halten! ({11}) Schaffen Sie die soziale Ungleichheit beim Hochschulzugang ab - mit bundesweiten Regelungen zur Hochschulzulassung können Sie das erreichen -, ({12}) und schaffen Sie vor allen Dingen auch die Studiengebühren ab! Bauen Sie die Studienplatzkapazitäten aus, und öffnen Sie die Hochschulen auch für nichttraditionelle Studierende! Herr Röspel - das ist ein Abgeordneter der SPD - hat bei der Debatte über den Forschungsbericht heute meines Erachtens zutreffenderweise gesagt: Es kann doch nicht sein, dass ein Meister nicht studieren darf, aber der Abiturient schon. Ich sehe da keinen Unterschied. Warum sollen Absolventinnen und Absolventen aus dem Bereich der beruflichen Bildung nicht studieren und sich damit zu hochqualifizierten Fachkräften weiterbilden können? Tun Sie endlich auch etwas für die Anerkennung im Ausland erworbener Abschlüsse, und setzen Sie sich für die Abschaffung der Arbeits- und Ausbildungsverbote für Flüchtlinge ein! ({13}) Meine Damen und Herren, ich weiß, dass die neoliberale Einheitsfront von FDP, SPD und Grünen ({14}) ein Punktesystem unterstützt. Wenn Sie sich von der FDP aber nicht nur mit den Lippen zu Art. 1 des Grundgesetzes bekennen wollen, sollten Sie sich gefälligst dafür schämen, dass Sie so einen menschenverachtenden Antrag eingebracht haben. ({15})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Dr. Michael Bürsch das Wort.

Dr. Michael Bürsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003018, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Nach diesem erfrischenden Rundumschlag zu Fragen, über die wir heute eigentlich nicht reden, komme ich zum eigentlichen Thema, ({0}) nämlich „Zuwanderung durch ein Punktesystem steuern“. ({1}) Ich nutze die Gelegenheit, Frau Kollegin Dağdelen, Herr Kollege Grindel und Herr Kollege Wolff, aufzuklären, worum es überhaupt geht. Es geht nicht um Neoliberalismus. Es geht auch nicht um Menschenverachtung. ({2}) Sevim DaðdelenSevim Dağdelen Es geht um das, was so vorbildliche Länder wie die USA, Neuseeland und Australien - es gäbe noch viele weitere, die Sie beschimpfen können, Frau Dağdelen schon seit vielen Jahren machen. ({3}) Ich nutze gerne die Gelegenheit, aufzuklären, was wir unter einem Punktesystem verstehen und was wir nicht darunter verstehen. Irgendwie erinnert mich diese Debatte an den berühmten Film: „Und täglich grüßt das Murmeltier“. Wir debattieren über das Thema Punktesystem in regelmäßigen Abständen. Immer wieder stellt sich heraus, dass es große Missverständnisse, worüber wir reden, auf jeden Fall aber unterschiedliche Auffassungen darüber gibt, worum es geht. Es geht nicht, Herr Kollege Grindel, um die Deckung eines kurzfristigen Bedarfs. In Situationen, wo kurzfristig Arbeitskräftebedarf besteht, kann dieser Bedarf im Rahmen der bestehenden Regelungen und Gesetze gedeckt werden. ({4}) Darum geht es bei der sogenannten Punkteregelung also nicht. Es geht vielmehr um eine langfristige Steuerung. Letztlich geht es um die Frage, in welcher Gesellschaft wir leben wollen. Wollen wir in einer Gesellschaft leben, die wie eine Wagenburg aufgebaut ist, die die Schotten dicht macht und keinen hereinlässt, damit bloß niemand unsere Sozialsysteme ausbeutet? Oder wollen wir in einer globalisierten Welt und angesichts unserer exportorientierten Wirtschaft in einem möglichst breit akzeptierten Rahmen die Türen öffnen? Dafür, um zu einer weltoffenen Gesellschaft zu werden, zu einer Willkommensgesellschaft, wie der Kollege Wolff gesagt hat, ist diese immer wieder angeführte und missverstandene Punkteregelung gedacht. Was wollen nun die Sozialdemokraten? Ich brauche hier nicht das Rad neu zu erfinden. Das, was wir wollen, ist schon von der Vorgängerregierung dieser Großen Koalition, nämlich der vorzüglichen rot-grünen Koalition, ({5}) 2001/2002 entwickelt worden. Unsere gesetzliche Vorgabe lautet folgendermaßen: Das Auswahlverfahren erfolgt im wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Interesse der Bundesrepublik Deutschland und dient der Zuwanderung qualifizierter Erwerbspersonen, von denen ein Beitrag zur wirtschaftlichen Entwicklung und die Integration in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland zu erwarten sind. Wenn Sie, Herr Kollege Grindel, auf ein Mitglied einer früheren Bundesregierung in gehobener Stellung abheben, das eine Verbesserung zum Beispiel beim Zuzug von Arbeitskräften verhindert haben soll, dann entgegne ich Ihnen: Die Sozialdemokratische Partei besteht aus 500 000 Mitgliedern. Gerd Andres ist ein Mitglied, das in früherer Zeit an entscheidender Stelle gestanden hat. ({6}) Klaus Brandner, der jetzt hier sitzt, ist anderer Auffassung. Insofern bringt es nichts, wenn wir uns an einer Person abarbeiten. Die SPD ist für eine Öffnung. Wir reden nun aber nicht über Arbeitskräfte, sondern über die gesamte, nachhaltige, langfristige Perspektive. ({7}) - Wenn Sie dazu etwas fragen wollen, dann wäre ich bereit, die Frage zuzulassen.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Grindel, bitte sehr.

Dr. Michael Bürsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003018, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Darf ich noch sagen, ob ich die Frage zulasse?

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Sie haben es schon von sich aus gesagt, ohne dass ich Gelegenheit hatte, Sie zu fragen.

Reinhard Grindel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003539, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich kann nur sagen: Die Wahrheit ist konkret, Genosse. ({0}) Können Sie bestätigen, dass wir - und zwar nicht in der letzten, sondern in dieser Legislaturperiode - im Rahmen des Zuwanderungsänderungsgesetzes als Union bereit waren, uns mit Ihnen auf eine Änderung zu verständigen, nämlich hochqualifizierten jugendlichen Berufsanfängern ohne Vorrangprüfung den Zugang zum Arbeitsmarkt zu ermöglichen, indem wir die Höchstverdienstgrenze auf 60 000 Euro senken, und dass nicht irgendein Einzelner, sondern die gesamte SPD-Fraktion nicht bereit war, das zu vereinbaren, und dass es auch ansonsten zu keiner Änderung bei der Frage des Arbeitsmarktzugangs gekommen ist? Wo waren Ihre Vorschläge, beim Zugang zum Arbeitsmarkt auch nur irgendetwas zu ändern? Stimmen Sie mir zu, dass da mit den Sozialdemokraten, und zwar wegen des Arbeitsministeriums, keine Änderung zu machen war?

Dr. Michael Bürsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003018, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wenn Sie die Frage in dieser Allgemeinheit stellen, sage ich: Nein. Es gab maßgebliche Sozialdemokraten - einige sitzen hier im Raum -, die der gleichen Meinung waren wie Sie und sogar eine weitergehende Herabsetzung der Höchstverdienstgrenze im Auge hatten, nämlich nicht auf 60 000 Euro, sondern vielleicht auf 45 000 Euro. Das war, wie es in der Politik manchmal der Fall ist, zu einem bestimmten Zeitpunkt mit einem Akteur am Tisch nicht machbar. ({0}) Die Zeit ändert sich. Man gewinnt ja auch an Überzeugung. Das ist doch unser Geschäft, Herr Grindel. Wir müssen für unsere Überzeugungen werben. Wenn wir bei einem Punkt in der Minderheit sind, dann überzeugen wir die anderen. Jetzt hätten wir dafür, glaube ich, eine Mehrheit, wenn die CDU an dieser Stelle ihr eigenes Dresdner Programm ernst nähme und sagte: Wir wollen eine langfristige Steuerung der Zuwanderung; ({1}) wir wollen nicht nur über den kurzfristigen Arbeitskräftebedarf reden. Ich komme zurück zu dem eigentlichen Thema. Wir reden über die langfristige Steuerung. Ein Instrument zur langfristigen Zuwanderungssteuerung muss, verehrte Kollegin Dağdelen - dies ist ja Ihre erste Legislaturperiode; da kann man noch eine gewisse Lernfähigkeit voraussetzen -, ({2}) immer auf die Akzeptanz in der eigenen Bevölkerung Rücksicht nehmen. Sie können doch nicht sagen: Alle Völker dieser Welt, wenn ihr nach Deutschland wollt, kommt bitte zu uns! Ob wir 80, 160 oder 240 Millionen sind, ist uns egal; wir können auch das tragen. - Die Zuwanderung muss - das ist eine gesellschaftliche Erfahrung, nicht nur in Deutschland - von Akzeptanz getragen sein. Sie können einen solchen Gesellschaftsvertrag nicht überdehnen, sondern müssen darauf achten, dass die Zuwanderung bei aller Willkommenskultur noch von der Allgemeinheit, von den Menschen bei uns, von Arbeitslosen und anderen, akzeptiert werden kann. Das ist ein wesentliches Element. Der Kriterienkatalog - man kann es auch so nennen, wenn das Wort „Punkteregelung“ nicht so viel Zustimmung findet - soll für die Frage „Zuwanderung oder nicht“ folgende Kriterien beinhalten - da stehen wir nicht allein, sondern das sind die Erfahrungen aus vielen Ländern, die wir in diesem Antrag aufgenommen haben -: Alter, schulische und berufliche Qualifikation, Berufserfahrung, Familienstand, Sprachkenntnisse, Beziehungen zur Bundesrepublik Deutschland und Herkunftsland. Außerdem müssten bestimmte Mindestbedingungen erfüllt werden wie gesundheitliche Eignung und die Fähigkeit zur Sicherung des Lebensunterhaltes. Das ist nicht menschenunwürdig, sondern eine Frage dessen, was unsere Gesellschaft wirklich akzeptieren will und akzeptieren kann. Die überparteilich besetzte Süssmuth-Kommission - damit komme ich zu einem Punkt von Ihnen, Herr Grindel - hatte schon 2001 ausdrücklich davon abgeraten, bei der dauerhaften Zuwanderung den aktuellen Bedarf am Arbeitsmarkt zu berücksichtigen. Die Erfahrungen in den klassischen Einwanderungsländern haben nämlich gezeigt, dass ein Arbeitsplatzangebot zwar den Start erleichtert, aber die langfristigen Beschäftigungschancen nicht deutlich erhöht. Sie haben sich vorhin auf andere Systeme, zum Beispiel aus Kanada, bezogen. Ich habe selber damals ein Gutachten zu 14 Einwanderungsländern in Auftrag gegeben, unter denen auch Kanada war. Sie haben das System falsch geschildert. Das kanadische Punktesystem, mit dem Fachkräfte ausgewählt werden, richtet sich seit 2003 fast gar nicht mehr nach dem konkreten Arbeitsmarktbedarf. Das heißt, ein Arbeitsplatzangebot oder eine Ausbildung in einem besonders nachgefragten Beruf können in einem Punktesystem zwar bestimmte Bonuspunkte erbringen; aber das allein sollte, sagen die Kanadier, nie die langfristige Aufenthaltsperspektive bestimmen. Kernpunkt einer Zuwanderungssteuerung durch Punkteregelung ist - da sehen wir allerdings einen Unterschied zwischen der SPD und der FDP -, dass wir den nach den aufgestellten Kriterien sorgfältig ausgewählten Einwanderern sofort und ohne Wenn und Aber eine Niederlassungserlaubnis geben, also nicht eine Einwanderung auf Probe. Wenn wir eine offene Gesellschaft sein wollen und gerade hochqualifizierte Fachkräfte zu uns holen wollen, dann müssen wir aus vollem Herzen deutlich machen, dass sie und auch ihre Familien bei uns willkommen sind. Das ist der kleine Unterschied zur FDP. Machen Sie also die Tür nicht nur einen kleinen Spalt auf - diese Willkommensgeste reicht nicht aus -, ({3}) sondern machen Sie deutlich, dass diese Menschen bei uns wirklich willkommen sind und auch eine Niederlassungserlaubnis bekommen. Das heutige Thema hat auch etwas mit Anerkennung zu tun. Bei der Frage, in welcher Gesellschaft wir leben wollen, geht es auch um gesellschaftlich-kulturelle Komponenten der Zuwanderung. Wir haben beim Werben um die besten Köpfe nur dann eine Chance, wenn die Rahmenbedingungen stimmen und wenn sich Deutschland für alle erkennbar als einwanderungsfreundliches und weltoffenes Land präsentiert. Ich habe ein paar namhafte Zeugen für diese Auffassung, die nicht im Verdacht stehen, der SPD anzugehören. Professor Klaus Zimmermann, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, hat sich entsprechend geäußert. Professor August-Wilhelm Scheer, Präsident des Bundesverbandes Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien, ist der Ansicht, dass das Leitbild für die Zuwanderung nach Deutschland künftig die dauerhafte Niederlassung und Integration sein muss. Nur dann lohne sich die Investition in Integration, und nur dann würden die Potenziale des Arbeitsmarktes voll ausgeschöpft. Eine befristete Aufenthaltserlaubnis stellt, wie ich bereits geschildert habe, kein ausreichendes Signal dar. Bei diesem Thema gibt es einen weiteren Aspekt. Es gibt nämlich auch einen Weg in die andere Richtung: Gut ausgebildete Deutsche mit Einwanderungsgeschichte wollen nicht mehr in unserem Land bleiben und orientieren sich in Richtung Ausland. Unter der Überschrift „Jung, gut und unerwünscht“ hat der Spiegel in der letzten Woche über hochqualifizierte türkisch17184 stämmige Akademiker berichtet, die auswandern, weil sie sich bei uns nicht heimisch und nicht anerkannt fühlen. In dem Artikel wird auch aus einer wissenschaftlichen Befragung unter türkischen und türkisch-stämmigen Akademikern zitiert, von denen knapp drei Viertel in der Bundesrepublik geboren wurden. Fast 80 Prozent dieser Befragten bezweifeln danach, dass in Deutschland eine glaubwürdige Integrationspolitik betrieben wird. Das muss man zur Kenntnis nehmen. Man mag überrascht sein, und manches ist vielleicht erklärbar. Aber insgesamt gesehen ist diese Entwicklung nicht sehr erfreulich. Allein dieses Beispiel zeigt: Es genügt nicht, über Zuwanderung nur gelegentlich wegen eines kurz- oder mittelfristigen Fachkräftebedarfs zu diskutieren und darauf die Forderung nach einer Punkteregelung zu gründen. Es genügt generell nicht, Zuwanderung ausschließlich aus der wirtschaftspolitischen Perspektive zu betrachten. Es kommen - das haben wir in diesem Hause schon häufig diskutiert - nicht nur Arbeitskräfte oder, wie es vor 50 Jahren hieß, Gastarbeiter zu uns, sondern es kommen Menschen mit ihrem eigenen Schicksal und mit ihrem eigenen kulturellen Hintergrund zu uns. Wenn wir sie hier aufnehmen wollen, müssen wir ihnen signalisieren, dass sie willkommen sind. Zuwanderung und Integration gehören zusammen. Das ist eigentlich eine selbstverständliche Erkenntnis. Aber wir leben das noch nicht. Herr Grindel, die Initiative „Nationaler Integrationsplan“ ist sicherlich erfreulich und stellt einen enormen Fortschritt dar; das wird von uns anerkannt. Auch die Tatsache, dass inzwischen 90 Prozent der Anhänger von CDU und CSU Deutschland zu einem Einwanderungsland erklären, ist erfreulich. Es bleiben zwar noch 10 Prozent, die anderer Meinung sind. ({4}) Aber das ist immerhin ein Fortschritt. Es hat sich schon etwas bewegt. An dieser Stelle gilt es weiterzuarbeiten. Politik allein kann Integration und Zuwanderung nicht zusammenbringen. Das ist zum Teil eine gesellschaftliche Aufgabe; auch darauf habe ich an dieser Stelle schon verschiedentlich hingewiesen. Für mich ist dieses Problem also nicht allein von Staats wegen zu lösen. Der Nationale Integrationsplan geht zu Recht davon aus, dass die Bürgergesellschaft gefordert ist. Zuwanderung und Integration finden in der Gesellschaft statt, also vor Ort, beispielsweise in der Feuerwehr, in den Sportvereinen, in der Polizei und im öffentlichen Dienst. Aber wir müssen es leben. Das ist eine Aufgabe der Bürgergesellschaft. Der Staat kann ein gedeihliches Zusammenleben der verschiedenen Bevölkerungsgruppen nicht dekretieren. Er kann allenfalls fördern, was er zur Integration für nötig hält. Da tun wir sehr viel. Dann muss aber Integration - das ist, wie ich finde, eine Generationenaufgabe - aus der Mitte der Gesellschaft wachsen. Insoweit hat die Bundesregierung auch an anderer Stelle Gutes bewirkt. Die Initiative Zivil-Engagement ist durchaus förderlich und integrationsunterstützend. In Zukunft - das ist mein Schlusswort - müssen wir aus meiner Sicht viel stärker darauf achten, dass die Themen Zuwanderung und Integration zusammen betrachtet werden und daraus eine Gesamtperspektive wird. Daran sollte sich unsere Politik ausrichten. Sie sollte längerfristig denken und dann die Möglichkeiten ausschöpfen, die wir mit einer Zugangsregelung haben. Niemand muss befürchten, dass jedes Jahr Millionen Menschen zu uns kommen. Wer die Regelung in § 20 des Entwurfs eines Zuwanderungsgesetzes von 2001 richtig gelesen hat, weiß, dass eine Beschränkungsregelung vorgesehen war: Das Auswahlverfahren wird nur durchgeführt, wenn das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge und die Bundesanstalt für Arbeit nach Beteiligung des Zuwanderungsrates … gemeinsam eine Höchstzahl für die Zuwanderung im Auswahlverfahren festgesetzt haben. Das kann auch heißen, dass man für ein Jahr einmal eine Zulassung von null festlegt. Auch das ist möglich. Dies ist also ein Thema, das gesamtgesellschaftlich zu betrachten ist. Ich stelle heute fest: Es hat ein wenig mit der Ampel zu tun: Rot ist der Meinung, dieser Weg ist der richtige. ({5}) Auch Grün ist dieser Meinung. Wenn auch Gelb dieser Meinung ist, dann haben wir an dieser Stelle schon einmal in guten Teilen des Hauses eine Übereinkunft. Da werden wir die CDU/CSU gerne noch mit hineinnehmen. Danke schön. ({6})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Josef Philip Winkler für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Josef Philip Winkler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003660, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich will eingangs etwas zu Frau Dağdelen von der Linksfraktion sagen. Die Art und Weise der Auseinandersetzung in dieser Frage passt mir überhaupt nicht. ({0}) Das war völlig unter Niveau. Ich bin gerne bereit, dem Kollegen Wolff von der FDP und seiner Fraktion alles Mögliche regelmäßig und von mir aus auch wöchentlich von diesem Pult vorzuwerfen. Aber ihm, weil er ein Zuwanderungspunktesystem fordert und dies wie in dem vorliegenden Antrag begründet, vorzuwerfen, er und seine Fraktion verhielten sich menschenverachtend, ist unter aller Kanone. Das ist meiner Meinung nach unparlamentarisch. ({1}) Die Einordnung in die neoliberale Einheitsfront verblasst dagegen. Das perlt an mir wirkungslos ab; das muss ich aushalten. ({2}) Jetzt zur Koalition. Das Theater, das Sie hier in regelmäßigen Abständen veranstalten, ist allerdings auch nicht erheiternd, jedenfalls nicht für diejenigen, die damit regelmäßig zu tun haben müssen wie wir. Sie stocken Ihre Redezeit, die sowieso schon zwei Drittel einer Debatte ausmacht, noch durch wechselseitige Gegenfragen auf vier Fünftel auf und unterhalten sich dann über die Interna Ihrer Verhandlungsrunden und darüber, welcher Staatssekretär wegen welcher dummen Bemerkungen und wegen welcher Sitzung, in die er hineinplatzte, abgesägt wurde oder nicht. Das alles wollen wir gar nicht wissen. ({3}) Schicken Sie uns - Sie werden sich sowieso nicht einig doch in Zukunft einfach direkt die Protokolle Ihrer internen Koalitionsgespräche. ({4}) Dann können wir uns das hier im Plenum ersparen. ({5}) Aber jetzt zum Thema Punktesystem. Ich will einmal den Kollegen Dr. Uhl - er ist gerade verhindert; er war eben noch im Haus - zitieren. Wir wissen ja aus der Debatte, dass die Union, zumindest der CDU-Part der Unionsparteien, ein solches bereits auf einem Bundesparteitag beschlossen hatte. Er allerdings - nun von der CSU - hält dieses Punktesystem für „Sozialismus, Planwirtschaft“. ({6}) Wörtliches Zitat: Das wäre die „freie Flutung“ des Arbeitsmarktes, eine faktische Aufhebung des Aufnahmestopps von 1972. So hat er sich im August letzten Jahres in der Welt zitieren lassen. Dazu muss ich sagen: Das ist genauso sachlich wie das, was wir heute von der Linksfraktion gehört haben. Man sollte sich in der Debatte nicht auf dieses Niveau herablassen. ({7}) In einigen Studien wird bezweifelt, dass es einen Arbeitskräftemangel gibt. Eine Vielzahl von Studien und vor allem eine Vielzahl der Stimmen aus den Wirtschaftsverbänden - heute wieder, also ganz aktuell, aus dem Bereich der IT-Industrie - belegen aber, dass es einen Fachkräftemangel gibt, und zwar bei den Hochqualifizierten. ({8}) Dem muss entgegengewirkt werden. Die geltenden rechtlichen Normen helfen offensichtlich nicht; denn sonst gäbe es diese Hilferufe nicht. ({9}) Die helfen nicht - ich sage es Ihnen -, weil auch ausgewandert wird. Sie elaborieren über die 60 000 bis 70 000 Menschen, die einwandern. Bei dieser Sache kommt es aber auf den Saldo an. In den zurückliegenden Jahren mussten wir immer wieder feststellen, dass der Saldo entweder gleich Null war bzw. ins Negative abzugleiten drohte. Angesichts dessen kann man doch nicht sagen: Die Rechtslage ist völlig in Ordnung; die müssten sich alle nur ein bisschen schlauer anstellen. ({10}) Nein, an dieser Stelle muss man nacharbeiten. ({11}) Mich würde auch interessieren, was das Wirtschaftsministerium dazu zu sagen hat und nicht nur die Abschottungsfuzzis vom Innenausschuss. Das ist eine Frage, die in den Bereich der Wirtschaftspolitik gehört. ({12}) - Ich habe überwiegend in Richtung dieser Hälfte des Hauses geschaut. Ich meinte nicht die FDP. Da hier die Frage aufkam, wen ich damit meine, möchte ich Ihnen diesen Tipp mit auf den Weg geben. Wenn man über das Punktesystem debattiert, sollte man sich genau informieren. Der Innenausschuss hat sich in Kanada und Australien kundig gemacht. Das war sehr interessant. Dort wird zwischen dem Bereich der Flüchtlingspolitik - wir sind da für eine humanitäre Politik; das ist heute nicht mein Thema, man muss das völlig voneinander trennen - und dem Bereich des Arbeitsmarktzugangs und der Zuwanderung in den Arbeitsmarkt sehr genau unterschieden. Das sind zwei unterschiedliche Bereiche. Dass die Linksfraktion das lieber durcheinanderwirbeln würde, ist zwar in Ordnung, ({13}) hier liegt aber etwas anderes auf dem Tisch. In Kanada, Australien, Neuseeland und in Großbritannien, wo es dieses System auch schon einmal gab, ist es nicht so, wie Herr Grindel gesagt hat. Die Einheimischen werden nicht mit 50 Jahren auf das Altenteil geschoben und von jungen, dynamischen und erfolgreichen Ausländern verdrängt. Nein, das ist nicht so, es war nicht so, und es würde auch in Deutschland nicht so sein, wenn wir ein Punktesystem einführen würden. ({14}) Zu beachten ist allerdings der sogenannte Braindrain, das Ausbluten von Entwicklungsländern. Diesen Aspekt könnte man in ein Punktesystem einbauen. Der Vorschlag der FDP enthält eine entsprechende Regelung zwar nicht, da wir aber vor den Ausschussberatungen stehen, können wir an diesem System weiterarbeiten. Natürlich kann man nicht akzeptieren, dass in Großbritannien mehr Ärzte und Krankenschwestern arbeiten, die in den Universitäten von Malawi ausgebildet wurden, als in Malawi selbst, also in Afrika. Das ist inakzeptabel. Die Zuwanderungspolitik der Länder, die diese Ärzte und Krankenschwestern aufgenommen haben, ist nicht korrekt. Man könnte ein Malussystem für die Schwellenund Entwicklungsländer einführen, die selbst einen Mangel an solchen Arbeitskräften haben. Man könnte Minuspunkte vergeben, sodass Zuwanderung aus diesen Ländern faktisch nicht gegeben wäre. ({15}) Man muss aufpassen, dass es nicht zum Braindrain kommt, auch wenn ein Braindrain in Ländern wie Indien nicht festgestellt wird. Indien ist aber auch kein klassisches Entwicklungsland. Ich komme noch einmal auf den Antrag der FDP zu sprechen. Ich bedauere - wir haben darüber an anderer Stelle schon einmal diskutiert -, dass der Bundestag und der Bundesrat entsprechend Ihrem Vorschlag nicht über diese Punkte debattieren sollen. Sie wollen das an ein unabhängiges, wie auch immer geartetes Gremium abgeben. Dieses Gremium soll entscheiden. Ich finde, diese Frage ist politisch so brisant, dass sie in der Politik debattiert werden sollte. Über diese Frage sollte, wie es in den alten Systemen, über die wir in diesem Haus schon debattiert haben, vorgesehen war, von der Politik entschieden werden, und zwar einvernehmlich mit den Ländern, am besten jährlich. Dafür müssten wir eigentlich die Kraft haben. Wenn es nach uns ginge, würde das Punktesystem unter dieser Maßgabe eingeführt werden und nicht die Form haben, die die FDP vorgeschlagen hat. Ich hoffe, dass wir darüber konstruktiv diskutieren können. ({16}) Ich bitte darum, dass sich die Koalitionsfraktionen dieses Mal vor der Ausschusssitzung darüber abstimmen, was im Ausschuss besprochen werden soll. ({17})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Stephan Mayer von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Stephan Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003589, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine werten Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Es ist doch vollkommen unstreitig, dass wir in manchen Branchen, in manchen Wirtschaftszweigen in Deutschland einen Fachkräftemangel haben. Aber - dies gehört zur gesamten Wahrheit - wir haben in Deutschland auch arbeitslose Fachkräfte. Stand Mai 2008, durch die Bundesagentur für Arbeit festgestellt: Es gibt in Deutschland beispielsweise 22 075 arbeitslose deutsche Ingenieure, 3 925 arbeitslose Chemiker und Physiker und allein 19 018 arbeitslose Techniker. Dieses Problem muss man im Gesamtkontext genauso berücksichtigen wie die Notwendigkeit, dass wir singulär und selektiv in manchen Branchen, in manchen Wirtschaftszweigen mit Sicherheit einen Fachkräftemangel haben und in der Zukunft - das möchte ich durchaus konstatieren - vielleicht einen noch größeren Fachkräftemangel bekommen. Aber - auch dies gehört zur Wahrheit - wir haben im Jahr einen Aderlass von über 100 000 deutschen Fachkräften, die Deutschland verlassen. ({0}) Werter Kollege Wolff, es kann doch wohl nicht mit dem deutschen Ausländer- und Zuwanderungsrecht zusammenhängen, dass deutsche Fachkräfte den Standort Deutschland offenbar für nicht mehr attraktiv genug halten und ins Ausland abwandern. ({1}) Die Große Koalition hat in der Vergangenheit einiges Sinnvolles und Sachgerechtes vorangebracht, um unser Zuwanderungsrecht moderner und flexibler zu gestalten. Insbesondere die Bundesregierung hat durch die Beschlüsse von Meseberg im vergangenen Sommer einiges getan, um ein flexibleres, moderneres System auf die Beine zu stellen. So ist es zum Beispiel einem High Potential, einem Hoch- oder Höchstqualifizierten, der in Deutschland mehr als 85 500 Euro pro Jahr verdient und aus einem Nicht-EU-Land kommt, möglich, ohne individuelle Vorrangprüfung einen Arbeitsplatz in Deutschland zu bekommen und sogar eine Premiumbehandlung angediehen zu bekommen, also eine Niederlassungserlaubnis und eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis ausgestellt zu bekommen. Das heißt, für denjenigen, der mehr als 85 500 Euro pro Jahr verdient, gibt es keine individuelle Vorrangprüfung. Er bekommt eine Niederlassungserlaubnis, das heißt, er kann sich unbefristet, dauerhaft in Deutschland zur Arbeitsaufnahme aufhalten. Auch für diejenigen, die weniger als 85 500 Euro pro Jahr verdienen, gibt es durchaus Möglichkeiten, zum Beispiel auch für EU-Ausländer, die aus den zwölf neuen EU-Ländern stammen. Wenn die Arbeitsmarktprüfung der Bundesagentur für Arbeit zu dem Ergebnis kommt, dass ganz konkret ein Arbeitskräftebedarf vorliegt, werden sie gegenüber Drittstaatlern bevorzugt. Ich muss sagen, dass ich die Wirtschaft in der Verpflichtung sehe. Wenn es sich wirklich um Hoch- oder Höchstqualifizierte handelt, dann muss natürlich auch ein Gehalt Stephan Mayer ({2}) gezahlt werden, das diesem Status entspricht; sprich: mehr als 85 500 Euro. ({3}) Leider Gottes wird auch Folgendes in der Praxis zu wenig angewandt: Wenn in bestimmten Wirtschaftszweigen, in bestimmten Berufsgruppen ein Arbeitskräftebedarf besteht, gibt es für diejenigen, die weniger verdienen, die Möglichkeit, dass ganz sektoral Ausnahmeregelungen vorgenommen werden. Nach § 39 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 des Aufenthaltsgesetzes kann die Bundesagentur für Arbeit oder die entsprechende Regionaldirektion, wenn regionalbezogen ein Arbeitskräftebedarf besteht, die Genehmigung erteilen, dass schon unterhalb der Einkommensschwelle von 85 500 Euro auf die individuelle Vorrangprüfung verzichtet wird und für NichtEU-Ausländer die Einreise nach Deutschland erlaubt und natürlich auch die Arbeitsaufnahme ermöglicht wird.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Mayer, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Wolff?

Stephan Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003589, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Selbstverständlich, sehr gerne.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön, Herr Wolff.

Hartfrid Wolff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003866, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Mayer, Sie haben jetzt aufgezählt, was alles schon hervorragend funktioniert. Mich wundert, weshalb nicht nur hier im Hause, sondern auch von der gesamten Wirtschaft, vielen Verbänden und unter anderem auch den Gewerkschaften ein Punktesystem gefordert wird, das deutlich unbürokratischer und einfacher gestaltet ist. Ich habe den Eindruck - Sie müssen mir sagen, ob das stimmt -, dass Sie behaupten, dass die Forderungen, die Sie jetzt darstellen, nicht reichen. Die Stimmung in der Bevölkerung ist eine andere. Oder sehen Sie das anders? ({0})

Stephan Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003589, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Werter Herr Kollege Wolff, weshalb die Gewerkschaften oder Wirtschaftsverbände eine bestimmte Position haben, dürfen Sie nicht mich fragen, sondern das müssen Sie die jeweiligen Organisationen und Verbände fragen. Ich glaube, es gilt, mit einem Vorurteil und einer sich nachhaltig verfestigenden Meinung aufzuräumen, nämlich dass wir allein durch eine verstärkte, ungesteuerte und schrankenlose Zuwanderung nach Deutschland den durchaus sektoral vorhandenen Fachkräftemangel in Deutschland beheben könnten. ({0}) Das Gegenteil ist der Fall. Warum das Punktesystem, das Sie mit diesem Antrag wieder zur Diskussion stellen, so ungeeignet ist, möchte ich Ihnen, sehr geehrter Herr Wolff, sehr gerne darlegen. Dieses Punktesystem ist vollkommen überaltert, überzogen bürokratisch, ({1}) kompliziert und vor allem außerordentlich schwerfällig. Mich wundert wirklich, dass gerade von einer Partei wie der FDP, ({2}) die sich immer als Vorkämpfer für Verwaltungsvereinfachung und Entbürokratisierung geriert, ein Punktesystem favorisiert wird, mit dem genau das Gegenteil dessen erreicht wird. Es müssen verschiedene Kriterien festgelegt werden: ({3}) Aus welchem Land kommt der Betreffende? Hat er Deutschkenntnisse? Wie ist sein Bildungsstand? Welche Berufserfahrungen hat er? Wie sind seine Beziehungen zu Deutschland? ({4}) Diese Kriterien wollen Sie von Sachverständigen überprüfen und in regelmäßigen Abständen evaluieren lassen. Außerdem wollen Sie, dass diese Kriterien jeweils noch auf die Ebene der einzelnen Länder heruntergezoomt werden. Darüber hinaus sind Sie der Auffassung, dass eine regelmäßige Überprüfung der zur Anwendung kommenden Kriterien und der Mindestpunktwerte, die erreicht werden müssen, stattfinden sollte. Ich glaube, jedem, der sich diese Litanei bürokratischer Anforderungen vor Augen hält, leuchtet sehr schnell ein, dass dieses System außerordentlich starr, unflexibel, unheimlich kompliziert und deswegen in jeder Weise überaltert und anachronistisch ist. ({5}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, mittlerweile haben wir ein außerordentlich flexibles und modernes Zuwanderungsrecht. Ich möchte nur daran erinnern, dass die Bundesregierung in Meseberg den Beschluss gefasst hat, dass Ingenieure, auch Nicht-EUAusländer, die in den Bereichen arbeiten, in denen der Fachkräftemangel außerordentlich groß ist - in der Elektroindustrie, im Fahrzeugbau und im Maschinenbau -, ab dem 1. November vergangenen Jahres eine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis in Deutschland bekommen können, auch unter Verzicht auf eine individuelle Vorrangprüfung. ({6}) Stephan Mayer ({7}) Die Bundesregierung reagiert also auf den sektoral vorhandenen Fachkräftemangel. Es gibt einen weiteren Kritikpunkt am FDP-Antrag: Sie erwarten, dass Hoch- und Höchstqualifizierte - wenn es nach Ihnen ginge, dürften sie sogar ohne konkreten Arbeitsplatznachweis nach Deutschland einreisen - über Deutschkenntnisse verfügen, die lediglich dem Niveau B1 entsprechen. Das ist wirklich zu wenig. Dieses Niveau soll in Deutschkursen schon nach 600 Unterrichtsstunden erreicht werden. Dass Deutschkenntnisse auf diesem Niveau in keiner Weise ausreichend sind, um einer Berufstätigkeit nachzugehen, die der eines Hochoder Höchstqualifizierten entspricht, ({8}) leuchtet meines Erachtens jedem Verständigen ein. ({9}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte konstatieren, dass im Antrag der FDP gewisse Ansätze enthalten sind, die in die richtige Richtung gehen. Ich bin Ihnen, Herr Kollege Wolff, beispielsweise dankbar, dass Sie in Ihrem Antrag deutlich machen, dass das Heft des Handelns, was die Kompetenz zur Regelung der Zuwanderung in den nationalen Arbeitsmarkt betrifft, weiterhin in der Hand der Mitgliedsländer der Europäischen Union bleiben muss. Es darf nicht sein, dass die Europäische Kommission oder die Europäische Union insgesamt darüber befindet, nach welchen Kriterien in den deutschen Arbeitsmarkt eingereist werden darf. Wir haben zwar eine Europäische Union, aber wir haben 27 verschiedene Arbeitsmärkte in der Europäischen Union mit ganz unterschiedlichen Problemen und ganz unterschiedlichen Herausforderungen. Deswegen ist es richtig, dass der Deutsche Bundestag Wert darauf legt und klar zum Ausdruck bringt, dass wir weiterhin als nationaler Gesetzgeber darüber befinden wollen, nach welchen Kriterien und aufgrund welcher Regelungen in den deutschen Arbeitsmarkt eingereist werden darf. Des Weiteren bin ich Ihnen dankbar, dass Sie in Ihrem Antrag zum Ausdruck gebracht haben, dass es wichtig ist, das Thema der Vereinbarkeit von Familie und Arbeitstätigkeit stärker in den Fokus der Öffentlichkeit zu rücken. Was mich aber wundert, sehr geehrter Herr Kollege Wolff: Von den sieben Forderungen, die Sie als Schlussfolgerungen in Ihrem Antrag formulieren, betrifft nur eine einzige das Punktesystem, ({10}) während die sechs anderen Forderungen ganz andere Themen zum Inhalt haben. ({11}) Sie haben durchaus richtige Aspekte aufgegriffen, beispielsweise die Verbesserung der Vereinbarkeit von Beruf und Kindererziehung. Dafür hat die Bundesregierung bereits einiges getan. Als Beispiele nenne ich den verstärkten Ausbau der Kindertagesstätten und die Verbesserung der Beschäftigung älterer und erfahrener Fachkräfte. Ein wesentlicher Punkt ist: Es darf nicht sein, das jemand mit 50 oder 55 Jahren zum alten Eisen gehört und abgeschoben wird. Gerade angesichts der demografischen Entwicklung in Deutschland - sie findet allerdings nicht nur in Deutschland, sondern europaweit statt brauchen wir auch weiterhin das wertvolle Know-how der älteren Bevölkerung und der älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. ({12}) Ich bin Ihnen dankbar, sehr geehrter Herr Wolff, dass Sie auch deutlich gemacht haben, dass wir keine ungesteuerte Zuwanderung in die sozialen Sicherungssysteme wollen. In diesem Zusammenhang ist für mich ein Punkt auch ganz wesentlich: Ich habe zum Ausdruck gebracht, dass die Europäische Union mit ihrer BluecardRichtlinie vom 23. Oktober letzten Jahres durchaus in die richtige Richtung geht, weil dort ganz klar festgeschrieben ist, dass die Nationalstaaten weiterhin selbst entscheiden können, wenn es darum geht, festzulegen, wer in den nationalen Arbeitsmarkt einreisen darf und wer nicht. Ich finde es aber nicht richtig - ich glaube, es gilt, dies an dieser Stelle auch noch einmal zum Ausdruck zu bringen -, dass, wenn es nach der Europäischen Union geht, jemand Hoch- oder Höchstqualifizierter schon dann ist, wenn er lediglich das Dreifache des Mindestlohns des jeweiligen Landes verdient. Das kann nun wirklich nicht sein. Man ist nicht schon dann Hoch- oder Höchstqualifizierter, wenn man das Dreifache des Mindestlohns oder des Sozialhilfesatzes verdient. Vielmehr muss, wenn es sich wirklich um einen Hoch- oder Höchstqualifizierten handelt, dann das Einkommen weitaus höher liegen. Insoweit, meine sehr verehrten Damen und Herren, darf ich festhalten: Der Antrag ist vollkommen überaltert und anachronistisch, weil die Problematik, die wir in Deutschland haben, durch das Punktesystem nicht gelöst wird. Ich bin der FDP aber dankbar, dass sie dieses Thema hier jetzt wieder zur Sprache gebracht und zur Diskussion gestellt hat. Wir müssen uns als nationales Parlament mit Sicherheit weiterhin und dauerhaft intensiv mit dem wichtigen Thema der Förderung von Hochund Höchstqualifizierten in Deutschland auseinandersetzen. Ich sehe hier - das sage ich zum Abschluss - durchaus auch die Wirtschaft in der Verantwortung.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Stephan Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003589, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident, ich komme zum Schluss. - Meine letzte Bemerkung: Es kann nicht sein, dass die Wirtschaft hier immer nur danach ruft, dass die Schleusen Stephan Mayer ({0}) aufgemacht werden. Ich sehe die Wirtschaft auch ganz klar in der Verantwortung, noch mehr für die Ausbildung und Förderung von jungen Hoch- und Höchstqualifizierten zu tun. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat der Kollege Sebastian Edathy von der SPD-Fraktion das Wort. ({0})

Sebastian Edathy (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003111, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, der Kollege Mayer ist ein sehr langer, wenn vielleicht auch nicht großer Abgeordneter. Deswegen wäre es ganz hilfreich, das Pult noch ein bisschen nach unten zu fahren. ({0}) - Jedenfalls nicht ganz so lang. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben in der heutigen Debatte durchaus gemeinsam feststellen können, dass das Thema, das die FDP-Fraktion in ihrem Antrag aufgreift, in der Tat behandlungsbedürftig ist. Der Ansatz der FDP-Fraktion ist vom Grundgedanken her durchaus zu begrüßen. Es soll eine Antwort auf die Schwierigkeiten gegeben werden, die wir auf dem deutschen Arbeitsmarkt perspektivisch noch viel stärker als bisher erleben werden. Selbst bei mehr Ausbildung im Inland - das müssen wir auch tun - werden wir allein aufgrund der demografischen Entwicklung zukünftig stärker darauf angewiesen sein, Zuwanderung auch mit Blick auf die Arbeitsmigration zu gestalten. Da ist noch ein Wort an Frau Dağdelen zu richten: Es macht überhaupt keinen Sinn, alles, was Migration betrifft, in einen Kochtopf zu werfen. Wir müssen schon zwischen der Aufnahme von Flüchtlingen und der Aufnahme von Menschen, die als Arbeitsmigranten zu uns kommen wollen und auch sollen, unterscheiden. ({1}) Mit diesen Menschen müssen wir auch vernünftig, fair und angemessen umgehen. An dem Vorschlag der FDP-Fraktion gefällt mir gut, dass gesagt wird: Lasst uns doch ein System entwickeln, bei dem man schauen kann, welche Menschen besonders integrationsfähig sind, welche Menschen eine gute Qualifikation vorzuweisen haben und welche Menschen sich hier etablieren und auch eigenständig leben können, sodass sie hier in Deutschland zum wirtschaftlichen Gewinn beitragen. Ich glaube aber, dass man zwei Punkte stärker berücksichtigen muss: Zum einen muss die Wirtschaft in der Tat in die Verantwortung genommen werden. Dort, wo es Defizite im Inland gibt, müssen sie ausgeglichen werden, und sie muss ein Mehr an Ausbildung und Weiterqualifizierung gewährleisten. Zum anderen muss geprüft werden, in welchen spezifischen Bereichen - das werden in den nächsten Jahren eher die Hoch- als die Mittelqualifizierten sein - es einen Bedarf gibt. Das muss dann als Grundlage für entsprechende Zahlen genommen werden. Ich muss auch dazu sagen, dass keine beliebige Zuwanderung von Hoch- und Höchstqualifizierten, sondern eine arbeitsmarktbezogene Zuwanderung ermöglicht und reguliert werden sollte. Lieber Kollege Wolff und liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP-Fraktion, bei dieser Zuwanderung muss aber zwingend sichergestellt werden, dass nicht der Fehler wiederholt wird, der in den 60er- und 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts prägend war, als Arbeitsmigration als Migration auf Zeit behandelt und so getan wurde, als ob die Menschen, die zu uns kommen, Gäste sind. In dem Antrag der FDP steht, dass sie erst einmal sozusagen ein Bleiberecht auf Probe erhalten; danach wird geschaut, wie sie sich hier zurechtfinden. Ich glaube, das ist der falsche Ansatz. Wer uns gut genug dafür ist, in Deutschland arbeiten zu dürfen, der muss uns auch als Nachbar herzlich willkommen sein. Es kann keine Art Probemitgliedschaft in der deutschen Gesellschaft geben. ({2}) Es ist, glaube ich, nicht unbedingt realitätsnah, wenn man damit den Gedanken verbindet, dass jeder, der als hoch- oder höchstqualifizierter Arbeitsmigrant oder Arbeitsmigrantin nach Deutschland kommen kann, dafür dankbar sein sollte. Wir haben internationale Arbeitsmärkte. Es gibt Länder wie Großbritannien und die USA, die zu ihrem eigenen wirtschaftlichen Nutzen - das ist auch völlig berechtigt und nachvollziehbar - Menschen aus Drittstaaten anwerben, die über eine gute Qualifikation verfügen. Diese Menschen suchen sich aus, wo sie hingehen. Wenn sie die Alternative haben, entweder mit einem unbeschränkten Aufenthaltsrecht nach London zu gehen oder mit einem auf zwei Jahre beschränkten Aufenthaltsrecht nach Deutschland zu gehen und hier vielleicht noch wegen eines möglichen Erfordernisses an Sprachkenntnissen bangen müssen, ob der Ehepartner mitkommen darf, dann sind die deutschen Bedingungen wenig attraktiv, zeitgemäß und realitätsnah. Ich hoffe, dass wir es wie schon in den letzten Jahren schaffen, diese Frage stärker zu entideologisieren und an den Realitäten und Notwendigkeiten zu orientieren. Ein Punkt, der fraktionsübergreifend nicht bestritten werden kann, ist, dass die im Bereich der Arbeitsmigration bestehenden Prozesse zu bürokratisch sind. Sie sind auch nicht so gestaltet, dass sie eine angemessene Antwort auf die demografischen Veränderungen der nächsten fünf bis zehn Jahre geben. Deswegen geht es jetzt nicht darum, etwas übers Knie zu brechen; wir sollten uns vielmehr sehr sorgfältig und intensiv mit der Thematik beschäftigen. Dass es Änderungsbedarf gibt, wird niemand bestreiten können, am allerwenigsten die SPD-Fraktion. Vielen Dank. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/8492 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b auf: a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung von Kindern unter drei Jahren in Tageseinrichtungen und in der Kindertagespflege ({0}) - Drucksache 16/9299 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({1}) Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Diana Golze, Klaus Ernst, Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Öffentliche Kinderbetreuung ausbauen Kommerzialisierung der Kinder- und Jugendhilfe vermeiden - Drucksache 16/9305 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({2}) Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Hermann Kues von der Bundesregierung das Wort.

Dr. Hermann Kues (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002709

Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! Mit dem Kinderförderungsgesetz machen wir den Weg frei für einen bedarfsgerechten und qualitativ hochwertigen Ausbau der Kindertagesbetreuung in Deutschland. Es geht um beides: bedarfsgerecht und qualitativ hochwertig. Das gemeinsame Ziel von Bund, Ländern und Kommunen, bis zum Jahr 2013 für jedes dritte Kind unter drei einen Betreuungsplatz zu schaffen, rückt damit immer näher. Das Gesetz wird unser Land mit Sicherheit spürbar verändern. Eine gute Vereinbarkeit von Familie und Beruf und Chancengleichheit für Kinder von Anfang an sind nicht mehr nur Wunsch, sondern werden Wirklichkeit. ({0}) Ein Blick auf die Situation in vielen westdeutschen Bundesländern zeigt, dass nur jedes zehnte Kind dort einen Betreuungsplatz findet. Das ist sehr weit von dem entfernt, was junge Familien brauchen, wollen und mittlerweile auch einfordern. Die Finanzierung des Ausbaus steht mit dem Kinderförderungsgesetz auf einer soliden Basis. Es ist klar, dass sich der Bund mit 4 Milliarden Euro und damit zu einem Drittel an den Kosten des Ausbaus beteiligt. Das ist ein gewaltiger Aufwand. Die Beteiligung des Bundes an den Investitionskosten haben wir durch das Sondervermögen in Höhe von 2,5 Milliarden Euro bereits im vergangenen Jahr sichergestellt. Mit dem Kinderförderungsgesetz regeln wir nun die Beteiligung des Bundes an den Betriebskosten. Die Länder erhalten durch eine Änderung des Finanzausgleichsgesetzes für die Jahre 2009 bis 2013 insgesamt 1,85 Milliarden Euro und anschließend dauerhaft jährlich 770 Millionen Euro als Entlastung für die Finanzierung der Betriebskosten. ({1}) Schon jetzt haben, wie jeder von uns feststellen kann, viele Kommunen mit dem Ausbau begonnen. Wichtig ist: Wir setzen nicht nur allgemein auf den Ausbau, sondern wir setzen auch auf Qualität. Denn wir wissen: Je jünger die Kinder sind, desto besser muss die Qualität der Erziehung sein. Viele Eltern brauchen eine flexible Kinderbetreuung, wünschen sich für ihre Kinder aber auch eine familiennahe Atmosphäre. Gerade das ist die Stärke der Kindertagespflege. Deswegen wollen wir 30 Prozent der Plätze durch die Tagespflege, also durch Tagesmütter und Tagesväter, abdecken. Das bedeutet für die Kindertagespflege ein deutlich professionelleres Profil und eine leistungsgerechte Vergütung für Tagesmütter und Tagesväter. Unser Ziel - das sage ich noch einmal - sind Betreuungsplätze auf höchstem qualitativem Niveau. ({2}) Wir haben mit dem Kinderförderungsgesetz im Vergleich zum TAG erweiterte, objektiv rechtliche Verpflichtungen für die Bereitstellung von Plätzen eingeführt. Wir wollen, dass Kinder gefördert und in ihrer persönlichen Entwicklung gestärkt werden; denn damit schaffen wir den Rahmen für echte Chancengleichheit. Jeder hat Anspruch auf eine faire Chance. ({3}) Darüber hinaus werden wir verstärkt Plätze für Kinder schaffen, deren Eltern Arbeit suchen. Das ist gerade für Alleinerziehende wichtig; denn Arbeit ist das beste Mittel gegen Kinderarmut. ({4}) Deswegen stellt das Kinderförderungsgesetz sicher, dass alle Träger von Einrichtungen, solange sie die fachlichen und rechtlichen Voraussetzungen erfüllen, bei der Finanzierung gleich behandelt werden. So können wir zum Beispiel das Engagement von Unternehmen, die Betriebskitas einrichten, oder anderer privater Anbieter einbeziehen. ({5}) Aber ich will noch einmal ganz deutlich sagen: Nur wenn die fachlichen und rechtlichen Voraussetzungen erfüllt sind, dürfen die Länder privatgewerbliche Anbieter gleichstellen. ({6}) Das heißt, gleich hohe qualitative Standards für alle. Ich sage an dieser Stelle auch: Wir betreten damit kein Neuland. Viele Länder beziehen privatgewerbliche Anbieter bereits jetzt in die Förderung ein. Die Qualität der Betreuungsangebote, etwa in Bayern oder in Brandenburg, ({7}) hat bislang nicht darunter gelitten. ({8}) Ganz im Gegenteil: Ich bin fest davon überzeugt, dass Wettbewerb die Qualität der Betreuung weiter steigen lässt. ({9}) Beim Ausbau der Kindertagesbetreuung ging es uns stets um Wahlfreiheit: Wahlfreiheit bei der Wahl der Einrichtung, aber auch um Wahlfreiheit der jungen Eltern. Deswegen - auch das sage ich an dieser Stelle - wird es ab 2013 nach Ende der Ausbauphase sowohl einen Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz als auch die Einführung eines noch zu definierenden Betreuungsgeldes geben. ({10}) Das Kinderförderungsgesetz ist der letzte Baustein für den Ausbau des Betreuungsangebotes. Wir schaffen damit den Anschluss an die familienpolitisch erfolgreichen Länder. Das sind meiner Meinung nach historische Schritte für die frühe Förderung von Kindern. Das sind historische Schritte für eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Ich danke dem Parlament für die gewährte Unterstützung. ({11})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Ina Lenke von der FDPFraktion. ({0})

Ina Lenke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003170, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kues hat sehr gut vorgetragen, was in der Präambel des Kinderförderungsgesetzes steht: Eltern und Kinder benötigen aufgrund ihrer unterschiedlichen Lebenssituationen und Bedürfnisse Betreuungsangebote in großer Vielfalt. … Durch fachlich notwendige und geeignete finanzielle Rahmenbedingungen soll die Gewähr dafür gegeben werden, dass qualifiziertes Personal für diese verantwortungsvolle Aufgabe gewonnen werden kann. Dabei unterstützen wir die Bundesregierung, Herr Kues. ({0}) Das Vorhaben der Familienministerin, Herr Dr. Kues, allen Anbietern von Krippenplätzen eine Anschubfinanzierung zu gewähren und alle gleich zu behandeln, ist nicht durchgesetzt worden. Ich habe heute die Pressemitteilung von Herrn Oppermann sehr aufmerksam gelesen: Die SPD hat die Tür zur privatgewerblichen Kinderbetreuung aufgemacht. Wir alle wissen: Betriebliche Kinderbetreuung oder Betreuung durch selbstständige Tagesmütter ist auch ein Stück privatgewerbliche Kinderbetreuung. Wir sollten doch nicht so tun, als ob wir das in Deutschland nicht hätten. Ich möchte auf die Linke und die SPD zurückkommen. Sie misstrauen den privatgewerblichen Anbietern. ({1}) Insbesondere Die Linke unterstellt ihnen unlautere Motive, wie in dem Antrag zu lesen ist. Ich frage Sie: Wenn sich eine Erzieherin selbstständig macht, weil der Hort, in dem sie beschäftigt war, geschlossen hat - vor einem Jahr wurden in Paderborn Erzieherinnen arbeitslos; sieben Erzieherinnen haben sich daraufhin mit einer privatgewerblichen Krippe selbstständig gemacht -, warum misstrauen Sie diesen Erzieherinnen? Vertrauen Sie ihnen! Natürlich müssen - das hat Herr Dr. Kues auch gesagt; da stimmt die FDP voll zu - die personellen und sonstigen Standards in den Einrichtungen eingehalten werden, von denen selbstverständlich nicht der letzte Kleiderhaken erfasst werden darf. Die Einrichtungen müssen gut sein, damit Kinder gut betreut werden. Dann aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, muss auch Geld fließen. Warum soll eine Verkäuferin nicht die Möglichkeit haben, ihr Kind in eine Einrichtung zu geben, die an Samstagen und Sonntagen geöffnet hat? Jede Krankenschwester, jede Pflegekraft und alle, die nicht nur von Montag bis Freitag Dienst haben, brauchen eine Wochenendbetreuung der Kinder. In diesem Zusammenhang spreche ich die Wohlfahrtsverbände an, die uns geschrieben haben, dass die Qualität in der privatgewerblichen Kinderbetreuung grottenschlecht sei. Kommen Sie zu mir nach Niedersachsen; ich fahre Sie nach Bremervörde oder Verden und zeige Ihnen, dass privatgewerbliche Kinderbetreuung gelegentlich sogar besser ist und die Wohlfahrtsverbände sich darum sorgen, diesem Anspruch nicht gerecht werden und im Wettbewerb nicht bestehen zu können. ({2}) Deshalb unterstützen wir die Bundesregierung in diesem Punkt, und ich freue mich, dass nun auch die SPD so weit ist. § 74 a des Gesetzentwurfs besagt, die Träger seien gleich zu behandeln, wenn sie die rechtlichen und fachlichen Voraussetzungen erfüllen. Ich habe mir einmal die Richtlinien der Bundesländer zur Verteilung der Gelder angesehen, Herr Dr. Kues. In den Richtlinien der Bundesländer findet sich diese Vorschrift nicht wieder. Die Passagen aus dem Bundesgesetz, die wir durchgesetzt sehen wollen, scheinen in den Ländern ein zahnloser Tiger zu sein. Wenn in Deutschland für 35 von 100 Kindern unter drei Jahren Krippenplätze geschaffen werden sollen, dann gehören die privatgewerblichen Anbieter dazu. Das sage ich nicht nur, weil ich in der FDP bin. Meine Damen und Herren, wir wollen auch die alleinerziehende Mutter unterstützen, die auf Dienstreise geht. Die Mutter, die bei einer Krippe anruft und sagt, sie könne ihr Kind erst eine Stunde später abholen, verdient ebenfalls Unterstützung. In einem solchen Fall sagt die staatliche Krippe: Tut uns leid, Sie müssen Ihr Kind abholen. ({3}) - Jawohl, so ist es. ({4}) Diesen Stress wollen wir den berufstätigen Müttern und Vätern wirklich nicht aufs Auge drücken. Wir wollen etwas anderes. Wir brauchen auch keine ideologische Auseinandersetzung. Der Blick in den Alltag von Müttern und Vätern reicht wohl uns allen aus, um zu erkennen, dass wir hier etwas machen müssen. ({5}) Wir sagen ganz deutlich - dies beziehe ich auch auf Bayern -: Wir lehnen das Betreuungsgeld ab. ({6}) - Ihren Beifall finde ich jetzt echt witzig; das muss ich, liebe Kolleginnen von der SPD, hier leider sagen. Sie schreiben das in das KiFöG, und in der Öffentlichkeit sprechen Sie immer davon, dass Sie es nicht wollen. Was wollen Sie denn? ({7}) Entweder stehen Sie zu dem, was Sie dort hineingeschrieben haben, oder Sie setzen Ihre Unterschrift nicht unter das jetzt vorgesehene KiFöG. Sie sollten nachverhandeln und dafür sorgen, dass es besser wird. Zu dem Betreuungsgeld will ich noch Folgendes sagen: Herr Singhammer, Sie wissen doch, wenn eine Ehefrau zu Hause bleibt, ergibt sich aufgrund des Ehegattensplittings ein Steuervorteil von bis zu 8 000 Euro im Jahr. ({8}) Weil die SPD die Reichensteuer eingeführt hat, ergibt sich ein Steuervorteil von bis zu 15 000 Euro. Die SPD muss den Leuten einmal erklären, wie sie es mit der Reichensteuer und dem Ehegattensplitting hält. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Singhammer, wollen Sie eine Frage stellen? ({0}) Frau Kollegin Lenke, lassen Sie die Frage zu?

Ina Lenke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003170, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Bei Herrn Singhammer äußerst gern.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön, Herr Singhammer.

Johannes Singhammer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002800, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Geschätzte Frau Kollegin Lenke, ist Ihnen bekannt, dass das Ehegattensplitting mit der Frage der Kinder nichts zu tun hat, sondern der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zufolge ausschließlich ein Ausgleich innerhalb der Ehe ist? ({0}) Wäre es nicht ein Zeichen von Liberalität, ein größtmögliches Maß an Wahlfreiheit zu gewährleisten, wenn man Paaren, Müttern und Vätern die Möglichkeit gibt, die Art der Erziehung zu wählen? Dazu zählt eben auch die Möglichkeit, ein Betreuungsgeld wahrzunehmen.

Ina Lenke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003170, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Singhammer, die FDP ist immer für Wahlfreiheit. Wie es die Partner untereinander aufteilen, wer arIna Lenke beiten geht und wer zu Hause bleibt - es kann ja auch der Mann zu Hause bleiben -, oder ob beide arbeiten wollen, etwa weil sie die Hypothek für ein Haus abbezahlen müssen, bleibt den Partnern überlassen. Was das Ehegattensplitting angeht, brauchen Sie mir nichts zu erzählen: Ich bin Steuerfachangestellte. Fakt ist, dass es beim Ehegattensplitting einen Steuervorteil von bis zu 8 000 Euro, ({0}) bei der Reichensteuer von bis zu 15 000 Euro gibt. Es ist eine Unverschämtheit, dass Paare, bei denen einer zu Hause bleibt, vom Staat beim Ehegattensplitting mit bis zu 8 000 Euro, bei der Reichensteuer mit bis zu 15 000 Euro belohnt werden. ({1}) Dies ist - das will ich deutlich sagen - meine persönliche Ansicht, ich habe dafür noch nicht die Mehrheit der FDP. Am Wochenende findet unser Bundesparteitag statt, dann werden wir das wieder auf der Tagesordnung haben. Ich werde so lange kämpfen, bis der Alltag von Müttern und Vätern endlich berücksichtigt wird. Aber ganz deutlich, Herr Singhammer: Unser Bundestagsvizepräsident beispielsweise ist anderer Meinung als ich; das ist halt so in einer Partei. Ich werde für mein Anliegen aber weiter kämpfen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Sie wissen, Frau Kollegin Lenke, dass ich mich von dieser Stelle aus nicht inhaltlich äußern kann. ({0})

Ina Lenke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003170, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich komme zum Schluss. Meine Damen und Herren, ich finde, wir alle sollten uns bewegen, wir sollten so schnell wie möglich qualifizierte, gute Kinderbetreuung auch für unter Dreijährige schaffen. Das gelingt nur, wenn wir private Anbieter einbeziehen. Der Antrag der Linken kann nicht ernst genommen werden. In vielen Bundesländern gibt es privatgewerbliche Anbieter, die nicht unterstützt werden und trotzdem super Arbeit machen. Wenn wir neue Krippenplätze schaffen, sollte gelten, was zu § 74 a im KiföG steht: dass wir alle gleich behandeln. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Caren Marks von der SPDFraktion. ({0})

Caren Marks (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003587, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Was vor der Fußballweltmeisterschaft niemand für möglich gehalten hätte, ist eingetreten: Deutschland ist Weltmeister der Herzen geworden. Wer hätte noch vor ein paar Jahren geglaubt, dass wir in Deutschland im Jahr 2008 den Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz für Kinder ab einem Jahr beschließen werden? ({0}) 2006 wurde das Sommermärchen für alle Fußballfans wahr, 2008 wird ein Sommermärchen für Familien wahr. ({1}) Wir haben es geschafft: Wir haben den Rechtsanspruch ab eins durchgesetzt. Wir haben dafür gesorgt, dass sich der Bund dauerhaft finanziell an der Kinderbetreuung beteiligt. Die Fußballfans unter uns würden sagen: Das ist ein Hattrick für Familien, drei Tore in einer Halbzeit: mehr Bildungs- und Teilhabechancen für Kinder, mehr Chancen auf dem Arbeitsmarkt für Mütter und Väter sowie mehr Unterstützung der Eltern bei der Förderung ihrer Kinder. Einsatz und Stehvermögen zahlen sich nicht nur im Fußball, sondern auch in der Familienpolitik aus. Mit dem Tagesbetreuungsausbaugesetz haben wir den Startschuss für zusätzliche Betreuungsangebote für Kinder unter drei Jahren gegeben. Erste Erfolge sind bereits sichtbar: Mehr als 100 000 zusätzliche Betreuungsangebote für Kinder unter drei wurden bereits geschaffen. Der Ausbau der Kinderbetreuung muss in großen Schritten vorangehen. 4 Milliarden Euro gibt der Bund für den Ausbau der Kinderbetreuung in der Ausbauphase. Insgesamt 12 Milliarden Euro werden Bund, Länder und Kommunen dafür aufwenden. 12 Milliarden Euro! Das ist ein bedeutender Sieg für die Kinder, ihre Eltern und für uns alle. ({2}) Dieser Erfolg war nur möglich, weil Bund, Länder und Kommunen gut zusammengespielt haben. Alle haben die große Chance erkannt und sie konsequent genutzt. Dafür danke ich allen Beteiligten. ({3}) Alle Kinder bekommen von Anfang an bessere Bildungschancen durch das Kinderförderungsgesetz. Kinder lernen in Kitas den Umgang mit anderen Kindern. Sie bekommen neue Anregungen und erkunden eine neue Welt. Dort werden alle Kinder mit ihren unterschiedlichen Talenten und unterschiedlichen Persönlichkeiten gefördert: der kleine Junge mit Sprachschwierigkeiten genauso wie das kleine Mädchen, das die tollsten Geschichten erzählt, der Wildfang, der sich nur für Fußball interessiert, genauso wie die kleine Zahlenkünstlerin, die sich anschickt, ein Mathecrack zu werden, das kleine Mädchen, das häufig die Klamotten der älteren Schwester aufträgt, genauso wie das Einzelkind, das eigentlich nur in der Kita einen Kumpel zum Spielen hat. All diese Kinder sind die wirklich großen Gewinnerinnen und Gewinner unseres Betreuungsausbaus. ({4}) Natürlich gewinnen aber auch die Eltern. Sie müssen sich am Arbeitsplatz keine Sorgen machen, ob ihre Kinder gut betreut sind. Die meisten Eltern wollen beides: Familie und Beruf, kein Entweder-oder. Erwerbstätigkeit von Eltern hilft auch gegen Familienarmut. Das gilt insbesondere für die immer größer werdende Gruppe der Alleinerziehenden in unserem Land. Mit dem Kinderförderungsgesetz unterstützen wir die Eltern auch bei der Erziehung und Förderung ihres Kindes. Mit guten Kinderbetreuungsangeboten stärken wir Eltern den Rücken. Ich bin davon überzeugt, dass letztlich alle, die gesamte Gesellschaft, vom Ausbau der Kinderbetreuung profitieren. Jetzt werden sich viele die Frage stellen: Was haben zum Beispiel Rentnerinnen und Rentner vom Ausbau der Kinderbetreuung? Ganz einfach: Der Wohlstand unserer Gesellschaft und damit auch der Wohlstand von Rentnerinnen und Rentnern hängt entscheidend von den Bildungschancen unserer Kinder und der Möglichkeit ihrer Eltern, erwerbstätig zu sein ab. Das steht und fällt wiederum mit dem Angebot an frühkindlichen Bildungsund Betreuungsangeboten. Fachkräftemangel ist nichts, was in ferner Zukunft auf uns zukommt. Das haben wir in der Debatte direkt vor diesem Tagesordnungspunkt gehört. Das Problem ist bereits da. Es betrifft nicht nur Ingenieurinnen, sondern auch Erzieher, Lehrerinnen sowie Altenpfleger. Wenn wir die Wirtschaftskraft Deutschlands erhalten wollen, brauchen wir gut ausgebildete Mütter und Väter. Ihr berufliches Engagement darf nicht am fehlenden Betreuungsplatz für ihre Kinder scheitern. Im Übrigen haben wir uns mit der Lissabon-Strategie dazu verpflichtet, die Wettbewerbsfähigkeit der Europäischen Union bis 2010 deutlich zu steigern. Dieses Ziel können wir nur durch eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie mehr Chancengleichheit in der Bildung erreichen. Deutschland in der Mitte Europas hat eine ganz besondere Verantwortung. Wir müssen deshalb Kinderbetreuung und frühkindliche Bildung konsequent ausbauen. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten stellen uns dieser Verantwortung. Wir bauen die Kinderbetreuung aus. Dabei dürfen wir die Qualität der Angebote nicht unter den Tisch fallen lassen. Wir warnen vor den Risiken und Nebenwirkungen einer Ökonomisierung der frühkindlichen Bildung. Seit 1998 haben wir mit unseren zahlreichen familienpolitischen Maßnahmen den Ball für Familien ins Rollen gebracht. Klug von der Ministerin, dass sie den Ball aufgenommen hat! Klasse, dass wir dem Ball mit dem Kinderförderungsgesetz noch einmal zusätzlichen Schwung geben! Um es mit den Worten von Herbert Grönemeyer zu sagen: „Zeit, dass sich was dreht.“ Herzlichen Dank. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Jörn Wunderlich von der Fraktion Die Linke. ({0})

Jörn Wunderlich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003867, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will mich thematisch auf das Kinderförderungsgesetz im Zusammenhang mit unserem Antrag beschränken. Den Rest klären wir in der Anhörung, die wir gestern beschlossen haben. ({0}) - Es gibt viele Kritikpunkte. Über das, was davon übrig bleibt, unterhalten wir uns in der zweiten und dritten Lesung. Gesetz zur Förderung von Kindern - wer kann dazu schon Nein sagen? ({1}) Man hätte es auch anders nennen können: Gesetz zur Förderung profitorientierter Kinderbetreuungsunternehmen oder kurz: Profitförderungsgesetz. ({2}) Freigabe der Kinderbetreuung, es lebe das Profitinteresse des Marktes. ({3}) Dazu kann man schon Nein sagen. Kinderbetreuung ist keine Ware und darf auch keine Ware werden. ({4}) Was passiert hier, was ist passiert? Nachdem zunächst die Gemeinnützigkeit als Voraussetzung für Förderung gestrichen werden sollte, brach ein Sturm der Entrüstung los. ({5}) Aufgrund dessen hat sich die Regierung entschlossen, dieses Vorhaben fallenzulassen. Jetzt aber soll das Sozialgesetzbuch VIII so geändert werden, dass die Länder angehalten werden, alle Träger gleich zu behandeln. Im Klartext: Der Schwarze Peter soll den Ländern zugeschoben werden. Diese sollen zwingend verpflichtet werden, gewinnorientierte Betreiber gleich zu behandeln. Das kann doch nicht das Ergebnis dieser geballten Kritik sein. Die Linke will Kinderbetreuung ausbauen, aber nicht den Markt der Kinderbetreuung. ({6}) Eine Gleichstellung von kommerziellen Trägern mit öffentlichen und frei-gemeinnützigen Trägern bedeutet die Öffnung des Kinderbetreuungsmarktes nach den Regeln der EU-Dienstleistungsrichtlinie. Die Folgen davon wären verheerend, nämlich ein verschärfter Verdrängungswettbewerb und Lohn- und Qualitätswettlauf nach unten. ({7}) Mittelfristig führt das zu massiven sozialen Verwerfungen. ({8}) Eine kanadische Untersuchung aus dem Jahr 2005 hat gezeigt, dass gewinnorientierte Einrichtungen die Qualität ihres Angebots je nach sozioökonomischem Status ihrer Klientel variierten. ({9}) Kinder aus sozial benachteiligten Familien kamen in Einrichtungen niedriger Qualität, Kinder aus wohlhabenden Familien in qualitativ bessere Einrichtungen. ({10}) Dieser Zusammenhang konnte auch in einer amerikanischen Studie aus dem Jahr 2004 nachgewiesen werden. ({11}) Eine Untersuchung in Australien aus dem Jahr 2006/ 2007 hat gezeigt, dass die Arbeitsbedingungen in diesen Kinderbetreuungsunternehmen deutlich schlechter sind als die in anderen Einrichtungen. Zudem wurden dort weniger qualifizierte Mitarbeiter beschäftigt. Das alles ist im Übrigen auf der Internetseite der BertelsmannStiftung nachzulesen. In England wurde im Rahmen der OECD-Studie „Starting Strong“ festgestellt, ({12}) dass sich kommerzielle Anbieter nicht in einkommensschwachen Regionen engagieren, was dort zu Engpässen im Platzangebot führte. So diese Studie aus dem Jahr 2006. Ist das das Ziel der Regierung? Frau Lenke, wir verteufeln nicht die private Kinderbetreuung, um Gottes Willen. ({13}) Die sollen machen; diese Einrichtungen dürfen aber nicht mit öffentlicher und gemeinnütziger Kinderbetreuung auf eine Stufe gestellt werden, finanziell gefördert mit Mitteln der Steuerzahler zulasten der öffentlichen Kinderbetreuung. ({14}) Wir wollen eine öffentliche, gut ausgebaute und qualitativ hochwertige Kinderbetreuung mit entsprechend ausgebildeten Erzieherinnen und Erziehern. ({15}) Dafür sind die entsprechenden Geldmittel zu verwenden und nicht dafür, profitorientierte Kindergartenbetreiber finanziell zu hofieren. Da die Linke für die kostenfreie Kinderbetreuung kämpft - das hat ja einen gewissen Charme -, dürften die Kommerzunternehmen mit Profitstreben kein Interesse an einer Kinderbetreuung haben. ({16}) Ich möchte hier in Deutschland keine Zustände wie in Australien. Dort wurde 1991 die Förderung von gemeinnütziger Kinderbetreuung umgestellt. Der private Markt boomte, und inzwischen stellen private Unternehmen 70 Prozent aller Angebote und werden mittlerweile an der Börse gehandelt. ({17}) Wem soll man dann verpflichtet sein? Den Aktionären? Kinderbetreuung darf nicht zum Spekulationsobjekt an der Börse werden. ({18}) Insoweit teilen wir, die Linke, die Kritik der Gewerkschaften und der Sozialverbände: Keine teure Bildung für die Reichen und billige Betreuung für die Armen. ({19}) - Das ist das, was die FDP gerne hätte. Das ist mir klar. Die Linke ist den Kindern, Eltern und Erziehern verpflichtet, nicht irgendwelchen Aktionären. Deshalb legen wir unseren Antrag vor. ({20}) Ich gehe davon aus und befürchte - Frau Lenke, das wird sich bestätigen; das sage ich Ihnen -, dass die Anhörung zum KiföG, die wir im Ausschuss schon beschlossen haben, unsere Kritik bestätigt. Ich hoffe aber auch, dass uns allen hier im Hause Kinder doch wichtiger als Kommerzinteressen sind und dass der Privatisierung der Kinder- und Jugendhilfe - ich glaube, das steckt dahinter - nicht durch dieses Gesetz heimlich Tür und Tor geöffnet wird. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({21})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Ekin Deligöz vom Bündnis 90/Die Grünen.

Ekin Deligöz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003068, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kues, Sie und auch die Familienministerin loben sich selbst, Ihr Haus und die Koalition in diesem Punkt dafür, dass Sie dieses Ausbauprojekt innerhalb einer kurzen Zeit aus dem Boden gestampft haben. Für die Union, für Ihre Partei mag das richtig sein. Für den Rest der Gesellschaft ist es das aber nicht. ({0}) Für die meisten Menschen in diesem Land ist das kein Fortschritt. Sie müssen aufhören, in dieser Debatte Ihr Haus oder Ihre Fraktion zum Maß aller Dinge zu machen. Die Gesellschaft ist längst davon überzeugt, dass dieser Ausbau überfällig ist. ({1}) Ich glaube übrigens, Frau Marks, dass der heutige Tag kein Feiertag für die Familien ist. Letztendlich wird durch dieses Gesetz die Verankerung auf das Jahr 2013 geschoben. Die CDU mag in der Realität angekommen sein; das ist das Beste an diesem Gesetz. Das, was konkret passieren soll, wird aber verschoben. Ich wünschte mir von Ihnen allen ein entschiedeneres, schnelleres und unmittelbareres Handeln. ({2}) Dann erst könnten wir das heute hier so richtig feiern. Aber auch die Länder haben sich nicht mit Ruhm bekleckert. Als die rot-grüne Regierung mit ihrem Vorhaben an die Öffentlichkeit getreten ist, waren es die einzelnen Bundesländer, die die Lebenslüge aufrechterhalten haben, es gebe gar keinen Bedarf; ohne diese Haltung könnten wir heute viel weiter sein. Es waren die Bundesländer und auch die Fraktion der CDU/CSU, die in der letzten Wahlperiode immer wieder betont haben, wir seien dafür gar nicht zuständig, wir könnten das gar nicht machen und wir könnten auch die Mittel dafür gar nicht ausgeben. Sie wurden eines Besseres belehrt. Es freut mich, dass das endlich auch bei Ihnen angekommen ist. ({3}) Das Vorhaben der Bundesregierung ist nicht falsch; wir als Grüne unterstützen es. Aber wichtig ist die Qualität. Da muss ich leider etwas Wasser in den Wein schütten, den Sie uns hier aufgetischt haben. Ja, wir brauchen eine professionelle Kindertagespflege; das ist sinnvoll. Aber die Sicherungsmaßnahmen, die Sie hier festlegen, sind auf einem sehr niedrigen Niveau. Mit der Übernahme der anteiligen Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge, die Sie hier feiern, wird doch nur versucht, die bevorstehende einheitliche Steuer- und Abgabenpflicht für die Tagesmütter zu kompensieren. Damit verändern Sie das Ganze nicht wirklich; vielmehr werden die Tagesmütter nach wie vor belastet. Sie sagen: Wir installieren ein Weiterbildungsportal für Erzieherinnen. Was machen Sie? Sie schaffen ein Internetportal. Das ist weit weg von einer echten Weiterbildungsmaßnahme. ({4}) Das ist eine größtmögliche Selbsttäuschung. Das ist eine Platzhalterdebatte; das ist eine Scheindebatte. Mit Weiterbildung und Qualifizierung hat das aber nichts zu tun. Was Sie aber nicht machen, obwohl wir auf diesem Gebiet ganz konkrete Impulse brauchen, ist zum Beispiel eine Verbesserung der Strukturqualität in der Kindertagesbetreuung. Da passiert nichts! Eine solche Verbesserung wäre eine Aufwertung der Erzieherinnenausbildung in diesem Land. Da passiert nichts! Es geht dabei um die verbindliche Grundqualifikation von Tagesmüttern. Da passiert nichts! Es geht um verbindliche, einheitliche Grundstandards, an denen sich die Qualität feststellen lässt. Da passiert nichts! ({5}) In all diesen Fragen, in denen es um Qualität geht, da passiert nichts! Jetzt sagen Sie zu mir: Das ist womöglich ein Traum von Bündnis 90/Die Grünen. Ich kann Ihnen sagen: Diesen Traum träumen mit uns etliche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in diesem Land. Diesen Traum träumt sogar der Wissenschaftliche Beirat für Familienfragen beim Familienministerium; denn genau das, was bei Ihnen nicht passiert, wird vom Wissenschaftlichen Beirat gefordert. ({6}) Wir werden in der zukünftigen Debatte sehen, wie offen Sie für Verbesserungen und für Veränderungen im Verfahren sind. Wir haben auch eine Anhörung dazu beschlossen. Was aber mindestens kommen müsste, ist ein Rechtsanspruch auf einen Ganztagsplatz. ({7}) Wenn wir wirklich die Vereinbarkeit von Beruf und Familie sowie eine gute Förderung wollen, dann ist dieser Rechtsanspruch die notwendige Voraussetzung. Eine Kinderbetreuungseinrichtung, die um 11.30 Uhr schließt, hilft da nicht weiter. Wenn wir es ernst meinen, dann sollten wir es richtig machen. ({8}) Übrigens hat der Wissenschaftliche Beirat für Familienfragen beim Familienministerium zum Betreuungsgeld festgestellt: Es ist systematisch verfehlt. Herr Singhammer, das sollten Sie schon ernst nehmen, denn - wenn ich das einmal für Sie übersetzen darf - gemeint ist: Das Instrument ist unsinnig und kontraproduktiv. Es wird gerade nicht von den Menschen in Anspruch genommen, die die Vereinbarkeit von Beruf und Familie forcieren wollen, ({9}) sondern vor allem von den Menschen, die knapp bei Kasse sind und für die 150 Euro viel Geld sind - und da sind durchaus problematische Anreizwirkungen zu befürchten. ({10}) Es hält Frauen von der Erwerbstätigkeit ab, und es hält Kinder von der Kinderförderung fern. ({11}) Dieses Instrument ist eindeutig falsch. Das sollten Sie sich wirklich noch einmal überlegen. Wir haben in Deutschland keine Probleme bei der Unterstützung von Frauen, die gerne zu Hause bleiben wollen. Es gibt im Steuerrecht das Ehegattensplitting, und wir haben entsprechende Unterstützungen im Sozialversicherungsrecht verankert. Großen Nachholbedarf gibt es bei der Förderung der Erwerbstätigkeit von Frauen. Dazu gibt es von Ihnen keine Antworten. Deshalb fällt es vielen von Ihnen so schwer, sich mit bestimmten gesellschaftlichen Realitäten abzufinden. ({12})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Ingrid Fischbach von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Ingrid Fischbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003117, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich bin erstaunt darüber, dass ein Gesetz, das auch von der Opposition gefeiert wird, gerade von denjenigen kritisiert wird, die es - so meine Vorrednerin, Frau Deligöz - maßgeblich mit auf den Weg gebracht haben. Das ist Kritik am eigenen Programm. Ich glaube zu wissen, weshalb Sie es kritisiert haben. ({0}) - Sie waren vorhin nicht da und haben nicht gehört, was sie kritisiert hat. Ich habe zugehört. Jetzt hören Sie einmal zu, dann erfahren Sie, was Ihre Kollegin kritisiert hat, verehrte Frau Kollegin! Sie hat kritisiert, dass wir das zeitlich viel zu lange hinausschieben und uns erst 2013 kümmern wollen. Die rot-grüne Vorgängerbundesregierung - Frau Deligöz, das waren Sie - hat 2005 beschlossen, 2010 ein Angebot von 17 Prozent auf den Weg zu bringen. ({1}) Wir wollen dieses Angebot jetzt auf 35 Prozent mehr als verdoppeln. Es liegt acht Monate nach dem Krippengipfel - ich kann verstehen, dass Sie das am meisten ärgert - ein Gesetzentwurf auf dem Tisch, der echte Perspektiven für die Familien und unsere Kinder aufzeigt. Das ist gut und richtig, und dafür sage ich einen Dank an das Ministerium. ({2}) Frau Kollegin Marks hat recht darin, dass einiges auf den Weg gebracht worden ist. Aber es reicht nicht, den Ball aufzunehmen; das wird auch bei der Europameisterschaft nicht reichen. Der Ball muss versenkt werden, damit wir gewinnen. Genau das hat die jetzige Familienministerin gemacht, sicherlich auch deshalb - das ist vielleicht ein kleiner Trost für Sie -, weil sie eine Bundeskanzlerin hinter sich hat, die genau dieses Thema ganz oben auf ihre Agenda gesetzt hat. Deshalb gibt es jetzt eine andere Ausgangslage, und wir können nach so kurzer Zeit diesen Erfolg - ich lasse nicht zu, dass dieser kleingeredet wird - verbuchen. ({3}) Mit der Vorlage gehen wir zwei Punkte an, die meines Erachtens ganz wichtig sind. Zum einen gehen wir im Bereich der Kinderbetreuung auf ergänzende und alternative Betreuungsangebote ein. Tagesmütter gibt es schon sehr lange; sie wurden immer als elitäres Betreuungssystem angesehen. Jetzt wissen wir, dass familiennahe Betreuungsangebote gerade für Kinder unter drei Jahren unheimlich wichtig sind, damit diese Kinder Bindung erfahren. Deshalb ist es richtig und wichtig, dass 30 Prozent der Plätze über Tagespflege abgedeckt werden sollen. Aber es ist auch klar - das habe ich an dieser Stelle vor Jahren schon gesagt -, dass Tagesmütter nicht zum Nulltarif zu haben sind. Das bedeutet, dass wir anfangen müssen, die Qualitätsanforderungen an die Tagespflege zu erhöhen, das heißt, die Ausbildung der Tagesmütter zu forcieren, aber auch dafür zu sorgen, dass sie angemessen entlohnt werden. Denn bei dem Bruttostundenlohn, den Tagesmütter derzeit verdienen, können sie die gegenwärtige Abgabenlast nicht tragen. Deshalb ist es ebenso richtig und wichtig, die Qualität der Tagespflege nach vorne zu bringen, die Tagesmütter zu begleiten und ihnen - das ist neu - die Möglichkeit zu geben, im Rahmen des Betriebskostenzuschusses zu profitieren. Das gab es bisher nicht; Tagesmütter waren bisher außen vor. Wenn sie aber als Betreuungsalternative wichtig und richtig sind, dann müssen sie auch die Möglichkeit haben, von der Förderung im Hinblick auf die Betriebskosten zu profitieren. ({4}) Das ist etwas, das wir auf den Weg gebracht haben, und auch das ist richtig. ({5}) Ich komme auf die privaten Anbieter zu sprechen. Herr Wunderlich, erst habe ich gedacht, dass Sie im falschen Parlament sitzen. Vielleicht sollten Sie einmal nach Australien reisen und den Australiern sagen, was sie alles falsch machen. Hier haben wir eine andere Politik und eine ganz andere Ausgangslage. ({6}) Das dürfen Sie nicht vergessen. Wir haben schon Qualitätsstandards. Wenn wir den Markt für die Privatgewerblichen öffnen, machen wir nichts Neues, sondern das, was in vielen Ländern schon auf der Tagesordnung steht. In Brandenburg, in Bayern, in Mecklenburg-Vorpommern werden Privatgewerbliche bereits unterstützt. Sie haben gesagt, dass wir den Ländern den Schwarzen Peter zuschieben. Dass diejenigen, die die Betriebserlaubnis erteilen, auch darauf achten sollen, dass die fachlichen und rechtlichen Voraussetzungen gegeben sind, ist aber richtig. Das können wir von hier aus doch gar nicht. Das müssen die vor Ort machen. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Fischbach, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Wunderlich?

Ingrid Fischbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003117, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gern.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Wunderlich, bitte.

Jörn Wunderlich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003867, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Kollegin Fischbach, Sie kennen die Antwort der Bundesregierung auf unsere Kleine Anfrage zur Privatisierung in der Kinder- und Jugendhilfe nicht. Wir haben gefragt: Inwiefern wird die zukünftige Jugendhilfelandschaft von gewerblichen, also Kommerzinteressen geprägt sein? Darauf antwortet die Bundesregierung: Da können wir keine Aussagen treffen; das wissen wir nicht. ({0}) Es gibt aber zig Studien dazu, welche Auswirkungen die Privatisierung auf die Jugendhilfe und die Kinderbetreuung hat - ich habe sie nur ansatzweise genannt -; es sind zum überwiegenden Teil negative. Verschließt die Bundesregierung die Augen davor? Wollen Sie es auch nicht wahrhaben? ({1}) Ich brauche nicht nach Australien zu gehen. Ich kann mir das in den Niederlanden, in England oder sonst wo anschauen. Warum verschließen Sie Ihre Augen vor diesen Folgen der Privatisierung und Kommerzialisierung der Kinderbetreuung und sagen, das ist alles schon so? Wenn sich nichts ändert, frage ich mich natürlich und auch Sie: Warum heißt es in der Antwort dann, wir können keine Aussagen treffen, und nicht, es ändert sich nichts?

Ingrid Fischbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003117, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sie sagen, alle privaten Anbieter seien auf Kommerz und Gewinn aus. Dazu möchte ich festhalten: Solche kenne ich gar nicht. Ich weiß nicht, wo die sind; vielleicht in Berlin. Was Sie gesagt haben, Herr Wunderlich, hat mich wirklich geärgert. Das ist eine Ohrfeige für die, die sich privat auf den Weg gemacht haben, um eine vernünftige Betreuungssituation für die Kinder zu schaffen. ({0}) Es gibt bereits viele solche privaten Organisationen. Ich würde mir wünschen, dass auf der Tribüne die eine oder andere Tagesmutter wäre, ({1}) die ihre eigene Betreuungsorganisation geschaffen hat; dann hätte sie das mitbekommen. Das ist eine Ohrfeige für die, die aufgrund der Mangelsituation - das will ich gar nicht unter den Tisch kehren - zum Wohl der Kinder aktiv geworden sind. Das ist sehr unfair und den Frauen gegenüber nicht richtig. Wenn Privatgewerbliche Angebote vorhalten, die wir auf anderem Wege nicht schaffen können, dann müssen sie auch die Möglichkeit haben, an bestimmten Förderprogrammen teilzunehmen. Es liegt an uns - da sind wir als Parlament gefragt -, Regelungen zu finden mit dem Ziel, dass unter staatlicher Förderung keine reine Gewinnmaximierung betrieben werden kann. ({2}) Wir müssen rechtliche und fachliche Grenzen einziehen. Wir müssen die Qualitätsstandards festschreiben. Sie können in den Beratungen, die jetzt anstehen, dabei mithelfen. ({3}) Sie sollten das zurücknehmen, was Sie vorhin gesagt haben, weil es denjenigen, die bereits jetzt auf dem Weg sind, wirklich nicht gerecht wird, auch ihrem Ansehen nicht gerecht wird. Denen haben Sie heute eine Ohrfeige gegeben. ({4}) Es gibt - Herr Wunderlich, vielleicht haben Sie das nicht so im Gedächtnis - eine EU-Dienstleistungsrichtlinie. Was wir jetzt auf den Weg bringen, müssen wir an das EU-Recht anpassen; sonst kommt Europa und kippt das wieder. ({5}) Diese Dienstleistungsrichtlinie besagt nichts anderes, als dass eine Unterscheidung zwischen privatgewerblichen und freigemeinnützigen Trägern nicht vorgenommen werden darf, das heißt, hier herrscht Dienstleistungsfreiheit. Auch die Angebote müssen wir machen. ({6}) - Sie können gleich etwas anderes sagen, Frau Rupprecht. ({7}) - Das werden Sie auch tun. ({8}) Ich werde dann nachfragen, auf welchen Paragrafen Sie sich beziehen. Wir müssen die Gesetze EU-Recht-konform auf den Weg bringen. Das ist ganz wichtig. Wir haben noch die Anhörung, um bestimmte Fragen zu klären. Aber von vornherein zu sagen, wir machen es nicht, wir wollen es nicht, halte ich für den falschen Weg. ({9}) - Das ist Ideologie. Wunderbar; da sind wir wieder einer Meinung. Meine Damen und Herren, ich habe gerade schon deutlich gemacht, dass wir uns jetzt in der Phase der Beratungen befinden. Wir als CDU/CSU-Fraktion sind mit dem, was auf dem Tisch liegt, sehr zufrieden. Wir werden natürlich an der einen oder anderen Stelle noch Ergänzungs- oder Änderungswünsche äußern. Das ist in parlamentarischen Beratungen so. Das ist auch richtig so. Aber das, was auf den Tisch gelegt wurde, stellt wirklich einen Meilenstein für unsere Familien dar. Ganz besonders stellt der Entwurf aber hinsichtlich seiner Qualität, auf die wir großen Wert gelegt haben, einen Meilenstein für unsere Kinder dar. In dem Sinne wollen wir zum Wohle unserer Kinder arbeiten. Daran dürfen Sie sich beteiligen. Danke schön. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt hat die Kollegin Marlene Rupprecht von der SPD-Fraktion. ({0})

Marlene Rupprecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003000, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich höre immer ganz fasziniert bei Debatten zu, in denen Kinder eine Rolle spielen. Als Kinderbeauftragte meiner Fraktion ist es ja mein Anliegen, Kinderinteressen wahrzunehmen. Die meisten Kollegen möchten das in diesen Debatten ja auch gerne tun, aber sie glauben, dass sie, wenn über Kinder geredet wird, den Verstand ausschalten könnten. Die Anliegen und Interessen von Kindern muss man allerdings sowohl mit dem Kopf als auch mit dem Herzen aufnehmen. In diesem Sinne möchte ich gerne auf das, was vorliegt, eingehen. Vor uns liegt jetzt das Kinderförderungsgesetz. Das ist super; denn es enthält den verbindlichen Rechtsanspruch auf Betreuung ab 2013 für alle Kinder ab dem ersten Lebensjahr. Jetzt gerade ist gefragt worden: Was geschieht in der Zeit bis dahin? Ich antworte darauf: Man sollte einmal das Gesetz genau lesen; denn auch bis dahin gibt es einen Rechtsanspruch, nämlich einen qualifizierten, also nicht für jedes Kind, sondern abhängig von der Umsetzung der Vorgaben. Das haben wir auch schon beim Tagesbetreuungsausbaugesetz so gemacht. ({0}) Man kann ja nicht den Kommunen sagen: Bis morgen müsst ihr 750 000 Plätze zur Verfügung stellen, aber sich nicht darum kümmern, wie sie das schaffen sollen. ({1}) Das darf man nicht tun, wenn man verantwortlich handeln will. Man muss dann vielmehr den Verstand einschalten - das meinte ich eben mit meiner Bemerkung und sachlich-fachlich schauen, wie das Ziel, das man sich gesetzt hat, erreicht werden kann. Ein solches Verhalten erwarte ich von Politikern. Uns ging die Entwicklung, wie sie im Pakt festgeschrieben worden ist, zu langsam. Deshalb geben wir jetzt - das gibt ja allen Entwicklungen in unserer Republik immer etwas Schwung - Geld. Der Bund stellt in der Aufbauphase 4 Milliarden Euro zur Verfügung. Vielleicht kommt so der Turbo etwas in Schwung. Davon sind 2,15 Milliarden Euro zur Finanzierung von Investitionen und 1,85 Milliarden Euro zur Finanzierung von Betriebskosten während der Aufbauphase vorgesehen. Danach werden diese Zuschüsse bei 770 Millionen Euro verstetigt. Eine so starke Beteiligung des Bundes an einer Länder- bzw. Kommunalaufgabe hat es bisher in dieser Republik noch nicht gegeben. Wir wollen durch den Ausbau erreichen, dass Plätze für 35 Prozent der Kinder zur Verfügung stehen, also 750 000. Ich denke, mit diesem Gesetz tragen wir dem Rechnung, was im Elften Kinder- und Jugendbericht gefordert wurde, nämlich ein Aufwachsen in öffentlicher Verantwortung. Früher hat nämlich jeder Berufstätige hilflos für sich wurschteln müssen und wurde von einer Stelle zur anderen geschickt, wenn er diese danach fragte, wie er es schaffen soll, dass sein Kind mit anderen Kindern spielen und aufwachsen kann. Jetzt schaffen wir Strukturen, damit Menschen frei und selbstbestimmt ihr Leben gestalten können. ({2}) Strukturen sind also nötig. Für deren Aufbau haben wir unter Christine Bergmann Geld zur Verfügung gestellt, die Strukturen wurden unter Renate Schmidt weiter verbessert, und jetzt gehen wir mit Frau von der Leyen noch einen Schritt weiter. Ich bin ihr sehr dankbar dafür - das sage ich ausdrücklich an die Adresse der Ministerin -, dass sie die bisherige Politik fortsetzt. ({3}) Sie sagt ja ausdrücklich, dass schon unter Rot-Grün eine gute Politik in diesem Bereich gemacht wurde und diese vernünftige Politik nun nicht deshalb beendet wird, weil das Parteibuch der Ministerin gewechselt hat. Ich finde, dazu kann man einfach nur sagen: Passt! Wir wollen, dass jeder, egal woher er kommt und wohin er in Deutschland geht, diese Strukturen vorfindet und benutzen kann. Ich glaube, damit haben wir sozialdemokratische, grüne und jetzt auch ({4}) Marlene Rupprecht ({5}) christdemokratische Familienpolitik fortgeschrieben. Wenn das ein gutes, buntes Bild ergibt, sodass die Leute sagen, die denken an uns und nicht nur an ihr Parteibuch, dann ist das richtig. ({6}) Ich glaube, dass wir das ohne Bruch fortführen. Herr Singhammer, auch Sie bekommen da Ihre Spielwiese, auch wenn das 2013 dann überflüssig ist, weil Sie dann rausgewachsen und erwachsen geworden sind. Dann brauchen Sie das Betreuungsgeld in § 16 nicht mehr; bis dahin ist das überflüssig. ({7}) - Ja, so ist es. Wir geben ihm die Zeit auf der Spielwiese so lange, bis er verstanden hat, dass die Leute nicht mehr auf der Spielwiese, sondern im realen Leben angekommen sind. Ich finde, das Gesetz ist gelungen. Aber bei zwei Punkten, die hier schon von Vorrednern erwähnt worden sind, hätte ich die Bitte, dass wir noch einmal genauer hinschauen. Das empfehlen auch die Verbände und die Fachleute aus Wissenschaft und Praxis. Das eine ist § 43 des Sozialgesetzbuches VIII. Da geht es um Tagespflege, aber vor allem um Großtagespflege. Wir brauchen die Tagespflege; wir haben auch die Rahmenbedingungen dafür verbessert. Die Frage ist: Wenn wir qualitativ hochwertige Betreuung, Bildung und Erziehung haben wollen, welche Kriterien legen wir dafür an? Nur darum geht es, nicht um Ideologie oder Ähnliches. Auf dem Land, wo es vielleicht nur drei Kinder gibt, kann keine Einrichtung dafür vorgehalten werden. Da braucht man eine gute Tagespflege. Aber wenn in Berlin Großtagespflege angeboten wird, muss man schon wissen, was man braucht. Da kann man, was die Qualität angeht, nicht ohne Kriterienkatalog vorgehen; denn dann hat man nur noch ein Verwahren, und das haben wir lange genug gehabt. Vielleicht ist auch der EU-Betreuungsschlüssel ein Maßstab. Den will ich Ihnen hier jetzt nicht nahebringen; aber die EU hat sich dazu Gedanken gemacht. Wir brauchen auf jeden Fall konzeptionelle, personelle und bauliche Vorgaben und Rahmenbedingungen, egal ob für gemeinwohlorientierte Anbieter oder für privat-gewerbliche Anbieter. Sonst gibt es Wettbewerbsverzerrungen, und die halte ich nicht für richtig. Institutionelle Anbieter sollten nicht schlechter gestellt werden als die Großtagespflege. Der zweite Punkt betrifft § 74 a des SGB VIII. Da geht es mir wirklich ums Grundsätzliche. Frau Fischbach hat gesagt, wir müssen EU-Recht umsetzen. Natürlich; auch ich bin dafür, dass wir das EU-Recht respektieren. Wir haben zugestimmt, dass ein vereintes Europa für uns gilt. Aber bei dieser staatlichen, hoheitlichen Aufgabe, die Daseinsvorsorge für Menschen im sozialpolitischen Bereich sicherzustellen, haben wir in der Bundesrepublik entschieden - das ist politisch gewachsen -, dass das nicht staatliche Organisationen tun; wir haben das vergeben. Andere Staaten haben das anders geregelt. Weil die EU aber weiß, dass wir in den Staaten unterschiedliche Strukturen haben, hat sie das so geregelt, dass jeder in seinem Land selber festlegt, wo und wie die Daseinsvorsorge in der Sozialpolitik gestaltet wird. Dabei darf niemand aus der freien Wirtschaft benachteiligt werden; das heißt, es muss gerechtfertigt werden, was festgelegt wird. ({8}) Dies ist festgelegt im EG-Vertrag. Ich beschäftige mich mit der Thematik schon fast zwei Jahre sehr intensiv.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Rupprecht!

Marlene Rupprecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003000, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Entschuldigung, Herr Präsident. Ich denke, dass das, was § 74 a regelt - Qualität und Angebot für alle -, eine Schlüsselfrage sein wird. Das Thema darf nicht ideologisch geprägt sein, sondern es geht darum, welches Konzept von Sozialstaatlichkeit in der Bundesrepublik Deutschland gilt und welche Aufgaben öffentlich und welche nichtöffentlich sind. ({0}) Das Aufziehen der Kinder ist eine öffentliche Aufgabe, bei der Qualität für alle gewährleistet werden muss. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Rupprecht, bitte.

Marlene Rupprecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003000, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

In anderen Staaten hat man Untersuchungen dazu gemacht; aber das gibt es auch bei uns. Ich wünsche, dass wir jetzt konstruktiv in die Beratungen gehen und im Sinne der Verantwortung, die wir haben, miteinander eine Lösung finden. Danke schön. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/9299 und 16/9305 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf: Beratung des Antrags der Bundesregierung: Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der internationalen Sicherheitspräsenz im Kosovo auf der Grundlage der Resolution 1244 ({0}) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen vom 10. Juni 1999 und des Militärisch-Technischen Abkommens zwischen der internationalen Sicherheitspräsenz ({1}) und den Regierungen der Bundesrepublik Jugoslawien ({2}) und der Republik Serbien vom 9. Juni 1999 - Drucksache 16/9287 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({3}) Rechtsausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der FDP vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Bundesminister Frank-Walter Steinmeier das Wort.

Dr. Frank Walter Steinmeier (Minister:in)

Politiker ID: 11004167

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wirft man einen Blick auf den westlichen Balkan durch die Brille der Mehrzahl der Kommentatoren, so müsste man in diesen Tagen eigentlich ein durch und durch kritisches Bild erkennen. Ich bitte aber: Seien wir ein wenig gerechter und erinnern wir uns an die Situation kurz vor der Jahrtausendwende. In Belgrad regierte Milošević, und drei blutige Kriege in Kroatien, Bosnien und im Kosovo hatten tiefe Wunden gerissen. Die Aufgabe, vor der ja nicht nur die Menschen in der Region, sondern auch die internationale Staatengemeinschaft standen, schien - wir erinnern uns an die Diskussionen bei uns - fast unlösbar zu sein. Betrachten wir die Situation aus heutiger Sicht, so muss man, ohne sie schönzureden, sagen, dass die grausamen Konflikte der 90er-Jahre, von denen ich gesprochen habe, Gott sei Dank der Vergangenheit angehören. In den meisten Teilen des ehemaligen Jugoslawiens hat die Demokratie Fuß gefasst. Die Wirtschaft entwickelt sich allmählich. Aber vor allen Dingen ist wichtig, dass die Menschen die Chance bekommen haben, Kraft zur Aussöhnung zu finden und Mut für eine gemeinsame Zukunft zu entwickeln. Das ist der Weg der letzten zehn Jahre. ({0}) Diese Entwicklungen - wir wissen das aufgrund der schmerzlichen Entscheidungen, die bei uns getroffen werden mussten - haben sich nicht von allein ergeben. Wir verdanken sie unserer Bereitschaft, einerseits mit militärischen Mitteln in die damaligen mörderischen Auseinandersetzungen auf dem Balkan einzugreifen und andererseits unsere euro-atlantischen Strukturen für die Länder des westlichen Balkans zu öffnen. Das führte zu dem heutigen Ergebnis, dass EU- und NATO-Mitgliedschaften für die Menschen auf dem Balkan zu einer greifbaren Perspektive geworden sind, einer Perspektive, die, wie ich finde, zugleich Ansporn für die notwendigen Reformen sein sollte, die in vielen Regionen noch durchzuführen sind. Ich schließe ausdrücklich die gegenwärtige Situation in Serbien ein. Belgrad hat bei weitem - darüber brauchen wir nicht zu streiten - noch nicht alle Hürden genommen. Insbesondere ist die Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof noch nicht bestätigt. ({1}) Aber - das ist der Obersatz meiner Betrachtungen - auch die Zukunft Serbiens wird und kann nur in Europa liegen. Davon bin ich fest überzeugt. ({2}) Ich hoffe deshalb, dass jetzt nach den Parlamentswahlen - ihr Ausgang war anders, als noch wenige Tage vor den Wahlen vorausgesagt wurde - eine Regierung gebildet wird, die sich erstens den Reformen verpflichtet fühlt und die zweitens die nächsten Schritte Serbiens in Richtung Europa unternimmt. Das, was uns alle in Atem gehalten hat, ist allerdings die Kosovo-Frage, die Lösung des Statusproblems im Kosovo - wenn Sie so wollen, die letzte offene Frage aus dem Zerfallsprozess des alten Jugoslawiens. Wir haben in den letzten zehn Jahren - ich selbst erinnere mich daran - in allen erdenklichen internationalen Foren, in den Vereinten Nationen, in der Europäischen Union, in der NATO, über diese Statusfrage diskutiert und beraten. Wir haben nach einvernehmlichen Lösungen zwischen Priština und Belgrad gesucht, weil wir alle der Meinung waren: Eine einvernehmlich gefundene Lösung ist allemal die bessere. Diese Einsicht hat uns dazu geführt, dass wir im vergangenen Sommer noch einmal den Troika-Prozess eingeführt haben, um dort Gespräche zwischen Priština und Belgrad zu ermöglichen. Am Ende haben die Kraft, die Bereitschaft, das Potenzial oder was auch immer nicht für eine einvernehmliche Lösung ausgereicht. Kosovo hat vor drei Monaten seine Unabhängigkeit erklärt, und am Ende - das ist meine Überzeugung - gab es dazu auch tatsächlich keine glaubhafte Alternative mehr. Jetzt geht es darum - darüber sollten wir uns einig sein -, den Kosovo auf diesem Weg von unserer Seite aus nach Kräften zu unterstützen. ({3}) Die Anerkennung des Kosovo läuft. 20 der 27 europäischen Mitgliedstaaten haben ihn anerkannt. Außerhalb der Europäischen Union haben dies 22 weitere Staaten getan. Jetzt kommt Peru als erstes südamerikanisches Land hinzu. Der Kosovo besitzt - lassen Sie mich das sagen - genauso eine europäische Perspektive wie all die anderen Staaten auf dem westlichen Balkan. ({4}) Wenn ich das sage, weiß ich, dass dieser Weg für den Kosovo kein einfacher sein wird. Die Herausforderungen im Kosovo in wirtschaftlicher und institutioneller Hinsicht sind groß. Aber immerhin, die Regierung im Kosovo hat sich im Zusammenhang mit der Unabhängigkeitserklärung Gott sei Dank unmissverständlich zur Umsetzung des Ahtisaari-Plans bekannt. Sie hat sich vor allen Dingen dazu bekannt, alle Minderheitenrechte, wie international verlangt, umzusetzen. Wir von europäischer Seite wollen - das ist bekannt - mit der Rechtsstaatsmission EULEX unseren Beitrag dazu leisten, dass dort rechtsstaatliche Institutionen, Polizei und Justiz, aufgebaut werden. Unser Bemühen hält unverändert an, dass wir in den nächsten Tagen und Wochen eine Vereinbarung mit den Vereinten Nationen über die Ablösung der bisherigen UNMIK-Zuständigkeiten und die Überführung in EULEX-Zuständigkeiten auf den Weg bringen und baldmöglichst die Übergabe der Verantwortlichkeit stattfinden kann. Seit Beginn der Auseinandersetzungen hat sich die internationale Gemeinschaft wirklich bemüht, für Sicherheit im Kosovo zu sorgen. Ich glaube, man darf sagen: Das ist uns weitgehend gelungen. KFOR insbesondere hat sich in diesen zehn Jahren Anerkennung bei allen Bevölkerungsgruppen im Kosovo erarbeitet. Die Fortsetzung dieser Arbeit - lassen Sie mich auch das hier einmal sagen; das sage ich ganz besonders mit Blick auf einige Skeptiker, die heute auch noch an das Mikrofon treten werden - sollte in erster Linie im Interesse der serbischen Bevölkerungsminderheiten im Kosovo sein. ({5}) So komme ich zu dem Ergebnis: Die Regierung in Priština wünscht sich die Fortführung von KFOR. Die NATO ist bereit, ihr Engagement fortzusetzen. Wir sind uns mit den Partnern darüber einig, dass KFOR im Rahmen seines Mandates zukünftig am Aufbau der kosovarischen Sicherheitsstrukturen mitwirken wird, damit der Kosovo nach und nach in der Lage ist, seine Sicherheitsaufgaben selbstständig zu verantworten. Ich erhoffe mir deshalb eine breite Zustimmung für die Verlängerung des KFOR-Mandates im Deutschen Bundestag. Sie wissen, dass wir mit 2 700 von insgesamt 15 600 Soldaten das größte KFOR-Kontingent stellen. Wenn ich den Blick auf den westlichen Balkan richte und unser Engagement in Bosnien-Herzegowina mitberücksichtige, dann leisten deutsche Soldatinnen und Soldaten seit mehr als 13 Jahren Dienst auf dem Balkan. Ich glaube, wir dürfen sagen: Deutsche Soldatinnen und Soldaten haben an der Stabilisierung der gesamten Region einen wesentlichen Anteil. Dafür gilt ihnen unser ganz besonderer Dank und unsere Anerkennung. Auf diesen Dank und diese Anerkennung sollten die Soldatinnen und Soldaten auch in Zukunft rechnen können. Herzlichen Dank. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Dr. Rainer Stinner von der FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Rainer Stinner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003640, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer jemals den ehemaligen kosovarischen Präsidenten Rugova zu Hause besucht hat, kam unweigerlich mit zwei Dingen wieder heraus: erstens mit dem quasi hineingeprügelten Grundsatz, dass die Unabhängigkeit des Kosovo jedes Problem automatisch lösen würde, und zweitens mit einem Stein aus seiner umfänglichen privaten Steinsammlung, mit der er dokumentieren wollte, welche Bodenschätze im Kosovo liegen und wie reich der Kosovo sein könnte. Leider haben beide Eindrücke den Realitätstest nicht bestanden. Erstens wissen wir alle, dass allein die Unabhängigkeit die Probleme im Kosovo nicht löst; das ist eindeutig. Zweitens liegen leider auch die umfangreichen Bodenschätze immer noch tief vergraben in der Erde des Kosovo, wurden nicht gehoben, obwohl sie eventuell hätten gehoben werden können. Deshalb muss man wohl konstatieren: Die Geschichte des Kosovo ist eine Geschichte der verpassten Chancen. ({0}) Das müssen wir selbstkritisch zugeben. Die UNMIK hat es innerhalb von acht Jahren intensivster Tätigkeit im Kosovo, mit viel Geld und viel Einsatz, nicht geschafft, dieses Land nachhaltig zu stabilisieren und positiv zu entwickeln. Wenn man berücksichtigt, dass die Stromversorgung in Priština noch heute hakt, ein hohes Maß an Korruption vorherrscht und die Arbeitslosigkeit in diesem Landstrich unermesslich hoch ist, kann man, wenn man realistisch ist, nicht von einem Erfolg der UNMIK-Mission sprechen. Noch eine verpasste Chance: Die EU und Deutschland haben nach dem positiven Signal, das von dem Treffen in Thessaloniki ausging, nicht schnell genug die europäische Karte im Kosovo gespielt. Die Situation war 2003/2004 anders als heute. Unsere Fraktion hat schon im Jahr 2004 einen Antrag in den Bundestag eingebracht, weil wir die Europäische Union viel stärker in die Lösung des Kosovoproblems einbeziehen wollten. Dieser Antrag ist von der damaligen Regierung leider abgelehnt worden. Auch die Union hat alles andere als richtig mitgezogen. Der nächste Fehler bzw. die nächste verpasste Chance: die völlig falsche Einschätzung der russischen Reaktion auf den Ahtisaari-Plan. Uns ist über Monate, fast über Jahre hinweg vorgegaukelt worden, dass das irgendwie klappen würde. Unsere Fragen nach einem Plan B wurden eher als Belästigung abgetan. Man fragte, warum wir immer wieder mit derselben Frage kämen. Heute stehen wir, was die EULEX-Mission angeht, wie wir wissen, vor einem Scherbenhaufen. Das müssen wir so klar konstatieren. Entgegen den klaren Regelungen der Resolution 1244 werden im Nordkosovo gegenwärtig Parallelstrukturen aufgebaut. Das betrifft die Eisenbahn, die Grenzposten, die nicht von denen besetzt sind, die sie besetzen sollten, und weitere organisatorische Aspekte. Die Nichtpräsenz der EULEX-Vorbereitungsmission ist eine deutliche Dokumentation der Unmöglichkeit eines angemessenen Vorgehens. Nach unserer Ansicht ist die EULEX-Mission, die Rechtsstaatsmission, aber von einem unglaublichen Wert. Sie muss durchgeführt werden. Wenn die UNO nicht in der Lage ist, die EULEX-Mission durchzuführen - aus welchem Grund auch immer; Herr Minister, eine Diskussion über die Gründe können wir hier heute nicht führen -, dann muss die UNMIK die Dinge selbst in die Hand nehmen, damit die Bedingungen des Ahtisaari-Plans umgesetzt werden. Das ist das, was wir alle wollen. Die kosovarische Regierung hat sich dazu bereit erklärt. Im Kosovo zeigt sich leider ein weiteres Mal das Unvermögen von NATO und EU, gemeinsam zu arbeiten. In Brüssel ist es noch nicht einmal möglich, dass die NATO bzw. die KFOR mit dem EULEX-Team spricht. Blockaden sind in der Tat vorhanden. Das ist doch ein Jammer. Natürlich ist die Bundesregierung als größtes europäisches Land und als wichtiger NATO-Partner aufgerufen, dieses Trauerspiel zu beenden. Die einzige Konstante, der einzige stabile Pfeiler in all diesen Bruchstücken, die wir leider erleben müssen, ist in der Tat die KFOR. Das ist völlig unbestritten. Deshalb wird es Sie nicht verwundern, wenn wir als FDPFraktion dem Verlängerungsantrag heute zustimmen. Die KFOR-Mission muss verlängert werden. Es ist völlig undenkbar, jetzt die Zustimmung zu verweigern und die KFOR abzuziehen. Das Chaos im Kosovo wäre unübersehbar. Es wäre völlig unverantwortlich, wenn wir das heute machen würden. Deshalb, glaube ich, müssen alle hier, die das Wohl des Kosovo, das Wohl der Region im Auge haben, der Verlängerung des KFOR-Mandates heute zustimmen. ({1}) Wir haben einen Entschließungsantrag eingebracht. Dieser Antrag bringt zum Ausdruck, dass die Verlängerung der KFOR-Mission zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für eine positive Entwicklung des Kosovo ist. Deshalb haben wir Folgendes in den Antrag geschrieben: Wir brauchen eine völkerrechtlich eindeutige Legitimation der EULEX-Mission. Wir müssen sicherstellen, dass der Kosovo in Gesamtheit regiert werden kann und nicht in Teilbereiche zerfällt, in denen unterschiedliche Machtstrukturen aufgebaut sind. Wir brauchen eine ganz klare Definition der Aufgaben von und der Abgrenzungen zwischen KFOR, UNMIK und EULEX. Wir müssen auch dafür sorgen, dass NATO und EU eng abgestimmt an der positiven Entwicklung dieses Landes weiterarbeiten. - Das sind umfangreiche Hausarbeiten für die Bundesregierung. Wir können nur hoffen, dass im Kosovo keine weiteren Chancen verpasst werden. Schönen Dank. ({2})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich gebe das Wort dem Bundesverteidigungsminister, Herrn Dr. Franz Josef Jung.

Dr. Franz Josef Jung (Minister:in)

Politiker ID: 11003781

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am Dienstag dieser Woche hat die Bundesregierung beschlossen, den Einsatz der Soldaten der Bundeswehr im Kosovo um ein Jahr zu verlängern. Sie wissen, dass das Mandat grundsätzlich unbefristet ist, dass wir aber die Praxis haben, auf Verlangen des Deutschen Bundestages in einem jährlichen Rhythmus hier um die Verlängerung nachzusuchen. Ich denke, dass der Einsatz der Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr im Rahmen des KFOR-Mandates der NATO weiterhin notwendig ist, um Stabilität und friedliche Entwicklung im Kosovo zu gewährleisten. Die Eskalation, die wir an der Grenze nach der Unabhängigkeitserklärung erlebt haben, und die Situation im Zusammenhang mit dem Gerichtsgebäude in Mitrovica haben deutlich gemacht, wie wichtig es ist, dass KFOR weiterhin seinen stabilisierenden Beitrag im Kosovo leistet. KFOR - damit auch der Einsatz unserer Soldatinnen und Soldaten - ist der Garant für ein sicheres Umfeld im Kosovo. Darauf kann weiterhin nicht verzichtet werden. Wir sind im Rahmen dieses Mandates zurzeit mit 2 800 Soldatinnen und Soldaten einer der größten Truppensteller im Kosovo. Ein sicheres, stabiles Umfeld ist Grundvoraussetzung für einen erfolgreichen zivilen Aufbau des Kosovo. Herr Kollege Stinner, Sie haben diesen Punkt kritisch angesprochen. Es ist wahr, dass sich der Aufwuchs von EULEX mit 1 900 Kräften, der ja bis zum 15. Juni dieses Jahres vorgesehen war, verzögert. Jetzt sind 300 Kräfte von EULEX im Kosovo. Aber man muss fairerweise sagen, dass es hierzu einer Entscheidung der Vereinten Nationen bedarf. Ich habe gerade eben auf der Internationalen Luft- und Raumfahrtausstellung hier in Berlin mit dem NATO-Generalsekretär darüber gesprochen, der gestern in New York war, um mit dem Generalsekretär der Vereinten Nationen genau diese Frage abzustimmen. Denn es muss unser Ziel sein, dass es einen unmittelbaren Übergang von UNMIK zu EULEX gibt. Das heißt im Klartext: Hier darf keine sicherheitspolitische Lücke entstehen. Das ist, denke ich, unter dem Aspekt des zivilen Aufbaus des Kosovo und unter dem Aspekt einer weiteren stabilen und friedlichen Entwicklung in diesem Land notwendig. ({0}) Ich füge hinzu: Die Grundlage aller Bemühungen war und ist der Ahtisaari-Plan. Wie Sie wissen, hat Herr Ahtisaari über ein Jahr verhandelt und dann sein Konzept auf den Tisch gelegt. Wegen des Widerspruchs Russlands in den Vereinten Nationen hat man sich darauf verständigt, die Troika einzusetzen. Die Troika, bestehend aus den Vereinigten Staaten von Amerika, Europa und Russland, sollte beide Seiten zusammenführen. Auch dies ist, wie wir wissen, nicht gelungen. Wir alle, sowohl die NATO-Verteidigungsminister als auch die EU-Verteidigungsminister, haben immer gesagt: Grundlage ist der Ahtisaari-Plan. Nachdem das Kosovo seine Unabhängigkeit erklärt hat, hatte ich die Gelegenheit, dort zu sein. Es ist sehr positiv zu bewerten, dass sowohl der kosovarische Präsident Sejdiu als auch Ministerpräsident Thaçi sehr deutlich gesagt haben, dass für sie weiterhin der Ahtisaari-Plan gilt, dass also die Ziele des Minderheitenschutzes, der Einhaltung der Menschenrechte und der Rückkehr der Flüchtlinge nach wie vor gelten. Das ist die richtige Politik, um letztlich zur Befriedung des Kosovo beizutragen. Ich füge des Weiteren hinzu: Ich halte es für richtig, dass wir Serbien, was Europa bzw. die euroatlantischen Strukturen betrifft, eine Perspektive geben. In Bukarest haben wir das im Hinblick auf die NATO bereits beschlossen, sodass es auch hier eine Grundlage für eine friedliche Entwicklung gibt. Eines will ich aber klar sagen: Grundlage des Einsatzes unserer Soldatinnen und Soldaten im Kosovo ist weiterhin die Resolution 1244 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen. Wir sind uns in der NATO einig, dass wir diesen Einsatz nur auf dieser Basis durchführen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wer in der jetzigen Situation den Abzug der Bundeswehr aus dem Kosovo fordert, der handelt aus meiner Sicht verantwortungslos und gefährdet den Frieden und die Stabilität auf dem Balkan. ({1}) Aus diesem Grunde wollen wir unser Engagement fortsetzen und bitten Sie hierfür um Ihre Zustimmung. Wir verfolgen klare Ziele: erstens die Schaffung eines friedlichen und sicheren Umfeldes für die Bewohnerinnen und Bewohner des Kosovo, zweitens die Unterstützung der zivilen Missionen der internationalen Gemeinschaft und drittens den Aufbau selbsttragender Sicherheitsstrukturen. Ich halte es für richtig, dass wir unseren Beitrag zum Abbau des Kosovo Protection Corps und zum Aufbau der Kosovo Security Force leisten. Das heißt im Klartext, dass der Kosovo in die Lage versetzt werden soll, selbst für seine Sicherheit zu sorgen. Ich denke, dass man sich bei der Ausbildung der Kosovo Security Force auf den Zivilschutz, die Krisenreaktion bzw. die friedliche Entwicklung und auf das konkrete Thema Kampfmittelbeseitigung konzentrieren sollte. Wenn man all dies berücksichtigt, stellt man fest, welch großer Beitrag bisher geleistet wurde und dass die gegenwärtige friedliche und stabile Entwicklung ohne den Einsatz der NATO nicht eingetreten wäre. Im Interesse von Frieden und Stabilität im Kosovo, aber auch im Interesse einer friedlichen und stabilen Entwicklung auf dem Balkan bitten wir daher um Ihre Zustimmung zur Verlängerung des Mandats. Ich werbe für eine möglichst breite Unterstützung. Denn unsere Soldatinnen und Soldaten leisten einen wichtigen Beitrag für den Frieden. Deshalb haben sie eine breite Unterstützung des Parlaments verdient. Recht herzlichen Dank. ({2})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Monika Knoche, Fraktion Die Linke. ({0})

Monika Knoche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002701, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Herren und Damen! Einer Fortsetzung der deutschen Beteiligung an KFOR wird die Linke nicht zustimmen. Mehr noch: Wir werden vor das Bundesverfassungsgericht gehen. Wir bestreiten erstens, dass die Rechtsgrundlage für die Präsenz deutscher Truppen, die Resolution 1244 des UN-Sicherheitsrates, weiterhin Anwendung finden kann. Wir widersprechen zweitens der Auffassung, dass die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo richtig, unvermeidbar und völkerrechtskonform war. Drittens. Wir denken, dass die Aufgabenzuschreibung und die Abgrenzung zwischen KFOR, EULEX und UNMIK nicht eindeutig sind. Darin sehen wir uns durch die Äußerungen der NATO von heute bestätigt. Eine UN-Mandatierung für EULEX ist nicht gesichert. Es sind also politische, völkerrechtliche und diplomatische Gründe, weshalb wir dieser gravierenden Fehlentscheidung in der deutschen Balkanpolitik entgegentreten. Das Kosovo hat am 17. Februar 2008 seine Unabhängigkeit erklärt. Damit wurde eine völkerrechtswidrige Abtrennung aus dem Staatsgebiet Serbiens vollzogen. Eine weitgehende Autonomie Kosovos wäre die zu unterstützende Alternative gewesen. ({0}) Im Übrigen hat auch Altbundeskanzler Gerhard Schröder vor einigen Wochen bestätigt, dass es falsch war, die Anerkennung zu vollziehen. ({1}) Mit dem Ende der Statusverhandlungen ist auch der ursprüngliche Auftrag - darum geht es heute -, den Übergangsprozess militärisch abzusichern, entfallen. Für die neu geschaffene Realität hat die Bundeswehr unserer Auffassung nach kein Mandat mehr. Für das zukünftige Aufgabenspektrum liegt keine neue Resolution vor, und es wird sie erwartungsgemäß auch nicht geben. Diese prekäre Lage hat die Bundesregierung entscheidend mit herbeigeführt, indem sie die Separation des Kosovos forciert hat. Für uns ist entscheidend, dass für die deutsche Militärpräsenz im Kosovo seit Februar 2008 kein belastbares Bundestagsmandat mehr besteht. ({2}) Heute will die Regierung vom Parlament die Zustimmung für die Stationierung von fast 3 000 deutschen Soldaten im Kosovo für eine noch nicht genau bestimmte Dauer. Bei der von mir genannten Grundlage kann eine solche Entscheidung im Deutschen Bundestag unseres Erachtens nicht getroffen werden. Zur Lage im Kosovo. Der neue Status brachte keine Stabilität. Im Gegenteil: Nur 41 Staaten haben anerkannt. Jetzt herrscht Stagnation. Die Völkerrechtswidrigkeit des Vorgangs hält die meisten der Staaten davon ab, anzuerkennen. Der Sonderfall Kosovo könnte ansteckend wirken und eben kein Einzelfall bleiben. Auch europapolitisch ist die Unabhängigkeit verhängnisvoll. Spanien, Großbritannien, Ungarn und Rumänien haben gespannte Konfliktlagen. Es ist also kein Wunder, dass neben China und Russland sieben europäische Staaten bewusst nicht den Fehler machen, partiell von der europäischen Idee der Integration und Multiethnizität abzurücken. Für Deutschlands Balkanpolitik gibt es international nur einen sehr schwachen Rückhalt. ({3}) Kosovo ist bei allen Beschreibungen ein Failing State. Er kann und will seine Minderheiten nicht selber schützen. Die stabile Multiethnizität einer Gesellschaft kann aber nicht durch das Militär hergestellt werden. Nach den Kommunalwahlen vor zwei Wochen - ich war als Wahlbeobachterin der OSZE dort - werden sich die Doppelstrukturen albanisch-serbisch vertiefen. De facto heißt das, dass das Kosovo in einen albanischen und einen serbischen Teil zerfallen ist. Wie es im Antrag der Bundesregierung heißt, wird die KFOR dafür zuständig gemacht, zur Sicherheit aller Bewohnerinnen und Bewohner - unabhängig von ihrer Volkszugehörigkeit friedliche und normale Lebensbedingungen herzustellen. Die Tatsache, dass Kämpfer der nationalistischen UCK heute in Politik, Militär und Polizei vertreten sind, und der Umstand, dass Familienclans in den Machtstrukturen vorherrschen, lässt Rechtsstaatlichkeit und Bekämpfung von Korruption und Kriminalität auf absehbare Zeit zur Utopie werden. Wie konnte das Kosovo bei diesen Tatsachen als unabhängiger Staat anerkannt werden? Welch eine Fehlentscheidung! ({4}) Welch gravierende Völkerrechtsprobleme haben Sie damit heraufbeschworen? Die desolate Bilanz nach achtjähriger internationaler Präsenz ist eine große politische Last. Wir sind überzeugt: Sie kann nur politisch und nicht militärisch abgetragen werden. Ich fasse zusammen: Eine Fortführung der deutschen Beteiligung an KFOR hat keinerlei Völkerrechtsgrundlage in der UN-Resolution 1244; denn durch die Anerkennung des Kosovos ist der ursprüngliche Mandatsauftrag entfallen. Eine neue UN-Resolution kann und wird es nicht geben. Wenn es nach rechtlichen Prinzipien geht, müssen die Truppen mithin abgezogen werden. Diese unsere Position werden wir dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung vorlegen. ({5})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich gebe das Wort dem Kollegen Jürgen Trittin, Bündnis 90/Die Grünen.

Jürgen Trittin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003246, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wer die Welt nicht als Amtsgericht betrachtet, sondern sich konkret mit der Situation im Kosovo beschäftigt, stellt fest, dass die Lage zurzeit unübersichtlich ist: zwar ruhig, aber nicht stabil. Wer daran interessiert ist, Gewalt und eine Verschlechterung der Situation zu verhindern und zu vermeiden, dass sich beispielsweise die Vorfälle aus dem Jahr 2004, als Serben Opfer von Attacken geworden sind, wiederholen, der kann zu diesem Zeitpunkt nicht ernsthaft dafür plädieren, die Bundeswehr abzuziehen; vielmehr muss er für die Verlängerung des Mandats stimmen. ({0}) Wenn man in Priština landet, wird man von einem Schild mit der Aufschrift „Willkommen im unabhängigen Staat Kosovo“ empfangen. Im Pass findet man dann aber einen Stempel von UNMIK. Die Lage ist also sehr widersprüchlich. Die Unabhängigkeit hat eben nicht alle Probleme gelöst, wie Sie, Herr Stinner, das geschildert haben und wie Herr Rugova immer gehofft hat. Im Gegenteil: Die Situation hat sich nicht geändert. Man könnte gelassen sagen, dass dort, wo Realismus herrscht, auch die Enttäuschung weniger Chancen hat. Aber gerade weil die Lage unverändert ist, ist es bedauerlich, dass die EULEXMission weiterhin blockiert ist, dass der organisierten Kriminalität im Kosovo nur eine schwache Justiz gegenübersteht und dass es Verzögerungen im Aufbau rechtsstaatlicher Strukturen gibt. Das ist eine schwere Hypothek. Wer den Einfluss des organisierten Verbrechens beklagt - das ist kein Phänomen, das erst seit der Unabhängigkeit aufgetreten ist; es beschränkt sich auch leider nicht auf den Kosovo, wie ein Blick auf Serbien und andere Staaten dieser Region zeigt -, der muss alles dafür tun, dass eine Rechtsstaatsmission wie EULEX dort wirken kann. Deswegen sehe ich das eigentliche Problem darin, Herr Außenminister, dass das, was die EU dort vorgeplant hat, bis heute blockiert ist und wir es mit einer Doppelstruktur von UNMIK und EULEX zu tun haben. Dafür gibt es im Grunde nur zwei Lösungen. Entweder - darauf sind Sie nicht eingegangen - übernimmt UNMIK die Zivilverwaltung im Norden - das entspricht dem, was der serbische Teil des Kosovo will -, oder wir finden einen Weg, um EULEX de facto in UNMIK einzugliedern. Das hätte den Vorteil, dass - anders als die Linkspartei - Russland und Serbien UNMIK in vollem Umfang akzeptieren. Ich glaube, wir müssen uns darum sehr bemühen; denn anderenfalls droht ein desaströses Neben- und Durcheinander der internationalen Organisationen, die sich dadurch selber blockieren. Entgegen vielen Befürchtungen sind die großen Gewaltausbrüche bisher Gott sei Dank ausgeblieben. Das ist auch ein Verdienst der deutschen Soldaten im Rahmen von KFOR. In den serbischen Enklaven ist es ruhig. Dort - nicht im Norden des Kosovo - leben übrigens zwei Drittel der Serben. UNMIK hat zu Recht die Ergebnisse der Kommunalwahlen vom 11. Mai 2008 im Kosovo nicht anerkannt. Die Situation im Norden ist dauerhaft angespannt. Dass KPS und UNMIK-Polizei zwar an den Grenzen präsent sind, aber faktisch keine Kontrollen durchführen, und dass Mitarbeiter internationaler Organisationen nur in Ausnahmefällen durchkommen, kann meines Erachtens nicht auf Dauer akzeptiert werden. Dieser Umstand zeigt, dass KFOR mindestens so wie bisher gebraucht wird. Dafür gibt es eine eindeutige Rechtsgrundlage: die Resolution 1244 des Sicherheitsrates, deren Gültigkeit Serbien und Russland ausdrücklich anerkennen. Wir alle möchten nicht, dass KFOR dort auf Dauer präsent ist. Die Verantwortung von KFOR besteht darin, für alle Bewohner des Kosovo und für die internationalen Helfer die Sicherheit zu gewährleisten, bis diese dort selbst hergestellt werden kann und es eine politische Lösung gibt, die auch von Russland und Serbien akzeptiert wird. Liebe Frau Knoche, erst wenn es einen anderen Beschluss des Sicherheitsrats gibt, der die Resolution 1244 ersetzt, entfällt die völkerrechtliche Grundlage für die Präsenz von KFOR. ({1}) Nach einem solchen politischen Kompromiss wird mittelfristig hoffentlich auch die Notwendigkeit für einen weiteren Stabilisierungseinsatz durch KFOR entfallen. Bis dahin halten wir diese Präsenz für notwendig und für völkerrechtlich eindeutig legitimiert. Deswegen werden wir einer Verlängerung dieses Mandats zustimmen. Vielen Dank. ({2})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Gert Winkelmeier.

Gert Winkelmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003864, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Es gibt ein paar ethische Grundsätze und Handlungsmaximen, die universelle Gültigkeit haben. Wären sie bei den großen Entscheidungen, etwa bei Entscheidungen über Krieg und Frieden, die Richtschnur, gäbe es weniger Elend auf der Welt. Verstöße gegen diese Grundsätze durch die deutsche Politik hatten bis 1990 nur begrenzt negative Auswirkungen, was einfach am begrenzten außenpolitischen Handlungsspielraum lag. Nach Erlangung der vollen Souveränität sieht dies inzwischen anders aus. Hätte sich Rot-Grün 1998/99 an die uralte Regel gehalten, was immer du tust, handle klug und bedenke das Ende, müssten wir heute nicht über den Antrag der Bundesregierung zur Verlängerung des Bundeswehreinsatzes im Rahmen der Sicherheitstruppe KFOR debattieren. ({0}) Dann hätte es nämlich den völkerrechtswidrigen Luftkrieg gegen die zivile Infrastruktur Jugoslawiens nicht gegeben. ({1}) Das war der Sündenfall aller, die am 13. Oktober 1998 dem Vorratsbeschluss für die NATO zugestimmt haben. Dieser Sündenfall gebiert ein um das andere Mal neue Rechtsbrüche, weil die Konsequenzen nicht bis zu Ende bedacht worden sind. Die Bundesregierung nennt als Rechtsgrundlage für den Einsatz unserer Soldaten die Resolution 1244 des Sicherheitsrates und das Militärisch-Technische Abkommen zwischen Serbien und der KFOR vom Juni 1999. Das ist an Dreistigkeit wahrlich kaum mehr zu überbieten, und ich sage Ihnen auch, warum: Nach der durch amerikanischen Druck beflügelten Lesart der Bundesregierung gehört das Kosovo nicht mehr zu Serbien. Die Bundesrepublik hat die Unabhängigkeit der serbischen Provinz deswegen als einer der ersten Staaten anerkannt. Sowohl der Resolution 1244 als auch dem MilitärischTechnischen Abkommen hat Serbien auch für seine Provinz Kosovo zugestimmt, aber doch nicht für einen unabhängigen Staat Kosovo, den die Resolution 1244 zudem ausdrücklich ausschließt. Auf diese Resolution hat sich Serbien verlassen. Nun wollen Sie sich auf eine Rechtsgrundlage stützen, die zu einem völlig anderen Zweck geschaffen wurde: zur Sicherung der Übergangsverwaltung unter der Schirmherrschaft der UNO. Das ist doch einfach abenteuerlich und ein Stück aus dem Tollhaus. Im Übrigen frage ich mich, wozu ein angeblich souveräner Staat ausländische Truppen benötigt, um seiner ureigensten Aufgabe nachzukommen und seine Staatsbürger zu schützen. Aber vielleicht soll dies ja als ein Probelauf für die sogenannte Schutzverantwortung genutzt werden. 1999 wurde von Deutschland das Recht gebrochen und ein Präzedenzfall geschaffen, was jetzt mit der chartawidrigen Anerkennung des Kosovo und der EULEXMission gegen den Widerstand der UNO wiederholt wird. Das wird sich rächen. 151 Staaten der Welt, unter ihnen fast alle afrikanischen, lateinamerikanischen und asiatischen Staaten sowie Rumänien, Spanien und Griechenland, verweigern sich diesem Rechtsbruch. Sie halten sich an die Maxime des großen Königsberger Philosophen: Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde. Sein Geburtsland pfeift auf Immanuel Kant. Vielen Dank. ({2})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Für die SPD-Fraktion gebe ich der Kollegin Uta Zapf das Wort. ({0})

Uta Zapf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002582, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Hätten wir damals, als wir entscheiden mussten, diesen Krieg zu führen, wofür uns Herr Winkelmeier angegriffen hat, das Ende bedenken können, hätten wir trotzdem so entschieden. Die Alternative wäre gewesen, einem Massenmord zuzusehen. ({0}) Wir wollen lieber dem humanitären Gedanken der Verpflichtung zum Schutze der Menschen folgen, einem Gedanken, der sich leider nur langsam durchsetzt, der aber, wie ich glaube, bei unseren politischen Entscheidungen in der Zukunft noch öfter eine Rolle spielen wird. Die Verlängerung des KFOR-Mandates ist notwendig; das sehen außer der Linken und Herrn Winkelmeier alle so. Niemand kann bezweifeln, dass die Lage im Kosovo dies erfordert. Natürlich wissen wir, wie schwierig es ist, die EULEX-Mission, die nach dem Ahtisaari-Plan vorgesehen ist, zu implementieren. Es ist bedauerlich, dass sich Russland dem im Sicherheitsrat widersetzt. Deshalb muss man eine Übergangslösung, wie wir sie im Augenblick haben, ertragen. Am 15. Juni soll die neue kosovarische Verfassung in Kraft treten; an ebenjenem Tag wäre die Übergangsfrist zu Ende gegangen, hätte der Übergang von UNMIK auf die EU-Mission abgeschlossen sein sollen. Dann wird die kosovarische Regierung eine souveräne Regierung sein. Diese Regierung hat uns gebeten, die Mission aufrechtzuerhalten, um die Entwicklung zu einem sicheren, souveränen und demokratischen Staat zu unterstützen. ({1}) Es ist schon erwähnt worden, dass bisher nur 300 der eingeplanten 2 000 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen vor Ort sind. Es gibt weitere Schwierigkeiten, weil der Prozess bei der UNO stockt. Ich wünschte, ich könnte den Optimismus des Ministers, dass diese Probleme in absehbarer Zeit gelöst werden, teilen. Wir müssen uns dafür einsetzen, dass diese Probleme gelöst werden. Die Bevölkerung ist beunruhigt, unter anderem weil die UNMIK in Kosovo nicht so viel Anerkennung hat. Die EU-Mission wird herbeigesehnt. Es besteht immer das Risiko, dass neue Konflikte ausbrechen. Wir müssen uns anstrengen, dass kritische Situationen nicht entstehen, dass kein Sicherheitsvakuum entsteht. Deshalb ist es wichtig, dass wir KFOR ohne Wenn und Aber bestätigen. Ohne KFOR können eine Menge Probleme und Konflikte auftauchen. Ich will ein paar davon benennen: Die Regierung des Kosovo hat am Anfang geschlafen, sie war mit der Gesetzgebung langsam. Sie ist jetzt aufgewacht. Es gibt aber Konflikte im Parlament. Haradinaj, der vom Kriegsverbrechertribunal freigesprochen worden ist, ist zurückgekehrt und verfolgt seine eigenen Interessen, er möchte seinem Erzrivalen, Ministerpräsident Thaçi, die Hölle heiß machen. Man streitet über Wahltermine, man streitet über die Gesetzgebung, man streitet darüber, welche gesetzlichen Feiertage implementiert werden sollen. Es gibt noch beunruhigendere Probleme. Ich schaue nach Serbien und frage mich, wie sich die politische Landschaft dort entwickeln wird. Zwar hat Präsident Tadić ein veritables Ergebnis erreicht, er kann aber keine Regierung bilden. Die andere Seite, die Radikalen, die enorm zugelegt haben, kann ebenfalls keine Regierung bilden. In der Mitte steht die ehemalige Milošević-Partei, um die sich beide nun bemühen. Man weiß noch nicht, wie sich diese Partei, die möglicherweise auseinanderbrechen wird, entscheiden wird. Gleichzeitig droht zum Beispiel der Kosovo-Minister aus Serbien, alle Ergebnisse der vorhin erwähnten illegalen Kommunalwahlen zu implementieren. Das führt unweigerlich zu Spannungen. Deshalb ist UNMIK unbedingt erforderlich. KFOR wird um einige Aufgaben erweitert. Das wurde gerade vom Verteidigungsminister erwähnt. Es ist sicherlich wichtig, dass eine selbsttragende Sicherheitsarchitektur auf Dauer geschaffen wird. Ich glaube, dass dort noch Gefahren bestehen; denn die Kosovaren haben andere Vorstellungen von den Aufgaben, die ihnen nun gegeben werden. Sie wollen ein bisschen mehr Militär, als ihnen gewährt wird. Wir wissen zudem, dass die UÇK noch immer über gute Waffenreserven in den Kellern verfügt und dass es illegale Milizen gibt, die noch zum Problem werden können. All das zusammengenommen - ich könnte noch viel mehr erwähnen - ist ein Beweis dafür, dass KFOR im Moment das wichtigste Element ist, um dort Stabilität, Sicherheit und Schutz der Bevölkerung zu gewähren. Das muss man schlicht und ergreifend trotz aller Probleme, die es auf internationaler Ebene noch gibt, berücksichtigen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Zapf, achten Sie bitte auf die Redezeit.

Uta Zapf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002582, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich bin sofort fertig. Das ist der letzte Satz, keine Angst. Ich bitte Sie deshalb, genauso wie die SPD der Verlängerung des Mandats zuzustimmen. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Sie verkennen die Situation. Ich habe überhaupt keine Angst. Letztendlich habe ich hier einen Knopf, um das anders zu beenden. Aber ich hätte es gerne, dass es für alle fair zugeht und wir uns nicht gegenseitig mit der Überziehung der Zeit sozusagen nötigen. Das Wort für die Unionsfraktion hat der Kollege Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg.

Karl Theodor Guttenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003543, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn man sich die Länge des heute diskutierten Mandats anschaut, dann stellt man fest, dass KFOR in das zehnte Jahr geht. Vor zehn Jahren hat ein notwendiger außen- und sicherheitspolitischer Paradigmenwechsel stattgefunden. Manch einer von uns hat damals sicherlich gedacht, dass das bald vorüber sein wird. Nun gibt es die bittere Erkenntnis, dass das Ganze nicht so bald wie erhofft vorüber sein wird. Vor zehn Jahren wurde die wichtige Grundentscheidung getroffen, kein weiteres Morden und keinen weiteren Flächenbrand in dieser Region zuzulassen sowie Grundlagen für Stabilität und Sicherheit dort und damit auch für unsere Sicherheit zu schaffen. All das wäre nicht allein durch haarspalterische, völkerrechtliche Debatten möglich gewesen. Das hätte mit Sicherheit nicht genügt. ({0}) Es gab sicherlich Talsohlen. Aber KFOR hat klare Erfolge zu verzeichnen. Herr Bundesminister, wir haben einmal im Jahr die Möglichkeit, Ihren Soldaten, die dort ihren Dienst tun, zu danken. Wir danken auch den zivilen Helfern vor Ort. Es handelt sich um einen Gesamtansatz der internationalen Gemeinschaft, der dort zum Tragen kommt. Das verdient unseren Dank, unseren Respekt und unsere Anerkennung. ({1}) Um den Aufgaben gerecht zu werden, vor denen wir stehen, müssen wir uns fragen, welcher Zukunft das Kosovo, Serbien und die gesamte Region entgegengehen. Auch das ist eine Frage, die wiederkehrt, die uns aber immer wieder vor neue Herausforderungen stellt. Das Kosovo hat sich für die Unabhängigkeit entschieden. Herr Bundesaußenminister, es war ein schwieriger, aber ein richtiger Schritt, die Anerkennung auszusprechen. Der Verhandlungsprozess als solcher wurde nachhaltig ausgeschöpft. Von daher sind die Einwürfe, die diesbezüglich kamen, schlechterdings falsch. Die junge Unabhängigkeit hat ihre Schwächen, sie hat Defizite, sie hat politische Schwächen. Sie hat natürlich wirtschaftliche Defizite zu bekämpfen, aber diese Unabhängigkeit hat auch Bewegung in den politischen Prozess gebracht, eine Bewegung, die wir jetzt in einen Aufwärtsprozess münden lassen müssen, die wir nicht auf eine schiefe Ebene geraten lassen dürfen, an deren Ende wieder Gewalt und Rassismus stehen könnten. Das gilt es zu vermeiden. Wir sind immer noch in einer instabilen Übergangsphase, die aber auch gesichert werden muss. Diese Sicherung ist mit dem KFOR-Mandat weiterhin herzustellen. Was den Übergang betrifft, so haben Sie, Herr Kollege Trittin, die richtigen Fragen gestellt, auch in unseren Augen, was zum Beispiel den Übergang der Verantwortung von den Vereinten Nationen auf die Europäische Union anbelangt. Ich glaube, auch hier müssen wir genau abwägen, was möglich und machbar ist, und uns immer wieder selbstkritisch die Frage stellen - die Diskussionen, die angestoßen werden, Frau Knoche, sind gar nicht so falsch -, ob uns die Rechtsgrundlagen auf Dauer reichen. Ich glaube, die Rechtsgrundlage ist akzeptabel - das ist unsere Überzeugung -, aber sie ist immer auch optimierbar. Was nicht passieren darf, ist, dass wir in eine Kultivierung einer völkerrechtlichen Debatte bei dieser Frage hineinkommen, sondern wir müssen zusehen, dass wir eine Optimierung dieses Zustandes insgesamt darstellen können. Bei der Frage, wie es mit Serbien weitergeht - der zweiten Frage -, kann man nur sagen: hoffentlich mit europäischer Vernunft - das Ergebnis für Tadić steht in meinen Augen für diese europäische Vernunft -, hoffentlich auch mit einer europäischen Perspektive, nicht nur von unserer Seite - wir erhalten diese aufrecht -, sondern auch in den Köpfen der Menschen in Serbien, und hoffentlich mit einer verantwortungsvollen Regierungsbildung, die sich nicht das Beispiel Belgrad zum Maßstab nimmt. Es wäre verheerend, wenn die Entscheidung in der Stadt, diese Entscheidung auf kommunaler Ebene, übertragen würde und die Radikalen im Boot säßen bzw. mit diesen eine Regierung gebildet werden müsste. Bezüglich des Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommens für Serbien haben wir diskutiert, ob es richtig oder falsch ist, dieses als Anreiz zu setzen. Nun wurde der Anreiz gesetzt. Wenn man von dem Ergebnis ausgeht, kann man möglicherweise sagen, dass es ein richtiges Signal war. Wir haben da mit uns gerungen. Wir werden uns aber auch vergewissern müssen, dass die vereinbarten Bedingungen, Herr Bundesaußenminister, sich in den unterschriebenen Texten tatsächlich wiederfinden. Sie müssen dort stehen. Wir müssen letztlich auch hier Sicherheit für die zukünftigen Ansätze haben, die wir verfolgen. Wenn wir an die Region denken, dann dürfen wir, solange wir über Serbien und über das Kosovo diskutieren, Bosnien-Herzegowina, Mazedonien und die gesamte Sicherheitsarchitektur als solche nicht aus dem Blick verlieren. Das ist unsere Aufgabe. Diese Aufgabe bedarf immer einer immanenten Sicherung. Ein Teil dieser Sicherung wird durch KFOR gewährleistet. Vor diesem Hintergrund stimmt auch die CDU/CSU einer Fortsetzung zu. Wir werden den gesamten Prozess, so wie er angestoßen wurde, weiterhin unterstützen. Vielen Dank. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/9287 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Der Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/9369 soll an dieselben Ausschüsse überwiesen werden, jedoch an den Haushaltsausschuss ausschließlich zur Mitberatung. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Werner Dreibus, Ulla Lötzer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Entfernungspauschale sofort vollständig anerkennen - Verfassungsmäßigkeit und Steuergerechtigkeit herstellen - Drucksache 16/9167 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({0}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion Die Linke fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Für die Fraktion Die Linke hat der Kollege Oskar Lafontaine das Wort. ({1})

Oskar Lafontaine (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002715, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die gestiegenen Benzinpreise sind ein Problem für viele Bürgerinnen und Bürger unseres Landes. Sie sind im Besonderen ein Problem für viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die auf ein Auto angewiesen sind, um ihren Arbeitsplatz zu erreichen. Deshalb stellt sich mehr und mehr heraus, dass die Entscheidung im Jahr 2007, die Pendlerpauschale deutlich zu reduzieren, eine falsche Entscheidung war. ({0}) Nicht allein die gestiegenen Benzinpreise bewegen die Menschen in Deutschland: Auch unsere Strompreise, Gaspreise und Nahrungsmittelpreise steigen. Die isolierte Betrachtung der Benzinpreise würde hier also überhaupt nicht weiterhelfen. Letztendlich haben wir eine solche Veränderung bei den Energiekosten, dass immer mehr Menschen Schwierigkeiten haben, ihre Rechnungen zu begleichen. Deshalb müssen wir in irgendeiner Form Abhilfe schaffen. ({1}) Wir haben rechtzeitig darauf hingewiesen, dass diese Entscheidung der Koalition eine falsche Entscheidung war. Wir wurden damals des billigen Populismus bezichtigt. Mittlerweile sind wir froh darüber, dass die Populisten Zulauf bekommen haben. ({2}) Die CSU hat mittlerweile erkannt, dass es doch sinnvoll wäre, hier etwas zu tun. Sie hat richtigerweise beschlossen, die Entfernungspauschale vom ersten Kilometer an wieder einzuführen. Das ist zu begrüßen. Es gibt gar keinen Grund, sich darüber irgendwie lustig zu machen. ({3}) Wir wollen jetzt natürlich testen, ob die CSU auch dazu steht. Wir haben schon öfter festgestellt, dass diejenigen, die in der Öffentlichkeit Forderungen erhoben haben, auf einmal nicht mehr da waren, als wir hier Vorschläge gemacht haben, diese Forderungen umzusetzen. Wir wollen hier jetzt die Glaubwürdigkeit der CSU testen. Das ist ein Grund, warum wir diesen Antrag vorgelegt haben. Wir wollen, dass dieser Antrag hier tatsächlich zur Abstimmung kommt. Außerdem wollen wir - das sage ich ganz klar -, dass er vor der bayerischen Landtagswahl zur Abstimmung kommt. ({4}) Wir wollen nämlich nicht durchgehen lassen, dass mit diesen Versprechungen erst großartig gewedelt wird, bevor hier dann das Gegenteil beschlossen wird. ({5}) - Ich höre da etwas von Ausschussberatung. Man tut so, als müsste man das alles sehr tief beraten. Die Bürgerinnen und Bürger sollen jetzt hören, welch ungeheuren Beratungsbedarf Sie hierbei haben. Wenn wir Manns oder Frau genug dazu wären, Ja oder Nein zur Einführung der Pendlerpauschale zu sagen, dann könnten wir heute hier entscheiden. Da ist überhaupt nichts mehr zu beraten. ({6}) - Sie können sich noch so erregen; Sie verraten sich ja nur. ({7}) Sie werden mit diesem Trick natürlich nicht durchkommen. Sie werden sich hier also bekennen müssen. Dazu möchten wir Sie auf jeden Fall anhalten. Es geht aber nicht nur um die gestiegenen Benzinpreise. Ich will darauf hinweisen: Es geht auch darum, dass immer mehr Menschen niedrigere Löhne haben. Wir dürfen bei dieser Entwicklung der Benzinpreise nicht den Rest der gesellschaftlichen Entwicklung ausblenden. Deutschland hat mittlerweile den größten Niedriglohnsektor aller Industriestaaten. Dies war noch vor einigen Jahren überhaupt nicht der Fall. Diese Entwicklung führt natürlich dazu, dass immer mehr Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Schwierigkeiten haben, ihre Stromrechnung, ihre Gasrechnung und letztendlich die Fahrt zum Arbeitsplatz zu bezahlen. Diese Entwicklung zeigt auch, dass die Pendlerpauschale in sich schon ein Problem darstellt, weil sie denen nicht mehr zugute kommt, die keine Steuern zahlen. Darauf weist die Fraktion Die Linke immer wieder hin. Wenn wir also etwas für diejenigen tun wollen, die ein niedriges Einkommen, einen niedrigen Lohn haben und trotzdem ihre Fahrten zum Arbeitsplatz bezahlen müssen, müssen wir darüber nachdenken, ob es nicht sinnvoll ist, die Pendlerpauschale in der Form umzubauen, dass sie auch denen zugute kommt, die gar keine Steuern mehr zahlen. ({8}) Auch für andere Bereiche gilt: Man weist Steuergutschriften aus, um dem einen oder anderen zu helfen. Das führt dazu, dass 30 Prozent der Bevölkerung in Zukunft ausgeklammert sind. Auch darüber müsste in dieser Debatte entschieden werden. Ich kann darauf aus Zeitgründen nicht weiter eingehen. Wir weisen aber auch darauf hin, dass diese Entscheidung schon verfassungspolitisch äußerst problematisch war. Wer immer wieder mit großem Fleiß darauf dringt, dass Selbstständige oder Unternehmer ihre Kosten absetzen können, der kann hier nicht einfach beschließen, dass Arbeitnehmer keinerlei Kosten von der Steuer absetzen dürfen. Die Lösung, die wir hier vorschlagen, ist auch deshalb sofort anzustreben, weil das, was Sie beschlossen haben, nach unserer Überzeugung verfassungswidrig ist. ({9}) Ich fasse zusammen: Wir können den Beschluss jetzt sofort fassen. Der Verdruss, den Sie, meine Damen und Herren von der Großen Koalition, bei den Kommunalwahlen in Schleswig-Holstein wieder zu spüren bekommen haben, kommt nicht zuletzt daher, dass es in der Öffentlichkeit immer wieder große Ankündigungen gibt, von denen aber dann, wenn hier im Parlament entschieden werden muss, auf einmal nichts mehr zu hören ist. Das verärgert die Leute.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Kollege Lafontaine, lassen Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Fricke zu?

Oskar Lafontaine (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002715, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Gerne.

Otto Fricke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003530, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Lafontaine, als Haushälter versuche ich immer zu verstehen, wo die Reise hingehen und wie viel das Ganze kosten wird. Sie haben gerade erklärt, dass es die Pauschale auch für diejenigen geben muss, die keine Steuern bezahlen. Ich habe nur nicht ganz verstanden, was dann für die Rentnerinnen und Rentner gilt, die ja auch keine Steuern bezahlen. Heißt das, dass die Rentnerinnen und Rentner nach Ihrem Programm - ich möchte es ja nur verstehen - zukünftig auch in den Genuss der Pendlerpauschale kommen, wenn sie ein Auto haben und darauf angewiesen sind? ({0})

Oskar Lafontaine (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002715, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sie denken bestimmt, dass Sie uns jetzt fürchterlich aufs Glatteis führen, Herr Kollege. ({0}) Das ist auch Ihr gutes Recht. Aber damit haben Sie sich in die Nesseln gesetzt, denn es ist nun einmal so, dass Rentnerinnen und Rentner nicht zur Arbeitsstätte fahren. Insofern liegt die Frage völlig neben der Sache. ({1}) Sie fragen nach den Kosten. Ich will Ihnen die Antwort gern geben. Natürlich werden Kosten entstehen. Aber wer in diesem Jahr Geld hatte, zum Beispiel den Unternehmen trotz enormer Gewinne 22 Milliarden Euro zu geben, der kann nicht sagen, die Pendlerpauschale sei nicht finanzierbar. Das ist total unglaubwürdig. ({2}) Ein letztes Argument gegen die Pendlerpauschale könnte sein - entsprechende Zwischentöne sind hier angeklungen -, dass wir die ökologische Frage damit unsachgemäß beantworten würden. Diese Debatte ist schon sehr alt. Aber der Anreiz zum Energiesparen hat über steigende Strompreise, steigende Gaspreise, deutlich gestiegene Benzinpreise und steigende Heizölpreise bereits ein sehr hohes Ausmaß erreicht. Gleichzeitig wissen viele Menschen nicht mehr, wie sie diese überhaupt noch bezahlen sollen. Daher tritt jetzt die soziale Frage in den Vordergrund, und es ist sofort Abhilfe zu schaffen. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Unionsfraktion hat der Kollege Olav Gutting das Wort.

Olav Gutting (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003544, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Lassen Sie mich zunächst dem Eindruck entgegentreten, dass die Verfassungswidrigkeit der AbOlav Gutting schaffung der Pendlerpauschale schon abgemachte Sache ist. Die Linke fordert in ihrem Antrag, Verfassungsmäßigkeit herzustellen. Noch hat das Bundesverfassungsgericht aber überhaupt nicht entschieden. Keiner kann heute genau vorhersagen, wie Karlsruhe diesen Fall entscheiden wird. Das gilt auch für Die Linke, und das gilt auch für Sie, Herr Lafontaine, es sei denn, dass Ihr Fraktionskollege Gysi vielleicht auch in Karlsruhe gespitzelt hat.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Gutting, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Höll? ({0})

Olav Gutting (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003544, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, nicht an dieser Stelle. Ich habe gerade erst angefangen. ({0}) Ich will nur daran erinnern, dass im letzten Jahr einige deutsche Finanzgerichte die aktuelle Regelung der Pendlerpauschale durchaus als verfassungskonform betrachtet haben. Die Große Koalition hat die Abschaffung der Pendlerpauschale zum Jahreswechsel 2006/2007 ökonomisch und finanzpolitisch gut begründet. Auch andere Länder wie die USA, Spanien oder Irland verfahren nach dem Werkstorprinzip, nach dem die berufliche Sphäre erst am Werkstor beginnt. Es gibt viele schwerwiegende - auch umwelt- und raumordnungspolitische - Argumente, die für die Beibehaltung der Abschaffung der Pendlerpauschale sprechen. Dennoch sehe ich diesbezüglich Handlungsbedarf. Seit wir im Jahr 2006 die Abschaffung der Pendlerpauschale beschlossen haben, haben sich die Benzinpreise von 1,18 Euro auf über 1,50 Euro pro Liter entwickelt. Der Preis für das Barrel Rohöl hat sich fast verdreifacht. Dieser massive Anstieg der Rohölpreise wurde vor allem durch Spekulationen auf dem Weltmarkt hervorgerufen, die in dieser Form keiner vorhersehen konnte. Wir werden wohl auch zukünftig eine Erhöhung der Spritpreise sehen. Im Hinblick darauf, dass China und Indien immer mehr Energie vom Weltmarkt absaugen, die Förderung von Erdöl gleichzeitig aber immer teurer wird, kann jeder, der bis drei zählen kann, vorhersagen, dass die Energiepreise auch in Zukunft steigen werden. Jetzt gibt es einige, die meinen: Wenn der Liter Benzin 1,50 Euro kostet, dann klingelt beim Bundesfinanzminister die Kasse. ({1}) Richtig ist, dass die Steuerbelastung bei Benzin und Diesel - Mineralölsteuer, Ökosteuer, Mehrwertsteuer - ganz beträchtlich ist. Aber der allseits zu hörende Vorwurf, dass der Bundesfinanzminister der heimliche Profiteur der steigenden Spritpreise sei, ist so nicht ganz richtig. Seit der fünften Stufe der Ökosteuer unter Rot-Grün 2003 hat sich die Energiesteuer auf Kraftstoffe nicht mehr erhöht. ({2}) Die Mineralölsteuer und die Ökosteuer betragen seit 2003 fix 65,5 Cent je Liter, ({3}) völlig egal, ob die Preise steigen oder fallen. ({4}) Bei dem aktuell sinkenden Verbrauch gehen die Einnahmen aus der Erhebung der Energiesteuer sogar zurück. Richtig ist - das will ich gern zugeben -, dass der Mehrwertsteueranteil gestiegen ist und dass in diesem kleinen Mehrwertsteuerbereich ({5}) tatsächlich Mehreinnahmen beim Fiskus vorhanden sind. Diese haben aber bei Weitem nicht ein Volumen von 2,5 Milliarden Euro, wie Sie vorhin angeführt haben. Die Kosten für diese Regelung zur Pendlerpauschale betragen 2,5 Milliarden Euro. Das ist aber nicht das Mehr bei den Mehrwertsteuereinnahmen. Die etwas erhöhten Mehrwertsteuereinnahmen in diesem Bereich taugen also nicht zur Gegenfinanzierung. ({6}) Warum erzähle ich Ihnen das? Bei allem, was wir fordern und tun, dürfen wir das Ziel des konsolidierten Haushalts nicht vergessen. Das Ziel ist der ausgeglichene Haushalt, und dieses Ziel müssen wir mit der Entlastung der Pendler in Übereinstimmung bringen. Der eingeschlagene Haushaltskonsolidierungskurs der Großen Koalition hat dabei absoluten Vorrang vor irgendwelchen populistischen Schnellschüssen. ({7}) In Verantwortung vor zukünftigen Generationen müssen die Staatsfinanzen saniert werden. Zurzeit fließt jeder sechste Steuereuro in den Schuldendienst. Selbst bei einem ausgeglichenen Haushalt - einen solchen wollen wir 2011 erreichen - müsste der Bund bei dem jetzigen Zinssatz immer noch über 40 Milliarden Euro allein für Zinsen aufbringen. Ein ausgeglichener Haushalt allein wird deswegen gar nicht ausreichen, um die Staatsfinanzen zu sanieren. ({8}) Neben einer Schuldenbremse benötigen wir darum eine kluge Wachstumspolitik. Jetzt sind wir wieder bei den Pendlern. Die hohen Energiepreise haben natürlich Einfluss auf unser Wachstum. Wenn die Menschen keine Arbeit aufnehmen, weil es sich aufgrund der hohen Benzinpreise für sie gar nicht mehr lohnt, zur Arbeit zu fahren, dann wird das Auswirkungen auf unser Wirtschaftswachstum haben. Die Frage ist daher nicht, ob wir Pendlerinnen und Pendler entlasten, sondern die Frage ist lediglich, wie und wann. ({9}) Man kann es sich natürlich einfach machen, wie es jetzt die Linke tut, und fordern: Her mit der alten Regelung! Ich pfeife auf die Schulden. Mögliche Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts interessieren mich sowieso nicht. - Seriöse Politik sieht anders aus. Wer sagt denn überhaupt, dass das Bundesverfassungsgericht bei der zu erwartenden Entscheidung die alte Regelung noch als verfassungskonform ansieht?

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Gutting, lassen Sie jetzt eine Zwischenfrage der Kollegin Dr. Höll zu?

Olav Gutting (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003544, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein. - Verfassungsrechtliche Sicherheit bei der Regelung der Pendlerpauschale werden wir erst nach der Entscheidung von Karlsruhe haben. Deswegen macht es Sinn, die Entscheidung des Gerichts abzuwarten und erst dann die politischen Spielräume innerhalb der rechtlichen Vorgaben zu nutzen. ({0}) Dieses Abwarten ist auch deshalb vertretbar, weil schon heute die folgende Situation gegeben ist: Jeder Pendler kann sich einen Freibetrag entsprechend der alten Regelung auf der Lohnsteuerkarte eintragen lassen. Das heißt, den Berufspendlern geht, wenn sie das auf ihrer Lohnsteuerkarte so eintragen lassen, zurzeit überhaupt nichts verloren. Lassen Sie mich zusammenfassen: Die Voraussetzungen, die im Zeitpunkt der Änderung der Pendlerpauschale vorlagen, sind nicht mehr die gleichen wie heute. Mit dieser Erkenntnis, gemäß den zu erwartenden Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts und auf der Grundlage einer seriösen Finanzierung wird sich die Unionsfraktion der Pendlerinnen und Pendler annehmen. Wer in diesem Land arbeitet, wer morgens aufsteht, wer für sich und seine Familie schuftet, wer dabei auch noch Flexibilität beweist und - nicht immer freiwillig - lange Wegstrecken zur Arbeit auf sich nimmt, ({1}) der kann sich darauf verlassen, dass die Union an seiner Seite steht. ({2}) Ich plädiere deshalb für eine Neuregelung, die den zu erwartenden Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts entspricht und dabei das Ziel der Haushaltskonsolidierung nicht über Bord wirft. Erst die Vorgaben aus Karlsruhe abwarten, dann die Neuregelung der Pendlerpauschale vornehmen! ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Zu einer Kurzintervention hat nun die Kollegin Dr. Barbara Höll das Wort.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Danke, Frau Präsidentin. - Herr Gutting, ich möchte Sie fragen, ob Sie wirklich der Meinung sind, dass sich das Hohe Haus in seiner Gesamtheit Ihrer abenteuerlichen Politikauffassung anschließen sollte, dass es richtig ist, Gesetze wie dieses zu verabschieden, bei dem erstens eine ganze Reihe von Sachverständigen im Rahmen der Anhörung des Finanzausschusses darauf hingewiesen haben, ({0}) dass es nicht verfassungskonform ist, und bei dem zweitens die Situation bestand, dass das Bundesverfassungsgericht im Rahmen des Urteils zur doppelten Haushaltsführung einige Jahren vorher das objektive Nettoprinzip bestätigt hatte, gemäß dem allen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ermöglicht werden muss, ihre erwerbsbedingten Ausgaben steuerlich geltend zu machen. Vor diesem Hintergrund war es schon sehr abenteuerlich, hier das Gesetz zu verabschieden. Noch abenteuerlicher ist es, jetzt abwarten zu wollen, wie das Bundesverfassungsgericht entscheidet. Wir können uns dieser abenteuerlichen Politikauffassung nicht anschließen. Wir stützen uns mit unserem Antrag auf die Meinung vieler Sachverständiger, wonach der jetzige Zustand nicht verfassungskonform ist. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Herr Gutting, Sie haben die Möglichkeit zu einer Erwiderung, bitte.

Olav Gutting (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003544, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Liebe Kollegin Frau Dr. Höll, ich bewundere Ihren juristischen Scharfsinn, insbesondere, weil Sie, wie ich gelesen habe, Philosophie studiert haben. Respekt! ({0}) Lassen Sie mich aber darauf hinweisen, was ich vorhin gesagt habe: In diesem und im letzten Jahr haben drei deutsche Finanzgerichte bereits die Verfassungsmäßigkeit dieser Regelung akzeptiert. ({1}) Gedulden Sie sich noch einige Wochen oder Monate! Dann sind wir alle schlauer. Dann können wir hier gerne noch einmal darüber diskutieren. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Der Kollege Dr. Volker Wissing spricht nun für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Volker Wissing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003702, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal ist die Pendlerpauschale nicht abgeschafft worden, lieber Kollege Gutting, sondern sie wurde erheblich eingeschränkt. ({0}) Ihrer Aussage, die Voraussetzungen haben sich seither wesentlich verändert, stimme ich zu. Es ist nämlich seither zu einem deutlichen Anstieg der Energiepreise gekommen. Es ist seither auch zu erheblichen Mehrbelastungen der Bürgerinnen und Bürger gekommen. ({1}) Gleichzeitig ist seither das Steueraufkommen erheblich gestiegen, sodass es ganz richtig ist, dass wir heute einmal darüber reden, wie wir die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland wieder entlasten können. ({2}) Die Haltung zu dieser Pendler- bzw. Entfernungspauschale ist ein Paradebeispiel dafür, um einmal zu testen, wer hier wirklich ernsthaft für steuerliche Entlastung der Bürgerinnen und Bürger steht oder wer hier nur Lippenbekenntnisse vor den Kameras draußen abgibt, in der Bevölkerung immer wieder einen falschen Eindruck erweckt ({3}) und hier genau das Gegenteil von dem beschließt, was in den Parteiprogrammen steht. ({4}) Ich möchte jetzt einmal auf die CSU zu sprechen kommen: Diese ist ja in dieser Legislaturperiode vom finanzpolitischen Saulus zum Paulus geworden. Die Mehrwertsteuererhöhung haben Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CSU, mitbeschlossen, die Kürzung der Pendlerpauschale haben Sie mitbeschlossen, die Kürzung des Sparerfreibetrages haben Sie mitbeschlossen, die Abschaffung der Abzugsfähigkeit der Steuerberatungskosten haben Sie mitbeschlossen. Jetzt aber, wo die Bayern-Wahl näher rückt, erklären Sie uns, Sie hätten das alles niemals machen wollen und seien immer dagegen gewesen. Für so doof dürfen Sie die Menschen in Deutschland nicht halten, dass sie das nicht durchschauen. Sie wissen ganz genau, dass die CSU, ebenso wie die CDU, für die Steuererhöhungen, die in dieser Großen Koalition beschlossen worden sind, steht; denn Sie haben das alles mitgemacht. ({5}) Sie befinden sich auch in guter Gesellschaft. Selbst die SPD, die Steuererhöhungspartei in Deutschland, sagt: Wir wollen die alte Pendlerpauschale wiederhaben. ({6}) - Ja, Sie sind die Steuererhöhungspartei in Deutschland. So ist das. ({7}) Da kommt dann Herr Gabriel als Umweltminister und sagt, die Pendlerpauschale müsse wieder wie früher gelten. Da fragt man sich: Wie kommt man denn auf so eine Idee? ({8}) Wenn man einer Partei angehört, die die Pendlerpauschale zusammengestrichen hat, die den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in die Tasche gegriffen hat, dann ist es doch unredlich, sich draußen hinzustellen und zu sagen, das habe man nicht gewollt. Wenn Sie ehrlich wären, dann würden Sie hier Initiativen ergreifen, um das rückgängig zu machen, was Sie an finanzpolitischen Sünden beschlossen haben. ({9}) Kommen wir zu den Grünen. Das ist ja die Partei der hohen Energiepreise in Deutschland. Frau Höhn sagte, sie habe den Übeltäter entdeckt: Die Spekulanten seien es. Über den Daumen gepeilt, so sagte sie, seien 10 bis 20 Cent pro Liter an den Tankstellen auf internationale Finanzspekulationen zurückzuführen. ({10}) Ich frage Sie: Wer hat denn die Ökosteuer eingeführt und damit Energie systematisch teurer gemacht in Deutschland? Das waren doch Sie! ({11}) Die hohen Energiepreise in Deutschland sind Spätfolgen rot-grüner Umwelt- und Finanzpolitik. ({12}) Auch das muss man bei diesem Thema hier einmal zur Sprache bringen. ({13}) Wenn die Bürger heute bei einem Preis von 1,50 Euro für einen Liter Benzin 89,4 Cent an Steuern zahlen müssen, dann ist das auch ein Ergebnis von sieben Jahren rot-grüner Finanz- und Steuerpolitik. ({14}) Frau Höhn kritisiert zu Recht die Spekulationen. Aber viel schlimmer sind doch die Preistreiber, die in Ihrer Zeit Regierungsverantwortung hatten und die heute in der Großen Koalition Regierungsverantwortung haben. ({15}) Benzin hat heute einen Literpreis von 1,50 Euro; davon entfallen 59,6 Prozent auf Steuern. Sie brauchen als Grüne die Verantwortlichen nicht auf den internationalen Finanzmärkten zu suchen. Schauen Sie sich die Regierungsbank an, und schauen Sie auch einmal in Ihre eigenen Reihen! Sie sind die Vertreter der Partei der hohen Energiekosten in Deutschland. ({16}) Wenn Sie für die Finanzinvestoren die Rote Karte ziehen wollen, dann ziehen Sie sie auch vor der rot-grünen und der schwarz-roten Energieverteuerungspolitik. Wir werden Ihnen von der CSU die Möglichkeit geben, hier darüber abzustimmen und klar Farbe zu bekennen, ob Sie das Steuerkonzept und die Steuersenkungen, die Sie in Bayern den Menschen versprechen, auch hier im Deutschen Bundestag vertreten. Das ist eine Glaubwürdigkeitsfrage, und wir werden Ihnen Gelegenheit geben, diese Glaubwürdigkeitsfrage vor den Wählerinnen und Wählern rechtzeitig zu beantworten.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Wissing, wenn Sie eine Zwischenfrage gestatten, dann können wir das mit der soeben überzogenen Redezeit noch vertreten.

Dr. Volker Wissing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003702, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich lasse die Zwischenfrage gerne zu.

Dr. Gerhard Schick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003837, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Wissing, ich wollte Sie nur fragen, wie das, was Sie gerade zu den Umweltsteuern vorgetragen haben, zur Programmlage Ihrer Partei und insbesondere zu dem entsprechenden Beschluss, den Sie zu den Umweltsteuern gefasst haben, passt.

Dr. Volker Wissing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003702, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Lieber Kollege Schick, im Gegensatz zu Ihnen vertreten wir konsequent eine Politik der steuerlichen Entlastung der Mitte in Deutschland. ({0}) Während Sie in der rot-grünen Regierungszeit eine Steuererhöhung nach der anderen beschlossen haben ({1}) und nichts vorlegen, was die Mitte in Deutschland steuerlich entlastet, stehen wir konsequent für das Gegenteil. Wir wollen den Menschen in Deutschland die Möglichkeit zurückgeben, in Wohlstand zu leben. ({2}) Wir sind nicht bereit, hinzunehmen, dass die Löhne und Gehälter in Deutschland um 3,5 Prozent sinken, die Steuereinnahmen in der gleichen Zeit um 19 Prozent steigen ({3}) und den Menschen, wenn sie Probleme mit den hohen Energiepreisen haben, nichts zurückgegeben wird und sie im Regen stehen gelassen werden. Dazu ist die FDP nicht bereit. ({4}) - Herr Kollege Tauss, Sie sind einer derjenigen, die die Kürzung der Pendlerpauschale beschlossen haben, und einer derjenigen, die die Erhöhung der Mehrwertsteuer um 3 Prozent beschlossen haben, wodurch die Energiekosten in Deutschland verteuert wurden. Sie sind einer der Mitverantwortlichen dafür, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sinkende Einkommen in Deutschland haben. Ich glaube, Sie sollten hier weniger lautstark dazwischenrufen ({5}) und sich stattdessen die Frage stellen, was die Bilanz der von Ihnen mitverantworteten Politik in dieser Großen Koalition ist. Meine Damen und Herren, die Bayern sind nicht auf den Kopf gefallen. Sie werden es Ihnen nicht abnehmen, wenn Sie vor der Bayern-Wahl eine Senkung der Steuern versprechen und sich hinterher nicht mehr daran erinnern lassen. Wir lassen Ihnen das nicht durchgehen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Wissing, Sie müssen jetzt wirklich zum Schluss kommen.

Dr. Volker Wissing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003702, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich komme zum Ende. Sie wissen ganz genau, dass alle Sachverständigen in der Anhörung gesagt haben, dass die Regelung, die Sie zur Pendlerpauschale beschlossen haben, mit der VerfasDr. Volker Wissing sung nicht vereinbar ist. Sie haben sie trotzdem eingeführt. Das wird Ihnen völlig zu Recht auf die Füße fallen. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Florian Pronold das Wort. ({0})

Florian Pronold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003612, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Wenn es jemandem gelingt, Pinocchio und Münchhausen in den Schatten zu stellen, dann dem Kollegen Wissing. Diese Ansammlung von Lügen und Falschdarstellungen, die er gerade präsentiert hat, ist in diesem Haus fast schon einmalig. ({0}) Erste Wahrheit. Die höchste Steuerbelastung in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland und die meisten Steuererhöhungen hat die FDP während ihrer Regierungszeit mitzuverantworten. ({1}) - Das ist so. Man kann dies anhand von Fakten nachweisen. Zweite Wahrheit. Wer redet denn immer von einem vereinfachten Steuerkonzept und lobt in diesem Zusammenhang den Kirchhof? Das sind doch Sie. Kirchhof und die FDP fordern aber die komplette Abschaffung der Pendlerpauschale als unzulässige Steuersubvention. Wenn Sie sich jetzt hier hinstellen und die Pendlerpauschale verteidigen, dann ist das mehr als eine Lüge. Das ist schon eine Frechheit und eine Wählerverdummung. ({2}) Ich komme zum eigentlichen Thema, nämlich zur Pendlerpauschale. ({3}) - Das habe ich schon mehrmals dargestellt. Ich kann Ihnen es gerne noch einmal erklären. ({4}) Der vorliegende Antrag beinhaltet eine Forderung der CSU. Deshalb bin ich überrascht, dass ein Abgeordneter von der CDU dazu gesprochen hat. Ich hätte mich gefreut, wenn der Kollege Rupprecht, der sich am letzten Freitag zur Pendlerpauschale geäußert und bei der Gelegenheit ein „Mea culpa“ abgegeben hat, zu diesem Thema gesprochen hätte. Er hat nämlich gesagt, es sei ein schwerer Fehler gewesen, der Kürzung der Pendlerpauschale zuzustimmen. Wie gesagt, es wundert mich, dass er heute nicht geredet hat. Denn Erwin Huber hat noch vor kurzem im Fernsehen erklärt, dass er nie etwas mit der Kürzung der Pendlerpauschale zu tun hatte. Es besteht in dieser Sache also ein kleiner Widerspruch. ({5}) Es stellt sich die Frage nach der Historie. Die Historie ist, dass die SPD die Pendlerpauschale ab dem ersten Kilometer beibehalten wollte. ({6}) Die Union hat sich aber in diesem Punkt der Koalitionsvereinbarung durchgesetzt. ({7}) Wir haben dafür die Steuerfreiheit der Nacht- und Sonntagsarbeit erhalten können. Wir haben der Union zweimal angeboten - das habe ich hier schon mehrfach erwähnt -, diese Regelung zu ändern. Dieser Vorstoß ist aber jeweils gescheitert. ({8}) Deswegen kommen wir zu dem bedauerlichen Ergebnis, dass man die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts abwarten muss. Denn innerhalb der Koalition bekommen wir keine Mehrheit für eine andere Regelung. Ich kann dies anhand von Fakten und von Erklärungen dokumentieren. Aus unserer Sicht kommt die Pendlerpauschale den Menschen zugute, die flexibel sind und arbeiten gehen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Pronold, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Spieth?

Florian Pronold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003612, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, immer.

Frank Spieth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003849, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Besten Dank, Herr Kollege Pronold. - Ich habe eine zweigeteilte Frage. Der haushaltspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Carsten Schneider, hat vor vier Wochen in der Thüringer Allgemeinen erklärt: Sollte uns das Bundesverfassungsgericht entgegen meiner Auffassung dazu verurteilen, die Pendlerpauschale wieder ab dem ersten Kilometer zu zahlen, dann werden wir, weil keine Gelder im Steuersäckel vorhanden sind, diese Pendlerpauschale für alle halbieren. Herr Finanzminister Steinbrück hat kürzlich erklärt: Sollte uns das Bundesverfassungsgericht dazu verurteilen, ab dem ersten Kilometer zu zahlen, müssen wir ernsthaft darüber nachdenken, von der Pendlerpauschale ganz Abstand zu nehmen und das sogenannte Werkstorprinzip einzuführen, das heißt, Kosten nur noch ab Werkstor zu erstatten. Welche dieser beiden Positionen wird denn nun von der SPD-Bundestagsfraktion vertreten? Ich glaube, die Bürgerinnen und Bürger hätten in diesem Punkt gerne Klarheit.

Florian Pronold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003612, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Zuerst darf ich einmal darauf hinweisen, dass jeder Steuerausfall einer Gegenfinanzierung bedarf. Das ist der Linken vielleicht nicht bewusst. ({0}) Wenn ich mir alle Ihre Forderungen anschaue, dann wundert es mich schon, wie man immer davon ausgehen kann: Man verschenkt etwas und gibt gleichzeitig das, was man verschenkt hat, noch einmal als Staatsausgabe aus. Das geht nicht. ({1}) - Natürlich. Aber ich will diesen zentralen Hinweis geben. Wenn das Bundesverfassungsgerichtsurteil vorliegt, werden wir zwei Antworten haben, nämlich auf die beiden von Ihnen gestellten Fragen. Das Erste ist: Wie Sie wissen, muss eine Pauschale mit den realen Kosten zu tun haben. Die Grünen werden nachher vermutlich sagen: Auch wir waren immer für die Pendlerpauschale. Aber hier im Bundestag sind sie auch einmal für eine Halbierung auf 15 Cent eingetreten. ({2}) Das ist aus meiner Sicht verfassungsrechtlich schwer haltbar, weil eine solche Pauschale nicht mehr die realen Kosten abdeckt, die sie abdecken muss, damit sie verfassungskonform ist. ({3}) Das ist meine Rechtsauffassung zu dieser Frage. Ich gehe davon aus, dass das Bundesverfassungsgericht auch dazu etwas sagen wird. Die zweite Antwort - dies wurde im BFH-Urteil angesprochen - betrifft das Werkstorprinzip. Im Kern haben wir mit der Beschlusslage des Deutschen Bundestages das Werkstorprinzip eingeführt, weil die Pendlerpauschale zwar abgeschafft worden ist, aber ab dem 21. Kilometer de facto gezahlt wird. Der BFH - auch frühere Rechtsprechungen des Bundesverfassungsgerichts - hat in seinem Urteil sehr ausführlich darauf hingewiesen, dass man das Werkstorprinzip prinzipiell einführen kann, dass es aber zum Nettoprinzip passen und es im gesamten Steuerrecht entsprechende Konsequenzen geben muss. ({4}) Deswegen gehe ich davon aus, dass wir, wenn das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vorliegt, wieder eine Pendlerpauschale ab dem ersten Kilometer einführen werden und wir, weil wir eine seriöse Politik machen, eine Gegenfinanzierung für die Steuerausfälle finden müssen, die dadurch entstehen. ({5}) - Es wurde gerade der Zuruf gemacht, wir hätten keine Gegenfinanzierung. Das ist falsch. Die SPD hat es immer anders gemacht, als es jetzt andere tun. ({6}) Denn jeder unserer Vorschläge dazu, wie wir zur Gewährung der Pendlerpauschale ab dem ersten Kilometer zurückkommen, war immer - sei es damals in den Berichterstattergesprächen, sei es in den Debatten im Deutschen Bundestag oder sei es im November 2007 im Koalitionsausschuss - mit einem Gegenfinanzierungsvorschlag unterlegt. Für uns steht im Mittelpunkt eine solide Finanzpolitik, die den Leuten kein Wolkenkuckucksheim verspricht, sondern eine Gegenfinanzierung vorsieht.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Pronold, lassen Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schäffler zu?

Florian Pronold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003612, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wenn meine Redezeit dadurch wieder verlängert wird, nehme ich das gerne in Kauf.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die Zeit wurde schon wieder angehalten, wie Sie sehen.

Frank Schäffler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003834, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Pronold, Sie haben gerade erklärt, dass Sie für die Pendlerpauschale ab dem ersten Kilometer sind. Wie hoch soll denn dann die Pendlerpauschale sein?

Florian Pronold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003612, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wir haben damals einen Gegenvorschlag unterbreitet, der 25 Cent und nicht 30 Cent ab dem ersten Kilometer vorgesehen hat. Das war der Versuch, über diesen Weg einen Teil der Gegenfinanzierung zustande zu bekommen. Die Gegenfinanzierung betraf auch noch andere Bereiche. Wir haben aber das, was Ausgangspunkt der Debatte war, nämlich das absehbare Urteil, zu berücksichtigen, also die realen Kosten der Betroffenen. ({0}) - Nein. Vielleicht hören Sie einfach zu! ({1}) - Ich meine in diesem Fall nicht Sie, sondern die anderen Kolleginnen und Kollegen. Ihre Frage ist beantwortet; Sie dürfen sich setzen. Wir müssen seriös gegenfinanzieren. Sie behaupten zwar, dass das alles einfach ist. Aber zum Schluss muss man das addieren, und dann muss der Haushalt aufgehen. Das wird nicht der Fall sein, wenn man das so macht, wie das hier gefordert wird. Die Menschen haben es satt, dass man ihnen etwas verspricht und man davon nachher nichts mehr hört. Deswegen ist die einzige Antwort, die man darauf geben kann, die der SPD: Wir stehen zur Haushaltskonsolidierung, sind aber sehr wohl bereit, zu einer Pendlerpauschale ab dem ersten Kilometer zurückzugehen. Wir haben das in diesem Haus immer vertreten; dies stand schon in unserem Wahlprogramm. ({2}) Wir werden dies im Lichte des Verfassungsgerichtsurteils umsetzen. Herzlichen Dank. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Pronold, diese Debatte wird zweifelsfrei sehr emotional geführt. Ich bitte aber darum, dass Tatsachenbehauptungen, die in Bezug auf Kollegen in den Raum gestellt werden, zum Beispiel, dass sie gelogen haben, belegt werden oder andere Worte gefunden werden, um Empörung auszudrücken. ({0}) Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Rupprecht.

Albert Rupprecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003620, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Kollege Pronold, nachdem ich persönlich und die CSU mehrfach angesprochen wurden, betone ich noch einmal, was ich vor einer Woche hier im Plenum formuliert habe: Es war ein Fehler, die Pendlerpauschale derart zu kürzen. Zur Erinnerung an die damalige Situation: ein strukturelles Defizit im Haushalt in Höhe von 60 Milliarden Euro; darüber hinaus 5 Millionen Arbeitslose, was verheerende Folgen für diesen Haushalt hatte. In dieser Notsituation haben sich die CSU-Parlamentarier auf Basis einer fachlichen Einschätzung des Bundesfinanzministeriums, nach der die Änderung verfassungskonform ist, dazu durchgerungen, die Entscheidung mitzutragen. Die Zeiten haben sich geändert. Beim Bundeshaushalt und in anderen Punkten haben wir wesentliche Verbesserungen erreicht. Deswegen haben wir intensiv darüber diskutiert und entschieden, dass wir als Partei für die Rückkehr zur ursprünglichen Pendlerpauschale eintreten: 30 Cent ab dem ersten Kilometer, und zwar nicht, wie es die SPD will, auf Kosten des Pauschbetrages. ({0}) Die CSU hat diese Position einstimmig formuliert. Ich frage Sie an dieser Stelle, ob Sie in der SPD Ähnliches bewerkstelligen können. Können Sie einen entsprechenden Parteitags- oder Gremienbeschluss zustande bringen? Können Sie den Finanzminister dahin gehend überzeugen? Wenn dem so ist, können wir das - davon bin ich überzeugt - zügig gemeinsam beschließen. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Sie haben die Möglichkeit zur Erwiderung.

Florian Pronold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003612, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Rupprecht, wir haben, wie Sie vielleicht wissen - manchmal vergisst man das ja -, eine Koalition aus drei Parteien. ({0}) Nachdem die SPD sowohl im Jahr 2005 - ich kann Ihnen den Brief an Herrn Ramsauer vorlesen, in dem wir Sie aufgefordert haben, bei der Pendlerpauschale für Änderungen einzutreten - als auch im November 2007 Herr Struck hat in einer Sitzung des Koalitionsausschusses gesagt, dass wir bereit sind, die Pendlerpauschale ab dem ersten Kilometer zu gewähren, und auch Herr Steinbrück hat sich für diesen Vorschlag offen gezeigt Vorstöße gemacht hat, ist es nun an der CSU, die CDU zu überzeugen, damit wir das hinbekommen können. Dann werden wir das machen. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die Kollegin Christine Scheel das Wort.

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir finden es klasse, dass die Koalition ihre internen Verhandlungen mittlerweile im Plenum führt. Man muss sich aber schon fragen, ob es diese Koalition überhaupt noch gibt. ({0}) Innerhalb der Koalition gibt es mindestens drei verschiedene Meinungen zum gleichen Thema, ({1}) obwohl man behauptet hat, man sei sich einig. Das kann man aber wirklich nicht feststellen. Was war die Ausgangssituation? Die Linke hat die Wiedereinführung der Pendlerpauschale beantragt, weil der Parteivorstand der CSU das kürzlich beschlossen hat. In dem Beschluss heißt es - die Formulierung finden wir auch im Antrag der Linken -: Der Systemwechsel bei der Pendler-Pauschale zu Beginn des Jahres 2007 hat sich als das Ärgernis für viele Arbeitnehmer herausgestellt. Jetzt weiß man, warum diese Debatte so verläuft, wie sie verläuft: weil im September Landtagswahlen in Bayern stattfinden. Der Volksmund sagt dazu: weil der CSU der Arsch auf Grundeis geht. ({2}) Dazu sagen wir: So kann man keine Politik machen. ({3}) Wir müssen berücksichtigen, mit welch großer Leidenschaft sich die Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD im Finanzausschuss dieses Themas angenommen haben. Zur Haushaltskonsolidierung wollte man einen Beitrag in der Größenordnung von 2,5 Milliarden Euro leisten. Alle haben gesagt: Wir haben jetzt die richtige Lösung gefunden und keine verfassungsrechtlichen Probleme. Unsere Juristinnen und Juristen haben das geprüft. Alle haben gesagt: Wir haben einen guten Konsens gefunden. Mittlerweile will bei Ihnen niemand mehr etwas von dieser Entscheidung wissen. Ich bitte Sie, wenn es so ist, den Mut zu haben und zu sagen, wie Sie es gemeinsam haben wollen. Bieten Sie den Leuten nicht alles Mögliche an, nicht jeder etwas anderes, je nachdem, wo er gerade ist. Jedem wird nach dem Mund geredet. ({4}) Am Ende sagen die Leute: Wir werden von der Politik nicht mehr ernst genommen. Die Politikverdrossenheit wächst dadurch. Mit diesem Punkt müssen wir uns auch unter demokratischen Gesichtspunkten auseinandersetzen. Man muss sich fragen, was für ein Bild Sie in der Öffentlichkeit abgeben. Das ist das große Problem. ({5}) - Jetzt klatscht auch die FDP. Das freut mich. Aber ich muss sagen, Kollege Wissing, ({6}) hinsichtlich der Umweltpolitik gibt es bei der FDP nur ein ganz tiefes schwarzes Loch. In Ihrem Programm haben Sie geschrieben, dass man in der Energiepolitik Veränderungen braucht und ökologische Anreize setzen muss. Das liest man bei Ihnen hie und da. Ich frage Sie: Wie sollen diese ökologischen Anreize gesetzt werden? ({7}) Das haben Sie hier nicht beantwortet. Sie haben herumschwadroniert, die FDP sei die große Steuersenkungspartei.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Scheel, lassen Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Dr. Höll zu?

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Oh ja.

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Liebe Kollegin Scheel, da Sie nur vier Minuten Redezeit haben, ({0}) sich bis jetzt sehr intensiv mit den anderen Parteien auseinandergesetzt haben und ich nicht weiß, ob Sie noch zur Darstellung Ihrer eigenen Position kommen werden, wollte ich Folgendes fragen: Sie haben, als wir das Thema vor kurzem im Finanzausschuss beraten haben, vehement vertreten, dass Sie schon immer gegen die Abschaffung der Entfernungspauschale waren. Am gleichen Tag erschien ein Artikel in der Financial Times, in dem versucht wurde, die Steuerkonzepte der Parteien gegenüberzustellen. Da wurde Kollege Schick mit der Aussage zitiert, die Grünen seien natürlich für die Abschaffung der Entfernungspauschale. Diesen Punkt würde ich gerne klargestellt haben, damit man in der politischen Debatte weiß, wie die Mehrheitsmeinung Ihrer Fraktion ist. ({1})

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank für die Frage. Sie gibt mir die Gelegenheit, ein bisschen länger zu reden. Das finde ich klasse. ({0}) Ich möchte auf die Frage hin noch einmal in Erinnerung rufen, dass die Einführung der Entfernungspauschale in der Form, den Bürgern und Bürgerinnen ab dem ersten Kilometer einen bestimmten Betrag zur Verfügung zu stellen, und zwar unabhängig davon, ob sie mit dem Fahrrad, mit der Bahn, mit dem Bus oder mit dem Auto zur Arbeit fahren, damit wir die Verkehrsträger gleich behandeln, ein Vorschlag der Grünen gewesen ist. Das war ein Riesenfortschritt zur Vereinfachung. Diesen Fortschritt hätten wir gerne weiterentwickelt, und zwar an verschiedenen Punkten, Frau Abgeordnete. Wir haben die ganz klare Aussage getroffen, dass wir bei der Entfernungspauschale mit dem Betrag heruntergehen, sie aber aus verfassungsrechtlichen Gründen ab dem ersten Kilometer für alle gewähren würden. Dazu gehört auch, liebe Kollegin, dass wir möchten, dass die Politik die Rahmenbedingungen so setzt, dass für die Bürger und Bürgerinnen die Möglichkeit besteht, Fahrzeuge zu kaufen, die weniger Sprit verbrauchen. Deswegen muss die Automobilindustrie in Deutschland in diese Richtung angeschoben werden. Das alles gehört zusammen. Die Grünen haben Gesamtkonzepte, und zwar kurz-, mittel- und langfristig. ({1}) Deswegen sind wir von allen Fraktionen im Deutschen Bundestag hinsichtlich der Ökologie und des Ernstnehmens von Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen und deren Belastungen am besten aufgestellt. Danke schön. ({2})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Gabriele Frechen das Wort. ({0})

Gabriele Frechen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003529, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich kann es fast nicht mehr sehen: schon wieder Pendlerpauschale. Das erinnert mich an Wilhelm Busch und die Witwe Bolte: Wovon man besonders schwärmt, wenn es wieder aufgewärmt. So verhält es sich hier mit der Entfernungspauschale. Frau Scheel hat uns Gott sei Dank deutlich gemacht - wir haben mit drei Parteien in zwei Fraktionen manchmal zwei Meinungen -, dass die Grünen nur eine Fraktion brauchen, um drei Meinungen zustande zu kriegen. Oskar Lafontaine bringt jetzt einen völlig neuen Vorschlag ins Spiel. ({0}) In Ihrem Antrag steht aber nicht, dass man mit dem Geld, das man aufgrund der Pendlerpauschale bekommt, die Stromrechnung bezahlen soll. ({1}) Das hat Herr Lafontaine erst jetzt in seinen mündlichen Ausführungen so vorgetragen. Herr Dr. Wissing und die FDP sind übrigens ganz toll. ({2}) Ich möchte Ihnen eine Grafik zeigen. ({3}) Sie können sie wahrscheinlich nicht genau erkennen. ({4}) Damit jeder weiß, was auf diesem Bild zu sehen ist: Als Sie an die Regierung kamen, betrugen die Zinsen der Bundesrepublik Deutschland 40 Milliarden. ({5}) Als Sie abgewählt wurden und wir die Regierung übernommen haben, hatte die Bundesrepublik Deutschland nur noch 2 Milliarden Euro Zinsen. So viel zur „erfolgreichen“ Politik der FDP. ({6}) - Sie zumindest haben es verstanden. Sonst würden Sie jetzt nicht so von unten erröten und dann von oben wieder blass werden, Herr Schäffler. ({7}) Es tut mir aber gut, zu sehen, wie Sie die Farbe wechseln. Zur Entfernungspauschale hat Kollege Pronold genug gesagt; das möchte ich nicht noch einmal deutlich machen. ({8}) Denn ich sage in jeder meiner Reden, dass wir ursprünglich ein anderes Konzept hatten, uns aber leider nicht durchsetzen konnten. Herr Gutting hat recht, wenn er darauf hinweist, dass wir uns in einer Haushaltssituation befanden, die uns dazu zwang; das hat auch Herr Rupprecht in seiner Kurzintervention ausgeführt. Wir sind auch heute noch nicht aus dem Gröbsten raus. Herr Engels, der Präsident des Bundesrechnungshofes, hat gesagt, dass im Bundeshaushalt insgesamt 22 Milliarden Euro fehlen; ({9}) so viel zum Thema Steuermehreinnahmen. Außerdem machte er deutlich: Bevor diese Lücke geschlossen ist, darf es keine Steuerentlastung geben. Alles andere wäre unseriös. ({10}) - Wenn Sie mir eine Zwischenfrage stellen, sage ich dazu etwas. ({11}) Richtig ist aber auch: Ein ausgeglichener Haushalt ist kein Wert an sich. Wenn wir die Aussage, dass Kinder unsere Zukunft sind, ernst meinen, dann müssen wir auch die notwendige Verhandlungsmasse und die erforderlichen Spielräume schaffen, damit sie wirklich unsere Zukunft werden können. ({12}) Dazu gehört, nicht ständig neue Schulden zu machen, die letztlich unsere Kinder bezahlen müssen. ({13}) Dazu gehört auch Verständnis für die ältere Generation. ({14}) Dazu gehört Respekt. Dazu gehört aber auch Verständnis für die Generation, die heute in Beschäftigung ist; denn auch diese Generation darf man nicht überfordern. Das schaffen wir nur gemeinsam. Es ist wichtig, dass wir einen Konsens aller Generationen finden, ({15}) damit wir gemeinsam die richtige Politik machen können. Ich kann Ihnen sagen: Die SPD ist auf dem richtigen Weg. ({16}) Was war in dieser Woche in der Frankfurter Rundschau zu lesen? Auch wenn es unpopulär ist: Für die SPD ist ein Lob fällig. Ihr Finanzkonzept ist gar nicht so schlecht. ({17}) Überzeugend stellt sie klar, was wichtig ist und was bloß wünschenswert. Ich finde es richtig, das Wichtige jetzt zu tun und für das Wünschenswerte in Zukunft zu kämpfen. Das ist zukunftsfähige Politik. ({18})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/9167 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sind Sie damit ein- verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 c auf: a) - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Anpassung von Dienst- und Versorgungsbezügen im Bund 2008/2009 ({0}) - Drucksache 16/9059 - Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundesbesoldungsgesetzes - Drucksache 16/1033 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({1}) - Drucksache 16/9341 Berichterstattung: Abgeordnete Ralf Göbel Dr. Max Stadler Silke Stokar von Neuforn - Bericht des Haushaltsausschusses ({2}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 16/9347 - Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Michael Luther Bettina Hagedorn Jürgen Koppelin Roland Claus Alexander Bonde c) Beratung des Berichts des Innenausschusses ({3}) gemäß § 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung zu dem von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Bundesministergesetzes - Drucksachen 16/5052, 16/9342 Berichterstattung: Abgeordneter Sebastian Edathy Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Ralf Göbel für die Unionsfraktion. ({4})

Ralf Göbel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003535, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der letzten Sitzungswoche hatten wir bereits das Vergnügen, uns schon einmal mit diesem Gesetz zu beschäftigen. Allerdings war der Inhalt etwas anders als heute. Ich will deshalb nicht mehr sehr viel zu den Detailregelungen des Gesetzes sagen, sondern eingangs nur noch einmal auf den Einsparbeitrag hinweisen, den die Beamtinnen und Beamten des Bundes in den vergangenen Jahren geleistet haben. Wir reden immer von vielen Einsparbeiträgen, den die Rentner und andere Berufsgruppen erbringen müssen. Nach einer seriösen Berechnung - vorsichtig geschätzt - betrug der Einkommensverlust der Beamtinnen und Beamten des Bundes allein in den Jahren 2004 bis 2006 etwa 1,1 Milliarden Euro. Das ist ein ganz erheblicher Beitrag, den die Beamtinnen und Beamten zur Sanierung des Bundeshaushaltes geleistet haben. Deshalb, finde ich, ist es auch an der Zeit gewesen, dass wir uns jetzt mit einer Besoldungserhöhung, die der entspricht, die auch die Tarifbeschäftigten erhalten, erkenntlich erweisen. ({0}) Es war bei weitem nicht selbstverständlich, dass wir zeit-, inhalts- und wirkungsgleich übertragen. In der Vergangenheit wurden für die Beamtinnen und Beamten und die Versorgungsempfänger die Tarifergebnisse immer mit zeitlicher Verschiebung und leichten Modifikationen übernommen. Ich sage es auch nicht ohne Stolz, dass es dem Parlament gelungen ist, die ursprünglich geplante Absicht der Bundesregierung doch noch dahin gehend zu korrigieren, dass die Übertragung zum ersten Mal seit sehr vielen Jahren zeit-, inhalts- und wirkungsgleich erfolgt. ({1}) Ich bin auch sehr froh, dass wir gestern im Innenausschuss bei diesem Thema einen großen Konsens aller Fraktionen hatten. Ich komme jetzt zum Änderungsantrag und will hier auch gar nicht kneifen. Die Große Koalition hat den Änderungsantrag eingebracht. Mit diesem wird die Entscheidung der Fraktionsspitzen der SPD und der CDU/ CSU vom 20. Mai dieses Jahres umgesetzt. In dem Änderungsantrag ist nämlich die Streichung des Art. 13 vorgesehen. Das heißt für uns, dass die Diätenerhöhung nach dieser Debatte kein Thema mehr sein wird. Ich will sie aber auch in dieser Debatte nicht zum Thema machen. Aus meiner Sicht ist zu diesem Thema genug gesagt worden. Auf eines will ich allerdings noch aufmerksam machen, weil wir hier ja auch interessierte Zuhörer haben. Ich habe in dieser Debatte auch erlebt, dass der eine oder andere Kollege bzw. die eine oder andere Kollegin aus den Fraktionen, die am heftigsten gegen die Diätenerhöhung gewettert haben, klammheimlich zu mir gesagt haben: Aber Ihr werdet das doch durchbringen. - Auch das sollte in diesem Hohen Hause einmal erwähnt werden, weil damit die Diskrepanz zwischen dem öffentlichen Schreien und der tatsächlichen Motivation, die oftmals dahintersteht, beschrieben wird. ({2}) Durch diesen Änderungsantrag werden die Minister und die Parlamentarischen Staatssekretäre ebenfalls von der Besoldungserhöhung ausgenommen. Diesen Beschluss hat das Kabinett selbst mitgefasst. Ich glaube, der Deutsche Bundestag sollte die Weisheit des Kabinetts in Anspruch nehmen. Dem Wollenden geschieht in diesem Falle kein Unrecht. Ich will in dieser Debatte aber auch noch kurz zum Antrag der FDP kommen, die wiederum darauf hingewiesen hat, dass die Diäten zukünftig in einer Kommission außerhalb des Deutschen Bundestages festgesetzt werden sollen. Es soll eine unabhängige Sachverständigenkommission eingerichtet werden. Wir hatten schon einmal eine, wenn ich mich richtig erinnere, nämlich 1993. Diese hat uns 1995 gesagt, B 6/R 6 sei die richtige Besoldungshöhe. Haben wir das umgesetzt? Nein, das haben wir nicht. Im November des letzten Jahres haben wir es zum ersten Mal nach vielen Jahren gewagt, diesen Schritt zu gehen - auch damals mit viel Begleitmusik. Im Übrigen gibt es auch verfassungsrechtliche Bedenken gegen diesen Antrag. Das Bundesverfassungsgericht hat zu dieser Frage 1975 ein Grundsatzurteil gefällt. Damals ging es darum, dass man im saarländischen Landtag nicht selber über die Diäten bestimmen wollte, sondern gesagt hat, dass der Präsident des Landtages das machen sollte. Er sei die richtige Person. - Das hat das Bundesverfassungsgericht abgelehnt. Ich zitiere: In einer parlamentarischen Demokratie lässt es sich nicht vermeiden, dass das Parlament in eigener Sache entscheidet, wenn es um die Festsetzung der Höhe und um die nähere Ausgestaltung der mit dem Abgeordnetenstatus verbundenen finanziellen Regelungen geht. Gerade in einem solchen Fall verlangt aber das demokratische und rechtsstaatliche Prinzip …, dass der gesamte Willensbildungsprozess für den Bürger durchschaubar ist und das Ergebnis vor Augen der Öffentlichkeit beschlossen wird. Denn dies ist die einzige wirksame Kontrolle. So hat das Bundesverfassungsgericht geurteilt. Diesem Erfordernis, das das Bundesverfassungsgericht festgestellt hat, wird der Antrag der FDP nicht gerecht. Noch etwas ist meines Erachtens übersehen worden: Selbst wenn die Kommission, die vom Bundespräsidenten einberufen wird, eine Entscheidung trifft, heißt das noch lange nicht, dass diese Entscheidung im Bundesgesetzblatt steht und sich im Bundeshaushalt manifestiert. Wer glaubt, mit einer solchen Verlagerung der Entscheidung das Problem zu lösen, dass wir selber zu entscheiden haben, ob wir diese Empfehlung annehmen oder nicht, der irrt. Das Problem bleibt weiter bestehen; denn wir werden Diätenerhöhungen immer im Bundeshaushalt beschließen müssen. Es ist zwar nett gemeint und verkauft sich auch populistisch gut, aber letzten Endes liegt die Entscheidung - zu Recht, wie ich meine - beim Parlament. ({3}) Laut Tagesordnung haben wir heute über den Stand der Beratungen zum Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Bundesministergesetzes zu berichten. Dazu werde ich kurz Stellung nehmen. Der Gesetzentwurf beinhaltet versorgungsrechtliche Regelungen für die Bundesminister und die Parlamentarischen Staatssekretäre. Es besteht Einigkeit darüber, dass auf die derzeit amtierenden Minister und Staatssekretäre bzw. die Versorgungsempfänger, die Versorgungsbezüge aus diesen Ämtern beziehen, die Regelungen angewandt werden, die das Bundeskabinett selber beschlossen hat. Insoweit gilt ebenfalls: Dem Wollenden geschieht kein Unrecht. Das Parlament wird das auch umsetzen. Wir - die beiden Fraktionen der Großen Koalition haben noch Beratungsbedarf, wer aus der Übergangsregierung der DDR in den Personenkreis derjenigen einbezogen werden soll, die eine „Ehrenpension“, wie ich es nennen möchte, erhalten sollen bzw. ob dies nur für die Minister gelten soll oder auch die Staatssekretäre. Ich denke, dass wir in dieser Frage Einigkeit erzielen können und in den nächsten Sitzungswochen die zweite und dritte Beratung des Gesetzentwurfs im Plenum des Deutschen Bundestages durchführen können. Abschließend möchte ich die Gelegenheit nutzen, mich bei den Kolleginnen und Kollegen im Innenausschuss zu bedanken, dass wir zu einer einvernehmlichen Entscheidung gekommen sind. Das wird heute hoffentlich auch der Fall sein. Ich möchte mich auch bei denjenigen, die im Mittelpunkt dieses Gesetzgebungsverfahrens stehen - nämlich bei den Beamtinnen und Beamten des Bundes -, für ihre Tätigkeit, die sie täglich verrichten, und die hervorragende Arbeit bedanken, die sie Jahr für Jahr abliefern. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion spricht nun der Kollege Ernst Burgbacher. ({0})

Ernst Burgbacher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003063, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Man muss schon noch einmal das ansprechen, was sich in den letzten drei Wochen ereignet hat. Sie haben klammheimlich damals in das Gesetz zur Erhöhung der Beamtenbesoldung die Erhöhung der Abgeordnetendiäten hineingemogelt; man kann es nicht anders ausdrücken. Dann haben Sie den geballten Zorn der Öffentlichkeit gespürt und genauso klammheimlich den Rückzug angetreten. Der dabei angerichtete Schaden ist immens. ({0}) Sie haben sich selbst geschadet, wie schon die Wahlen in Schleswig-Holstein gezeigt haben. Sie haben aber auch dem Ansehen dieses Parlaments und damit dem Ansehen der Demokratie einen Schaden zugefügt, den man nicht so schnell wiedergutmachen kann. Diesen Vorwurf müssen Sie sich gefallen lassen. ({1}) Einiges an Ihrem Vorgehen war seltsam. So ist es üblich, dass Parlamentsangelegenheiten vom Parlament insgesamt erörtert werden. Sie haben daraus eine geheime Kommandosache gemacht. Die Opposition wurde in keiner Phase in irgendein Gespräch miteinbezogen. Allein das ist ein Skandal. Ich frage die Abgeordneten dieser großen Diätenerhöhungskoalition: Wo bleibt Ihr Selbstverständnis als frei gewählte Abgeordnete? Sie lassen sich von Ihren Häuptlingen etwas überstülpen. Davon haben Sie selbst erst aus dem Frühstücksfernsehen erfahren. Dann kassieren Sie die geballte Kritik der Öffentlichkeit, bis Sie plötzlich wieder aus dem Frühstücksfernsehen erfahren, dass das Ganze abgeblasen worden ist. Dadurch, dass Sie das mitmachen, schädigen Sie das Parlament. Das hat mit unserer Rolle als frei gewählte Abgeordnete weiß Gott nichts mehr zu tun. ({2}) Ein Weiteres. Das Bild, das die Große Koalition in der Öffentlichkeit abgibt - wir im Parlament wissen das ja schon lange -, kann verheerender eigentlich nicht mehr werden. Dieses Land hat es nicht verdient, diese Koalition noch weitere 15 oder 16 Monate ertragen zu müssen. Machen Sie doch Schluss mit dem Gezerre! Es geht nichts mehr in unserem Land; wir brauchen wieder politische Entscheidungen, nicht aber, wie sich auch an diesem Punkt wieder gezeigt hat, diese jämmerliche Regierung. ({3}) - Zunächst gehe ich noch auf etwas anderes ein. ({4}) Wir haben Ihnen Anträge mit einem anderen Modell vorgelegt. Lieber Kollege Göbel, ich weiß, dass es verfassungsrechtliche Bedenken gibt. Deshalb haben wir einen Gesetzentwurf zur Änderung des Grundgesetzes und einen Gesetzentwurf zur Einrichtung einer unabhängigen Kommission beim Bundespräsidenten eingebracht. In diesem Gesetzentwurf - machen Sie sich einmal die Mühe, ihn zu lesen! - sind alle Vorbehalte des Bundesverfassungsgerichtsurteils von 1975 aufgenommen. Es geht also, und dass es geht, zeigen gerade auch die Stimmen aus Ihrer Fraktion. Nachdem viele aus Ihrer Fraktion und auch einige aus der SPD nach diesem Debakel gesagt haben: „Wir brauchen ein anderes System, eine unabhängige Kommission“, sind wir zuversichtlich, jetzt in eine konstruktive Diskussion eintreten zu können. Deshalb haben wir heute unseren Antrag nicht zur Abstimmung gestellt. Vielmehr wollen wir jetzt für eine breite Mehrheit werben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, in unserem eigenen Interesse sowie im Interesse des Ansehens von Parlament und Demokratie brauchen wir ein anderes System. Sie sollten sich endlich dafür öffnen. Wir unterstützen das heute zur Abstimmung vorliegende Gesetz. Es war auch ein Stück weit dem Druck der FDP und der Gewerkschaften zu verdanken, dass es zu einer Eins-zu-eins-Umsetzung des Tarifabschlusses gekommen ist. Dies war von der Regierung ursprünglich nicht so geplant; nach ihrer Vorstellung sollten die Beamten erneut ein Sonderopfer leisten. Dies haben wir verhindert. Die Beamten haben es verdient, dass der Tarifabschluss eins zu eins auf sie übertragen wird. Das ist auch richtig so. ({5}) Wir wollen eines aber nicht: dass in den Verhandlungen über einen Tarifabschluss auch die Diäten behandelt werden. Ich sage noch einmal, dass ich Herrn Bsirske als meinen Interessenvertreter ablehne. Das wäre das falsche System. ({6}) Es wird auch nicht reichen, was wir jetzt bei der Besoldung machen, sondern es sind weitere Schritte notwendig. Angesagt ist für die Menschen in diesem Land - dies gilt insbesondere für die Beamten -: Mehr Netto vom Brutto; weniger Steuern. Dafür werden wir konkrete Vorschläge vorlegen, die wir an diesem Wochenende konkretisieren werden. Nur dann, wenn wir weiter in diese Richtung gehen, hat dieses Land wieder Zukunft und haben die Bürger in diesem Land wieder neue Chancen. Herzlichen Dank. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Siegmund Ehrmann das Wort. ({0})

Siegmund Ehrmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003521, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die erste Lesung des Gesetzentwurfs vor drei Wochen war von zwei zentralen Diskussionssträngen geprägt. In breitem Einvernehmen und nahezu harmonisch verlief die Debatte über die beabsichtigte Übertragung des Tarifergebnisses auf den Bereich von Besoldung und Versorgung. Zu diesem Thema betone ich vorab: Es ist ausgesprochen richtig und gut, dass es uns nach den Jahren des Darbens, an die Herr Göbel vorhin auch erinnert hat, gelungen ist, korrigierend aufs Regierungshandeln einzuwirken und zu bewerkstelligen, dass in diesem Gesetzentwurf die Tarifergebnisse eins zu eins auf die Beschäftigten im öffentlich-rechtlichen Dienst- und Treueverhältnis übertragen werden. Der zweite Teil der Debatte hingegen, in dem es um die Diätenanpassung ging - daran hat Herr Burgbacher gerade sehr plastisch erinnert -, verlief sehr kontrovers. In der anschließenden öffentlichen Debatte hatten viele Kollegen in der Tat vor Ort Erklärungsnöte. So haben sich manche nicht mehr in der Lage gesehen, den von den Koalitionsfraktionen nach - anders, als Herr Burgbacher es glauben macht - intensiver und durchaus kontroverser Debatte beschlossenen Schritt mitzutragen. Dass wir dieses Ziel aufgegeben haben, ist kein Beispiel für mangelndes Selbstbewusstsein von Parlamentariern. Wir haben in der Fraktion eine intensive Debatte geführt, und wir haben eine Entscheidung getroffen. Ich hätte mir gewünscht, dass wir gemeinsam die Kraft gehabt hätten, zu unserer ursprünglichen Entscheidung zu stehen. Vor Ort konnte man, auch wenn das nicht einfach war, durchaus plausibel machen, in welchem Zusammenhang unsere Entscheidung zu sehen ist. Nun, das Ergebnis ist bekannt: Die Koalition hat gemeinsam das ursprüngliche Ziel aufgegeben. Der Ihnen vorliegende Änderungsantrag trägt diesem Umstand Rechnung: Art. 13 des Gesetzentwurfes wird gestrichen. Ich kann mir nach diesem Vorlauf nicht vorstellen, dass wir uns in der verbleibenden Zeit unserer Legislatur ein weiteres Mal mit diesem Thema befassen werden; wir haben schließlich andere wichtige Dinge zu bewerkstelligen. ({0}) Es wird daher die Aufgabe des nächsten Bundestages sein, eine auch von der Öffentlichkeit als tragfähig anerkannte Lösung zu finden. Nach einiger Zeit der Distanz sollten wir gemeinsam die Kraft aufbringen, auszuwerten, wie dieser Prozess gelaufen ist, um dann gemeinsam einen öffentlichen Diskurs über die Möglichkeiten der Ausgestaltung der Diäten zu eröffnen und letztendlich Akzeptanz zu organisieren. Es geht dabei - das wissen wir alle - nicht nur um die Frage einer Kommission, die Empfehlungen zur Höhe der Diäten ausspricht. Zentral war auch nicht die Höhe des erwogenen Anpassungsschrittes. Auch das System der Alterssicherung ist ein Thema. Das Gleiche gilt für die steuerfreien Pauschalen. Es gibt Alternativen. Ich denke, wir sollten ohne Zorn und Eifer nach etwas Distanz über dieses Thema sprechen, um den Vertrauensverlust zu beheben. Ich denke, wir nehmen wichtige Aufgaben für unser Gemeinwesen wahr. Wir sollten besondere Umsicht walten lassen. Ich möchte auf einen zweiten Aspekt des Änderungsantrages eingehen. Die Amtsbezüge der Mitglieder der Bundesregierung knüpfen grundsätzlich an die Bezüge der Beamten der Besoldungsgruppe B 11 an und wären bei Besoldungserhöhungen anzupassen. Es gibt nun einen Kabinettsbeschluss, dass die Besoldung der Bundesminister und Parlamentarischen Staatssekretäre nicht angepasst wird. So etwas haben wir schon mehrfach erlebt. 1992 bis 1994 haben die Mitglieder der Bundesregierung auf eigene Initiative auf eine Anpassung verzichtet, ebenso 2003 und 2004. Das sogenannte Nichtanpassungsgesetz, das dies auch für die jetzige Runde vorschreibt, trägt diesem Beschluss der Bundesregierung Rechnung. Im Ergebnis - auch das muss öffentlich dargelegt werden - führt das dazu, dass sich der Abstand zwischen den Amtsbezügen der Mitglieder der Bundesregierung und denen von Vergleichsbesoldungsgruppen auf insgesamt 21 Prozent erhöhen wird; so hoch ist der Verzicht auf Anpassung. Das wirkt sich natürlich auch in den Versorgungsmechanismen aus. Lassen Sie mich im Zusammenhang mit dem Bundesbesoldungs- und -versorgungsanpassungsgesetz einen Punkt ansprechen, zu dem ich schon gestern im Innenausschuss etwas gesagt habe. Es geht um ein für viele nicht so wichtiges Detail, das allerdings rechtssystematisch nicht unerheblich ist. Es betrifft die Versorgungsempfänger. Im Gesetzentwurf ist fixiert, dass bei den Versorgungsempfängern der sogenannte Riester-Faktor dreimal anzuwenden ist. Unser Petitum ist, ihn nur zweimal anzuwenden. Eine zweimalige Anwendung wäre bei der Struktur des jetzt umgesetzten Tarifergebnisses richtig und auch vertretbar, und zwar aus folgenden Gründen: Mit dem Versorgungsänderungsgesetz 2001 haben wir den sogenannten Riester-Faktor, der seinerzeit eingeführt wurde, auf die Beamtenversorgung übertragen. Wir haben festgelegt, dass bei Anpassungsschritten der Riester-Faktor in acht Schritten umgesetzt wird, um die Versorgungsniveaus abzuflachen und die sozialversicherungsrechtlichen Entscheidungen vergleichbar auf das Versorgungsrecht zu übertragen. Im vorliegenden Gesetzentwurf wird fingiert, dass die Besoldungserhöhung zum 1. Januar 2008 aus zwei Schritten besteht, obwohl es nach meiner Überzeugung letztendlich ein Schritt ist, der allerdings aus zwei unterschiedlichen Strukturelementen besteht. Ich möchte es nicht beschreien, vermute aber, dass sich diese Regelung bei Verwaltungsstreitverfahren unter Umständen als „unfallträchtig“ erweist, und zwar insbesondere vor dem Hintergrund, dass sich das Bundesverfassungsgericht 2005 damit befasst hat und unsere damaligen im Kontext der Versorgungsempfänger getroffenen Entscheidungen als gerade noch vertretbar angesehen hat. An dieser Stelle kann ich nur sagen: Vorsicht an der Bahnsteigkante! Wir haben darüber intensiv verhandelt und konnten uns mit unseren Argumenten - auch in der Koalition - an dieser Stelle nicht durchsetzen. Es handelt sich aber nicht um einen ideologischen, sondern eher um einen rechtssystematischen Streit. Zum Ministergesetz wurde schon einiges vorgetragen. Die SPD wird sich den Inhalten des im November letzten Jahres eingebrachten Gesetzentwurfes in weiten Teilen anschließen. Die Details will ich jetzt nicht in Erinnerung rufen. Aber es gibt einen Punkt - den hat Herr Göbel bereits angesprochen -, bei dem in der Tat ein letztendlich noch nicht ausverhandelter Dissens besteht. Es geht um die Frage, ob und gegebenenfalls wie die Mitglieder des letzten Ministerrates der ehemaligen DDR in die Ministerversorgung einbezogen werden sollen. Es ist absolut anzuerkennen, dass die Persönlichkeiten, die seinerzeit Regierungsverantwortung hatten, in einer außergewöhnlichen Zeit Unvergleichbares geleistet haben. Wie dies nun unter dem Aspekt der Amtsversorgung behandelt wird, scheint in der Tat nicht recht und billig zu sein. Ich hoffe, dass wir in nächster Zeit eine gute und zufriedenstellende Lösung finden. Mit dem vorliegenden Entwurf eines Gesetzes zur Besoldungs- und Versorgungsanpassung werden wir gemeinsam, insbesondere meine Fraktion, unserer Verantwortung gegenüber den Beamtinnen und Beamten sowie den Besoldungsempfängern gerecht. Ich kündige von dieser Stelle aus an, dass wir die offene Flanke des Ministergesetzes kurzfristig schließen werden. Wenn alles gut geht, werden wir es so synchronisieren können, dass wir das gemeinsam mit dem Dienstrechtsneuordnungsgesetz verabschieden werden. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Redeliste weist aus, dass nun für die Fraktion Die Linke die Abgeord- nete Petra Pau spricht. Da das aus sichtbaren Gründen nicht möglich ist, nehmen wir diese Rede zu Protokoll.1) ({0}) Das Wort hat die Kollegin Silke Stokar von Neuforn für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

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, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich kann mit dem Ergebnis meiner letzten Rede zu diesem Tagesordnungspunkt zufrieden sein. ({0}) Es kommt zwar selten vor, aber diesmal sind Sie den Anregungen aus meiner letzten Rede in allen Punkten gefolgt. Das ist ganz erfreulich. Wir begrüßen, dass das Tarifergebnis auf die Beamtinnen und Beamten übertragen wird. In diesem Zusammenhang möchte ich besonders hervorheben, dass das auf Bundesebene eine Besserstellung der Polizeibeamten sowie der Soldatinnen und Soldaten bedeutet. Wir sind uns im Innenausschuss einig, dass das fair, gerecht und erforderlich ist. ({1}) Sie hatten letztes Mal die Möglichkeit, zwei Redner zu stellen. Die Parlamentarischen Geschäftsführer haben begründet, warum es unbedingt eine Diätenerhöhung ge- ben muss. Wir alle kennen das Ergebnis dieser Debatte. Die geplante Diätenerhöhung findet nicht statt. Ich finde es richtig, dass man den Beschluss nach dieser öffentli- chen Auseinandersetzung zurückgenommen hat. Ich habe im Innenausschuss gesagt, dass mein Mitgefühl durchaus den Abgeordneten der SPD gehört, die in der einen Woche - wir hatten zwei sitzungsfreie Wochen - 1) Anlage 3 im Wahlkreis erklärt haben, warum die Diätenerhöhung gerecht, erforderlich und nötig ist, und in der zweiten Woche erklären mussten, warum der Beschluss zurückgenommen wurde. Das war keine einfache Situation. Etwas überrascht hat mich allerdings die Stellungnahme von Herrn Ramsauer von der CSU in den Tagesthemen. Herr Ramsauer hat gesagt, dass nicht nur Eiseskälte in der Koalition herrsche, sondern klirrende Kälte. Dies sagte er nicht im Zusammenhang mit den großen ungeklärten Themen der Großen Koalition, sei es nun die Rente, das Klimaschutzprogramm oder die Kinderbetreuung. Nein, Herr Ramsauer kündigte im Zusammenhang mit einer nicht erfolgten - aus guten Gründen nicht erfolgten - Diätenerhöhung an, dass er seine Arbeit mehr oder weniger einstellen werde. ({2}) Ich glaube, es geschieht zum ersten Mal in Deutschland, dass die Koalitionsfrage wegen einer nicht vorgenommen Diätenerhöhung gestellt wird. Ich habe das bis heute nicht verstanden, aber ich bin sicher, dass Herr Ramsauer das in Bayern wird erklären können. Wir haben hier heute gefordert, dass das Bundesministergesetz auf die Tagesordnung gesetzt wird. Sie haben jetzt angekündigt, dass es zeitnah zu einer Entscheidung kommen wird. Ich möchte in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, dass dieses Ministergesetz seit April 2004 auf Eis liegt - um beim Koalitionsklima zu bleiben - und dass erst unsere Anforderung eines Berichts im Plenum zum Stand der Beratung dazu geführt hat, dass Sie überhaupt die Beratung zu diesem Gesetzentwurf wieder aufgenommen haben. Ich finde es in Ordnung, dass die Minister und Staatssekretäre und damit verbunden auch die Bundeskanzlerin nach einigen Tagen der Überlegung erklärt haben, dass auch für sie die vorgesehene Erhöhung der Bezüge nicht infrage kommt. Zum Gesamtergebnis kann ich sagen: Hätten Sie es gleich so gemacht, wie ich hier gesagt habe, dann wären uns 14 peinliche Tage für die Politik in Deutschland erspart geblieben. Sie haben die Gelegenheit, es beim nächsten Mal anders und besser zu machen. Danke schön. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurf eines Gesetzes über die Anpassung von Dienstund Versorgungsbezügen im Bund 2008/2009. Der Innenausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9341, den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 16/9059 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Wer möchte sich enthalten? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer möchte sich enthalten? Der Gesetzentwurf ist damit einstimmig angenommen. Wir kommen nun zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Innenausschusses zu dem Entwurf eines Gesetzes des Bundesrates zur Änderung des Bundesbesoldungsgesetzes. Der Innenausschuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9341, den Gesetzentwurf des Bundesrates auf Drucksache 16/1033 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Wer möchte sich enthalten? - Die Beschlussempfehlung ist ebenfalls einstimmig angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 sowie den Zusatzpunkt 4 auf: 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte Pothmer, Dr. Thea Dückert, Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Rechte der Beschäftigten von Discountern verbessern - Drucksache 16/9101 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Silke Stokar von Neuforn, Kerstin Andreae, Volker Beck ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Persönlichkeitsrechte abhängig Beschäftigter sichern - Datenschutz am Arbeitsplatz stärken - Drucksache 16/9311 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Silke Stokar von Neuforn für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. ({2})

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, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In den beiden grünen Anträgen, die ich hier heute einbringe, geht es um zwei Themen: einmal um die Rechte der Beschäftigten, insbesondere bei Discountern, also bei Supermarktketten, zum anderen um die Notwendigkeit von mehr Arbeitnehmerdatenschutz. Das Schwarz-Buch Lidl, das vielen bekannt sein wird, hat in sehr drastischer Weise deutlich gemacht, dass die Forderung nach Mindestlöhnen in Deutschland auf jeden Fall richtig ist, dass ihre Umsetzung aber nicht alle Probleme im Niedriglohnsektor lösen wird. Wir haben es heute im Bereich des Niedriglohnsektors mit Arbeitsbedingungen zu tun, die ich nur als frühkapitalistisch bezeichnen kann. Wir haben es in diesem Bereich mit Arbeitsbedingungen zu tun, die einen Angriff auf die Menschenwürde darstellen. Wir sehen eine einzige Möglichkeit, die Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Niedriglohnsektor - ich denke nicht nur an Lidl, Aldi, Schlecker und wie sie alle heißen; diese Verhältnisse gibt es auch im Gaststättengewerbe und im Baubereich - zu schützen: Wir müssen die Möglichkeit, Betriebsräte zu gründen, erheblich verbessern. In unserem ersten Antrag fordern wir: Auch in Unternehmen mit vielen Filialen muss es wieder möglich sein, Betriebsräte zu gründen; wer die Wahl von Betriebsräten behindert, der muss mit Sanktionen rechnen. ({0}) Unser zweiter Antrag zum Arbeitnehmerdatenschutz bezieht sich ebenfalls auf den Fall Lidl. Ich denke, dass wir hier angesichts der heutigen Tickermeldungen im Zusammenhang mit Verstößen gegen den Datenschutz über einen anderen Skandal reden müssen. Ich habe es bis heute nicht für möglich gehalten, dass wir in der Privatwirtschaft so einen Super-GAU, so einen Datenschutzskandal erleben, wie ihn die derzeit noch laufende Telekom-Affäre offenbart. Ich habe es nicht für möglich gehalten, dass ein Unternehmen, das den Auftrag hat, den Umgang mit Telefondaten sicherzustellen, selber in so eklatanter Art und Weise gegen das Post- und Fernmeldegeheimnis verstößt. Ich habe es auch nicht für möglich gehalten, dass ein großes deutsches DAX-Unternehmen Grundrechte wie das Recht auf Pressefreiheit, Betätigung von Gewerkschaften und informationelle Selbstbestimmung dermaßen mit den Füßen tritt. Wir wissen seit heute Abend, dass die Telefondaten nicht nur von führenden Mitarbeitern der Telekom, sondern auch von Mitgliedern des Aufsichtsrats und von Journalisten, über die die Telekom verfügte, ganz offensichtlich über Jahre hinweg gespeichert und analysiert worden sind. Ich kann in diesem Zusammenhang nur noch einmal deutlich machen, welche Gefahren wir in der Vorratsdatenspeicherung sehen. Dieser Telekom-Skandal hat deutlich gemacht, dass die Frage, wer, wann, wie lange, von welchem Ort und mit wem telefoniert, von einer hohen politischen Brisanz sein kann. Ich möchte nicht, dass ehemalige Geheimdienstler, die ein Privatunternehmen, eine Wirtschaftsdetektei gründen und heute in der Sicherheitszentrale der Telekom sitzen, meine Daten auf einem schwarzen Datenmarkt verkaufen und in der Lage sind, zu analysieren, welcher Politiker Kontakt mit welchem Journalisten hat und welcher Gewerkschafter Kontakt mit Wirtschaftsverbänden oder auch mit Journalisten hat. Ich möchte nicht, dass diese Informationen analysiert und weitergegeben werden. Vorratsdatenspeicherung ist der Beginn von Korruption, von Missbrauch und von politischer Erpressung. ({1}) Ich bin sicher, dass die Telekom-Affäre das Parlament weiter beschäftigen wird. Wir stehen am Beginn des größten deutschen Datenschutzskandals in der Privatwirtschaft. Lassen Sie mich zum Schluss noch einen weiteren Aspekt in die Diskussion einführen. Wir brauchen neue gesetzliche Regelungen nicht nur zum Arbeitnehmerdatenschutz, sondern auch zum Informantenschutz. Nur gesetzliche Regelungen zum Informantenschutz können sicherstellen, dass solche ungeheuren Skandale in Zukunft schneller an die Öffentlichkeit kommen und nicht so lange vertuscht werden können. ({2}) Ich möchte meine Betroffenheit zum Ausdruck bringen. Dies sage ich insbesondere mit Blick auf die für diesen Skandal Verantwortlichen.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Stokar von Neuforn, Sie haben zu Recht festgestellt, dass wir am Anfang stehen. Aber Sie sind jetzt eine Minute über Ihrer Redezeit.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin, Sie haben mich in meinem Schlusssatz erwischt. - Wir begrüßen die Aufklärung und stellen nicht alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Telekom unter Verdacht. Wir sagen aber ganz deutlich, dass dieser Skandal aufgearbeitet werden muss. Das muss politische und gesetzliche Folgen sowie Folgen für die Verantwortlichen haben. Danke schön. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Paul Lehrieder das Wort. ({0})

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Stokar von Neuforn, Sie haben gerade am eigenen Leib in dramatischer Weise bemerkt, wie es ist, wenn man in seiner Rede überwacht wird. Die Präsidentin hat Sie darauf hingewiesen, dass Ihre Redezeit um eine Minute überschritten war. Allerdings wissen wir, dass wir bei der Einhaltung unserer Redezeit vom Präsidium überwacht werden. Das ist der Unterschied. Wir sind uns sicherlich alle darin einig, dass die Freiheit unserer Bürgerinnen und Bürger das ist, was die Demokratie allen anderen Systemen überlegen macht. Es gibt ein bewährtes Instrument, das sie im Alltag schützen soll: das Rechtsstaatsprinzip. Hier im Deutschen Bundestag wird darum immer wieder und mit gutem Recht darüber gestritten, wie weit wie auch immer geartete Überwachungsmaßnahmen gehen dürfen. Sie haben das neueste Beispiel, das der Deutschen Telekom, bereits angesprochen. Umso weniger ist es erträglich, wenn sich Privatunternehmen ein Recht herausnehmen, das die Institutionen des demokratischen Rechtsstaats in dieser Form nicht antasten, nämlich das Recht, die Daten von Mitarbeitern auf brauchbare Hinweise auf womöglich missliebiges Verhalten zu durchforsten. Überwachungsmethoden dieser Art, wie sie bei Lidl und anderen Firmen in der letzten Zeit aufgedeckt worden sind, sind unwürdig und mit unserem Rechtsstaat nicht vereinbar. Daran ändert auch das Argument nichts, man wolle mit Privatdetektiven und Überwachungskameras Ladendiebstähle aufklären oder Hygienekontrollen durchführen. In engen Grenzen ist das zwar möglich, eine Überwachung ist dann aber mitbestimmungspflichtig. Sie muss vorher mitgeteilt werden und gezielt sein, ohne andere Mitarbeiter einzuschließen. Außerdem muss ein konkreter Anlass vorliegen. Ein Fehlverhalten könnte dann arbeitsrechtlich geahndet werden. Die aktuellen Fälle von Mitarbeiterüberwachung aber gehen darüber weit hinaus. Sie schränken die Mitarbeiter in ihren Rechten ein und sind und bleiben Rechtsbrüche. Deshalb müssen die gesetzlichen Regelungen konsequent angewandt und die Arbeitnehmer effektiv geschützt werden. ({0}) In diesem Punkt sind wir uns einig, liebe Kollegen von den Grünen. In Ihrem Antrag fordern Sie unter anderem ein Arbeitnehmerdatenschutzgesetz, enge Grenzen für die Datenerhebung und eine Stärkung der Persönlichkeitsrechte abhängig Beschäftigter. Natürlich ist das sehr ehrenswert. Leider schießen Sie aber über das Ziel hinaus. Landauf, landab sind immer wieder Forderungen nach weniger Vorschriften und nach Verwaltungsvereinfachung zu hören. Kommt es aber zu einer größeren Gesetzesübertretung, werden sozusagen als Soforttherapie neue und mehr Gesetze gefordert. Meister in der Disziplin „Populismus“ sind hier immer wieder gern meine Freunde von der Linken. ({1}) Liebe Kollegen von den Grünen, wir haben ausreichende gesetzliche Grundlagen, um die Mitarbeiter von Lebensmitteldiscountern wie andere Arbeitnehmer bereits jetzt vor einer unzulässigen Durchleuchtung durch den Arbeitgeber zu schützen, auch wenn es in Deutschland noch kein einheitliches Arbeitnehmerdatenschutzgesetz gibt, wie Sie es fordern. Auch die Gründung von Betriebsräten ist durch das Betriebsverfassungsgesetz bereits hinreichend abgesichert und wesentlich vereinfacht worden. Beim Schutz gegen unrechtmäßige Überwachung greifen die Grundsätze des allgemeinen Datenschutzes und des Arbeitnehmerdatenschutzes. Im Bundesdatenschutzgesetz und im Betriebsverfassungsgesetz gibt es dazu einschlägige Bestimmungen. So belegt das Bundesdatenschutzgesetz die unbefugte Erhebung personenbezogener Daten in § 43 mit Bußgeldern bis zu 250 000 Euro. Das ist keine Lappalie. Was Sie gefordert haben, nämlich dass der Betrag von 25 000 Euro erhöht werden muss, ist bereits im Gesetz geregelt. Ein Blick ins Gesetz erleichtert das Verständnis des Rechts. Weiter legt § 87 Abs. 1 Nr. 6 des Betriebsverfassungsgesetzes fest, dass der Betriebsrat bei Einführung und Anwendung von technischen Einrichtungen, die dazu bestimmt sind, das Verhalten oder die Leistung der Arbeitnehmer zu überwachen, mitzubestimmen hat. Die Rechtsprechung zum Schutz des Persönlichkeitsrechts des Arbeitnehmers hat darüber hinaus Regeln des allgemeinen arbeitsrechtlichen Informationsund Datenschutzes entwickelt. Dies gilt auch für die Videoüberwachung von Arbeitnehmern. In einem Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 14. Dezember 2004 zur Videoüberwachung am Arbeitsplatz heißt es zum Beispiel: Die Videoüberwachung ist der Arbeitgeberin nicht allein auf Grund ihres Hausrechts gestattet … Wird die Videoüberwachung im privaten Bereich nicht heimlich, sondern sichtbar durchgeführt, so hat der Besucher grundsätzlich die Möglichkeit, der Überwachung durch Fernbleiben von den überwachten Räumen zu entgehen … Der Arbeitnehmer hat diese Möglichkeit nicht … Hinzu kommt, dass auch der Arbeitgeber verpflichtet ist, den Arbeitnehmer vertragsgemäß zu beschäftigen. Sein Hausrecht unterliegt aus diesen Gründen einer Einschränkung … Die … erheblichen Eingriffe in die Persönlichkeitsrechte der Arbeitnehmer sind nicht durch überwiegende schutzwürdige Belange der Arbeitgeberin … gerechtfertigt. Im Fall Lidl hat die beim baden-württembergischen Innenministerium angesiedelte Datenschutzbehörde bereits ein Prüfverfahren eingeleitet, um den Sachverhalt aufzuklären. Außerdem hat die Aufsichtsbehörde mehrere Filialen unangemeldet kontrolliert. ({2}) Dessen ungeachtet ist zunächst einmal zu klären, was bei Lidl und anderen Firmen genau geschehen ist, welche strafrechtlichen Konsequenzen daraus abzuleiten sind und ob Missstände auch wirklich abgestellt werden. In der Aufarbeitung der Vorkommnisse wird sich zeigen, ob die bestehenden Regelungen in den Datenschutzgesetzen und im Strafgesetzbuch ausreichen oder nicht. Erst dann sollte der Gesetzgeber aktiv werden. Eines muss immer wieder betont werden, auch wenn sich in letzter Zeit die Fälle von Mitarbeiterüberwachung zu häufen scheinen: ({3}) Die allermeisten in Deutschland ansässigen Unternehmen haben sich in dieser Hinsicht gegenüber ihren Mitarbeitern nichts zuschulden kommen lassen. ({4}) Sie könnten es sich auch gar nicht leisten. Der Imageverlust in einem solchen Fall wäre beträchtlich. Anstelle eines kategorischen Verbotes der technischen Überwachung von Leistung und Verhalten der Arbeitnehmer hat der Gesetzgeber Arbeitgebern und Arbeitnehmern darum die Möglichkeit gegeben, über Betriebsvereinbarungen zwischen der Geschäftsleitung eines Betriebes und dem Betriebsrat dieses Betriebes transparente, praktikable und für beide Seiten annehmbare Lösungen auszuhandeln, soweit unabdingbare gesetzliche Schutzbestimmungen eingehalten werden. Sie kommen in der Begründung Ihres Antrags auch zu dieser begrenzten Überwachungsmöglichkeit unter Einbeziehung des Betriebsrats. Die allermeisten Unternehmen - ich möchte das betonen, Herr Montag, nachdem Sie vorhin den Zwischenruf gemacht haben - halten die Regeln des Betriebsverfassungsgesetzes ein, auch was die Einrichtung von Betriebsräten angeht. Was das betrifft, ist im Übrigen Ihre Forderung nach einer leichteren Betriebsratsbildung in Unternehmen in vielen Fällen schlicht obsolet. Die Erfahrung zeigt, dass auch große Unternehmen in ihren Filialen mehr als die fünf Arbeitnehmer beschäftigen, die für die Gründung eines Betriebsrats notwendig sind. Betriebliche Mitbestimmung hat sich bewährt. Sie funktioniert in 99 Prozent aller Unternehmen. ({5}) Nirgendwo sind die Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechte der Arbeitnehmer im Unternehmen so weitgehend geregelt wie hierzulande. Diese Rechte gilt es zu nutzen. ({6}) - Sie wollen mir eine Zwischenfrage stellen, Frau Kollegin?

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich wollte Sie gerade fragen, ob Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Silke Stokar von Neuforn zulassen.

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich freue mich darüber.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Lehrieder, ist Ihnen bekannt, in wie vielen Filialen von Lidl - ich spreche jetzt erst einmal nur von Lidl; wir könnten aber Aldi und andere mit einbeziehen - es überhaupt einen Betriebsrat gibt? Sie haben eben gesagt, es bestehe kein Handlungsbedarf bezüglich einer Vereinfachung der Betriebsratsgründung. In über 99 Prozent der Filialen von Discountern kann es keine Vereinbarung geben, weil die Wahlen von Betriebsräten be- oder verhindert werden.

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Mir ist durchaus bekannt, Frau Stokar von Neuforn, dass nur in einer geringen Anzahl der Filialen von Lidl oder anderen Discountern überhaupt Betriebsräte bestehen. Aber durch den von Ihnen eingebrachten Antrag wird die Gründung eines Betriebsrates im Verhältnis zum Status quo nicht erleichtert. Das heißt, eine Gründung wäre auch nach Umsetzung Ihrer Vorschläge nicht leichter möglich als derzeit. Die von Ihnen angedeutete - ich sage das ganz bewusst so - Einschüchterung würde letztendlich dadurch auch nicht aufhören.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage der Kollegin Pothmer?

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gerne.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Bitte, Frau Pothmer.

Brigitte Pothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003823, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Lehrieder, kann ich Ihrer Antwort entnehmen, dass Sie einen Vorschlag unterbreiten werden, durch den die Gründung von Betriebsräten noch deutlicher erleichtert wird als durch unsere Vorschläge?

Paul Lehrieder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003799, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wenn ich Ihren Vorschlag anschaue, stelle ich fest, dass sich keine Regelungen finden, die die Gründung von Betriebsräten im Verhältnis zum Status quo erleichtern. Sie schreiben: Der Prozess der Einleitung von Betriebsratswahlen muss gesetzlich besser geschützt werden. Die gerichtliche Bestellung eines Wahlvorstands auf Antrag der im Betrieb vertretenen Gewerkschaft muss für Kleinbetriebe bis 100 Beschäftigte erleichtert werden. Hier findet sich nichts, was nicht ohnehin schon möglich wäre. ({0}) Ich kann Ihnen, Frau Pothmer, allerdings sagen, um Sie zu beruhigen: Es kommt kein eigener Antrag von mir. Meine Damen und Herren, die beiden vorgelegten Anträge, über die wir heute diskutieren, werden wir aus gutem Grund ablehnen. Wir werden die Ergebnisse der Auswertung der Vorgänge bei Lidl abwarten, darüber in der gebotenen Sachlichkeit sprechen und daraus die entsprechenden Schlüsse ziehen. Falls wir Handlungsbedarf sehen, werden wir zu gegebener Zeit hier darüber diskutieren und sodann, Frau Kollegin Pothmer, sofern es erforderlich ist, eigene Anträge einbringen. Herzlichen Dank. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Dr. Heinrich Kolb das Wort. ({0})

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In den Anträgen der Grünen werden zwei Komplexe angesprochen: das Betriebsverfassungsgesetz und der Schutz der Daten der Arbeitnehmer. Ich möchte zunächst auf das Thema Betriebsverfassungsgesetz eingehen und darauf hinweisen, dass es die FDP war, die 1972 gemeinsam mit der SPD die betriebliche Mitbestimmung in Deutschland eingeführt hat. ({0}) Leitbild war dabei die Kooperation von Arbeitnehmern und Arbeitgebern in den Betrieben, das einvernehmliche Miteinander von Unternehmen und Betriebsrat, nicht die Konfrontation. Ich erwähne das, weil die Grünen als Reaktion auf unakzeptable Vorkommnisse - das gebe ich hier gerne zu - bei sogenannten Discountern jetzt vorschlagen, mit einer allgemeingültigen und beileibe nicht auf Discounter beschränkten Verschärfung der Vorschriften des Betriebsverfassungsgesetzes die streitige Errichtung von Betriebsräten sozusagen zum Modell zu erheben und damit das bisherige Regel-/Ausnahmeverhältnis umzukehren. Wenn ich mir so durchlese, was Sie da so alles in Ihrem Antrag fordern, kann ich nur sagen, Frau Stokar von Neuforn: Da war wohl Ihre Abteilung „Agitation und Klassenkampf“ am Werke. Ich glaube aber nicht, dass dieser Denkansatz auf Dauer Erfolg verspricht. Jeder Unternehmer und auch die Arbeitnehmer in den Betrieben wissen - wenn sie es noch nicht wissen, müssen sie es lernen -: Nur wenn es auf Dauer zu einem Interessenausgleich zwischen Arbeitnehmern und Unternehmern kommt, wenn Betriebsrat und Unternehmer zum Wohle des Unternehmens und seiner Arbeitnehmer zusammenarbeiten, ist der Bestand eines Unternehmens und seiner Arbeitsplätze gesichert. Ich bin ähnlich wie der Kollege Lehrieder der Meinung, dass ein solcher Interessenausgleich in den geltenden Vorschriften des Betriebsverfassungsgesetzes - gerade auch, was das Vorfeld einer Betriebsratsgründung angeht - ausreichend verankert ist. Vor dem Hintergrund, dass Rot-Grün im Jahre 2000 eine größere Reform des Betriebsverfassungsgesetzes durchgeführt hat, frage ich mich schon, Frau Stokar von Neuforn, warum Sie Ihre Forderungen nicht schon damals erhoben oder umgesetzt haben. Das Problem war damals schon bekannt. Nein, ich glaube, die Vorschläge der Grünen zur Änderung des Betriebsverfassungsgesetzes, zum Beispiel die Entfristung eines befristeten Arbeitsverhältnisses für die Dauer der Amtszeit eines Betriebsrates, gehen zu weit. Sie wirken sich in der Praxis eher kontraproduktiv aus. ({1}) Sie entsprechen auch nicht dem Gesetzesstand, so zum Beispiel Ihre Forderung unter Ziffer 1 e Ihres Antrags. Die Möglichkeit, auch ohne Vorliegen eines Tarifvertrages einen unternehmenseinheitlichen Betriebsrat einzurichten, gibt es nach § 3 Abs. 3 des Betriebsverfassungsgesetzes doch längst. Dieser Antrag ist zu sehr vom Gedanken des Klassenkampfes geprägt und findet deshalb nicht unsere Zustimmung. Schauen wir uns einmal Ihre Ausführungen zum Datenschutz an. Ich darf zunächst daran erinnern, dass der Deutsche Bundestag die Bundesregierung schon mehrfach aufgefordert hat, den Arbeitnehmerdatenschutz zu stärken, ({2}) und dazu bereits fraktionsübergreifend gemeinsame Entschließungen verabschiedet hat. Es stellt sich angesichts der jüngsten Fälle schon die Frage, ob die geltenden rechtlichen Regelungen ausreichen. Fakt ist auch, dass die Stärkung des Arbeitnehmerdatenschutzes bereits von der rot-grünen Bundesregierung für die letzte Wahlperiode angekündigt war. Sie lässt aber noch immer auf sich warten. Insofern ist es schon sonderbar, dass sich nun ausgerechnet die Grünen als Hüterin von Bürgerrechten und Datenschutz gerieren. Auch hier frage ich: Warum haben Sie nicht gehandelt, als Sie die Gelegenheit dazu hatten? ({3}) Damals hat sich Ihre Regierung hinter Überlegungen auf europäischer Ebene versteckt, die es angeblich abzuwarten galt. Danach hat man von dieser Sache nichts mehr gehört. Ihre Sorge um den Datenschutz und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung der Arbeitnehmerinnen und der Arbeitnehmer ist aber, gemessen an Ihrem früheren Verhalten, höchst unglaubwürdig. Wir wollen und werden nicht vergessen, dass es die rot-grüne Bundesregierung war, die die Axt wiederholt an die Bürgerrechte gelegt hat. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an das sogenannte Gesetz zur Förderung der Steuerehrlichkeit und das Finanzmarktförderungsgesetz, mit dem das Bankgeheimnis quasi abgeschafft wurde. Unter Ihrer Regierungsverantwortung wurde die Erhebung und Speicherung biometrischer Daten eingeführt. ({4}) Sie, die Grünen, waren es doch, die sogar einen Persilschein zur Aufgabe des Datenschutzes erteilten, bevor die Voraussetzungen überhaupt klar geregelt waren. Darauf muss man an dieser Stelle hinweisen. ({5}) Zur aktuellen Situation möchte ich Folgendes sagen: Die in der letzten Zeit aufgedeckten skandalösen Fälle belegen, wie wichtig effektiver Datenschutz auch im privaten Bereich ist. Die Unternehmen müssen den Schutz der informationellen Selbstbestimmung gegenüber ihren Mitarbeitern wahren. Man gewinnt manchmal den Eindruck, dass Datenschutz ein Bürgerrecht zweiter Klasse ist und Missbräuche oft gar nicht mehr als Missbräuche definiert werden. Hier gilt es, Abstumpfungstendenzen und der Herabsetzung von Hemmschwellen entgegenzutreten. Wir brauchen dringend eine gesamtgesellschaftliche Diskussion über den Stellenwert des Datenschutzes. Gerade die jüngsten Fälle bei der Telekom zeigen exemplarisch, dass große Datenmengen die Gefahr des Missbrauchs erhöhen. Deshalb bleibt die FDP bei ihrer strikten Ablehnung der von der Großen Koalition eingeführten Vorratsspeicherung von Telekommunikationsdaten. ({6}) Wir glauben, dass das Bundesdatenschutzgesetz novelliert werden muss. Die schwarz-rote Bundesregierung muss endlich initiativ werden, auch was die informationelle Selbstbestimmung in Arbeitsverhältnissen angeht. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Anette Kramme das Wort. ({0})

Anette Kramme (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003162, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich einen kurzen Auszug aus einem Buch vortragen: Schlimm war bloß die Gedankenpolizei. In Winstons Rücken plapperte die Stimme aus dem Teleschirm noch immer von Roheisen und der Übererfüllung des IX. Dreijahresplans. … Jedes von Winston verursachte Geräusch, das über ein gedämpftes Flüstern hinausging, würde registriert werden; außerdem konnte er, solange er in dem von der Metallplatte kontrollierten Sichtfeld blieb, ebenso gut gesehen wie gehört werden. Man konnte natürlich nie wissen, ob man im Augenblick gerade beobachtet wurde oder nicht. Wie oft oder nach welchem System sich die Gedankenpolizei in jede Privatleitung einschaltete, darüber ließ sich bloß spekulieren. Es war sogar denkbar, dass sie ständig alle beobachtete. Ich glaube, es ist nicht schwierig zu erraten, woraus ich zitiert habe. Es ist natürlich das Buch „1984“ von George Orwell. Orwells Großer Bruder hat leider viele kleine Geschwister bekommen. Diese heißen beispielsweise Payback und studiVZ. Mit beachtlicher Naivität geben leider viele Bürgerinnen und Bürger freiwillig Daten preis. Nur wenigen ist bewusst, was mit ihren Daten letztlich passiert und wie diese Daten genutzt werden können. Das Entscheidende ist aber, dass dieses Handeln immerhin legal ist. Jeder einzelne Bürger und jede einzelne Bürgerin entscheiden darüber, ob und wie viel an Daten sie preisgeben. Damit gibt es einen entscheidenden Unterschied zu Lidl. Es ist schlichtweg unvorstellbar und skandalös, was dort passiert ist. Halten wir fest: Der Discounter hat mehr als 500 Filialen von insgesamt circa 2 900 Filialen von Detektiven überwachen lassen. Es ist nach einem einheitlichen Muster vorgegangen worden: Montagmorgens wurden die Kameras installiert, um angeblich Ladendiebe aufzuspüren. Es ist aber überwacht worden, wann und wie häufig jemand auf Toilette ging. Es ist beobachtet worden, wer Tattoos hat und wer nicht. Es ist festgehalten worden, wer mit wem liiert ist. Es ist beobachtet worden, ob Schweißflecken unter den Achseln vorhanden sind oder nicht. Es ist natürlich auch festgehalten worden, wer sich wie zu beliebigen Themen äußert. Man glaubt nicht, dass so etwas im Rechtsstaat Deutschland möglich ist. Es ging nicht um den Schutz vor Ladendieben. Was dort stattgefunden hat, ist vielmehr Leistungs- und Verhaltenskontrolle. Ein klein wenig spielt auch die Idee der Gedankenpolizei mit. Natürlich liegt hier eine Rechtsverletzung vor. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht, das durch das Grundgesetz geschützt ist, ist selbstverständlich verletzt. Es liegen natürlich auch schwerwiegende Verletzungen nach dem Bundesdatenschutzgesetz vor. Aber Ihr Antrag bezieht sich meines Erachtens viel zu stark auf die Lebensmitteldiscounter, und da besonders auf Lidl. Was wir brauchen, ist eine weitergehende Regelung. Denn es gibt auch Fälle bei IKEA. Frontal 21 berichtete, dass dort Arbeitnehmer ohne Zustimmung des Betriebsrates überwacht werden. Es sind illegale Protokolle aufgetaucht, in denen der Gesundheitszustand von Mitarbeitern festgehalten wird. Bei Burger King wollten Mitarbeiter erst im April dieses Jahres einen Betriebsrat wählen. Dazu hat es ein Vorbereitungstreffen gegeben. Selbstverständlich wurde dieses Treffen gefilmt. Damit war klar, wer die Initiatoren des Geschehens waren. Die Mitarbeiter wurden identifiziert und vom Konzern ins Gebet genommen. Auch der Konzern Tönnies-Fleisch scheut sich nicht, auf diese Art und Weise mit seinen Mitarbeitern umzugehen. Mit 3 000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern handelt es sich um den größten Fleischverarbeiter Europas. Es wurde nicht nur die Fabrikation überwacht, sondern es hat Kameras auch in Umkleidekabinen und in Toiletten gegeben. Nach all den Vorgängen ist es keine Überraschung mehr, was wir bei der Telekom vorfinden. Dort sind Telefonate von Managern und von Aufsichtsräten überwacht und ausgewertet worden. Insbesondere die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat waren betroffen. Der Bundesbeauftragte für den Datenschutz, Peter Schaar, sagte, das Ganze sei nur die Spitze des Eisbergs, meistens finde die Überwachung unsichtbar und ohne Kameras statt, sodass niemand davon weiß. Eigentlich müsste man erwarten, dass sich die Spitzen dieser Konzerne und Unternehmen für das schämen, was dort passiert ist. Aber man stellt nicht fest, dass dem so ist. Wir in der Politik können nur erwarten, dass diese Unternehmen und Konzerne wieder zurück zu Seriosität und Ehrenhaftigkeit finden. Das bezieht sich nicht nur auf das Recht auf informationelle Selbstbestimmung der Arbeitnehmer. Da geht es um weit mehr. In diesem Zusammenhang kann man auch über die Spitzenverdienste der Manager reden. Dies ist ein Antrag, den wir gerade bearbeiten. ({0}) Noch einmal festgehalten: Selbstverständlich, diese Vorgehensweisen sind illegal. Es ist richtig, meine Damen und Herren von den Grünen, dass Sie sagen, dass der Betriebsrat ein umfassendes Mitbestimmungsrecht bei der Einführung und Anwendung von technischen Überwachungseinrichtungen hat. Ohne Weiteres können viele Betriebsräte in diesem Land die Situation entschärfen. Es stimmt auch, dass es zu wenige Betriebsräte im Bereich der Discounter, aber auch in anderen Bereichen gibt. Das haben wir schon bei der Reform des Betriebsverfassungsgesetzes gesehen. Wir haben das vereinfachte Wahlverfahren eingeführt; GBR und KBR können Wahlvorstände einsetzen. Wir haben das Kündigungsschutzgesetz an dieser Stelle ausgedehnt. Auch was wir momentan machen, ist richtig, nämlich dass vor dem Hintergrund der Lebensmittelskandale künftig im Futtermittelgesetz ein Informantenschutz vorgesehen sein soll. Wir wissen, Betriebsräte, Betriebsratswahlen sind ein hohes Risiko. Fast keine Betriebsratswahl findet mehr beanstandungslos statt. Dort gibt es Kündigungen, dort gibt es Abmahnungen. Da behalten Arbeitgeber Unterlagen ein, die mühselig eingeklagt werden müssen. Firmen werden aufgespalten, um Betriebsräte zu verhindern. Wir können uns gut vorstellen, dass wir in diesem Bereich gemeinsam agieren. Wir können uns gut vorstellen, dass man sich überlegt, wie Wahlverfahren noch einmal vereinfacht werden. Ihr Antrag bleibt an dieser Stelle leider unkonkret; aber die Stoßrichtung ist erkennbar. Wovon ich persönlich nichts halte, ist eine Verschärfung der Strafvorschriften. Ich habe Erfahrungen damit gemacht. § 119 des Betriebsverfassungsgesetzes kennt von den Richtern fast niemand. Es fehlt ihnen das Problembewusstsein. Da wird beispielsweise drei Arbeitnehmerinnen gekündigt, die in einem Seniorenheim einen Betriebsrat gründen wollten. Am nächsten Tag werden neue Arbeitnehmer eingestellt. Die Kündigungen erfolgten betriebsbedingt. Was gibt es an Geldbuße? Da werden zweimal 500 Euro verhängt. Das ist das Geschehen. Wir werden mit erhöhten Strafrahmen und einer Verschärfung der Vorschriften nicht weiterkommen, bevor wir dort nicht sensibilisieren. Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Ich denke, das Grundproblem, das wir haben, liegt nicht in der Gesetzesanwendung. Wir haben viele gesetzliche Regelungen, die die Themen aufgreifen und sie partiell lösen. Wir haben vielmehr das Problem, dass Beschäftigte nach wie vor existenzielle Ängste haben, wenn es darum geht, Rechte geltend zu machen. Deshalb geht es darum, dass wir in dieser Republik weiter dafür kämpfen, dass die Arbeitslosigkeit sinkt. Es geht auch immer wieder darum, zu betonen: Arbeitnehmerrechte sind eine gesellschaftliche, eine wertvolle Errungenschaft. Das müssen wir gerade als Bundestag immer wieder klar und deutlich machen. In diesem Sinne herzlichen Dank. ({1})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Kollegin Sabine Zimmermann, Fraktion Die Linke. ({0})

Sabine Zimmermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003869, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Lehrieder, ich wusste gar nicht, dass wir Freunde in der CSU haben. Hängt das mit der Bayern-Wahl zusammen? Suchen Sie schon einen Koalitionspartner? ({0}) Wir werden sehen, wie sich alles entwickelt. Meine Damen und Herren, als Abgeordnete der Linken und Gewerkschafterin gratuliere ich den Beschäftigten der Lidl-Filiale in Renningen bei Stuttgart; denn ihnen ist es gelungen, am 2. Mai einen Betriebsrat zu gründen, und das gegen alle Widerstände der Geschäftsführung. Es geht hier um ein im Betriebsverfassungsgesetz verbrieftes Recht. Die Politik muss alles unternehmen, damit dieses Gesetz nicht unterlaufen wird. Wir sind zugleich solidarisch mit den Beschäftigten im Einzelhandel, die im Moment für ihre Rechte kämpfen. Ihnen gebührt unser Respekt. Sie sind in einem langen und schwierigen Tarifkonflikt. Fast 200 000 Verkäuferinnen und Verkäufer haben bisher über ein Jahr gestreikt, so viele und so lange wie nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik. Die Beschäftigten kämpfen für menschenwürdige Arbeitsbedingungen und höhere Löhne in einer Branche, in der 70 Prozent Frauen arbeiten und mehr als die Hälfte aller Arbeitsplätze Teilzeit- und Minijobs sind. 2006 gab es etwa 60 000 Aufstocker im Einzelhandel. Das sind sozialversicherungspflichtig Beschäftigte, deren Löhne so niedrig sind, dass sie zusätzlich Hartz IV beziehen. Das ist Arbeit, die arm macht. Im Gegensatz dazu gehören die Inhaber der großen Einzelhandelsketten Lidl und Aldi zu den Reichsten in Deutschland. Sie besitzen ein geschätztes Privatvermögen von 42 Milliarden Euro. Dass die Schere zwischen Arm und Reich immer mehr auseinanderklafft, dass sich die einen auf Kosten der anderen bereichern, das ist der eigentliche Skandal in Deutschland. ({1}) - Das kann ich Ihnen bestätigen. Rot-Grün und die Große Koalition unter Frau Merkel sind dafür verantwortlich, dass prekäre Beschäftigung im Einzelhandel dermaßen auf dem Vormarsch ist. Wo, wenn nicht hier, brauchen die Beschäftigten starke Gewerkschaften und Betriebsräte? Die Politik sollte schauen, welchen Beitrag sie dazu leisten kann. Deshalb unterstützen wir den Antrag der Grünen. Discounter kommt von „discount“, was so viel heißt wie Rabatt. Man könnte auch sagen: Hauptsache billig, koste es, was es wolle. Discounter treiben das Preis- und Lohndumping im Einzelhandel massiv voran. Billig zulasten der Beschäftigten. Erst vor vierzehn Tagen stellte das Arbeitsgericht Dortmund fest: Der Textildiscounter KiK zahlt sittenwidrige Löhne. 5,20 Euro pro Stunde hat die Einzelhandelskette einer Minijobberin zugemutet. Das ist die Hälfte vom Tariflohn. Neben Hungerlöhnen und unbezahlter Mehrarbeit trifft man bei Discountern häufig auf Bespitzelung und Überwachung; denn wir wissen alle: Verängstigte und eingeschüchterte Mitarbeiter wehren sich nicht. Ich frage Sie in diesem Hause: Wer von Ihnen möchte unter diesen Bedingungen arbeiten? Es geht um menschenwürdige Arbeit. Zu lange hat die Bundesregierung zugeschaut, wie Einzelhandelskonzerne mit fragwürdigen, bisweilen kriminellen Methoden das Recht der Beschäftigten, Betriebsräte zu bilden, unterlaufen. Beschäftigte werden erpresst, bedroht oder bestochen. Kündigungen, Versetzungen, sogar der Vorwurf des Diebstahls, all dies ist den Unternehmensleitungen recht, um die Gründung von Betriebsräten und deren Arbeit zu verhindern. Als Gewerkschafterin sage ich Ihnen: Wir brauchen Gesetze, die die Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer stärken. ({2}) Die Kolleginnen und Kollegen von Aldi, Lidl und wie die Ketten alle heißen, haben unsere volle Unterstützung. Die Linke wird nicht locker lassen. Ich danke Ihnen. ({3})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/9101 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Zusatzpunkt 4. Die Vorlage auf Drucksache 16/9311 soll ebenfalls an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden. Die Federführung ist je- doch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und der SPD wünschen Federführung beim Ausschuss für Arbeit und Soziales. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht Federführung beim Innenausschuss. Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, Federführung beim In- nenausschuss, abstimmen. Wer stimmt für diesen Über- weisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Enthal- tungen? - Der Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der Opposi- tion abgelehnt. Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD, Federführung beim Ausschuss für Arbeit und Soziales, abstimmen. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Überweisungs- vorschlag ist bei Enthaltung der Fraktion Die Linke mit den Stimmen des Hauses im Übrigen angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 12 a und 12 b so- wie Zusatzpunkt 5 auf: 12 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung der gesetzlichen Unfallversicherung ({0}) - Drucksache 16/9154 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie b) Beratung des Antrags der Abgeordneten HeinzPeter Haustein, Dr. Heinrich L. Kolb, Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Mehr Wettbewerb und Kapitaldeckung in der Unfallversicherung - Drucksache 16/6645 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({2}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus Kurth, Kerstin Andreae, Birgitt Bender, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Die gesetzliche Unfallversicherung fit für die Dienstleistungsgesellschaft machen - Drucksache 16/9312 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({3}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Gesundheit Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Klaus Brandner. ({4})

Klaus Brandner (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003053

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die gesetzliche Unfallversicherung ist ein Erfolgsmodell. Wer Erfolgsmodelle behalten will, muss sie dem Wandel unterziehen und sie gelegentlich anpassen. Genau das wollen wir tun. Denn nur so können wir den Bestand einer erfolgreichen Unfallversicherung auch erfolgreich weiterentwickeln. Diese Herausforderungen hat die Bundesregierung mit dem vorliegenden Gesetzentwurf angenommen. Lassen Sie mich auf die wichtigsten Punkte aus dem Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung der gesetzlichen Unfallversicherung kurz eingehen. ({0}) Ein ganz wesentlicher Baustein zur Stabilisierung des Systems, Herr Kolb, und zur Erhöhung der Effizienz und Wirtschaftlichkeit ist die Reduzierung der Trägerzahl. Die kleinteilige Organisationsstruktur in der gesetzlichen Unfallversicherung ist nicht zukunftsfähig. Wir brauchen starke und leistungsfähige Träger. Da wird auch Herr Kolb zustimmen. ({1}) Der Gesetzentwurf sieht deshalb die Reduzierung der Trägerzahl im gewerblichen Bereich von derzeit 23 auf 9 Berufsgenossenschaften vor. Diese Zielvorgabe beruht auf einem Fusionskonzept der Selbstverwaltung. Denn die Reform folgt von Beginn an dem Grundsatz: Vorrang für die Selbstverwaltung. Wir wissen, dass der Erfolg von Organisationsreformen nicht zuletzt vom Engagement der Beschäftigten entscheidend abhängt. Im Gesetzentwurf ist deswegen ausdrücklich angeordnet, dass Fusionen sozialverträglich zu gestalten sind. Auch im Bereich des Spitzenverbandes waren und sind Veränderungen nötig. In den Eckpunkten ist die Errichtung einer gemeinsamen Spitzenkörperschaft vorgesehen. Die bis dahin bestehenden Spitzenverbände, der Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften und der Bundesverband der Unfallkassen, haben schnell gehandelt und sich zum neuen Spitzenverband Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung e. V. zusammengeschlossen. Auf Wunsch der Selbstverwaltung wurde hier die Vereinsform beibehalten. Diskussionen gibt es derzeit noch über die Frage der Beleihung und der Aufsicht. Allerdings - lassen Sie mich das sagen - war von Anfang an klar: Soweit die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung als privatrechtlicher Verein hoheitlich handelt, muss sie beliehen und unter Rechts- und Fachaufsicht gestellt werden. Das ist nach unserer Auffassung aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht anders möglich. Ein privatrechtlicher Verein ist sonst nicht hinreichend demokratisch legitimiert. Nach innen privatrechtlich organisiert und nach außen verbindliche Kompetenzen, das kann ohne Beleihung und Aufsicht nicht erfolgreich gehen. Deswegen möchte ich diejenigen, die befürchten, die Fachaufsicht könne zu einer zu weit gehenden Einschränkung der Selbstverwaltung führen, auf Folgendes hinweisen: Die Träger stehen im Bereich der Prävention seit jeher unter Fachaufsicht. Praktiker wissen, wie moderne Fachaufsicht ausgeübt wird, nämlich im Dialog und partnerschaftlich als Vertrauensaufsicht. Das wird auch bei der Aufsicht über die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung nicht anders sein. Flankierend zu den Fusionen der Träger wird der Lastenausgleich neu geregelt. Grundlage ist wiederum ein Konzept der Selbstverwaltung. Ziel der Neuregelung ist es, die Auswirkungen des wirtschaftlichen Strukturwandels auf die unterschiedlichen Bereiche der gewerblichen Unfallversicherung auszugleichen. Auf der einen Seite stehen hier die Wirtschaftsbereiche mit rückläufigen Beschäftigtenzahlen, die aber unverändert hohe Kosten für Arbeitsunfälle aus der Vergangenheit zu tragen haben. Ein prominentes Beispiel dafür ist die Bauwirtschaft. Auf der anderen Seite sind immer mehr Menschen etwa im Verwaltungsbereich tätig, ohne dass es hier vergleichbar große Altlasten gäbe. Hier ist mehr Solidarität als in der Vergangenheit gefordert. Alte Lasten werden künftig über alle Berufsgenossenschaften hinweg geschultert. ({2}) Nichts ist so gut, als dass man es nicht noch verbessern könnte. Dieser Satz gilt auch im Hinblick auf das deutsche Arbeitsschutzsystem. Ein weiterer wichtiger Bestandteil dieses Modernisierungsgesetzes sind die Regelungen zur gemeinsamen deutschen Arbeitsschutzstrategie. Bund, Länder und Unfallversicherungsträger verpflichten sich auf ein systematischeres und stärker gemeinsames Vorgehen im Arbeitsschutz auf der Grundlage gemeinsam festgelegter Arbeitsschutzziele. Diese Ziele werden dann in abgestimmten Programmen umgesetzt. Im Bereich der Beratung und Überwachung der Betriebe wird die Zusammenarbeit der Aufsichtsdienste verbessert und arbeitsteilig organisiert. Darüber hinaus wird das Vorschriften- und Regelwerk durch die Einführung einer restriktiven Bedarfsprüfung für den Erlass von Unfallverhütungsvorschriften einfacher und transparenter gestaltet. Unter dem Strich gilt: Die gemeinsame deutsche Arbeitsschutzstrategie richtet den Arbeitsschutz an den Herausforderungen der modernen Arbeitswelt neu aus. Sie fördert ein hohes Arbeitsschutzniveau zum Nutzen der Beschäftigten und der Betriebe, und sie leistet einen Beitrag zu mehr Effizienz in der Beratung und Überwachung der Betriebe. Sie ist damit ein Garant für die Leistungskraft des Systems insgesamt. Meine Damen und Herren, den Wandel erkennen und aktiv gestalten, das ist es, was verantwortungsbewusste Politik auszeichnet. Der Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung der gesetzlichen Unfallversicherung war diesem Anspruch immer verpflichtet und wird diesem Anspruch auch gerecht. Er stabilisiert das System auf Dauer und macht ein Erfolgsmodell zukunftsfähig. Das verdient meines Erachtens im Interesse eines erfolgreichen Prozesses die Zustimmung aller Mitglieder dieses Hauses ({3}) - auch die der FDP, Herr Kolb - und die Unterstützung der Beteiligten. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich gebe das Wort dem Kollegen Heinz-Peter Haustein, FDP-Fraktion. ({0})

Heinz Peter Haustein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003765, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Was man hier hört, ist ein ziemlich starkes Stück. Herr Staatssekretär Brandner spricht von einem „Erfolgsmodell“. Dabei geht es um ein Gesetz, das seit 1884 besteht und seitdem kaum verändert wurde. ({0}) Er sagt, das Gesetz sei erfolgreich und zukunftsfähig und man habe auf den Wandel reagiert. Ich fordere Sie auf: Erkundigen Sie sich einmal bei Unternehmern, was sie zum Thema Berufsgenossenschaften sagen! Sie werden feststellen, dass Ihnen der blanke Zorn entgegenkommt. Die Unternehmer und die Handwerker sehen Rot, wenn sie das Wort „Berufsgenossenschaft“ nur hören. ({1}) Das muss einen Grund haben. Das ist vor allem darin begründet, dass es hierbei um ein Monopol geht und die Unternehmer und Handwerker keine Wahlmöglichkeit haben, sondern ihrer Berufsgenossenschaft ausgeliefert sind. Die Berufsgenossenschaft und die Unfallkasse sind wichtige Bestandteile unserer sozialen Sicherungssysteme. ({2}) Ein Arbeitnehmer, der von einem Gerüst fällt, ist versichert - wer einen solchen Unfall hat, bekommt eine Rente und eine Reha -, und ein Unternehmer hat damit ein unbegrenztes Haftungsrisiko abgelöst. Wenn beispielsweise ein Fuhrunternehmer seine Lkw auf die Autobahn schickt und einer seiner Fahrer gegen einen Brückenpfeiler fährt und dadurch eine Brücke zusammenstürzt, dann ist auch dieser Schaden bis zu einer Höhe von 20 Millionen Euro versichert. ({3}) Das ist eine gute Sache. Wenn man sich aber das Gesetz ansieht, das die Große Koalition mit einem Dreivierteljahr Verspätung in den Bundestag einbringt, stellt man fest, dass sie in den Hauptbestandteil, die 90 Prozent, die den Leistungsteil betreffen, überhaupt nicht eingegriffen hat. Das ist, mit Verlaub, eine blamable Vorstellung. ({4}) Es geht um immerhin 9,6 Milliarden Euro. Sie haben in Ihrem Gesetzentwurf aber überhaupt nicht darauf reagiert, dass auch das System der Sozialversicherung zukunftsfest gemacht werden muss. Ich weiß, dass die verehrten Freunde von CDU und CSU den Leistungsteil gern reformiert hätten, ({5}) weil es notwendig ist, die Unternehmen bei den Lohnnebenkosten zu entlasten. Die Beiträge zu Berufsgenossenschaften sind nämlich auch Lohnnebenkosten, meine lieben Freunde. ({6}) Es ist an dieser Stelle aber nichts passiert. Ich werde Ihnen jetzt ein paar Vorschläge nennen, die wir in unserem Antrag gemacht haben und die zeigen, was wir verändern müssen, damit die Berufsgenossenschaft noch besser wird. Es ist gut, was Herr Breuer mit seinen Truppen macht. Aber die Berufsgenossenschaft kann noch besser werden. Es geht einmal darum, dass man willkürlich neun Berufsgenossenschaften festgelegt hat, ohne zum Beispiel zu fragen: Erzielt man damit Synergieeffekte? ({7}) Man hat also die Selbstverwaltung dazu überredet, das so zu tun. In dem Regierungsentwurf ist auch vorgesehen, dass die Betriebsprüfungen der gesetzlichen Unfallkasse auf den Prüfdienst der Deutschen Rentenversicherung übergehen. Das bedeutet wieder mehr Bürokratie und Belastung der Unternehmen. Das halte ich für überhaupt nicht günstig. Man muss die Unternehmen von der Bürokratie entlasten und sie nicht belasten. ({8}) Völlig falsch ist auch die Moratoriumslösung, die einen Eingriff in den Wettbewerb darstellt. Dass privatrechtlich organisierte Unternehmen des Staates bei den Unfallversicherungsträgern der öffentlichen Hand versichert sind, ist nicht hinnehmbar; denn es ist ein Eingriff in den Wettbewerb. Ebenso falsch ist es, dass die gesetzliche Unfallversicherung der Rechts- und Fachaufsicht durch das BMAS unterstellt wird. Das ist doch eine Versicherung. Der Unternehmer hat die Pflicht, versichert zu sein. Was hat aber der Staat noch darin herumzurühren, Herr Brandner? ({9})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Weiß?

Heinz Peter Haustein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003765, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Selbstverständlich.

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Haustein, ich habe bislang immer angenommen, die FDP sei ein Freund von Selbstverwaltung. Ich finde, das, was Sie soeben geäußert haben, ist eine ziemlich bösartige Unterstellung: Die Selbstverwaltung der deutschen Berufsgenossenschaften hätte sich von der Politik - den Koalitionsfraktionen, der Bundesregierung überreden lassen, neun Berufsgenossenschaften vorzuschlagen. Ich finde das deswegen so ungeheuerlich, weil als politische Vorgabe ursprünglich sechs Berufsgenossenschaften vorgesehen waren. Die Selbstverwaltung hat aus freien Stücken neun Berufsgenossenschaften vorgeschlagen, und die Koalitionsfraktionen und die Bundesregierung haben diesen Vorschlag übernommen. ({0}) Sprich: Der Zusammenhang ist vollkommen anders, als Sie ihn darstellen. Deswegen frage ich Sie, ob Sie diesen Vorwurf, die Selbstverwaltung sei überredet worden, nicht zurücknehmen wollen und ob Sie nicht richtigerweise sagen wollen, dass die Politik dem Vorschlag der Selbstverwaltung - statt sechs neun Berufsgenossenschaften - gefolgt ist.

Heinz Peter Haustein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003765, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Liebe Kollege Weiß, ich sage immer noch das, was ich möchte, und nicht das, was Sie mir vorschlagen. Hätten Sie mich ausreden lassen, dann hätte ich Ihnen das auch noch erläutert. Ich sage es noch einmal: Fusionen sind doch kein Selbstzweck. ({0}) Genau das ist hier aber passiert. Man hat auf Teufel komm raus fusioniert, um davon abzulenken, dass man den Leistungsteil überhaupt nicht angreift. Das ist ja der Hintergrund. ({1}) - Genau, Herr Dr. Kolb. Was die Union und die SPD hier vorgelegt haben, ist wirklich kein Meisterstück. Das zeigt aber, dass bei der jetzigen Konstellation nur der kleinste gemeinsame Nenner möglich ist. Es kommt also nichts Entscheidendes dabei heraus; denn der Unternehmer fragt vor allem: Wie werde ich durch dieses Gesetz entlastet? Was bringt es mir? Hier ist eben das Problem, dass es nichts bringt, sondern dass die Unternehmen durch mehr Bürokratie belastet werden. Wenn man jetzt schon einmal an die Unfallkasse herangeht, um etwas Richtiges zu tun, dann muss man auch Wettbewerbselemente einführen. Das haben wir mit unserem Vorschlag getan. ({2}) Wettbewerb heißt, dass man wählen kann, ob man die Arbeitsunfälle bei den Berufsgenossenschaften oder einer anderen Versicherungsgesellschaft in Deutschland versichert. Wettbewerb ist nach unserem Verständnis immer besser als ein Monopol. ({3}) Das muss auch gesagt werden: Bei den Berufskrankheiten geht das nicht so schnell. Das müsste mittelfristig geplant werden. Bei den Arbeitsunfällen geht das aber sofort und gleich, wenn man es nur will. Da es hier auch um viel Geld geht, können wir nicht Abstand davon nehmen, das Thema Wegeunfälle anzusprechen. Noch einmal: Der Unternehmer alleine bezahlt den Beitrag zur Unfallkasse. Der Weg zur Arbeit und zurück stellt aber nicht allein ein Risiko des Unternehmens dar, sondern er ist auch Teil des Lebensrisikos. Deshalb sollte man auch beim Thema Wegeunfälle darüber reden, ob das weiter so gehandhabt werden muss oder ob es dort nicht eine paritätische Lösung geben kann. ({4}) Zusammengefasst: Die von Ihnen vorgeschlagene Reform ist wie so oft bei der Großen Koalition keine wirkliche Reform. Ich weiß aber, dass derzeit nicht mehr möglich ist, lieber Gerald Weiß. Ich hoffe, dass wir richtige Reformen durchführen werden, wenn wir eines Tages gemeinsam regieren. In diesem Sinne ein herzliches Glückauf aus dem sächsischen Erzgebirge. ({5})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Gerald Weiß, CDU/CSUFraktion. ({0})

Gerald Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003256, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Dem geschätzten Kollegen Haustein ist die Reform zu klein, ({0}) aber ohne Zweifel beginnt mit dem heutigen Tag der Countdown zur umfassendsten Reform der gesetzlichen Unfallversicherung seit vielen Jahrzehnten. Die Große Koalition ist keine schlechte politische Voraussetzung, um eine solche umfassende Reform unserer solidarischen Unfallversicherung zu organisieren, lieber Kollege Haustein. ({1}) Es handelt sich um Reformen im System. Für einen Systemwechsel gibt es keinen Anlass. Denn das System der gesetzlichen Unfallversicherung - mein Vorredner hat auf die Historie verwiesen; Bismarck hat es vor 124 Jahren in seinen Grundzügen geschaffen - hat sich bewährt. In einem sehr langfristigen Trend sinkt die Zahl der Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten. Selbstverwaltung, Prävention, Branchen- und Risikogliederung, Rehabilitation, Schadensausgleich, Lastenausgleich, solidarische Haftung der Unternehmer füreinander, Leistungssicherheit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind die Grundbausteine für den Erfolg dieses Systems. Deshalb gehen wir weiterhin von diesem System aus und gestalten es, wo nötig, ein Stück weit neu. Das ist unser Ansatz. ({2}) Es gibt aber Reformbedarf, wie der Staatssekretär zu Recht ausgeführt hat. Die Strukturen der Branchengliederung passen nicht mehr in unsere Zeit. Sie bilden zwar ein Stück Wirtschaftsgeschichte ab, aber nicht die zeitgemäße Branchenstruktur, wie sie sich in Deutschland entwickelt hat. Deshalb müssen wir jetzt so etwas wie eine große Flurbereinigung durchführen und Strukturen schaffen, die Synergieeffekte ermöglichen und die notwendigen Trägereinheiten von gewerblichen Berufsgenossenschaften und Unfallkassen herausbilden, die zukunftsfähig und leistungsfähig sind. Die Politik hat zunächst einige Vorgaben gemacht. Wir haben dann allerdings in die Selbstverwaltung das Vertrauen gesetzt, dass sie selbst diese Flurbereinigung angeht. Dieses Vertrauen ist nicht enttäuscht worden. Die Selbstverwaltung hat ein überzeugendes Konzept entwickelt, wie sie die Zahl der Berufsgenossenschaften - lieber Kollege Haustein, das ist keine Erfindung der Politik, sondern der Selbstverwaltung; sie hat sich auch nicht überreden lassen müssen - von heute 25 auf 9 große Einheiten reduzieren kann. Eine verschlankte Organisation ist leistungsfähig und zukunftsfähig. Die Verringerung auf neun zukunftsfähige Träger der gesetzlichen Unfallversicherung wollen wir im Gesetz abbilden. Des Weiteren ging es um die Frage, unter welchem Dach die Unfallversicherung nach der Flurbereinigung zusammengeführt werden soll. In der Politik stand die Idee einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft im Raum. Die Union war von Anfang an dagegen, weil uns das zu staatsnah war. Wir befürworten das tragende Prinzip „Vorrang für die Selbstverwaltung“. Deshalb sind wir sehr froh, dass die Selbstverwaltung aktiv geworden ist und mit den Unfallkassen und gewerblichen Berufsgenossenschaften einen Verein als Dach dieser großen neuen deutschen Unfallversicherung gegründet hat, und zwar staatsfern, selbstbestimmt und selbstverantwortlich. Das ist die angemessene Antwort auf die Organisation der neuen gesetzlichen Unfallversicherung in Deutschland. ({3}) Jetzt stellt sich natürlich im Hinblick auf diesen Verein die Frage nach dem Freiraum der Selbstverwaltung. Diesbezüglich, Herr Staatssekretär Brandner, werden wir im weiteren Gesetzgebungsverfahren noch Diskussionsbedarf haben. Es wäre ein Fehler, wenn wir den Verein, den die Selbstverwaltung hervorgebracht hat und nun weiterentwickelt, mit einer zu großen Staatsaufsicht überzögen und zu sehr an die Kandare des Staates nähmen. Das wäre der Abschied vom Vorrang der Selbstverwaltung, der wir Geltung verschaffen wollen. ({4}) Die Selbstverwaltung hat auch ein neues Lastenausgleichssystem entwickelt, das Konzept des Überaltlastausgleichs, das die Antwort auf die Frage darstellt, was Solidarität und was Eigenverantwortung leisten muss. Gerald Weiß ({5}) Wer im Arbeitsschutz schlurt, muss mit höheren Beiträgen dafür bezahlen; das ist kein Fall für die Solidarität. Wer aber unter einer langfristigen und massiven Strukturkrise leidet, dem soll die große Gemeinschaft der gesetzlichen Unfallversicherungen unter der Überschrift „Solidarität“ helfen. Dies ist ebenfalls in Eigenverantwortung weit entwickelt worden, und wir schreiben auch dies in das Gesetz hinein. Aber die konkrete Lastenverteilung, bei der es um die Grenzen der Solidarität geht, also darum, Nehmern so weit wie möglich zu helfen, ohne die Geber zu überfordern, kann nicht Aufgabe der Selbstverwaltung sein. Diesen Knoten muss die Politik durchschlagen. ({6}) Wegen der divergierenden Eigeninteressen kann dies weder der Verband noch eine Berufsgenossenschaft leisten. Hinsichtlich des Verteilungsschlüssels muss die Politik in Abwägung aller Argumente - täglich werden uns von allen Seiten neue Argumente geliefert - eine gerechte Antwort finden. Das muss jetzt im parlamentarischen Beratungsprozess abgewogen werden, und dazu wird Rat eingeholt werden müssen. Einige andere Fragen sind auch noch zu klären. Anschließend wird teilweise neu und teilweise anders entschieden werden. Bei diesem Gesetzgebungsprozess beschränken wir uns nicht auf eine Endmontage angelieferter Fertigteile. Das Parlament ist das eigentliche Entscheidungszentrum, das diese Arbeit jetzt abschließt. Für die heutige erste Lesung halten wir fest, dass der vorgelegte Regierungsentwurf eine tragfähige Grundlage für diese Reformdiskussion ist. Herzlichen Dank. ({7})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Volker Schneider, Fraktion Die Linke. ({0})

Volker Schneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003843, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren auf den Tribünen! Die beste Nachricht vorweg: Leistungskürzungen in der gesetzlichen Unfallversicherung wird es nicht geben, Wegeunfälle bleiben auch weiterhin geschützt, das Leistungsrecht ist nicht mehr Thema des hier vorliegenden Gesetzentwurfs. Der Widerstand von Gewerkschaften, Sozialverbänden und Politikern verschiedener Parteien war also erfolgreich. Als Linke sagen wir im Gegensatz zur FDP: Das ist auch gut so. ({0}) Aufgeschoben ist aber nicht aufgehoben. In der nächsten Legislaturperiode soll eine solche Reform erneut angegangen werden. Auch dazu sagen wir als Linke: Das ist gut so. Reformbedarf im Leistungsrecht ist durchaus gegeben; die Anerkennung von Berufskrankheiten und die Praxis der Begutachtung sind durchaus eine Überprüfung wert. Mit Recht stellt die Große Koalition inzwischen fest, dass sich eine derart grundlegende Reform des Leistungsrechts nur im Dialog mit den Sozialpartnern und keinesfalls gegen die Sozialpartner realisieren lässt. Wenn aber Staatssekretär Lersch-Mense nun davon spricht, die Bundesregierung müsse bei einem neuen Anlauf eine bessere Überzeugungsarbeit leisten, dann hat er offensichtlich noch immer den Schuss nicht gehört. Glaubt die Bundesregierung, bereits jetzt im Besitz der allein selig machenden Weisheit zu sein? Haben es alle anderen nur noch nicht richtig verstanden? Müssen sie deshalb jetzt nur noch überzeugt werden? Wenn das Ergebnis schon jetzt feststeht, hat das Ganze mit Dialog nichts, aber auch gar nichts zu tun. Die Linke begrüßt, dass die Große Koalition bei dem hier vorliegenden Entwurf einer Organisationsreform davon ausgeht, dass sich das System der gesetzlichen Unfallversicherung grundlegend bewährt hat und erhalten werden muss. ({1}) Dennoch - dieser Meinung sind auch wir Linke - zwingt der Wandel von der industriellen Produktion zur Dienstleistungsgesellschaft zu organisatorischen Veränderungen. Es gibt Branchen, deren Bedeutung geschwunden ist oder die ganz verschwunden sind, und neue Branchen sind entstanden. Das hat Auswirkungen auf die für diese Branchen zuständigen Berufsgenossenschaften; auch ihre Bedeutung verändert sich, auch sie müssen sich veränderten Strukturen der Arbeitswelt anpassen - eine gute Gelegenheit, viele, kleinere Berufsgenossenschaften zu größeren, leistungsfähigeren Einheiten zusammenzufassen. Neben dieser grundlegenden Zustimmung zum Reformprozess haben wir Linke eine Reihe von Kritikpunkten im Detail, von denen ich hier die drei wichtigsten nennen möchte. Erstens. Eine Rechts- und Fachaufsicht des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales über den Spitzenverband Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung lehnt die Linke ab. Mit dem DGB und der Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände - was für eine Koalition! - teilen wir die Auffassung, dass diese Art des staatlichen Zugriffs das demokratische und sozialstaatliche Prinzip der Selbstverwaltung zerstört. ({2}) - Und mit der FDP; diese Koalition wird immer größer! - Zudem gefährden derartige ministerielle Eingriffsmöglichkeiten die Praxis einer engen Verzahnung von Beratung, Prävention und Rehabilitation und ersetzen sie durch staatliche Fürsorge. Dazu sagen wir als Linke deutlich Nein. ({3}) Volker Schneider ({4}) Nein sagen wir auch zu Kontrollen durch die Hintertür in Gestalt von Prüfungen durch den Rechnungshof. Herr Staatssekretär Brandner hat eben behauptet, eine solche Regelung der Fach- und Rechtsaufsicht sei aus verfassungsrechtlicher Sicht unumgänglich; sein Kollege Staatssekretär Lersch-Mense spricht sogar von einem verfassungsrechtlichen Zwang. Das ist eine erstaunliche Argumentation für eine Bundesregierung, die sonst nicht gerade dadurch auffällt, dass sie verfassungsrechtliche Bedenken sonderlich ernst nimmt. ({5}) Eine Rechtsaufsicht in dem Bereich, in dem die Unfallversicherung hoheitliche Aufgaben wahrnimmt, ist aus unserer Sicht vollkommen ausreichend. Das sehen nicht nur wir so, das sehen neben dem DGB und der BDA auch einige Fachjuristen so. Dabei wäre allerdings noch zu prüfen, ob und inwieweit die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung tatsächlich hoheitliche Aufgaben wahrnimmt. Zweitens. Die Linke begrüßt zwar die Einführung einer nationalen Arbeitsschutzkonferenz und die Verpflichtung von Bund, Ländern und Unfallversicherungsträgern, eine gemeinsame Arbeitsschutzstrategie zu entwickeln, wir fordern aber nachdrücklich eine stärkere Einbindung der Sozialpartner in diesen Prozess. ({6}) Drittens. Die geplante Übernahme der Betriebsprüfungen für die Unfallversicherung durch die Rentenversicherung lehnen wir ab, weil es sich um völlig unterschiedliche Systeme handelt: Die Rentenversicherung prüft die Daten einzelner Versicherter, während bei der gesetzlichen Unfallversicherung die Unternehmen Beiträge je nach Gefahrenklasse und Höhe der Lohnsumme an die Berufsgenossenschaft zahlen, unabhängig davon, wie viele Beschäftigte hinter der Lohnsumme stehen. Sie behaupten, durch einen Wegfall der Doppelprüfung durch Renten- und Unfallversicherung würden die Unternehmen entlastet. Staatssekretär Lersch-Mense hat in dieser Woche die Kosten für die Umstellung auf 3,4 Millionen Euro und die laufenden Kosten auf 120 000 Euro beziffert. Ich muss schon sagen: Sie haben eine merkwürdige Auffassung davon, wie man Unternehmen entlastet. Oder geht es Ihnen etwa gar nicht um eine Entlastung? Ist Ihr Hauptinteresse möglicherweise, dass Sie auf diesem Weg heute ein Versichertenkataster einrichten, mit dem Sie morgen auch die Arbeitnehmer zur Beitragsleistung heranziehen können? Wir Linke sagen klar und deutlich: Die Unfallversicherungsbeiträge werden aus gutem Grund von den Arbeitgebern allein gezahlt. Das soll auch so bleiben. ({7})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Schneider!

Volker Schneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003843, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Letzter Absatz.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nein: nicht letzter Absatz, letzter Satz!

Volker Schneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003843, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Letzter Satz; es ist tatsächlich nur einer, Sie dürfen aufpassen. - Bei aller grundsätzlichen Übereinstimmung stelle ich für meine Fraktion fest, dass wir noch Verhandlungsbedarf sehen und hoffen, dass auch dieses Gesetz den Bundestag nicht so verlässt, wie es eingebracht wurde. Danke schön. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich gebe das Wort dem Kollegen Markus Kurth, Bündnis 90/Die Grünen.

Markus Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003578, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Große Koalition hat mit dem Gesetzentwurf sowohl bezogen auf die Organisation der Unfallversicherungsträger als auch bezogen auf den Lastenausgleich nur eine halbe Reform auf den Weg gebracht. ({0}) Mittlerweile sind seit dem Beschluss der Bund-LänderArbeitsgruppe zwei Jahre vergangen. Das Problem ist, dass Sie den Bereich des Leistungsrechts und den Bereich des Berufskrankheitenrechts auf die lange Bank geschoben haben. Aber das kennen wir schon. ({1}) - Richtig, das ist ein Armutszeugnis. - Auch beim Präventionsgesetz und beim Mindestlohn haben Sie nur halbe Sachen gemacht. Der Gesundheitsfonds ist unfertig. Sie verschieben das auf die Zeit nach 2009. Dabei wäre eine Reform des Leistungsrechts und des Berufskrankheitenrechts tatsächlich notwendig gewesen. ({2}) Bevor ich weiter Beifall von der falschen Seite bekomme, Herr Kolb: Eine Reform des Leistungsrechts, wie sie sich Bündnis 90/Die Grünen vorstellen, wäre sicherlich etwas anderes als das, was Ihnen vorschwebt und Herr Haustein ausgeführt hat. Es ist tatsächlich notwendig, die Strukturprinzipien, nach denen die Berufskrankheiten ermittelt und bemessen werden, noch einmal genau zu überprüfen. Wir haben den Weg von der Industriegesellschaft in die Dienstleistungsgesellschaft genommen. Aber noch immer werden Berufskrankheiten nach monokausalen Ursachen bemessen. Die mechanistischen Vorgänge der Industriegesellschaft sind an dieser Stelle noch immer der Maßstab. Wenn ich bei VW am Band stehe, ständig eine Tür aus- und einhänge und so mein Eckgelenk belaste, dann kann ich natürlich nach 20 Jahren Bandarbeit sagen: Der Eckgelenkverschleiß ist eine arbeitsbedingte Erkrankung. Dann bekomme ich die entsprechende Entschädigung und Rehabilitation. Heutzutage sieht die Arbeitswelt aber anders aus. Bedeutsam sind insbesondere die Zunahme der Zahl der psychischen Erkrankungen, die Verdichtung der Arbeitsprozesse und der häufige Wechsel der Tätigkeiten. Das heißt, die berufsbedingten Erkrankungen sind vielfältiger geworden und müssen in ihrer Vielfalt in der Unfallversicherung erfasst werden. Im Moment werden nur 8 Prozent aller angezeigten Berufskrankheiten entschädigt. Das BKK-Team „Gesundheit“ schätzt die Kosten, die durch berufsbedingte Erkrankungen jedes Jahr entstehen, auf 40 Milliarden Euro. Die Kosten sind also da, werden aber nicht von den Verursachern, den Unternehmen, sondern von den gesetzlichen Krankenkassen getragen. Sofern sich langwierige Berufskrankheiten entwickeln, die zu Arbeitsunfähigkeit oder Arbeitsplatzverlust führen, zahlen die Jobcenter, die Sozialämter oder die Rentenversicherung. Das heißt, hier muss grundlegend auf die Veränderungen in der Arbeitswelt reagiert werden. Die gesetzliche Unfallversicherung ist fit für die Dienstleistungsgesellschaft zu machen. ({3}) Um Ihnen die Dringlichkeit des Problems zu verdeutlichen, möchte ich ein paar Zahlen nennen, die erst vor wenigen Wochen vom Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen auf einer Pressekonferenz veröffentlicht wurden. Danach ist der Anteil psychischer Erkrankungen im Bereich arbeitsbedingte Erkrankungen von 6,6 Prozent im Jahr 2001 auf 10,5 Prozent im Jahr 2005 angestiegen. Es gibt hier also eine Zunahme, während die Zahl der klassischen Arbeitsunfälle zurückgeht, weil sich die Branchen und Tätigkeiten verändern. Noch eine Zahl: Die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, ebenfalls eine seriöse Quelle, schätzt die Kosten des Ausfalls an Bruttowertschöpfung im Bereich der psychisch bedingten Erkrankungen auf 7 Milliarden Euro. Das entspricht immerhin 0,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Das ist ein erheblicher Anteil. Wir haben also die Verpflichtung, uns das Leistungsrecht noch einmal genau anzuschauen. Sie schaffen mit der von Ihnen geplanten Organisationsreform keine grundlegenden Änderungen. Ich bin froh, dass diese Reform des Leistungsrechts nicht verabschiedet wurde; das will ich ganz offen sagen. Wir, das Parlament, müssen erneut in Verhandlungen eintreten und das System grundsätzlich verändern. Da ich nicht mehr allzu viel Zeit habe, möchte ich mich nur noch zu einem Punkt des vorliegenden Gesetzentwurfs äußern. Herr Schneider hat bereits die zusätzlichen Meldepflichten angesprochen. Der Normenkontrollrat hat uns im Ausschuss vorgerechnet, dass diese zu 56 Millionen zusätzliche Kosten bei der Fachaufsicht führen. Zumindest an dieser Stelle besteht Handlungsbedarf und scheint ein erneuter Beratungsprozess geboten zu sein. Vielen Dank.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Wolfgang Grotthaus, SPD-Fraktion. ({0})

Wolfgang Grotthaus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003137, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich bin dem Kollegen Kurth dankbar, dass er nur den Leistungsteil und den Bereich der Berufskrankheiten angesprochen hat; denn diese beiden Teile stehen innerhalb des Gesetzentwurfes überhaupt nicht zur Diskussion. Das zeigt aber, dass Sie mit dem Gesetzentwurf aus meiner Sicht äußerst zufrieden sind; denn Ihnen ist nichts Kritisches dazu eingefallen. Ansonsten hätten Sie sich viel intensiver um die Inhalte des Gesetzentwurfs gekümmert. ({0}) Zu dem Kollegen Schneider muss ich sagen: Herr Kollege Schneider, toll! Der DGB hat Ihnen genauso wie uns Informationsmaterial zugeschickt. Sie haben dieses für Ihre Rede benutzt. Sie haben dann den Zusammenhang zwischen den Ausführungen des DGB und dem Gesetzentwurf dargestellt und gesagt, dass wir den Leistungsteil ausgeklammert haben. Nein, sage ich Ihnen, diesen Zusammenhang gibt es zwar, aber in der Form, dass wir sehr intensiv mit dem DGB und den Einzelgewerkschaften im Vorfeld zusammengesessen und Lösungen gesucht haben, uns diese Lösungen aber nicht vor die Füße gefallen sind. Deshalb haben wir gesagt, dass wir diesen Leistungsteil zu einem späteren Zeitpunkt ohne alle Aufgeregtheiten diskutieren wollen. ({1}) Daher werden wir, Herr Kollege Schneider, darauf achten, ob Sie dem, was der DGB schreibt und was sich in großen Passagen in diesem Gesetzentwurf wiederfindet, zustimmen werden. Daran machen wir es fest, wenn es nachher zur Abstimmung kommt. ({2}) Zum Kollegen Weiß kann ich sagen: Ich kann mich den Ausführungen meines Vorredners anschließen. ({3}) Ich will es Ihnen aber nicht zu leicht machen; denn der Punkt ist: Das zeigt eigentlich, dass wir in der Großen Koalition in dem Thema sehr eng zusammengearbeitet haben und schon sehr weit sind. ({4}) Es müsste Ihnen eigentlich zu denken geben, dass dieses breite Spektrum der SPD und der CDU/CSU in einem Fall, in dem es um Organisationsfragen und zum Teil ums Eingemachte, um Mitbestimmungsrechte und Selbstverwaltungsrechte, geht, einer Meinung ist. Lassen Sie mich, da auch ich nur begrenzte Zeit zur Verfügung habe, nun einige Dinge ansprechen. Ich bin dem Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften, nachträglich: Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung, sehr dankbar, dass er die Selbstverwaltung so verstanden hat, wie sie von uns gewünscht ist. Er soll nämlich im Rahmen eines Gesetzgebungsverfahrens Ideen entwickeln, die die Selbstverwaltung tatsächlich in den Vordergrund stellen und von denen die Politik sagen kann: Das ist gut, das wollen wir nachvollziehen. - Das ist zum Beispiel bei der Anzahl der neuen BGen der Fall. Das gilt aber auch für den Überaltlastausgleich. Da sage ich auch hier, damit Sie wissen, worauf das hinausläuft und damit wir uns demnächst darüber streiten können: Wir werden für eine Verteilung im Verhältnis 70 : 30 plädieren, wir werden uns aber gleichzeitig, um die finanzielle Belastung nicht zu stark werden zu lassen, für eine Verlängerung des Zeitraums einsetzen, ({5}) sodass wir die zusätzliche Last, die wir den Berufsgenossenschaften mit dieser Verteilung auf den Rücken packen, über eine bestimmte Zeiteinheit verteilen. Wir gehen davon aus, dass diese Zeiteinheit bis zum Jahr 2012 dauern sollte. Dies hängt auch - da sehen Sie Zusammenhänge - damit zusammen, dass wir die Arbeitnehmerrechte bei der Zusammenführung von zwei BGen nicht vergessen dürfen. Wenn zwei BGen zusammengeführt werden, dann gibt es keinen Personalrat und keinen Betriebsrat mehr, weil es keinen abgebenden und keinen aufnehmenden Betrieb gibt. Wir möchten gerne, dass im Gesetz verankert wird, wie das auch beim Knappschaftsgesetz der Fall ist, dass dann, wenn Zusammenschlüsse erfolgen, die Betriebsräte noch bis zum Ende der Wahlperiode miteinander und nicht nebeneinander im Interesse der Belegschaft arbeiten. Dies gilt im Übrigen auch für die Gleichstellungsbeauftragte, die noch einen bestimmten Zeitraum bis zur Wiederwahl hat. Es soll einen Übergang bei der Betriebsprüfung und dem Lohnnachweis - da hat aus meiner Sicht der Bundesrat einen guten Vorschlag gemacht - bis zum Jahr 2012 geben. Die beiden Parteien, also die Deutsche Rentenversicherung und die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung, sollten sich einig darüber werden, wie diese Übertragung erfolgen soll. Ich kündige aber an: Wenn sie sich nicht einig werden, muss der Gesetzgeber eingreifen. Daher klare Kante: Selbstverwaltung soll als Erstes greifen. Ein weiterer Punkt, der strittig ist, sind die neun BGen. Das soll hier in aller Deutlichkeit gesagt werden; auch der Kollege Weiß hat dies getan. Es gibt hier sehr starke Emotionen von einer BG. Ich habe für diese BG Verständnis, aber wenn wir hier aufweichen, bedeutet dies, dass wir bei den jetzigen 23 verbleiben. Daher können wir nur darum bitten und diese BG auffordern, konsensuale Gespräche zu führen, damit auch hier ein Zusammenschluss mit einer anderen BG stattfindet. Ich kann mir vorstellen, dass sich diese BG intensiver darum kümmern wird und dass hier Lösungen gefunden werden, wenn die Gesetzesberatungen in vollem Gange sind. ({6}) Ich möchte noch einige Sätze zur Bergbau-BG sagen. Hier gibt es den Wunsch, die Übernahme der Rehakosten und der Verwaltungskosten mit in den Solidarausgleich zu bringen. Wir sagen Ja zu den Rehakosten, wir sagen Nein zu den Verwaltungskosten. Dies wäre eine Einmaligkeit und würde eine präjudizierende Wirkung auf die anderen BGen ausüben. Auch sie würden den Antrag stellen, alle Verwaltungskosten einzubringen. Wir fordern die Bergbau-BG auf, die Verwaltungskosten zu minimieren. Wenn im Jahre 2012 die Revisionsklausel für den Bergbau gezogen wird und wir tatsächlich zu dem Schluss kommen, dass der Steinkohlenbergbau ausläuft, dann werden wir uns natürlich auch über die Verwaltungskosten unterhalten müssen. Das ist dann naturgegeben. Daher sehen wir heute nicht die Notwendigkeit, einen Beschluss zu fassen, der im Jahre 2012 wahrscheinlich eine Selbstverständlichkeit sein wird. Jetzt komme ich zu dem Punkt, der für Sie vielleicht von größter Wichtigkeit ist: zur Fachaufsicht. Dazu sage ich Ihnen: Wir plädieren für eine größtmögliche Staatsferne. Wir wissen auch: Da, wo hoheitliche Aufgaben übertragen werden, hat der Staat ein Zugriffsrecht. Wir sagen dem Staatssekretär und dem Ministerium: Wir bitten darum, dass die hoheitlichen Aufgaben definiert werden. Das, was bisher gelaufen ist, was bisher in Selbstverwaltung gemacht worden ist, kann keine hoheitliche Aufgabe sein. ({7}) Also müssen wir wissen, welche zusätzlichen Aufgaben auf die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung zugekommen sind. ({8}) Wir werden zu prüfen haben, ob es sich tatsächlich um hoheitliche Aufgaben handelt. Wenn es sich um hoheitliche Aufgaben handelt, dann werden wir darüber zu diskutieren haben, ob es dazu Zielvereinbarungen gibt, die einzuhalten sind, und ob diese Zielvereinbarungen dann, wenn sie nicht eingehalten werden, mit einer Fachaufsicht zu versehen sind. Hier sind wir noch ein bisschen im Unklaren. Ich sage Ihnen in aller Offenheit aber auch: Staatsferne und Selbstverwaltung sind auch für uns oberstes Gebot; denn diese Berufsgenossenschaften und dieser Hauptverband haben 124 Jahre lang vernünftig, im Interesse der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, aber auch im Interesse der Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber gearbeitet. ({9})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Grotthaus!

Wolfgang Grotthaus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003137, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich komme zum Schluss. Ich habe Ihnen als Opposition einiges mit auf den Weg gegeben. Ich hoffe, wir werden uns noch kräftig daran reiben. Ich hoffe, Sie machen konstruktive Vorschläge. Wir werden im Rahmen der Diskussion noch Ihre Anträge behandeln. Ich sehe der Diskussion und den nachfolgenden Gesetzesberatungen mit Freude entgegen. Ich wünsche uns allen dazu ein herzliches Glückauf! ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Max Straubinger, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Mit der heutigen Einbringung des Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung der gesetzlichen Unfallversicherung möchte ich dem Kollegen Gerald Weiß ausdrücklich beipflichten: Wir gehen jetzt eine der umfassendsten Reformen an, zunächst nur der Organisation. Ich bin dem Kollegen Grotthaus sehr dankbar, dass er darauf hingewiesen hat, welches Zukunftspotenzial die Leistungsreform hat. Auch in dieser Koalition muss dieser Gedanke weiterentwickelt werden. Wichtig ist außerdem, dass die Organisationen angepasst werden und dass damit Wirtschaftlichkeitsstrukturen geschaffen werden, die geringere Verwaltungskosten mit sich bringen, was für die Betriebe von eminenter Bedeutung ist. Vor allen Dingen muss angesichts der großen Beitragssatzspreizung, die wir jetzt haben, die Altlastenproblematik angegangen werden. Die jetzige Beitragssatzspreizung von durchaus 7 Prozentpunkten ist manchen Betrieben und manchen Branchen letztendlich nicht mehr zuzumuten. Auch unter diesem Gesichtspunkt ist die Modernisierung der gesetzlichen Unfallversicherung zu verstehen. Bessere Verwaltungsstrukturen sind immer gut. Vorgängerbundesregierungen haben gerade im Bereich der landwirtschaftlichen gesetzlichen Unfallversicherungen eine gute Wegmarke gesetzt. Mittlerweile können wir in diesem Bereich feststellen, dass die Verwaltungsstrukturen vergrößert, verbessert und vereinheitlicht worden sind; darüber hinaus wird mit einheitlicheren Datenverarbeitungssystemen gearbeitet. Somit können im Sinne der Versicherten schnelle Lösungen gefunden werden, und zwar vor allen Dingen zu bezahlbaren Preisen. Ich möchte den Trägern der gesetzlichen Unfallversicherung, den Selbstverwaltungen ausdrücklich dafür danken, dass sie bereits während der vorbereitenden Diskussionen im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens Vorschläge mit erarbeitet haben und sich auf neun zukünftige Berufsgenossenschaften geeinigt haben. Es ist gut verstandene Selbstverwaltung, die Hausaufgaben, die zu machen sind, bei allen Schwierigkeiten, die damit verbunden sind, selbst mit zu gestalten und mit auf sich zu nehmen. Ich glaube, dass die Träger der gesetzlichen Unfallversicherung damit ein gutes Beispiel für moderne Selbstverwaltung in unserem Land geben. ({0}) Vielleicht könnten sich die Bundesländer bei der Einrichtung der Unfallkassen auf 16 Träger eine Scheibe davon abschneiden. Ich möchte herausstellen, dass mit dieser Reform ein wirksamer Beitrag gegen Schwarzarbeit geleistet werden kann. Diesbezüglich ist die Anregung des Bundesrates hervorzuheben, die in den Diskussionen vielleicht noch zu vertiefen ist. Es gibt vielfältige Klagen darüber - gerade aus der Unternehmerschaft -, dass manche im Hinblick auf die lange gesetzliche Meldefrist von sechs Wochen nicht sehr zeitnah handeln. Mit dem Gesetz kann die entsprechende Problematik gelöst werden. Ich stehe dem sehr offen gegenüber. Wir sollten im Gesetzgebungsverfahren auch die Moratoriumslösung noch einmal ansprechen. ({1}) Gerade von staatlichen Betrieben, die am privaten Wettbewerb teilnehmen, muss man erwarten, dass sie zukünftig ihren Beitrag zu der gesetzlichen Unfallversicherung leisten und damit den Solidaritätsgedanken unterstützen. ({2}) Jeder, der am Markt teilnimmt, soll die gleichen Bedingungen haben. Unter diesem Gesichtspunkt sollten wir über die Moratoriumslösung durchaus mit diskutieren. Ich finde es bedauerlich, dass die linke Fraktion immer unterstellt, es seien in der Diskussion über die gesetzliche Unfallversicherung gerade in der Bund-Länder-Arbeitsgruppe Verschlechterungen für die Versicherten, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vorgesehen gewesen. ({3}) Das stimmt in keiner Weise. Wir wollten ein zielgerichtetes und zielgerechtes Leistungsrecht erarbeiten. Ich gebe dem Kollegen Grotthaus darin recht, dass wir durchaus Diskussionsbedarf haben. Aber die Einteilung in Erwerbsschaden und Gesundheitsschaden ist durchaus sehr zielführend gewesen, und darüber ist meines Erachtens auch so zu diskutieren. Deshalb verwahren wir uns gegen den Vorwurf, es seien Leistungskürzungen vorgesehen gewesen.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Straubinger, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schneider?

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Volker Schneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003843, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Bevor wieder gefordert wird, eine Zwischenfrage zu stellen, möchte ich darauf hinweisen, dass nach unserer Geschäftsordnung auch Zwischenbemerkungen möglich sind. Herr Kollege Straubinger, nur damit es kein Missverständnis gibt: Ich habe eben deutlich darauf hingewiesen, dass es auf der einen Seite gut ist, dass die Reform des Leistungsrechts verschoben wurde - es gab durchaus Elemente, die nicht nur von meiner Fraktion als Kürzungen angesehen wurden -, dass es auf der anderen Seite aber notwendig und wichtig ist, diese Reform trotzdem noch durchzuführen und dass man sie im Dialog durchführen sollte. Das ist keine Formulierung von mir, sondern diese hat Herr Tiemann selbst benutzt, als er sich von uns im Ausschuss für Arbeit und Soziales verabschiedet hat. Insofern verstehe ich die Aufgeregtheit in diesem Zusammenhang nicht. Aber vielleicht können Sie mir das erläutern.

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sie haben in Ihrer Rede angeführt, dass Leistungskürzungen vorgesehen gewesen seien. ({0}) Gegen diesen Passus wehre ich mich. Damit sind keine Leistungskürzungen verbunden gewesen, Herr Kollege Schneider. ({1}) Worüber meines Erachtens durchaus zu diskutieren wäre, auch wenn wir über Leistungsrecht an sich nicht reden, ist die Abfindung von Kleinrenten und Kleinstrenten, weil die meines Erachtens dazu führt, dass unnötige Verwaltungsarbeiten über Jahre und Jahrzehnte entfallen können. Ein gutes Beispiel dafür, dass auch die Versicherten in dieser Hinsicht sehr aufgeschlossen sind, ist die Abfindungsaktion der landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften. Dass diese von den Landwirten sehr rege, ja weit stärker in Anspruch genommen wird, als es ursprünglich erwartet worden war - mittlerweile sind fast alle Finanzmittel, die für diese Abfindungsaktion bereitgestellt worden sind, ausgegeben -, zeigt sehr deutlich, dass dies auch den Versicherten entgegenkommt. Deshalb sollten wir darüber vielleicht noch diskutieren. Etwas verwundert bin ich über den Antrag der FDP. Wir haben natürlich noch Gelegenheit, über ihn intensiver zu diskutieren. Es wird dargestellt, wie leistungsfähig die gesetzliche Unfallversicherung bisher war, dass die Zahl der Unfälle gesunken ist und die Beitragsbelastung insgesamt zurückgegangen ist. Angesichts dessen verstehe ich nicht, dass jetzt gefordert wird, zukünftig sollten private Unfallversicherungen tätig werden. ({2}) Herr Kollege Kolb, Sie wissen - davon bin ich überzeugt -, dass der Leistungskatalog der gesetzlichen Unfallversicherung - er umfasst Rehamaßnahmen und Präventionsmaßnahmen - in keiner Weise von einem privaten Versicherer nach mathematischen Grundsätzen kalkuliert werden kann. Von daher verstehe ich nicht, wenn Sie sagen, damit würde ein stärkerer Wettbewerb herbeigeführt und könnten günstigere Beiträge erreicht werden. Ich bin überzeugt: Wir würden bei einem solchen System eine weit größere Spannbreite in den Beitragszahlungen haben als jetzt. Manche Gewerke würden möglicherweise von keinem Versicherer aufgenommen, weil das zu teuer wäre, ({3}) oder aber die Prämie, die der Unternehmer zahlen müsste, wäre zu hoch.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Straubinger.

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Unter diesen Gesichtspunkten sollten wir darüber diskutieren. ({0}) Ihnen, Frau Präsidentin, herzlichen Dank für die Geduld und den Kolleginnen und Kollegen Dank für die Aufmerksamkeit. ({1})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/9154, 16/6645 und 16/9312 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla- gen. Die Vorlage auf Drucksache 16/6645 - Tagesord- nungspunkt 12 b - soll zusätzlich an den Rechtsausschuss überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so be- schlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13 a und 13 b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael Kauch, Horst Meierhofer, Angelika Brunkhorst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Umweltschutz in Afrika - Gemeinsame Verantwortung für die Erde übernehmen - Drucksache 16/5132 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ute Koczy, Thilo Hoppe, Kerstin Müller ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Afrika beim Schutz der Umwelt, des Klimas und der Anpassung an den Klimawandel unterstützen - Drucksache 16/9313 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({2}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ich weise daraufhin, dass der Antrag zu Tagesordnungspunkt 13 b einen geänderten Titel hat. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion der FDP sechs Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Michael Kauch, FDP-Fraktion. ({3})

Michael Kauch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003698, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In Bonn findet zurzeit die Vertragsstaatenkonferenz zur biologischen Vielfalt statt. Ich möchte die Gelegenheit der heutigen Beratung der Anträge nutzen, den Blick darauf zu richten, dass ein Kontinent in ganz besonderem Maße natürliche Ressourcen hat, aber in der Diskussion immer wieder aus dem Blickfeld gerät. Wenn wir über internationale Klimapolitik diskutieren, sprechen wir oft über Brasilien. Wir reden oft über Indonesien, wenn es um Landnutzungsänderungen geht. Wir sprechen aber sehr selten über Afrika. Dieses Thema möchten wir mit unserem Antrag heute in die Ausschüsse tragen. Drei Dinge sind aus meiner Sicht entscheidend, wenn wir über Umweltschutz in Afrika reden. Das Erste ist das Thema Biodiversität. Dabei geht es um die Frage: Welchen Beitrag leistet Afrika zum genetischen Potenzial auf unserem Planeten, und wie können wir es unterstützen? Zweitens der Einsatz von erneuerbaren Energien: Wie können wir es schaffen, in den Ländern, in denen die Sonne viel mehr scheint als bei uns, die erneuerbaren Energien und insbesondere die Solartechnik besser zu verankern? Das Dritte ist: Wie schaffen wir es, dass der Transfer von Technologie gerade für den Klimaschutz stärker den afrikanischen Kontinent und eben nicht nur die Schwellenländer in Lateinamerika und Asien erreicht? Unter dem Gesichtspunkt der Biodiversität befindet sich der größte Schatz, den dieser Kontinent hat, im Kongobecken in Form des riesigen Regenwaldes, der sich dort befindet. Es kommt nun darauf an, dass wir einen Beitrag dazu leisten, dass eine nachhaltige Waldwirtschaft stattfindet, und dafür sorgen, dass dem illegalen Holzeinschlag ein Ende gemacht wird, dessen Ausmaße in den betroffenen Ländern immer mehr zunimmt. Die Voraussetzung dafür ist aber, dass es funktionierende Regierungen in den betroffenen Ländern gibt und man die Korruption dort in den Griff bekommt. Schließlich müssen wir darauf vertrauen können, dass entsprechende Holzzertifizierungen auch ehrlich durchgeführt werden. Um die entsprechende Kontrolle am Boden und durch Satelliten durchführen zu können, brauchen die dortigen Länder Unterstützung. Gleichzeitig müssen Modelle zur Honorierung vermiedener Abholzung entwickelt werden. Diese Honorierung muss aber den Menschen vor Ort zugute kommen. Außerdem müssen ihnen Einkommensalternativen eröffnet werden, wenn sie auf die nichtnachhaltige Nutzung des Waldes verzichten. Es macht überhaupt keinen Sinn, das Geld den Regierungen zu geben. Unser Eindruck ist, dass dieser Gedanke bei den Waldschutzprogrammen, die die Bundesregierung derzeit auflegt, leider noch nicht ausreichend berücksichtigt wird. ({0}) Auch der Ausbau von Schutzgebieten leistet einen wichtigen Beitrag zum Schutz der biologischen Vielfalt. Allerdings wurde bei den Beratungen des Umweltausschusses am Dienstag in Bonn deutlich: Es dürfen keine Naturschutzgebiete errichtet werden, aus denen die Menschen ausgesperrt werden. Es darf nicht sein, dass Menschen, die über Jahrhunderte im Einklang mit der Natur gelebt haben oder gar heute noch als Jäger, Sammler oder nomadische Hirten leben, ausgesperrt werden, wenn solche Naturschutzgebiete errichtet werden. Das ist leider gerade in Afrika oft genug vorgekommen. ({1}) Ich möchte einige Beispiele anführen, die uns in Bonn genannt wurden. Beim Aufbau des Ökotourismus in Botswana wurden von den Verantwortlichen die indigenen Völker, die Buschleute, nicht einbezogen. Anstatt ihr traditionelles Wissen zu nutzen, wurden sie umgesiedelt. Bei Landreformen in Namibia, gefördert durch deutsche Entwicklungsgelder, wurden die Gebiete der San zugunsten der Landwirtschaft der Mehrheitsbevölkerung in Mitleidenschaft gezogen. Am Dienstag wurde uns auch vermittelt, welchen Eindruck indigene Völker in Kenia von den Projekten von Nichtregierungsorganisationen wie dem WWF haben: Die zäunen unseren Wald ein, und wir dürfen nicht mehr herein. Über diese Dinge müssen wir hier ehrlich diskutieren. Die Errichtung von neuen Schutzgebieten in Afrika ist nicht generell gut für die Natur und die Menschen, die dort leben. ({2}) Wir müssen, meine Damen und Herren, auch eine andere Wahrheit im Rahmen unserer Außenpolitik ehrlich ansprechen, nämlich das Verhalten anderer Staaten in Afrika. Wenn chinesische oder malaysische Unternehmen illegal Holz in Afrika einschlagen und durch die Korrumpierung von Behörden das Holz außer Landes schaffen oder wenn die Königsfamilie von Abu Dhabi mit 100 Jeeps in Niger anrückt, alles abschießt, was sich dort bewegt, und es in Kühlboxen nach Arabien schafft, dann ist es Aufgabe der deutschen Außenpolitik, dies anzusprechen. Diese Zustände sind nicht hinnehmbarer Neokolonialismus von Ländern, die früher selbst davon betroffen waren. ({3}) Bezüglich des Einsatzes erneuerbarer Energien in Afrika gibt es ein großes Projekt, für das wir uns als Bundestagsabgeordnete hier stärker einsetzen sollten. Es handelt sich um das Desertec-Projekt, die Vision eines Stromverbundes zwischen Nordafrika und Europa, wodurch der Strom aus solarthermischen Kraftwerken in der Sahara nach Europa gelangen könnte. Das wäre eine gute Möglichkeit, Solarenergie kostengünstig hierzulande zugänglich zu machen. Dazu ist Forschung notwendig. Dazu ist aber auch die Öffnung der Energiemärkte notwendig. Solange bestimmte Grenzen zwischen den europäischen Mitgliedstaaten für Strom eine unüberwindbare Mauer darstellen, so lange werden auch solche Projekte zum Einsatz erneuerbarer Energien in Nordafrika keine Zukunft haben. ({4}) Hinsichtlich der Kooperation zwischen den Industrieländern und den sich entwickelnden Ländern sehen wir, dass der beste Mechanismus für Technologietransfer immer noch der Clean-Development-Mechanism des Kioto-Protokolls ist. Leider funktioniert dieser heutzutage mit den afrikanischen Staaten am wenigsten. Die Projekte konzentrieren sich im Wesentlichen auf Asien und Lateinamerika. Wir müssen Wege finden, die afrikanischen Staaten besser in die Projektplanung zu integrieren und uns im Rahmen der Verhandlungen auf Bali zu überlegen, wie wir die Anwendung des CDM für afrikanische Staaten erleichtern können. Es gibt viel zu tun. Ich freue mich auf eine konstruktive Beratung im Umweltausschuss. Vielen Dank. ({5})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Für die CDU/CSU-Fraktion gebe ich dem Kollegen Andreas Jung das Wort. ({0})

Andreas Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003780, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich selbst hatte bislang nur einmal die Gelegenheit, nach Afrika zu reisen. Das war im letzten Jahr anlässlich der Klimakonferenz in Nairobi. Dieser eine Besuch hat gereicht, um sehr tiefgreifende Eindrücke zu hinterlassen. Zu den bleibenden Eindrücken gehörte Enttäuschung, die es in Afrika nach dieser Konferenz gegeben hat. Denn wir wollten nicht nur zum ersten Mal eine Konferenz in Afrika durchführen, sondern eine Konferenz für Afrika. Man war damals enttäuscht und hat darauf hingewiesen, dass Afrika der Kontinent ist, der am wenigsten zum Wandel des globalen Klimas beiträgt, der aber am meisten darunter leidet. Wir in Deutschland und den Industriestaaten sind, pro Kopf gesehen, die Hauptverursacher der Treibhausgasemissionen. Daraus ergibt sich für uns in Deutschland und in der EU, also in den Industrienationen, die besondere Verantwortung, uns an der Seite Afrikas für Klimaschutz, Artenschutz und Umweltschutz einzusetzen. ({0}) Um Artenschutz geht es bei der UN-Artenschutzkonferenz, die zur Stunde in Bonn tagt. Es ist zu früh, um eine Bilanz zu ziehen; die Konferenz ist noch nicht beendet. Man kann aber schon jetzt sagen, dass dort wichtige Schritte gemacht werden. Es ist schon jetzt gelungen, erhebliche Fortschritte zu erzielen. Es ist klar geworden, dass Deutschland, wenn es sich um Artenschutz handelt, an der Spitze mit dabei ist. Dazu haben die Bundeskanzlerin und selbstverständlich auch der Umweltminister beigetragen. Ich finde es richtig, dass man diese Überlegungen anstellt. Ich finde es auch richtig, dass man ein weiteres Mal die Frage in den Mittelpunkt der Konferenz gestellt hat, wie es gelingen kann, den Regenwald zu erhalten. Dafür gibt es mehrere Gründe. Ein Grund ist, dass die grüne Lunge Regenwald ein Wert an sich ist. Wer sich auf christliche Werte beruft, kann von der Bewahrung der Schöpfung sprechen. Darüber hinaus sind die Regenwälder unsere Goldgrube für Artenvielfalt. Außerdem tragen heutzutage die Brandrodung von Regenwäldern und die Vernichtung von Mooren zu 20 Prozent zum Klimawandel bei. Daraus ergibt sich unsere besondere Pflicht, Afrika beiseitezustehen. Es geht natürlich um die Frage, wie wir dafür finanzielle Ressourcen gewinnen können. Oftmals stehen die Menschen in Afrika nicht vor der Frage, was in fünf oder zehn Jahren passiert. Sie stellen sich die Frage, wie sie die nächste Woche und den nächsten Monat überleben können. Der Regenwald wird also - neben anderen Gründen - abgeholzt, um zu heizen und zu kochen. Dafür braucht man Holz. Wir müssen uns die Frage stellen: Wie können wir Alternativen schaffen? Ein starkes Signal war - die Bundeskanzlerin hat es angekündigt und mit dem Bundesumweltminister und dem Bundesfinanzminister abgestimmt -, dass die Bundesrepublik Deutschland in den nächsten drei Jahren eine halbe Milliarde Euro für den Schutz des Regenwaldes zur Verfügung stellen wird. Sie hat ferner angekündigt, in den folgenden Jahren jährlich dieselbe Summe zur Verfügung zu stellen. Wir brauchen dieses Geld. Andreas Jung ({1}) ({2}) Daran anschließend werden wir über die Frage diskutieren müssen, wie es gelingen kann, diese Finanzierung langfristig auf ein tragfähiges Fundament zu stellen. Ich meine, dass wir zur Erreichung dieses Ziels den Emissionshandel noch viel mehr in den Fokus stellen müssen. Dazu gehören die Frage, die die Bundeskanzlerin angesprochen hat, nämlich ob es gelingt, einen Teil der Erlöse der jetzt beschlossenen Auktionierung für den Regenwaldschutz zur Verfügung zu stellen, und die Frage - über die auf Bali diskutiert wurde -, wie es gelingen kann, den Walderhalt zu einem Element des internationalen Klimaschutzabkommens zu machen. Wir müssen uns in diesem Zusammenhang auch fragen, wie es gelingen kann, nicht nur staatliche Mittel, sondern auch private Mittel für den Regenwaldschutz und für den Walderhalt zur Verfügung zu stellen. Die Staaten allein werden überfordert sein. Wir brauchen hier den effizientesten Weg. ({3}) Neben der Frage nach den Finanzen steht natürlich die Frage nach den Instrumenten im Mittelpunkt. Zurzeit wird über zwei Instrumente in Bonn diskutiert, die sicherlich Schritte in die richtige Richtung darstellen. Dazu gehört das Projekt ABS. Dabei geht es um die Frage der gerechten Vorteilsverteilung. Die größte biologische Vielfalt ist zumeist in den Entwicklungsländern anzutreffen. Aber die Profiteure sitzen hier bei uns. Es handelt sich um Institute und Firmen, die von natürlichen Heilstoffen und von den Anleitungen, die uns die Natur für technische Vorgänge gibt, profitieren. Die Biotechnologiebranche greift mehr und mehr auf die natürlichen Stoffe zurück. Hier müssen wir einen fairen Lastenausgleich finden. Darum geht es zurzeit in Bonn. In diesem Zusammenhang wurden schon richtige Schritte beschlossen. Es geht auch um die Frage, wie es gelingt, Staaten, die selbst keine finanziellen Mittel zur Verfügung haben, um Schutzgebiete auszuweisen, dazu zu bringen, solche Gebiete zur Verfügung zu stellen. Frau Merkel hat ein entsprechendes Projekt, über das in Bonn diskutiert wird, als Leuchtturmprojekt bezeichnet. Sie will sich über diese Konferenz hinaus dafür einsetzen, dass es eine partnerschaftliche Zusammenarbeit gibt. Die Entwicklungsländer weisen entsprechende Gebiete aus, und die Industrieländer, aber auch private Institutionen werden als Geldgeber gewonnen. Auch das ist ein zukunftsorientierter Ansatz und ein gutes Instrument. ({4}) Es geht selbstverständlich auch um Verfahrensfragen, die schon Michael Kauch angesprochen hat: Wer sind unsere Verhandlungspartner? Wen beziehen wir in all diese Bemühungen ein? Ich glaube, die Berichte, nach denen indigene Völker teilweise aus ihren angestammten Gebieten vertrieben wurden, weil diese als Schutzgebiete ausgewiesen wurden, haben uns alle erschüttert. Es bedarf keiner weiteren Erörterung, um sagen zu können, dass das keine nachhaltige Politik ist und dass es so etwas in Zukunft nicht mehr geben darf. Wir müssen verstärkt überlegen, wie wir nicht nur mit den Regierungen, sondern auch mit den indigenen Völkern Regenwaldschutz betreiben. ({5}) Neben dem Regenwaldschutz und dem Walderhalt wird es in Zukunft auch um die Frage gehen - sie wurde von Michael Kauch ebenfalls angesprochen -, wie wir Mittel für Anpassungsmaßnahmen gewinnen können. Gerade in Afrika brauchen wir enorme Mittel im Bereich der Anpassung. Wir müssen klären, wie ein besserer Technologietransfer als bisher erreicht werden kann. Auch hierzu wurden auf Bali Beschlüsse gefasst. Das gehört zu den Erfolgen. Dort gab es konkrete Arbeitsaufträge, die jetzt in der Umsetzung sind. Wir brauchen diese Ergebnisse. Auch für diesen Bereich werden wir die Frage beantworten müssen, wie es uns gelingen kann, private Mittel zu gewinnen. Ich will noch den Aspekt CDM aufgreifen. Wir wollen, dass CDM mehr genutzt wird, als es heute der Fall ist. Aus Nairobi ist mir das Gespräch mit dem Umweltminister von Kenia in Erinnerung. Er schrieb der deutschen Delegation auf, wie viele CDM-Projekte es weltweit gibt - das ist heute eine beachtliche Anzahl -, wie viele Projekte es in Afrika gibt - es waren damals zehn oder 20 - und wie viele Projekte es im vorletzten Jahr in Kenia gab: nur ein einziges. Dies zeigt, dass wir da noch Handlungsbedarf haben. Es stimmt natürlich, dass die Probleme teilweise bei den Ländern selbst liegen, weil es um Planungssicherheit, um Rechtssicherheit und um Korruption geht. Die Frage richtet sich an uns, was wir auf Basis von Technologiepartnerschaften mit einzelnen Ländern in Afrika und mittels Schaffung von besseren Rahmenbedingungen tun können, um mehr CDM-Projekte für Afrika zu generieren. Wir werden einige Fragen grundsätzlich klären müssen. Wir werden die Diskussion, in der es um zusätzliche Projekte geht, zu einem positiven Ende führen müssen, um die Voraussetzungen für ein glaubwürdiges Klimaschutzinstrument zu schaffen, das dann auch Afrika zugute kommt. Das alles zeigt: Es gibt in der Tat viel zu tun. Die Bundesrepublik Deutschland stellt sich ihrer Verantwortung zusammen mit den europäischen Partnern in gemeinsamer, aber differenzierter Verantwortung für Afrika. Herzlichen Dank. ({6})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Hüseyin Aydin, Fraktion Die Linke. ({0})

Hüseyin Kenan Aydin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003733, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Viele haben bereits darauf hingewiesen: Der Klimawandel wirkt sich in aller Schärfe in Afrika aus; das konnten wir des Öfteren mit unseren eigenen Augen sehen. Die Wüsten werden sich um weitere 5 bis 8 Prozent ausdehnen. Angesichts solch alarmierender Meldungen präsentiert sich die Bundesregierung gerne als Vorkämpferin für das Weltklima, allerdings nur, wenn sie mit einer breiten Berichterstattung rechnet wie zum G-8-Gipfeltreffen in Heiligendamm und zum Weltklimagipfel auf Bali. Auf dem Klimagipfel der afrikanischen Staaten aber, der im November 2007 in Tunis tagte, glänzte die Bundesregierung durch Abwesenheit. Das zeigt, wie ernst die Bundesregierung den Umweltschutz in Afrika nimmt. ({0}) Deshalb begrüßt es die Linke, dass sich zumindest der Bundestag heute diesem Thema widmet. Der Antrag der Grünen findet unsere Unterstützung, insbesondere die Kritik am Nuklearexport nach Afrika. ({1}) Dabei handelt es sich nicht um eine Energiepartnerschaft, sondern um die Verbreitung der gefährlichsten, teuersten und vor allem giftigsten Technologie, die auf diesem Sektor zu haben ist. Afrika hat Sonne im Überfluss. Warum finanziert Europa nicht mehr Fotovoltaikanlagen in der Sahara, worauf zu Recht hingewiesen wurde? Ich komme nun zum Antrag der FDP. Wie nicht anders zu erwarten, ignorieren die Liberalen die Rolle, die die internationalen Konzerne beim Raubbau in Afrika spielen. In ihrem Antrag wird eine einzige Sorte von Unternehmen kritisiert, nämlich die chinesischen. Das ist aus meiner Sicht pure Heuchelei. Warum? Tatsache ist: 80 Prozent des zumeist illegal geschlagenen Holzes in Westafrika, liebe Kollegen von der FDP, finden ihren Absatz vor allem in Europa. Sie werden sich noch an die Giftmülllieferung nach Abidjan an der Elfenbeinküste im Jahre 2006 erinnern. Tausende Afrikaner wurden vergiftet, 15 starben daran. Woher kam das Schiff? Nicht aus China, sondern aus Europa. Wir müssen vor der eigenen Türe kehren. ({2}) Ich sage: Europäischen Firmen, die mit illegalem Tropenholz handeln oder unkontrolliert giftigen Müll in Afrika entladen, muss endlich das Handwerk gelegt werden, übrigens ebenso wie deren afrikanischen Komplizen. Doch dazu fällt der FDP nichts ein. Sie fordern nun, dem Wassersektor höhere Prioritäten einzuräumen. Aber unsere Anträge sowie die vom Bündnis 90/Die Grünen, über eine Ticketabgabe zusätzlich Entwicklungshilfemittel zu mobilisieren, haben Sie immer wieder abgelehnt. Damit hätten wir mehr Mittel auch für diese Bereiche. ({3}) Auch liegt der Anteil der Projekte des Umweltschutzes seit Jahren zwischen 15 und 25 Prozent. Wenn man kritisiert, dann sollte man konkret werden. Ein Beispiel: Jeden Monat landen 400 000 alte Computer aus Europa und Nordamerika in Lagos an, von denen drei Viertel unter Freisetzung schwerer Umweltgifte verbrannt werden. Dies wäre wirklich ein Feld, auf das sich die deutsche Entwicklungszusammenarbeit, aber vor allem auch die FDP konzentrieren könnte. Kommen wir zum Klimaschutz. Auf der letzten Reise des Entwicklungsausschusses nach Uganda konnten wir beobachten, wie die Verteilung von über 250 000 verbesserten Herden im ganzen Land den Bedarf an Brennholz drastisch verringert hat. Das ist vorbildlich. Doch was kann die Entwicklungszusammenarbeit machen, wenn im Großen alles schiefläuft? Nehmen wir die Weltbank. Heute melden die Agenturen, dass bei der Weltbank ein neuer Fonds aufgelegt werden soll, um Schwellenländer bei der Reduzierung des Treibhausgasausstoßes zu unterstützen. Hört sich gut an. Man muss nur wissen, dass die Weltbank ansonsten immer mehr klimaschädliche Projekte fördert. ({4}) Allein im Jahre 2006 hat sie ihre Neuzusagen für Erdölund Erdgasprojekte um 93 Prozent gesteigert. Erneuerbare Energien und Energieeffizienz machten dagegen nur 5 Prozent des Energieportfolios aus. Nichtregierungsorganisationen fordern ebenso wie die Linke und Abgeordnete anderer Fraktionen im zuständigen Ausschuss eine Umkehr dieser Politik. Warum ignoriert die Bundesregierung diese Stimmen? Hier besteht Handlungsbedarf. ({5}) Umweltschutz in Afrika kann man nur betreiben, wenn konkrete und intensive Initiativen gestartet werden.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen.

Hüseyin Kenan Aydin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003733, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin, ich komme zum letzten Satz meiner Rede, wenn Sie ihn mir erlauben. - Wir werden uns im Rahmen der weiteren Ausschussberatungen selbstverständlich intensiv mit den Anträgen von der FDP und von Bündnis 90/Die Grünen auseinandersetzen. Ich hoffe, vor allem für Afrika, dass wir die Einsicht gewinnen, dass wir uns noch mehr anstrengen müssen. Danke schön. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Für die SPD-Fraktion gebe ich das Wort dem Kollegen Frank Schwabe. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner ({0})

Frank Schwabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003846, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Verehrte Damen und Herren! Das Thema Afrika steht nun schon seit längerer Zeit auf der Tagesordnung. Die deutsche Präsidentschaft hat es zu einem wichtigen Thema gemacht. Auch die Weltklimakonferenz in Nairobi wurde schon angesprochen. Es ist gut, dass FDP und Bündnis 90/Die Grünen heute Anträge dazu stellen. Das Thema steht unter anderem deshalb auf der Tagesordnung, weil es - das ist schon deutlich geworden - auf der Welle der Debatte über den Klimawandel mitsurft. Denn die Auswirkungen des Klimawandels, die durch die industrialisierten Länder verursacht werden, werden immer sichtbarer. Vor Ort gibt es Auswirkungen dessen, was die industrialisierten Länder in den letzten Jahrzehnten und Jahrhunderten gemacht haben. Es geht um die Hinterlassenschaften der Kolonialisierung, die Auswirkungen eines ungerechten Weltwirtschaftssystems und den Raubbau von chinesischen, europäischen und nordamerikanischen Firmen an Rohstoffen und Wäldern. Hinzugekommen ist der Klimawandel, der massive Auswirkungen für Afrika hat. Die Ursachen sieht man in Afrika nicht - sie liegen nämlich woanders -, aber die Auswirkungen. So gibt es Prognosen, nach denen im ägyptischen Nildelta ein Anstieg des Meeresspiegels um 50 Zentimeter - das ist leider nicht ganz unwahrscheinlich - zu einer Versalzung des Grundwassers 9 Kilometer landeinwärts führen wird. Andere Prognosen besagen, dass, wenn keine teuren Schutzmaßnahmen ergriffen werden, bei einem Anstieg des Meeresspiegels um „nur“ 50 Zentimeter 67 Prozent der Bevölkerung der zweitgrößten Stadt Ägyptens, Alexandrias, im Prinzip überschwemmt werden und ihre Behausung, ihre Heimat verlieren. Gleichzeitig breiten sich Wüsten in Afrika rasant aus. Herr Staatssekretär Müller hat heute Morgen darauf hingewiesen, dass bei einem Anstieg der Temperatur um 2 Grad Celsius ungefähr die Hälfte der landwirtschaftlichen Produktion in Afrika gefährdet ist. Das alles sind Gründe für Kriege und Bürgerkriege. Die Zahlen machen deutlich, wie ungerecht es weltweit zugeht: Circa 800 Millionen Afrikaner stoßen heute etwa so viel CO2 aus wie die 80 Millionen Deutschen. Deswegen ist es richtig - ich will das an dieser Stelle ausdrücklich würdigen -, dass die Kanzlerin gefordert hat, bis zum Jahr 2050 auf der Welt einen gerechten CO2-Verbrauch von etwa 2 Tonnen pro Kopf hinzubekommen. Der Klimawandel birgt unglaubliche Risiken, aber auch Chancen. Denn das Thema Entwicklungszusammenarbeit geht mittlerweile nicht mehr nur die Entwicklungsländer etwas an, sondern die industrialisierten Länder betreiben Entwicklungszusammenarbeit aus eigenem Interesse. Klar ist, wenn die Entwicklungsländer in Afrika und anderswo einen Entwicklungspfad so beschreiten, wie wir in Europa es getan haben, dann wird es auch für die industrialisierten Staaten ganz eng. Es gibt einige wichtige Instrumente, mit denen man etwas gegen die Auswirkungen des Klimawandels in Afrika tun kann. Das Instrument CDM, Clean-Development-Mechanism, ist schon angesprochen worden. Wichtig ist allerdings - das möchte ich betonen -, dass diese Mechanismen auch für eine soziale Nachhaltigkeit stehen. Das muss in die Prüfung mit einbezogen werden. Wenn wir über die Situation der indigenen Völker reden, sollten wir uns eigentlich gemeinsam dafür einsetzen, dass die Kriterien der sozialen Nachhaltigkeit bei CDM eine größere Rolle spielen. Es geht um die Förderung erneuerbarer Energien und um dezentrale Lösungen. Es geht um die Finanzierung von Anpassungsmaßnahmen, zum Beispiel wenn der Meeresspiegel steigt, und um die Finanzierung des Regenwaldschutzes. Darum geht es zurzeit auf der schon angesprochenen CBD in Bonn. In den beiden Anträgen von der FDP und den Grünen wird zum einen die Herausforderung richtig beschrieben. Zum anderen werden auch die Maßnahmen, glaube ich, durchaus richtig beschrieben. Ein Stück weit fehlen mir jedoch Antworten auf die Fragen, wie viel dies eigentlich kostet und wie es finanziert werden soll. Auf der CBD gab es in der Tat einen sehr guten Finanzierungsvorschlag von Gabriel und Merkel: Man solle einmal schauen, was es im Bereich der Erlöse des Emissionshandels gibt. Ich kann alle in diesem Hause nur ermuntern, frühzeitig einen Finger auf dieses Geld zu legen. Unter uns sind gerade, glaube ich, wenige Finanzpolitiker; aber man kann dies natürlich nachlesen. Ich appelliere noch einmal, dass dieses Geld hierfür eingesetzt wird. Es ist zurzeit noch nicht da; wir haben nur etwas aus der zweiten Handelsperiode. Aber wir werden ab 2013 allein aus dem deutschen Bereich Einnahmen in Höhe von 5 Milliarden Euro aufwärts bekommen. Ich denke, es ist wichtig, dass die Fachpolitiker für Umwelt und für Entwicklungszusammenarbeit fraktionsübergreifend darauf achten, dass dieses Geld in den Klimaschutz, insbesondere in den internationalen Klimaschutz, investiert wird. ({0}) Daran können wir gemeinsam arbeiten. Das ist eine wichtige Herausforderung, der wir uns gemeinsam stellen sollten. Vielen Dank. Glück auf! ({1})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Ute Koczy, Bündnis 90/Die Grünen.

Ute Koczy (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003788, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unser heute hier eingebrachter grüner Antrag will Brücken schlagen, und zwar einmal mehr nach Afrika zum Schutz für mehr Klima und mehr Umwelt und für die Unterstützung der Anpassung an den Klimawandel. Der Antrag will heute von hier aus natürlich auch eine Brücke nach Bonn schlagen. Denn dort findet zurzeit die COP 9 statt, und dort geht es darum, den Schutz unserer natürlichen Welt zu vereinbaren. So wie ich es bisher mitbekommen habe, ist dort außer der Summe konzeptionell und substanziell verdammt wenig - Entschuldigung - zu finden. Es geht dabei um den Schutz Afrikas. Die Realität, die wir dort antreffen, haben Sie hier alle schon wunderbar beschrieben. Wir stehen vor der Situation, dass sich heute und morgen in Bonn etwas bewegen muss. Denn hier werden die Weichen gestellt. Wenn die Weichen jetzt nicht gestellt werden, haben wir für die nächsten Jahre nichts in der Hand, um international am Artenschutz arbeiten zu können. ({0}) Wir brauchen schleunigst gemeinsames Handeln. Ich finde, dass man nicht bis 2009 warten muss, bevor man es im Haushalt vereinbart. Ich freue mich über die Summe, die von der Kanzlerin zur Verfügung gestellt wird. ({1}) Ich freue mich aber nicht darüber, dass das erst 2009 passiert. Denn das fällt in die nächste Regierungsphase. Ob es dann trägt, wage ich zu bezweifeln. ({2}) Ich habe den Eindruck, dass den Ankündigungen, die wir jetzt immer wieder gehört haben, was kommen soll und was man alles erreichen will, nicht viel folgen wird. Wenn ich jetzt zum Beispiel höre, dass im Februar im Vergleich zum letzten Jahr der Ankauf von Geländewagen durch die Bevölkerung um 22 Prozent höher war, dann frage ich mich, ob wir hier nicht auf dem falschen Weg sind. Denn das, was wir hier machen, hat Konsequenzen in Afrika. Hier ist noch nichts bewegt worden, um Afrika tatsächlich zu unterstützen. ({3}) Die Autorinnen und Autoren des Umweltprogramms der Vereinten Nationen beschreiben im sogenannten Africa Environment Outlook eine Reihe von gravierenden und sich verschärfenden Umweltproblemen. Diese haben natürlich etwas mit unserem Leben hier zu tun. Aber in Afrika gilt: Die Entwaldung durch Abholzung und Nutzung von Holz zum Kochen und Heizen, das Vordringen der Wüste, der Verlust der biologischen Vielfalt, der nicht nachhaltige Umgang mit Wasser sowie die legale und oft auch illegale Art und Weise der Rohstoffgewinnung müssen als Weckruf dienen. Der Weckruf hat schon letztes Jahr stattgefunden; aber er ist 2008 noch nicht in konkretes Handeln umgesetzt worden. Ja, es gibt auch positive Entwicklungen; das will ich nicht verschweigen. Die Verleihung des Friedensnobelpreises an die Initiatorin des „Green Belt Movements“, Wangari Maathai, war eine große Ermutigung für afrikanische Umweltaktivistinnen und -aktivisten. ({4}) Im African Climate Appeal kommen afrikanische Stimmen eindringlich und authentisch zu Wort. Es gibt Anzeichen, dass in der Afrikanischen Union und in der neuen Partnerschaft für Afrika, NEPAD, dem Schutz der Umwelt ein höherer Stellenwert eingeräumt wird. Und doch: Umweltministerien und Umweltminister zählen auf diesem Kontinent weiterhin zu den schwachen Akteuren. Das muss sich ändern. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es kann nicht heißen: entweder Umweltschutz oder Bekämpfung der Armut. Als Entwicklungspolitikerin sage ich: Umweltschutz und Armutsbekämpfung gehören unmittelbar zusammen, ganz besonders in Afrika. Das darf uns nicht wundern. Denn 70 Prozent der Bevölkerung Afrikas leben direkt vom Land und auf dem Land. In unserem Antrag konzentrieren wir uns auf die wesentlichen sechs Felder. Meine Redezeit ist knapp. Erlauben Sie mir aber noch einige Anmerkungen zum Klimaschutz. Afrika ist tatsächlich der Kontinent, der vom Klimawandel am meisten betroffen ist. Es ist ein Treppenwitz der Geschichte, dass der Kontinent, der am wenigsten verantwortlich ist, am meisten betroffen ist. Das muss uns aufrütteln. Denn es ist auch so, dass die Fähigkeit dieses Kontinents, aus eigener Kraft eine Veränderung herbeizuführen, nicht in ausreichendem Maße vorhanden ist. Hier Unterstützung zu leisten, und zwar nicht nur im Mittelmeerraum, in Ägypten und in den Ländern, die eigene Potenziale haben, sondern auch und gerade in Subsahara-Afrika, also dort, wo die ärmsten Menschen Afrikas leben, das ist eine Verantwortung, der wir uns endlich stellen müssen. Danke. ({5})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Gabriele Groneberg, SPD-Fraktion. ({0})

Gabriele Groneberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003540, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist in der Tat zu begrüßen, dass wir wieder einmal die Gelegenheit haben, uns mit Afrika im Speziellen und mit dem Klimawandel und seinen Auswirkungen auf den afrikanischen Kontinent im Allgemeinen auseinanderzusetzen. Herr Kollege Kauch, Sie haben Vorwürfe geäußert, die ich nicht nachvollziehen kann. Ich war gerade erst mit einer Gruppe des Ausschusses für Entwicklungszusammenarbeit im Ostkongo. Dort konnten wir uns vom genauen Gegenteil dessen überzeugen, was Sie hier vorgetragen haben. Wir haben uns in einem Gebiet im OstGabriele Groneberg kongo befunden, das von den Kriegswirren und den Unruhen nach wie vor am schlimmsten betroffen ist. ({0}) Wir konnten feststellen, dass ein GTZ-Projekt, das dort seit Jahrzehnten durchgeführt wird, von der Bevölkerung so sehr adaptiert worden ist, dass die Menschen ihren Schutzpark während des Krieges verteidigt haben. Manche Menschen haben, um dieses Projekt zu schützen, sogar ihr Leben gelassen. Sie haben immer gesagt: Die Deutschen kommen zurück, und dann helfen sie uns; denn wir haben auf unseren Park aufgepasst. - Ich finde, das ist vorbildlich. Wir können uns bestimmt noch über Einzelfälle unterhalten. Ich finde aber, dass die Menschen, die dort unter schwierigen Bedingungen leben und sich trotz ihrer Armut für dieses Projekt eingesetzt haben, unseren Respekt verdienen. ({1}) Dem Antrag der Fraktion der Grünen ist anzumerken, dass er von der Sorge um den afrikanischen Nachbarkontinent angesichts des globalen Klimawandels getragen wird. Allerdings muss ich sagen: Bei genauerer Betrachtung fällt auf, dass diese Sorge um die Umwelt Afrikas offenbar dazu geführt hat, dass dem Antrag eine konkrete Hauptstoßrichtung fehlt. Liebe Ute Koczy, leider muss ich sagen: Ihr Antrag wirkt wie ein Sammelsurium umweltrelevanter Aspekte. Dadurch verliert er aber seine notwendige Schärfe. ({2}) In Anbetracht dessen zieht auch der Vorwurf nicht, den du gerade an uns gerichtet hast: dass wir in Deutschland nichts unternehmen würden, um den Klimawandel in Afrika positiv zu beeinflussen und dem Kontinent zu helfen. Das stimmt so einfach nicht. Ich frage mich zum Beispiel: Wie soll man die neunte Forderung, die unter dem Aspekt „Afrika im Klimawandel“ aufgeführt ist, verstehen? Dort wird gefordert, sicherzustellen, dass die Finanzierung des Klimaschutzes nicht zulasten der Finanzierung anderer Millenniumsentwicklungsziele erfolgt. Natürlich wird das nicht geschehen. Denn Klimaschutz wurde nicht explizit als Millenniumsentwicklungsziel definiert. Das ist bedauerlich. Gerade deshalb aber geht die Durchführung von Klimaschutzmaßnahmen über die Forderung von Ziel sieben, den Schutz der Umwelt, hinaus. Klimaschutzmaßnahmen dürfen nicht zulasten anderer Entwicklungsziele erfolgen. Denn Klimaschutz ist die Grundvoraussetzung dafür, dass wir die anderen Entwicklungsziele überhaupt erreichen können. Dieser Zusammenhang ist sehr wichtig. In Ihrem Antrag kommt er aber überhaupt nicht zum Ausdruck. ({3}) Kollege Schwabe hat eindringlich erläutert, welche Auswirkungen der Klimawandel in manchen Teilen Afrikas hat. Der kenianische Präsident Kibaki hat es auf den Punkt gebracht, als er sagte: Der Klimawandel droht die Bemühungen zur Armutsreduzierung zu vereiteln und macht die Aussicht, die Millenniumsentwicklungsziele tatsächlich zu erreichen, ungewisser. Insofern müssen wir ein Interesse daran haben, dass Klimaschutz- und Anpassungsmaßnahmen im Zusammenhang betrachtet werden. Die Armutsbekämpfungsstrategien müssen im Hinblick auf ihre mögliche Gefährdung durch den Klimawandel überprüft werden. Das Thema Klimaschutz ist bereits im Sinne eines Mainstreams in die deutsche Entwicklungszusammenarbeit integriert. Das ist wichtig; das machen wir seit Jahren. Armut ist eine der Hauptursachen den Umweltzerstörung. Das wissen wir natürlich alle. Arme können nur durch Waldrodung und die Ausnutzung von Land für ihr Überleben sorgen, indem sie zum Beispiel durch Abholzen Brennmaterial zum Kochen und Heizen gewinnen. Wir müssen die Wechselwirkung zwischen beiden Elementen im Auge haben. Sie muss auch bei der Zusammenarbeit in unseren entwicklungspolitischen Projekten immer berücksichtigt werden. ({4}) Insofern freue ich mich auf die Diskussionen im Ausschuss. Ich finde es einfach gut, dass wir wiederholt darüber reden, weil ich glaube: Wenn es gelingt, die Medien dafür zu sensibilisieren und das, was dort passiert, transparent zu machen, dann können wir alle nur gewinnen. Vielen Dank. ({5})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/5132 und 16/9313 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({0}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe Schummer, Ilse Aigner, Marcus Weinberg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU sowie der Abgeordneten Dr. Ernst Dieter Rossmann, Ulla Burchardt, Willi Brase, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Rahmenbedingungen für Lebenslanges Lernen verbessern - Weiterbildung und Qualifizierung ausbauen und stärken Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner - zu dem Antrag der Abgeordneten Kornelia Möller, Volker Schneider ({1}), Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Der beruflichen Weiterbildung den notwendigen Stellenwert einräumen - Drucksachen 16/8380, 16/7527, 16/9298 Berichterstattung: Abgeordnete Uwe Schummer Dr. Ernst Dieter Rossmann Patrick Meinhardt Volker Schneider ({2}) Priska Hinz ({3}) Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu die- sem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. - Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich um folgende Kolleginnen und Kollegen: Uwe Schummer, CDU/CSU, Dr. Ernst Dieter Rossmann, SPD, Patrick Meinhardt, FDP, Volker Schneider, Die Linke, Priska Hinz, Bündnis 90/Die Grünen.1) Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung auf Drucksache 16/9298 ({4}). Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Be- schlussempfehlung, den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/8380 in der Ausschussfassung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Ent- haltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim- men der Koalition bei Gegenstimmen der Opposition an- genommen. Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/7527. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist bei Ge- genstimmen der Fraktion Die Linke mit den Stimmen des restlichen Hauses angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Barbara Höll, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Kostenpflichtige Service-Telefonnummer der Arbeitsagentur in eine gebührenfreie Rufnum- mer umwandeln - Drucksache 16/9097 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu die- sem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. - Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich um folgende Kolleginnen und Kollegen: Stefan Müller, CDU/CSU-Fraktion, Katja Mast, SPD-Fraktion, Jörg Rohde, FDP, Dr. Gesine Lötzsch, Die Linke, Brigitte Pothmer, Bündnis 90/Die Grünen.2) 1) Anlage 4 2) Anlage 5 Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/9097 an den Ausschuss für Arbeit und Soziales vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({5}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Eine europäische Initiative zur Entwicklung von Kleinstkrediten für mehr Wachstum und Beschäftigung KOM ({6}) 708 endg.; Ratsdok. 10215/07 - Drucksachen 16/7817 Nr. A.5, 16/8613 - Berichterstattung: Abgeordnete Doris Barnett Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu die- sem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. - Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich um folgende Kolleginnen und Kollegen: Eckhardt Rehberg, CDU/CSU, Doris Barnett, SPD, Paul K. Friedhoff, FDP, Sabine Zimmermann, Die Linke, Kerstin Andreae, Bündnis 90/Die Grünen.3) Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie auf Drucksache 16/8613. Der Ausschuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition und der FDP bei Gegenstimmen von Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 17 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({7}) zu dem Antrag der Abgeordneten Renate Künast, Ulrike Höfken, Cornelia Behm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gesundheitscheck der europäischen Agrarpolitik - Mit Klimabonus zu Klimaschutz, guter Ernährung und nachhaltiger Entwicklung - Drucksachen 16/7709, 16/8534 Berichterstattung: Abgeordnete Marlene Mortler Waltraud Wolff ({8}) Hans-Michael Goldmann Dr. Kirsten Tackmann Ulrike Höfken 3) Anlage 6 Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. - Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich um folgende Kolleginnen und Kollegen: Waltraud Wolff, SPD-Fraktion, Marlene Mortler, CDU/CSU-Frak- tion, Hans-Michael Goldmann, FDP-Fraktion, Dr. Kirsten Tackmann, Fraktion Die Linke, Ulrike Höfken, Bündnis 90/Die Grünen.1) Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Er- nährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz emp- fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck- sache 16/8534, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/7709 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist Hauses bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen mit den Stimmen des Hauses im Übrigen an- genommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf: Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU und der SPD Zukunft des Branntweinmonopols nach 2010 - Drucksache 16/9304 - Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu die- sem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. - Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich um folgende Kolleginnen und Kollegen: Norbert Schindler, CDU/CSU, Lydia Westrich und Reinhard Schultz, SPD, Dr. Volker Wissing, FDP, Dr. Barbara Höll, Die Linke, Cornelia Behm, Bündnis 90/Die Grünen.2) Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/9304. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist bei Enthaltung der FDP-Fraktion mit den Stimmen des Hauses im Übrigen angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Patrick Döring, Mechthild Dyckmans, Michael Kauch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Mietrechtsänderungen zur Erleichterung klima- und umweltfreundlicher Sanierungen - Drucksache 16/7175 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({9}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Verteidigungsausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um fol- gende Kolleginnen und Kollegen: Norbert Geis, CDU/ 1) Anlage 7 2) Anlage 8 CSU, Dirk Manzewski, SPD, Mechthild Dyckmans, FDP, Heidrun Bluhm, Die Linke, Peter Hettlich, Bündnis 90/Die Grünen.

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Der Klimawandel ist zu einem großen Thema in der Gesellschaft und in der Politik geworden. Zuweilen kann man zwar den Eindruck gewinnen, dass es sich dabei um eine in der Politik übliche Übertreibung handelt, weil das Thema gerade Konjunktur hat. Auch kann man die Befürchtung hegen, dass im Kielwasser des Klimaschutzes wirtschaftliche Ziele verfolgt werden, die wenig mit Klimaschutz zu tun haben, die aber ohne die Diskussion um den Klimaschutz nicht durchzusetzen wären. Auch ist ein gewisser Öko-Nihilismus in dieser Diskussion erkennbar. Dennoch darf dieses dringlich politische Anliegen nicht bagatellisiert werden. Für die Frau Bundeskanzlerin, die Bundesregierung und die Koalition ist der Klimaschutz ein zentrales politisches Vorhaben, das Schritt für Schritt umgesetzt werden soll. Deshalb hat die Bundesregierung rechtzeitig zur 13. Vertragsstaatenkonferenz vom 3. bis 14. Dezember 2007 auf Bali ein integriertes Energie- und Klimaprogramm vorgelegt, dass, so die Bundesregierung, weltweite Maßstäbe setzen soll. Beim Klimaschutz geht es um einen Ausgleich der weltweit steigenden Energienachfrage und den dadurch mit verursachten Klimawandel. Die Eckpunkte dieses „integrierten Energie- und Klimaprogramms“ der Bundesregierung beinhalten zahlreiche Umgestaltungen und Erweiterungen von bereits bestehenden Regelungen. Es geht um umfangreiche Investitionsverpflichtungen. Es geht vor allem auch darum, regenerative Energie in vermehrtem Maße zu nutzen. Deshalb ist ein sogenanntes „Regenerationswärmegesetz“ vorgesehen mit weiteren, für den Wärmemarkt notwendigen, Maßnahmen. Bei all diesen Vorhaben geht es darum, die Energieversorgung langfristig zu sichern und gleichzeitig den Klimaschutz voranzutreiben. Der Antrag der FDP erhebt nun den Vorwurf, dass die Bundesregierung bei diesem Vorhaben zu wenig den Wohnbereich berücksichtigt, in welchem ein hoher Energieverbrauch stattfindet und in welchem deshalb auch eine hohe Klimagefährdung entsteht. So wird der Vorwurf gemacht, dass die Bundesregierung es versäumt habe, für die Vermieter hinreichende Anreize zu schaffen, um eine energetische Sanierung privater Mietshäuser voranzutreiben. Insbesondere erhebt der Antrag den Vorwurf, dass ein Haupthindernis für eine stärkere energetische Sanierung im Gebäudebereich das Mietrecht sei, das von der Bundesregierung aber überhaupt nicht ernsthaft angetastet werde. In dem Antrag werden deshalb sechs Punkte angeführt, von deren Umsetzung sich die FDP letztlich eine bessere Energieversorgung und einen besseren Klimaschutz erwartet. Allerdings wird in dem Antrag nicht immer sauber zwischen den Fragestellungen unterschieden. Bei genauerer Strukturierung geht es um folgende Problemfelder: Erstens. Mieterhöhung nach Sanierungsmaßnahmen, die eine nachhaltige Einsparung von Energie und Wasser bewirken ({0}). Angesichts der stark gestiegenen Energie- und Heizkosten und der weltweiten Bemühungen um eine Reduzierung der CO2-Emissionen besteht ein Interesse daran, den Energieverbrauch in Gebäuden der Privathaushalte ({1}) möglichst zu senken. Für Neubauten werden daher zunehmend strengere Vorgaben hinsichtlich Wärmedämmung etc. erlassen. Schwieriger als die Schaffung und Umsetzung energetischer Standards für Neubauten ist es freilich, eine energetische Sanierung des alten Wohnbestandes ({2}) voranzutreiben. Dabei geht es in der Regel um moderne Heizanlagen und Wärmedämmungsmaßnahmen. Bei solchen Maßnahmen entstehen in der Regel ganz erheblich Kosten, die häufig sowohl die Gebäudeeigentümer als auch die Mieter überfordern dürften. Deshalb auch hat der Gesetzgeber solche energetischen Sanierungsmaßnahmen für bestehende Wohnräume nicht verpflichtend vorgeschrieben. Vielmehr soll durch finanzielle Förderung ein Anreiz geschaffen werden, einen Eigentümer zur energetischen Sanierung bestehender Gebäude zu bewegen. Dies dürfte sicherlich auch der richtige Weg sein. Außerdem wurde im Mietrecht eine Regelung geschaffen, wonach der Eigentümer/Vermieter die jährliche Miete um 11 Prozent der Sanierungskosten ({3}) erhöhen kann, wenn er bauliche Maßnahmen durchgeführt hat, die eine nachhaltige Einsparung von Energie oder Wasser bewirken ({4}). Immerhin ist zu bedenken, dass solche Mieterhöhungen, die durch Modernisierungsanlagen veranlasst sind, den Mieter erheblich belasten können. Entfallen bei einer größeren Gebäudesanierung etwa 20 000 Euro Kosten auf die Wohnung des Mieters, so gibt dies eine dauerhafte Erhöhung der jährlichen Miete um 2 200 Euro. Allerdings kann der Mieter infolge der Sanierung Heizkosten einsparen. Die Vermieterseite hat wiederholt Kritik geübt, dass die Anforderungen an die Modernisierungsmieterhöhung ({5}) zu hoch seien. In diesem Zusammenhang sind die Ziffern 1, 4, und 5 des FDP-Antrages zu sehen: a. Ziffer 1. des Antrages: Der Vorschlag geht - soweit ersichtlich - dahin, dass nach einer energetischen Sanierung eine Mieterhöhung möglich sein soll, deren Höhe sich nicht an Kosten der Sanierungsmaßnahme, sondern an der Betriebskostenersparnis orientiert. Auf den ersten Blick erscheint dies richtig, da der Zusatzbelastung für den Mieter jeweils eine äquivalente Einsparung gegenüberstehen würde. Fraglich allerdings ist, ob eine derartige Regelung in der Praxis durchführbar wäre. Der Mieter hätte es in der Hand, die Mieterhöhung „abzuschöpfen“, indem er hohe Heizkosten produziert. Die Berechnung der Betriebskostenersparnis würde außerdem einen erheblichen Verwaltungsaufwand erfordern und birgt hohes Streitpotenzial. b. Ziffer 4. des Antrages: Die Anforderungen an die Darlegung der für die jeweilige Wohnung aufgewendeten Sanierungskosten ergeben sich aus § 559 b BGB und erscheinen angesichts der oft erheblichen Auswirkungen auf die Miethöhe nicht überzogen. Aus der Rechtsprechung zu § 559 b BGB ergeben sich jedenfalls keine Anhaltspunkte für überzogene Anforderungen an die Darlegungslast des Vermieters. Deshalb sieht die Bundesregierung auch derzeit keine Notwendigkeit zur Gesetzesänderung in diesem Bereich ({6}). c. Ziffer 5. des Antrages: Danach sollen Modernisierungsmieterhöhungen auch für Wohnungen mit Staffel- oder Indexmietverträgen zugelassen werden. Die Bundesregierung hat in ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage der FDP ({7}) dieses Begehren zurückgewiesen. Ich schließe mich den Ausführungen der Bundesregierung insoweit an und verweise darauf. Zweitens. Duldung von Baumaßnahmen, die zur energetischen Sanierung durchgeführt werden. Nach § 554 Abs. 2 Satz 1 BGB hat der Mieter ({8}) Baumaßnahmen zu dulden, die zur Einsparung von Energie und Wasser durchgeführt werden. Nicht völlig zweifelsfrei ist, ob hierunter auch Baumaßnahmen zur Umstellung auf erneuerbare Energien ({9}) fallen, da insoweit in erster Linie ein Austausch der Energiequelle und nicht unbedingt eine Verringerung des Energieverbrauches erfolgt. Die Bundesregierung geht davon aus, dass auch der Einbau von Solaranlagen eine Modernisierungsmaßnahme im Sinne des § Abs. 2 Satz 2 BGB darstellt ({10}). Allerdings könnte eine Klarstellung in § 554 Abs. 2 Satz 1 BGB dergestalt erfolgen, dass eine Duldungspflicht bei „Maßnahmen“ zu Gewährleistung der Nutzung erneuerbarer Energien ausdrücklich vorgesehen wird. Der Bundesrat hat eine dahin gehende Änderung des § 554 Abs. 2 Satz 1 BGB in seiner Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetztes zur Förderung Erneuerbarer Energien im Wärmebereich ({11}) vorgeschlagen ({12}). Soweit durch eine Modernisierungsmaßnahme/Umbaumaßnahme der Gebrauch der Mietwohnung ({13}) aufgehoben oder eingeschränkt wird, soll nach unserer Auffassung die Regelung des § 536 BGB ({14}) greifen. Dies erscheint uns jedenfalls als sachgerecht. Drittens. Umlegung von Betriebskosten: Die Ziffern 2. und 6. des Antrages betreffen die Frage, inwieweit der Mieter nach einer Heizungsmodernisierung die Betriebskosten der Heizungsanlage noch auf den Mieter umlegen kann. Die Umlegbarkeit von Betriebskosten richtet sich grundsätzlich nach der zwischen Vermieter und Mieter getroffenen Vereinbarung. Wurde im Mietvertrag die Umlegung von Betriebskosten nur für eine bestimmte Beheizungsart ({15}) vereinbart, dürfen grundsätzlich auch nur die bei dieser Beheizungsart anfallenden Betriebskosten umgelegt werZu Protokoll gegebene Reden den. Tauscht der Vermieter eine alte Heizungsanlage gegen eine moderne aus, so kann er die Betriebskosten der modernen Anlage weiter auf den Mieter umlegen, wenn die im Mietvertrag vorgesehene Beheizungsart ({16}) gleich bleibt. Probleme treten aber dann auf, wenn der Vermieter im Zuge der Modernisierung die Beheizungsart wechseln will. Dies gilt vor allem dann, wenn der Vermieter nicht mehr selbst für die Wärmeversorgung einsteht, sondern diese einem Externen übertragen will ({17}). Nach der Rechtsprechung ist für die Umstellung auf Wärmelieferung ({18}) die Zustimmung des Mieters erforderlich, wenn ihm erhöhte oder zusätzliche neue Kosten auferlegt werden sollen. Sofern der Mieter nicht zustimmt, kann der Vermieter nur die nach dem Mietvertrag zulässigen Wärmekosten umlegen, die dann fiktiv zu berechnen sind. Die Bundesregierung hat bereits in ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage der FDP ({19}) erklärt, dass durch ein Gutachten von unabhängiger Stelle geklärt werden soll, ob im Zusammenhang mit dem sogenannten Wärme-Contracting in der Praxis tatsächlich rechtliche Hindernisse bestehen und wie diese gegebenenfalls beseitigt werden können. Einer weiteren Aufforderung zur Einholung eines Sachverständigengutachtens bedarf es daher nicht.

Dirk Manzewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003177, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Der FDP geht es in ihrem Antrag um Mietrechtsänderungen zur Erleichterung klima- und umweltfreundlicher Sanierungen. Der Titel verspricht einiges, ist dann allerdings auch schon das Einzige, was an dem Antrag beim Durchlesen erfreut. Unter dem Deckmantel der Ökologie wird hierin knallhart Klientelpolitik betrieben. Alleine die Behauptung, der „ach so selbstlose Vermieter“ habe nun rein gar nichts von entsprechenden Maßnahmen und alleine der Mieter würde hiervon profitieren, spottet - wenn das Ganze nicht so ernst wäre - jeder Beschreibung und zwingt einen gerade dazu, der FDP in diesem Zusammenhang noch einmal die Prinzipien der Marktwirtschaft zu erklären. Eine Wohnung, die klima- und umweltfreundlich saniert worden ist und hierdurch erhebliche Energiekosten spart, wird nicht nur einen höheren Marktwert erhalten, sondern natürlich auch zu Mieterhöhungen berechtigen. Ebenso wenig nachzuvollziehen sind die Vorschläge für eine neue Möglichkeit zur Mieterhöhung im Zuge der Modernisierungsmaßnahmen. Die FDP meint offenbar, dass jede Mieterhöhung gerechtfertigt wäre, solange diese durch die entsprechenden Betriebskostenersparnisse gedeckt sei. Das klingt alles herrlich theoretisch, erklärt aber noch nicht einmal, was denn hierunter eigentlich zu verstehen ist. Betriebskosten in diesem Zusammenhang sind abhängig unter anderem vom Verbraucherverhalten, von der Preisentwicklung, aber auch vom Klima in der Heizperiode. Ich glaube, es ist deshalb äußerst problematisch, hier insoweit zu einer gerechten Darlegung und Berechnung der tatsächlichen Betriebskostenersparnis zu kommen. Warum dies dann alles abhängig sein soll von einem Drei-Viertel-Votum der Mieter, erschließt sich mir dabei überhaupt nicht. Abgesehen davon, das hierdurch in individuelle Vertragsbeziehungen eingebrochen werden würde - eigentlich für die FDP doch Teufelszeug -, muss man mir einmal erklären, wieso Mieter dem eigentlich zustimmen sollten; denn außer Ärger - dazu komme ich gleich - haben sie nach dem Vorschlag der FDP doch nichts davon, da eine etwaige Betriebskostenersparnis ihnen nicht zugutekommt, sondern durch die entsprechende Mieterhöhung aufgefressen wird. Den Ärger hat der Mieter natürlich durch die Baumaßnahmen. Zunächst ist hier einmal klarzustellen, dass - anders als behauptet - Modernisierungsmaßnahmen zur Einsparung von Energie und Wasser und damit zur Verbesserung der Mietsache - es sei denn, sie stellen eine nicht zu rechtfertigende Härte für den Mieter dar - schon heute zu dulden sind. Warum der Mieter hier anders beurteilt werden soll, bleibt schleierhaft. Entscheidend für eine Mietminderung ist die nicht unerhebliche Minderung des vertragsgemäßen Gebrauchs der Mietsache. Ist also die Baumaßnahme so umfangreich, das zum Beispiel ein Teil der Wohnung gar nicht oder nur eingeschränkt genutzt werden kann, so wird nicht der volle Mietzins geschuldet. Dies ist nur gerechtfertigt, da der Mieter auch nicht die ihm geschuldete Leistung vertragsgerecht erhält. Deshalb kann und darf es auch keinen Unterschied machen, was letztendlich der Grund hierfür ist. Man kann sich in diesem Zusammenhang nicht des Eindrucks erwehren, dass die FDP hier unter dem Deckmantel der Ökologie knallharte Klientelpolitik betreiben will - und nicht mehr. Hierfür spricht auch der Vorschlag zur Vereinfachung der Umlage von Modernisierungserhöhungen. § 559 BGB gibt ja schon die Möglichkeit, die Kosten einer Modernisierung auf den Mieter umzulegen. Die Anforderungen hierfür erscheinen nicht überzogen und zumutbar und haben sich - dies zeigt nun einmal die Praxis - bewährt. Warum von der bewährten Praxis abgewichen werden soll, ist deshalb ebenso schleierhaft, wie die Vorstellung, dass man bei der Vielzahl von Modernisierungsmaßnahmen Pauschalwerte zulassen sollte, lebensnah ist. Die FDP muss sich wirklich einmal fragen lassen, was denn so verkehrt daran sein soll, dass die Kosten für eine Modernisierung vernünftig darzulegen und dann angemessen zu verteilen sind, zumal ja der Vermieter nach billigem Ermessen den Verteilungsschlüssel bestimmen kann. Wenn die FDP abschließend die Umlage der Betriebskosten erleichtern möchte, bleibt unklar, was sie damit meint. Ich würde schon einmal vorschlagen, dass man vor einem solchen Antrag sich zunächst einmal genau damit beschäftigt, was unter Modernisierung - explizit energetischen Sanierung - eigentlich zu verstehen und was insoweit alles bereits umlegbar ist. Zu Protokoll gegebene Reden Mir bleibt nur festzuhalten, dass der Antrag der FDP so nie und nimmer unsere Zustimmung finden wird. Ich schlage der FDP vor, beim nächsten ähnlich gelagerten Antrag im Rahmen der Rechtsfortbildung vielleicht auch einmal mit zu berücksichtigen, welche Rechte im umgekehrten Fall eigentlich der Mieter auf eine energetische Sanierung haben könnte. Ich persönlich gehe davon aus, dass es mit Ihrem Interesse an Mietrechtsänderungen zur Erleichterung klimaund umweltfreundlicher Sanierung dann schnell vorbei sein würde und deutlich wird, wohin Ihr Begehren eigentlich zielt.

Mechthild Dyckmans (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003752, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

„Koalition verschiebt umstrittenes Klimapaket“ - so und ähnlich lauteten die Schlagzeilen dieser Woche. Faktisch hat die Koalition die Arbeit eingestellt. Was die Regierung plant, außer im Amt zu bleiben, weiß in diesen Tagen offensichtlich niemand. Wo die Regierung ausfällt, kommt es umso mehr auf die Opposition an. Wie man im Bereich klima- und umweltfreundlicher Sanierungsmaßnahmen weiterkommen kann, ergibt sich aus dem heute zu beratenden Antrag der FDP-Bundestagsfraktion. Die FDP setzt auf positive Anreize zur energetischen Sanierung für private Vermieter. Ein Politikangebot, das sich wie das von CDU/CSU und SPD auf Vorschriften, Verbote und Regulierungen beschränkt, lehnen wir ab. Statt auf Vorschriften und Verbote setzen wir auf eine Änderung des Mietrechts. Es ist das Mietrecht, das das Haupthindernis für eine stärkere energetische Sanierung im Gebäudebereich ist. Wir alle wissen: Sinnvolle, politisch gewollte Investitionen in den Umweltschutz unterbleiben, weil der Vermieter nach geltendem Recht keinen bzw. kaum Ertrag aus seinen Investitionen erzielen kann. Teilweise ist das Recht sogar so restriktiv, dass der Vermieter schon daran gehindert ist, die Arbeiten überhaupt durchführen zu können. So verlangt das geltende Recht zwar, dass Modernisierungsarbeiten durch alle Mieter zu dulden sind, jedoch nur - so jedenfalls die herrschende Meinung - wenn sich ein Vorteil mit der Maßnahme verbindet. Ist dies nicht der Fall, etwa weil nur ein energetischer Austausch stattfindet, zum Beispiel beim Einbau von Solarkollektoren, kann ein Mieter der Modernisierung von vornherein mit der Begründung widersprechen, dass sich hieraus keine Einsparung ergebe. Hinzu kommt, dass der Vermieter nach erfolgter energetischer Sanierung die Betriebskosten für die neuen Anlagen regelmäßig nicht auf den Mieter umlegen kann, da diese zumeist nicht Bestandteil des Mietvertrags sind. Will der Vermieter eine Mieterhöhung durchsetzen, um die Modernisierungskosten zu refinanzieren, sieht er sich einem bürokratischen Aufwand ausgesetzt, der vielleicht von einer Behörde mit vielen Beschäftigen verlangt werden kann, einen privaten Vermieter aber regelmäßig überfordern wird. So ist zum Beispiel für jede Wohnung ein separater Antrag zu schreiben. Pauschale Abschläge und Quoten sind nicht erlaubt. Arbeiten, die als Instandsetzung gelten und dem Vermieter zuzuordnen sind, sind aus der Erhöhung herauszurechnen. Überdies wird eine detaillierte Aufschlüsselung der Einspareffekte verlangt. All dies hat abschreckende Wirkung und trägt mit dazu bei, dass Maßnahmen unterbleiben. Die Fachwelt spricht in diesem Zusammenhang von dem sogenannten Nutzer-Investor-Dilemma, auch als Eigentümer-Nutzer-Problematik bezeichnet. Um diesen Zustand aufzubrechen, steht der Gesetzgeber in der Pflicht, Rahmenbedingungen zu schaffen und positive Anreize zu setzen. Damit das Mietrecht nicht länger der umweltfreundlichen Sanierung im Wege steht, schlägt die FDPBundestagsfraktion vor, dem Vermieter ein Wahlrecht einzuräumen. Der Vermieter soll sich zukünftig entscheiden können zwischen der Modernisierungsmieterhöhung gemäß § 559 Abs. 1 BGB und einer Mieterhöhung im Wege einer vertraglichen Vereinbarung, bei der der Vermieter dem Mieter eine Betriebskostenersparnis mindestens in Höhe der Mieterhöhung garantiert. Weiterhin ist im Bürgerlichen Gesetzbuch zu regeln, dass Baumaßnahmen, die zur energetischen Sanierung oder zu anderen Umweltschutzzwecken durchgeführt werden, vom Mieter zu dulden sind und nicht zur Mietminderung berechtigen. Auf diese Weise soll verhindert werden, dass eine Maßnahme ganz unterbleibt oder aber dazu führt, dass der Vermieter während der Bauphase Mietausfälle zwischen 50 und 100 Prozent einkalkulieren muss. Weiterhin müssen Modernisierungsmieterhöhungen vereinfacht und die Umlage der Betriebskosten, die infolge einer energetischen Sanierung entstehen, erleichtert werden. Damit der gesamte Wohnungsbestand erfasst wird, sind Modernisierungsmieterhöhungen auch für Wohnungen mit Staffel- oder Indexmietverträgen zuzulassen und die Regelungen für Gewerbemieten und öffentlich geförderte Wohnungen zu überprüfen. Ein weiterer Ausweg aus dem Nutzer-Investor-Dilemma besteht im sogenannten Contracting, also in der Durchführung energetischer Maßnahmen durch Dritte. Hier handelt es sich um einen Bereich, der rechtlich und tatsächlich sehr stark im Fluss und wegen seiner Dynamik äußerst komplex ist. Hier ist die Bundesregierung aufgefordert, die hiermit im Zusammenhang stehenden Rechtsfragen unverzüglich durch Einholung eines Sachverständigengutachtens zu klären. Die erheblichen Potenziale, die sich aus dem Contracting ergeben können, dürfen nicht länger brachliegen, weil es in Deutschland keinen bzw. nur einen suboptimalen Rechtsrahmen gibt. Ich bin der Überzeugung, dass die FDP-Bundestagsfraktion hier und heute höchst praktikable Vorschläge unterbreitet hat, die nicht dem aktuellen Koalitionschaos zum Opfer fallen dürfen, sondern von der Regierung schleunigst umgesetzt werden sollten. Ich darf daran erinnern, die Regierung steht spätestens seit der Kabinettsklausur auf Schloss Meseberg im vergangenen Sommer im Wort. Die Vermieter und Mieter, aber auch die Bauwirtschaft warten darauf, dass den Ankündigungen nunmehr endlich auch im Bereich des Wohnungsbaus Taten folgen, Taten, die nicht nur wirtschaftlich etwas in Gang setzen, sondern von denen gerade auch die Umwelt profitieren wird. Zu Protokoll gegebene Reden

Heidrun Bluhm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003740, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Für die Fraktion Die Linke ist die Verbindung der sozialen Frage mit ökologisch und ökonomisch tragfähigen Konzepten von großer Wichtigkeit. Deshalb teilen auch wir das Grundanliegen, durch energetische Sanierung und Modernisierung der Gebäudesubstanz in der Bundesrepublik den CO2-Ausstoß zu reduzieren und damit Heiz- und Warmwasserkosten einzusparen. Die Bundesregierung hat im letzten Sommer Eckpunkte für ein Energie- und Klimaprogramm vorgelegt. Das Programm soll dazu beitragen, den Energieverbrauch beim Heizen, bei Haushaltsgeräten, Autos und Unternehmen zu senken. Die Bundesregierung hofft, bis zum Jahr 2020 so 40 Prozent des CO2-Ausstoßes zu vermeiden. Mit den geplanten Maßnahmen wird dies nach allen einschlägigen Berechnungen aber nicht erreichbar sein. Wenn man sich die gegenwärtige Zerstrittenheit in der Koalition insbesondere bei Klimaschutzmaßnahmen im Verkehr ansieht, kann man davon ausgehen, dass wohl nicht einmal die beschlossenen Eckpunkte umgesetzt werden. Von der letztjährigen Klimakanzlerin Merkel bleibt so kaum mehr als deren vollmundige Ankündigungen übrig. Die FDP-Fraktion hat das deutsche Mietrecht als ein Hindernis, wenn nicht gar das größte, bei der klima- und umweltfreundlichen Sanierung des Mietwohnungsbestandes in der Bundesrepublik ausgemacht und fordert in dem vorliegenden Antrag Mietrechtsänderungen. Die FDP kritisiert, ähnlich wie das Institut für Wirtschaftsforschung, dass Modernisierungen von Mietern zwar grundsätzlich geduldet werden müssten, aber nicht, wenn damit eine unzumutbare Härte für den Mieter verbunden ist, beispielsweise in Form von länger andauernden Lärmbelästigungen oder deutlichen Mietsteigerungen aufgrund der Modernisierungsumlagen. Sie kritisieren zum Beispiel, dass der Eigentümer nur 11 Prozent der Modernisierungskosten über Mietsteigerungen an den Mieter im Jahr weitergeben darf. Probleme gebe es darüber hinaus auch bei den Staffel- oder den Indexmieten. Auch hier gebe es kaum Möglichkeiten, die Modernisierungskosten an die Mieter weiterzugeben. Wir werden uns den Antrag der FDP sehr genau angucken. Eines kann ich schon jetzt versprechen: Einen Frontalangriff auf elementare Schutzbestimmungen für Mieterinnen und Mieter wird Die Linke nicht zulassen. Nicht ohne Grund wohnen gerade im unsanierten oder teilsanierten Wohnungsbestand aufgrund der preiswerteren Mieten einkommensschwache Bevölkerungsgruppen, die in vielen Fällen noch staatliche Leistungen wie Wohngeld oder KdU erhalten. Ungebremste Modernisierungsumlagen würden vor allem diese Menschen und die staatlichen Sicherungssysteme treffen. Mietervertreibung und stärkere Belastung der öffentlichen Kassen wären die Folgen. Das heißt nicht, dass wir gegen jegliche Möglichkeiten der Umlage auf die Mietpreise wären. Selbstverständlich haben auch die Mieterinnen und Mieter ein Interesse an Energieeffizienzmaßnahmen und an dem Einsatz erneuerbarer Energien. Sie müssen und dürfen deshalb in einem vertretbaren Umfang an den dadurch entstehenden Kosten beteiligt werden. Das bestehende Mietrecht schafft hierfür ausreichende Grundlagen. Eine Belastung der Mieterhaushalte über die bisherige gesetzliche Regelung hinaus ist sozial jedoch auf keinen Fall vertretbar. Wir sehen aber noch andere Möglichkeiten, Anreize für die energetische Sanierung der Wohnungsbestände zu schaffen. Das CO2-Förderprogramm muss verstetigt und finanziell ausgeweitet werden, Selbiges gilt für das Marktanreizprogramm für erneuerbare Energien. Vor allem aber müsste in das gegenwärtig in der Koalition verhandelte Erneuerbare-Energien-Wärmegesetz auch der Gebäudebestand einbezogen werden. Auch hier muss ein Mindestanteil erneuerbarer Energien vorgeschrieben werden, wenn eine grundlegende Sanierung oder ein Austausch der Heizungsanlage erfolgt. Aber da ist die Bundesregierung entgegen früherer Entwürfe vor der Immobilienwirtschaft eingeknickt. Modellprojekte zeigen, dass durch Wärmedämmung, neue Fenster oder effiziente Heizungen die Heizkosten um die Hälfte oder mehr gesenkt werden können. Denkbar ist eine Reform der Heizkostenverordnung. So könnte zum Beispiel für Gebäude mit Passivhaus-Standard eine Ausnahme von der Anwendung der Heizkostenverordnung gemacht werden. Eine Novellierung der Energieeinsparverordnung ist dringend erforderlich, in der Koalition aber, nach allem, was man liest, alles andere als unumstritten. Ab dem Jahr 2020 soll die Wärmeversorgung von Neubauten möglichst weitgehend unabhängig von fossilen Energieträgern sein. Im gleichen Zug müsste auch die Einhaltung der Energieeinsparverordnung durch die Hauseigentümer durch bessere Kontrollen gewährleistet werden; hier bestehen bislang noch große Defizite. So schreibt diese vor, dass Hauseigentümer bei bestimmten Sanierungsarbeiten auch die Energieeffizienz des Hauses verbessern müssen. Dies findet jedoch mangels Kontrollen durch die Bauaufsicht kaum statt. Das liegt daran, dass bisher auf das Festschreiben von Sanktionen gegen jene Hauseigentümer verzichtet wurde, welche die Einsparvorschriften nicht einhalten. Hier gibt es Verbesserungsbedarf. Wir setzen weiter auf den am 1. Juli dieses Jahres einzuführenden Energiepass. Ich hoffe, dass wir das politisch durchstehen. Solange es um Maßnahmen zum Klima- und Umweltschutz geht, sind wir an der Seite der Damen und Herren von der FDP-Fraktion. Bei Mietrechtsänderungen ist mit uns nicht zu rechnen.

Peter Hettlich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003554, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die FDP-Fraktion macht es sich in der Frage des Klimaschutzes im Gebäudesektor wieder einmal einfach. Sie stellt zunächst grundsätzlich ordnungsrechtliche Maßnahmen, unter anderem im EEW und in der EnEV 2009, als „unzweckmäßig“ dar und sucht daher ihr Heil im Emissionszertifikatehandel für den Wärmebereich. Dann beklagt sie, dass es zu wenig positive Anreize - wie verhält es sich eigentlich mit dem KfW-CO2-Gebäudesanierungsprogramm? - und viel zu viele Vorschriften gebe. Das Gedächtnis der FDP scheint sie aber gerade dann im Zu Protokoll gegebene Reden Stich zu lassen, wenn es um ihre eigenen Aktivitäten im Ordnungsrecht zu gehen scheint. Oder war sie 1977 bei der 1. Wärmeschutzverordnung ({0}), 1984 bei der 2. WSVO oder 1995 bei der 3. und letzten WSVO etwa nicht an der Regierung beteiligt? Das ist typisch für Sie, und es erinnert mich an die aktuelle Debatte um die Mineralölsteuer, von der zwar über 70 Prozent mit auf die Kappe der FDP gegangen ist, woran sich bei Ihnen aber auch niemand mehr erinnern will. Und dann machen Sie als Schuldige natürlich die Mieter aus, die es den Hauseigentümern vergällen würden, ihre Gebäude energetisch zu modernisieren. Da ist es auch keine Überraschung, dass bei der Formulierung Ihres Antrages wohl die Eigentümerschutzgemeinschaft Haus & Grund den Stift geführt hat, denn viele ihrer bekannten Forderungen finden sich im Antrag der FDP wieder. Bündnis 90/Die Grünen haben sich bislang bei Forderungen nach Mietrechtsänderungen zurückgehalten. Das Mietrecht ist kein Steinbruch, in dem beliebig herumgesprengt und -gebaggert werden kann, sondern es stellt eine bewährte Austarierung zwischen den Interessen von Mietern und Vermietern dar. Dennoch setzen wir uns im Rahmen der aktuellen Debatte zum Erneuerbare-Energien-Wärmegesetz ({1}), aber auch zur Novellierung der Energieeinsparverordnung ({2}) mit Proble- men des Mietrechts auseinander, und wir können uns da- her auch Änderungen und Klarstellungen im Mietrecht vorstellen. Die Frage der Berechtigung von Mietminderungen während Sanierungsmaßnahmen - § 536 BGB - lässt sich aber nicht so beantworten, dass das Recht auf Minderung stark eingeschränkt wird. Das hat ja selbst die FDP in ih- ren Forderungsteil nicht übernehmen wollen, obwohl sie vorher die angeblich überzogenen Mietminderungen bei Modernisierungsmaßnahmen beklagt hat. Eine Abgren- zung zwischen zu duldenden energetischen Sanierungs- maßnahmen und versäumten Instandhaltungsmaßnah- men des Eigentümers und damit auch die Frage nach der Berechtigung einer Mietminderung wird sich auch wei- terhin nur im Einzelfall und mit entsprechenden Nachwei- sen beantworten lassen. Diese Hausarbeit werden wir den Hauseigentümern nicht ersparen können, das gehört zum Einmaleins einer Vermietertätigkeit dazu. Und ich kann Sie beruhigen: Wenn Sie eine Sanierung vernünftig planen und durchführen, haben Sie anschließend für viele Jahre Ruhe im Haus. Mit einer generellen Duldungspflicht bei energeti- schen Modernisierungsmaßnahmen - § 554 BGB - wird unserer Ansicht nach der Ausgleich sozialer und anderer Härten aus dem Lot gebracht. Daher können wir uns hier nur dann eine Änderung vorstellen, wenn a) über unmiss- verständliche Definitionen der zu duldenden Maßnahmen und b) gleichzeitig auch über die Höhe der Modernisie- rungsmieterhöhung - § 559 BGB - gesprochen wird. Eine Änderung des Umschlageschlüssels von bisher 11Prozent pro Jahr auf zum Beispiel 5 Prozent pro Jahr, wie dies der Deutsche Mieterbund im Rahmen der Anhörung für den Einsatz erneuerbarer Energien - zum Beispiel Solarther- mische Anlagen - vorgeschlagen hat, könnten wir uns zum Beispiel auch für energetische Modernisierungs- maßnahmen vorstellen. Bei Modernisierungsmieterhöhungen für Staffel- oder Indexmietverträgen verstehe ich nicht, warum wir den Ei- gentümern hier aus der Bredouille helfen sollen, denn schließlich ist es ja deren freie Entscheidung, welche Form des Mietvertrages sie wählen. Man dürfte eigent- lich erwarten, dass bei Staffelmieten die Modernisie- rungsmieterhöhungen bereits mit eingepreist sind. Einem Streichen der Nachweispflichten - § 559 b BGB - werden wir ebenfalls keine Zustimmung erteilen. Sie stel- len keine unzumutbare Belastung für die Eigentümer dar, und auch von semiprofessionellen Vermietern darf erwar- tet werden, dass sie sich mit dieser Materie aus- einandersetzen. Wir halten übrigens Wärme-Contracting- und Ener- gie-Einspar-Contracting-Modelle für eine interessante Alternative. Auch der Bundesgerichtshof hat sich in sei- ner Rechtsprechung in jüngster Zeit nicht mehr als gene- rell „contracting-feindlich“ dargestellt. Ich verweise in diesem Zusammenhang auf das Gutachten des Instituts für Energiewirtschaftsrecht der Universität Jena aus 2007, in dem übrigens auch ein Formulierungsvorschlag für § 554 BGB für den Einbezug von Wärme-Contracting erarbeitet worden ist. Lassen Sie uns also in Ruhe und unaufgeregt über den besten Weg bei der Umsetzung der Klimaschutzziele im Gebäudebereich diskutieren. Schnellschüsse helfen uns dabei nicht weiter.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/7175 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sind Sie damit ein- verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a bis 20 c auf: a) Beratung der Unterrichtung durch die deutsche Delegation in der Euromediterranen Parlamentarischen Versammlung Zweite Plenartagung am 26. und 27. März 2006 in Brüssel ({0}) - Drucksache 16/9207 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({1}) Auswärtiger Ausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung b) Beratung der Unterrichtung durch die deutsche Delegation in der Euromediterranen Parlamentarischen Versammlung Dritte Plenartagung vom 16. bis 18. März 2007 in Tunis - Drucksache 16/8490 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({2}) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Auswärtiger Ausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung c) Beratung der Unterrichtung durch die deutsche Delegation in der Euromediterranen Parlamentarischen Versammlung Vierte Plenartagung am 26. und 27. März 2008 in Vouliagmeni ({3}), Griechenland - Drucksache 16/9183 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({4}) Auswärtiger Ausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu die- sem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. - Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich um folgende Kolleginnen und Kollegen: Thomas Dörflinger und Hans Raidel, CDU/CSU, Axel Schäfer, SPD, Dr. Karl Addicks, FDP, Alexander Ulrich, Die Linke, Rainder Steenblock, Bündnis 90/Die Grünen.1) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/9207, 16/8490 und 16/9183 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla Jelpke, Wolfgang Nešković, Sevim Dağdelen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE 15 Jahre nach Änderung des Grundrechts auf Asyl - Für einen rechtsstaatlichen Umgang mit Schutzsuchenden in Deutschland und in der Europäischen Union - Drucksache 16/8838 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({5}) Auswärtiger Ausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um folgende Kolleginnen und Kollegen: Reinhard Grindel, CDU/CSU, Rüdiger Veit, SPD, Hartfrid Wolff, FDP, Ulla Jelpke, Die Linke, Josef Winkler, Bündnis 90/Die Grünen.

Reinhard Grindel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003539, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Eine Vorbemerkung: Dass sich die SED-Nachfolge- partei, die sich bis heute nicht von Mauer, Stacheldraht 1) Anlage 9 und Schießbefehl distanziert hat, hier erdreistet, uns über die angebliche Abschaffung des Grundrechts auf Asyl mit einem infamen Antrag belehren zu wollen, ist ein unerträglicher Vorgang schlechthin. Sie haben weder politisch noch moralisch überhaupt das Recht, uns mit Belehrungen über die Rechte von politischen Flüchtlingen zu behelligen. Mit der Grundgesetzänderung 1993 ist das Grundrecht auf Asyl wieder auf seinen eigentlichen Kern, nämlich den Schutz politisch Verfolgter, zurückgeführt und ist der vieltausendfache Missbrauch dieses Grundrechts aus wirtschaftlichen Gründen sachgerecht bekämpft worden. Wir müssen uns die Situation nochmals vor Augen führen, die damals in Deutschland geherrscht hat. 1992 hatten wir 432 000 Asylbewerber, schwerpunktmäßig aus Rumänien und Bulgarien, die die betroffenen Städte und Gemeinden vor große organisatorische Probleme gestellt haben. Zur Unterbringung wurden Schulturnhallen umfunktioniert, sodass die Kinder keinen Sportunterricht mehr hatten, Hotels wurden in großem Stil angemietet, was zu enormen Kostenbelastungen für die betroffenen Kommunen führte. Gleichzeitig waren über 95 Prozent der Asylanträge offensichtlich unbegründet, und in den Städten und Gemeinden, die besonders viele Asylbewerber hatten, stieg die Kriminalität spürbar an. Das Resultat war, dass sich auch weltoffene und tolerante Menschen von diesem Ansturm überfordert fühlten. Die Aufnahmebereitschaft der Zivilgesellschaft war nicht mehr gegeben. Es waren gerade auch SPD-Bürgermeister aus den Kommunen vor Ort, die damals ganz erheblichen Druck auf ihre Genossen in Bonn machten, endlich einer Grundgesetzänderung zuzustimmen, was dann auch geschah. Mit der damals gemeinsam vereinbarten Drittstaatenregelung und der Vorschrift über die sicheren Herkunftsländer wurde eine sachgerechte Ergänzung des Asylgrundrechts vorgenommen, die vor allem auch im Zusammenwirken mit den Rückübernahmeabkommen mit einer Reihe von Herkunftsstaaten, wie etwa Rumänien, zu einem massiven Rückgang der Asylbewerberzahlen führten. Das Grundrecht auf Asyl als subjektives Recht eines jeden einzelnen Flüchtlings wurde erhalten. Von einer faktischen Abschaffung kann überhaupt nicht die Rede sein. Dabei will ich darauf verweisen, dass fast alle anderen EU-Länder ein Asylrecht als subjektives Grundrecht nicht kennen, sondern es in den allermeisten Staaten als Institutsgarantie und teilweise reines Gnadenrecht ausgestaltet ist. Wurde damals, 1993, davon gesprochen, Flüchtlinge könnten nur noch mit einem Fallschirm über Deutschland abspringen, um hier Asyl beantragen zu können, so sprechen die Zahlen eine deutlich andere Sprache. Nach wie vor haben wir pro Jahr rund 20 000 Asylbewerber, die allerdings durch die zügigeren Verfahren schneller Klarheit bekommen und die Kassen der Länder und Kommunen nicht mehr so sehr belasten wie früher. Im Übrigen will ich darauf verweisen, dass die Zahl der Asylbewerber in diesem Jahr wieder steigt, was vor allem auf Antragsteller aus dem Irak zurückzuführen ist, die auch in aller Regel einen Aufenthaltstitel erhalten. Das Grundrecht auf Asyl wirkt also in seiner Kernfunktion. Ich will bei dieser Gelegenheit allerdings betonen, dass es integrationspolitisch sicher besser gewesen wäre, wenn wir viel früher die Kraft zu einer Grundgesetzergänzung gefunden hätten. Der Missbrauch des Asylrechts in den 80er- und frühen 90er-Jahren hat zu einer völlig ungesteuerten Zuwanderung nach Deutschland geführt. Die Menschen, die damals zu uns kamen und zu einem großen Teil aus verschiedenen Gründen bis heute - Asylanerkennung ja oder nein - geblieben sind, wurden nicht so frühzeitig mit Integrationsangeboten konfrontiert, wie das heute der Fall ist. Ich weise ausdrücklich den Vorwurf der Linken zurück, die Asylbewerber würden entwürdigend untergebracht und ihre Versorgung sei diskriminierend. In kaum einem anderen europäischen Land erhalten Asylbewerber solch umfassende Sozialleistungen wie in Deutschland. Das hat gerade Ende der 80er- und zu Beginn der 90er-Jahre zu den Pull-Effekten geführt, die wir an den hohen Zugangszahlen ablesen konnten. Die Asylbewerber sind, beraten durch Schlepper und Schleuser, damals gerade in die Regionen gezogen, wo es keine Naturalleistungen, sondern Bargeld gab. Ich will nur darauf verweisen, dass es für viele Frauen und Kinder zu erheblichen Problemen kam, weil das Bargeld von den Familienvätern in aller Regel nahezu vollständig für den Eigenverbrauch genutzt wurde. Die Gemeinschaftsunterkünfte sind alle sehr menschenwürdig ausgestaltet und machen nicht nur eine gute Verpflegung möglich, sondern sorgen auch dafür, dass die Asylverfahren zügig durchgeführt werden können. Ich will hier hervorheben, dass doch die Erfahrung von vor 15 Jahren zeigt, dass es für ein friedliches Zusammenleben von Wohnbevölkerung und Asylbewerbern notwendig ist, dass nicht der Eindruck einer Überversorgung der Asylbewerber entsteht. Bei den Arbeitsmöglichkeiten für Asylbewerber kommt es auf eine vernünftige Abwägung an. Einerseits dürfen keine zusätzlichen Pull-Effekte entstehen, andererseits wollen wir auch den Rahmen dafür schaffen, dass die Asylbewerber selbst etwas zu ihrem Lebensunterhalt beitragen und damit die staatlichen Kassen entlasten. Deshalb ist das einjährige Arbeitsverbot ebenso sinnvoll wie die deutlichen Erleichterungen, die wir im Arbeitserlaubnisrecht für Asylbewerber vorgenommen haben. Das Dublin-Verfahren und die bisher auf EU-Ebene verabschiedeten Asylrichtlinien sorgen für einheitlichere Verfahren, die durch vergleichbarere Sozialstandards begleitet werden sollten. Wir brauchen Rechtsgrundlagen, wonach sich gerade auch die Transitländer von Asylsuchenden verpflichtet fühlen, dem Missbrauch des Asylrechts entgegenzuwirken. Gleichzeitig will ich mit Blick auf das von Frankreich für deren Präsidentschaft im zweiten Halbjahr 2008 vorbereitete Asylpaket deutlich betonen, dass wir von einer Möglichkeit, Asylanträge auch in Drittstaaten stellen zu können, überhaupt nichts halten und dies ablehnen. Dieses würde nur zu einem neuerlichen Ansturm von Menschen führen, die aus wirtschaftlichen und sozialen, nicht aber politischen Gründen ihr Land verlassen wollen. Fluchtursachen müssen aber in erster Linie vor Ort bekämpft werden. Wir würden damit im Ergebnis auch nur Schlepper- und Schleuserbanden zu den Gewinnern einer solchen EU-Regelung machen. Die Entwicklung in vielen anderen europäischen Ländern, wie Dänemark oder Italien, zeigt, dass nur durch einen konsequenten Kampf gegen Scheinasylanten und Wirtschaftsflüchtlinge dem menschenverachtenden Schlepper- und Schleuserwesen entgegengewirkt werden kann. Der Antrag der Linken ist weltfremd, nicht europatauglich und vor allem integrationspolitisch gefährlich. In Wahrheit geht es den Linken darum, das Asylrecht wieder zum Einfallstor für die von ihnen gewollte unbegrenzte und ungesteuerte Zuwanderung zu machen. Das aber lehnen wir entschieden ab.

Rüdiger Veit (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003249, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

15 Jahre ist es her, dass die Asylrechtsreform beschlossen wurde. Die Fraktion Die Linke nimmt das zum Anlass, sich für einen rechtsstaatlichen Umgang mit Schutzsuchenden in Deutschland und in der Europäischen Union einzusetzen. In diesem Grundanliegen findet sie meine volle Unterstützung. Ich darf an das erinnern, was ich bereits vor drei Wochen in diesem Kreis gesagt habe: Angesichts stetig sinkender Asylbewerberzahlen haben wir keinerlei Anlass, etwaige hartherzige Abschottungstendenzen aufrechtzuerhalten. Gleichwohl gibt der Antrag nicht in allen Punkten die Positionen der SPD wieder. Wenn wir über die heutige Situation Asylsuchender sprechen, so müssen vorangegangene Bemühungen ebenso wie die geänderte Situation nach dem Richtlinienumsetzungsgesetz nüchtern und ausgewogen betrachtet werden. Zwar stimme ich dem Antrag in der Forderung zu, dass 16- bis 17-Jährige im Asylverfahren endlich mit anderen Minderjährigen gleichgestellt werden müssen. Das wird Sie nicht überraschen; denn ich wiederhole damit nicht nur meine persönliche Meinung, sondern auch die der SPD-Bundestagsfraktion. Unter Rot-Grün haben wir ebendiese Forderung in mehreren Anträgen vorgebracht, sind aber bekanntlich am Widerstand der Länder gescheitert. Ebenso teile ich die Einschätzung, dass nicht alle EGRichtlinien vollständig umgesetzt wurden. In der Tat ist die genannte Ausgestaltung von § 60 Abs. 7 AufenthG aus gemeinschaftsrechtlicher Perspektive kritikwürdig. Die sogenannte verfahrensrechtliche Sperrklausel, wonach Gefahren, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, nur bei Duldungen nach § 60 a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen, bleibt hinter dem Schutzniveau der Qualifikationsrichtlinie zurück. Doch wenn schon die Umsetzung der EG-Richtlinien angesprochen wird, so möchte ich auf ein nach wie vor drängendes Problem hinweisen, das im Antrag leider nicht benannt wird: Auch bei der Richtlinie über Aufnahmebedingungen sollten wir kritisch überprüfen, ob Opfer von Folter und Gewalt die Leistungen erhalten, die ihnen nach Gemeinschaftsrecht zustehen. Wir sind verpflichtet, ihnen die erforderliche Behandlung zu gewähren. Die Zu Protokoll gegebene Reden geltenden Regeln des Asylbewerberleistungsgesetzes gewährleisten das nicht ausreichend. Allerdings erwähnt der Antrag nicht, dass wir mit dem Richtlinienumsetzungsgesetz auch Verbesserungen erreichen konnten. So spricht er zu Recht die Arbeits- und Ausbildungsverbote für Asylsuchende und Geduldete an. Leider aber verschweigt er, dass eben dieser Gruppe durch die Bemühungen der SPD nunmehr nach vier Jahren der Zugang zum Arbeitsmarkt ohne Arbeitsmarktprüfung und ohne Beschränkung auf einen bestimmten Arbeitsplatz ermöglicht werden kann. Auch andere Verbesserungen konnten wir erreichen: Die Einbürgerungsfrist wurde von acht bzw. sieben Jahren auf sechs vermindert, sofern entsprechende Deutschkenntnisse vorliegen. Als Nebenprodukt der - eigentlich nicht erwünschten - Einführung des Transitgewahrsams wird nunmehr auch ansonsten der Verbleib in der Flughafenunterkunft nur noch mit richterlicher Anordnung zulässig sein. Und zuletzt konnten wir die gesetzliche Altfallregelung durchsetzen, die mir, wie Sie alle wissen, stets ein besonderes Anliegen gewesen ist. Zwar bleibt die Altfallregelung in vielen Punkten hinter dem zurück, was ich mir gewünscht habe. Doch bitte ich Sie, zu berücksichtigen, was der Antrag der Fraktion Die Linke eben gerade nicht berücksichtigt: Das Richtlinienumsetzungsgesetz war das Ergebnis schwieriger Verhandlungen zwischen Koalitionspartnern, die im Bereich Asyl und Einwanderung sehr unterschiedliche programmatische Grundsätze haben. Dass die SPD dem Gesetz zugestimmt hat, war Ergebnis eines langen Abwägungsprozesses. Nicht zuletzt um mehreren Zehntausend Geduldeten endlich die Integration zu ermöglichen, haben wir uns mehrheitlich dafür entschieden, dem Kompromiss zuzustimmen. Lassen Sie mich zuletzt die europäische Ebene ansprechen. Der Antrag verweist in aller Kürze auf zwei ebenso drängende wie umstrittene Fragen. Zum einen ist dies die Frage, ob das Zurückweisungsverbot der Genfer Flüchtlingskonvention auch auf hoher See gilt. Das bejahe ich. Ich teile insoweit die Einschätzung des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen sowie des Deutschen Instituts für Menschenrechte und mehrerer deutscher NGOs, die dies im vergangenen Jahr mit überzeugenden Studien belegt haben. Zum anderen ist dies die im Antrag angesprochene Frage nach einem Lastenteilungssystem jenseits der geltenden Dublin-II-Verordnung. Über ein solches Lastenteilungssystem müssen wir dringend diskutieren - dies aber nicht allein aus Solidarität gegenüber schutzsuchenden Flüchtlingen. Nein, als Europäer trifft uns auch die Pflicht, uns gegenüber den anderen Mitgliedstaaten solidarisch zu zeigen. Warum beispielsweise soll ein kleiner Staat wie Malta eine im Verhältnis zur eigenen Größe ungleich höhere Verantwortung tragen müssen als Deutschland? Doch wenn schon die europäische Ebene angesprochen wird, dann möchte ich fragen: Warum so knapp? Im Parlament haben wir bislang zu wenig über die Vorschläge diskutiert, die die Europäische Kommission im vergangenen Sommer in ihrem „Grünbuch über das künftige gemeinsame Europäische Asylsystem“ gemacht hat, und das, obwohl einige davon durchaus diskussionswürdig sind. Lassen Sie mich drei davon aufgreifen. Erstens hat die Kommission vorgeschlagen, bei der Asylverfahrensrichtlinie einzelne Verfahrensansätze kritisch zu überprüfen, insbesondere die der sicheren Herkunftsländer, der sicheren Drittstaaten und der sicheren europäischen Drittstaaten. Zweitens regt sie an, in der Richtlinie über Aufnahmebedingungen Asylbewerbern Zugang zum Arbeitsmarkt zu geben. Ich halte das zumindest dann für bedenkenswert, wenn sich das Asylverfahren über einen langen Zeitraum zieht. Drittens und letztens stellt ein Vorschlag zur Qualifikationsrichtlinie eine wirkliche Innovation dar. Die Kommission möchte den Status von subsidiär Schutzberechtigten dem der Flüchtlinge im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention angleichen. Lange wurde davon ausgegangen, dass subsidiär Schutzberechtigte in zeitlicher Hinsicht nicht so lange schutzbedürftig sind wie Konventionsflüchtlinge. Das aber hat sich in der Lebenswirklichkeit als falsch herausgestellt. Sehen wir also den Tatsachen ins Auge, und denken wir offen darüber nach, ob wir Menschen mit gleichem Schutzbedürfnis künftig die gleichen Rechte verleihen möchten. Zusammenfassend möchte ich die guten Grundanliegen des Antrages der Linken nicht kleinreden. Ebenso wenig aber sollten wir das, was wir in Deutschland mit dem Richtlinienumsetzungsgesetz erreicht haben - trotz seines Kompromisscharakters -, kleinreden. Und zuletzt sollten wir als Europäer nicht nur einzelne Bestandteile der europäischen Debatte aufgreifen, sondern uns ausführlich und wohlwollend mit den Vorschlägen aus dem Grünbuch befassen. Der Antrag der Fraktion Die Linke ist, jedenfalls in dieser Form, abzulehnen.

Hartfrid Wolff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003866, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Der Antrag der Linken ist eine Zumutung. Er ist, insbesondere in der Begründung und auch generell in der Tonlage inakzeptabel und ein einziger Affront gegen den demokratischen Rechtsstaat Bundesrepublik Deutschland. Schon der Titel unterstellt, die Bundesrepublik sei in den vergangenen 15 Jahren nicht rechtsstaatlich mit Asylsuchenden umgegangen. In der Begründung behaupten die Linken, „rechte Kräfte“ hätten das deutsche Asylrecht erfolgreich bekämpft und vor 15 Jahren die damalige Grundgesetzänderung herbeigeführt. Zudem behauptet die Linke, die damaligen Bundestagsabgeordneten seien eine „unheilige Allianz mit der Gewalt der Straße“ eingegangen und hätten das „Anliegen der Gewalttäter“ bei „Übergriffen und Brandanschlägen von Rechtsextremisten“ „geteilt“. Das ist eine Beleidigung aller damals an dieser parlamentarischen Entscheidung mitwirkenden Parteien, also nicht nur der CDU/CSU, sondern auch der FDP und der SPD. Diese Ausführungen der Linken haben volksverhetzenden Charakter. Sie gipfeln in der Aussage: Die handelnden Politiker waren es, die mit ihrer Instrumentalisierung von Überfremdungsängsten den Hass in der Bevölkerung mit schürten.“ Zu Protokoll gegebene Reden Hartfrid Wolff ({0}) Sie hätten sogar „das Pogrom in Rostock-Lichtenhagen“ für ihre Zwecke instrumentalisiert. Es mag ja durchaus auch aus liberaler Sicht Verbesserungsbedarf in der deutschen Asylpraxis geben. Der beleidigende und den demokratischen Rechtsstaat Bundesrepublik herabsetzende Antrag der Linken macht eine sachliche Auseinandersetzung mit diesem Thema allerdings unmöglich. Dazu mögen sich andere Anträge eignen - dieser sicherlich nicht. Eine Partei, die so etwas als Antrag ins Parlament einbringt, sollte nicht als Mehrheitsbeschafferin für Bundespräsidentenwahlen hofiert, sondern klar in ihre Schranken gewiesen werden. Sie hat keinerlei moralische Legitimation, sich immer wieder als Anwalt von Grund- und Menschenrechten aufzuspielen.

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Fast auf den Tag genau vor 15 Jahren, am 26. Mai 1993, beschlossen die Fraktionen von Union, SPD und FDP im Bundestag, das Grundrecht auf Asyl faktisch abzuschaffen. Das war damals der traurige Höhepunkt einer Entwicklung, die bereits in den 80er-Jahren begann. Sie war gekennzeichnet von rassistischer Hetze aus der sogenannten Mitte der Gesellschaft und neofaschistischer Gewalt gleichermaßen. Zugespitzt hatte sich die damalige demokratie- und menschenverachtende Stimmung in den Pogromen von Hoyerswerda 1991, Rostock-Lichtenhagen und Mölln 1992. Von 1990 bis 1992 verfünffachte sich die Zahl rechter Gewalttaten. Ständig gab es Meldungen über Anschläge auf Asylbewerberheime. Drei Tage nach dem Beschluss des Bundestages starben fünf Menschen durch einen rassistisch motivierten Brandanschlag auf ihr Haus in Solingen. Die Verantwortung für diese Stimmung lag bei einer jahrelangen Hetzkampagne von Politik und Medien gegen angeblichen „Asylmissbrauch“ und „Sozialschmarotzer“ sowie eine herbeihalluzinierte „Asylantenflut“. Führende Politiker schürten die Hetze, sodass gewalttätige Rassisten und Neonazis glauben konnten, die Vollstrecker des sogenannten Volkswillens zu sein. Edmund Stoiber ({0}) hatte als bayerischer Innenminister bereits 1988 vor einer „durchmischten und durchrassten Gesellschaft“ gewarnt. „Kein Volk wird eine Überfremdung ohne Konflikt hinnehmen, es kann sie gar nicht hinnehmen“, erklärte der CSU-Abgeordnete Norbert Geis während der Asyldebatte im Bundestag. Auch prominente Sozialdemokraten stimmten in den rassistischen Chor ein. „Wir können nicht der Lastesel für die Armen der Welt sein“, wetterte der Münchner Oberbürgermeister Georg Kronawitter im September 1992. „Der Unmut bei den Menschen ist riesig. Glauben Sie denn, dass die ruhig hinnehmen werden, wenn Millionen Ausländer ungeordnet in unser Land fluten?" Was damals beschlossen wurde, nannte sich „Asylkompromiss“. Das war schon damals eine heuchlerische Verschleierung. Denn inhaltlich ging es darum, zuvor ungeahnte Diskriminierungen einzuführen. Beschlossen wurde die sogenannte Herkunfts- und Drittstaatenregelung. Damit wurden viele Asylantragsteller von vornherein von Schutz ausgeschlossen. Zugleich wurden die Rechte der Betroffenen eingeschränkt, sich gerichtlich gegen die Behörden zur Wehr zu setzen. Beschlossen wurde das Asylbewerberleistungsgesetz, mit dem die Sozialleistungen auf 360 D-Mark abgesenkt wurden. Bis heute sind diese Sätze nicht erhöht worden; die Betroffenen kriegen also knapp 184 Euro. Die meisten Asylsuchenden erhalten aber Sachleistungen, kriegen also Essen und Kleidung geliefert und leben in Sammelunterkünften. Damit werden sie in ihrer Lebensgestaltung krass eingeschränkt. Beschlossen wurde auch die Residenzpflicht. Asylsuchende dürfen sich nur in den Landkreisen oder Städten bewegen, denen sie „zugeteilt“ worden sind. Zusammengefasst: Schutzsuchende werden in diesem Land an jeder Form eigenständiger Lebensgestaltung gehindert. Gleichzeitig stehen sie unter Arbeitsverbot und sind vollständig der behördlichen Willkür ausgeliefert. Die Entwicklung, die vor 15 Jahren in der faktischen Abschaffung des Asylrechts gipfelte, ist bis heute nicht abgeschlossen. Immer noch wird jede Änderung des Asyl- und Flüchtlingsrechts in diesem Hause genutzt, um die Rechte der Betroffenen einzuschränken. In den letzten Jahren sind die Zahlen von Asylbewerbern und Flüchtlingen in Deutschland massiv gesunken. Lediglich 19 000 Menschen gelang es im vergangenen Jahr noch, einen Asylantrag zu stellen. Zum Vergleich: Gegen 25 000 anerkannte Asylbewerber und Flüchtlinge wurden im vergangenen Jahr Widerrufsverfahren eingeleitet. Damit wird eins deutlich: Die Maxime der Bundesregierung und der EU lautet: Abschottung geht vor Humanität. Die Asyldebatte vor 15 Jahren war ein schwarzer Tag für das Parlament, aber mehr noch für die schutzsuchenden Menschen. Die Substanz eines Grundrechts wurde am 26. Mai 1993 zerstört. Übrig blieb eine bloße Hülle wortreicher Paragrafen. Eine solche Politik nimmt die Menschenrechte und die rechts- und sozialstaatlichen Verpflichtungen der Verfassung nur dem Scheine nach ernst. Wir fordern daher die Wiederherstellung eines effektiven Flüchtlingsschutzes. Diese Forderung gilt nicht nur für Deutschland, sondern auch für die EU. Es muss endlich Schluss damit sein, dass deutsche Innenminister an vorderster Front den europäischen Flüchtlingsschutz sturmreif schießen. Stattdessen fordern wir die konsequente Umsetzung des Zurückweisungsgebotes der Genfer Flüchtlingskonvention für die Flüchtlinge an den Außengrenzen der EU. Statt bürokratischer Verteilung von Flüchtlingen innerhalb der EU brauchen wir endlich eine solidarische europäische Lastenteilung. In Deutschland muss dass menschenunwürdige System der Abschreckung von Flüchtlingen endlich beendet werden. Wir fordern die Abschaffung der Residenzpflicht, des Asylbewerberleistungsgesetzes und der geltenden Arbeits- und Ausbildungsverbote für Asylsuchende und Geduldete. Die UN-Kinderrechtskonvention muss endlich in vollem Umfang auch für Flüchtlingskinder gelten. Die Zu Protokoll gegebene Reden Behandlung von 16- und 17-Jährigen als Erwachsene im Asylverfahren muss endlich beendet werden. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die volle Wiederherstellung des Rechtsschutzes in allen asyl- und aufenthaltsrechtlichen Verfahren. Es kann nicht sein, dass man einen Menschen abschiebt, der noch ein Verfahren gegen seine Ablehnung als Asylbewerber betreibt. 15 Jahre nach der faktischen Abschaffung des Rechts auf Asyl wird es endlich Zeit, dass die Politik der Abschottung ein Ende hat. Dabei geht es nicht nur um die Verfolgten, die bei uns Schutz suchen. Heribert Prantl hat 1994 auf diesen Eingriff ins Grundgesetz zurückgeblickt und schon damals festgestellt: „Die Asylpolitik der letzten zwanzig Jahre ist … das Menetekel für die allgemeine Politik der inneren Sicherheit in den nächsten zwanzig Jahren.“ Die SPD reiche der Union die Hand bei der Demontage des Rechtsstaates. Diese Vorhersage hat sich mittlerweile leider bestätigt.

Josef Philip Winkler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003660, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Es ist schon erstaunlich, dass unter dem heute behandelten Antrag der Linksfraktion, der an die Asylgrundgesetzänderung vor 15 Jahren erinnern soll, ausgerechnet der Name Oskar Lafontaine steht. Zur Erinnerung ein Zitat von Herbert Leuninger, damaliger Sprecher der Flüchtlingsorganisation Pro Asyl und im Begründsteil des vorliegenden Antrags einer der Kronzeugen der Linksfraktion: Oskar Lafontaine hat als wichtiger Vordenker der SPD entscheidend dazu beigetragen, dass das Grundrecht auf Asyl in der Verfassung eingeschränkt werden konnte. Lafontaine kündigt im Juli 1990 an, er schließe eine Änderung des Asylrechts nicht mehr aus, und bietet im Bundesrat den Unionsparteien an, eine gemeinsame Position zu erarbeiten. Lafontaine hat einen entscheidenden Schritt auf eine große Koalition hin gemacht. Der gewisse Schutz, den Flüchtlinge in SPD-geführten Ländern immer noch genossen, ist dabei so gut wie beseitigt worden. Dies ist eine neue Dimension der Entsolidarisierung. Lafontaine hat es geschafft, dass sich die Asylinitiativen wie nie zuvor auf die eigene schmale Basis zurückgeworfen fühlen. Ein weiteres Zitat, von Kollegin Ulla Jelpke - veröffentlicht in der Zeitschrift „Ossietzky“, 14/2005 -: Es war Oskar Lafontaine, der 1989 jene Debatte über angeblichen „Asylmißbrauch“ in Gang setzte, die 1993 in die faktische Abschaffung des Asylrechtes mündete: Mit seiner Rhetorik gelang es Oskar Lafontaine, das Asylrecht sturmreif zu schießen. Schrittweise zog Lafontaine die Sozialdemokratie auf seine Seite, bis sie den Widerstand gegen die CDU/CSU aufgab und in einer faktischen großen Koalition der faktischen Abschaffung des Asylrechtes zustimmte. Lafontaine brachte als erster in der SPD die sogenannten sicheren Herkunftsstaaten ins Spiel. Lafontaine sprach damals von der „Drittstaatenregelung“ als „von einem wirklichen Schritt nach vorne“. Und es war Lafontaine, der als damaliger Ministerpräsident des Saartandes noch lange vor der Einführung eines Asylbewerberleistungsgesetzes die Sozialhilfe für Flüchtlinge nicht mehr auszahlte, sondern auf Sachleistungen umstellte. Oskar Lafontaine muss sich die Frage nach seiner Mitschuld an der heutigen rigiden Ausländerpolitik gefallen lassen. Sie gestehen mir zu, dass dies alles nicht für die Glaubwürdigkeit der Linksfraktion spricht. Art. 16, Abs. 2, Satz 2 des Grundgesetzes war die historische Antwort des Parlamentarischen Rates 1948/49 auf die Rettung vieler im nationalsozialistischen Deutschland Verfolgter durch Aufnahme im Ausland. Die Botschaft von Art. 16 GG wurde in den 1980er-Jahren Anlass zum Streit um den Widerspruch zwischen Asylrecht und Asylpraxis - das heißt, zwischen Verfassung und Verfassungswirklichkeit, und schließlich um die Änderung des Grundgesetzartikels selbst. Hintergrund waren die Dimensionen des Weltflüchtlingsproblems am Ende des 20. Jahrhunderts. Die immer noch häufig verbreitete Meinung, wonach Deutschland das liberalste Zugangsrecht in Europa habe, ist spätestens seit dem Asylkompromiss von 1993 überholt. Im Gegenteil: Wir halten am restriktivsten Zugangsrecht fest, ohne uns eine liberale Anerkennungspraxis zu leisten. Ziel des Asylverfahrens muss es aber sein, den Schutzbedarf von Asylsuchenden zu ermitteln. Das gegenwärtige Asylsystem und seine periodische Reformierung seit Beginn der 80er-Jahre gehen jedoch davon aus, den vermeintlichen „Asylmißbrauch“ zu bekämpfen. Sowohl auf der Seite der materiellen Anerkennungsvoraussetzungen als auch bezüglich des Verfahrens sind immer noch eklatante Mängel zu verzeichnen. Resultat sind erhebliche Schutzlücken für Verfolgte und ein eklatanter Vertrauensverlust in die Fähigkeit des deutschen Asylsystems, Schutzbedürftige zu erkennen und wirksam zu schützen. In den vergangenen Jahren ist ein undurchsichtiges System von Zuständigkeiten für Entscheidungen über den Schutz von Einzelnen und Gruppen entstanden. Deutlich wird dabei nur eines: Ob Bund oder Land, Exekutive, Parlament oder Gerichte, jeder kann rechtlich begründet behaupten, er sei für die Entscheidung über das Schutzbegehren eines Flüchtlings nicht zuständig oder könne dies nicht allein entscheiden. Das Bundesamt verweist auf die Gerichte, das Bundesverwaltungsgericht auf die Politik, die Bundespolitik kann nicht ohne die Länder, die Länder nicht ohne den Bund und die Zustimmung der anderen Länder. Im Ergebnis überlässt das deutsche Asylsystem den Schutz von Flüchtlingen viel zu oft den fehlenden Flugverbindungen nach Kabul oder Mogadischu. Das Interesse an einer Rückführung der Asylantragsteller in ihre Herkunftsländer bzw. in Dublin-II-Staaten überlagert das Prüfungsverfahren bis in die in der Anhörung gestellten Fragen - hier ist vor allem der Reiseweg interessant; das Verfolgungsschicksal der Antragsteller ist eher von nachrangiger Bedeutung - hinein. Die persönliche Anhörung ist das Herzstück des Asylverfahrens. Das Bundesamt erweckt hier oft den Eindruck, dass es Zu Protokoll gegebene Reden kein wirkliches Interesse an einer einzelfallbezogenen Entscheidung hat, weil in der Praxis die persönliche Anhörung und die Abfassung des Bescheides häufig von zwei verschiedenen Mitarbeitern vorgenommen werden. Standardisierte Handlungsanleitungen mit Leitsätzen und Textbausteinen der Amtsleitung führen zu Entscheidungen, die oft sehr wenig mit dem individuellen Schicksal des Asylbewerbers zu tun haben. Die Praxis der in großer Zahl eingeleiteten Widerrufsverfahren gegen einmal gewährtes Asyl widerspricht den flüchtlingsrechtlichen Grundsätzen der Genfer Flüchtlingskonvention in eklatanter Weise. Die Widerrufspraxis des Bundesamtes blendet die Sicherheitsbedingungen in den jeweiligen Herkunftsländern aus. Riesige Arbeitsbeschaffungsprogramme, die in tausendfachen Widerrufen der Flüchtlingseigenschaft münden, sind ein Verstoß gegen die Genfer Flüchtlingskonvention, menschenrechtswidrig, inhuman und schaffen nach dem Auslaufen der ohnehin engherzigen gesetzlichen Bleiberechtsregelung für die bislang Geduldeten die nächsten Geduldeten. Kein anderer EU-Staat kennt eine vergleichbare Praxis der Massenwiderrufe. Im wohlverstandenen Öffentlichen Interesse ist es nicht, wenn Zehntausende vom gesicherten Status in die Duldung gedrängt werden, aber weder unter zumutbaren Bedingungen ausreisen können, noch abgeschoben werden, weil die Bedingungen in den Herkunftsstaaten dies nicht zulassen. Auch das im vergangenen Jahr beschlossene Gesetz „zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der EU“ ist flüchtlingsfeindlich, rückwärtsgewandt und integrationshemmend. Wichtige gemeinschaftsrechtliche Verpflichtungen im Flüchtlingsrecht wurden gar nicht, nur unvollständig oder mangelhaft umgesetzt. Gleichzeitig enthält das Gesetz Rechtsänderungen, die in keinem Zusammenhang mit dem Europarecht stehen. So wird die Umsetzung für Verschärfungen des Asylrechts missbraucht, etwa für die Einführung einer „Zurückweisungshaft“. Nach EU-Recht müssten Menschen, die vor „willkürlicher Gewalt“ im Rahmen von bewaffneten Konflikten nach Deutschland geflohen sind, künftig einen Abschiebungsschutz erhalten. Das Gesetz enthält aber den Begriff der „willkürlichen Gewalt“ nicht. Die Schutzbedürftigen sollen keinen individuellen Schutzanspruch einklagen können, sondern sind auf Abschiebungsstopps der Bundesländer angewiesen. Die Länder drängen jedoch auf Abschiebung - selbst nach Afghanistan und in den Irak. Tausenden Betroffenen droht damit weiterhin die Abschiebung in Kriegs- und Krisengebiete. EU-Staaten dürfen künftig Asylsuchende zurückweisen, wenn der Verdacht besteht, dass ein anderer EU-Mitgliedstaat für das Asylverfahren zuständig sei. Gegen eine solche Zuständigkeitsentscheidung gibt es grundsätzlich keinen Eilrechtsschutz mehr. Damit können Abschiebungen in andere EU-Staaten nicht verhindert werden, selbst wenn sie inhuman oder rechtswidrig sind, Asylsuchende sollen so lange in Haft bleiben, bis die Zuständigkeit geklärt ist. Eine derartige „Zurückweisungshaft“ verletzt internationale Standards, nach denen Flüchtlinge während des Asylverfahrens generell nicht in Haft genommen werden sollen. Ebenfalls ein menschenrechtlicher Skandal ist der Kompromiss zur „Rückführungs-Richtlinie“, auf den sich eine EU-Ratsarbeitsgruppe am 22. Mai in Brüssel geeinigt hat. In dieser Richtlinie werden die Dauer und die Bedingungen der Abschiebehaft für die Mitgliedstaaten verbindlich geregelt. Nach dem Kompromiss können abgelehnte Asylbewerber künftig bis zu 18 Monate lang inhaftiert werden, wohlgemerkt: ohne Straftäter zu sein. Dies ist unverhältnismäßig und inhuman. Perspektivisch müssen zur Verbesserung eines umfassenden Flüchtlingsschutzes folgende Maßnahmen ergriffen werden: Zwar ist das Interesse der Mitgliedstaaten an Steuerung der Zuwanderung als solches legitim. Sie haben jedoch durch geeignete Vorkehrungen Sorge dafür zu tragen, dass durch ihre Maßnahmen nicht Schutzbedürftige gegen ihren Willen unmittelbar oder mittelbar in ihre Herkunftsländer zurückgeführt werden. Es ist an der Zeit, europäische Aufnahmeprogramme für Flüchtlinge - Refugee Resettlement Programmes - zu beschließen. Asylsuchenden ist während des Verfahrens grundsätzlich die Bewegungsfreiheit auf dem Bundesgebiet zu gewähren. Der weiteren Aufrechterhaltung aufenthaltsbeschränkender Maßnahmen gegenüber Asylsuchenden mangelt es angesichts der im vergangenen Jahrzehnt drastisch gesunkenen Zahl der Asylsuchenden an einer Legitimation. Sie sind deshalb aufzuheben. Für die asylrechtliche Tatsachenermittlung sind optimale verfahrensrechtliche Voraussetzungen zu schaffen. Den vom allgemeinen Verfahrens- und Verwaltungsprozessrecht abweichenden Rechtsschutzverkürzungen mangelt es angesichts der im vergangenen Jahrzehnt drastisch gesunkenen Zahl der Asylsuchenden an Legitimation.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/8838 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Erb- und Verjährungsrechts - Drucksache 16/8954 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({0}) Finanzausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Dirk Manzewski. ({1})

Dirk Manzewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003177, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Freunde der Rechtspolitik! Wir debattieren hier heute in erster Lesung über die Reform des Erb- und Verjährungsrechts. Das Erbrecht, wie wir es kennen, besteht in seiner Struktur seit über 100 Jahren. Es ist daher völlig richtig und normal, immer wieder einmal zu überprüfen, inwieweit dieses Erbrecht auf neue gesellschaftliche Wertvorstellungen und geänderte gesellschaftliche Entwicklungen noch zeitgemäße Antworten bietet. Um eines aber gleich klarzustellen: Wir haben ein gutes Erbrecht, das sich grundsätzlich bewährt hat. Deshalb sollte man jede beabsichtigte Veränderung im Hinblick auf ihren Sinn und Nutzen genauestens überprüfen. ({0}) In meiner Rede werde ich mich darauf konzentrieren, einige kritische Fragen für die in den kommenden Wochen folgende Diskussion aufzuwerfen. So sieht der Gesetzentwurf beim Erbausgleich eine bessere Honorierung von Pflegeleistungen vor. Künftig soll jeder gesetzliche Erbe einen Ausgleich für Pflegeleistungen erhalten, und zwar unabhängig davon, ob er für die Pflegeleistungen auf ein eigenes berufliches Einkommen verzichtet hat. ({1}) Das klingt erst einmal gut und auch fair; denn häufig genug gehen diejenigen, die über Jahre ihre Angehörigen aufopferungsvoll gepflegt haben, mangels entsprechender Ausgleichsregelung im Testament leer aus, obwohl es nicht selten gerade dieser Einsatz ist, der überhaupt erst dafür sorgt, dass noch ein Nachlass zu verteilen ist und das Vermögen nicht bereits zuvor durch die Inanspruchnahme beruflicher Pflegeinstitutionen aufgezehrt wurde. Ich sehe hierbei allerdings ein Problem auf uns zukommen, das vor allem etwas damit zu tun hat, dass die Welt leider nicht so theoretisch ist, wie wir es uns vielleicht manchmal gerne vorstellen. Erbauseinandersetzungen laufen nicht selten alles andere als schiedlichfriedlich ab. Ich mag mir deshalb gar nicht vorstellen, wie sich die Erben künftig im Nachhinein darüber streiten werden, ob überhaupt, von wem und in welchem Umfang denn nun tatsächlich Pflegeleistungen erbracht worden sind. Anders als bisher fällt ja das wichtige Kriterium weg, dass die Pflege unter Verzicht auf ein eigenes berufliches Einkommen erfolgt sein muss. Dies wird die Sache verkomplizieren. So schön es für den Erblasser im Einzelfall auch sein mag, nun zu Lebzeiten möglicherweise häufiger Besuch von Verwandten zu erhalten, befürchte ich doch, dass dies zu heftigen Erbauseinandersetzungen führen wird. Eine Veränderung will der Gesetzentwurf auch beim sogenannten Pflichtteilsergänzungsanspruch einführen. Derzeit werden Schenkungen, die innerhalb von zehn Jahren vor dem Erbfall erfolgt sind, zugunsten der Pflichtteilsberechtigten so gewertet, als wären sie quasi nicht erfolgt und der Nachlass und damit das Pflichtteil um sie nicht entsprechend geschmälert worden. Sind seit der Schenkung allerdings zehn Jahre verstrichen, bleibt die Schenkung unberücksichtigt. Der Unterschied kann damit einen Tag betragen. Die Reform will dieses Allesoder-nichts-Prinzip graduell ändern und die Schenkung immer weniger Berücksichtigung finden lassen, je länger sie zurückliegt. Das ist gut für die Erben und, wenn sie es denn nicht selbst sind, auch für die Beschenkten, da es ihnen mehr Planungssicherheit gibt. Allerdings werden wir uns fragen müssen, ob dies auch gut für den Pflichtteilsberechtigten ist und ob die angedachte Regel auch aus dessen Blickwinkel als gerecht anzusehen ist. Gibt es beispielsweise für den Lieblingssohn und zukünftigen Erben schon zu Lebzeiten im Vorgriff auf das Erbe einen dicken Zuschuss zu dessen Hausbau, dann bin ich mir nicht sicher, ob es gerecht ist, dass diese Schenkung, die durchaus im sechsstelligen Bereich liegen kann, schon nach fünf Jahren nur noch mit der Hälfte ihres Wertes für den Nachlass und somit auch für den Pflichtteil Berücksichtigung finden soll. Hinzu kommt meiner Auffassung nach, dass wir damit auch den Schenkungen in Benachteiligungsabsicht Vorschub leisten würden; denn bereits ab dem zweiten Jahr der Schenkung würde sich der insoweit auf den Nachlass anzurechnende Betrag vermindern. Eine Schlechterstellung des Pflichtteilsberechtigten sieht im Übrigen offenbar auch die neue Stundungsregelung des Pflichtteilsanspruchs vor. Natürlich hat die Praxis ein großes Bedürfnis nach Stundung des Pflichtteils, insbesondere dann, wenn der Nachlass im Wesentlichen aus einem Unternehmen oder einem Eigenheim besteht und beides zur Erfüllung des Pflichtteils verkauft bzw. zerschlagen werden müsste. Warum allerdings die Schwelle für die Härtefälle, in denen Stundung zu gewähren ist, weiter gesenkt und die Zumutbarkeit für den Pflichtteilsberechtigten, diese Stundung zu dulden, weiter erhöht werden soll, erschließt sich mir persönlich nicht. In Härtefällen ist schon heute Stundung möglich. Warum die bisher insoweit gewährten Möglichkeiten nicht mehr ausreichend sein sollen bzw. warum hier nun plötzlich gesetzgeberischer Handlungsbedarf gesehen wird, ist für mich derzeit weder ersichtlich, noch ergibt sich hierfür eine nachvollziehbare Begründung aus dem Gesetzentwurf. Hierüber werden wir reden müssen. Ansonsten, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist es ein gelungener Gesetzentwurf. Mit den von mir aufgeworfenen Fragen sollten wir uns allerdings intensiv auseinandersetzen. Ich freue mich jedenfalls schon auf die anstehende Diskussion. Ich würde mich umso mehr freuen, wenn auch Sie sich konstruktiv beteiligen würden. Ich danke Ihnen. ({2})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Die Kollegin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, FDP-Fraktion, der Parlamentarische Staatssekretär Alfred Hartenbach, die Kollegen Wolfgang Nešković, Fraktion Die Linke, und Jerzy Montag, Bündnis 90/Die Grünen, und die Kollegin Ute Granold, CDU/CSU-Frak- tion, haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.1) Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 16/8954 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Thea Dückert, Jerzy Montag, Fritz Kuhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Keine Toleranz gegenüber Korruption - Drucksachen 16/4459, 16/7731 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Herbert Schui Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die Reden der folgenden Kolleginnen und Kollegen: Dr. Georg Nüßlein, CDU/CSU, Garrelt Duin, SPD, Paul K. Friedhoff, FDP, Ulla Lötzer, Die Linke, Dr. Thea Dückert, Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Georg Nüßlein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Eine im Februar veröffentlichte Studie von Price- Waterhouse-Coopers geht von einem durchschnittlichen Schaden in den letzten zwei Jahren pro Unternehmen von 5 016 780 Euro durch Wirtschaftskriminalität aus. Kor- ruption alleine ist verantwortlich für einen Schaden von 1 693 022 Euro pro Unternehmen weltweit. Alle, Unternehmer, zivilgesellschaftliche Organisatio- nen und Politiker haben erkannt, dass wir dieses Problem nicht ignorieren können, und dies nicht erst seit den Ver- fahren gegen Siemens und VW. Die Bekämpfung von Kor- ruption ist sowohl im nationalen als auch im internatio- nalen Rahmen ein außerordentlich wichtiges Anliegen. Entgegen allen Anschuldigungen aus dem Antrag unter- stützt die CDU/CSU-Bundestagsfraktion die Bundesre- gierung in ihrem Kampf gegen Korruption nachdrück- lich. Nur verfolgen wir eine andere Strategie als das Bündnis 90/Die Grünen. Wir müssen uns verabschieden von der ewigen Kleindenkerei bei globalen Problemen. Korruption kann ein Staat nicht mit gelungenen Rechts- vorschriften im Alleingang in den Griff bekommen. Wäre dem so, befänden wir uns nicht mehr auf dem besten Weg, sondern längst am Ziel. Deutschland belegt auf dem Index von Transparency International mit Platz 16 einen der vordersten Ränge. 1) Anlage 10 Schwarze Schafe müssen sich bei uns für ihre Vergehen verantworten. Das größte Problem haben wir also nicht im Geltungsbereich unserer Gesetze. Problematisch wird das Thema Korruption erst dann, wenn global operierende Firmen auf korrupte Strukturen im Ausland treffen. Besonders groß ist das Risiko der Studie von Price-Waterhouse-Coopers zufolge bei Geschäften mit China, Russland, Indien, Brasilien, Mexiko, Indonesien und der Türkei. Es ist wichtig, einzusehen, dass wir mit deutschen Gesetzen in Kulturkreisen, wo Vorteilsgewährungen zum Abschluss von größeren Geschäften zum Teil sogar erwartet werden, sicherlich nicht weiterkommen werden. Mit einer Verschärfung der nationalen gesetzlichen Vorschriften erreichen wir hier aber nichts als Entmündigung und Benachteiligung deutscher Unternehmen im globalen Wettbewerb. Deshalb ist es umso wichtiger, nicht mehr nur national zu denken, sondern auch global für einen Paradigmenwechsel einzutreten. Unser deutsches, nachweislich gut funktionierendes Korruptionsstrafrecht sollte hierfür als Beispiel dienen. Was wir brauchen, ist weltweite Prävention, wie sie bei Banken und Finanzdienstleistern wegen der Gefahr von Geldwäsche und Insiderhandel schon lange üblich sind. Wo noch zusätzlich etwas getan werden kann, ist auf der Unternehmerseite. Aber hier muss der Paradigmenwechsel auf freiwilligen Verpflichtungen fußen. Entgegen ihrer Einschätzung erkennen Firmen inzwischen sehr wohl, dass sie das Problem der Korruption nicht länger ignorieren können. Allein in Geschäften mit den oben genannten Ländern beliefen sich die von den Unternehmen gemeldeten Verluste laut Price-Waterhouse-Coopers auf je 4,4 Millionen Euro. Wir sprechen von einem Schaden von insgesamt 6 Milliarden Euro für deutsche Firmen. Ein Compliance-Management kostet die Unternehmen eindeutig weniger. Viele Firmen haben inzwischen nachgerechnet. Siemens hat mittlerweile einen Antikorruptionsbeauftragten mit Vorstandsmandat. Die Deutsche Bahn hat sich vor einem Jahr mit Wolfgang Schaupensteiner einen ehemaligen Staatsanwalt mit Schwerpunkt Korruptionsbekämpfung als Chief Compliance Officer ins Boot geholt. Zusätzlich werden Mitarbeiter auf heikle Situationen vorbereitet. Sie brauchen Verhaltensstandards mit klaren Regeln, sodass sie im entscheidenden Fall wissen, wie sie sich zu verhalten haben. In Ihrem Antrag fordern Sie die Einrichtung einer Verwaltung, die dafür verantwortlich sein soll, ein Korruptionsregister zu erstellen. Kann es im Sinne der Politik sein, eine neue Behörde zu schaffen, wo wir doch gerade auf allen Ebenen versuchen, Bürokratiekosten zu senken? Unsere Korruptionswerte sind gut, und deutsche Unternehmen sind bei der Korruptionsbekämpfung mehr als aktiv. Brauchen wir da noch einen staatlich finanzierten Korruptionspranger? Sind Sie sich überhaupt darüber im Klaren, was es für ein Unternehmen heißt, auf Verdacht an den öffentlichen Pranger gestellt zu werden? Das Mittelalter haben wir hinter uns gelassen. Für mich ist dieser Vorschlag nichts als zusätzliche Bürokratie. Des Weiteren sind Sie für eine Novelle des Aktiengesetzes, die einen Wechsel vom Vorstand in den Aufsichtsrat unmöglich macht. Sie unterstellen, dass ein solcher Wechsel generell die Korruption fördert. Ja, glauben Sie denn wirklich, dass die Kontrolle des Vorstandes ohne Unternehmensinsider überhaupt möglich ist? Der Aufsichtsrat besteht aus Vertretern der Anteilseigner und - als deutscher Sonderfall - in den meisten Unternehmen zusätzlich aus Vertretern der Arbeitnehmer. Es kann doch nicht sein, dass auf der Arbeitnehmerseite jede Menge unternehmensinterne Vertreter sitzen, die über das entsprechende Wissen verfügen, während auf der Arbeitgeberseite keiner die Struktur des Unternehmens kennen darf. Das führt bestimmt nicht zu einer Gleichgewichtung in den Unternehmen. Wir brauchen auch auf Arbeitgeberseite Detailkenntnisse der Branche und der Strukturen des zu kontrollierenden Unternehmens, um gerade auch bei der Bekämpfung von Korruption Vorteile zu haben. Das sind Realitäten, die wir anerkennen müssen. Mit Filz und Korruption hat das nichts zu tun. Des Weiteren sollte es ausschließlich Sache der Eigentümer des Unternehmens sein, verantwortungsbewusst zu entscheiden, wer das Unternehmen kontrollieren soll. Den letzten Punkt Ihres Forderungskatalogs, die Einrichtung von Schwerpunktstaatsanwaltschaften und entsprechenden zentralen polizeilichen Ermittlungsstellen, möchte ich als völlig überflüssig bewerten. Sie existieren bereits in den meisten Bundesländern. Wo sie nicht existieren, ist deren Einrichtung im Gange oder zumindest in Planung. Gestatten Sie mir eine letzte Bemerkung: Die Grünen hätten in den sieben Jahren, in denen sie an der Regierung waren, bereits auf die Idee kommen können, das Korruptionsstrafrecht zu erweitern. Sind sie aber nicht. Stattdessen wurden auf internationaler Ebene überengagierte Standards beschlossen, die die wenigsten Länder tatsächlich umsetzen werden. Jetzt ist die Zeit gekommen, dass wir endlich mit realistischen Ansätzen vorgehen. Ich wehre mich dagegen, bei einem derart sensiblen Thema ausschließlich mit Generalverdächtigungen zu arbeiten. Werte Kollegen vom Bündnis 90/Die Grünen: Ihr Ziel ist ehrenhaft, aber auf diesem naiven Weg nicht zu erreichen.

Garrelt Duin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003751, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wie zuletzt sehr öffentlichkeitswirksam bei Siemens werden immer wieder Korruptionsfälle aufgedeckt. Korruption und allein schon der Korruptionsverdacht ist nicht nur für das Unternehmen selbst und damit auch für die betroffenen Belegschaften ein großer Vertrauensverlust in die Unternehmensführung bzw. die jeweiligen Entscheidungsträger, sondern auch für Anlegerinnen und Anleger, für die Kundinnen und Kunden. Konzerne dieser Größenordnung erleiden damit einen großen Imageschaden und dies formt ein negatives Bild in der Öffentlichkeit. Wir sollten dabei nicht die Zulieferbetriebe vergessen, die nach Aufdeckung von spektakulären Korruptionsfällen oft um ihre Existenz bangen müssen. Bei ihnen entsteht oft der größte Schaden. Aber es sind nicht nur die großen Konzerne, in denen Korruption auftritt - der Giftpfeil der Korruption durchbohrt die gesamt Wirtschaftsbranche. Genaue Zahlen zur Korruption, dem „zweitältesten Gewerbe der Welt“, sind rar. Dennoch gilt sie für viele als ein weit verbreitetes Übel: Nach der jährlich durchgeführten Umfrage der Antikorruptionsorganisation Transparency International glauben 69 Prozent der in Deutschland lebenden Menschen, dass die Korruption in den nächsten Jahren noch zunehmen werde. Sylvia Schenk, Vorsitzende von Transparency Deutschland, führt diese Sorge auf die Berichterstattung über Skandale bei Großunternehmen wie Siemens sowie auf viele Vorfälle auf lokaler Ebene zurück. Die Menschen sind sensibilisiert und haben gemerkt, dass Korruption auch in Deutschland ein Problem ist. Gerade wir als Mitglieder des Deutschen Bundestages müssen hier mit gutem Beispiel vorangehen. Für uns Politiker steht viel auf dem Spiel: unsere Vertrauenswürdigkeit. Wir vertreten die Interessen der Bürgerinnen und Bürger. Daher dürfen wir einen Vertrauensverlust der Menschen in die Gestaltungskraft von Politik nicht zulassen. Durch die Offenlegung jeglicher Nebeneinkünfte von uns Abgeordneten haben wir einen richtigen Schritt getan, um im Kampf gegen Korruption unsere Glaubwürdigkeit zu bewahren. Alle reden über Korruption, aber es gibt zu diesem Übel weder präzises Zahlenmaterial noch eine einheitliche, allseits anerkannte Definition. Strafrechtlich gesehen handelt es sich um die Tatbestände Vorteilsnahme, Bestechlichkeit, Vorteilsgewährung und Bestechung. Das Strafrecht erfasst aber nur einen Ausschnitt dessen, was landläufig unter Korruption verstanden wird. Weil bei der Korruption - anders als bei vielen anderen Delikten - die Täter auf beiden Seiten zu finden sind, werden den Strafverfolgungsbehörden offensichtlich nur wenige Fälle bekannt. 2005 wurden in der Polizeilichen Kriminalstatistik 2 160 Fälle registriert, rein quantitativ betrachtet sind dies 0,03 Prozent des gesamten polizeilichen Fallaufkommens. Das Thema wird seit Anfang der 90er-Jahre unter dem Eindruck aufsehenerregender Fälle verstärkt diskutiert. Wie die Bundesregierung in ihrem Zweiten Periodischen Sicherheitsbericht feststellt, ist seitdem die Liste der Korruptionsfälle in der Politik, im Sport, in Verwaltung und Wirtschaft deutlich länger geworden. Wenn es in früheren Jahrzehnten weniger dieser spektakulären Fälle gegeben hat, dann sollte das nicht zu dem falschen Schluss verleiten, die Zeiten seien damals besser gewesen und es habe weniger Korruption gegeben. Die aktuellen Korruptionsfälle zeigen vor allem eines: Korruption wird intensiver verfolgt und es wird nicht davor zurückgeschreckt, bei Korruptionsverdacht auch gegen hohe Amtsträger oder Wirtschaftsunternehmen vorzugehen. Deutschland zählt nach Angaben von Transparency International weltweit zu den 20 Ländern mit der geringsten Korruption. Dies geht aus dem Korruptionsindex 2007 hervor. Deutschland steht in der Liste auf Platz 16. Das ist ein wichtiger Punkt, wenn es um die Sicherung des Standortes Deutschland geht, und es zeigt, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Am Dienstag dieser Woche erschien ein Artikel in der Berliner Morgenpost, dass die Deutsche Bahn stärker gegen Bestechung im Konzern vorgehen will und zu diesem Zweck ihre Antikorruptionsabteilung ausbauen wird. Zu Protokoll gegebene Reden Dies macht sehr deutlich, dass auch die Unternehmen für das Thema Korruption sensibilisiert sind, sie ihr Erscheinungsbild in der Öffentlichkeit sehr ernst nehmen und bemüht sind, ihre Strukturen transparenter zu gestalten. Der Kampf gegen Korruption in Zeiten von Globalisierung und internationalem Wettbewerb darf nicht an der Landesgrenze Halt machen. Hier sind internationale Maßnahmen gefordert. Ein wichtiger Baustein für eine erfolgreiche Bekämpfung der Korruption ist der Erfahrungsaustausch auf nationaler, aber auch auf internationaler Ebene. Transparency International ermittelte, dass weltweit durch Korruption ein jährlicher Schaden von 400 Milliarden US-Dollar entsteht. Das sind gewaltige Summen, die den eigentlichen Entwicklungsmöglichkeiten der Länder verloren gehen. Hier muss die internationale Zusammenarbeit der Ermittlungsbehörden weiter intensiviert werden. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fordert in ihrem Antrag ein Register über korrupte Unternehmen, das juristische Personen führen soll. Bereits 2002 wurde ein Korruptionsregister im Kampf gegen Korruption und Lohndumping in deutschen Unternehmen eingeführt. Unternehmer, die strafrechtlich belangt werden, werden in dieses Register aufgenommen. Allerdings können hier keine juristischen Personen geführt werden. Strafrechtlich in Erscheinung treten können immer nur reale Personen. Die Forderung nach einem Register, das juristische Personen führt, ist deshalb unsinnig. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die in einem solchen Unternehmen arbeiten, würden mitbestraft werden für Verfehlungen anderer. Unternehmen dürfen nicht auf Verdacht an den Pranger gestellt werden. Schäden, die durch vorschnelle Verdächtigungen entstehen können, müssen gerade im Interesse derer, die ehrlich am Wettbewerb teilnehmen, vermieden werden. Außerdem hieße dies ein Mehr an Bürokratie, und ein aufgebauschter bürokratischer Aufwand ist im Hinblick auf die gewünschte Transparenz kontraproduktiv. Freiwillig, wie es die Selbstverpflichtung im Corporate-Governance-Kodex vorgesehen hat, haben sich viele Unternehmen zunächst nicht dazu durchringen können, die Bezüge ihrer Manager zu veröffentlichen. Deshalb haben wir eingegriffen. Mit den von uns beschlossenen Gesetzen zur Offenlegung von Managergehältern haben wir ein Instrument für mehr Transparenz geschaffen. Seit dem Geschäftsbericht für das Jahr 2006 müssen börsennotierte Aktiengesellschaften angeben, welches Vorstandsmitglied wie viel bekommt. Dabei muss nicht nur das Grundgehalt offengelegt werden. Auch der erfolgsbezogene Anteil der Bezüge, zum Beispiel Aktienoptionen und vertraglich zugesagte Abfindungen oder Pensionen müssen ausgewiesen sein. Nur die Aktionäre selbst können die Vorstände mit einer Dreiviertelmehrheit für fünf Jahre von dieser Auskunftspflicht befreien. Aktionäre und die interessierte Öffentlichkeit können so feststellen, ob die Vorstände eines Unternehmens gemäß ihrer Leistung bezahlt werden. Das ist das gute Recht der Anteilseigner. Der Schutz der Aktionäre hat in diesem Fall Vorrang vor der Geheimniskrämerei von Managern. Denn es sind diese Anteilseigner, denen das Unternehmen gehört. Dies ist auch ein Schutz vor Strippenzieherei im Dunklen durch Bestechung und Korruption. Die Forderung im Antrag der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen zum arbeitsrechtlichen Schutz von Hinweisgebern ist problematisch. So könnte unter Umständen eine Misstrauenskultur in den Unternehmen entstehen. Es dürfen keine Spitzel in den Belegschaften herangezüchtet werden. Der bessere Weg ist, eine transparente und offene Unternehmenskultur mit leistungsbereiten und leistungsgerecht bezahlten Mitarbeitern zu etablieren, in der Korruption keinen Fuß fassen kann. Wir müssen den Kampf gegen Korruption in alle Ebenen hineintragen. Besonders wenn es um die Führung von Unternehmen und die Unternehmenskultur geht. Es ist wichtig, das Bewusstsein für Korruption und Bestechung zu schärfen und gezielte unternehmensinterne Maßnahmen dagegen zu ergreifen. Korruptionsbekämpfung muss möglichst früh ansetzen. Vorbeugen heißt vor allem, korruptionsanfällige Situationen erst gar nicht entstehen zu lassen. Das Korruptionsrisiko muss deutlich verringert werden. Zur Korruptionsbekämpfung gehört aber nicht nur Vorbeugung, sondern auch die Strafverfolgung. Ermittlung und Verurteilung von Straftätern gestalten sich hier aber besonders schwierig. Wenn trotz dieser Schwierigkeiten in den letzten Jahren besonders viele Korruptionsfälle ans Licht gekommen sind, dann sind wir doch auf einem richtigen Weg. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen schlägt in ihrem Antrag auch die Einführung von Schwerpunktstaatsanwaltschaften vor. Es gibt diese bereits in sieben Bundesländern. Überall dort in Deutschland, wo sich Schwerpunktstaatsanwaltschaften zu Korruption etablierten und Kommunen energisch an die Trockenlegung des Schmiergeldsumpfes gingen, schnellten die Fallzahlen sprunghaft in die Höhe. Im Kampf gegen Korruption sind Schwerpunktstaatsanwaltschaften ein guter Weg. Aber er wird bereits gegangen.

Paul K. Friedhoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000588, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Es ist in diesem Haus Konsens über alle Fraktionen hinweg: Wir sind gegen Korruption; wir sind uns einig, dass alle Anstrengungen unternommen werden müssen, Korruption zu bekämpfen. Leider gibt es dennoch Korruption. Weniger bei uns im Inland, mehr in sogenannten Entwicklungsländern. Wir dürfen uns natürlich nicht zurücklehnen und auf „die anderen“ zeigen, sondern müssen mit geeigneten Maßnahmen der Korruption beikommen. Die weltweite Verflechtung der Wirtschaft legt eine Regelung auf der supranationalen Ebene nahe. Gesetze, die in anderen Ländern gelten, können wir von hieraus nur wenig beeinflussen. Wohl können wir mit gutem Beispiel vorangehen. Dazu müssen wir dafür sorgen, dass die Gesetze, die hier gelten, auch angewendet werden. Das Gesetz zur Bekämpfung der Korruption aus dem Jahr 1997 trägt die Handschrift des damaligen liberalen Justizministers Edzard Schmidt-Jortzig und ist als Rechtsgrundlage völlig ausreichend. Zu Protokoll gegebene Reden Um Verstößen gegen das geltende Recht entgegenzuwirken, hilft es nicht, Gesetze zu verändern und neue hinzuzufügen. Der Antrag der Grünen-Fraktion beinhaltet Forderungen nach Gesetzesänderungen und nach neuer Bürokratie. Das von den Grünen geforderte nationale Korruptionsregister hätte eine Wirkung wie ein Pranger und würde dem Problem nicht gerecht, sondern brächte vor allem einen weiteren Wust von Bürokratie mit sich. Firmenvorstände werden zwar nicht an einen solch fragwürdigen Pranger, aber immerhin unter Generalverdacht gestellt: Im Antrag der Grünen-Fraktion wird gefordert, Vorständen zu verbieten, in den Aufsichtsrat zu wechseln. Ich hoffe, dass wir dabei bleiben können, dass die Eigentümer eines Betriebs darüber entscheiden, wer den Aufsichtsrat besetzt, und nicht die Politik! Natürlich kann es sinnvoll sein, ein ehemaliges Vorstandsmitglied in den Aufsichtsrat der Firma zu berufen, denn es kennt die Firma, die beaufsichtigt werden soll, besser als jeder andere. Unsere Wirtschaft braucht Spielregeln, Es ist wichtig, dass sich alle daran halten. Ein fairer Wettbewerb kann anders nicht funktionieren - das weiß ich als Unternehmer wohl. Deshalb unterstützen wir den Kampf gegen Korruption, den Antrag der Grünen unterstützen wir aber nicht. Wir Liberale wollen geltendes Recht umsetzen, wir wollen aber keine überflüssigen neuen Gesetze und Vorschriften - vor allem wollen wir keine zusätzliche Bürokratie!

Ursula Lötzer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003174, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Längst ist Korruption nicht mehr nur das Problem von Entwicklungsländern. Fast täglich können wir in den Tageszeitungen über Korruptionsfälle bei deutschen Unternehmen lesen. Das reicht von der Kölner Müllfirma Trienekens über den „Sachsensumpf“ bis hin zu den 1,3 Milliarden Euro Schmiergeldzahlungen von Siemens. Zahlungsempfänger sind korrupte Politiker, Ingenieurbüros und andere Auftraggeber. Selten kommt so ein Skandal ans Tageslicht. Sofort versuchen dann Politik und Management, die Folgen klein zu reden und alles unter den Teppich zu kehren. Groß angelegte Gerichtsverfahren verlaufen meist nach der Regel „Kleine Diebe hängt man, große lässt man laufen.“ Denn um nichts anderes als Diebstahl und Betrug handelt es sich bei Korruption. Bestohlen werden die Verbraucherinnen und Verbraucher sowie die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler. Sie müssen später die überdimensionierten und überteuerten Investitionen einschließlich der Bestechungsgelder über Gebühren oder Steuern wieder bezahlen. Die Folgen dieser Affären sind jedoch nicht nur monetär. Sie erschüttern auch das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Demokratie und den Rechtsstaat. Dies vor Augen, bleibt der Grünen-Antrag hinter den Anforderungen für eine wirksame Korruptionsbekämpfung zurück. Zu stark wird der Schwerpunkt auf die Korruption bei internationalen Geschäften gelegt. Zu stark wird auf freiwillige Vereinbarungen mit der Industrie gesetzt. Wir teilen die Forderungen der Grünen nach einem bundesweiten Register für korrupte Unternehmen, nach Schutz von Whistle-Blowern oder Schwerpunkt-Staatsanwaltschaften in den Bundesländern zur Korruptionsbekämpfung. Wir haben selbst bereits einen Entwurf zur Novellierung des Aktiengesetzes eingebracht, mit dem der Wechsel vom Vorstand in den Aufsichtsrat eines Unternehmens unterbunden werden soll. Dies alles sind richtige Forderungen, aber sie reichen nicht aus. Es fehlt die Frage des Lobbyismus, der personellen Verflechtungen zwischen Politik, Ministerien und Konzernen. Wir haben dazu als ersten Schritt einen Antrag eingebracht, der die Bundesregierung auffordert, auf Einnahmen aus Sponsoring zu verzichten. Wenn zum Beispiel die EADS regelmäßig Bälle, Empfänge und Essen für das Verteidigungsministerium, die Bundeswehr und ihre Gäste sponsort, dann schafft das Verbindlichkeiten. Insgesamt sind es 55 Millionen Euro, die die Bundesregierung von August 2003 bis Ende 2004 von großen Unternehmen für ihre Festivitäten erhalten hat. Wo fängt die Korruption an? Zugegebenermaßen eine Grauzone aber die gilt es zu beseitigen, wenn man Korruption tatsächlich wirksam bekämpfen will. Da ist es bedauerlich und inkonsequent, dass die Grünen unserem Antrag nicht zugestimmt haben. Es fehlt die Forderung nach Ratifizierung des UNÜbereinkommens gegen Korruption. 108 Staaten haben diese Konvention bisher ratifiziert, Deutschland nicht. Knackpunkt hierbei ist, dass die UN-Konvention die Abgeordnetenbestechung viel weiter fasst als das deutsche Strafrecht, das nur den direkten Stimmenkauf ahndet. Die Konvention verlangt, dass der Amtsträger bzw. Abgeordnete „weder mittelbar noch unmittelbar ein ungerechtfertigter Vorteil für diesen selbst oder für eine andere Person oder Stelle versprochen, angeboten oder gewährt werden darf, damit der Amtsträger in Ausübung seiner Dienstpflichten eine Handlung vornimmt oder unterlässt“. Was ist aber, wenn Minister oder Staatssekretäre Entscheidungen zugunsten eines Unternehmens fällen und anschließend mit Posten in den Unternehmen oder Tochterunternehmen belohnt werden? Ich erinnere hier nur beispielhaft an den Wechsel von Minister Müller zur RAG AG, von Staatssekretär Tacke zur STEAG oder Herrn Wiesheu zur Deutsche Bahn AG. Diese Liste wäre lange fortzusetzen. Es fehlt die Forderung nach einer Verschärfung der Korruptionsbekämpfung im Zusammenhang mit der Gewährung von Hermeskrediten. Hier hat die Bundesregierung einen konkreten Hebel zur Korruptionsbekämpfung in der Hand. Sie könnte bei jedem Antrag auf eine Hermeskreditversicherung darauf bestehen, dass die Namen der beteiligten Agenten und Details über die Höhe und den Zweck etwaiger Provisionen bekannt gegeben werden. Bei 26 von 31 Exportkreditagenturen von OECDMitgliedsländern ist dies Standard - bei der deutschen nicht. Und die Bundesregierung will diese Standardabfrage auch künftig nicht einführen, wie sie auf eine Anfrage der Linksfraktion zugab. Vom 1. Januar bis 15. August wurden 1 413 Anträge auf Übernahme einer Einzeldeckung gestellt und nur in acht Fällen wurde überhaupt eine vertiefte Prüfung auf Korruption durchgeführt. Der Bundesregierung ist die Förderung der Zu Protokoll gegebene Reden deutschen Exportwirtschaft eben immer noch wichtiger ist als die Bekämpfung von Kriminalität. Korruption ist ein Krebsgeschwür für jede Gesellschaft, das anstelle von Transparenz und Gleichbehandlung nach festen Regeln Bestechungsgelder und Vetternwirtschaft setzt. Ihr muss mit allen Mitteln begegnet werden. Und deshalb stimmen wir dem Grünen-Antrag zu, auch wenn er wichtige Forderungen nicht berücksichtigt.

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Korruption ist kein Problem, das andere anderswo haben. Kriminelle Netzwerke gibt es nicht nur in Neapel, Korruption ist nicht dubiosen Staatschefs in Dritte-WeltLändern vorbehalten und Schmiergelder werden nicht nur von schmierigen Waffenlobbyisten gezahlt. Korruption ist längst im Alltag der deutschen Wirtschaft angekommen. Korruption ist ein ernsthaftes Problem in Deutschland und für Deutschland. Prominente Beispiele gibt es genug: Ich erinnere an den Schmiergeldskandal beim Bau des Münchener Fußballstadions, an den VW-Skandal und natürlich - das war klar der Tiefpunkt - an den Korruptions-GAU bei Siemens. Der Siemens-Skandal ist so schrecklich, weil er gerade deutlich gemacht hat, dass es sich nicht um Verfehlungen Einzelner handelt, sondern dass Korruption Teil einer Unternehmensstrategie war. Zum Prozessauftakt diese Woche hat der erste Angeklagte gleich gestanden und die frühere Konzernführung schwer belastet. Dass zwischenzeitlich auch der französische Siemens-Konkurrent Alstom unter Korruptionsverdacht steht, zeigt, wie nah wir auf einigen Märkten schon vor der Situation stehen, wo der Ehrliche der Dumme ist. Beim Radsport hat sich gezeigt, was passiert, wenn ein Großteil der Fahrer davon überzeugt ist, dass andere dopen und man selbst ohne illegale Nachhilfe keine Chance zu haben glaubt. Gibt es eine kritische Masse an schwarzen Schafen, bricht ein Damm und illegales Verhalten wird zum Massenphänomen. Deshalb legen wir Grüne unseren Antrag „Keine Toleranz für Korruption“ vor. Ist oder scheint Korruption nämlich erst einmal selbstverständlich, ist der Kampf verloren. Dass dies keine Panikmache ist, zeigt eine Studie von Ernst & Young. Die Wirtschaftsprüfer haben bei einer Befragung herausgefunden, dass es in manchen Firmen fast als normal angesehen wird, vor allem in Schwellenländern Schmiergelder zu zahlen. Das Argument: Die Konkurrenz tue dies ja auch. Den Schaden haben die Bürgerinnen und Bürger durch überhöhte Preise und schlechte Qualität. Den Schaden haben aber auch die ehrlichen Unternehmer und ihre Beschäftigten. Wir müssen deshalb endlich handeln. In unserem Antrag schlagen wir eine ganze Reihe von Maßnahmen vor: Wir brauchen einen Dialog mit Gewerkschaften, Wirtschaft und Politik; Korruption muss Thema des Corporate Governance Kodex werden; wir brauchen eine Selbstverpflichtung der Wirtschaft und eine Unternehmenskultur, die Korruption ächtet. Solange Mitarbeitern das Gefühl vermittelt wird, mit Bestechung tue man dem Unternehmen etwas Gutes, werden wir bei der Korruptionsbekämpfung nur wenig vorankommen. Oftmals werden Mitarbeiter, die Korruptionsfälle publik machen, sogar als Nestbeschmutzer diffamiert. Dem Ehrlichen drohen Mobbing und Karriereknick. Wir müssen diese Mitarbeiter besser schützen. Nötig ist aber auch mehr Transparenz und Kontrolle in den Unternehmen. Der Wechsel vom Vorstandsvorsitz auf den Chefposten im Aufsichtsrat muss verboten werden. Gleichzeitig sollte niemand mehr als fünf Aufsichtsratsmandate gleichzeitig ausüben dürfen. Die Aufsichtsratssitzungen dürfen nicht zum Feierabendtreff ehemaliger Führungskräfte werden, sondern müssen die Vorstände effektiv kontrollieren. Wir brauchen ein Korruptionsregister, in dem Unternehmen aufgeführt werden, die sich der Korruption schuldig gemacht haben. Dann können wir solche Unternehmen von der öffentlichen Auftragsvergabe ausschließen. Die Länder müssen Schwerpunktstaatsanwaltschaften für Korruption und Wirtschaftskriminalität einrichten. Die Personalausstattung mit Spezialisten ist für die sehr komplizierten Wirtschaftsfälle derzeit viel zu schwach. Klar ist: Bei der Korruptionsbekämpfung allein auf die Selbstreinigungskräfte der Unternehmen zu setzen, ist keine erfolgversprechende Strategie. Auch die Politik muss ihren Beitrag leisten. Die Bundesregierung hat das Thema bislang ignoriert. Wir haben unsere Vorschläge vorgelegt. Jetzt ist es Zeit zu handeln.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/7731, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/4459 abzulehnen. - Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen von Bündnis 90/Die Grünen und Fraktion Die Linke und bei Enthaltung der FDP angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 a auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des Schornsteinfegerwesens - Drucksache 16/9237 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({0}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu die- sem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. - Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich um die Reden der folgenden Kolleginnen und Kollegen: Lena Strothmann, CDU/CSU, Andrea Wicklein, SPD, Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner Paul K. Friedhoff, FDP, Sabine Zimmermann, Die Linke, Kerstin Andreae, Bündnis 90/Die Grünen.1) Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/9237 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse und zusätzlich an den Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf: Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Heimkehrerstiftungsaufhebungsgesetzes - Drucksache 16/9058 - Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({1}) - Drucksache 16/9318 Berichterstattung: Abgeordnete Günter Baumann Gerold Reichenbach Jan Korte - Bericht des Haushaltsausschusses ({2}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 16/9348 Berichterstattung: Abgeordnete Steffen Kampeter Carsten Schneider ({3}) Dr. Gesine Lötzsch Alexander Bonde Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die Reden der folgenden Kolleginnen und Kollegen: Günter Baumann, CDU/CSU, Maik Reichel, SPD, Dr. Max Stadler, FDP, Petra Pau, Die Linke, Wolfgang Wieland, Bündnis 90/Die Grünen und Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Christoph Bergner. Günter Baumann ({4}) Besonders uns Abgeordnete aus den neuen Bundeslän- dern erreichten in der letzten Zeit Briefe, in denen zum ei- nen die beschlossene Entschädigung für Kriegsspätheim- kehrer auf dem Gebiet der ehemaligen DDR begrüßt wurde. Zugleich wurde aber scharf und für mich auch be- rechtigt gegen eine Auszahlung erst ab dem Jahr 2009 protestiert. Es war für die Betroffenen nicht nach zu voll- ziehen, dass erst 17 Jahre nach der politischen Wende eine symbolische Entschädigung für eine begründete Op- fergruppe erfolgen soll. Mit dem nun heute zu beschlie- ßenden Änderungsgesetz zum Heimkehrerstiftungsaufhe- 1) Anlage 11 bungsgesetz ist es uns gelungen, dass bereits ab dem 1. Juli 2008 mit den Entschädigungszahlungen an die etwa 15 000 in die ehemalige DDR entlassenen Kriegsund Geltungskriegsgefangenen begonnen werden kann. Bereits am 9. November 2007 hatten wir mit dem 1. Gesetz für eine Entschädigung der Kriegsspätheimkehrer, die in die ehemalige DDR zurückgekehrt sind, eine gestaffelte Einmalentschädigung verabschiedet. Die Höhe der Entschädigung richtet sich nach dem Entlassungsjahr; sie beträgt 500 Euro bei den Entlassungsjahren 1947/48 und 1 000 Euro für die Entlassungsjahrgänge 1949/50. Heimkehrer ab 1951 erhalten eine Einmalzahlung von 1 500 Euro. Diese Regelungen sollten nach der alten Gesetzeslage erst am 1. Januar 2009 in Kraft treten. Dieses späte Inkrafttreten war dem Umstand geschuldet, dass zum Zeitpunkt der Diskussion des Gesetzes im Herbst 2007 kurzfristig eine verwaltungsmäßige Umsetzung nicht in Aussicht stand. Gleichzeitig war die finanzielle Sicherung im Haushaltausschuss für das Haushaltjahr 2008 durch eine Blockadehaltung unseres Koalitionspartners nicht sichergestellt. Doch was nutzt uns der Blick zurück im Zorn. Es wird mit dem vorliegenden Änderungsgesetz im Ergebnis etwas Positives im Sinne der Betroffenen nun endlich erreicht - und das ist meiner Ansicht nach das Wichtigste. Das Vorziehen des Inkrafttretenstermins war uns in der CDU/CSU-Fraktion wegen des hohen Alters der Betroffenen ein besonders wichtiges Anliegen. Auch unter dem Blickwinkel der Nichtvererbbarkeit des Anspruchs war für uns der späte Inkrafttretenstermin sehr unbefriedigend. Mit der Bereitstellung außerplanmäßiger Mittel im Haushaltsjahr 2008 von voraussichtlich 15,8 Millionen Euro und im Haushaltsjahr 2009 von rund 1 Million Euro kann die Entschädigung für die Heimkehrer durch das Bundesverwaltungsamt in Bonn auch zügig umgesetzt werden. Schon jetzt haben viele Betroffene bereits vorläufige Anträge gestellt. Leistungsberechtigt sind ehemalige Kriegsgefangene und Geltungskriegsgefangene, das heißt Zivilinternierte und Zivilverschleppte, die im unmittelbaren ursächlichen Zusammenhang mit den Kriegsereignissen ein den Kriegsgefangenen vergleichbares Schicksal erlitten haben. Der Anspruch auf Einmalentschädigung ist weder vererbbar, da das Gesetz an das Einzelschicksal der Betroffenen anknüpft, noch pfändbar. Weiterhin wird sie nicht auf einkommensabhängige Sozialleistungen angerechnet. Zum Schluss möchte ich mich recht herzlich bei den Abgeordneten bedanken, die seit vielen Jahren dieses offene Problem der Kriegsspätheimkehrer nicht aus dem Auge verloren haben und immer wieder bereit waren, dafür zu kämpfen. Ein ganz besonderer Dank den Betroffenen, die nach unserem 1. Gesetz sich deutlich zu Wort meldeten und damit das Vorziehen des Inkrafttretens mit entscheidend erreichten. Die beschlossene Entschädigung sorgt nun endlich mehr als 60 Jahre nach dem Krieg dafür, dass die ostdeutschen Kriegsheimkehrer und Zivilverschleppten eine symbolische Anerkennung für ihr erlittenes Schicksal erhalten.

Maik Reichel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003828, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Im November des vergangenen Jahres haben wir mit dem Gesetz zur Aufhebung der Heimkehrerstiftung als Art. 3 auch die neue Heimkehrerentschädigung Ost auf den Weg gebracht. Damals haben wir betont, wie erfreulich diese neue Entschädigungsregelung ist. Von den Interessenverbänden der Heimkehrer und Kriegsgefangenen, aber auch einzelnen Betroffenen habe ich - wie sicher viele andere Kollegen - berührende Briefe erhalten, die Dankbarkeit über diese Geste der Wiedergutmachung und Anerkennung schwerer Schicksale bekunden. Es ist nichts so gut, dass es nicht noch nachgebessert werden kann. In Anbetracht des hohen Alters und der persönlichen Umstände der Betroffenen sind noch einmal die Möglichkeiten überprüft worden, die Wartezeit zu verkürzen. Dank der gemeinsamen Anstrengungen und auch dank der Bemühungen der Finanzpolitiker ist dies nun gelungen. Zudem begrüße ich, dass unsere Forderung der Übernahme aller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der ehemaligen Heimkehrerstiftung in Bonn nun zum 1. Januar 2008 vom Bundesverwaltungsamt positiv umgesetzt wurde. Ich hoffe, dass die Problematik der Nichtanerkennung der Vorbeschäftigungszeiten aus der Heimkehrerstiftung für diese Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter noch zu deren Gunsten geklärt werden kann. An dieser Stelle möchte ich den ehemaligen Beschäftigten der Heimkehrerstiftung für ihre jahrelange Arbeit noch einmal herzlich danken und ihnen in ihrer neuen Verwendung alles Gute wünschen. Danken möchte ich ebenfalls meinen Kollegen Günter Baumann und dem Parlamentarischen Staatssekretär Bergner. Die gemeinsame Arbeit an der Gesetzgebung zur Heimkehrerentschädigung Ost war ein gutes Beispiel einer wirklich konstruktiven Zusammenarbeit im Interesse und zum Nutzen der Betroffenen. Diese erhalten nun bereits ab dem 1. Juli 2008 statt ab dem 1. Januar 2009 eine entsprechende einmalige Entschädigung zwischen 500 und 1 500 Euro. Mit dieser letzten Änderung kann nun ein Schlusspunkt gesetzt werden unter die langen Bestrebungen zu einer eigenständigen Entschädigung für die Kriegsgefangenen, die nach ihrer Gefangenschaft in den Osten Deutschlands, die DDR, zurückkehrten. Man kann nicht abstreiten, dass es ein langwieriger Prozess war, geschuldet auch dem diffizilen Gefüge parteipolitischer Sichtweisen auf die geschichtliche Zusammenhänge. Die Aufarbeitung der Geschichte ist immer ein sehr komplexer Prozess. Die Menschen, um die es hier geht, sind in besonders drastischer Weise betroffen von der deutschen Geschichte vor und nach dem Zweiten Weltkrieg und zusätzlich von der deutschen Teilung. Nach den Erschütterungen des Krieges, an dem sie aktiv beteiligt und in den sie verstrickt waren, gerieten sie in eine unbestreitbar harte Gefangenschaft. Schwere physische Arbeit, Hunger und Kälte überlebten viele von ihnen nicht. Dazu kam die Belastung des Gewissens, die Auseinandersetzung mit möglicher eigener Schuld, mit der Erkenntnis der Verstrickungen in ein verbrecherisches System. Diejenigen, die nach der Gefangenschaft in die sowjetische Besatzungszone bzw. später in die DDR zurückkehrten, waren mit diesen Erfahrungen allein und zum Schweigen verurteilt. Öffentlich darüber zu sprechen, war tabu; auch im Familien- und Freundeskreis gelang dies nur eingeschränkt. Sie galten a priori als schuldig, bezahlten persönlich den Preis für die Kriegsverbrechen eines ganzen Systems. Sobald sie über diese Erfahrungen sprechen wollten, unterlagen sie oft dem Vorwurf einer unbilligen Rechtfertigung. Solche Tabuisierungen haben das gesellschaftliche Klima im Osten Deutschlands Jahrzehnte lang gelähmt und auch viele andere Menschen haben dort ähnliche Erfahrungen mit diesem erzwungenen Schweigen über offiziell unliebsame Erfahrungen mit der Geschichte gemacht. Ich freue mich, dass wir diesen Betroffenen über den Weg der einmaligen materiellen Entschädigung - die schätzungsweise nach momentanen Erkenntnissen über 20 000 Menschen betrifft - deutlich zeigen können, dass die Gesellschaft ihr Schicksal anerkennt und würdigt.

Dr. Max Stadler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002805, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Die FDP hatte seinerzeit die Einmalleistung für Kriegsgefangene und Geltungskriegsgefangene als Symbol der Anerkennung und als Geste der Wiedergutmachung gegenüber ostdeutschen Heimkehrern begrüßt. Wir waren allerdings nicht damit einverstanden, dass erst ein sehr spätes Inkrafttreten zum 1. Januar 2009 vorgesehen war. Die FDP-Bundestagsfraktion hatte stattdessen eine großzügigere Lösung angeregt. Die noch lebenden ehemaligen Kriegsgefangenen befinden sich nämlich in einem weit fortgeschrittenen Alter. Ein weiteres Zuwarten erschien uns daher nicht angebracht. Dies habe ich für die FDP-Bundestagsfraktion schon in der Plenardebatte am 8. November 2007 zum Ausdruck gebracht. Mit dem jetzigen Gesetzentwurf greifen die Koalitionsfraktionen diesen zentralen Kritikpunkt der FDP-Bundestagsfraktion auf. Dieser Meinungsumschwung innerhalb der Regierungsfraktionen ist zu begrüßen. Wir unterstützen daher den nunmehrigen Gesetzentwurf der CDU/CSU und der SPD. Die FDP stimmt daher dem Änderungsgesetz zu.

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Mit dem Gesetz zur Aufhebung der Heimkehrerstiftung, deren Zweck in der finanziellen Unterstützung deutscher Kriegsheimkehrer lag, wurde ein Heimkehrerentschädigungsgesetz beschlossen, mit dem die Befriedigung der noch ausstehenden Anträge durch eine zu beantragende einmalige Zahlung erfolgen soll. Der Termin für das Inkrafttreten dieses Gesetzes wurde im Aufhebungsgesetz auf den 1. Januar 2009 festgelegt und soll jetzt auf den 1. Juli 2008 vorgezogen werden. Hiermit soll den sehr betagten Anspruchsberechtigten eine unnötig lange Wartefrist erspart werden. Folge ist ein außerplanmäßiger Mittelbedarf im Haushalt 2008 von 15,8 Millionen Euro, der entsprechend 2009 eingespart wird. Die Linke hat der Aufhebung der Heimkehrerstiftung zugestimmt und stimmt deshalb selbstverständlich auch dem Änderungsgesetz zu. Zu Protokoll gegebene Reden

Wolfgang Wieland (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003863, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Mit dem heute zu beschließenden Gesetz kommt ein Vorhaben zu einem guten Ende, das in seinem Ablauf min- destens unverständlich zu nennen ist. Die Große Koalition hatte ursprünglich vorgeschla- gen, die Heimkehrerstiftung aufzuheben. Die Stiftung half Menschen, die nach dem Zweiten Weltkrieg - oft erst nach Jahren - aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt waren, mit Einmalzahlungen im Bedarfsfall und vor al- lem auch mit Ergänzungsleistungen zur Rente. Das war nötig, weil die Betroffenen durch die Gefangenschaft na- türlich keine Möglichkeit hatten, in Deutschland zu arbeiten und damit ein Vermögen aufzubauen und Ren- tenanwartschaften zu erwerben. Die von der Stiftung Un- terstützten waren also in den allermeisten Fällen sehr alte Menschen in schlechter wirtschaftlicher Lage. Warum diesen Menschen nun nicht mehr länger gehol- fen werden sollte, bleibt das Geheimnis der Bundesregie- rung. Die Leistungen nach dem Stiftungsgesetz hätten bis Ende 2009 noch etwa zehn Millionen Euro Haushaltsmit- tel erfordert. Danach wäre über einen Zeitraum von noch einmal höchstens zehn Jahren eine weitere, aber kleinere Summe erforderlich gewesen. Das ist auch nicht kein Geld, aber bei so einer Summe muss man schon sagen: Ein kleiner, ein kleinster Schritt für den Bundesfinanzmi- nister. Aber eben ein großer Einschnitt für den einzelnen Leistungsempfänger. Bis dahin handelte es sich also um ein sinnloses Gesetz mit einem angemessenen Titel. Nach langer Diskussion, heftigem Protest der Betrof- fenen, verschiedener Sozialverbände und der Opposi- tionsfraktionen hat die Koalition dann in letzter Minute ihre Pläne geändert. Es bleibt bei den Rentenzusatzleis- tungen, und es wird auch - endlich - eine Leistung für diejenigen Spätheimkehrer eingeführt, die in die heutigen neuen Bundesländer zurückgekehrt waren. Damit wird, wenn auch in kleinem Umfang, einer oft besonders be- dürftigen Gruppe von Menschen nach Jahrzehnten end- lich geholfen. Diese Änderungen haben wir begrüßt und unterstützt, denn statt dem Motto „Haushaltskonsolidierung ist an- gewandte Knauserigkeit“ galt nun wieder das Prinzip Augenmaß. Damit hatten wir nun ein angemessenes Ge- setz mit einem sinnlosen Titel, denn aufgehoben wird ja nun nicht mehr. Es blieb noch ein Problem, das wir nun heute lösen wollen: Die Entschädigung für die Heimkehrer in die neuen Bundesländer sollte am 1. Januar 2009 beginnen können. Das ist angesichts des Alters der Betroffenen reichlich spät. Denn wenn man Menschen, die ja zumeist in den 1910er- und 1920er-Jahren geboren sind, helfen will, dann sollte man nicht bis zu ihrem 99. Geburtstag warten. Ein sachlicher Grund für diesen Termin war auch nicht erkennbar, also hat die Koalition nun die nächste Änderung vorgelegt. Damit wird der Beginn der Entschä- digung auf den 1. Juli dieses Jahres vorgezogen, Anträge können schon jetzt formlos gestellt werden. Das ist gut und richtig so, deshalb unterstützen wir dieses Anliegen. Damit wäre dann auch dieser handwerkliche Fehler aus- gebügelt. Dr. Christoph Bergner, Parlamentarischer Staats- sekretär beim Bundesminister des Innern: Der Deutsche Bundestag hat im vergangenen Novem- ber in zweiter und dritter Lesung das Heimkehrer- stiftungsaufhebungsgesetz beschlossen. Art. 3 dieses Gesetzes beinhaltet das Gesetz über eine einmalige Ent- schädigung an die Heimkehrer aus dem Beitrittsgebiet. Als Anerkennung ihres Leidens und als Geste der Wieder- gutmachung sieht das Heimkehrerentschädigungsgesetz eine nach Dauer der Kriegsgefangenschaft gestaffelte Einmalleistung an Kriegs- und Geltungskriegsgefangene vor. Die in die SBZ bzw. DDR heimgekehrten Kriegs- und Geltungskriegsgefangenen erhalten danach endlich eine Leistung, die der in den westlichen Bundesländern ge- währten Kriegsgefangenenentschädigung vergleichbar ist. Darüber dürfen sich die in das Gebiet der SBZ bzw. ehemaligen DDR aus der Kriegsgefangenschaft Heimge- kehrten freuen. Die geschaffene Regelung soll zur Gleich- behandlung mit den in die alten Bundesländer Heimge- kehrten beitragen. Dabei geht es um unser grundsätzliches Verständnis bei der Aufarbeitung der Folgen des Zweiten Weltkrieges und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Für die Bundesrepublik Deutschland ging es dabei neben der Aussöhnung und Wiedergutmachung gegenüber den Op- fern des nationalsozialistischen Völkermordes und der Hitler’schen Aggressionskriege immer auch um die Soli- darität unter den Deutschen, die von den Folgen des Krieges oft sehr unterschiedlich betroffen waren. So haben die Spätheimkehrer in Arbeitslagern und an anderen Einsatzorten meist schwerste Arbeit unter teil- weise furchtbaren Umständen leisten müssen. Sie haben damit seinerzeit die Folgen der katastrophalen Politik des nationalsozialistischen Deutschlands in besonderer Weise tragen und an ihnen leiden müssen. Man kann sa- gen: Sie haben oft stellvertretend für andere Lasten der deutschen Geschichte auf sich nehmen müssen und sind im Westen Deutschlands deshalb auch nach dem Kriegs- gefangenenentschädigungsgesetz entschädigt worden. Die DDR sah keine Verpflichtung für staatliche Soli- daritätsleistungen gegenüber Spätheimkehrern. Der SED-Staat ignorierte die individuelle Betroffenheit und überließ es allein der Zufälligkeit unterschiedlicher Schicksalswege, wenn es darum ging, Kriegsfolgen zu be- wältigen. Dies muss und soll für die Spätheimkehrer end- lich korrigiert werden. Wir beenden also ein ideologisch geprägtes Missverständnis der DDR, wenn wir uns für die Heimkehrerentschädigung Ost entscheiden und damit anerkennen, dass diese Kriegsgefangenen mit ihrer lan- gen Gefangenschaft eine Leistung stellvertretend für das ganze deutsche Volk erbringen mussten. Dabei ist bis zu dieser Entscheidung bereits viel Zeit vergangen. Es war nun die letzte Gelegenheit, die Heim- kehrerentschädigung zusammen mit der Aufhebung der Heimkehrerstiftung zu beschließen. Denn die Vorge- schichte des Heimkehrerentschädigungsgesetzes zeigt, dass sonst wohl bis heute keine entsprechende Regelung zustande gekommen wäre. Schließlich hatten gleichge- richtete Initiativen der CDU/CSU-Fraktion und des Bun- desrats in der 14. und 15. Legislaturperiode keinen Er- folg. Aber: Das Heimkehrerentschädigungsgesetz würde Zu Protokoll gegebene Reden Dr. Christoph Bergner, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Innern nach bisheriger Rechtslage erst am 1. Januar 2009 in Kraft treten. Damit können die Ostheimkehrer nicht zu- frieden sein. Damit wollten sich auch die Koalitionsfrak- tionen nicht abfinden. Der entsprechende Gesetzesbeschluss Ende letzten Jahres war zwar richtig, um eine Entschädigung der Ostheimkehrer auf den Weg zu bringen. Er konnte seiner- zeit auch nicht günstiger gefasst werden, weil in der kur- zen, nach den Beratungen Ende des vergangenen Jahres zur Verfügung stehenden Zeit weder die personellen Vo- raussetzungen für die Auszahlung der Entschädigung durch das Bundesverwaltungsamt zum 1. Januar 2008 sichergestellt noch die entsprechenden Haushaltsmittel bereitgestellt werden konnten. So wenig wie deshalb da- mals ein früherer Inkrafttretenstermin festgeschrieben werden konnte, so wenig befriedigend war und ist diese Situation für die Ostheimkehrer. Dass ein Heimkehrer fast 60 Jahre nach Ende der Kriegsgefangenschaft noch auf eine endlich beschlossene symbolische Entschädigung warten soll, war nicht vermittelbar. Angesichts ihres ho- hen Alters besteht bei dem späten Inkrafttretenstermin zu- dem die Gefahr, dass die Berechtigten die Auszahlung der Entschädigung nicht mehr erleben. Deshalb haben die Bundesregierung und die Koali- tionsfraktionen gehandelt: die Bundesregierung, indem sie die verfahrensmäßigen Voraussetzungen für einen Be- ginn der Auszahlungen zur Mitte dieses Jahres geschaffen hat, die Koalitionsfraktionen, indem sie mit dem heute ab- schließend beratenen Entwurf eines Änderungsgesetzes eine Vorverlegung des Termins des Inkrafttretens des Heimkehrerentschädigungsgesetzes auf den 1. Juli 2008 bestimmen. Das ist zu begrüßen.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Wir kommen zur Abstimmung. Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa- che 16/9318, den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 16/9058 anzuneh- men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zu- stimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstim- men? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzent- wurf ist auch in dritter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 26 a und 26 b auf: a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung haftungsrechtlicher Vorschriften des Atomgesetzes und zur Änderung sonstiger Rechtsvorschriften - Drucksache 16/9077 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Protokollen vom 12. Februar 2004 zur Änderung des Übereinkommens vom 29. Juli 1960 über die Haftung gegenüber Dritten auf dem Gebiet der Kernenergie in der Fassung des Zusatzprotokolls vom 28. Januar 1964 und des Protokolls vom 16. November 1982 und zur Änderung des Zusatzübereinkommens vom 31. Januar 1963 zum Pariser Übereinkommen vom 29. Juli 1960 über die Haftung gegenüber Dritten auf dem Gebiet der Kernenergie in der Fassung des Zusatzprotokolls vom 28. Januar 1964 und des Protokolls vom 16. November 1982 ({1}) - Drucksache 16/9078 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({2}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die Reden der folgenden Kolleginnen und Kollegen: Dr. Georg Nüßlein, CDU/CSU, Christoph Pries, SPD, Angelika Brunkhorst, FDP, Hans-Kurt Hill, Die Linke, Sylvia Kotting-Uhl, Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Georg Nüßlein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003602, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Eine verantwortungsvolle Energiepolitik wird eine der großen politischen Aufgaben in den nächsten Jahren und Jahrzehnten sein. Die heute im Plenum zu behandelnden Gesetzesvorlagen, den haftungsrechtlichen Schutz im Bereich Kernenergie betreffend, sind ein wichtiger Teil einer verantwortungsbewussten Energiepolitik. Der Aspekt der Haftung ist in der Kette einer verantwortungsbewussten Energiepolitik ein wichtiges, wenn auch mehr juristisches und letztes Glied. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, auch außerhalb des Haftungsrechts eine verantwortungsbewusste Energie- und Umweltpolitik abzustecken, um dann auf die Kettenglieder Sicherheit und Haftung zurückzukommen. Die Unwägbarkeiten bei der Energielieferung und die rasant gestiegenen Energiepreise sind mir, wie Ihnen, hinlänglich bekannt. Die Notwendigkeit der Klimaschutzziele ist unbestritten. Es stellt sich die Frage: Können wir vor diesem Hintergrund am anvisierten Ausstieg aus der Kernenergie festhalten, oder brauchen wir Laufzeitverlängerungen, weil wir auf die Kernenergie als Brückentechnologie in einen neuen Energiemix nicht verzichten können? Nach jetziger Lage sollen bis spätestens 2023 alle 17 Kernkraftwerke vom Netz und 21 000 Megawatt Leistung ersetzt werden. Gleichzeitig müssen die Treibhausgase drastisch reduziert werden, damit der Klimawandel und seine Folgen beherrschbar bleiben. Dabei ist unstreitig: Nationale Anstrengungen sind nicht genug. Die Klimaschutzziele Europas sind nur ein erster wegweisender Ansatz: Die Treibhausgasemissionen müssen gesenkt, der Anteil der erneuerbaren Energien erhöht und die Energieeffizienz gesteigert werden. Wenn wir dabei in Deutschland unser ehrgeiziges Ziel schaffen, bis zum Jahr 2020 rund 30 Prozent unseres Strombedarfs aus erneuerbaren Energiequellen zu decken: Wo kommen die übrigen 70 Prozent her? Wer jetzt mit dem Argument der Effizienzgewinne kommt, kann nicht Prozentrechnen. Wenn ich von 70 Prozent des Strombedarfs spreche, dann ist der Effizienzgewinn vorher bereits abgezogen. Hier spreche ich auch und speziell den Bereich der Grundlast an. Die Kernenergie leistet in Deutschland fast die Hälfte der Grundlastversorgung. Entweder: Wir setzen im Bereich der grundlastfähigen Stromversorgung fossile Energieträger ein, und das bedeutet einen erheblichen zusätzlichen CO2-Ausstoß. Oder: Deutsche Stromverbraucher beziehen in absehbarer Zeit teueren Atomstrom aus dem Ausland. Vor diesem Hintergrund sage ich: Wir brauchen die Kernenergie als Brückentechnologie auf dem Weg zu einem neuen Energiemix; denn es ist die verantwortliche Aufgabe der Politik, dass wir Wirtschaftlichkeit und Wachstum mit Ressourcenschonung und Klimaschutz verbinden. An dieser Stelle will ich ankündigungsgemäß überleiten zum Thema Sicherheit und Haftung. Die deutschen Kernkraftwerke zählen weltweit unstreitig zu den Sichersten. Alle in Deutschland betriebenen Kernkraftwerke werden stets dem aktuellen Stand der Sicherheit angepasst. Den gilt es zu exportieren. Das kann aber nur, wer die Technik im eigenen Land einsetzt und an andere verkauft. Und: Dieser Hightech-Sicherheitsstandard, den Deutschland marktbeherrschend und kontinuierlich weiterentwickelt, der muss beibehalten werden; denn weltweit wird in mehr als 30 Ländern Kernenergie genutzt, und international ist im Bereich der Kernenergie ein steter Ausbau zu verzeichnen. Auch vor diesem Hintergrund ist der heute vorgesehene Finalausstieg Deutschlands nicht sinnvoll, denn im Bereich der Kernenergie brauchen wir zwingend über die nationalen Grenzen hinaus den hohen deutschen Sicherheitsanspruch. Neben dieser technologischen Sicherheit steht der haftungsrechtliche Teil der Sicherheit: Das Atomhaftungsrecht ist ein von internationalen Übereinkommen geprägtes Rechtsgebiet. Die alsbald nach Ende des Zweiten Weltkriegs einsetzende Nutzung der Atomkraft für friedliche Zwecke, namentlich zur Energieerzeugung, warf unmittelbar die Frage nach einem angemessenen Haftungsregime für nukleare Unfälle auf. Im Laufe der Jahrzehnte entwickelte sich ein immer effektiveres, an den besonderen Risiken der Atomenergie und den Erfordernissen des Opferschutzes orientiertes Haftungsregime. Regelungsgegenstand der uns heute vorliegenden Gesetzesentwürfe ist es, die Änderungsprotokolle zum Pariser Übereinkommen und zum Brüsseler Zusatzübereinkommen zu ratifizieren sowie die entsprechende Umsetzung in nationales Recht vorzunehmen. Ziel der Überarbeitung dieser internationalen Übereinkommen war die Verbesserung einer multilateralen Haftungsgrundlage für nukleare Schäden. Wichtige bereits bestehende Haftungsgrundsätze im Falle eintretender nuklearer Schäden sind dabei beibehalten worden, so etwa die Gefährdungshaftung des Inhabers einer Kernanlage oder der Grundsatz der Gleichbehandlung aller Geschädigten, unabhängig von Staatsangehörigkeit oder Wohnort. Die heute in Rede stehende Neuregelung war auch und gerade vor dem Hintergrund notwendig geworden, dass in einigen Vertragsstaaten noch immer verhältnismäßig niedrige Haftungshöchstgrenzen bestanden haben. Neue Regelungsinhalte zur Verbesserung der Schadensausgleichssituation sind demzufolge unter anderem die Erhöhung der Haftung des Inhabers einer Kernanlage um ein Mehrfaches auf einen Mindestbetrag von 700 Millionen Euro, die ausdrückliche Zulassung der unbegrenzten Haftung des Inhabers einer Kernanlage, und die Anhebung der Mindesthaftung im Bereich der Transporte nuklearen Materials. Darüberhinaus wurde etwa der territoriale Anwendungsbereich des Übereinkommens erweitert und eine Regelung zum Staatenklagerecht aufgenommen. Auf dieser Basis konnte das Nuklearhaftungsniveau angehoben und eine international harmonisierte Verbesserung des haftungsrechtlichen Schutzes auf dem Gebiet der Kernenergie erfolgen.

Christoph Pries (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003874, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wir debattieren heute zwei Gesetzentwürfe im Bereich des internationalen Atomhaftungsrechts. Zum einen geht es um die Ratifizierung der Protokolle vom 12. Februar 2004 zur Änderung des Pariser Übereinkommens und des Brüsseler Zusatzübereinkommens zur Haftung gegenüber Dritten auf dem Gebiet der Kernenergie, die sogenannten Pariser Atomhaftungsprotokolle. Zum anderen geht es um die Umsetzung der Pariser Atomhaftungsprotokolle in nationales Recht. Beide Gesetzentwürfe dürften auf eine breite Zustimmung im Deutschen Bundestag stoßen, denn sie enthalten substanzielle Verbesserungen im internationalen Haftungsrecht im Falle eines nuklearen Schadens. Daran ist uns allen gelegen. Bereits seit Beginn der Nutzung der Atomenergie zur Erzeugung von Elektrizität in den 1950er-Jahren stellte sich die Frage nach einem angemessenen Haftungsregime für nukleare Unfälle. Aufgrund des Ausmaßes und des potenziell grenzüberschreitenden Charakters nuklearer Ereignisse und Schäden war man sich bereits früh darüber im Klaren, dass es der internationalen Kooperation auf diesem Gebiet bedürfe. Das auf Europa begrenzte Pariser Übereinkommen über die Haftung gegenüber Dritten auf dem Gebiet der Kernenergie von 1960, ergänzt durch das Brüsseler Zusatzübereinkommen von 1963, und das weltweit angelegte Wiener Übereinkommen über die Haftung für nukleare Schäden im Rahmen der Internationalen Atomenergie-Organisation aus demselben Jahr bilden bis heute die Grundlage des internationalen Atomhaftungsrechts. Die lange Zeit bestehende und kritisierte wechselseitige Exklusivität des Pariser und Zu Protokoll gegebene Reden Wiener Übereinkommens konnte 1988 durch ein gemeinsames Protokoll überwunden werden. Darüber hinaus wurden die Regelungen der beiden Übereinkommen aber in drei Bereichen als unzureichend empfunden: erstens, die zu geringen Haftungssummen und deren Begrenzung; zweitens, der unzureichende Opferschutz aufgrund des beschränkten Anwendungsbereiches der Übereinkommen; drittens, der dem modernen Umweltrecht nicht mehr entsprechende enge Schadensbegriff. Vor diesem Hintergrund nahmen Anfang 1998 die damals 14 Vertragsstaaten des Pariser Übereinkommens im Rahmen einer Arbeitsgruppe die Verhandlungen zur Revision des Übereinkommens auf. Dies war auch deshalb nötig, weil 1997 das Wiener Atomhaftungsübereinkommen grundlegend revidiert worden war. Die jetzt zur Ratifizierung und Umsetzung vorliegenden Änderungsprotokolle zum Pariser Übereinkommen und Brüsseler Zusatzübereinkommen wurden am 12. Februar 2004 in Paris unterzeichnet. Die Pariser Atomhaftungsprotokolle bedeuten: eine Verbesserung des Opferschutzes, eine Erhöhung der zur Verfügung stehenden Haftungssummen, eine territoriale Ausdehnung der Haftung, eine Erweiterung des Kreises der ersatzfähigen Schäden und eine Wiederherstellung der weitgehenden Parallelität der Bestimmungen des regionalen Pariser/Brüsseler mit dem globalen Wiener Atomhaftungsabkommen. Im Detail möchte ich auf drei Punkte eingehen, die aus unserer Sicht besonders erfreulich sind: Erstens. Der territoriale Anwendungsbereich des Übereinkommens wurde deutlich erweitert. Die Neufassung trägt den Anliegen der Nichtatomstaaten - zum Beispiel Österreich oder die Republik Irland - Rechnung, da das Übereinkommen nun automatisch auch für nukleare Schäden in diesen Ländern gilt. Bisher war die Ausweitung des Übereinkommens auf Nichtvertragsstaaten in das Ermessen der Vertragsparteien gestellt. Die Bundesrepublik Deutschland hat von dieser Möglichkeit bereits Gebrauch gemacht und den Geltungsbereich des Übereinkommens entsprechend ausgedehnt. Zweitens. Der Begriff des nuklearen Schadens wurde deutlich erweitert. Durch die Aufnahme der Kosten zur Wiederherstellung geschädigter Umwelt wurde eine Anpassung des Pariser Übereinkommens an das moderne Umwelthaftungsrecht vollzogen. Drittens. Die Haftungssummen wurden deutlich angehoben und die Haftungshöchst- zu Referenzbeträgen umgewandelt. Die Haftungshöchstbeträge von rund 15 Millionen Euro nach dem Pariser und 300 Millionen Euro nach dem Brüsseler Übereinkommen werden auf 700 Millionen Euro bzw. 1,5 Milliarden Euro angehoben. Dabei handelt es sich nicht mehr um Höchst-, sondern um Mindesthaftungssummen. Das bedeutet: Die im deutschen Atomgesetz seit 2002 bereits umgesetzte Festsetzung einer unbegrenzten Haftung der Anlagenbetreiber ist somit mit dem Übereinkommen vereinbar. Insgesamt bleibt festzuhalten: Die Pariser Atomhaftungsprotokolle stellen eine deutliche Verbesserung im Bereich der internationalen Atomhaftung dar. Die materiellen Auswirkungen des Übereinkommens auf Deutschland bleiben durch die 2002 eingeführten weiter gehenden nationalen Haftungsregelungen des Atomgesetzes begrenzt. Dass die Pariser Atomhaftungsprotokolle auch mehr als vier Jahre nach der Unterzeichnung bisher von keiner der 15 Vertragsparteien ratifiziert wurde, ist allerdings bedauerlich. Ich hoffe daher, dass Deutschland wie bei der Ausgestaltung auch bei der Ratifizierung der Pariser Atomhaftungsprotokolle eine Vorreiterrolle übernimmt.

Angelika Brunkhorst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003675, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Die FDP-Bundestagsfraktion kritisiert die heute debattierten Gesetzentwürfe der Bundesregierung in Teilen, stimmt ihnen in der Summe aber zu. Die deutliche Erhöhung der Haftungshöchstsummen für alle Beteiligten, für die Betreiber kerntechnischer Anlagen, die einzelnen Vertragsstaaten sowie für die Gemeinschaft der Vertragsstaaten, begrüßen wir ausdrücklich. Ebenso begrüßen wir, dass die betroffenen Bürger im Fall eines nuklearen Ereignisses umfassender entschädigt werden, insbesondere dann, wenn die fragliche Anlage im benachbarten Ausland liegt. Wir schließen uns allerdings der Kritik des Bundesrates an, die die Bundesregierung zurückgewiesen hat. Der Bundesrat hatte der Bundesregierung empfohlen, Art. 3 und 4 und in der Folge davon Art. 5 Abs. 2 zu streichen. Damit hat sich der Bundesrat dagegen ausgesprochen, das Bundesamt für Strahlenschutz in die Lage zu versetzen, künftig auch von Bund, Ländern, Gemeinden und bestimmten juristischen Personen des öffentlichen Rechts sowie von gemeinnützigen Forschungseinrichtungen Gebühren zu erheben. Die Bundesregierung ist dieser Empfehlung bedauerlicherweise nicht gefolgt. Wir reden hier über Einnahmen von etwa 350 000 Euro pro Jahr. Dieses Geld soll nun also den kerntechnischen Forschungseinrichtungen weggenommen und an das Bundesamt für Strahlenschutz überwiesen werden. Unsere - sowieso schon chronisch unterfinanzierten - Forschungseinrichtungen benötigen dieses Geld dringend, um ihre internationalen hohen Standards zu halten. Die Bundesregierung bringt hier in einem Artikelgesetz, das eigentlich nur der Umsetzung internationaler Abkommen dient, eine Regelung unter, die die nuklearen Forschungseinrichtungen belastet. Das hat mit dem eigentlichen Anlass des Gesetzes nichts zu tun, sondern ist eine reine Schikane, als deren Hintergrundmotiv man getrost die allgemeine Feindseeligkeit der Bundesregierung gegenüber der Kernenergie unterstellen darf. Wie verträgt sich dieser Winkelzug eigentlich mit den Beteuerungen aus dem für Forschung zuständigen Ministerium? Gerade mal ein paar Wochen ist es her, dass der im BMBF zuständige Staatssekretär Meyer-Krahmer sich öffentlich damit gebrüstet hat, steigende Fördermittel würden dafür sorgen, dass Arbeiten zur Strahlenforschung und zur nuklearen Sicherheitsforschung weitergehen und dass die Kompetenz im Bereich nukleare Sicherheit in Zu Protokoll gegebene Reden Deutschland erhalten bleibt. Und nun das. Sie führen die Menschen hinters Licht und glauben allen Ernstes, die Menschen würden es nicht merken. Die FDP wird zu derartigen Mätzchen jedenfalls nicht schweigen, auch wenn dies natürlich nicht Grund genug ist, um so wichtige Gesetze abzulehnen. Ein Verstoß gegen die „gesetzgeberische Hygiene“ ist es aber dennoch. Es sind Mätzchen, die - wie gesagt - absolut nichts mit dem eigentlichen Anlass des Gesetzes zu tun haben. Deutschland darf seine Führungsrolle in der kerntechnischen Forschung nicht durch bisher unübliche Zusatzbelastungen behindern - im Sinne der Sicherheit vorhandener und künftiger Anlagen, der Nichtverbreitung, der Behandlung radioaktiver Abfälle und der Stilllegung ausgedienter kerntechnischer Anlagen. Dass die Bundesregierung mit den hier debattierten Gesetzentwürfen unter anderem auch kerntechnischen Forschungseinrichtungen finanziell das Leben schwerer machen will, wundert allerdings nicht. Es passt vielmehr zum sozialdemokratischen Starrsinn und zum Stillschweigen der CDU/CSU bezüglich der Kernenergie. Wie erbärmlich, meine Damen und Herren Kollegen von der Union, wie erbärmlich und unehrlich! Aus europäischer Sicht verheißt die heutige deutsche Haltung nichts Gutes. Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ schrieb am 19. Mai 2008: Wie ein Spaltpilz wirkt in der deutsch-französischen Energiepolitik der von der rotgrünen Koalition unter Bundeskanzler Schröder beschlossene „Atomausstieg“ nach. Leider hat sie damit vollkommen recht. Die FDP-Bundestagsfraktion kritisiert die vorgelegten Gesetzentwürfe in Teilen, befürwortet aber die Umsetzung internationaler Abkommen auf nationaler Ebene. Wir stimmen den Gesetzentwürfen der Bundesregierung daher zu.

Hans Kurt Hill (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003767, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Mit der Vorlage der Bundesregierung sollen die Haftungssummen für Atomtransporte und bestimmte Atomanlagen neu festgelegt und EU-weit vereinheitlicht werden. Außerdem kann das Bundesamt für Strahlenschutz zukünftig Kosten für Verwaltungsaufgaben bei den Betreibern der Atomanlagen in Rechnung stellen. Das ist zunächst zu begrüßen, denn es ist nicht gerechtfertigt, dass die Bürgerinnen und Bürger die Kosten der gefährlichen Atomenergie durch die Hintertür bezahlen. Bei genauerem Hinsehen entpuppt sich der Entwurf aber als Luftnummer. Die Mindesthaftung bei Atomtransporten soll 80 Millionen Euro betragen. Bei einem Unfall mit abgebranntem Nuklearmaterial wird diese Summe nicht einmal im Ansatz reichen. Die Summe müsste um das Einhundertfache erhöht werden, um den Folgen eines Schadensfalls ernsthaft gewachsen zu sein. Gleichzeitig klammert die Änderung des Atomgesetzes eine längst überfällige Haftungsreglung für deutsche Atomkraftwerke aus. Die Bundesregierung hält es schlicht nicht für nötig, das Kassemachen der Atomkonzerne auf Kosten der Bürgerinnen und Bürger zu beenden. So heißt es im Gesetzentwurf, die Änderung „erfordert keine inhaltlichen Anpassungen des nationalen Rechts“. Damit wir uns richtig verstehen: Die Energiebosse haben für ihre Atomkraftwerke jeweils eine Haftungsbegrenzung von 2,5 Milliarden Euro. Die Folgekosten eines Kernschmelzeunfalls werden aber mit 500 Milliarden bis 5 Billionen Euro angegeben. Ungeheure Summen würden im Ernstfall auf die Allgemeinheit abgewälzt. Das würde auch die deutsche Volkswirtschaft für längere Zeit lähmen. So etwas ist nicht hinnehmbar und verdeckt die tatsächlichen Kosten der Atomenergienutzung. Diese rechnet sich für die Anlagenbetreiber doch nur, weil die enormen Zusatzkosten und Risiken auf die öffentliche Hand abgewälzt werden. Bezieht man die sozialen, ökologischen und gesundheitlichen Risiken in die Stromrechnung mit ein, würde Atomstrom je Kilowatt nicht zwei Cent, sondern zwei Euro kosten. Damit ist klar: Atomenergie ist unwirtschaftlich, gefährlich und nicht beherrschbar, ganz abgesehen davon, dass die Frage der Endlagerung hochradioaktiver Stoffe wohl nie abschließend geklärt werden kann. Die Linksfraktion fordert die Bundesregierung deshalb auf, die Haftungsfrage auch in Deutschland mit der vorliegenden Gesetzesvorlage neu zu regeln. Man muss schließlich auch zur Kenntnis nehmen, dass die Energiekonzerne mit jedem der maroden Atomblöcke pro Jahr mindestens 300 Millionen Euro Profit machen. Die wahren Kosten der Atomenergie müssen endlich offengelegt werden. Letztendlich muss die Konsequenz aber lauten: Raus aus der gefährlichen Atomenergie, so schnell wie möglich.

Sylvia Kotting-Uhl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003792, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Im Rahmen der internationalen Verhandlungen zur Verbesserung der Haftung bei Atomunfällen ist im Februar 2004 das Pariser Abkommen vereinbart worden. Heute debattiert der Bundestag die Übernahme dieser Regelungen ins deutsche Atomgesetz. Wir Grüne haben die Nutzung der Atomkraft stets abgelehnt, weil ihre Gefahr für Mensch und Umwelt zu groß ist. Deshalb begrüßen wir im Grundsatz die Präzisierung im Gesetzentwurf, wonach zukünftig allein die Inhaber von Atomanlagen - das sind die großen Energiekonzerne - für Schäden haften müssen. Ausdrücklich ist vorgesehen, dass der Staat den betreffenden Konzern dazu heranziehen kann, unbegrenzt zu haften. Die bisher gültigen, viel zu niedrigen Haftungsobergrenzen werden abgeschafft. Eine unbegrenzte Haftung entspricht unserer grünen Überzeugung, dass Betreiber von Atomanlagen bei einem Atomunfall voll in die Verantwortung genommen werden müssen, so wie sie ja auch die Gewinne aus dem Atomstromverkauf voll abschöpfen. Angesichts der Verwüstungen, die durch einen größten anzunehmenden Unfall eines AKW im dichtbesiedelten Deutschland entstehen würden, muss ich allerdings feststellen, dass die weiterhin bestehende garantierte Deckungssumme von 2,5 Milliarden Euro dazu in krassem Missverhältnis steht. Im Wirtschaftsleben ist es gängige Praxis, dass ein Unternehmen eine betriebliche RisikoZu Protokoll gegebene Reden vorsorge zu treffen hat, die sich in der Größenordnung des tatsächlich möglichen Schadens bewegt. Das gilt beispielsweise auch beim Bau einer Windkraftanlage. Es ist kaum vermittelbar, dass ausgerechnet die Risikotechnologie Atomkraft von diesem Prinzip ausgenommen ist. Die Umweltverbände und die Ärzte gegen den Atomkrieg sprechen an diesem Punkt von einer Subventionierung, die die Politik der Atomwirtschaft trotz ihrer exorbitanten Gewinne gewährt. Der Zusammenhang ist darin begründet, dass auch die unzureichende Verpflichtung zur Schadensvorsorge dazu führt, dass sich die Stromproduktionskosten für die Atomlobby derart günstig darstellen. Das Prognos-Institut hat ermittelt, dass ein GAU Schäden in Höhe von etwa 5 000 Milliarden Euro verursachen würde. Das entspricht dem 20-fachen Wert des Bundeshaushalts und übertrifft die Deckungsvorsorge um den 2 500-fachen Faktor. Angesichts dieser Zahlen wird deutlich: Selbst aus rein fiskalischer Betrachtung ist das Risiko der Atomkraft zu hoch, von den menschlichen Tragödien gar nicht zu reden. Erfinder- und Ingenieursgeist hat die Alternativen zur Atomstromproduktion längst hervorgebracht. Deutschland gehört zu den führenden Exporteuren der Technologien für erneuerbare Energien. Tausende von neuen Arbeitsplätzen wurden in den vergangenen Jahren geschaffen. Trotzdem wollen uns die Energiekonzerne weismachen, dass der Übergang in das postfossile Energiezeitalter nicht ohne die Verlängerungen der Laufzeiten der Atomkraftwerke zu bewerkstelligen sei. Diese Behauptung ist falsch und lenkt von den eigentlichen Zukunftsaufgaben ab: Es muss vermehrt darum gehen, dass die Politik die Vorsorge gestaltet, dass die zahlreichen Risiken, die die zunehmende Industrialisierung mit sich bringt, möglichst minimiert werden. Am Atomausstieg muss festgehalten werden. Für die Haftungsregelungen im AtG fordern wir eine deutliche Erhöhung der garantierten Deckungsvorsorge. Die garantierte Deckung im Promillebereich eines möglichen Schadens ist nicht hinnehmbar. Tatsächlich müsste das gesamte Risiko versichert werden. Bekanntermaßen ist dazu keine Versicherung bereit. In einem Staat, der Vorsorge ernst nimmt, müsste im Prinzip gelten, dass ein Risiko, das nicht versichert werden kann, gesellschaftlich nicht tragfähig ist. Zumindest ist es an der Zeit, die Organisationsstruktur der finanziellen Vorsorge zu verändern. Wir sind der Ansicht, dass diese Geldmittel unter staatliche Kontrolle gestellt werden sollten. Die politisch Verantwortlichen sind dann in der Pflicht, zu entscheiden, wie mit den Geldern zu verfahren ist. Sinnvoll ist die Einrichtung einer Stiftung oder eines Fonds, die aus den Zinsen der Einlagen die Entwicklung sicherer, unbedenklicher Energieformen fördern. Unsere Mindestforderungen sind: deutliche Anhebung der Deckungsvorsorge, staatliche Kontrolle der Vorsorgegelder und Investition der Zinserträge in unbedenkliche Zukunftsenergien.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 16/9077 und 16/9078 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 sowie Zusatzpunkt 6 auf: 27 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Sibylle Pfeiffer, Dr. Christian Ruck, Dr. Wolf Bauer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Wolfgang Wodarg, Dr. Sascha Raabe, Gregor Amann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Deutschlands globale Verantwortung für die Bekämpfung vernachlässigter Krankheiten Innovation fördern und Zugang zu Medikamenten für alle sichern - Drucksachen 16/8884, 16/9320 Berichterstattung: Abgeordnete Sibylle Pfeiffer Dr. Karl Addicks Ute Koczy ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Karl Addicks, Hellmut Königshaus, Cornelia Pieper, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Tropische Armutskrankheiten stärker in der deutschen Entwicklungszusammenarbeit berücksichtigen - Forschungsanstrengungen ausweiten - Drucksache 16/9309 Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Sibylle Pfeiffer, CDU/CSU, Dr. Wolfgang Wodarg, SPD, Dr. Karl Addicks, FDP, Monika Knoche, Die Linke, und Ute Koczy, Bündnis 90/Die Grünen.

Sibylle Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003609, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Als wir diesen Antrag vor vier Wochen debattiert haben, geschah dies im Vorfeld der Tagung der „Intergovernmental Working Group on Public Health, Innovation an Intellectual Property“. Die Vollversammlung der Weltgesundheitsorganisation hat die Ergebnisse ebendieser Arbeitsgruppe der Vereinten Nationen am letzten Samstag angenommen. Man sieht: Die Koalition hat auf aktuelle Ereignisse schnell reagiert - im Gegensatz zur FDP, die erst jetzt mit ihrem Antrag kommt. Drei der acht Millenniumsziele beziehen sich auf die Gesundheit in den Entwicklungsländern. Das ist nicht verwunderlich, weil wir wissen, dass zwischen Armut und Krankheit ein unheilvoller Zusammenhang besteht. Um die Kindersterblichkeit in den Entwicklungsländern zu verringern, um die Gesundheit von Müttern zu verbessern und um die schlimmsten InfekSibylle Pfeiffer tionskrankheiten zu bekämpfen, bedarf es eines vielseitigen, eines umfassenden und eines nachhaltigen Ansatzes. Dieser nachhaltige Ansatz beinhaltet die Schaffung von sozialen Sicherungssystemen genauso wie die Einrichtung von Gesundheitsdiensten. Natürlich spielt in diesem Zusammenhang das Thema Medikamente eine wichtige Rolle. Ohne Medikamente ist die Bekämpfung und Vermeidung von Krankheiten nun einmal nicht möglich. Die armen Länder leiden schwer unter den sogenannten vernachlässigten Krankheiten beziehungsweise unter den armutsbedingten Tropenkrankheiten. Für diese Krankheiten gibt es keine oder nicht ausreichende Medikamente. Gerade mit diesem Missstand beschäftigt sich unser Antrag. Wir zeigen Wege auf, wie dieser Missstand behoben werden kann. Warum fehlen für diese Krankheiten Medikamente, Diagnostika und Impfstoffe? Warum ist die Erforschung dieser Krankheiten vernachlässigt? Was können wir dagegen tun? Wir müssen feststellen, dass es in diesem Bereich ein Ungleichgewicht in der Forschung gibt. Nur 10 Prozent der weltweiten Forschungsgelder im biomedizinischen Bereich werden für die Entwicklung von Medikamenten für Krankheiten eingesetzt, unter denen 90 Prozent der Menschen leiden. Und wir ahnen es: Die meisten Menschen der 90 Prozent leben in den ärmsten Regionen der Welt. Folgender Schluss liegt nahe: Weil es keinen entsprechenden Markt gibt, wird kaum in dem Bereich der armutsbedingten Tropenkrankheiten geforscht. Nun, es mag keinen Markt geben, aber es gibt sehr wohl einen Bedarf - und der ist enorm. Bis zu 1 Milliarde Menschen leidet unter den vernachlässigten Krankheiten. Von 1974 bis 2004 wurden fast 1 600 neue Wirkstoffe auf den Markt gebracht, davon aber nur acht für Malaria und drei für Tuberkulose. Bei anderen Krankheiten ist die Situation nicht besser. In der Tat können wir von vernachlässigten Krankheiten sprechen. Doch wir dürfen nicht vergessen, dass damit auch die kranken Menschen vernachlässigt werden. Das dürfen wir nicht zulassen. Es ist nicht hinnehmbar, dass jährlich unzählige Menschen an Krankheiten sterben, die relativ leicht behandelbar wären. Durch vernachlässigte Krankheiten gehen jedes Jahr 140 Millionen Lebensjahre in Gesundheit verloren. Zu dem unermesslichen Leid der Menschen kommt hinzu, dass diese Jahre der Wirtschaft der Entwicklungsländer fehlen. Dies wiederum macht den Ausstieg aus der Armut noch schwieriger. Die Analyse der Situation ist eindeutig. Wir müssen handeln, und zwar schnell. Die Entwicklung von Medikamenten ist ein langwieriger Prozess. Es kann fünf bis 20 Jahre dauern, bis ein Medikament entwickelt wird. Ich möchte die Verantwortung Deutschlands in dieser Frage nicht relativieren. Ich denke aber, dass nationale Alleingänge nicht effektiv genug sind. Meiner Meinung nach steht die gesamte internationale Gemeinschaft in der Pflicht. Politik, Wirtschaft und Wissenschaft müssen auf globaler Ebene zusammenarbeiten, damit die Tropenkrankheiten effektiv bekämpft werden können. Mir ist allerdings wichtig, dass sich Deutschland nicht hinter der Anonymität der Globalisierung versteckt, sondern dass wir das machen, was in unseren Möglichkeiten liegt. Auch deshalb haben wir diesen Antrag eingebracht. In unserer ersten Debatte habe ich gesagt, dass ich von einseitigen Schuldzuweisungen nichts halte. Den Schwarzen Peter möchte ich nicht allein der Pharmaindustrie zuschieben. Es ist ja nicht so, dass die Pharmaindustrie die Hände in den Schoß legt und nichts unternimmt. Auf unseren Reisen können wir uns überzeugen, dass die Arzneimittelhersteller viele Projekte finanzieren, die segensreich für die Menschen in den Entwicklungsländern sind. Wir wissen, dass Medikamentenforschung teuer ist. Es ist legitim, dass wirtschaftlich gedacht und gehandelt wird. Kosten müssen gedeckt und Mittel für neue Forschung verdient werden. Dennoch möchte ich ausdrücklich betonen, dass die Pharmaindustrie in der Pflicht steht. Eigentum verpflichtet. Auch geistiges Eigentum verpflichtet, erst recht, wenn es sich dabei um das Wissen, wie Krankheiten behandelt werden können, handelt, und erst recht, wenn es sich dabei um Wissen handelt, wie Menschenleben gerettet werden können. Die Hersteller von Medikamenten müssen sich die Frage, warum sie die Forschung bei den armutsbedingten Tropenkrankheiten derart vernachlässigt haben, gefallen lassen. Sie sind aufgefordert, einen entscheidenden Beitrag zu leisten, damit dieser Missstand endlich behoben wird. Wir, die Parlamentarier, wollen unseren Beitrag hierzu leisten. In unserem Antrag haben wir Möglichkeiten aufgezeigt, wie die Forschung an neuen Medikamenten gegen Armutskrankheiten vorangetrieben werden kann. Natürlich spielen dabei die Patentrechte eine Rolle. Wir wissen: Das ist ein sensibles Thema, weil Patentrechte nicht gleich Patentrechte sind. Ein Patent für eine Motorsäge ist nun einmal anders zu bewerten als ein Patent für ein Medikament. Die deutsche Regierung und das deutsche Parlament haben bewiesen, dass diese Herausforderungen sehr ernst genommen werden. Anlässlich der G-8Präsidentschaft fand im Bundestag die internationale G-8-Parlamentarier-Konferenz zum Thema „Gesundheit in Entwicklungsländern“ statt. Über 100 Parlamentarier haben detaillierten Forderungen an die Regierungen der G-8-Staaten formuliert. Ich habe bereits erwähnt, dass weltweit nur 10 Prozent der Forschungsgelder für die Entwicklung von Medikamenten für Krankheiten eingesetzt werden, unter denen 90 Prozent der Menschen leiden. Dieser Zustand ist unhaltbar. Unser Antrag zeigt Möglichkeiten auf, wie Forschungsanreize für Medikamente gegen vernachlässigte Krankheiten gegeben werden können. Die Forschung muss dort Schwerpunkte setzen, wo die Hilfe am nötigsten ist - ohne Rücksicht auf die Kaufkraft der Betroffenen. Daher ist meiner Meinung nach wichtig, dass die Entwicklungskosten von Medikamenten gegen vernachlässigte Krankheiten vom Produktpreis in armen Ländern abgekoppelt werden können. Wir brauchen einen fairen Interessensausgleich zwischen Industrieländern und Entwicklungsländern, auch im Bereich der Medikamente. Zu Protokoll gegebene Reden

Dr. Wolfgang Wodarg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002828, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Täglich lesen wir über neue Fortschritte in der Medizin und über die konstante Steigerung der Lebenserwartung. So ist es nicht überall auf der ganzen Welt. Die immer größer werdende Kluft zwischen armen und wohlhabenden Ländern liegt in unzureichenden gesundheitlichen Versorgungsstrukturen aber auch in der ungleichmäßigen Verteilung und im nicht bedarfsgerechten Zugang zu lebenswichtigen Medikamenten. Dort, wo jetzt Millionen von Menschen jährlich an übertragbaren Krankheiten sterben, stammen die dürftigen Therapiemöglichkeiten oft noch aus der Kolonialzeit und wurden seitdem nicht mehr verbessert. Sie sind oft zu teuer, schwierig zu verabreichen und belastend durch erhebliche Nebenwirkungen. Bei einigen Medikamenten, zum Beispiel denen gegen Tuberkulose, gibt es eine wachsende Zahl von Resistenzen. Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Lediglich 1,3 Prozent aller seit 1975 auf den Markt gebrachten Medikamente wurden für die Bekämpfung von tropischen Krankheiten und Tuberkulose entwickelt. Dabei wurde weltweit noch nie so viel in Forschung und Entwicklung von neuen Medikamenten investiert wie in den letzten zwei Jahrzehnten. Krankheiten wie Dengue-Fieber, Chagas, Bilharziose oder Loa loa sind aber offenbar so weit außerhalb der Interessen reicher Industrienationen, dass sie von den FuE-Bemühungen der Pharmaindustrien nicht berücksichtigt werden. Geforscht wird da, wo die schnelle Rendite lockt - und da spielen die Länder mit endemischen Wurm- oder Durchfallerkrankungen, die zusammen mit anderen Armuts- und Infektionskrankheiten Millionen Menschen im Süden das Leben kosten, keine Rolle. Mehr Geld verdienen kann man auf dieser Welt mit Medikamenten gegen Haarausfall, Fettleibigkeit, Impotenz oder andere „Krankheiten“ reicher Länder. Es gibt unterschiedliche Methoden, den Fortschritt in der Medizin voranzubringen. Das Normale wäre, dass sich Gesellschaften und betroffene Länder zusammenschließen, in denen bestimmte Krankheiten einen hohen Schaden anrichten, und Mittel in ihren Forschungshaushalt einstellen oder, wenn sie arm sind, von anderen Ländern erbitten, um hier möglichst schnell gemeinsam eine kostengünstige und wirksame Abhilfe zu entwickeln. Leider sind nur wenige Entwicklungsländer stabil und stark genug, diesen Weg zu gehen. Die Länder, die Eigeninitiative entwickeln, brauchen unsere Hilfe und Begleitung. Viele Regionen in tropischen Ländern leiden nicht nur unter Krankheiten, sondern auch noch unter schwachen oder eigennützigen Regierungen. Hier sind es oft internationale oder ausländische Organisationen, welche versuchen, die nötigen Gesundheitshilfen zu organisieren und zu ersetzen. Auch diese sind jedoch nicht in der Lage, Forschung zu betreiben oder gar zu finanzieren. Neues medizinisches Wissen wird am schnellsten in offenen internationalen Netzwerken entwickelt, denen die dafür erforderlichen Mittel bereitgestellt werden. Als positives Beispiel mag hier das Human Genome Project dienen, welches ohne Wissensmonopolisierung durch Patentstrategien in kürzester Zeit eine der komplexesten Fragestellungen gelöst hat: die Entschlüsselung des menschlichen Genoms. Die Bundeskanzlerin hat sich für den Schutz von geistigem Eigentum stark gemacht. Das ist grundsätzlich eine richtige Forderung. Doch im Bereich der Lebenswissenschaften, in der Medizin, sind diese Gesetze des Wissensmarktes tödlich für alle, die aus finanziellen Gründen nicht teilhaben können. Da Armut und Krankheit weitgehend zusammenfallen entsteht hier aus Patentstrategien und aus Wissensmonopolisierung im gesundheitlichen Bereich ein unerträgliches humanitäres Problem. Die Pharmaindustrie erpresste die Gesellschaft in der Vergangenheit wiederholt mit dem Slogan: „No Patent No Cure!“ Diese Sicht verdrängt völlig, dass bis vor wenigen Jahrzehnten, in den Zeiten raschen medizinischen Fortschritts, die meisten Wirksubstanzen ohne Patente erforscht und dem Markt zur Verfügung gestellt wurden. Auch der Generikamarkt ist, wie wir wissen, lukrativ. Es geht also um die Forschungs- und Entwicklungsfinanzierung. Angesichts der genannten Zusammenhänge fordern wir eine öffentlich geförderte Forschungsfinanzierung zumindest für das verwaiste Gebiet der vorherrschenden Erkrankungen in den armen Ländern. Impfstoffe, Medikamente, Präventions- und Versorgungsstrategien müssen in einer internationalen gemeinsamen Anstrengung erforscht und entwickelt werden. Manche Pharmakonzerne haben das bereits gesehen und gehandelt. Firmen wie Merck oder Sanofi Aventis stellen bereits Medikamente im Wert von Millionen von Dollar kostenlos zu Verfügung. Diese Spendenprogramme sind sehr zu begrüßen. Leider sind sie kurzfristig und lösen das grundsätzliche Problem nicht. Ein bedürfnisorientiertes System kann nicht allein auf Freiwilligkeit beruhen. Eine nachhaltige weltweite Versorgung mit lebenswichtigen Medikamenten verlangt, dass die Wissenschaft, die Forschung, die Wirtschaft und die Politik Verpflichtungen eingehen. Auch die Weltgesundheitsorganisation hat das Problem erkannt. Die spezielle Arbeitsgruppe von WHOMitgliedstaaten, die Intergovernmental Working Group on Public Health, Innovation and Intellectual Property - IGWG - arbeitet seit etwa zwei Jahren an einem Aktionsplan, der alternative Anreize zum Patentsystem vorschlagen soll. Die Ergebnisse dieser Gruppe wurden letzte Woche während der Weltgesundheitsversammlung in Genf vorgestellt. Der Aktionsplan wurde von der Vollversammlung der WHO-Mitgliedstaaten inzwischen angenommen. Somit hat jetzt die UN-Organisation das klare Mandat, sich mit dem aktuellen Patentsystem auseinanderzusetzen und die beschlossenen Schritte umzusetzen. Der WHOBeschluss sieht die Förderung von alternativen Forschungsanreizen vor, wie wir sie auch in unserem Antrag fordern. Mit unserer Initiative hier wollten wir genau diesen Prozess, dessen wichtigen ersten Schritt, der jetzt gerade in Genf abgeschlossen wurde, auch in Deutschland begleiten. Zu Protokoll gegebene Reden Der jetzige Beschluss der WHO-Mitgliedstaaten soll nun möglichst schnell umgesetzt werden. Als Parlamentarier es ist unsere Aufgabe, das Engagement Deutschlands bei dieser Problematik zu steigern, nach dem Motto: global denken und lokal handeln. Als reiches Industrieland wollen wir uns nicht vor unserer Verantwortung drücken. Deswegen fordern wir im Antrag der Koalition die Festlegung einer politischen Agenda mit Forschungsprioritäten auf Grundlage der Beschlüsse der IGWG. Die öffentliche Forschungsförderung muss massiv zunehmen und aktiv von Deutschland unterstützt werden. Eine nachhaltige Finanzierung ist notwendig. Nach Angaben von Ärzte ohne Grenzen wurden im Jahr 2007 in Deutschland insgesamt nur 20,7 Millionen Euro für die Forschungsförderung im Bereich der Tuberkulose, Malaria und vernachlässigten Krankheiten ausgegeben. Im Vergleich: In Großbritannien soll die Unterstützung von Forschung und Entwicklung im Bereich der vernachlässigten Forschungsbereiche - einschließlich der vernachlässigten Krankheiten - durch die nationale Entwicklungsorganisation DFID eine Milliarde Pfund - 1,25 Milliarden Euro - für die nächsten fünf Jahre betragen. Dort soll für die Förderung von Gesundheit der aktuelle jährliche Betrag von 50 Millionen Pfund ab dem nächsten Jahr erhöht werden. Die Briten wollen neben Produktentwicklungspartnerschaften auch Aufkaufsverpflichtungen als Anreiz für die Forschung einsetzen. Diese dargestellten Summen sind sehr hoch im Vergleich zu Deutschlands Aktivitäten. Unser Antrag fordert weiter eine alternative Preisgestaltung. Einige machen das schon - positive Beispiele habe ich bereits genannt -, andere sperren sich. Das heißt, man soll den Pharmaunternehmen andere Anreize geben, die sie dazu motivieren, auch für bis jetzt nicht lukrative Märkte ihr schöpferisches Denken und ihr Knowhow einzusetzen. Hier soll und muss natürlich Geld verdient werden. Die Frage ist allerdings, welche Anreize wir dazu setzen. Viele Möglichkeiten habe ich bereits erwähnt. Öffentlich-private Partnerschaften bieten auch eine besonders erfolgreiche Alternative. Solche Bündnisse bringen Pharmafirmen, Forschungsinstitute von Universitäten und Nichtregierungsorganisationen zusammen. Die Organisation DNDi - Drugs for Neglected Diseases initiative - führte beispielsweise bereits erfolgreich zwei Kombinationspräparate gegen Malaria patientenfreundlich und preiswert in den Markt ein. Das erste Präparat behandelt Malariafälle in Afrika. Mit dem zweiten lassen sich viele Malariafälle in Lateinamerika und Südostasien behandeln. Ab nächstes Jahr soll es in Brasilien kostenlos verteilt werden. Es zeigt, dass die Entwicklung neuer Medikamente auch ohne Patentschutz möglich ist. Ich freue mich, dass die FDP in ihrem Antrag auch eine ähnliche Position vertritt, was die Notwendigkeit neuer Forschungsanreize für die Pharmaindustrie betrifft. Aber nirgendwo wird das grundsätzliche Problem erwähnt: die Realwirkung des Patentsystems auf die Gesundheit von armen Menschen. Offenbar scheint es der FDP in ihrem Antrag wichtiger zu sein, die Pharmaindustrie in Schutz zu nehmen, statt die Dinge beim Namen zu nennen. Ihre Forderungen nach einer verstärkten Unterstützung der Product Development Partnerships - PDP -, einer Strategie zur Bekämpfung der tropischen Armutskrankheiten und einer erhöhten Bereitstellung von öffentlichen Finanzmitteln für tropische Krankheiten sind zwar richtig und wir teilen sie. Nur eines passt nicht richtig zusammen: Einerseits wünscht sich die FDP eine Erhöhung der öffentlichen Zuwendungen für diesen Bereich, andererseits ist sie aber sprichwörtlich die Partei, die überall Steuersenkungen will. Ihr Antrag kommt außerdem ein bisschen spät. Die Verhandlungen bei der IGWG sind abgeschlossen, und die WHO hat bereits letzte Woche einen Beschluss bezüglich alternativer Forschungsanreize verabschiedet. In der Koalition haben wir zum Glück diese Problematik rechtzeitig aufgegriffen und für eine größere politische Aufmerksamkeit in diesem Haus gesorgt. Zurück zu dem Antrag der Koalition. Dort reden wir von fehlender Forschung und Innovation. Der Zugang zu vorhandenen patentgeschützten Medikamenten muss jedoch ebenfalls erleichtert werden. Einige Firmen sind hier einsichtiger als andere. Die TRIPS-Abkommen ermöglichen es bereits jetzt grundsätzlich, dass arme Länder auch patentgeschütze Medikamente nachproduzieren. Die bisherige Erfahrung zeigt aber, dass dies nur mühsam funktioniert. Als Thailand als erstes Land Nutzung von diesem Recht machte, war die Reaktion der Industrie feindlich aggressiv - man fürchtete dieses mutige Beispiel. Es darf nicht sein, dass die Wirtschaft und sogar der EU-Kommissar Mandelson den armen Ländern den Zugang zu ihren im TRIPS-Abkommen zugesicherten Möglichkeiten erschweren oder verweigern. Weiterhin soll die Produktion von Arzneimitteln durch die Entwicklungsländer selbst vermehrt ermöglicht werden. In Ländern wie Indien, das noch vor einigen Jahren ein armes Land war, sind Technologie und Wissen hierfür zunehmend verfügbar. Das ist jedoch noch längst nicht überall möglich. Der Zugang zum klinischen Know-how, die Verbesserung der klinischen Kapazitäten, die Verbesserung des Forschungspotenzials der Entwicklungsländer: Das sind Maßnahmen, auf deren Umsetzung Deutschland hinwirken soll. Wir sprechen über den Standort Deutschland. Die Initiative „Deutschland - Land der Ideen“ preist den Gedankenreichtum, die Kreativität und die Schöpferkraft unseres Landes an. Aber diese Ideen, dieser Einfallsreichtum beinhalten auch eine tiefe Verantwortung: Wir dürfen unser Wissen und Können nicht denen vorenthalten, die ohne es zugrunde gehen würden.

Dr. Karl Addicks (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003713, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vor acht Jahren hat sich die internationale Gemeinschaft mit den acht Millennium Development Goals ({0}) zu verstärkten Anstrengungen im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit bis zum Jahr 2015 verpflichtet. Drei der acht MDGs haben die Verbesserung der Gesundheit in Entwicklungsländern zum Ziel: Die Verringerung der Kindersterblichkeit, die Verbesserung der Gesundheit der Mütter sowie die Bekämpfung von Zu Protokoll gegebene Reden HIV/Aids, Malaria und von anderen übertragbaren Krankheiten. Nun haben wir noch sieben Jahre, bis wir diese Ziele erreicht haben wollen. Halbzeit! Zeit, Bilanz zu ziehen. Leider sieht diese Bilanz wenig erfreulich aus. Wir haben es heute wieder im Ausschuss gehört, die Erreichung der MDGs rückt in immer weitere Ferne, ob nun bei HIV/Aids, Malaria oder Tuberkulose. Die meisten Entwicklungsländer machen nicht die gewünschten Fortschritte, einige sogar Rückschritte. Keines der acht MDG-Ziele wird in Subsahara-Afrika erreicht werden. Insbesondere im Bereich der Reduzierung der Kinderund Müttersterblichkeit wartet noch viel Arbeit auf uns. Das Leben der Kinder ist laut des UNICEF-Berichts zur Lage der Kinder in der Welt von 2008 am stärksten gefährdet, insbesondere in Subsahara-Afrika! Durchschnittlich liegt die Kindersterblichkeit bei 160 Todesfällen pro 1 000 Lebendgeburten. Jedes sechste Kind stirbt vor dem Erreichen des fünften Lebensjahrs, viele an tropischen Krankheiten. Allein durch HIV/Aids, Malaria und Tuberkulose und andere tropische Krankheiten gehen jedes Jahr 140 Millionen Lebensjahre in Gesundheit verloren. Hinzu kommen Sterbefälle durch vermeidbare und leicht behandelbare Krankheiten wie Durchfallerkrankungen, hervorgerufen durch schlechte oder nicht vorhandene sanitäre Einrichtungen. Eine bisher wenig beachtete Todesursache stellen armutsbedingte Tropenkrankheiten wie Flussblindheit, Dengue-Fieber oder auch die Schlafkrankheit dar. Wenn auch nicht immer lebensbedrohlich, sind diese Krankheiten mit viel Leid, Behinderungen und Beeinträchtigungen im Alltag der Betroffenen verbunden. Die Zahl der Menschen, die unter tropischen Krankheiten leiden, ist erschreckend hoch und vielen nicht bewusst: Eine Milliarde Menschen leidet unter tropischen Krankheiten. Für die meisten gibt es bisher noch keine oder nur unzureichende Therapiemöglichkeiten. Derzeit sind die Forschungs- und Entwicklungsanstrengungen für viele dieser Krankheiten noch nicht in dem Maße aufgenommen worden, wie sie vonnöten wären, um eine umfassende Gesundheitsversorgung zu gewährleisten. Gleichwohl sind aber erste Bestrebungen, auch aus der Wirtschaft, zu erkennen, die Forschung an und die Entwicklung von Medikamenten für Malaria und auch Tropenkrankheiten zu verbessern. Angesichts der gewaltigen Herausforderung im Bereich der Wirkstoffforschung müssen die Privatwirtschaft und die Politik gemeinsam nach neuen Möglichkeiten suchen, um diese Herausforderungen zu bewältigen. Nur wenn alle Partner - Politik, Wirtschaft und Wissenschaft - international gemeinsam an dieser Herausforderung arbeiten, wird nachhaltig eine Verbesserung der Lage zu erreichen sein. Dabei dürfen wir auch neue Modelle der Forschungsförderung nicht außer Acht lassen: Ein internationaler Forschungsfonds, der öffentliche und private Geldgeber mit wissenschaftlicher Expertise vereint, um die Forschung und Entwicklung an tropischen Armutskrankheiten zu verbessern, wird derzeit diskutiert. Auch die stärkere Nutzung von Public-Private-Partnership-Modellen, wie Product Development Partnerships ({1}), müssen stärker genutzt und gefördert werden. Aber auch eine kohärente Strategie der Bundesregierung bei der Bekämpfung von tropischen Armutskrankheiten ist dringend vonnöten. Aus der Wissenschaft und Wirtschaft wird immer wieder auf die ungeklärten Zuständigkeiten bei den beteiligten Ministerien ({2}) hingewiesen. Wir fordern ganz klar die Bundesregierung auf, in diesem Bereich ihrer Verantwortung gerecht zu werden. Lassen Sie mich noch einen sehr wichtigen Punkt in diesem Zusammenhang erwähnen: Nicht nur die Geberländer sehe ich hier in der Verantwortung, sondern auch die Nehmerländer. So haben die Mehrheit der afrikanischen Länder die Abuja-Erklärung von 2001, mindestens 15 Prozent ihrer nationalen Haushalte für den Bereich Gesundheit auszugeben, immer noch nicht ansatzweise umgesetzt. Dazu gehört auch, dass die in den letzten Jahren stark vernachlässigten eigenen Forschungs- und Entwicklungsanstrengungen wieder ausgebaut werden. Hinzu kommen die immer noch schwachen und schlecht ausgebauten Gesundheitssysteme, die einen Zugang für viele Menschen zu vorhandenen Medikamenten unmöglich machen. Korruption ist in diesem Zusammenhang nur ein weiteres Stichwort. Tropische Armutskrankheiten führen zu einer Verminderung der Lebenserwartung und treffen gerade die Altersgruppen im arbeitsfähigen Alter, die besonders produktiv sind. Die Förderung von Gesundheit ist damit nicht nur eine moralische Verpflichtung, sondern auch ein Beitrag zur wirtschaftlichen Entwicklung dieser Länder. Die Bundesregierung hat sich zu ihrer internationalen Verantwortung bekannt, die Gesundheit in Entwicklungsländern zu verbessern. Sie sollte es nun endlich in die Tat umsetzen.

Monika Knoche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002701, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Wie schon zu anderen drängenden Fragen der Gesundheitssituation in armen Ländern legen auch heute die Regierungsfraktionen der CDU/CSU und der SPD einen beachtenswerten Antrag vor. Es geht um das für Millionen Menschen dieser Welt so zentrale Problem, dass sie keine oder keine adäquate Medizin zur Verfügung haben, um selbst leicht behandelbare oder heilbare Krankheiten vermeiden zu können. Es ist richtig, deutlich darauf hinzuweisen, dass eine Vielzahl der Gründe für die mangelhafte oder nicht existente Versorgungslage in den betreffenden Ländern nicht selbstverschuldet ist. Es ist gut, dass deutlich wird, wie wir als reiche und forschungspotente Staaten dazu beitragen können und müssen, unverzüglich die Barrieren zu beseitigen, die die Ausprägung guter Gesundheitsversorgungsstrukturen beschränken. Denn wir wissen viel, auch darüber, dass insbesondere der Klimawandel, verursacht durch die Industrienationen, noch massiv auf die Verbreitung der Neglected Deseases einwirken wird. Umso größer ist also unsere Verantwortung dafür, dass die am meisten unter dieser Wohlstands- und Wachstumsfixierung Leidenden Infrastrukturhilfe und Medikamentenversorgung bekommen, die sie aus eigener Kraft nicht generieren können. Insofern ist die Liste der Vorschläge, die im Antrag gemacht werden, zwar nicht abschließend. Wenn die RegieZu Protokoll gegebene Reden rung jedoch die Kraft aufbringt, die vorgeschlagenen entwicklungspolitischen Initiativen umzusetzen, könnten wir dazu nur gratulieren. Doch eines ist auch klar: Solange das Patentrecht die Forschung und die Pharmaproduktion beherrscht, wird es eine Lösung der Probleme der mangelnden Medikamentenzugänge und Profitkalkulationen bei der Erforschung von neuen Medikamenten, Impfungen und der Entwicklung von angepassten Behandlungskonzepten nicht geben. Auch Diagnostiken werden patentiert, was einen Eingriff in die ärztliche Freiheit darstellt. Das TRIPS-Abkommen ist ein schwerer Sündenfall der internationalen Politik. Denn neue Medikamente sind oft 20 Jahre für die Patenthalter vor Nachahmung geschützt. Weltweit haben sich die Pharmakonzerne ihre Patente gesichert. So hat man Indien gegenüber versucht, über den Weg von Patentanträgen den Export von preiswerten Nachahmerprodukten zu verwehren. Genauso unfassbar ist, dass die EU diese Handelspolitik vorantreibt, wie mit Drohungen gegenüber Thailand geschehen. Auch die weltweit grassierende Wettbewerbs- und Marktideologie bewirkt einen Druck, das Grundnahrungsmittel Wasser zur privatwirtschaftlich gehandelten Ware zu machen. Es ist nicht vorstellbar, was das für Menschen bedeutet, die heute schon keinen Zugang zu sauberem Wasser haben - eben eine der größten Ursachen dafür, dass Menschen in anderen Ländern aufgrund schlechten Wassers an absolut vermeidbaren Krankheiten sterben müssen. Jeglicher Druck vonseiten internationaler Geldgeber muss aufhören, Wasserversorgungssysteme und Wasser zu privatisieren. Ich möchte mit meinen Äußerungen aufzeigen, dass europäische Wirtschaftspolitik und international völkerrechtlich verbindliche Verträge wie das TRIPS-Abkommen ursächlich dazu beitragen, die Gesundheitslage der Menschen in armen Ländern dramatisch zu verschlechtern. Auch unseren Krankenkassen und Beitragszahlenden im eigenen Land täte es gut, würde das Patentrecht in der heutigen Form überwunden und stattdessen Preise für Innovationen vergeben, die die Forschungsaktivitäten belohnen. Ich fordere die Koalitionsfraktionen auf, eine interministerielle Arbeitsgruppe einzurichten, um die in dieser Frage divergierenden Interessen zu überwinden, und einen qualifizierten Stab aus BMZ, BMBF und BMG zur Bekämpfung von vernachlässigten Krankheiten - übrigens gibt es diese auch in westlichen Ländern - und Armutskrankheiten zu schaffen. Zentral ist jedoch: Die Kompetenz und Führungszuständigkeit für Gesundheitsprogramme und Prävention soll in jedem Staat dieser Erde in der Hand des Staats liegen. Die Idee der Public-Private-Partnerships ist zweifelsohne aus der Not geboren. Mag es auch Spendenprogramme aus der Wirtschaft geben, die positiven Einfluss auf die Medikamentenversorgung bei Aids, Malaria, Tuberkulose und Tropenkranheiten haben, so ist es aus unserer Sicht vordringlich, arme Länder durch gezielte Budgethilfe zum Auf- und Ausbau einer allgemein zugänglichen öffentlichen Gesundheitsversorgung zu verhelfen. Ich möchte nicht, dass die Entwicklung und Verfügbarkeit neuer Therapien und bezahlbarer Medikamente vom Good Will einzelner Wirtschaftsunternehmen abhängig wird. Dementgegen ist es eine Forderung an die Wirtschaft, die Bereitstellung und Förderung von Gesundheitsversorgung in den Ländern, in denen sie sich niederlassen, zu gewährleisten, und eben nicht auf Sonderwirtschaftszonen zu drängen, in denen sie steuerfrei Geschäfte tätigen können. Nehmen wir bei der weiteren Behandlung dieses Antrags also auch wirtschaftsfreiheitsbegrenzende Konzeptionen auf; denn das Grundanliegen und die richtige Problembeschreibung ermöglichen es allemal, hier im Haus Gemeinsames voranzubringen.

Ute Koczy (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003788, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Es ist erfreulich, wie stark in den letzten Wochen und Monaten die Aufmerksamkeit für die sogenannten vernachlässigten Krankheiten zugenommen hat. Das ist zum einen der entschiedenen Lobbyarbeit verschiedener, in diesem Bereich sehr engagierter Nichtregierungsorganisationen zu verdanken. Zum anderen gibt es - und das finde ich hocherfreulich - ein fraktionsübergreifendes Bewusstsein in unserem Ausschuss für dieses Thema. Ich stelle fest, dass es sehr viele Übereinstimmungen zwischen unserer Position und denen der anderen Fraktionen im Deutschen Bundestag gibt. Meine Fraktion kann sich in vielen Punkten der beiden Anträge, die hier zur Abstimmung stehen, wiederfinden. Trotzdem werden sich Bündnis 90/Die Grünen zu beiden Anträgen enthalten. Etwa eine Milliarde Menschen leidet unter tropischen Krankheiten. Krankheiten, die in unseren Breitengraden nicht vorkommen und den wenigstens überhaupt bekannt sind. Die Weltgesundheitsorganisation WHO listet insgesamt 14 dieser Krankheiten, wie zum Beispiel Flussblindheit oder Schlafkrankheit. Ich möchte betonen, dass es außer diesen Seuchen noch zwei weitere Krankheiten gibt, die vernachlässigt werden: Malaria und Tuberkulose. Alle diese Krankheiten haben eines gemeinsam: Die Erkrankten sind in der überwältigenden Mehrzahl arme Menschen in den Entwicklungsländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas und verursachen dort immenses Leid. Trotzdem hat die pharmazeutische Forschung diese Erkrankungen vernachlässigt. Denn arme Menschen bieten keinen lukrativen Markt für teuer erforschte Medikamente. Was gilt es aus unserer Sicht zu tun, um diese Situation zu verändern? Wir sagen: Die Forschung muss vorangebracht werden durch öffentliche Förderung in den hoch entwickelten und wohlhabenden Industrieländern, die sich zu den Entwicklungszielen der UN bekannt haben. Öffentliche Forschungsinstitute, und davon haben wir in Deutschland viele renommierte, brauchen die finanzielle Unterstützung und die politische Vorgabe, um zu tropischen Armutskrankheiten zu forschen. Darüber hinaus Zu Protokoll gegebene Reden gilt es, die schon jetzt sehr erfolgreichen Product Development Partnerships zu fördern und darüber hinaus innovative Forschungsanreize zu setzen. Ich denke da zum Beispiel an Forschungsprämien. Der Aspekt der öffentlichen Forschung und die sehr zurückhaltende Rolle Deutschlands dabei kommen leider in dem Antrag der Koalitionsfraktionen viel zu kurz. Das ist ein gewichtiger Grund für die Enthaltung der Grünen bei diesem Antrag. In dem Antrag der FDP-Fraktion wird die Frage des Zugangs zu Forschungsergebnissen nicht thematisiert. Das ist ein großes Manko. Um das Leid durch die tropischen Armutskrankheiten ernsthaft zu mindern, muss Forschung und Entwicklung auf der einen Seite und der Zugang zu den Ergebnissen und Produkten auf der anderen Seite unbedingt zusammen gedacht werden. Das bedeutet, dass die Ergebnisse öffentlich finanzierter Forschung direkt und ohne Wenn und Aber frei zugänglich sein müssen, so, wie es die Product Development Partnership „Drugs on Neglected Diseases initiative“ - DNDi - mit der Entwicklung ihres innovativen Malariamedikaments vorgemacht hat. Und bei lebensnotwendigen Medikamenten, die Pharmaunternehmen entwickelt haben und dem Patenschutz unterliegen, müssen die Möglichkeiten des TRIPS-Abkommens besser greifen. Damit Entwicklungsländer von ihrem Recht Gebrauch machen können, über Zwangslizenzen verbilligte Medikamente für ihre Bevölkerung herzustellen oder herstellen zu lassen, brauchen sie sowohl technische wie auch die politische Unterstützung. Beides kann Deutschland leisten und sollte es auch leisten. Da diese für unsere Fraktion wichtigen Punkte fehlen, werden sich Bündnis 90/Die Grünen bei dem Antrag der FDP Fraktion enthalten. Die Zeichen stehen gut für eine Wende bei der Forschung und Entwicklung von Therapien für die tropischen Armutskrankheiten. Wir können die vernachlässigten Krankheiten nicht alleine der marktgesteuerten pharmazeutischen Forschung überlassen. Das hat auch die Weltgesundheitsorganisation erkannt und 2006 eine Arbeitsgruppe eingerichtet, die die Situation zu den Armutskrankheiten eruiert und Lösungsvorschläge erarbeitet hat. Auf der WHO-Generalversammlung in der vergangenen Woche in Genf wurden die Ergebnisse dieser Arbeitsgruppe angenommen. Das ist ein enorm wichtiger Schritt für die Bekämpfung der vernachlässigten Krankheiten. Und es ist ein Signal, dass die Staaten gemeinsam diese wichtige Aufgabe angehen müssen. Jetzt gilt es, die Beschlüsse aus dem WHO-Prozess politisch auszugestalten und mit Leben zu füllen. Lassen Sie uns daran gemeinsam arbeiten und die Bundesregierung in die Pflicht nehmen, sich substanziell an neuen innovativen Forschungsinstrumenten zu beteiligen.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Wir kommen zur Abstimmung. Tagesordnungspunkt 27: Der Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9320, den Antrag der Fraktionen von CDU/CSU und SPD auf Drucksache 16/8884 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD und CDU/CSU bei Gegenstimmen der Fraktion der FDP und Enthaltungen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke angenommen. Zusatzpunkt 6: Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/9309. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen der Fraktion Die Linke, SPD und CDU/CSU bei Enthaltung der Grünen und Gegenstimmen der Fraktion der FDP abgelehnt. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Michael Kauch, Gudrun Kopp, Angelika Brunkhorst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Vorschlag der EU-Kommission für den Emissionshandel nach 2012 überarbeiten Klima schützen, Stromverbraucher entlasten, Wettbewerb stärken - zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 2003/87/EG zwecks Verbesserung und Ausweitung des EU-Systems für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten ({1}) KOM ({2})16 endg.; Ratsdok. 5862/08 - Drucksachen 16/8075, 16/8455 Nr. A.16, 16/9334 Berichterstattung: Abgeordnete Andreas Jung ({3}) Michael Kauch Bärbel Höhn Zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung liegt jeweils ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Andreas Jung, CDU/CSU, Frank Schwabe, SPD, Gabriele Groneberg, SPD, Michael Kauch, FDP, Eva BullingSchröter, Die Linke, und Bärbel Höhn, Bündnis 90/ Die Grünen.

Andreas Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003780, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion bekennt sich zu den Klimazielen, die im Paket, das die Europäische Kommission am 23. Januar 2008 vorgestellt hat, enthalten sind: zur Reduzierung der Treibhausgasemissionen in der EU bis 2020 um 20 Prozent gegenüber 1990 und um 30 Prozent für den Fall, dass ein wirksames internationales Klimaschutzabkommen verabschiedet wird. Vor diesem Hintergrund ist die Weiterentwicklung des europäischen Emissionshandels unerlässlich. Ihm kommt eine doppelte Bedeutung zu: Das Erreichen der Klimaziele sicherzustellen sowie das europäische Emissionshandelssystem als Vorbild für andere Regionen der Welt zu etablieren. Die Haltung der Unionsfraktion zu den Punkten im Einzelnen wird im Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen, der im Umweltausschuss am 7. Mai 2008 beschlossen wurde, deutlich. Wir begrüßen die Einführung europaweit einheitlicher Allokationsmethoden. Dies ist ein Beitrag zur Verhinderung von Wettbewerbsverzerrungen zwischen den Mitgliedstaaten der EU. Die einzelnen Regeln stellen sicher, dass nicht mehr jene Staaten, die, wie Deutschland, die Vorgaben des Emissionshandels konsequent umsetzen, gegenüber anderen benachteiligt werden. Wir fordern die Bundesregierung auf, im Rahmen der Verhandlungen sicherzustellen, dass auch im Rahmen des Effort-sharings Verzerrungen vermieden werden. Sowohl hohe kohlenstoffbasierte Stromerzeugungsanteile der Mitgliedstaaten sind daher zu berücksichtigen als auch die bereits erbrachten Vorleistungen. An der vorgeschlagenen 100-prozentigen Auktionierung in der Stromwirtschaft soll festgehalten werden. Kritisch steht die Union dagegen einer Auktionierung im Bereich des produzierenden Gewerbes gegenüber. Beim Zustandekommen eines internationalen Klimaabkommens, das tatsächlich weltweit vergleichbare Rahmenbedingungen für die im Wettbewerb stehenden Unternehmen sicherstellt, würde hierin ein Nachteil für europäische Unternehmen zu sehen sein. Konsequenz könnte die Abwanderung dieser Unternehmen sein, die letztlich dem Klimaschutz nicht dienen, dem Wirtschaftsstandort aber schaden würde. Für Veränderungen gegenüber dem Kommissionsvorschlag setzen wir uns bei der Verwendung der Auktionierungserlöse ein. Die Mittel müssen in vollem Umfang und ohne jegliche Zweckbindung dem Mitgliedstaat zufließen, in dem sie generiert werden. Ansonsten würde die Auktionierung zu einem Umverteilungsinstrument zulasten Deutschlands. Wir sind der Auffassung, dass zumindest ein erheblicher Anteil dieser Erlöse sodann zur Senkung der Energiekosten einzusetzen ist. Für wichtig halten wir, dass jene Zertifikate, die nicht versteigert werden, anhand von BAT-Benchmarks verteilt werden. Dies sorgt dafür, dass effiziente Anlagen privilegiert werden und dass neue Investitionen angestoßen werden. Die Union spricht sich für eine stärkere Berücksichtigung der flexiblen Instrumente CDM und Jl aus. Die Nutzung dieser Instrumente stellt sicher, dass der wirtschaftlichste Weg zur Erreichung der Klimaschutzziele beschritten wird. Um die Voraussetzung für einen Ausbau der Instrumente zu schaffen, sind zeitnah Maßnahmen umzusetzen, die sicherstellen, dass alle genehmigten Projekte den an sie zu stellenden Kriterien, insbesondere der Zusätzlichkeit, gerecht werden. Schließlich ist die Union der Auffassung, dass die konkrete Ausgestaltung der ab 2013 anzuwendenden Zuteilungsmethoden bereits in der Richtlinie selbst festgelegt wird. Dies ist anzustreben, da Investitionsentscheidungen langfristig getroffen werden und die erforderliche Planungssicherheit durch eine Entscheidung erst 2011 beeinträchtigt würde.

Frank Schwabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003846, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die Fakten sind eindeutig. Die globale Temperatur steigt, die Weltbevölkerung nimmt zu, Weltwirtschaft und Industrialisierung erfassen jeden Winkel dieser Erde. Damit steigen der weltweite Energiehunger und - inzwischen auf breiter Front - die Energiepreise. Die Gletscher schmelzen in nie gekannter Geschwindigkeit, und die Wüstenbildung schreitet voran. Deswegen begrüßen wir den Vorschlag der Europäischen Kommission vom 23. Januar, in dem die Kommission vorgeschlagen hat, dass die Europäische Union bis 2020 mindestens 20 Prozent der Treibhausgase gegenüber 1990 einsparen wird und 20 Prozent des Endenergieverbrauchs aus erneuerbaren Energien decken wird. Bei Abschluss internationaler Klimaschutzvereinbarungen wird die EU 30 Prozent Treibhausgase einsparen. Des Weiteren begrüßt die SPD die Vorschläge der EUKommission zur Aufteilung der Verantwortung zur CO2Reduktion, die Vorschläge zum Emissionshandel, für den Ausbau der erneuerbaren Energien sowie den Vorschlag zur Speicherung von CO2. Auch die Vorschläge zur Reduzierung des CO2-Ausstoßes sind wegweisend. Ich glaube, es ist notwendig, dass wir bei aller Kritik im Detail betonen, dass die Vorschläge, die die Kommission vorgelegt hat, hervorragend sind. Diese Vorschläge verdienen Deutschlands Unterstützung, und diese Unterstützung hat der Umweltausschuss des Deutschen Bundestages schon bekundet. Am 7. Mai hat der Umweltausschuss mit seiner Mehrheit den Antrag von CDU/CSU und SPD angenommen, in dem er begrüßt, dass mit dem vorgelegten Richtlinienentwurf die Schwächen des bestehenden Emissionshandelssystems aufgegriffen und angegangen werden. Besonders möchte ich hervorheben, dass sich die Koalitionsfraktionen darauf geeinigt haben, die CO2-Zertifikate im Energiebereich zu 100 Prozent zu versteigern. Dieser Punkt ist äußerst wichtig, um die Stromwirtschaft in die Verantwortung zu nehmen. So wird in Zukunft unterbunden, dass die Stromwirtschaft Zertifikate geschenkt bekommt, diese dann aber in den Strompreis einbezieht und so unverdiente Milliardenprofite einstreicht. Es ist mutig, dass das elende Gefeilsche um die nationalen Allokationspläne beendet wird. Es wird jetzt eine Einheitlichkeit in Europa geben, durch die Wettbewerbsverzerrungen zumindest teilweise vermieden werden. Die Unternehmen bekommen dadurch, dass die 3. HandelsZu Protokoll gegebene Reden periode länger dauern wird, Planungssicherheit. Auch ist zu erwähnen, dass in Zukunft weitere Treibhausgase in den Emissionshandel einbezogen werden. Endlich wird es einen Verzicht auf 27 verschiedene Obergrenzen für die CO2-Emissionen aus der Stromproduktion in den Mitgliedstaaten geben und stattdessen die Einführung eines einheitlichen Cap für die CO2-Emissionen aus der Stromproduktion für ganz Europa und das Ziel einer 100-prozentigen Auktionierung in der 3. Handelsperiode. Besonders gut finde ich, dass sich die EU-Kommission klar zu einer 30-prozentigen Senkung des CO2-Ausstoßes bis 2020 bekennt. In der konkreten Ausarbeitung der Vorschläge wird von einer Senkung um 20 Prozent ausgegangen; es ist aber eine Klausel eingebaut, die deutlich macht, dass wir eigentlich eine Senkung um 30 Prozent wollen. Damit die Europäische Union in den internationalen Verhandlungen glaubwürdig bleibt, ist es wichtig, dass ihre Maßnahmenprogramme nicht nur das einseitig von der EU erklärte Ziel einer 20-prozentigen Minderung der Treibhausgasemissionen bis 2020 gegenüber dem Jahr 1990 abbilden. Die EU muss, um glaubwürdig für die internationalen Klimaschutzverhandlungen zu bleiben, gleichzeitig auch die Maßnahmen abbilden, die es ihr erlauben, im Fall des Erfolgs der Verhandlungen auf das 30-prozentige Minderungsziel der Industriestaaten zu kommen. Die Bundesregierung wird sich deshalb in ihrer Zielsetzung auch von diesem Ziel leiten lassen und hält deshalb in ihrer nationalen Klimaschutzpolitik am Ziel einer 40-prozentigen Senkung der Treibhausgase fest, um ein 30-prozentiges EU-Ziel weiterhin zu ermöglichen. Der Flugverkehr wird in den Emissionshandel einbezogen. Der für CCS vorgeschlagene Rechtsrahmen ist eine gute Basis für die geplanten Pilotprojekte. Gleichzeitig habe ich - nach dem derzeitigen Stand Bedenken in folgenden Punkten: Bislang fehlen weitgehend Vorschläge, wie wir das Ziel einer 20-prozentigen Steigerung der Energieeffizienz in Europa erreichen wollen. Die EU-Kommission muss dazu Vorschläge vorlegen, die insbesondere dynamische Effizienzstandards wie das Top-Runner-Modell in Europa ermöglichen. Als zweiten wichtigen Punkt möchte ich anführen, dass die erfolgreichen nationalen Fördersysteme wie das deutsche Erneuerbare-Energien-Gesetz nicht durch einen künstlichen Handel mit erneuerbaren Energien gefährdet werden dürfen. Die Folgen der Energie- und Rohstoffentwicklung und der Klimaveränderungen betreffen alle Menschen. Doch besonders negativ sind die Ärmeren und Schwächeren vom Klimawandel betroffen. Dies gilt vor allem für Afrika. Doch auch bei uns in Deutschland treffen steigende Energiekosten für die fossilen Energieträger auf soziale Ungleichheit. Deshalb müssen wir uns mit diesem Thema in Zukunft verstärkt befassen und dafür Lösungsvorschläge beraten. Wir, die Sozialdemokratische Partei, werden in den nächsten Monaten intensiv darüber diskutieren, wie wir die Energiepreissteigerungen sozial gerecht abfedern können. Den Aufschlag für diese Diskussion machen wir schon nächste Woche: Als Bundestagsfraktion organisieren wir eine große Konferenz zum Thema Klimaschutz und soziale Gerechtigkeit. Wir möchten den Klimaschutz mit einem anderen politischen Kernanliegen der Sozialdemokratie, der sozialen Gerechtigkeit, verbinden. Wir wissen, dass wir je nach Region ganz unterschiedlich vom Klimawandel betroffen sein werden. Aber wie trifft es die Menschen in ihrer jeweiligen Lebenssituation? Wer wird sich wie anpassen müssen? Was muss die Politik tun, um die Auswirkungen abzufedern? Ist es gerecht, dass zukünftige Generationen die Lasten des Klimawandels tragen müssen, die von uns gestern und heute verursacht worden sind? In jedem Fall müssen die Anstrengungen beim Klimaschutz gerecht verteilt werden. Kann es richtig sein, dass die Menschen ihren Teil zum Klimaschutz leisten, die Unternehmen demgegenüber die Standortfrage stellen und die Kosten für den Klimaschutz auf den Verbraucher abgewälzt werden? Auf diese und andere Fragen müssen wir Antworten finden. Wir haben jetzt zweierlei zu tun: Zum einen müssen wir in der nationalen Debatte für Glaubwürdigkeit sorgen und die Meseberg-Beschlüsse so umsetzen, dass es zu einer wirklich effektiven Gesetzgebung kommt. Das Klimapaket der Bundesregierung darf nicht zur Luftnummer werden. Das sage ich vor allem Richtung von Wirtschaftsminister Glos. Zum anderen haben wir als Große Koalition - das sage ich ausdrücklich - die Aufgabe, gemeinsam zu überlegen, wie wir das, was wir in Meseberg beschlossen haben, noch steigern können, bis wir das 40-Prozent-Ziel erreicht haben, welches wir uns gemeinsam vorgenommen haben. Das kann aber nur gelingen, wenn wir als Koalition gemeinsam arbeiten und nicht gegeneinander.

Gabriele Groneberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003540, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Der Emissionshandel hat sich als Klimaschutzinstrument in Europa etabliert und bewährt, auch wenn es Verbesserungsmöglichkeiten gibt. Zum ersten Mal wird innerhalb eines Handelssystems dem CO2-Ausstoß ein Geldwert zugeordnet. Das heißt, die Luftverschmutzung wird marktwirtschaftlich relevant. Dieses System ist nicht nur innovativ, es ist auch flexibel. Denn das europäische Emissionshandelssystem bindet auch die Schwellen- und Entwicklungsländer mit ein über den sogenannten CleanDevelopment-Mechanism. Sicherlich ist es richtig, die Quote für dieses Instrument EU-weit zu beschränken, um ein Unterlaufen der Klimaschutzmaßnahmen in Europa zu vermeiden. Allerdings sehe ich im CDM eine starke entwicklungspolitische Komponente, denn er bietet die Möglichkeit Entwicklungsländer mit erneuerbaren Energien zu versorgen. Vor diesem Hintergrund stelle ich fest, dass nicht in allen Entwicklungsländern dieser Mechanismus gleichermaßen zum Einsatz kommt. In Afrika beispielsweise werden nur 3 Prozent aller CDM-Projekte umgesetzt. Im Vergleich zu den sogenannten Rising Powers, wie Indien und China, gibt es dort nur geringe CO2-Einsparpotenziale aufgrund des schwach entwickelten Industrie- und Energiesektors. Da finanzielle Anreize aus den CER-Einnahmen fehlen, erscheinen Investitionen der Privatwirtschaft auf dem afrikanischen Kontinent wenig attraktiv. Zudem erweist sich die kaum vorhandene institutionelle Infrastruktur als zusätzliche Barriere. Einige Länder Zu Protokoll gegebene Reden Afrikas sind außerdem belastet durch Korruption, Kriege und Unruhen und bieten somit kein stabiles Umfeld, das für die Durchführung von CDM-Projekten notwendig wäre. Gerade eine dezentrale Energieversorgung aber leistet einen entscheidenden Beitrag zur Armutsreduzierung. Durch die Ausweitung von Projekten im Bereich erneuerbarer Energien im Rahmen des CDM könnte beispielsweise für Afrika die entwicklungspolitische Komponente dieses flexiblen Instruments stärker zum Tragen kommen. Bisher fehlen allerdings Strategien zur Ausweitung des CDM in Afrika, die die dortigen Herausforderungen besonders in den Blick nehmen. Eine Intensivierung des CDM ist grundsätzlich zu begrüßen. Dies gilt vor allen Dingen auch in Hinblick auf den Anpassungsfonds, der sich aus einer zweiprozentigen Abgabe aus CDM-Projekten speist. Das Interesse und Engagement der Privatwirtschaft und der Finanzinstitutionen wird jedoch durch den bürokratischen Aufwand und die hohen Transaktionskosten geschmälert und erweist sich bei der Ausweitung der CDM-Projekte als kontraproduktiv. Klimaschutz ist nicht nur eine Frage der nationalen, sondern vor allem der globalen Verantwortung. Ich sehe es als unsere Aufgabe, dass wir bei der Gestaltung und Verbesserung der bereits vorhandenen und wirksamen Instrumente mitwirken.

Michael Kauch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003698, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Europa muss seinen Beitrag zum internationalen Klimaschutz leisten. Mit der Ratsentscheidung im März 2007 hat die EU wichtige Klimaschutzziele beschlossen. Bis 2020 sollen die Emissionen um mindestens 20 Prozent gesenkt werden. Die FDP-Bundestagsfraktion begrüßt dies; wir hoffen aber gleichzeitig, dass dies noch nicht das letzte Wort gewesen ist. Eine Zielmarke von 30 Prozent ist aus unserer Sicht für einen ambitionierten Klimaschutz nicht nur notwendig, sondern auch realisierbar. Die Kommission hat nun Richtlinienvorschläge zur Erreichung dieser Ziele gemacht. Kernstück einer effizienten Klimaschutzpolitik ist der Emissionshandel. Allerdings kritisieren wir, dass in der aktuellen Vorlage der EU die Lastenverteilung zwischen den Mitgliedstaaten nicht gerecht ist. Hier wird Deutschland durch das späte Basisjahr 2005 massiv benachteiligt. Wir sind der Auffassung, historisch frühzeitige Anstrengungen der Länder im Klimaschutz sollten Berücksichtigung finden. In diesem Sinne ist das Basisjahr 2005 nicht sachgerecht. Doch auch das ist Teil eines Verteilungskampfes, den wir auf europäischer Ebene erleben. Wir erwarten, dass sich die Bundesregierung in Brüssel deutlich für die Interessen Deutschlands einsetzt. Die FDP begrüßt die geplante vollständige Versteigerung der Emissionszertifikate im Stromsektor. Zusatzprofite der Stromkonzerne aus dem Emissionshandel werden damit vermieden. Allerdings ist es falsch, wenn die EU den Mitgliedstaaten die Verwendung der Versteigerungserlöse vorschreiben will. Die Rahmenbedingungen sind in den einzelnen Mitgliedstaaten sehr unterschiedlich. Sie sollten daher selbst über die Verwendung entscheiden. Die FDP-Bundestagsfraktion schlägt in ihrem Antrag vor, das Geld den Verbraucherinnen und Verbrauchern durch eine Senkung oder Abschaffung der Stromsteuer zurückzugeben. Das ist unsere Antwort auf steigende Energiepreise, die der Staat durch einen zu hohen Steueranteil an der Energie mitzuverantworten hat. Der Staat ist einer der Preistreiber bei den Energiekosten, wir wollen das ändern. Ein europäisches Emissionshandelssystem muss auch wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und Wettbewerbsfähigkeit bestimmter Industriezweige beachten. Solange es kein globales Klimaschutzabkommen gibt, müssen wir gewährleisten, dass diejenigen Unternehmen, die energieintensiv produzieren müssen und zugleich im weltweiten Wettbewerb stehen, faire Wettbewerbschancen haben. Es hilft der Umwelt nicht, wenn Stahl, Papier und Zement statt in der EU in China oder der Ukraine produziert werden. Die Lösung der EU-Kommission, die Emissionsrechte an Unternehmen, die einer besonderen Wettbewerbssituation unterliegen, zu verschenken, ist aus unserer Sicht nur die zweitbeste Lösung. Die FDP schlägt dagegen vor: Die Emissionsrechte sollen auch an energieintensive Unternehmen versteigert werden. Allerdings muss das mit einem konsistenten Rückerstattungssystem verbunden werden, sodass die Preisanreize des Emissionshandels greifen können, der Steuerungsmechanismus erhalten bleibt und den Branchen nicht das für den Wettbewerb notwendige Vermögen entzogen wird. Die FDP appelliert an die Bundesregierung, unseren Vorschlag als Alternative zum Entwurf der Kommission in die Diskussion einzubringen. Geradezu schädlich für das Exportland Deutschland, aber auch für die ganze EU sind allerdings die Überlegungen, Importen aus Nicht-Kioto-Staaten Zölle aufzuerlegen. Dass ein solcher Schritt im Welthandel Gegenreaktionen herausfordern würde, ist sicher. Zölle - auch zum Zwecke des Klimaschutzes - sind ein Anschlag auf den Freihandel und gefährden die Exportwirtschaft in Deutschland und damit Arbeitsplätze in unserem Land. Wir sehen mit Sorge, dass sich Teile der EU-Kommission für diesen Vorschlag offen zeigen. Ein Exportland wie Deutschland kann es sich aber nicht leisten, seine wirtschaftlichen Chancen auf den Märkten durch protektionistische Maßnahmen zu gefährden. Die Bundesregierung ist aufgefordert, dem insbesondere von Frankreich favorisierten Vorschlag eine klare Absage zu erteilen und eine Umsetzung zu verhindern.

Eva Maria Bulling-Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002636, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Dank einem Bericht der Süddeutschen Zeitung vom 22. März sind wir in der Lage, einmal konkret zur deutschen Verhandlungsposition zum Klimaschutzpaket der EU-Kommission zu reden. Ich muss schon sagen: Die Position des Bundeswirtschaftsministeriums zum Emissionshandel ab 2013 hat mich umgehauen. Da stellt doch Herr Glos in seinen Zu Protokoll gegebene Reden Änderungen zum Eckpunktepapier der deutschen Verhandlungsposition tatsächlich die Versteigerung der Emissionsrechte an die Energieversorger infrage - und das nach den bisherigen Erfahrungen. Weil ihnen die weitvollen Zertifikate bislang geschenkt wurden, haben die Stromkonzerne in der ersten Handelsperiode 2005 bis 2007 europaweit bis zu 24 Milliarden an Windfall-Profits eingefahren. In Phase zwei bis 2012 werden sie nach Schätzungen noch einmal 14 bis 34 Milliarden Euro Extraprofite einstreichen. Und dies soll nun so weitergehen bis in alle Ewigkeit? Ich sage Ihnen ganz deutlich: Sollten die wertvollen Emissionsrechte am Ende wiederum verschenkt werden, dann hat sich das Instrument endgültig diskreditiert. Ich kann Ihnen versichern, dass die Linke dann alles daran setzen wird, den Emissionshandel und seine Derivate mit aller Kraft zu bekämpfen. Dabei werden wir bei den meisten Umweltverbänden Verbündete finden, in der Bevölkerung sowieso. Bedenken Sie: Mit einer vollständigen Versteigerung der Zertifikate - natürlich auf Grundlage anspruchsvoller CO2-Minderungsziele - und einer Begrenzung der Anrechenbarkeit der missbrauchsanfälligen flexiblen Instrumente wie CDM könnten wir einen Emissionshandel haben, der tatsächlich ein scharfes Schwert im Klimaschutz wäre. So wie es jetzt läuft, ist es aber die Perversion eines umweltökonomischen Instruments. Angesichts der Extraprofite sollten die Versorger - nebenbei bemerkt - keinen Cent an öffentlichen Geldern für die fragwürdigen CCS-Pilotprojekte der unterirdischen Verklappung von Kraftwerksemissionen bekommen. Die können die Unternehmen nämlich aus der Portokasse bezahlen. Doch zurück zu Herrn Glos und seinem Ministerium. Das BMWi fordert auch zusätzliche Zertifikate für Unternehmen, die AKWs stilllegen. Heißt das etwa, dass an die Stelle der AKWs nun Kohlekraftwerke treten sollen? Das lehnen wir ab. Wir sind der Auffassung - und das belegen auch Studien -, dass bei einem geplanten Atomausstieg keine zusätzlichen Kohlekraftwerke benötigt werden. Dazu braucht es aber wirksame Energieeffizienzmaßnahmen und einen deutlichen Ausbau von KWKs und erneuerbaren Energien. Im Hinblick auf das produzierende Gewerbe sei laut Bundeswirtschaftsministerium „ein vollständiger Verzicht auf die Auktionierung erforderlich“. Dies steht ebenfalls dem Vorschlag der EU-Kommission entgegen, nach dem über entsprechende Sonder- oder Schutzregelungen für diesen Sektor erst dann beraten werden soll, wenn klar ist, ob es ein anspruchsvolles internationales Kioto-Nachfolgeabkommen geben wird oder nicht. Gäbe es ein solches Abkommen, so würde die außereuropäische Konkurrenz vergleichbare Lasten zu tragen haben. Dementsprechend wäre die Auktionierung kein Nachteil im internationalen Wettbewerb. Wir folgen dieser Logik. Wird es kein Nachfolgeabkommen geben, kann 2010 immer noch darüber beraten werden, in welcher Weise besonders betroffenen Branchen geholfen werden kann, beispielsweise durch einen Klimazoll oder durch teilweise kostenlose Vergabe der Zertifikate. Dabei kann es aber unserer Ansicht nach nur um jene Branchen gehen, die zwei Kriterien gleichzeitig erfüllen: Erstens. Sie produzieren trotz fortschrittlicher Technik sehr energieintensiv. Zweitens. Sie stehen auch tatsächlich im größeren Umfang im Wettbewerb mit Unternehmen außerhalb der EU. Das Bundeswirtschaftsministerium - und wohl auch das BMU - fordert im Eckpunktepapier weiterhin eine Ausweitung der Anrechenbarkeit von CDM- und JI-Emissionsgutschriften. Die Linke ist jedoch froh, dass die Anrechenbarkeit im Kommissionsentwurf nunmehr stärker begrenzt ist. Wir alle wissen - ich habe das schon angedeutet -, dass CDM-Projekte sehr anfällig für Manipulationen sind. Die ökologische Integrität ist vielfach nicht gewährleistet. Es wird in den Projekten im Süden eben vielfach nicht das zusätzlich eingespart, was im Norden mit den Emissionsgutschriften zusätzlich ausgestoßen wird. So wird aus dem Nullsummenspiel eine zusätzliche Belastung der Erdatmosphäre. Unsere Position zu den Dingen habe ich hiermit umrissen. Sie können sie auch unserem Entschließungsantrag entnehmen. Die Linke wendet sich dort strikt gegen die Aufweichung des Klima- und Energiepakets der Kommission durch das BMWi und fordert Wirtschaftsminister Glos auf, endlich eine konstruktive Haltung im Sinne des Klimaschutzes anzunehmen. In diesem Zusammenhang begrüßen wir, dass sich Union und SPD im Bundestag in ihrem Ausschussantrag wenigstens zur vollständigen Auktionierung im Energiesektor bekannt haben. An anderer Stelle greifen sie jedoch die Bestimmung an, nach der 20 Prozent der Auktionseinnahmen für Klimaschutzmaßnahmen und zur Abfederung des Strukturwandels zu verwenden sind. Genau dies unterstützen wir jedoch. Im Gegenteil, der Anteil hierfür könnte noch deutlich steigen. Letzteres fordern auch die Grünen in ihrem Antrag. Leider haben sie aber die Illusion, dass sich der Missbrauch von CDM durch Reformen vollständig ausschließen ließe. Entsprechend fordern sie keine Begrenzung der Anrechenbarkeit. Ich finde, das ist erstens naiv und zweitens strategischer Unsinn. In der zweiten Handelsperiode lautet das Minderungsziel der EU im Emissionshandelssektor 107 Millionen Tonnen CO2. Mehr als das Doppelte, nämlich 221 Millionen Tonnen, können über die flexiblen Instrumente abgerechnet werden. Das hat zur Folge, dass in Europa künftig mehr Klimagase ausgestoßen werden könnten als jemals zuvor. Selbst wenn jedes einzelne Emissionsrecht aus CDM und Jl auf echten Klimagaseinsparungen außerhalb Europas beruhen würde, kann dies bei diesen Größenordnungen nur als Hemmschuh für den innereuropäischen Strukturwandel hin zu einer kohlenstoffarmen Energieversorgung bezeichnet werden. Der Beginn einer nachhaltigen Energiewende wird sträflich in die Zukunft verschoben. Und tatsächlich: In Österreich beklagen die Grünen gerade, dass die Regierung nur 21 Millionen Euro für erneuerbare Energien im Inland ausgeben will, dafür aber 531 Millionen Euro in Klimaschutzprojekte im Ausland steckt. Zu Protokoll gegebene Reden Aus diesem Grunde werden wir uns beim Entschließungsantrag der Grünen enthalten. Da die FDP die Anrechnung von CDM sogar ausdehnen will, lehnen wir deren Antrag ab. Das Gleiche gilt für die Beschlussempfehlung, da die Koalition hier unter anderem fordert, die von der Kommission vorgeschlagene Mittelverwendung der Auktionseinnahmen für soziale und Umweltschutzzwecke zu beerdigen. Das ist schade, weil die zugrunde liegende Entschließung ansonsten zu begrüßen ist.

Bärbel Höhn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wir beraten heute über die Vorschläge der EU-Kommission zur Weiterentwicklung des Emissionshandels in der Zeit von 2013 bis 2020 und damit über ein zentrales Instrument des Klimaschutzes. Bis 2020 müssen die Industriestaaten ihre Treibhausgas-Emissionen um mindestens 25 bis 40 Prozent gegenüber dem Jahr 1990 reduzieren, wenn eine langfristige Begrenzung der weltweiten Klimaerwärmung auf 2 Grad gelingen soll. Dazu muss Europa ambitionierter sein, als es die Kommission anstrebt. Die EU-Staaten müssen sich ohne Wenn und Aber zu einer mindestens 30-prozentigen Emissionssenkung bis 2020 verpflichten. Entsprechend niedrig müssen die Emissionsobergrenzen für den Emissionshandel in der dritten Handelsperiode festgelegt werden. Hier ist die EU-Kommission wie auch die Bundesregierung nicht ehrgeizig genug. Davon abgesehen gehen die meisten Vorschläge der Kommission in die richtige Richtung. So ist positiv zu bewerten, dass der internationale Flugverkehr endlich in den Emissionshandel einbezogen werden soll und dass der Emissionshandel auf bisher nicht erfasste Treibhausgase ausgedehnt wird. Für die Verbesserung des Emissionshandels noch wichtiger ist, dass die Emissionszertifikate für die Energiewirtschaft in der 3. Handelsperiode nicht mehr kostenlos zugeteilt werden, sondern zu 100 Prozent versteigert werden sollen. Das haben wir Grüne lange gefordert. Denn damit ist Schluss mit den ungerechtfertigten Milliardengewinnen, die die Energiekonzerne bisher zulasten der Verbraucherinnen und Verbraucher erzielt haben, indem sie die geschenkten Zertifikate ihren Kunden teuer in Rechnung stellten. Auch für die bisher praktizierte Bevorzugung der klimaschädlichen Kohle bei der Zuteilung der Emissionszertifikate ist in Zukunft kein Raum mehr. Das ist gut so. Auch für andere Branchen und für den Flugverkehr sollte die Versteigerung der Regelfall werden. Ob für besonders energieintensive Unternehmen Sonderregelungen nötig sein werden, um Wettbewerbsnachteile und eine Verlagerung von CO2-intensiven Betrieben zu vermeiden, ist noch nicht klar. Denn vorrangiges Ziel sollte es sein, das Problem durch ein ambitioniertes Kioto-Nachfolgeabkommen zu lösen, das international faire Wettbewerbsbedingungen schafft. Nur wenn dies nicht gelingt, sind Sonderregeln und Schutzmaßnahmen für besonders energieintensive Branchen gerechtfertigt. Auf jeden Fall sollten entsprechende Regeln aber so ausgestaltet werden, dass auch für energieintensive Unternehmen ein wirtschaftlicher Anreiz zur Minderung ihrer Emissionen verbleibt. Ein Problem des Emissionshandels, das noch nicht gelöst ist, liegt im Bereich der projektbasierten Mechanismen CDM und JI. Umweltverbände haben aufgezeigt, dass viele dieser Projekte nur einen zweifelhaften Nutzen für den Klimaschutz haben, zum Beispiel weil sie keine zusätzlichen Emissionsreduktionen erbringen, die nicht ohnehin auch ohne CDM erfolgt wären. Solche „faulen“ CDM-Projekte können dazu führen, dass durch den Emissionshandel insgesamt weniger Emissionen eingespart werden als vorgesehen. Deshalb müssen Deutschland und die Europäische Union bei den Verhandlungen über das Kioto-Nachfolgeprotokoll strengere Regeln und bessere Kontrollen für CDM- und JI-Projekte durchsetzen. Gelingt das nicht, ist eine weitere Ausdehnung der Anerkennung derartiger Projekte nicht zu rechtfertigen.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Wir kommen zur Abstimmung über die Entschließungsanträge. Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/9370? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke mit den Stimmen des Hauses im Übrigen abgelehnt. Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/9371? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen von SPD und CDU/ CSU bei Enthaltung der Fraktion Die Linke und der FDP bei Gegenstimmen von Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt. Damit sind wir am Schluss der heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 30. Mai 2008, um 9 Uhr, ein. Ich wünsche allen Kolleginnen und Kollegen, den Gästen auf der Zuschauertribüne sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Hauses noch einen schönen Abend. Die Sitzung ist geschlossen.