Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Tag, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf:
Befragung der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat als Thema der gestrigen Kabinettssitzung mitgeteilt: Strategie der Bundesregierung zur Förderung der Kindergesundheit.
Das Wort für den einleitenden fünfminütigen Bericht
hat die Bundesministerin für Gesundheit, Ulla Schmidt.
Vielen Dank. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Das Kabinett hat gestern die Strategie der
Bundesregierung zur Förderung der Kindergesundheit
beschlossen. Ausgangspunkt dieser Strategie sind die
Ergebnisse des Kinder- und Jugendgesundheitssurveys,
den wir gemeinsam mit dem Bundesforschungsministerium auf den Weg gebracht haben.
Dieser belegt: Ein Aufwachsen in Gesundheit ist für
viele Kinder selbstverständlich, aber längst nicht für alle.
Entscheidend für ein gesundes Aufwachsen ist, in welcher Familie und unter welchen Bedingungen Kinder
aufwachsen. So haben Kinder aus sozial schwächeren
Familien oft eine deutlich schlechtere Gesundheit als
Kinder von Bessergestellten. Es wird deutlich, dass sich
Kinder aus sozial schwächeren Familien in der Regel
schlechter und ungesünder ernähren. Sie treiben seltener
Sport und nehmen seltener Vorsorgeuntersuchungen
wahr. Sie zeigen verstärkt psychische Auffälligkeiten und
haben deutlich mehr Erfahrungen mit Gewalt. Grundsätzlich nehmen chronische Erkrankungen bei Kindern und
Jugendlichen an Bedeutung zu.
Die Gesundheit der Kinder ist nicht nur eine Angelegenheit des Bundesgesundheitsministeriums, sie betrifft
viele Politikfelder. Deshalb hat die Bundesregierung beschlossen, das, was in den verschiedenen Bereichen,
etwa im Bundesforschungsministerium, im Bundesministerium für Familie, im Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, im
Bundesgesundheitsministerium und auch im Arbeitsministerium, an Aktivitäten erfolgt, zu einer gemeinsamen
Strategie zusammenzufassen, sodass ressortübergreifend
Maßnahmen zur Verbesserung der Kindergesundheit auf
den Weg gebracht werden.
Unsere Strategie zielt darauf ab, durch gemeinsame
Anstrengungen die Gesundheitsressourcen von Kindern
und deren Familien zu stärken. Wir wollen die Bedingungen für ein gesundes Aufwachsen verbessern. Wir
wissen: Wenn in der Kindheit die Grundlagen dafür geschaffen werden, sich gesund zu ernähren und gesund
aufzuwachsen, wirkt dies bis ins Erwachsenenalter hinein. Wir wissen auch: Gesunde Kinder lernen besser. Gesunde Kinder haben später bessere Chancen auf einen
Arbeitsplatz. Sie haben insgesamt bessere Bedingungen
in ihrem weiteren Lebenslauf.
Das, was wir in der Strategie festlegen, ist das, was
die Bundesregierung auf Bundesebene anstoßen kann.
Diese Strategie muss von Aktivitäten der Länder und
Kommunen und aller anderen, die hier Verantwortung
übernehmen, begleitet werden. Die wichtigsten Felder
sind erstens der Ausbau von Prävention und Gesundheitsförderung, zweitens die Förderung der gesundheitlichen Chancengleichheit, drittens die Minderung gesundheitlicher Risiken und viertens die sorgfältige Analyse
der Entwicklung und die Ermittlung der Risiko- und
Schutzfaktoren.
Ich will hier einige Beispiele nennen. Erstens. Es geht
um Maßnahmen, die vor allen Dingen in den Lebenswelten der Kinder ergriffen werden müssen. Wenn wir Kinder erreichen wollen, müssen wir in die Kindergärten,
die Schulen und die Stadtviertel gehen. Wir müssen
frühzeitig informieren, aber auch Beratungsangebote für
Eltern und Erzieherinnen und Erzieher bereithalten. Wir
wollen auch durch den Nationalen Aktionsplan Gesunde
Ernährung und Bewegung eine Reihe von Projekten auf
den Weg bringen.
Zweitens. Wir wollen die Impfrate bei Kindern erhöhen, weil Impfen der beste Schutz vor vielen übertragbaren Krankheiten ist.
Redetext
Drittens. Wir wollen, dass Kinder und Jugendliche
Nein zu Suchtmitteln sagen.
Viertens. Wir wollen darauf hinwirken, dass das Angebot an Kindervorsorgeuntersuchungen zu 100 Prozent
wahrgenommen wird. Deshalb werden wir die Krankenkassen verpflichten, mit Ländern und Kommunen zusammenarbeiten. Ziel dieser Zusammenarbeit ist, das
Einladungssystem zu verbessern und dafür zu sorgen,
dass alle Kinder die angebotenen Vorsorgeuntersuchungen wahrnehmen.
Fünftens. In Kürze werden wir eine zusätzliche Kindervorsorgeuntersuchung einführen, die psychische Risiken stärker berücksichtigt.
Sechstens. Wir wollen das Gesundheitsmonitoring
ausbauen. Wir wissen nämlich, dass wir die Rahmenbedingungen für ein gesundes Aufwachsen der Kinder nur
schaffen können, wenn wir Erkenntnisse darüber haben,
wie Risiken entstehen, und die Maßnahmen evaluiert
werden, die geeignet sind, Risiken zu minimieren bzw.
zu beseitigen. Wir werden dieses Ziel zwar nicht für alle
Kinder erreichen können, aber denjenigen, bei denen
eine Änderung des Lebensstils möglich ist, wollen wir
mit guten Rahmenbedingungen helfen.
Vielen Dank.
Danke schön.
Ich bitte, zunächst Fragen zu diesem Themenbereich
zu stellen. - Nach Eingang der Wortmeldungen hat zunächst Kollegin Eichhorn das Wort.
Frau Ministerin, am 19. Dezember 2007 haben Bundeskanzlerin Merkel und die Ministerpräsidenten auf
dem Kindergipfel beschlossen, dass Vorsorgeuntersuchungen besser und engmaschiger gestaltet und die
Inhalte der Vorsorgeuntersuchungen weiterentwickelt
werden sollen. Im Beschluss der Bundesregierung zur
Förderung der Kindergesundheit, den Sie vorgetragen
haben, wird auch die Verbesserung der Früherkennungsuntersuchungen angeführt. Inwieweit betrifft die Verbesserung nicht nur die Untersuchungsintervalle, sondern
auch die Überarbeitung der Richtlinie zur Früherkennung von Krankheiten bei Kindern, speziell im Hinblick
auf Kindesmisshandlungen und -vernachlässigungen,
wie es beim Kindergipfel beschlossen worden ist?
Die Veränderungen im Bereich der Früherkennung
betreffen beide Bereiche. Der Gemeinsame Bundesausschuss wurde beauftragt, die Richtlinie zu überarbeiten.
Es soll deutlich werden - das ist bereits entsprechend
formuliert -, dass die Ärzte verpflichtet sind, bei den
Vorsorgeuntersuchungen auf Anzeichen für physische
oder psychische Vernachlässigungen zu achten und zu
prüfen, ob das Kindeswohl gefährdet ist.
Die Vorsorgeuntersuchungen sollen aber auch generell überarbeitet werden. Dabei wird geprüft, ob sie noch
dem aktuellen Erkenntnisstand und den heutigen Anforderungen entsprechen. Das Gewicht soll stärker auf die
psychische Gesundheit gelegt werden. Die Frage der
Entwicklung eines Kindes soll stärker berücksichtigt
werden. Zum Beispiel soll gefragt werden, ob es Entwicklungsverzögerungen beim Sprachverhalten oder
Merkmale für psychische Auffälligkeiten gibt.
Außerdem sollen die Intervalle überprüft werden. Die
erste Entscheidung, die in diesem Zusammenhang getroffen wurde, ist die Einführung der Vorsorgeuntersuchung U7a im dritten Lebensjahr, die der Gemeinsame
Bundesausschuss beschlossen hat. Im Rahmen dieser zusätzlichen Vorsorgeuntersuchung werden sowohl die
physische als auch die psychische Entwicklung getestet.
Es geht dabei zum Beispiel um das Sprachverständnis,
aber auch das Sehen und andere Wahrnehmungsfähigkeiten werden getestet. Das ist der erste Schritt; die Arbeit daran geht weiter.
Eine Zusatzfrage, bitte schön.
Frau Ministerin, bis wann wird das wirksam? Wann
wird das vollzogen?
Die U7a ist vom Gemeinsamen Bundesausschuss beschlossen als Teil der Vorsorge. Das wird uns vorgelegt
und von uns abschließend geprüft. So bald als möglich
wird unser Brief mit der Genehmigung rausgehen.
Wir haben ein selbstverwaltetes Gesundheitssystem.
Daher kann der Staat nicht festlegen, welche Leistungen
bzw. Untersuchungen die gesetzlichen Krankenversicherungen anzubieten haben. Der Staat kann nur sagen: Wir
möchten, dass die Intervalle verkürzt werden, und wir
möchten, dass die Untersuchungen vom Inhalt her verändert werden. Die U7a wird zügig eingeführt werden.
Außerdem wurde beschlossen, dass das Kindeswohl bei
den Vorsorgeuntersuchungen beachtet werden muss.
Nun hat Kollegin Gesine Lötzsch das Wort.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Frau Ministerin, Sie
haben dargestellt, dass es zwischen der Gesundheit von
Kindern und der sozialen Lage ihrer Familien einen sehr
engen Zusammenhang gibt. Sie haben betont, dass Sie
sich auf die Maßnahmen konzentrieren wollen - das ist
ja auch logisch -, die auf der Bundesebene entschieden
werden können. Zu dem, was auf der Bundesebene entschieden werden kann und muss, gehört aus unserer und
aus meiner Sicht die Höhe des Regelsatzes von Hartz IV
für Kinder. Denn niemand wird der Feststellung widersprechen können, dass der Regelsatz von Hartz IV für
Kinder nicht ausreicht, ein Kind gesund und ausgewogen zu ernähren. Darum möchte ich gerne wissen, ob es
zu Ihrem Maßnahmeplan, den Sie hier in Teilen vorgeDr. Gesine Lötzsch
tragen haben, gehört, unverzüglich dafür zu sorgen, dass
der Regelsatz von Hartz IV für Kinder angehoben wird.
Frau Kollegin Lötzsch, Sie wissen, dass im Herbst die
Entscheidung über die Anpassung des Existenzminimums, auch des Existenzminimums von Kindern ansteht. In diesem Zusammenhang werden, wenn es nötig
ist, auch Entscheidungen über die Höhe der Hartz-IVRegelsätze getroffen.
Das ist kein Aktionsprogramm, um diejenigen zu unterstützen, die vor Ort Projekte auf den Weg bringen,
damit Kinder gleiche Gesundheitschancen haben. Es
verbessert vielmehr die Rahmenbedingungen - die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen arbeiten immer wieder daran -, damit gute Chancen entstehen, dass
Menschen, die keine Arbeit haben, Arbeit finden und beschäftigt werden. Wir haben auch besondere Maßnahmen auf den Weg gebracht, die bewirken sollen, dass
niemandem, dass keiner Familie aufgrund eines geringen Einkommens eine Grundsicherung gezahlt werden
muss. Kinderzuschläge sollen hier einen Ausgleich
schaffen.
Bitte schön, Frau Kollegin.
Kurze Nachfrage: Sie haben darauf verwiesen, dass
die Bundesregierung plant, im Herbst über die Höhe der
Existenzsicherung zu entscheiden. Daher frage ich noch
einmal ganz konkret nach, damit es kein Ausweichen
gibt. Das Forschungsinstitut für Kinderernährung hat
festgestellt und vorgerechnet, dass der jetzige Hartz-IVSatz nicht für eine gesunde Ernährung für Kinder ausreicht. Sind Sie mit mir der Meinung, dass dieser Satz
angehoben werden muss?
Ich habe gesagt, dass die Datenlage im Herbst zur
Verfügung stehen wird und dass wir dann aufgrund der
Datenlage entscheiden werden.
({0})
Auch wenn zum Teil andere Forderungen aufgestellt
werden: Wir wollen, dass erst die Datenlage ermittelt
wird und wir dann entscheiden, was notwendig ist.
Nun Kollege Peter Friedrich.
Herr Präsident, vielen Dank. - Frau Ministerin, die
Strategie der Bundesregierung enthält eine ganze Fülle
von Maßnahmen. Es fällt auf, dass das Thema Präventionsgesetz an erster Stelle steht. Wenn man sich die
Ziele anschaut, ist offensichtlich, dass diese Ziele nur in
Settingmaßnahmen erreicht werden können, indem man
die gesamte Lebenswelt der Kinder erreicht und nicht
nur Ausschnitte daraus behandelt. Ist es aus diesem
Grund aus Ihrer Sicht notwendig, dass man auch die Träger von Prävention - sprich: die Sozialversicherungsträger - dazu bringt, gemeinsam solche Settingmaßnahmen
zu unterstützen? Muss das nicht ein zentraler gesetzgeberischer Schritt sein, um die Strategie erfolgreich umsetzen zu können?
Selbstverständlich ist das notwendig. Die Bundesregierung muss ressortübergreifend agieren und versuchen, die Projekte, die von den verschiedenen Ministerien auf den Weg gebracht werden, zu bündeln, damit sie
effizienter sind. Das kann man auf die Leistungen und
Projekte, die durch die Sozialversicherungsträger gefördert werden, übertragen. Es fällt auf, dass zum Beispiel
die Krankenkassen heute zwar sehr viel mehr in Prävention investieren, aber nur 5 Prozent dieser Mittel - sie
betragen über 230 Millionen Euro - in lebensweltbezogene Ansätze und Projekte fließen. Deswegen ist die
Zielsetzung eine Bündelung. Ein Teil dieser Gelder, und
zwar von allen Sozialversicherungsträgern - Krankenkassen, Rentenversicherung, Pflegeversicherung und
Unfallversicherung -, die sich an der Prävention nachhaltig beteiligen können, sollten gebündelt in lebensweltbezogenen Projekten eingesetzt werden.
Ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass
wir in dieser Legislaturperiode ein entsprechendes Gesetz zur Förderung von Prävention und Gesundheitsvorsorge verabschieden werden. Wir sind derzeit in den Abstimmungen mit dem Koalitionspartner.
Danke schön. - Kollege Harald Terpe hat nun das
Wort.
Frau Ministerin, im Bericht wird konstatiert, dass
Fehlernährung und Übergewicht von Kindern und Jugendlichen in nicht unerheblichem Maße auf übermäßigem Verzehr ungesunder und insbesondere zuckerhaltiger Lebensmittel beruhen; das wird als ein Grund für ihr
Übergewicht angeführt. Warum stemmt sich die Bundesregierung weiterhin gegen eine entsprechende Kennzeichnung, beispielsweise eine Ampelkennzeichnung,
die den Verbrauchern die Entscheidung, welche Lebensmittel gesund und welche ungesund sind, erleichtern
würde?
Der Bundesregierung geht es nicht darum, zu sagen,
man müsse nicht kennzeichnen. In dieser Diskussion
wird vielmehr nach einer Lösung für eine effektive
Kennzeichnung von Lebensmitteln gesucht, die sicherstellt, dass der Verbraucher bzw. die Verbraucherin sofort erkennt, in welchem Lebensmittel zum Beispiel
schädliche Stoffe enthalten sind.
Das Problem aller Kennzeichnungen ist: Allein durch
eine Kennzeichnung kann man noch keine ausgewogene
Ernährung gewährleisten. Wir müssen einen Weg finden,
der Bevölkerung zu vermitteln und Eltern zu beraten,
was gesunde Ernährung ist und wie eine ausgewogene
Ernährung aussieht. Manche Eltern glauben beispielsweise, dass kalziumhaltige Produkte, weil sie oft angepriesen werden, gut für ihre Kinder sind. Es ist ja nicht
so, dass Eltern etwas kaufen, von dem sie glauben, dass
es für ihre Kinder nicht gut ist. Vielmehr kaufen sie bestimmte Produkte, weil sie glauben, dass sie gut für ihre
Kinder sind. Bei manchen Lebensmitteln wird aber nicht
angegeben, beispielsweise wie viel Zucker in ihnen enthalten ist.
Diese Diskussion geht weiter. Das hat auch Kollege
Seehofer, dessen Ressort für diesen Bereich zuständig
ist, gesagt. Es kommt darauf an, Kompetenzen zu vermitteln und diejenigen, die in Stadtteilen, Kindergärten
oder Schulen arbeiten - ein Beispiel ist das Projekt „Gesunde Schule“ -, zu beraten, wie man sich richtig ernährt.
Einige Maßnahmen haben wir bereits auf den Weg
gebracht. Wir wollen zum Beispiel Vater-Mutter-KindKuren. Dabei handelt es sich um exemplarische Angebote. Eltern und Kinder - meistens sind es leider die
Mütter und ihre Kinder; denn es gibt noch zu wenige
Väter, die sich hier beteiligen - lernen gemeinsam, ihre
Ernährung umzustellen und ihr Verhalten zu ändern;
manche von ihnen entwickeln richtig Spaß daran, sich zu
bewegen, und treten in einen Sportverein ein. Darauf
müssen wir Wert legen.
Gerade im Hinblick auf das Thema Ernährung kommt
es nicht nur darauf an, dass Produkte gekennzeichnet
werden, sodass man erkennen kann, wie viel Zucker,
Fett, Nährstoffe usw. in ihnen enthalten sind, sondern es
geht vor allem auch um die Frage: Wie bereitet man eine
ausgewogene und vollwertige Mahlzeit zu, und was
kann man selbst tun, um das eigene Ernährungsverhalten
umzustellen? Das ist das Problem, vor dem die meisten
Menschen stehen.
Bitte, Herr Kollege.
Ich stimme mit Ihnen überein, dass es eine Vielzahl
von Einflussmöglichkeiten gibt, die auch wahrgenommen werden muss; das haben Sie gerade dargestellt.
Dazu gehört sicherlich auch die Kompetenzsteigerung.
Ich möchte aber auf meine Frage zurückkommen:
Sind Sie wie ich der Meinung, dass eine sinnvolle und
einfache Kennzeichnung von Lebensmitteln als „gesund“ oder „ungesund“, also ohne Nanogramm- oder
Milligrammangaben und ohne chemische Angaben, eine
wirksame Anfangsmaßnahme wäre?
Wenn eine solche Kennzeichnung dazu beiträgt, dass
die Menschen schneller erkennen können, ob sie ihre
Nahrung falsch zusammensetzen, ja. Mir liegt aber im
Moment noch kein Vorschlag vor, der dies gewährleisten
könnte.
Bitte, noch einmal Kollege Terpe. Dann ist aber der
Nächste dran.
Frau Ministerin, sind Ihnen entsprechende Ergebnisse
oder Erfahrungen anderer europäischer Länder bekannt?
Über dieses Thema wird sehr breit diskutiert, auch im
Kreis der EU-Gesundheitsminister. In allen Bereichen
gibt es positive und negative Erfahrungen. Da das Essverhalten bzw. das Ernährungsverhalten auch in manchen Ländern, in denen es eine Kennzeichnung gibt,
nicht umgestellt werden konnte, sage ich: Lassen Sie uns
in Ruhe darüber diskutieren. Ich bin nicht prinzipiell dagegen. Ich bin dafür, dass wirklich sinnvolle Maßnahmen, wie Sie es genannt haben, ergriffen werden. Allerdings möchte ich den Ergebnissen des gegenwärtigen
Diskussionsprozesses nicht vorgreifen. Momentan wird
nämlich vonseiten der Verbraucherschützer im Ausschuss für Ernährung beraten, ob es Wege gibt, um den
Menschen sozusagen schon auf den ersten Blick deutlich
zu machen: Finger weg, das ist nicht gut für dich. Wenn wir eine solche Möglichkeit gefunden haben, sind
wir einen Schritt weiter.
Nun ist Kollege Jürgen Koppelin an der Reihe.
Frau Ministerin, dieses Programm werden Sie natürlich nur durchsetzen können - das ist jedenfalls mein
Eindruck -, wenn die Länder und Kommunen mit eingebunden sind. Das haben Sie ja auch angedeutet. Ich darf
Sie fragen: Inwieweit sind die Länder, die kommunalen
Spitzenverbände und andere Organisationen - Sie haben
die Ministerien genannt, die daran beteiligt waren während des Entwurfs dieses Konzeptes in die Gespräche mit eingebunden gewesen?
Nach meinem Eindruck werden am Ende die Kommunen das Konzept vor Ort umsetzen müssen, daher
möchte ich Sie fragen: Haben Sie einmal die finanziellen
Belastungen für die Kommunen durch die Umsetzung
dieses Programms abgeschätzt?
Es ist eine originäre Aufgabe der Kommunen, die Daseinsvorsorge zu gestalten. Zur originären Aufgabe der
Kommunen gehört zum Beispiel auch der öffentliche
Gesundheitsdienst. Daneben gehört es zur originären
Aufgabe von Kommunen und Ländern, präventiv tätig
zu sein, weil sie auch dafür verantwortlich sind, dass die
Menschen, die in einer Kommune oder einem bestimmten Land leben, gute Bedingungen vorfinden und gleiche
Chancen haben.
Wir haben festgestellt, dass Kinder aus sozial schwachen Familien oder aus Familien mit Migrationshintergrund nicht die gleichen Chancen haben, gesund aufzuwachsen, und wir wissen seit der PISA-Studie, dass das
Auswirkungen auf die Erfolge in der Schule hat. Insofern muss man umsteuern.
Wir haben hier das festgelegt, was durch die verschiedenen Ministerien und vor allen Dingen durch die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung initiiert
wurde. Wenn Sie vor Ort sind, dann werden Sie sehen,
dass sich die Kommunen, die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung und auch bestimmte Krankenkassen in Kombination daran beteiligen und die Menschen unterstützen. Sie sagen - nehmen Sie als Beispiel
den Deutschen Olympischen Sportbund -: Wir sorgen
dafür, dass jeden Tag ein Übungsleiter in der Schule ist
und dass alle Kinder jeden Tag eine halbe bis eine ganze
Schulstunde lang ein Bewegungsangebot erhalten, wodurch wir ein gesünderes Aufwachsen fördern.
Wir streben an, dass wir die geplanten Maßnahmen
im Aktionsplan Gesunde Ernährung und Bewegung
noch vor der Sommerpause im Kabinett beschließen
können. Seit dem letzten Jahr, seitdem also die Eckpunkte vorliegen, sind sie mit den Kommunen, den Spitzenverbänden und vielen anderen beraten worden. Die
Ergebnisse dieser Beratungen und die Anregungen der
Beteiligten sind mit eingeflossen.
Gemeinsam mit den Kommunen wird das, was wir
hier regeln, zum Teil auch schon geleistet. Nehmen Sie
als Beispiel das Bundesprogramm „Frühe Hilfen für
Eltern und Kinder und soziale Frühwarnsysteme“, das
von der Kollegin von der Leyen entwickelt wurde. Dabei
geht es um aufsuchende Hilfen im Bereich des Kinderschutzes. Daneben führen wir gemeinsam mit den Kommunen auch andere Maßnahmen im Bereich „Nein zu
Alkohol“ durch, zum Beispiel das Projekt HaLT, also
Hart am Limit.
Hier müssen immer beide Seiten aktiv werden. Zum
einen muss gemeinsam mit den Kommunen dafür gesorgt werden, dass die gesetzlichen Bestimmungen eingehalten werden, dass also beispielsweise das günstigste
Getränk in Diskotheken alkoholfrei ist, und vieles mehr.
Zum anderen muss es aber auch Aktivitäten mit den Jugendlichen selbst geben, zum Beispiel in Form von Gesprächen.
Ich kann das, was die Kommunen machen, nicht beziffern, aber ich hätte gerne, dass hier nicht nur der Bund
seine Verantwortung wahrnimmt - er finanziert eine
ganze Menge -, sondern dass das auch für die Kommunen und Länder gilt. Nur dann - es soll eine gemeinsame
Strategie und Aufgabe sein - ist es überhaupt berechtigt,
auch die Sozialversicherungsträger mit ihrem entsprechenden Anteil einzubinden.
Frau Ministerin, dann frage ich noch einmal. Das
Konzept, das das Kabinett verabschiedet hat, müssen die
Länder und Kommunen umsetzen. Inwieweit sind die
Länder in die Erarbeitung dieses Konzeptes eingebunden
gewesen, bevor das Kabinett darüber entschieden hat?
Bevor das Kabinett entschieden hat, haben die Länder
das Konzept nicht beraten. Die in der Strategie enthaltenen einzelnen Aktionen sind zum Teil mit den Ländern
beraten worden und werden mit den Ländern entwickelt.
Die Länder haben hier auch ihre Aufgaben.
Ich nenne hier auch einmal die stärkere Einbindung
der Krankenkassen, um zu erreichen, dass möglichst
100 Prozent aller Kinder an den Vorsorgeuntersuchungen teilnehmen. Hier wird es auf Länderebene Rahmenvereinbarungen geben müssen, in denen Krankenkassen
und Länder gemeinsam erklären, wie dies erreicht werden kann.
Die gesamten Suchtprojekte führen wir gemeinsam
mit den Ländern oder den Kommunen durch. Ich habe
eben das Bundesprogramm „Frühe Hilfen für Eltern und
Kinder und soziale Frühwarnsysteme“ genannt. Dieses
kann nur im Zusammenwirken mit den Ländern und
Kommunen und nicht allein auf der Bundesebene funktionieren. Hier müssen nämlich viele Entscheidungen
getroffen werden.
Das ist die Strategie. Wir müssen uns fragen, wie wir
die Maßnahmen, die wir ergreifen, bündeln können.
Denn wir hoffen, aus der Bündelung der Aktivitäten eine
größere Schlagkraft zu erhalten.
Mit dieser Strategie gehen wir auch in die Länder und
Kommunen. Ich hoffe, dass die Abgeordneten diese
Aufstellung der Maßnahmen und Möglichkeiten in ihre
Wahlkreise zurücktragen und sich vor Ort dafür einsetzen, dass die Kompetenzen gebündelt werden, damit die
Kinder in der jeweiligen Stadt, Gemeinde oder Region
gute Chancen haben, gesund aufzuwachsen.
In einer Gesellschaft, in der die Menschen immer länger leben, haben die Kinder, die heute geboren werden,
gute Chancen, 100 Jahre alt zu werden. Ich möchte - dafür müssen wir die Grundsteine legen -, dass die Kinder
die Chance erhalten, dieses hohe Alter so gesund wie
möglich zu erreichen. Vor allen Dingen muss alles dafür
getan werden, dass für ihre Chancen auf ein gutes Leben
nicht die Herkunft oder der Geldbeutel der Eltern entscheidend sind. Mit den Kommunen, in denen wir die
Projekte fördern, werden wir entsprechende Diskussionen führen. Aber da es jetzt eine Aufstellung gibt, welche Maßnahmen wir durchführen und wie wir sie durch
die Bündelung von Kompetenzen effizienter gestalten
wollen, sind wir bei diesem Punkt einen entscheidenden
Schritt weiter.
Jetzt ist Kollegin Martina Bunge an der Reihe.
Herr Präsident! Frau Ministerin, Sie haben gestern an
Ihren Koalitionspartner, die CDU/CSU-Fraktion, appelliert, ein Präventionsgesetz nicht weiter zu blockieren.
Sehen Sie das umfangreiche Maßnahmenpaket in der
Umsetzung gefährdet, wenn das Präventionsgesetz nicht
in dieser Legislaturperiode kommt?
Vielleicht darf ich so antworten: Es wäre viel effizienter, wenn es kommt.
Ich habe noch eine Nachfrage.
Bitte.
Ich sprach von dem umfangreichen Maßnahmenpaket. Zugestandenermaßen haben Sie - für mich sehr
erfreulich - auch die psychische Gesundheit als Maßnahmeziel miteinbezogen, aber vor allem in Bezug darauf, psychische Erkrankungen besser zu erkennen und
zu behandeln. Gibt es für Sie keine Möglichkeiten, psychischen Erkrankungen vorzubeugen?
Doch. Wir machen das, was auch jenseits des Präventionsgesetzes möglich ist. Dabei stützen wir uns auf die
Diskussion mit Kinder- und Jugendärzten, aber auch mit
dem Bundesausschuss darüber, wie die Früherkennung
gestaltet werden soll. Dazu gehören die Forschungsaktivitäten des BMBF, dem 15 Millionen Euro für die Erforschung von Krankheiten und die speziellen Risiken für
Kinder zur Verfügung stehen. Oftmals gibt es Zusammenhänge mit allergischen Reaktionen oder psychischen
Erkrankungen. Manchmal kommt ein ganzes Bündel zusammen. Das alles wird durch die Bundesregierung bzw.
die verschiedenen Ressorts auf den Weg gebracht.
Des Weiteren sind die Projekte zu nennen, die wir
über die BZgA durchführen. Wir haben - darauf lege ich
sehr viel Wert - entschieden, das Gesundheitsmonitoring
durchzuführen. Dazu erfolgt eine Berichterstattung aus
den verschiedenen Ressorts, damit wir zu einer ausreichenden Datenlage kommen.
Durch den KiGGS - den Kinder- und Jugendgesundheitssurvey - verfügen wir erstmals über umfassende
Daten. Wir haben jetzt beschlossen, dass in diesem Jahr
der nächste Drei-Jahres-Zeitraum dieser Studie beginnt.
Dann haben wir 2011 die Möglichkeit, auszuwerten, was
sich durch alle bestehenden Angebote geändert hat.
Insofern werden wir alles tun, was möglich ist. Wir
haben, wie Sie wissen, trotz der laufenden Haushaltskonsolidierung - auch im Suchtbereich - im letzten Jahr
den Etat für Maßnahmen der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung für dieses Jahr erhöhen können.
Noch besser wäre es, wenn ein Präventionsgesetz zustande kommt, durch das auch die Sozialversicherungsträger ihr Geld und ihre Kompetenzen bündeln, um
gemeinsame Aktivitäten in den verschiedenen Lebenswelten unterstützen zu können.
Als Nächstes ist Kollegin Ekin Deligöz an der Reihe.
Frau Ministerin, Sie haben in Ihrem Bericht angegeben, dass die Zahl der klimabedingten Atemwegserkrankungen gerade bei Kindern und Jugendlichen zunimmt.
Gleichzeitig erleben wir aber, dass Sie in der Regierung
relativ wenig machen, um das zu verhindern. Ich denke
zum Beispiel an pflanzliche Treibstoffe, für die die Steuern erhöht werden. Die Informationen über defekte Rußfilter werden zurückgehalten. Von Tempolimits oder Effizienzstandards bei Pkws ist schon gar nicht mehr die
Rede. Was wollen Sie tun, um glaubwürdig Maßnahmen
zu ergreifen, damit die Zahl der Atemwegserkrankungen
real zurückgehen kann?
Die Bundesregierung beabsichtigt, im Juni das Klimaschutzpaket zu verabschieden, das derzeit noch beraten wird.
({0})
Wie Sie wissen, erfolgt noch eine Abwägung der einzelnen Maßnahmen.
Konkret macht das Umweltministerium Folgendes:
Zu den Auswirkungen von Klimaveränderungen und
veränderten Umweltbedingungen auf die gesundheitlichen Risiken von Kindern werden Forschungsprogramme aufgelegt, damit wir auch hier über mehr Daten
verfügen, als es heute der Fall ist, und gezielt handeln
können.
Das eine kommt also im Juni, was ja nicht mehr so
lange hin ist; in der nächsten Woche ist schon Juni. Daher sollten wir abwarten, was dann entschieden werden
wird. Sie werden sehen, dass diese Bundesregierung eine
ganze Menge auf den Weg bringt, um den Herausforderungen durch die Klimaveränderungen zu begegnen und
wirksame Maßnahmen einzuleiten. Im internationalen
Vergleich stehen wir hier gar nicht schlecht da.
Sie haben die Beantwortung meiner Frage ein bisschen auf das Umweltministerium abgeschoben. Daher
frage ich noch einmal nach: Daten sind schön und gut.
Aber wir haben in diesem Bereich eigentlich keine Erkenntnisdefizite - wir wissen sehr viel und verfügen
über Zahlen und Statistiken -, sondern wir haben Handlungsdefizite. Was werden Sie in Ihrem Haus tun, um
diesen Krankheiten vorzubeugen?
Noch einmal: Wir beraten das Klimapaket und werden im Juni darüber entscheiden und es dann auch vorstellen. Darin sind Maßnahmen enthalten.
Die Weltgesundheitsorganisation hat in diesem Jahr
den Zusammenhang zwischen Klima und Gesundheit als
eines ihrer Themen auf den Weg gebracht. In unserem
Hause können wir in Zusammenarbeit mit dem Umweltministerium Überlegungen anstellen, wie sich Klimaveränderungen und veränderte Umweltbedingungen auf die
Häufigkeit von Allergien, Asthma und anderen Erkrankungen auswirken und wo auf diesem Felde gegengesteuert werden muss. Dies ist keine Angelegenheit der
gesetzlichen Krankenversicherung, sondern hier müssen
wir an die Wurzel herangehen und versuchen, Umweltbedingungen zu schaffen, die diese Krankheiten nicht
auslösen. Der Klimaschutz verlangt ein gemeinsames
Vorgehen; das kann nicht allein vom Bundesgesundheitsministerium auf den Weg gebracht werden, zumal
nicht über die gesetzliche Krankenversicherung.
Kollegin Dagmar Enkelmann, Sie sind an der Reihe.
Frau Ministerin, nach Ihrer Antwort auf die Frage des
Kollegen Koppelin hätte ich Sie gern nach der Finanzausstattung der Kommunen gefragt. Dies verkneife ich
mir; darüber werden wir sicherlich noch an anderer
Stelle diskutieren.
({0})
- Frau Schmidt, Sie kennen sich da möglicherweise
nicht aus. Fragen Sie Kommunalpolitiker.
({1})
({2})
- Dann wissen Sie, wie die Situation ist und was man
den Kommunen an Aufgaben tatsächlich noch übertragen kann.
Herr Präsident, das war aber jetzt nicht mein Thema.
Ich komme zu den Vorsorgeuntersuchungen zurück. Sie,
Frau Ministerin, hatten über verpflichtende Einladungen
gesprochen. Wäre es nicht sinnvoller, mit den Kassen
auch darüber zu reden, dass Vorsorgeuntersuchungen
zum Beispiel direkt in den Schulen und Kinderbetreuungseinrichtungen vorgenommen werden? Ich muss sagen, dass man in der DDR damit gute Erfahrungen gemacht hat.
Als ich Kind war, fanden diese Untersuchungen auch
in den Schulen statt. Dies ist eine gemeinsame Aufgabe,
und die Kassen sind zur Kooperation verpflichtet. Solche Punkte können in Rahmenvereinbarungen gelöst
werden. Dabei geht es darum, ob der öffentliche Gesundheitsdienst diese durchführt oder ob niedergelassene
Ärzte dafür bezahlt werden. Im Bereich der Zahnprophylaxe wurden beispielsweise solche Verabredungen
getroffen. Die Frage ist also, wie es organisiert wird. Die
Tatsache, dass gerade im öffentlichen Gesundheitsdienst
in den letzten Jahren sehr viel eingespart worden ist,
führt heute zu einer Reihe von Engpässen. Die Kassen
können hier in Kooperation mit den Kommunen und den
Ländern dafür sorgen, dass möglichst alle Kinder erreicht werden und an Vorsorgeuntersuchungen teilnehmen werden. Anderes können die Krankenkassen nicht
tun; sie können nicht das Wächteramt des Staates übernehmen.
Kollegin Elke Reinke hat jetzt das Wort.
Vielen Dank. - Welche konkreten Maßnahmen plant
die Bundesregierung, um den Gesundheitszustand von
Kindern mit Migrationshintergrund zu verbessern?
Auch das geht nur durch die Förderung lebensweltbezogener Aktivitäten. Man kann viele Programme zur
Prävention auflegen. Wir sehen allerdings an der Verteilung der Gelder, dass mit vielem, was heute angeboten
wird, vor allen Dingen diejenigen erreicht werden, die
sich schon entschieden haben, etwas für ihre Gesundheit
zu tun.
Die Projekte, die wir mit der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung durchführen, werden so konzipiert, dass sie sich auch an Menschen mit Migrationshintergrund wenden, die viele Fragen haben. Dazu gehört
eine Vereinfachung der Darstellung.
Eine lebensweltbezogene Prävention muss in den Kitas, in den Schulen im Stadtteil ansetzen. Dabei muss ermittelt werden: Welches sind die Haupthindernisse? Wie
schaffen wir es, die Menschen zu erreichen? Am besten
ist es, die Eltern und die Kinder zu erreichen, damit man
gemeinsam lernt. Wir wollen mit den Projekten die lebensweltbezogene Prävention voranbringen.
Wir werden allerdings mit keiner noch so schönen Broschüre, mit keiner noch so schönen Präventionskampagne
etwas erreichen, wenn wir nicht die Menschen in den
Stadtteilen, in den Regionen finanziell unterstützen, die
bereit sind, Projekte zu initiieren, um sowohl Kinder mit
Migrationshintergrund als auch Kinder aus sozial schwachen Familien direkt anzusprechen. Eine andere Möglichkeit sehe ich nicht. Deswegen liegt unser Schwerpunkt bei
lebensweltbezogenen Präventionsangeboten.
Letzte Nachfrage; dann sind die 30 Minuten vorüber.
Vielen Dank. - Das hört sich wieder so an, als ob die
Verantwortung, vor Ort Möglichkeiten zu finden, den
Ländern und Kommunen zugeschoben werden soll. Es
gibt im Bundesrat aber keine Vorstellung, wie man da
Unterstützung zukommen lassen kann.
Frau Kollegin, jeder muss die Verantwortung übernehmen, die er da, wo er sich befindet, hat. Es ist nicht
die Verantwortung der Bundesgesundheitsministerin bzw.
der Bundesregierung, sich konkret im Stadtteil an die
Kitas zu wenden.
Die Frage ist, wie man die Dinge organisiert. Die
Bundesregierung will zum Beispiel mit dem Aktionsplan
„Gesunde Ernährung und Bewegung“ diejenigen fördern, die vor Ort solche Präventionsprojekte auf den
Weg bringen. Wir engagieren uns auch im Rahmen der
„Gesunden Schule“ und der „Bewegten Schule“. Wir begleiten viele Maßnahmen finanziell.
Allerdings wissen die Verantwortlichen vor Ort am
besten, was in ihrem Stadtteil auf den Weg gebracht
werden muss, um diejenigen zu erreichen, die wir erreichen wollen. Da nützen keine zentralen Planungen, da
nützen allenfalls Angebote - auch finanzielle Angebote
-, damit die, die Projekte durchführen wollen, dies auch
tun können.
Ich kann die Kommunen und die Länder nicht aus der
Verantwortung entlassen, die sie für die Daseinsvorsorge, für die Bildungschancen der Bevölkerung und für
vieles mehr haben. Wir können nur gemeinsam etwas erreichen.
Danke schön. - Ich beende die Befragung und rufe
den Tagesordnungspunkt 2 auf:
Fragestunde
- Drucksachen 16/9248, 16/9297 Zu Beginn rufe ich gemäß Nr. 10 der Richtlinien für die
Fragestunde die dringlichen Fragen, Drucksache 16/9297,
auf, zunächst die dringliche Frage 1 der Kollegin Silke
Stokar von Neuforn.
Ich gebe Herrn Kollegen Beck das Wort zu einem Geschäftsordnungsantrag.
Wir sehen, dass uns das Bundesministerium der Finanzen Rede und Antwort stehen will. Wir meinen aber,
dass der Themenkomplex, um den es bei der dringlichen
Frage 1 geht - es geht darum, was, wenn die Speicherfristen im Rahmen der Vorratsdatenspeicherung ausgedehnt werden, mit den Daten passiert, die die Telekommunikationsdiensteanbieter bereithalten müssen -, vom
Bundesinnenministerium zumindest mitbeantwortet werden muss. Wir stellen daher den Antrag, Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble zur Beantwortung dieser Frage
herbeizuzitieren.
Kollege Koppelin.
Herr Präsident, auch wir sind der Auffassung, dass
das Bundesinnenministerium, der Bundesinnenminister
die Frage beantworten soll. Insofern unterstützen wir
den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen, den Bundesinnenminister bzw. einen Vertreter des Bundesinnenministeriums herbeizuzitieren.
Kollege Grund.
Es liegt im Ermessen der Bundesregierung, in ihrem
Geschäftsverteilungsplan festzulegen, welches Ministerium die Frage beantwortet. Die Frage der Kollegin
Stokar von Neuforn ist so formuliert, dass sie vom Bundesfinanzministerium zu beantworten ist; insoweit ist die
Zuordnung sachlich richtig. Ich widerspreche daher für
die Koalition diesem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Kollegin Enkelmann.
Wir unterstützen den Antrag von Bündnis 90/
Die Grünen. Wir sind der Auffassung: Zu diesem Thema
gehört der Minister her.
Weitere Wortmeldungen sehe ich nicht.
({0})
- Frau Kollegin, bitte schön. So viel Zeit haben wir.
Ich glaube auch, dass wir so viel Zeit haben. Ich bitte
darum, im Zusammenhang mit der Abstimmung die Beschlussfähigkeit festzustellen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, den Herrn Bundesinnenminister zur Beantwortung der ersten dringlichen
Frage herbeizurufen. Wer stimmt für diesen Antrag? Wer stimmt dagegen? - Damit ist der Antrag angenommen. Ich setze die Beantwortung dieser dringlichen
Frage aus, bis der Herr Innenminister anwesend ist.
({0})
- Ich frage zurück, ob das in Ihrem gemeinsamen Interesse liegt.
({1})
Ich will Sie nur darauf hinweisen: Die Beantwortung
dieser dringlichen Frage ist ausgesetzt, bis der Innenminister kommt. Wir könnten mit der Beantwortung anderer Fragen fortfahren. Wir können natürlich auch eine
Unterbrechung herbeiführen. Wenn Sie Lust haben, einen Kaffee zu trinken, können Sie dem Antrag der Kollegin Gleicke zustimmen. Wer stimmt für den Antrag der
Kollegin Gleicke?
({2})
- Die Kollegin Gleicke hat mir zugerufen, dass sie den
Antrag zurücknimmt.
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
({3})
Wir können somit erfreulicherweise unsere Arbeit
fortsetzen, was ich begrüße.
({4})
Es wird gerade festgestellt, wo der Innenminister ist,
ob er im Land, in Berlin oder woanders ist. - Mir wird
gerade mitgeteilt, dass der Minister entschuldigt sei. Er
ist auf dem Weg nach Israel.
Ich frage die parlamentarischen Geschäftsführer, ob
sie ernsthaft darauf bestehen, dass die Sitzung so lange
unterbrochen wird, bis der Herr Minister hier erschienen
ist. Das scheint mir nicht besonders geschäftsführend zu
sein. Deswegen mache ich Ihnen noch einmal den - ich
denke: angemessenen - Vorschlag, die Beantwortung
dieser dringlichen Frage auszusetzen und mit den dringlichen Fragen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend fortzufahren. Zur Beantwortung dieser Fragen steht der
Parlamentarische Staatssekretär Hermann Kues zur Verfügung. Sind Sie mit diesem Verfahren einverstanden? Ich höre keine Einwände. Dann verfahren wir so, oder?
Wir sind uns einig: Wir behandeln zunächst die dringlichen Fragen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Zur
Beantwortung steht der Parlamentarische Staatssekretär
Hermann Kues zur Verfügung.
Die dringliche Frage 2 hat Dagmar Enkelmann gestellt:
Welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung aus der
am Montag vom Bundesministerium für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend veröffentlichten Untersuchung des
Prognos-Instituts, wonach jedes sechste Kind in Deutschland
in Armut lebt?
Ich bitte Herrn Staatssekretär Kues, die Frage zu beantworten.
Die Antwort lautet folgendermaßen: Die Bundesregierung misst der Bekämpfung und Vermeidung von
Armutsrisiken von Familien und Kindern unverändert
eine überaus hohe Priorität bei. Das Kompetenzzentrum
für familienbezogene Leistungen im BMFSFJ, für das
die in der Frage angesprochene Untersuchung erstellt
wurde, hat in seinem am 28. April 2008 veröffentlichten
Arbeitsbericht eine Reihe von Empfehlungen ausgesprochen, mit welchen Maßnahmen die wirtschaftliche Stabilität von Familien im Lebensverlauf gesichert und Armutsrisiken von Familien und Kindern vermieden
werden können. Des Weiteren wird der 3. Armuts- und
Reichtumsbericht ausführlich Auskunft darüber geben,
mit welchen Maßnahmen die Bundesregierung Einkommensarmut allgemein und gezielt bei Familien und Kindern bekämpft. Frau Bundesministerin von der Leyen
hat deutlich gemacht, dass sie insbesondere im Ausbau
der Kindertagesbetreuung, in der Weiterentwicklung des
Kinderzuschlags sowie in einer stärker nach der Zahl der
Kinder gestaffelten Erhöhung des Kindergeldes wirksame familienpolitische Maßnahmen zur Bekämpfung
von Kinderarmut bzw. von Armutsrisiken der Familien
sieht.
Frau Enkelmann, bitte.
Das war aber eine kurze Antwort. Meine erste Nachfrage, Herr Staatssekretär, lautet: Wie erklärt sich die
Bundesregierung die unterschiedlichen Angaben zum
Ausmaß von Kinderarmut? Im Bericht von UNICEF und
in der Prognos-Studie wird davon gesprochen, dass jedes
sechste Kind betroffen ist, im Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung steht aber, jedes achte Kind
sei von Armut betroffen.
Wie ich eben schon angedeutet habe, gibt es bislang
keinen Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, sondern es gibt einen Entwurf,
({0})
der zwischen den Ressorts abgestimmt wird. Wenn das
erfolgt ist, werden die Zahlen abgeglichen. Es gibt teilweise unterschiedliche Zahlen - das kann ich jetzt schon
sagen -, weil unterschiedliche Erhebungen vorgenommen worden sind. Die Bundesregierung wird aber insgesamt das Datenmaterial zwischen den Ressorts abstimmen und dann konkrete Vorschläge machen.
Weitere Nachfrage?
Ich möchte in meiner zweiten Nachfrage zu den Maßnahmen kommen, weil, wie ich denke, darüber zu reden
ist. Beide Untersuchungen, sowohl der Armuts- und
Reichtumsbericht als auch die UNICEF-Studie, machen
deutlich, dass bestimmte Personengruppen besonders
betroffen sind, also Kinder mit Migrationshintergrund,
Kinder von Alleinerziehenden und auch Kinder von
Hartz-IV-Empfängern. Kinder aus diesen Familien sind
in besonderem Maße von Armut betroffen. Welche Maßnahmen hat die Regierung wenigstens angedacht - ganz
vorsichtig ausgedrückt -, was schwebt Ihnen vor, und
was müsste gemacht werden?
Zunächst einmal muss man sagen, dass der Bericht in
einer Umwälzungsphase der Bundesrepublik entstanden
ist. Wir hatten bis zum Jahr 2005 einen sehr starken Anstieg der Arbeitslosenzahl. Seit zwei Jahren haben wir
dort eine erhebliche Veränderung, um das ausdrücklich
einmal zu sagen. Dennoch bleiben die Armutsrisiken
gleich. Wir sind in der Tat der Auffassung, dass - Sie haben das angesprochen - beispielsweise Kinder von Alleinerziehenden, Kinder von Kinderreichen und Kinder
mit Migrationshintergrund in besonderer Weise betroffen sind. Es gibt überall Lösungsansätze, und es sind
teilweise schon Maßnahmen auf den Weg gebracht worden, etwa im Hinblick auf Alleinerziehende. Wir werden
wesentlich mehr für Kinderbetreuung und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf tun müssen - wir sind schon
dabei -, damit Alleinerziehende die Chance haben, ihren
Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Sie müssen eine
faire Chance bekommen, um selbst für sich verantwortlich sein zu können. Für kinderreiche Familien haben
wir unter anderem den Kinderzuschlag auf den Weg gebracht. Man kann sich überlegen, ob man den weiter ausbaut. Das sind erste Schritte. Die Maßnahme gibt es
schon länger, aber wir haben sie weiter entwickelt. Jetzt
muss man die Wirkung abwarten. Was die Migranten betrifft, so dient alles, was wir zum Thema Integration
überlegt haben, dazu, dass Migranten eine faire Möglichkeit bekommen, ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Alles, was in Sachen Sprachförderung auf den
Weg gebracht worden ist, sind letztlich vorbeugende
Maßnahmen gegen die spätere Armut von Familien, von
Eltern und Kindern. Der Kerngedanke ist: Kinder sind
nicht von vornherein arm, sondern die Eltern verdienen
zu wenig, haben also ein zu geringes Einkommen, um
ihre Familie tatsächlich zu ernähren.
Kollegin Enkelmann hat eine dritte Nachfrage.
Frau Ministerin Schmidt hat eben in der Befragung
der Bundesregierung gesagt, dass die Bundesregierung
erst den Existenzminimumsbericht abwarten will, um zu
prüfen, ob der Regelsatz für Kinder aus Hartz-IV-Familien angepasst wird. Halten Sie die Zahlen, die gegenwärtig auf dem Tisch liegen, nicht für ausreichend, um
zu sagen: „Es muss jetzt schnellstens gehandelt werden;
wir können nicht den nächsten Bericht abwarten“?
Nein. Ich glaube nicht, dass das zielgerichtet wäre.
Uns liegen Zahlen vor, wonach die Zahl der unter
15-jährigen Kinder in Hartz-IV-Familien rückläufig ist.
Das heißt: Wenn man sich Gedanken über Lösungsansätze macht, dann muss man sich gezielt anschauen,
wo die Probleme sind und was die eigentlichen Ursachen
sind, Stichwort - es ist eben gefallen - „Alleinerziehende“. In Paarfamilien sieht es ungleich besser aus, wie
wir wissen. Dort, wo es einen Migrationshintergrund
gibt, und bei Kinderreichen muss tatsächlich etwas getan
werden.
Kollegin Zimmermann, bitte.
Danke schön. - Ich habe eine Nachfrage. Sehen Sie
einen Zusammenhang zwischen der Kinderarmut und
der Chancenungleichheit von Kindern in unserer Gesellschaft, in unserem Land?
Ja. Ich glaube, dass es diesen Zusammenhang gibt.
Auch deswegen sagen wir sehr bewusst, dass wir alles
dafür tun müssen - im Bereich der frühkindlichen Bildung ist in den letzten Jahren zwar einiges, aber längst
noch nicht genug passiert; sie muss viel stärker gefördert
werden -, dass jedes Kind spätestens zum Zeitpunkt der
Einschulung eine faire Chance erhält. In der Tat gibt es
insofern einen Zusammenhang: Wenn zu Beginn des Lebens Chancenungleichheit besteht, dann ist die Gefahr
größer, dass man später einem Armutsrisiko ausgesetzt
ist.
Kollegin Höll hat sich zu einer Nachfrage zu Wort gemeldet.
Herr Staatssekretär, wie schon erwähnt wurde, geht
aus dem Bericht eindeutig hervor, dass es bei Familien
mit mehreren Kindern ein besonderes Armutsrisiko gibt.
Warum wurde nicht bereits in den vergangenen Jahren
das Kindergeld ab dem dritten oder vierten Kind erhöht?
Sie wissen, dass wir uns verständigt haben, den neuen
Existenzminimumsbericht abzuwarten. Dieser Bericht
wird präzise Zahlen beinhalten. Darauf wird man reagieren müssen. Das hat Konsequenzen für das steuerliche
Existenzminimum. Das ist das eine.
Konsequenzen wird es aber auch für alle sozialhilferechtlichen Regelungen geben. Außerdem wird die
Frage zu beantworten sein, wie mit denen umgegangen
werden soll, die weder vom Steuerfreibetrag profitieren
noch zu den Hartz-IV-Empfängern gehören. Es sei hinzugefügt: Das, was ein Kind in einem Hartz-IV-Haushalt
bekommt, ist ungleich mehr - ungefähr ein Drittel - als
das, was ein Kind, das knapp oberhalb der von uns definierten Armutsgrenze lebt, vom Staat zur Verfügung gestellt bekommt.
Kollegin Reinke stellt die letzte Nachfrage hierzu.
Sie sagten, der Kinderzuschlag solle weiterentwickelt
werden. Ich frage noch einmal, weil ich bisher noch
keine schlüssige Antwort bekommen habe. Der Kinderzuschlag sollte ausgeweitet werden, und das sollte
500 000 Kinder betreffen. Sie haben für eine Senkung
auf insgesamt 250 000 Kinder gesorgt. Jetzt frage ich
mich: Wie kommt man dazu, die Zahl der Berechtigten
zu senken, wenn man es weiterentwickeln will? Das
kann ich jetzt nicht nachvollziehen.
Diese Frage habe ich jetzt nicht verstanden.
({0})
Kurz und präzise!
Genau! - Der Kinderzuschlag soll - das haben Sie
vorhin erwähnt - weiterentwickelt werden. Es wurde
auch schon behauptet: Er ist weiterentwickelt worden.
Es wurde eine Zahl genannt: 500 000 Kinder sollten von
dem Kinderzuschlag profitieren. Dann wurde die Zahl
auf 250 000 gesenkt. Nun frage ich mich, worin die Weiterentwicklung für die Anspruchsberechtigten liegt.
Ausgangspunkt ist der alte Kinderzuschlag gewesen,
damit werden zurzeit rund 100 000 Kinder erreicht, nämlich mit einer einheitlichen Einkommensgrenze für Alleinerziehende von 600 Euro und für Paare von 900 Euro.
Außerdem haben wir die Berücksichtigung von Zuverdiensten verändert. Statt 70 Prozent werden nur noch
50 Prozent pro Euro entzogen.
Die Zahl 500 000 zusätzliche Kinder ist einmal genannt worden im Zusammenhang mit der Umsetzung aller möglichen Elemente einer Reform. Wir gehen davon
aus, dass wir mit den jetzt geplanten Reformschritten zunächst insgesamt nur 240 000 Kinder erreichen werden.
Wie viele es tatsächlich sein werden, muss die Entwicklung nicht zuletzt am Arbeitsmarkt zeigen Dann wird
man Bilanz zu ziehen haben.
Die Ministerin ist der Auffassung - das habe ich
schon gesagt -, dass man dann auch sehen muss, ob man
den Kinderzuschlag nochmals weiterentwickelt, gerade
wenn man etwas für die Familien tun will, die durch
Kinderreichtum gekennzeichnet sind.
Danke schön.
Wir kommen damit zur nächsten dringlichen Frage,
nämlich der dringlichen Frage 3 der Kollegin Höll:
Wie bewertet die Bundesregierung die Ergebnisse und
politischen Handlungsempfehlungen des am Montag, dem
26. Mai 2008, vorgestellten UNICEF-Berichts zur Lage der
Kinder in Deutschland im Vergleich zu den Ergebnissen und
Schlussfolgerungen aus dem Entwurf des 3. Armuts- und
Reichtumsberichts der Bundesregierung vom 19. Mai 2008?
Herr Parlamentarischer Staatssekretär.
Ich will auf die Frage der Abgeordneten Höll gern
eingehen. Einiges habe ich bei der Beantwortung der Zusatzfragen schon aufgegriffen.
Die Bekämpfung und Vermeidung von Armutsrisiken
ist für uns von ganz großer Wichtigkeit. Der UNICEFBericht gibt keine politischen Handlungsempfehlungen,
sondern enthält eine differenzierte und den unterschiedlichen Lebenslagen von Kindern angemessene Betrachtung der Situation von Kindern in Deutschland. Vor allen
Dingen wird deutlich gemacht, dass Armut mehrdimensional zu sehen ist. Diese Betrachtungsweise wird, wie
ich eben schon gesagt habe, auch im 3. Armuts- und
Reichtumsbericht der Bundesregierung geteilt.
Zu den politischen Schlussfolgerungen aus dem vorgelegten Armuts- und Reichtumsbericht wird sich die
Bundesregierung erst dann äußern, wenn das Abstimmungs- und Beratungsverfahren abgeschlossen ist.
Bitte schön, Kollegin Höll.
Danke. - Herr Staatssekretär, Sie haben zu Recht darauf verwiesen, dass das Problem der Armut mehrdimensional ist. Es hat aber auf alle Fälle - das ist ganz
wichtig - einen finanziellen Aspekt. Deshalb möchte ich
darauf zurückkommen.
Ihnen ist wie mir bekannt, dass das Kindergeld auf
der Grundlage des steuerfrei zu stellenden Existenzminimums von Kindern berechnet wird. Bei all den Eltern,
die über kein Einkommen oder ein nur sehr geringes
Einkommen verfügen, kann nichts steuerfrei gestellt
werden. Das ist die einzige Gruppe, die eine tatsächliche
Sozialleistung bekommt. Allerdings liegt die Sozialleistung, also das Kindergeld, unter dem, was man zur Abdeckung des Existenzminimums von Kindern braucht.
Ich möchte Sie vor diesem Hintergrund fragen, warum Sie in der bisherigen Diskussion das Kindergeld oftmals als eine familienpolitische Maßnahme, zudem als
die teuerste, bezeichnen. Auf einen Großteil des Kindergeldes haben die Eltern einen Rechtsanspruch. Das steht
ihnen zu, ob das nun jedem von uns passt oder nicht; das
steht nicht zur Disposition. In dem Sinne, denke ich, darf
man das nicht als familienpolitische Maßnahme bezeichnen und nicht zu der Schlussfolgerung kommen, dass irgendjemand das Recht hätte, das Kindergeld in seiner
Höhe zu begrenzen. Wir wissen seit dem letzten Bericht
zum Existenzminimum, dass wir mit einer sehr knappen
Berechnung dessen, was das Existenzminimum ausmacht, schon an der Grenze des Zulässigen sind.
Ich teile diese Auffassung nicht. Das steuerliche Existenzminimum ist das eine. Der Staat hat keinen
Anspruch darauf, auf diese Summe Steuern zu erheben.
Der Gedanke steckt dahinter. Das andere ist, dass im Zusammenhang mit Sozialhilfe - ich sage es einmal allgemein - aufgrund der Einkommens- und Verbrauchsstatistik eine Kinderkomponente festgelegt wird. Dann gibt es
die Gruppe derer, für die das Kindergeld in besonderer
Weise relevant ist. Das sind diejenigen, die vom Steuerfreibetrag nicht profitieren, aber auch nicht zur Gruppe
der Hartz-IV-Empfänger zählen. Das sind in der Regel
Geringverdiener, die sich, wenn Sie so wollen, oberhalb
der von uns so definierten Armut befinden. Das sind diejenigen, die vom Kindergeld tatsächlich profitieren. Von
daher ist vielleicht erklärbar, dass die Ministerin gesagt
hat: Darum müssen wir uns in besonderer Weise kümmern, wenn der Bericht zum Existenzminimum vorliegt. Es gibt also drei Gruppen, die man auseinanderhalten
muss.
Wenn Sie von bedürftigen Kindern sprechen und das
automatisch mit der Situation von Hartz-IV-Empfängern
verbinden, haben Sie die Gruppe der Geringverdiener
nicht im Blick. Von daher glaube ich schon, dass man
darüber reden muss. Das ist auch eine der Überlegungen,
die die Ministerin angestellt hat.
Herr Staatssekretär, meine zweite Nachfrage. Genau
vor dem Hintergrund, den wir beide jetzt versucht haben
zu erörtern, stellt sich die Frage, warum die Regierung
einerseits einen Teil der finanziellen Leistungen, die
über das Kindergeld erbracht werden, zur Disposition
stellt, um die Infrastruktur für Kinder auszubauen - das
bedeutet, dass Familien mit Kindern ihre eigene Infrastruktur finanzieren müssen, obwohl viele Familien auf
5 oder 10 Euro mehr pro Monat und pro Kind angewiesen sind -, und andererseits nicht offensiv den Spielraum
zur Erhöhung des Sozialleistungsanteils genau für die
Gruppen, die Sie beschrieben haben - sprich: Kinder,
deren Eltern von Hartz IV leben bzw. ein geringes Einkommen haben und für die das Kindergeld eine Sozialleistung darstellt -, ausnutzt, um so den konkreten Bedürfnissen von Kindern Rechnung zu tragen. Das könnte
durch Erhöhung des Kinderzuschlages oder konsequenterweise auch durch eine Aufstockung der entsprechenden Hartz-IV-Beträge geschehen.
Ich bin mir nicht sicher, ob ich mich hinreichend klar
ausgedrückt habe bzw. ob es richtig angekommen ist. Ich
habe ausdrücklich gesagt: Im Rahmen von Hartz IV leistet der Staat ohnehin einen höheren finanziellen Beitrag
für Kinder
({0})
als bei denjenigen, die nicht vom Freibetrag profitieren,
also nur das Kindergeld bekommen. Das ist ohnehin
jetzt schon so. Wenn Sie also nach bedürftigen Kindern
fragen und diese mit Kindern von Hartz-IV-Empfängern
gleichsetzen, reden Sie nicht über die Kinder von Geringverdienern.
Die Ministerin sagt ja, dass wir, wenn die Daten vorliegen - so sieht ja der abgesprochene Fahrplan aus -,
uns sehr genau überlegen müssen, wo wir einen Akzent
setzen. Sie hat ja ausdrücklich gesagt, dass sie gerne eine
Staffelung nach Kinderzahl möchte. Diesen Vorschlag
wird sie dann wahrscheinlich einbringen. Wenn es so
weit ist - der Fahrplan sieht jetzt aber erst einmal die
Abgabe des Existenzminimumberichts vor -, werden die
Konsequenzen daraus gezogen. So lange wird man warten müssen.
Nachfragegelegenheit für Kollegin Zimmermann.
Danke schön. - Was, glauben Sie, ist der Grund dafür,
dass die Kinderarmut in Deutschland so drastisch zugenommen hat? Welche Politik ist dafür verantwortlich?
Was haben Sie falsch gemacht?
Das ist für mich keine Glaubensfrage, sondern es gibt
ja nun hinreichende Analysen, die sich mit den Ursachen
von Kinderarmut beschäftigen. Ich habe diese eben auch
schon beschrieben.
Eine Ursache dafür ist das Auseinanderbrechen von
Beziehungen, wenn sich zum Beispiel Eheleute trennen
und dann ein Partner zum Alleinerziehenden wird. Hier
entstehen Armutsrisiken. Daraus ergeben sich große Probleme im Hinblick auf die Versorgung von Kindern.
Der zweite ganz wichtige Grund war die bisher unzureichende Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit. Wir haben ja ein riesiges Programm auf den Weg
gebracht, von dem alle Länder und Kommunen profitieren.
Ausdrücklich sage ich auch, dass ein weiterer Kern
des Problems die über viele Jahre gestiegene Zahl der
Arbeitslosen war. Seit 2005 haben wir immerhin 1,6 Millionen zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen. Wenn Menschen in der Lage sind, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, bedeutet das im Grunde immer auch, dass damit
Familien ein Stück weit aus der Armut herauskommen.
Kollegin Enkelmann, bitte.
Herr Staatssekretär, Sie haben gesagt, dass die Bundesregierung Schlussfolgerungen aus den erschreckenden Zahlen zur Kinderarmut ziehen will, sobald die Abstimmung in der Bundesregierung erfolgt ist. Blickt man
auf den Zustand der Bundesregierung, stellt sich für
mich die Frage: Passiert das noch vor der nächsten Bundestagswahl?
Ich glaube, da brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Aus vielen der Ursachen, die ich eben beschrieben
habe, haben wir bereits Konsequenzen gezogen, völlig
unabhängig vom Armuts- und Reichtumsbericht. Ich
nenne noch einmal das Kernthema „Vereinbarkeit von Familie und Beruf“: Da ist in den letzten Jahren so viel passiert wie seit Jahrzehnten nicht. Das wird ja allgemein anerkannt, egal wo Sie hingehen. Das wird im Prinzip auch
von Ihren Parteikollegen anerkannt. Zum einen lässt sich
also sagen: Es ist schon eine ganze Menge auf den Weg
gebracht worden.
Auf die anderen Fragen antworte ich: Der Zeitplan ist
präzise abgestimmt. Ich habe überhaupt keinen Zweifel,
dass er entsprechend abgearbeitet wird.
({0})
Damit ist die dringliche Frage 3 beantwortet.
Ich komme noch einmal auf den Vorgang im Zusammenhang mit der dringlichen Frage 1 zurück. Mir wurde
jetzt ein Telefax vorgelegt, das alle Fraktionen erhalten
haben, also auch die Fraktionen, die heute den Antrag
gestellt haben, den Minister herbeizuzitieren. Darin wird
mitgeteilt, dass Herr Minister Schäuble sein Fernbleiben
entschuldigt.
Die Fraktion der Grünen wusste also seit gestern, dass
der Minister, den sie heute per Überfallbeschluss herbeizitieren wollte, nicht anwesend sein kann.
({0})
Ich erbitte eine freundliche Stellungnahme des zuständigen Parlamentarischen Geschäftsführers zu diesem
eigentümlichen Vorgang.
Herr Präsident, ich finde es auch eigentümlich, dass
Sie hier jemanden zur Stellungnahme im Plenum zitieren. Ich weiß nicht, auf welcher geschäftsordnungsrechtlichen Grundlage Sie das machen. Aber es liegt mir natürlich fern, den Präsidenten hier zu kritisieren, während
er die Sitzung leitet, weil sich das nach unserer Geschäftsordnung nicht gehört.
Üblicherweise ist es so, dass die Geschäftsführer der
Großen Koalition uns in der Geschäftsführerrunde am
Dienstag mitteilen, wer sich für die Plenarsitzungen entschuldigt hat. Das ist uns dann auch präsent. Dass uns
gestern auf Arbeitsebene noch ein Fax erreicht hat, ist
mir nicht zur Kenntnis gelangt.
({0})
Sonst hätte ich selbstverständlich den Antrag hier nicht
gestellt.
In der Sache ging es uns darum - dem Petitum kommt
die Bundesregierung jetzt ja auch nach -, dass uns der
Vertreter eines Ressorts, das für Abhörtätigkeit und dergleichen zuständig ist, hier Rede und Antwort steht. Der
einzige sachliche Grund, das Bundesfinanzministerium
verwalte die Aktien, macht, auch wenn Nicolette Kressl
von sehr vielem sehr viel versteht, es nicht zu dem kompetentesten Ressort für die Beantwortung der Frage, die
Silke Stokar hier als dringliche Frage eingereicht hat.
Wenn jetzt aber Frau Zypries und Herr Bergner uns zu
dem Thema Rede und Antwort stehen, ist dem Petitum
unserer Fraktion damit Genüge getan.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich wollte meine
Rückfrage nur als Überleitung dafür benutzen, dass wir
jetzt die dringliche Frage 1 der Kollegin Silke Stokar
von Neuforn erneut aufrufen, nachdem wir ihre Beantwortung zurückgestellt hatten.
Welchen Handlungsbedarf sieht die Bundesregierung angesichts des Umstandes, dass die Deutsche Telekom AG offensichtlich länger als ein Jahr die Verbindungsdaten von
Telefonaten ihrer führenden Mitarbeiter mit Journalisten ausgewertet haben soll ({0})?
Die Regierung, die ja darüber entscheidet, wer auf
eine Frage antwortet, hat nun Gelegenheit, die dringliche
Frage zu beantworten.
Kollegin Kressl beginnt, und danach werden entweder Frau Zypries oder Herr Bergner zusätzlich Stellung
nehmen.
Vielen Dank, Herr Präsident.
Ich lege Wert auf die Feststellung, dass für die gesamte Bundesregierung klar ist, dass die in dem zitierten
Artikel enthaltenen Vorwürfe so schnell wie möglich
aufgeklärt werden müssen. Das ist nicht nur ein gemeinsames Interesse der Bundesregierung, sondern es ist
auch im Sinne unseres Demokratieverständnisses.
Wir wissen - Sie wahrscheinlich auch -, dass die
Deutsche Telekom das dazu Erforderliche unternommen
hat. Sie hat die Unterlagen, aus denen sich die Verdachtsmomente ergeben, an die Staatsanwaltschaft übergeben und zugleich selbst eine Kölner Anwaltskanzlei
mit einer unabhängigen Untersuchung der Vorfälle beauftragt.
Will noch jemand von der Regierungsbank zusätzlich
Stellung nehmen?
({0})
- Also auf Nachfrage. - Bitte.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es reicht
nicht aus, dass angesichts dieses ungeheuren Datenschutzskandals des Telekommunikationsunternehmens,
das über die Telefondaten von Millionen von Bürgern
verfügt, meine Frage in dieser Art und Weise beantwortet wird. Ich hatte nach dem Handlungsbedarf der Bundesregierung gefragt. Sie haben geantwortet: Die Telekom tut das Erforderliche.
Ich bin dankbar, dass die Ministerin, die für die Vorratsdatenspeicherung die Verantwortung trägt, jetzt die
Beantwortung übernimmt.
Meine konkrete Frage: Geht die Bundesregierung nach
diesem Skandal davon aus, dass die rechtlichen Sanktionsmöglichkeiten im Telekommunikationsgesetz und im
Bundesdatenschutzgesetz ausreichen, um solche Datenschutzskandale zu verhindern, also um eine abschreckende Wirkung zu entfalten?
Frau Abgeordnete, ich weise zunächst darauf hin,
dass der Vorfall bei der Deutschen Telekom, der auf Betreiben der Deutschen Telekom an die Staatsanwaltschaft gegeben wurde und nunmehr in dem Verfahren
aufgeklärt wird, das unsere Rechtsordnung dafür vorsieht, mit der Vorratsdatenspeicherung gar nichts zu tun
hat; denn dieser Vorfall liegt weit vor der Einführung der
Vorratsdatenspeicherung. Insofern ist der Schluss von
dem einen auf das andere für meine Begriffe unzulässig.
Vielmehr geht es - wenigstens nach Zeitungsberichten - ganz offenbar darum, dass Kommunikation festgestellt wurde. Wozu oder ob sie verwendet wurde, wissen
wir noch nicht. Es handelt sich, wenigstens soweit der
Fall bekannt ist, auf alle Fälle um einen Verstoß gegen
das Fernmeldegeheimnis, und das ist als strafrechtliche
Norm im deutschen Strafrecht geregelt.
Was am Ende davon übrig bleibt, wird die Staatsanwaltschaft zu klären haben. Dazu kann die Bundesregierung im Moment nichts sagen. Jetzt geht es erst einmal
darum, zu ermitteln: Wer hat etwas getan, was wurde definitiv getan, und wer trägt dafür die Verantwortung?
Weitere Nachfrage? - Bitte.
Ich habe eine Nachfrage. Ich habe den Zusammenhang mit der Vorratsdatenspeicherung hergestellt, weil
meiner Meinung nach der skandalöse Vorgang bei der
Telekom Beleg genug dafür ist, dass dieses Unternehmen derzeit insgesamt nicht sensibel mit Daten umgeht.
Im Zusammenhang mit dem Datenschutzskandal bei
Lidl ist von einem Mitglied der Bundesregierung, nämlich Herrn Seehofer, damals ins Spiel gebracht worden,
dass wir in Deutschland vielleicht einen etwas besseren
Arbeitnehmerdatenschutz brauchen. Da wir im Moment
wöchentlich Skandale im Datenschutzbereich haben,
dazu meine Frage: Wann wird die Bundesregierung ein
Frau Kollegin, da es um den Datenschutz geht
({0})
und wir uns zu einer kollektiven Beantwortung der Fragen entschlossen haben, übernehme ich jetzt die Antwort. Zunächst einmal mache auch ich, wie die Kollegin
Zypries, darauf aufmerksam, dass das Ermittlungsverfahren im Moment noch läuft und wir mit weitgehenden
Schlussfolgerungen zurückhaltend sein sollten, bis entsprechende Ermittlungsergebnisse und Gerichtsentscheidungen vorliegen. Gleichwohl sind wir durch die Sachverhalte, die hier zutage getreten sind, beunruhigt. Sie
machen uns deutlich, dass man - bei aller berechtigten
Aufmerksamkeit hinsichtlich des Datenschutzes bei
staatlichem Handeln - gut beraten ist, das Handeln privatrechtlicher Unternehmen mit mindestens der gleichen
Aufmerksamkeit zu beobachten und Regelungsbedarf
dort mit der gleichen Aufmerksamkeit zu identifizieren.
Eine Bewertung, inwieweit wir es hier tatsächlich mit
einem Sachverhalt zu tun haben, der Regelungslücken
im Arbeitnehmerdatenschutz aufzeigt, würde ich im Moment für verfrüht halten. Ich mache darauf aufmerksam,
dass es einvernehmliche Vereinbarungen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern über bestimmte Kontrollregularien bei Verwendung von dienstlichen Telefonen
und anderem geben kann, die anders zu bewerten sind
als eine verdeckte oder geheime Ausspionierung.
Ich sage noch einmal: Uns beunruhigt der Sachverhalt, das, was bisher über die Medien mitgeteilt worden
ist. Aber bereits jetzt über Gesetzgebungsbedarf zu befinden, halte ich für verfrüht.
Das Wort zu einer Nachfrage hat Kollege Volker
Beck.
Für die Frage, wie wir auf diesen Skandal reagieren,
spielt nicht allein eine Rolle, ob in einem Strafverfahren
strafrechtliche Schuld individuell in der Weise zuordenbar ist, dass sie zu einer strafrechtlichen Verurteilung
von Tätern führt. Denn unabhängig davon, ob diese Beweise gelingen - was in einem Rechtsstaat, auch wenn
eine Straftat zweifelsfrei vorliegt, nicht in jedem Fall garantiert werden kann -, gibt es Handlungsbedarf, wenn
unstrittig feststeht, dass von der Telekom Telekommunikationsdaten an eine externe Firma weitergegeben wurden zum Zwecke des Abgleichs, ob Telefonkontakte zu
bestimmten Personen, in dem Fall Journalisten, vorliegen.
Für mich stellt sich damit die Frage: Welche Unternehmen in unserem Land nehmen Aufträge an, die den
systematischen Bruch des Telekommunikationsgeheimnisses beinhalten? Das in Rede stehende Unternehmen,
die Detektei, hat den Auftrag der Telekom angenommen,
aus Telekommunikationsdatenbeständen Informationen
herauszufiltern. Diesem Unternehmen hätte aber von
Volker Beck ({0})
Anfang an klar sein müssen, dass es solche Daten überhaupt nicht entgegennehmen darf, weil schon das allein
eine Straftat ist. Auch diejenigen, die diese Daten weitergeben, begehen eine Straftat.
Die Bundesregierung muss klären, welche Unternehmen bei uns solche Aufträge annehmen, und muss die
Frage beantworten, wie man allen Beteiligten im Rechtsverkehr klarmachen kann, dass Verträge über solche
rechtswidrigen Aufträge nicht abgeschlossen werden
dürfen.
Frau Ministerin, ich sehe übrigens schon einen Zusammenhang mit der Vorratsdatenspeicherung. Denn je
mehr Datenbestände vorhanden sind, umso größer wird
die Gefahr, dass es neben einem gesetzesmäßigen Gebrauch der Daten auch zu einem entsprechenden Missbrauch der Daten - wie bei der Telekom - kommen
kann. Ich frage Sie, an welche Präventionsmechanismen
die Bundesregierung denkt, um die Daten der Bürgerinnen und Bürger, die auf Vorrat gespeichert werden, vor
solchem Missbrauch zukünftig tatsächlich zu schützen.
Auf Treu und Glauben kann man dies bei Telekommunikationsanbietern vom Schlage der Deutschen Telekom
offensichtlich nicht mehr machen.
Frau Ministerin.
Herr Abgeordneter, ich möchte zunächst darauf hinweisen, dass ich die pauschalen Verdächtigungen und
Anschuldigungen, die Sie hier vorgebracht haben, nicht
für richtig halte. Aufgrund eines Vorfalls bei der Telekom sollte man nicht so tun, als seien bei diesem Unternehmen die Daten generell nicht mehr sicher. Der Vorstand der Telekom bemüht sich sehr, aufzuklären und
festzustellen, was da tatsächlich passiert ist.
Man muss einfach konzedieren, dass es überall dort,
wo Menschen handeln, zu Fehlverhalten kommen kann.
Wenn wir von vornherein wüssten, welche Firmen und
Personen rechtswidrige Aufträge annehmen, dann wären
wir in Deutschland bei der Strafverfolgung ein gutes
Stück weiter. Leider ist dies aber nicht so. Denn Firmen
und Personen, die auf solche rechtswidrige Weise handeln, melden sich nicht bei uns. Wir können also erst
handeln, wenn wir Kenntnis von einer Straftat erhalten
und die Ermittlungsbehörden ihre Arbeit tun.
Ich will Ihre Fragen aber gerne zum Anlass nehmen,
einmal zu überlegen, in welcher Form weitere Kontrollen eingeführt werden können. Sie wissen, dass die Datenschutzbeauftragten der Länder dafür zuständig sind,
private Unternehmen zu kontrollieren. Der Kollege
Bergner wird entsprechende Anregungen gerne in die
Konferenz der Datenschutzbeauftragten mitnehmen. Unabhängig davon werden wir anhand dieses Falles sicherlich mit den Datenschutzbeauftragten diskutieren, wie
Kontrollen - vielleicht auch in Form von Zufallskontrollen - verstärkt werden können.
Ich sage ganz offen: Wie in jedem anderen Fall gilt
auch in diesem Fall, dass man nicht meinen sollte, ein
umfängliches Regelwerk auf den Weg bringen zu müssen, nur weil einmal etwas in 50 Jahren passiert ist. Zu
dieser Feststellung sind wir bei Punkten, die in den Zuständigkeitsbereich des Ministers des Innern fallen, des
Öfteren gekommen. Das gilt für solche Fälle wie den
vorliegenden ganz genauso.
Danke schön, Frau Ministerin.
Nachdem die dringlichen Fragen beantwortet sind,
rufe ich jetzt die Fragen auf Drucksache 16/9248 in der
üblichen Reihenfolge auf.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie. Die Fragen 1
und 2 des Kollegen Fell werden schriftlich beantwortet.
Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidigung. Die Beantwortung erfolgt durch den Parlamentarischen Staatssekretär
Christian Schmidt.
Ich rufe die Frage 3 der Abgeordneten Petra Pau auf:
Trifft es zu, dass am Freitag, dem 16. Mai 2008, in dem
Zeitraum von circa 9.25 Uhr bis 9.40 Uhr zwei Jagdflugzeuge
der Bundeswehr das Stadtgebiet Schwerin - Ortsteil Carlshöhe - und das EU-Vogelschutz-Habitat mehrmals überflogen
haben, und, wenn ja, warum - bitte auch gesetzliche Grundlage, Auftrag und auftraggebende Stelle angeben - geschah
dies?
Die Überprüfung des militärischen Flugbetriebs hat
ergeben, dass am 16. Mai 2008 zwischen 9.21 Uhr und
9.24 Uhr Ortszeit zwei Kampfflugzeuge der Bundeswehr im Rahmen eines Ausbildungsfluges Randbereiche
der Stadt Schwerin überflogen haben. Die Flüge wurden
in Übereinstimmung mit den flugbetrieblichen Bestimmungen und dem im fliegenden Verband erteilten Flugauftrag durchgeführt.
Tiefflüge mit strahlgetriebenen Kampfflugzeugen
sind auf Grundlage des § 30 Abs. 1 Luftverkehrsgesetz
grundsätzlich über dem gesamten Bundesgebiet mit
Ausnahme von Großstädten mit mehr als 100 000 Einwohnern, Kernkraftwerken sowie in Flugplatzkontrollzonen und Flugbeschränkungs- und Luftsperrgebieten
zulässig. Dies gilt auch für Flüge über der Stadt und der
Region Schwerin, da dort keine Flugbeschränkungsgebiete eingerichtet sind.
Das Überfliegen von Nationalparks, Naturparks und
Natur- und Landschaftsschutzgebieten durch Luftfahrzeuge der Bundeswehr ist auch im Tiefflug zulässig.
Dies ergibt sich aus § 1 Abs. 1 Luftverkehrsgesetz, wonach die Benutzung des Luftraums durch Luftfahrzeuge
frei ist, soweit sie nicht durch das Luftverkehrsgesetz
und die zur Durchführung dieses Gesetzes erlassenen
Rechtsvorschriften beschränkt wird. - So weit meine
Antwort, Frau Kollegin.
Gelegenheit zur Nachfrage, Kollegin Pau.
Danke, Herr Präsident. - Herr Staatssekretär, herzlichen Dank für die ausführliche Klarstellung der Rechtslage. Wie viele Beschwerden zu Tiefflügen im Randbereich der Landeshauptstadt Schwerin im letzten Jahr sind
Ihnen bekannt geworden?
Frau Kollegin, mir sind aktuell keine weiteren Beschwerden bekannt. Ich werde aber veranlassen, dass Ihnen die Antwort auf diese Frage, bezogen auf den Zeitraum des letzten Jahres, schriftlich nachgereicht wird.
Weitere Vorfälle sind mir nicht bekannt.
Ich möchte allerdings noch festhalten, dass bei diesem konkreten Flug die Mindesttieffluggrenze nicht unterschritten worden ist.
Kollegin Pau.
Herzlichen Dank auch für diese Auskunft. - Wir wissen ja, dass manchmal Beschwerden abgeschickt werden, weil die gefühlte Flughöhe vielleicht tiefer war, als
sie tatsächlich war.
Dazu noch eine Nachfrage: Habe ich Sie richtig verstanden, dass nach EU-Habitat-Richtlinie zum Beispiel
auch ausgewiesene Vogelschutzgebiete im Tiefflug überflogen werden dürfen, oder gibt es dort Einschränkungen?
Da gibt es grundsätzlich keine Einschränkungen. Soweit Flüge im Besonderen in Sperrgebieten stattfinden,
sind Einschränkungen möglich.
Wenn Sie mir, Frau Kollegin, über Ihre Zusatzfrage
etwas hinausgehend, eine Antwort auf die Frage nach
den Mindestflughöhen gestatten, dann mag das etwas
zur Aufklärung beitragen: Bei Flügen mit strahlgetriebenen Kampfflugzeugen ist bei Tage generell eine Mindestflughöhe von 1 000 Fuß über Grund, also von circa
300 Meter, über dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland und in Ausnahmefällen im Rahmen eines äußerst
begrenzten Kontingents von 500 Fuß über Grund, von
circa 150 Meter, einzuhalten. Dies war hier nicht der
Fall; ein solches Kontingent wurde nicht in Anspruch
genommen. Da wäre sicherlich auch in Betracht zu ziehen, dass es sich um eine Habitat-Region handelt.
Diese Tiefstflüge sind in der Zeit von Montag bis
Freitag zwischen 30 Minuten vor Sonnenaufgang - jedoch nicht vor 7 Uhr Ortszeit - und 30 Minuten nach
Sonnenuntergang - jedoch nicht später als 17 Uhr Ortszeit - zulässig. Während des Zeitraums vom 1. Mai bis
31. Oktober sind Flüge unterhalb von 1 500 Fuß über
Grund, das heißt unterhalb von circa 450 Meter, zwischen 12.30 Uhr und 13.30 Uhr Ortszeit, also in der Mittagszeit, generell verboten.
Ich erlaube mir, darauf hinzuweisen, dass in unserem
Lande bei diesen Fragen eine erhebliche Regelungsdichte in Umsetzung des Luftverkehrsgesetzes erkennbar ist.
Danke schön.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Die
Fragen 4 und 5 des Kollegen Kai Gehring, Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen, werden schriftlich beantwortet.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. Die Frage 6 der Kollegin Cornelia Hirsch, Fraktion Die Linke, wird ebenso
schriftlich beantwortet.
Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums der Justiz. Ich rufe die Frage 7 des Abgeordneten Jörg Rohde auf:
Wird die Bundesregierung für den Fall, dass sich herausstellen sollte, dass der Anwendungsbereich der für den Juni zu
erwartenden Antidiskriminierungsrichtlinie der Europäischen
Kommission über das hinausgeht, was in der Bundesrepublik
Deutschland für Menschen mit Behinderung bereits durch das
Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, AGG, geregelt wurde,
weiterhin der neuen Richtlinie nicht zustimmen?
Die Frau Ministerin ist anwesend und wird die Frage
beantworten. Bitte schön.
Für die Bundesregierung antworte ich, dass wir nur
wissen, dass die Europäische Kommission diesen für
den Juni angekündigten Richtlinienvorschlag zurückgezogen hat, und dass wir unsere Haltung zu diesem Richtlinienvorschlag dann festlegen werden, wenn er vorliegt.
Ehrlich gesagt, kann ich Ihnen dazu im Moment nichts
sagen.
Herr Kollege.
Frau Ministerin, vielen Dank für die Antwort. Ich versuche schon in meiner Tätigkeit im Ausschuss für Arbeit
und Soziales, der Bundesregierung dazu eine Antwort zu
entlocken. Wir hatten eine erste Stellungnahme über aktuelle Vorhaben auf europäischer Ebene. Dabei wurde
das Vorhaben der Kommission bewertet, und es stellte
sich heraus, dass die Bundesregierung dem ablehnend
gegenübersteht. Das hat mich zu der Nachfrage veranlasst. Bisher habe ich nur ausweichende Antworten bekommen.
Zwischenzeitlich hat aber das Europäische Parlament
am 21. Mai ein Votum gefasst, sodass jetzt klarer wird,
worum es geht, nämlich um die Diskriminierung von
Behinderten im nichtberuflichen Bereich. Damit ist auch
klar, was die Europäische Kommission will und was sie
von Deutschland bei der Umsetzung erwartet.
Jetzt geht meine Frage an die Bundesregierung und
damit an Sie, Frau Ministerin: Geht die Regelung, die
von Europa gewollt wird, über das hinaus, was in
Deutschland bereits Gesetz ist? Wenn das nicht der Fall
ist, hätten wir ein argumentatives Problem, warum wir
auf europäischer Ebene dagegen wären.
({0})
Wenn es darüber hinausgeht, wäre für mich die Antwort
natürlich klar; denn dann wären wir dagegen. Wir wollen
ja nicht, dass Europa uns diskriminiert. Vielleicht gebe
ich Ihnen erst einmal die Gelegenheit, die Frage zu beantworten, ob die Regelungen darüber hinausgehen.
Ich kann es Ihnen nicht sagen, Herr Abgeordneter. Ich
kann Ihnen aber mitteilen, dass ich mit dem zuständigen
Kommissar Špidla darüber ein allgemeines Gespräch geführt habe. Dabei hat er mir nicht gesagt, welche Regelungen er nun eigentlich vorschlagen will.
Meine Mitarbeiter haben mir aufgeschrieben, dass wir
ursprünglich davon ausgegangen sind, dass es sich nur
um das Merkmal der Behinderung handele. Es sei aber
nicht abschätzbar, worum es tatsächlich gehe. Gerüchten
zufolge überlege die Kommission jetzt auch andere Regelungen. - Sie sehen also, dass dies für uns nicht greifbar ist. Deswegen bitte ich Sie um Nachsicht, wenn ich
sage: Wir legen unsere Haltung dann fest, wenn wir wissen, was tatsächlich vorgeschlagen wird. Dann wird
auch feststehen, wer innerhalb der Bundesregierung für
die Umsetzung federführend ist.
Dann noch einmal die konkrete Nachfrage: Verstehe
ich Sie richtig, dass die Bundesregierung im Moment
eine Festlegung vermeidet - bisher war die Haltung
ablehnend - und wartet, was aus Brüssel kommt? Die
Signale zeigen eindeutig, in welche Richtung es geht.
Zumindest das Europäische Parlament hat eine Richtung
vorgegeben. Durch Gespräche mit verschiedenen Vertretern und auch mit den Franzosen, die uns im Ausschuss
für Arbeit und Soziales die Marschrichtung für den
1. Januar 2009 schon vorgegeben haben, ist klar geworden, dass die Diskussionsgrundlage in Europa der
kleinste gemeinsame Nenner ist. Es geht um Behinderung im nichtberuflichen Bereich. Damit ist das Thema
relativ genau eingegrenzt. Man könnte prüfen, ob es in
Deutschland dazu Regelungsbedarf gibt. Würden Sie
wenigstens eine Prüfung auf der Grundlage dieser Erkenntnisse und der Gespräche der verschiedenen Abgeordneten der verschiedenen Parlamente einleiten?
Ich glaube nicht, dass die Bundesregierung eine Prüfung einleiten wird, ob es einen Regelungsbedarf gibt,
Behinderte im zivilrechtlichen Bereich besserzustellen,
weil wir, wenigstens nach allem, was ich weiß, hier keinen Bedarf sehen. Die Belange der Behinderten werden
mit dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz erfasst,
das sich auch auf das Zivilrecht bezieht. Mir sind, ehrlich gesagt, keine Fälle bekannt, in denen darüber hinausgehend auch nur Beschwerden vorliegen. Ich weiß
nicht, ob irgendjemand aus der Bundesregierung dazu
etwas beitragen kann.
Sie wissen, dass ich die Letzte bin, die Diskriminierungen in diesem Lande zulassen würde. Von daher können Sie davon ausgehen, dass wir uns weiter dafür einsetzen werden, dass hier niemand diskriminiert wird,
und dass wir alles dafür tun werden, dass das nicht der
Fall ist.
Eine Nachfrage des Kollegen Beck.
Frau Ministerin, Ihre Antwort lässt mich ähnlich verwirrt zurück wie Herrn Rohde.
Ich war kürzlich auf Einladung der europäischen liberalen Fraktion in Brüssel. Sie steht bekanntlich an der
Spitze einer Bewegung im Europäischen Parlament, die
für die Ausweitung des Diskriminierungsschutzes im Zivilbereich auf alle Kriterien eintritt. Der Diskriminierungsschutz wird also nicht nur auf das Kriterium Behinderung bezogen, sondern auch auf die Kriterien sexuelle
Identität, Religion und Alter. Im Prinzip geht es darum,
den gesamten Kriterienkatalog, den wir auf nationaler
Ebene im Bereich des Arbeitsrechts schon haben - wir
haben das zivilrechtlich im AGG geregelt -, auch auf
europäischer Ebene zur Anwendung zu bringen. Der
Richtlinienschutz, der bezüglich der Kriterien ethnische
Herkunft und Geschlecht besteht, soll auf die übrigen
Kriterien ausgedehnt und europarechtlich geregelt werden.
Ein Mitarbeiter von Herrn Špidla hat in dieser Anhörung gesagt, es liege allein an der Bundesregierung, dass
ein entsprechender Richtlinienentwurf nicht vorgelegt
werden könne. In der Debatte, die wir in diesem Parlament kürzlich darüber geführt haben, haben wir gesagt,
dass wir es begrüßen würden, wenn die Bundesregierung
die Entschließung des Europäischen Parlaments zur
Grundlage ihrer Verhandlungsposition machen würde,
wenn sie dafür eintreten würde, dass alle Diskriminierungsgründe gleichermaßen im Zivilrecht Berücksichtigung finden würden. Es macht nämlich keinen Sinn,
Diskriminierung nach dem einen Kriterium zuzulassen
und Diskriminierung nach einem anderen Kriterium zu
verbieten. Diese Position entspricht unserer gemeinsamen Philosophie.
Ist die Bundesregierung bereit, ihren Widerstand aufzugeben? Ist sie bereit, hier öffentlich zu erklären, dass
sie keinen Widerstand leisten würde, wenn die Kommission der Aufforderung des Europäischen Parlaments,
diesbezüglich Pläne auszuarbeiten, nachkäme? Wir wissen, was das EP gesagt hat. Ist die Bundesregierung bereit, die Entschließung des Europäischen Parlaments zu
unterstützen und sie zur Grundlage ihrer Politik im Europäischen Rat zu machen? Welche Position nimmt die
Bundesregierung bei dieser Thematik im Europäischen
Rat ein?
Herr Abgeordneter, ich bedanke mich zunächst dafür,
dass Sie mir diese Information über Ihre Gespräche in
Brüssel gegeben haben. Ich würde mir wünschen, dass
allein die Tatsache, dass die Bundesregierung eine bestimmte Auffassung vertritt, auch in anderer Angelegenheit dazu führt, dass die Kommission Abstand von bestimmten Vorhaben nimmt, zum Beispiel von dem
Vorhaben, uns zu verklagen. Weil das in anderen Fällen
nicht so ist, habe ich Zweifel, dass die Erkenntnisse, die
Sie in Brüssel gewonnen haben, den Tatsachen entsprechen.
Die Bundesregierung hat nie in irgendeiner Form offiziellen Widerstand geleistet. Wir werden gar nicht weiter
gefragt. Herr Špidla war hier und hat allgemeine Gespräche geführt. Die Kommission fragt uns aber nicht, welche Entwürfe sie vorlegen soll. Wer das glaubt, überschätzt das Ganze deutlich. Ich bin auf jeden Fall nicht
gefragt worden. Ich habe mit Herrn Špidla keine konkreten Gespräche darüber geführt. Wir haben nur sehr allgemein darüber geredet, was eventuell möglich wäre. Er
hat sich aber nicht festgelegt. Aus eigener Anschauung
kann ich daher gar nichts dazu sagen.
Da mir die Entschließung des Europäischen Parlaments gerade nicht vorliegt, kann ich mich dazu nicht
weiter äußern. Ich reiche das aber gerne schriftlich nach.
Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Zur Beantwortung der Fragen steht der Parlamentarische Staatssekretär Franz Thönnes zur Verfügung.
Die Fragen 8 und 9 des Kollegen Kurth werden
schriftlich beantwortet, ebenso die Fragen 10 und 11 der
Kollegin Zimmermann. Die Frage 12 wird nunmehr
auch schriftlich beantwortet, da die Kollegin Haßelmann
den Plenarsaal gerade verlassen hat. Die Frage 13 der
Kollegin Hirsch wird ebenfalls schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Frage 14 der Kollegin Elke Reinke, Fraktion Die Linke, auf:
Ist der Bundesregierung bekannt, unter welchen Voraussetzungen Reisekosten für Nichtleistungsbeziehende, die bei
der zuständigen Agentur für Arbeit ihrer monatlichen Meldepflicht nachkommen müssen, übernommen werden, und wie
schätzt die Bundesregierung die Tatsache ein, dass Menschen,
die von der Agentur keine Leistungen erhalten, Reisekosten
bis 6 Euro selbst tragen müssen?
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, Sie haben das
Wort.
Die Antwort lautet wie folgt: Für Arbeitslose, die kein
Arbeitslosengeld beziehen, gibt es keine den Vorschriften für den Bezug von Arbeitslosengeld entsprechende
allgemeine Meldepflicht nach § 309 SGB III; das gilt
nur für Leistungsbezieher. Dementsprechend können
Nichtleistungsbezieherinnen und -beziehern in diesem
Zusammenhang auch keine Reisekosten entstehen.
Ich würde gern nachfragen, wenn Sie es gestatten,
Herr Präsident.
Bitte, Frau Kollegin.
Vielen Dank. - Es ist leider in der letzten Zeit vermehrt vorgekommen, dass Einladungen verschickt wurden, woraufhin man sich melden muss. Man hat also die
Pflicht, sich bei der Agentur zu melden. Dadurch entstehen Kosten. Darauf bezieht sich meine Frage.
Es muss doch eine Möglichkeit geben, die entstandenen Fahrtkosten - seien es auch 5,99 Euro - zu erstatten.
Diese Menschen erhalten keine Bezüge. Von Geld, das
man nicht hat, kann man keine Fahrtkosten bezahlen. Ich
kann es Ihnen schriftlich geben; diese Einladungen werden verschickt. Es mag sein, dass es dieses Gesetz gibt,
aber man hält sich nicht daran. Ich weiß nicht, wie wir
da weiter verfahren sollen. In letzter Zeit wird sogar vermehrt darauf gedrängt, dass man sich alle vier Wochen
meldet. Dadurch wird das schon zu einem Problem.
Frau Reinke, auch Nichtleistungsbezieher bekunden
ein Interesse, vermittelt zu werden. Ich glaube, es ist
gute Praxis, von Zeit zu Zeit zu prüfen, ob das Interesse,
vermittelt zu werden, noch besteht, und darüber zu sprechen, ob man eine Eingliederungs-, Qualifizierungsoder Trainingsmaßnahme anbieten kann. Das geschieht
über diesen Weg. Diese Nichtleistungsbezieher sind eingeladen, an einem aktiven Prozess der Integration in den
Arbeitsmarkt oder des Bauens einer Brücke teilzunehmen.
Es ist wichtig, dass die Menschen einbezogen werden
und diese arbeitsmarktpolitischen Instrumente in Anspruch nehmen dürfen. Es ist sehr schön, das zu hören;
das unterstütze ich. Den Menschen entstehen aber trotzdem Kosten, die irgendwie gedeckt werden müssen. Wie
soll man das bezahlen, wenn man keine Einnahmen hat?
Es besteht die Möglichkeit, dass die Agentur für Arbeit sowohl bei Arbeitslosen als auch bei von Arbeitslosigkeit bedrohten Nichtleistungsbeziehern die Reisekosten im Zusammenhang mit Fahrten zur Berufsberatung
und -vermittlung übernimmt, wenn sie zuvor der Kostenübernahme zugestimmt hat. Die Bundesagentur für
Arbeit, der die Umsetzung der Arbeitsförderung obliegt,
hat zur Wahrung eines angemessenen Verhältnisses von
Leistungszweck und Verwaltungsaufwand festgelegt,
dass Leistungen bis zur Höhe von 6 Euro grundsätzlich
nicht gewährt werden. Allerdings kann ausnahmsweise
davon abgesehen werden, wenn sich die wirtschaftlichen
und sozialen Verhältnisse des Antragstellers besonders
nachhaltig vom Durchschnitt der Arbeitslosen unterscheiden. Dies dürfte bei Nichtleistungsbezieherinnen
und -beziehern, bei denen keine Hilfebedürftigkeit vorliegt, regelmäßig nicht der Fall sein. Eine weitere Ausnahme liegt vor, wenn absehbar ist, dass dem AntragstelParl. Staatssekretär Franz Thönnes
ler innerhalb eines kürzeren Zeitraums wiederholt
Aufwendungen entstehen, die jeweils für sich die Bagatellgrenze unterschreiten.
Damit beschreibe ich schlichtweg, dass eine Kostenübernahme im Einzelfall durchaus möglich ist, dass aber
nach dem Ermessen geprüft werden muss. Wenn jemand
nicht hilfebedürftig ist, weil er in einer Bedarfsgemeinschaft lebt, die über ein ausreichendes Einkommen verfügt, ist es im Einzelfall möglich - schließlich handelt es
sich um Gelder der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler -,
zu sagen: Das Familieneinkommen reicht aus, um die
Kosten zu bestreiten. Es kann aber auch ein Fall eintreten, bei dem das nicht so ist. Dann - das habe ich gerade
beschrieben - kann es angemessen sein, die Reisekosten
zu übernehmen. Ich glaube, dass aufgrund dieser Bandbreite eine vernünftige Regelung - jeweils der Lebenssituation angepasst - gefunden werden kann.
Wir kommen zur Frage 15 der Kollegin Reinke:
Wie beurteilt die Bundesregierung die in jüngster Zeit
gängige Praxis, dass Nichtleistungsbeziehende in Maßnahmen
der Bundesagentur für Arbeit gedrängt werden und dabei ihre
Zusatztätigkeit - geringfügige Beschäftigung etc. - aufgeben
müssen oder diese nur behalten können, wenn sie freiwillige
Eigenbeiträge in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen, dafür aber nicht mehr als arbeitslos/arbeitsuchend geführt
werden und somit aus der Erwerbslosenstatistik fallen?
Die Antwort lautet wie folgt: Soweit die Bundesagentur für Arbeit alle Arbeitslosen unabhängig von einem
Leistungsbezug in die Vermittlungsbemühungen einbezieht und deren Vermittlungssituation durch die Teilnahme an einer Maßnahme der aktiven Arbeitsförderung
zu verbessern versucht, entspricht dies den gesetzlichen
Regelungen und arbeitsmarktpolitischen Zielen der Bundesregierung. Es ist Aufgabe der Bundesagentur für Arbeit, für einen Ausgleich am Arbeitsmarkt zu sorgen.
Angesichts der hohen Zahl an offenen Stellen sind alle
Arbeitslosen in die Vermittlungsbemühungen einzubeziehen.
Bitte schön, Kollegin Reinke.
Es ist begrüßenswert, dass die arbeitsmarktpolitischen
Instrumente auch für diese Personengruppe gelten. Aber
in der letzten Zeit werden über 50-Jährige, die diese
Instrumente mehr als zehn Jahre nicht in Anspruch nehmen konnten - sie sind von der Agentur nicht berücksichtigt worden -, sich aber immer bemüht haben, plötzlich zu diesen Gesprächen eingeladen. Dann wird ihnen
sehr oft gesagt: Sie müssen ein Bewerbungstraining machen. Wenn Sie das nicht machen, fliegen Sie aus der
Statistik. - Ich frage Sie: Ist das sinnstiftend?
Den Menschen, die einen Nebenjob haben, wird häufig das Angebot gemacht: Gehen Sie zu Ihrem Rententräger und zahlen Sie Ihre Rentenbeiträge selbst. Dann
werden Sie aus unserer Statistik gestrichen. Wenn Sie
das nicht tun, müssen Sie das Bewerbungstraining machen. - Hier dreht man sich im Kreis. Ich kann Ihnen sagen: Das ist kein Einzelfall.
Ich werde mit dem letzten Teil Ihrer Fragestellung
bzw. Ihrer Beschreibung beginnen. Die Konstruktion der
Aufrechterhaltung der Nebenbeschäftigung unter der
Bedingung, dass freiwillig Eigenbeiträge in die gesetzliche Rentenversicherung gezahlt werden und der Status
der Arbeitslosigkeit entfällt, ist nicht nachvollziehbar.
Hier besteht aus unserer Sicht kein Zusammenhang. Ich
bin gerne bereit, das gemeinsam mit Ihnen am jeweiligen Einzelfall zu überprüfen und zu überlegen, wie man
hier helfen kann.
Der zweite Punkt. Nehmen Sie es mir nicht übel, aber
wir diskutieren hier im Parlament darüber, wie positiv
die in den letzten Jahren stattgefundene Integration älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den Arbeitsmarkt ist und dass es uns gelungen ist, viele Menschen aus der Arbeitslosigkeit zu holen und ihnen und
ihren Familien wieder eine Perspektive zu geben. Der
Beschäftigungsaufwuchs - es handelt sich um ein Plus
von gut 630 000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigten - wird zu mehr als der Hälfte von den über
50-Jährigen getragen. Wir sind sehr froh darüber, dass
die Instrumente der Arbeitsmarktpolitik hier greifen. Wir
sind auch sehr froh darüber, dass die vielen Initiativen,
die von den Gewerkschaften, den Arbeitgeberverbänden
und sogar einzelnen Abgeordneten ergriffen werden,
dazu beigetragen haben, dass sich einzelne Unternehmer
wieder darauf besinnen, Ältere zu beschäftigen und ihre
Kompetenzen und Fähigkeiten erfolgreich zu nutzen.
Wir sind stolz darauf, dass wir die Beschäftigungsquote
der über 55-Jährigen seit dem Jahr 2000 von circa
38 Prozent auf jetzt rund 52,2 Prozent erhöhen konnten.
Das alles sind Nachweise dafür, dass sich unsere Integrationsaktivitäten lohnen. Deswegen sage ich Ihnen: Ja,
es ist richtig und wichtig, die Älteren einzuladen. Man
muss untersuchen, welche Defizite vorhanden sind. Es
geht darum, das vorhandene Beschäftigungsangebot mit
dem Nachfragepotenzial zusammenführen, damit die
Menschen wieder in Beschäftigung kommen. Deswegen
ist es gut, so vorzugehen. Ich glaube, dass sich diese Erfolgsstrategie mittlerweile im Land herumgesprochen
hat. Niemand kann sagen: Das alles kommt ganz plötzlich. - Wir wollen, dass die Älteren ihren Platz im Beschäftigungssystem haben.
({0})
Noch eine Nachfrage? - Bitte.
Das sehe ich wie Sie: Selbstverständlich sollen die
Älteren mit einbezogen werden. Aber ich kritisiere die
Vorgehensweise. Es geht nämlich nicht nur, sondern
unter anderem um Ältere. Es geht auch um jüngere Menschen, die keinen Nebenjob haben. Mein Eindruck ist,
dass man versucht, sie aus der Statistik zu drängen. Ich
habe das Gefühl, dass man im Vorfeld der anstehenden
Wahlen eine Verbesserung der Statistik vorweisen will,
um sagen zu können: Wir haben die Erwerbslosigkeit
gesenkt. - Das ist der Eindruck, den ich habe. Ich denke,
dass hier noch Redebedarf besteht. Ich hoffe, dass wir
uns darüber demnächst einmal ausführlicher austauschen
können.
Das, was Sie gesagt haben, ist Ihre Einschätzung.
Aber ich frage Sie: Wie soll die Bundesagentur für Arbeit denn verfahren? Es gehört zu ihrer Aufgabe, Arbeitslose zu vermitteln und vor dem Hintergrund des
vielfältigen Angebots von Trainings- und Qualifizierungsmaßnahmen zu untersuchen, welche Chancen sie
haben.
Vermittlungsfähig ist nur derjenige, der der Arbeitsagentur zur Verfügung steht. Es ist gut, wenn jemand
eine Nebenbeschäftigung hat. Sie darf aber nicht dazu
führen, dass die Vermittlungsfähigkeit beeinträchtigt
wird. Wenn jemand, weil er einer Nebenbeschäftigung
nachgeht, nicht an Qualifizierungs-, Trainings- oder Eingliederungsmaßnahmen teilnehmen kann, hemmt dies
seine Chance auf Eingliederung in den Arbeitsmarkt. In
einem solchen Fall muss man dieser Person sagen:
Nimm an diesen Maßnahmen teil, damit du eine Perspektive hast, eine neue Arbeitsstelle zu finden.
Ich kann die Eindrücke, die Sie gerade geschildert haben, jetzt nicht widerlegen. Wenn Sie mir sagen, wo das,
was Sie beschrieben haben, geschehen ist, kann ich dem
nachgehen. Ich will deutlich sagen: Angesichts gut
1 Million offener Stellen sind all unsere Aktivitäten darauf gerichtet, die Menschen, die keine Arbeit haben, in
Arbeit zu bringen. Dazu dienen die vielfältigen Programme für Ausbildung und Arbeit, die bereits aufgelegt
worden sind und an denen mittlerweile 400 000 bis
450 000 Menschen teilnehmen können. Unser Ziel ist,
zu integrieren. Die Zahlen der letzten Monate stimmen
uns sehr zuversichtlich. Sie machen uns nicht zufrieden,
aber sie spornen uns an. Deswegen werden wir daran
festhalten, die Menschen aktiv einzugliedern und ihnen
Perspektiven zu geben.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung. Zur Beantwortung der Fragen steht die Parlamentarische Staatssekretärin Karin Roth zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 16 des Kollegen Heinrich Kolb,
FDP-Fraktion, auf:
Ist es zutreffend, dass auf der Bundesautobahn 3 im Tunnel
bei Hösbach zeitweise - so zum Beispiel am 13. Mai 2008 eine Blockabfertigung des Verkehrs erfolgt?
Bitte schön, Frau Staatssekretärin.
Danke, Herr Präsident. - Herr Dr. Kolb, mit Ihrer Erlaubnis würde ich gerne beide Fragen zusammen beantworten, da sie einen Tatbestand betreffen.
Dann rufe ich auch Frage 17 des Kollegen Heinrich
Kolb auf:
Wenn ja, wer ordnet diese Maßnahme jeweils an, und nach
welchen Kriterien erfolgt die Anordnung?
Ja, das, was Sie festgestellt haben, ist zutreffend. In
der Einhausung Hösbach - wie auch in anderen Tunneln - kam und kommt es zur Vermeidung von Staus im
Tunnelbereich oder zu deren schnellen Auflösung gelegentlich zu Blockabfertigungen, auch am 13. Mai 2008.
Sie haben gefragt, wer das anordnet. Als zuständige
Straßenverkehrsbehörde hat die Autobahndirektion Nürnberg eine entsprechende generelle verkehrsbehördliche
Anordnung erlassen. Ihre automatische Umsetzung erfolgt in der Weise, dass der die angeschlossenen Tunnel
- so auch den in Hösbach - steuernde Zentralrechner in
der Verkehrs- und Betriebszentrale Nürnberg über Sensoren den jeweils aktuellen Betriebszustand im jeweiligen Tunnelbereich erfasst und im Falle eines beginnenden Staus den Zufluss in den Tunnel über vorhandene
Wechsellichtzeichen oder Verkehrsbeeinflussungsanlagen reduziert oder, bei anhaltendem Verkehr, kurzzeitig
auch unterbricht. So kommt es dann zu diesen sogenannten Blockabfertigungsmaßnahmen.
Herr Kollege Kolb.
Frau Staatssekretärin, ist nach dem, was Sie gesagt
haben, damit zu rechnen, dass solche Blockabfertigungen auf Dauer vorkommen können, oder hängt das nur
damit zusammen, dass hinter dem Tunnel noch Baumaßnahmen stattfinden? Kann man also davon ausgehen,
dass es mit Ende der Bauarbeiten auch keine Blockabfertigung auf diesem Abschnitt mehr geben wird?
Herr Kollege Dr. Kolb, so ist es. Durch die Baumaßnahmen auf der A 3 wird der Verkehr zum Teil beeinträchtigt; insbesondere im Bereich des Tunnels kommt
es dann zu Staus. Sie wissen ja, dass wir gemäß einer
EU-Richtlinie hinsichtlich der Tunnelsicherheit darauf
achten müssen, dass Staus im Tunnelbereich vermieden
werden.
Bitte schön.
Danke, Herr Präsident. - Haben Sie Zahlen darüber
vorliegen, wie oft es in den zurückliegenden Wochen
bzw. Monaten zu einer Blockabfertigung auf diesem Abschnitt gekommen ist?
Herr Kollege Dr. Kolb, wir haben damit gerechnet,
dass Sie diese Frage stellen.
Allein in den ersten acht Monaten des Jahres 2007
- bis zum Umlegen des Verkehrs - gab es in Richtung
Frankfurt an 170 Tagen Blockabfertigungen. Ich will
auch auf die aktuelle Zahl eingehen, die für Sie wichtig
ist: Am 13. Mai 2008 gab es aufgrund der Markierungsarbeiten ebenfalls Blockabfertigungen. Seit Beginn dieses Jahres fanden in Richtung Frankfurt an 27 Tagen
Blockabfertigungen statt - das ist aus meiner Sicht nicht
sehr viel -, in Richtung Nürnberg sogar nur an 16 Tagen.
Ich will anmerken: Dies geschieht aus Sicherheitsgründen. Im Tunnelbereich haben wir besondere Sicherheitsmaßnahmen zu treffen. Bei allem Verständnis dafür,
dass man sich als Autofahrer vielleicht darüber ärgert,
muss die Sicherheit Vorrang vor dem schneller fließenden Verkehr haben.
Herr Dr. Kolb.
Mir war der Begriff „Blockabfertigung“ bis dato
gänzlich unbekannt. Sie haben gesagt, dass es in
Deutschland weitere Tunnel gibt, in denen Blockabfertigungen stattfinden. Es ist also durchaus eine gängige
Maßnahme. Wo gibt es sie sonst noch?
Herr Kollege Dr. Kolb, in der Regel findet die Blockabfertigung bei Baumaßnahmen statt, wenn Situationen
eintreten, die normalerweise zu Staus führen. Im Übrigen haben wir den EU-Auflagen entsprechend die Lichtsignale genau deshalb, um einschreiten zu können. Welchen Sinn hat der ganze technische Aufbau, wenn wir
nicht - unabhängig von Bauarbeiten - dann einschreiten
können, wenn es im Interesse der Sicherheit der Menschen darauf ankommt?
Insofern sind wir, glaube ich, hinsichtlich der Tunnelsicherheit in unserem Land auf einem sehr guten Stand.
Ich freue mich, dass wir bisher so wenige Unfälle in diesem Bereich zu verzeichnen hatten.
Nun haben wir mit der Blockabfertigung eine neue
Vokabel gelernt. Herzlichen Dank!
Wir kommen damit zur Frage 18 des Kollegen Jan
Mücke von der FDP-Fraktion:
Inwieweit wurde - in Kenntnis der Antwort der Parlamentarischen Staatssekretärin beim Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, Karin Roth, auf meine Frage
vom 8. Mai 2008 ({0}) sowie der Tatsache, dass darin nicht nach Zuständigkeiten gefragt wurde, sondern danach, ob die angesprochenen Prüfungen tatsächlich stattfanden - im Bundesministerium für
Verkehr, Bau und Stadtentwicklung geprüft, ob Teile des abgeschlossenen Planfeststellungsverfahrens „Neubau des Verkehrszuges Waldschlösschenbrücke“ in Dresden im Rahmen
eines für die derzeit diskutierte Untertunnelung des Elbtals
notwendig werdenden Planänderungsverfahrens genutzt werden könnten, und zu welchen Ergebnissen ist man diesbezüglich gekommen?
Bitte schön, Frau Staatssekretärin.
Herr Kollege Mücke, aufgrund der alleinigen Zuständigkeit des Freistaates Sachsen und der Landeshauptstadt Dresden bezogen auf diese Frage wurde im Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
nicht geprüft, ob Teile des abgeschlossenen Planfeststellungsverfahrens zum Neubau des Verkehrszuges Waldschlösschenbrücke in Dresden im Rahmen eines für die
derzeit diskutierte Untertunnelung des Elbtals notwendigen Planänderungsverfahrens genutzt werden könnten.
Kollege Mücke.
Herr Präsident! Frau Staatssekretärin, diese Frage hat
einen ernsten Hintergrund. Sie kennen vielleicht die
Bürgerinitiative, die zurzeit einen neuen Bürgerentscheid anstrebt. Diese Bürgerinitiative - vertreten durch
Herrn Professor Weber - behauptet öffentlich, dass das
Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung unter Federführung und im Auftrag von Herrn
Staatssekretär Lütke Daldrup eine entsprechende Prüfung vorgenommen habe und dass die Experten im Verkehrsministerium mit der Prüfung der Verwendbarkeit
von Teilen des Planfeststellungsbeschlusses für eine
Brücke auch für den Bau eines Tunnels befasst waren.
Nach Ihrer eben vorgetragenen Antwort hat es eine
solche Prüfung nicht gegeben. Die Behauptung, die
durch die Bürgerinitiative aufgestellt wurde, entspricht
demnach nicht der Wahrheit. Habe ich Sie richtig verstanden?
Ich weiß nicht, was die Bürgerinitiative im Detail behauptet. Aber ich stehe zu meiner Antwort auf Ihre
Frage.
Heißt das, dass die Bundesregierung zu keinem Zeitpunkt geprüft hat, ob Teile des Planfeststellungsbeschlusses für den Bau einer Brücke auch für den Bau eines Tunnels verwandt werden können?
Die Bundesregierung hat sich nicht in die Planfeststellungsverfahren eingemischt. Wir sind nicht dazu befugt.
Die Fragen 19 und 20 des Kollegen Peter Hettlich
werden schriftlich beantwortet.
Wir kommen damit zur Frage 21 der Kollegin Bärbel
Höhn:
Welche CO2-Einsparung wollte die Bundesregierung im
Rahmen ihres integrierten Klima- und Energiepaketes durch
die Maßnahme erreichen, Mietern ein Recht zur Mietminderung einzuräumen, wenn ihre Heizkosten infolge der ungenügenden energetischen Sanierung der Mietwohnung überhöht
sind, und durch welche kompensatorischen Maßnahmen soll
die Lücke geschlossen werden, die dadurch entsteht, dass
diese Maßnahme nun nicht umgesetzt werden wird?
Bitte schön, Frau Staatssekretärin.
Kollegin Höhn, die Antwort der Bundesregierung lautet wie folgt: Gegenstand der Beschlüsse von Meseberg
ist die Prüfung, ob energetische Sanierung und die Ausschöpfung weiterer Energieeinsparpotenziale bei vermieteten Mehrfamilienhäusern bei einem gravierenden
Verstoß gegen eine öffentlich-rechtliche Verpflichtung
zur Einhaltung eines energetischen Standards bzw. zur
Nachrüstung durch eine prozentuale Kürzung in der
Heizkostenverordnung beschleunigt werden können.
Eine konkrete Einsparvorgabe ist darin noch nicht vorgegeben. Auch das Verfahren selbst ist noch nicht abgeschlossen. Es wird zurzeit noch geprüft.
Frau Kollegin Höhn, bitte schön.
Herzlichen Dank, Herr Präsident. - Frau Staatssekretärin, wir haben jetzt über die Frage gesprochen, inwieweit Mieter das Recht haben sollen, in ihren Mietwohnungen Dämmmaßnahmen zu verlangen und so eine
CO2-Einsparung zu erreichen. Der Kollege Hettlich
hatte danach gefragt, wie Sie damit umgehen, dass
verpflichtende Maßnahmen für Ein- und Zweifamilienhäuser aus der EnEV ausgenommen werden. Das Erneuerbare-Energien-Wärmegesetz soll nur noch auf Neubauten und nicht auf Altbauten angewandt werden.
Damit brechen Ihnen im Gebäudebereich drei dicke
Maßnahmen weg. Was erwartet Ihr Ministerium überhaupt noch an CO2-Einsparungen im Gebäudebereich,
wenn von den Maßnahmen, die Sie vornehmen wollten,
eigentlich nicht mehr viel übrig geblieben ist?
Meine liebe Kollegin Höhn, Sie beurteilen das jetzt
im Hinblick auf die Maßnahmen, die zurzeit diskutiert
werden. Das Paket der Bundesregierung zum Integrierten Energie- und Klimaprogramm ist, wie Sie wissen,
noch nicht abgeschlossen. Daher schlage ich vor, den
Beschluss der Bundesregierung abzuwarten, der demnächst erfolgen wird. Dann werden Sie dies politisch bewerten können.
Eine weitere Nachfrage.
Wir stellen fest, dass im Gebäudebereich fast nichts
passiert. Ich komme nun zum Verkehrsbereich. Hier gibt
es Diskussionen um die Maut und die Kfz-Steuer; die
Themen Tempolimit und Dienstwagenprivileg wollen
Sie nicht anpacken. Außerdem blockiert die Bundesregierung die CO2-Reduktionsmaßnahmen der EU. Welche CO2-Einsparmaßnahmen wollen Sie denn im Verkehrsbereich umsetzen, um vielleicht das kompensieren
zu können, was Sie im Gebäudebereich nicht erreichen?
Gibt es überhaupt eine einzige Maßnahme im Verkehrsbereich, mit der Sie CO2-Emissionen reduzieren?
Liebe Kollegin Höhn, ich verstehe ja, dass Sie gern
vor Beschlussfassung durch das Kabinett wissen wollen,
was wir im Gesamtpaket für den Verkehrsbereich vorsehen. Aber ich bitte Sie, sich noch ein bisschen zu gedulden, bis die Bundesregierung das Gesamtpaket geschnürt haben wird. Dann werden wir über die Fakten im
Einzelnen reden können. Ich möchte Ihnen das jetzt
nicht vorab mitteilen.
Damit kommen wir zur Frage 22 des Abgeordneten
Anton Hofreiter:
Wie ist der aktuelle Sachstand bei der vom Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung vor nunmehr fast
einem Jahr vorgeschlagenen Einrichtung einer Pilotstrecke
zur Fahrradmitnahme im ICE, und über welche greifbaren Ergebnisse der Verhandlungen mit der Deutschen Bahn AG
kann die Bundesregierung berichten?
Bitte schön, Frau Staatssekretärin.
Ich beantworte Ihre Frage wie folgt: In den Gesprächen mit der Deutschen Bahn AG konnte eine Zusage
zur Einrichtung einer Pilotstrecke zur Fahrradmitnahme
im ICE bislang nicht erreicht werden. Es besteht aber
Einvernehmen darüber, dass die Situation für die Radfernreisenden verbessert werden soll. Die Deutsche
Bahn AG wird hierzu zeitnah Vorschläge unterbreiten.
Herr Hofreiter, bitte schön.
Vielen Dank, Herr Präsident. Könnte die sehr geehrte
Frau Staatssekretärin die zweite Frage auch gleich beantDr. Anton Hofreiter
worten? Ich würde dann die Nachfragen en bloc stellen,
da beide Fragen in einem engen Zusammenhang stehen.
Dann rufe ich auch die Frage 23 auf:
Inwieweit ist der Bundesregierung bekannt, ob die zur
Ausschreibung gelangten HGV-Triebzüge der Deutschen
Bahn AG für die Fahrradmitnahme ausgerüstet sein werden,
und was hat die Bundesregierung gegebenenfalls dazu beigetragen?
Diese Frage beantworte ich wie folgt: Die Bundesregierung ist an Ausschreibungsvorgängen der DB AG
nicht beteiligt und hat deshalb auch keinen Einfluss genommen.
Jetzt haben Sie Gelegenheit zu zwei bis vier Nachfragen. Es müssen ja nicht vier sein.
Vielen Dank, Herr Präsident. Wenn die Antworten erschöpfender wären, könnte man sich auch manche Nachfrage ersparen.
Frau Staatssekretärin, habe ich Sie richtig verstanden,
dass Sie, nachdem mehr als ein Jahr vergangen ist, seit
Herr Tiefensee öffentlichkeitswirksam angekündigt hat
- das ist zitierbar -, dass es eine Fahrradmitnahme im
ICE zumindest als Pilotversuch geben wird, in Ihren Gesprächen mit der DB AG noch immer nicht zu einem
Abschluss gelangt sind?
Offensichtlich tanzt die DB AG dem Minister auf der
Nase herum. Deshalb die Frage: Wie lange will sich der
Minister dieses Verhalten eines zu 100 Prozent bundeseigenen Unternehmens noch gefallen lassen?
Herr Kollege Dr. Hofreiter, ich habe gerade deutlich
gemacht, dass wir wollen, dass man bei Bahnfernreisen
das Fahrrad mitnehmen kann. Die DB AG wird zeitnah
Vorschläge dazu unterbreiten. Im ICE ist eine Fahrradmitnahme allerdings nicht ganz so einfach, weil dafür
technische Vorkehrungen getroffen werden müssen.
Deshalb sind wir mit der DB AG hier immer noch im
Gespräch.
Bitte schön, Herr Kollege.
Ich hätte noch eine Nachfrage. Es gibt im Zusammenhang mit der Fahrradmitnahme im Fernverkehr eine EGVerordnung; das ist Verordnung Nr. 1371/2007, wenn
ich es richtig im Kopf habe. Wie gedenkt die Bundesregierung durchzusetzen, dass sich die DB AG an Recht
und Gesetz hält?
Herr Dr. Hofreiter, Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, dass die Bundesregierung verpflichtet ist, die
EU-Richtlinien einzuhalten. Deshalb gehen Sie bitte davon aus, dass wir das auch tun. Ob die Fahrradmitnahme
im ICE ermöglicht werden muss oder ob sie in anderer
Weise erfolgen kann, muss geklärt werden. Deshalb finden ja Gespräche mit der DB AG zu diesem Thema statt.
Könnten Sie einen dezenten Hinweis geben, wie Sie
sicherzustellen gedenken, dass diese EG-Verordnung
eingehalten wird?
Herr Dr. Hofreiter, die Vorschriften, die es gibt - oder
geben wird -, gelten nicht nur für die DB AG, sondern
für alle Unternehmen, die Schienenverkehr anbieten.
Selbstverständlich werden wir auch bei der DB AG die
Vorschriften umsetzen.
Sie haben das Wort zur nächsten Nachfrage.
Frau Staatssekretärin, das war keine Antwort auf
meine Frage. Ich habe nicht gefragt, ob, sondern wie Sie
sicherzustellen gedenken, dass die Vorschriften eingehalten werden. Dass man sich in Deutschland an die Gesetze zu halten hat, darüber müssen wir in diesem Hause
hoffentlich nicht streiten, auch wenn man beim Bahnverkehr manchmal einen anderen Eindruck bekommt. Noch
einmal: Meine Frage war wie, nicht ob.
Herr Dr. Hofreiter, ich habe gerade erklärt, dass die
DB AG Vorschläge machen wird, wie sie eine Fahrradmitnahme im Fernverkehr realisieren will.
Damit sind Ihre Nachfragemöglichkeiten erschöpft.
Wir kommen zur Frage 24 des Kollegen Dr. Edmund
Peter Geisen:
Inwieweit sieht die Bundesregierung eine Möglichkeit der
Zulassung von Fahrzeugen zur Ausübung der imkerlichen Tätigkeit als landwirtschaftliche Fahrzeuge, um die hohen Betriebskosten eines Imkers vor dem Hintergrund der schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen der Branche zu senken?
Herr Geisen, Sie wissen, dass es eine Fahrzeug-Zulassungsverordnung gibt. Die Bedingungen, die darin aufgeführt sind, müssen erfüllt sein. Das gilt nicht nur für
die Verwendung des Fahrzeugs; hinzutreten muss, dass
das Fahrzeug zum Beispiel einem land- oder forstwirtschaftlichen Betrieb gehört. Die zuständigen Landesbehörden müssen dann im Einzelfall prüfen, ob Fahrzeuge
zur imkerlichen Tätigkeit die Bedingungen für die Zulassungsfreiheit landwirtschaftlicher Fahrzeuge erfüllen; dann ist nach der Fahrzeug-Zulassungsverordnung
eine Ausnahme von der Zulassungspflicht möglich.
Dann könnte das auch für Imkerfahrzeuge gelten. Die
Landesbehörden sind also für den Einzelfall zuständig
und haben Möglichkeiten, dies unter den beschriebenen
Bedingungen zu regeln.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage, bitte.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Frau Staatssekretärin, soweit mir bekannt ist, haben alle Haupterwerbsimker nicht die Möglichkeit, ihre Fahrzeuge als landwirtschaftliche Fahrzeuge anerkennen zu lassen. Diese
Möglichkeit haben sehr wohl diejenigen, die als Landwirte die Imkerei als Nebenerwerb betreiben. Wie wir
alle wissen, leisten die Imker insbesondere in den Bereichen Natur, Landwirtschaft, Umwelt und Ökologie einen
unschätzbaren Beitrag für die Gesellschaft. Wir sollten
den Haupterwerbsimkern die Möglichkeit geben, ihre
Wirtschaftsfahrzeuge steuerlich zu entlasten. Sehen Sie
eine Möglichkeit? Könnten Sie andeuten, wie das hinzubekommen wäre?
Herr Dr. Geisen, wie ich ausgeführt habe, haben die
Landesbehörden im Einzelfall einen Spielraum. Bei einer generellen Öffnung gilt es zwei Dinge zu berücksichtigen. Auf der einen Seite müssen die technischen
Vorgaben erfüllt werden. Das tun wahrscheinlich die
meisten Fahrzeuge. Auf der anderen Seite müssen sie
- darauf haben Sie hingewiesen - einem land- oder
forstwirtschaftlichen Betrieb gehören. Ich werde gerne
prüfen lassen, inwieweit hier eine Öffnung möglich ist.
Aber wie gesagt, die Landesbehörden haben im Einzelfall die Möglichkeit, Fahrzeuge zur imkerlichen Tätigkeit mit einer Ausnahmegenehmigung steuerlich freizustellen. Vielleicht ist das der bessere Weg. Ich will mit
meinem Hinweis auf die Landesbehörden zeigen, wie
man im Einzelfall bei den wenigen Imkern, die nicht als
land- oder forstwirtschaftlicher Betrieb arbeiten, vielleicht einen Weg finden kann. Ich gehe davon aus, dass
man dies ohne eine große Änderung der entsprechenden
Verordnung machen kann. Ich stimme Ihnen jedenfalls
zu, dass die Aufgabe, die die Imker erfüllen, von großem
Wert ist.
Sie haben das Wort zur zweiten Nachfrage. - Sie verzichten. Danke schön.
Ich bedanke mich für die Beantwortung der Fragen.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Zur Beantwortung steht der Parlamentarische
Staatssekretär Michael Müller zur Verfügung.
Die Fragen 25 und 26 der Kollegin Dr. Christel
Happach-Kasan werden schriftlich beantwortet, ebenso
die Fragen 27 und 28 des Kollegen Jürgen Koppelin.
Ich rufe die Frage 29 des Kollegen Rainder
Steenblock auf:
Wie beurteilt die Bundesregierung die Äußerungen des
Bundesministers Sigmar Gabriel im Vorfeld einer Wahlkampfveranstaltung am 15. Mai 2008 im schleswig-holsteinischen Oldenburg, das geplante Verkehrsprojekt einer Brücke
über den Fehmarnbelt sei eine „bekloppte Idee“ und er frage
sich, „was ausgerechnet einen Landesminister wie Herrn
Austermann dazu veranlasst, hier dänische Interessen zu vertreten“?
Das Wort zur Beantwortung hat der Parlamentarische
Staatssekretär Michael Müller.
Herr Kollege Steenblock, die Antwort der Bundesregierung ist kurz und einfach: Die Bundesregierung
wird ihre Verpflichtungen gemäß der am 29. Juni 2007
vereinbarten gemeinsamen Absichtserklärung erfüllen.
Wie Sie wissen, handelt es sich um eine gemeinsame
Absichtserklärung über einen Vertrag über eine feste
Fehmarnbelt-Querung, die unter anderem eine Umweltverträglichkeitsprüfung, eine Finanzregelung und eventuell Mautgebühren vorsieht. Wir befinden uns in den
Beratungen. Ich kann dazu nichts weiter sagen, als dass
die Beratungen laufen.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Herr Staatssekretär,
Sie haben meine Frage nur sehr unvollständig beantwortet. Ich habe gefragt, was die Bundesregierung von der
Äußerung des Bundesministers Sigmar Gabriel hält,
dass die Fehmarnbelt-Querung eine „bekloppte Idee“
sei. So hat er es im Kommunalwahlkampf laut Presse
wörtlich gesagt. Ihre Antwort überzeugt mich nicht so
ganz. Ich hätte gerne ein paar Gründe gewusst, warum
der Umweltminister dieser Republik, der aus meiner
Sicht ein sehr ehrenwerter Mann ist, die FehmarnbeltQuerung als „bekloppte Idee“ bezeichnet. Ich teile seine
Auffassung; denn hier sollen Steuergelder in Milliardenhöhe regelrecht verbrannt werden. Hat seine Äußerung
etwas damit zu tun, dass vielleicht die jetzige hocheffiziente Verkehrsverbindung mit einer Fähre über den
Fehmarnbelt ökologisch viel sinnvoller im Vergleich zu
einer Brücke ist, über die einst 9 000 Autos fahren sollen
und für die knapp 6 Milliarden Euro verbaut werden sollen?
Meine Frage, um das noch einmal deutlich zu machen, lautet: Resultiert vielleicht die Auffassung des
Umweltministers, dass das eine „bekloppte Idee“ ist, aus
ökologischen Gründen und der adäquaten Fährverbindung?
Entschuldigung, ich kann nur auf Ihre Frage antworten. Sie haben gefragt, wie die Bundesregierung das beurteilt. Ich habe jetzt die Auffassung der Bundesregierung wiedergegeben. Insofern kann ich Ihre Aussage, die
Sie eben gemacht haben, nicht teilen. Ich habe exakt die
Auffassung der Bundesregierung wiedergegeben. Es
kann sein, dass Ihnen diese nicht passt - das ist in Ordnung -, aber Sie können nicht sagen, dass ich die Meinung der Bundesregierung nicht wiedergegeben hätte.
Herr Staatssekretär, Sie brauchen sich gar nicht mit
mir zu streiten, Sie sollen bloß die Frage beantworten,
die ich gerade gestellt habe, nämlich ob das vielleicht
damit zu tun hat, dass die Fährverbindung über den Fehmarnbelt die ökologischere Variante ist und dass diese
ökologischere Variante bei dem Umweltminister dieses
Landes eine gewisse Nachdenklichkeit erzeugt hat, was
das Verbrennen von Steuerngeldern durch die Autobrücke betrifft. Das war meine Frage.
Trotz Ihrer sehr intensiv vorgetragenen Nachfrage
habe ich Ihre Frage schon beantwortet. Vielleicht passt
Ihnen das nicht. Es ist nicht exakt, was Sie sagen; denn
die Position, die ich hier wiederzugeben habe, ist die
Antwort der Bundesregierung. Die Antwort der Bundesregierung - das wiederhole ich - lautet: Die Bundesregierung wird ihre Verpflichtung gemäß der gemeinsamen Vereinbarung erfüllen. Punkt. Aus. - Wie ich das im
Einzelnen ökologisch bewerte, ergibt sich aus den Beratungen, die wir durchführen. Dazu gehören die Umweltverträglichkeitsprüfung, die Finanzregelung und die Gesamtabwägung. Im Augenblick findet genau dieser
Prozess statt.
Zu einer Nachfrage hat der Kollege Hofreiter das
Wort.
Es geht um die Beantwortung der Nachfrage. Die
Nachfrage lautete: Ist die Fährverbindung ökologischer
als die Brücke? Darauf kann man jetzt antworten.
Die Antwort ist noch einmal: Wir warten jetzt das
Verfahren ab. Dazu gehört auch die Umweltverträglichkeitsprüfung. Dann werden wir sehen.
Eine weitere Nachfrage stellt nun die Kollegin Silke
Stokar von Neuforn.
Ich möchte vorausschicken, dass ich diese Nachfrage
als ein Kind der Insel Fehmarn stelle. Ich bin dort groß
geworden, meine Eltern wohnen nach wie vor in Puttgarden. Meine erste Nachfrage: Prüft die Bundesregierung auch die Auswirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung und den Tourismus auf der Insel Fehmarn?
Meine zweite Nachfrage: Teilt die Bundesregierung -
So funktioniert das nicht. Sie haben nur die Möglichkeit zu einer Nachfrage. Hätten Sie das weggelassen,
hätte es vielleicht funktionieren können.
Wenn Sie unser Haus fragen, so kann ich Ihnen sagen,
dass wir natürlich vor allem die ökologischen Aspekte
prüfen werden. Dazu gehören die FFH-Frage, die Frage,
wie es sich mit den Mündungsströmungen verhält, und
vieles andere mehr. Das werden wir sehr sorgfältig prüfen, und unser Ministerium wird dazu eine Stellungnahme abgeben. Wenn ich hier für die Bundesregierung
antworte, dann heißt das nicht, dass unser Haus keine
Position hätte. Wir haben eine, die wir in dieses Verfahren einbringen. Zu den anderen Fragen: Es ist selbstverständlich, dass die anderen Ministerien solche Fragen
wie die Wirtschaftlichkeit und die Vertretbarkeit für den
Tourismus prüfen. Sie werden natürlich auch prüfen, wie
es mit den vom Europäischen Parlament festgelegten
transeuropäischen Netzen aussieht. Es gibt also eine
Vielzahl von Fragen, die im Zusammenhang mit dieser
Absichtserklärung, die wir unterzeichnet haben, geprüft
werden müssen. Im Übrigen finde ich, ein bisschen mehr
Gelassenheit wäre angebracht.
Danke, Herr Staatssekretär. Wir sind damit am Ende
dieses Geschäftsbereichs.
Ich rufe den Geschäftsbereich der Bundeskanzlerin
und des Bundeskanzleramtes auf. Die Fragen 30 und 31
des Kollegen Dr. Ilja Seifert werden schriftlich beantwortet, ebenso die Fragen 32 und 33 des Kollegen
Roland Claus.
Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes.
Vizepräsidentin Petra Pau
Die Fragen 34 und 35 des Kollegen Omid Nouripour
werden schriftlich beantwortet. Die Fragen 36 und 37
der Kollegin Marieluise Beck ({0}) werden ebenfalls schriftlich beantwortet. Auch die Frage 38 der Kollegin Dr. Gesine Lötzsch wird schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Frage 39 des Kollegen Volker Beck
({1}) auf:
Hat die Bundesregierung nach den jüngsten Ausschreitungen in Italien gegen Roma an die italienische Regierung appelliert, die Vorfälle aufzuklären, besseren Schutz der Roma zu
gewährleisten und Maßnahmen gegen die gravierende Fremdenfeindlichkeit und Diskriminierung gegenüber Roma in Italien
vorzunehmen, und, wenn nein, plant die Bundesregierung,
dies gegenüber der italienischen Regierung noch zu tun?
Zur Beantwortung dieser Frage steht der Staatsminister Günter Gloser zur Verfügung. Herr Gloser, Sie haben
das Wort.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Die Bundesregierung hat die Ausschreitungen gegen Roma, die Mitte
Mai im Raum Neapel erfolgt sind, mit Sorge beobachtet.
Sie begrüßt es, dass die italienische Regierung eine
Reihe von Maßnahmen hinsichtlich der Deeskalation der
Situation und der Aufklärung von begangenen Straftaten
eingeleitet hat. Die Bundesregierung verweist auch auf
Äußerungen des italienischen Innenministers, Roberto
Maroni, der die gegen Sinti und Roma gerichteten Ausschreitungen verurteilt hat und angekündigt hat, dass
sich die italienische Regierung gegen jegliche Gewalt
und gegen jede Form von Kriminalität wenden werde.
Vor diesem Hintergrund sieht die Bundesregierung keinen Anlass, darüber hinausgehende Appelle an die italienische Regierung zu richten.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Herr Staatsminister, das betrübt mich etwas. Ich
glaube nämlich, dass gerade das Zitat, auf das Sie zu
Recht verwiesen haben, das Dilemma bei dem Ansatz
zeigt, den die italienische Regierung im Umgang mit
diesem sozialen Konflikt verfolgt. Es geht eben nicht nur
um die Frage der Eindämmung von Kriminalität und von
Straftaten; dahinter liegt vielmehr ein massives Problem
von Vorurteilen und sozialer Diskriminierung. Wenn
man das nicht löst, wird man auch der Oberflächenphänomene der gewalttätigen Eruption nicht Herr werden. Deshalb fände ich es schon sinnvoll, dass man unter
europäischen Partnern auch darüber einmal spricht. Ansonsten wird sich die Situation für Roma in Italien weiter verschärfen.
Dieses Problem haben wir ja nicht bloß situativ in
Neapel erlebt. Wir haben vor einigen Monaten ähnliche
Dinge in Rom gesehen. Man kann nicht sagen: Das liegt
an einem Bericht über eine fiktive Straftat, wodurch so
etwas ausgelöst worden ist. Offensichtlich gibt es da ein
tiefer liegendes soziales Problem, das nicht gelöst ist.
Herr Beck, ich gebe Ihnen Recht: Das ist ein tiefer liegendes Problem. Man schaue sich einfach einmal an, wie
viele rumänische Staatsbürger seit dem Beitritt Rumäniens in die Europäische Union, nach Italien gekommen
sind. Ich stelle jetzt keine Vermutungen darüber an, wie
viele von ihnen sich legal in Italien aufhalten; schließlich
besteht generell Freizügigkeit. Wer sich allerdings länger
als drei Monate im Ausland aufhält, braucht eine entsprechende Anmeldebescheinigung.
Ich glaube, man sollte die italienische Regierung
nicht nur auf die eine Schiene setzen und behaupten, sie
suche ausschließlich nach Wegen, wie Kriminalität verhindert werden kann. Die italienische Regierung hat ausdrücklich gesagt, dass sie dieses Problems Herr werden
muss, und zwar gerade deshalb, weil sich Roma und
Sinti gezielt und sehr konzentriert dort angesiedelt haben. Insofern glaube ich, dass die Italiener sowohl die
eine als auch die andere Seite erkannt haben und hier
Lösungen finden wollen.
Sie haben das Wort zur zweiten Nachfrage.
In Italien sprechen wir nicht von Sinti. Das ist ein
deutsches Volk aus der Gruppe der Roma. Sie sind in Italien überwiegend nicht anzutreffen. Es geht in diesem
Fall um Roma.
Mich interessiert schon: Hat die Bundesregierung irgendwelche Erkenntnisse darüber, dass die italienische
Regierung bereit ist, das Problem der Diskriminierung
von Roma in Italien anzugehen? Wenn ja, welche Erkenntnisse haben Sie darüber, welche Instrumente die
italienische Regierung dabei ergreifen will?
Was Ihre detaillierte Frage angeht, so habe ich insoweit keine Erkenntnisse. Ich weiß aber, dass die italienische Regierung dieses Problem erkannt hat und dass es
nicht mit einseitigen Maßnahmen gelöst werden kann.
Wenn Lösungen gefunden werden, dann müssen sie auch
mit europäischem Recht vereinbar sein.
Danke, Herr Staatsminister.
Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums des Innern. Zur Beantwortung der Fragen
steht der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Christoph
Bergner zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 40 der Kollegin Silke Stokar von
Neuforn auf:
Wie will die Bundesregierung bei der in Planung befindlichen zentralen Abhöreinrichtung ({0}) gewährleisten, dass - wie es nach den Grundsätzen des geltenden Datenschutzrechts geboten ist - keine
zentrale Speicherung von Daten stattfindet?
Ich beantworte die Frage wie folgt: In dem geplanten
Kompetenz- und Servicezentrum für Telekommunikationsüberwachung soll keine Speicherung von Daten in
einer gemeinsamen Datei der beteiligten Behörden stattfinden; vielmehr verbleibt die datenschutzrechtliche Verantwortung für die Daten bei den jeweils zuständigen
Behörden. Die rechtliche Trennung kann durch technische Vorkehrungen sichergestellt werden.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Herr Staatssekretär Bergner, ich habe eine Nachfrage.
Ich bezog mich in meiner Frage nicht nur auf das Schreiben von Herrn Hanning, sondern auch auf einen SpiegelBericht. Meine Frage geht ganz konkret dahin, ob Sie
mir noch etwas erläutern können.
Ich zitiere aus einer Stellungnahme des BMI betreffend die Aufbauorganisation für diese spezielle Abhörzentrale: „Aufgrund der politischen Sensibilität einer
neuen deutschen ‚Überwachungsbehörde‘ erscheint ein
schrittweises Vorgehen“ zur Umsetzung „angezeigt.“ Sie haben jetzt den ersten Schritt genannt. Ich will nicht
weiter zitieren, um die Frau Präsidentin nicht überzustrapazieren, sondern nur sagen: Darin ist ferner deutlich geworden, dass in den nächsten Schritten auch der BND
beteiligt werden soll. Es findet sich die Aussage: Letztendlich prüft das BMI, eine gleiche Behörde wie die
NSA in Amerika zu schaffen.
Meine Frage: Können Sie mir die nächsten Schritte
zur Schaffung einer neuen deutschen Überwachungsbehörde hier einmal im Detail erläutern?
Frau Kollegin Stokar, hinter uns liegt eine intensive
Diskussion im Innenausschuss, deren wichtigste Ergebnisse Sie eigentlich von dieser Art von Fragestellung abhalten sollten. Sie wissen, dass es sich nicht um eine
zentrale Abhöreinrichtung handelt, sondern dass der Begriff „Rechenzentrum“ zur Beschreibung der geplanten
Einrichtung wohl eher zutreffend ist. Es geht um die Zusammenfassung von Technik, die im Sinne der Effizienz
der TKÜ notwendig ist, aber nicht um die Zusammenfassung von Befugnissen. Insofern verbietet sich auch
jeder Vergleich mit zentralen Abhöreinrichtungen, wie
sie beispielsweise in den USA oder in Großbritannien
betrieben werden.
Was nun das schrittweise Vorgehen betrifft: Sie wissen, auch aus der Diskussion des Innenausschusses - ich
wiederhole sie gern -, dass wir es schon für sinnvoll halten, eine solche technische Dienstleistung so offen zu
gestalten, dass sie bei vorhandenem Interesse außerhalb
des Geschäftsbereichs des BMI auch anderen Bundesbehörden bzw. entsprechenden Landesbehörden zur Verfügung stehen kann. Dies ist eine Möglichkeit, über die
in der Zukunft befunden werden muss. Wir gehen jetzt
davon aus, dass wir zunächst dieses Servicezentrum aufbauen und darüber hinaus gewissermaßen das Konzept
des Kompetenzzentrums zum Abschluss bringen.
Ihre zweite Nachfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, Sie wissen sehr genau, dass der
Innenausschuss nichtöffentlich tagt. Ich finde es besonders toll, dass Sie eine zentrale Abhöreinrichtung hier als
neues „Servicezentrum“ verkaufen wollen. Ich glaube
nicht, dass dieser Sprachgebrauch zur Klärung des Sachverhalts beiträgt.
Meine konkrete Frage: Ist es richtig, dass die Bundesregierung plant, ganze Abteilungen im BKA, im Bundesamt für Verfassungsschutz, im BSI und später im
BND aufzulösen und auch Personal räumlich zusammenzufassen - also neben der Schaffung eines gemeinsamen Computerzentrums -, und dass vom BMI durch
kw-Vermerke bereits Schritte zur Auflösung der ITAbteilungen in den einzelnen Sicherheitsbehörden eingeleitet wurden?
Frau Kollegin, ich lege noch einmal Wert darauf, dass
der von Ihnen immer wieder verwandte Begriff der Abhörzentrale irreführend ist,
({0})
da es sich um eine Zusammenfassung von technischen
Einrichtungen handelt, diese aber nicht mit einer entsprechenden Zusammenfassung von Kompetenzen verbunden ist. Die Kompetenzen werden weiterhin von den
einzelnen Zentralbehörden, im Geschäftsbereich des
BMI also BKA, Bundespolizei und Bundesamt für Verfassungsschutz, in eigener Zuständigkeit und eigener
Verantwortung wahrgenommen.
Dass für den Aufbau einer solchen technischen Serviceeinrichtung natürlich auch entsprechende personalwirtschaftliche Vorkehrung getroffen werden muss, ist
klar. Dass dies unter dem Gesichtspunkt einer allgemeinen Haushaltssparsamkeit steht und dass das Personal,
das hier nun im Bundesverwaltungsamt konzentriert
wird, möglichst an anderer Stelle eingespart werden soll,
ist haushaltspolitisch sinnvoll. Dafür existieren auch entsprechende Pläne.
Die Frage 41 der Kollegin Silke Stokar von Neuforn
wurde zurückgezogen.
Damit kommen wir zur Frage 42 des Kollegen
Wolfgang Wieland:
Welche konkreten Telekommunikationsüberwachungsaufgaben soll das im Aufbau befindliche „Service- und Kompetenzzentrum für die Telekommunikationsüberwachung“ ({0}) übernehmen, und wie will die Bundesregierung die
Einhaltung des Trennungsgebotes zwischen Polizei und Geheimdiensten sicherstellen?
Herr Kollege Wieland, meine Antwort auf Ihre Frage
lautet wie folgt: Zur Bündelung der technischen TKÜEinrichtungen und des technisch-wissenschaftlichen
Fachpersonals im Geschäftsbereich des BMI wird zum
einen ein Servicezentrum TKÜ beim Bundesverwaltungsamt eingerichtet. Dieses Servicezentrum TKÜ errichtet und betreibt eine hochmoderne TKÜ-Technik im
Wesentlichen für die Überwachung der Mobil- und Festnetztelefonie, E-Mail-, DSL- und weiterer Datendienste.
Dabei funktioniert es als reiner IT-Dienstleister, also als
Technikpool, ohne eigenständige Befugnisse - ich
wiederhole jetzt, was ich schon Frau Stokar zu erläutern
versuchte - zur Auswertung oder Nutzung der im Servicezentrum TKÜ aufgezeichneten Überwachungsdaten.
Die Auswertung und Nutzung der Inhalte von TKÜMaßnahmen verbleiben bei den Sicherheitsbehörden auf
der Basis ihrer bestehenden Ermächtigungsgrundlagen.
Zur Bündelung des technisch-wissenschaftlichen
Fachpersonals wird zum anderen ein Kompetenzzentrum
eingerichtet, um den strategischen Herausforderungen
der TKÜ zu begegnen. Bei den strategischen Herausforderungen handelt es sich zum Beispiel um die Beobachtung der Entwicklung der Telekommunikationstechnik
und der Konzeption daran angepasster Überwachungstechnik, aber auch um organisatorische Umgestaltung
wie zum Beispiel die Reduktion der Zahl der TKÜ-Ansprechpartner für die TK-Industrie.
Dem Gedanken eines Dienstleistungszentrums folgend wird das Kompetenzzentrum TKÜ organisatorisch
beim Bundesverwaltungsamt angesiedelt. Die Kompetenzen der TKÜ-Bedarfsträger werden durch noch zu
konzipierende Arbeits- und Projektgruppen in das Kompetenzzentrum TKÜ eingebracht. So wird sichergestellt,
dass die Anforderungen der Bedarfsträger an zeitgemäße
TKÜ-Technik jederzeit bekannt sind. Das Kompetenzzentrum TKÜ befindet sich derzeit noch in der Konzeptionsphase, in der Leistungsspektrum und Aufgaben abschließend festgelegt werden.
Durch die vorgesehene strikte Trennung zwischen
technisch-wissenschaftlichen Aufgaben, die im Kompetenzzentrum TKÜ wahrgenommen werden, und der inhaltlichen Auswertung der TKÜ-Daten durch Ermittler
des Bundesamtes für Verfassungsschutz, des BKA oder
der Bundespolizei ist sichergestellt, dass an dem Prinzip
der organisatorischen Trennung von Polizei und Nachrichtendiensten festgehalten wird.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Danke schön. - Herr Staatssekretär, nun haben Sie
selber in dem Schreiben an die Innenministerkonferenz,
in dem Sie dieses Thema als Besprechungspunkt angemeldet haben, geschrieben, dass ein Vorteil des Ganzen
sei, dass das TKÜ-Fachpersonal dadurch eine räumlich
und organisatorisch enge Zusammenarbeit habe. Wenn
also das Personal vor Ort eng zusammenarbeitet, wie
wollen Sie dann verhindern, dass bei dieser Gelegenheit
auch über den Inhalt der Tätigkeit, über das, was dieses
Personal in Erfahrung bringt, geredet wird, dass man
sich darüber austauscht? Welche Vorstellungen haben
Sie, um die Personen voneinander abzuschotten?
Die Zusammenarbeit und die entsprechende Kompetenzsteigerung im Service- und Kompetenzzentrum beziehen sich auf die technischen Leistungen, also sowohl
auf angemessene Reaktionen auf Entwicklungen in der
Telekommunikationstechnik als auch auf eine angemessene Wahrnehmung technischer Möglichkeiten, die sich
im Bereich der Überwachungstechnik ergeben. Wie Sie
wissen, haben wir es hier mit einem sehr dynamischen
Entwicklungsfeld zu tun. Allein die Innovationsdichte in
diesem Sektor ist sehr groß. Der Grundgedanke der Zusammenfassung in einer Service- und Kompetenzstelle
beruht darauf, dass die Einzelbehörden mit der Verfolgung einer so dynamischen Entwicklung in diesem
Technikfeld überfordert würden, wenn diese Aufgabe
aufgesplittet bei verschiedenen Behörden wahrgenommen werden müsste.
Das ist der eigentliche Grund für die Zusammenfassung und auch dafür, dass man diese beiden Zentren
beim Bundesverwaltungsamt aufbauen möchte. Es geht
nicht um Datenaustausch, und es geht auch nicht darum,
die organisatorische Trennung der Ermittlungsbehörden
in irgendeiner Weise aufzuheben.
Sie haben das Wort zur zweiten Nachfrage.
Vielen Dank. - Herr Staatssekretär, Sie haben heute
im Innenausschuss - das kann man ja sagen - erklärt,
dass diese neue Behörde, die von Ihnen - in Anführungsstrichen - nur als Überwachungsbehörde - Dr. Christoph Bergner, Parl. Staatssekretär beim
Bundesminister des Innern:
Nicht einmal das! Entschuldigung, wenn ich Sie unterbreche.
Das liegt mir hier schriftlich vor. Ich darf es einmal
zitieren:
Aufgrund der politischen Sensibilität einer neuen
deutschen
- in Anführungszeichen „Überwachungsbehörde“ erscheint ein schrittweises Vorgehen zur Umsetzung unter enger Einbindung der Länder angezeigt.
Das klingt doch deutlich danach: Wir wollen etwas tun,
was Misstrauen erregt. Deshalb gehen wir häppchenweise vor und passen auf, dass niemand es als das benennt, was es einmal sein soll, nämlich als Überwachungsbehörde.
Ich frage jetzt nach dem Personal dieser neuen deutschen - in Anführungszeichen - „Überwachungsbehörde“. Sie haben erklärt, Sie wollten dort mit neuen
Leuten ganz neu anfangen und die entsprechenden Stellen ausschreiben. Aber Sie haben die Frage nicht beantworten können, warum die Personen, die diese Arbeit
bisher geleistet haben, zum Beispiel für das Bundeskriminalamt oder für das Bundesamt für Verfassungsschutz, von ihren Aufgaben entbunden und als sogenanntes kw-Personal, also Personal, das auf Stellen sitzt,
die in Zukunft wegfallen, überflüssig werden sollen.
Was ist denn der Sinn von Neueinstellungen auf der einen Seite und der Funktionsentbindung derer, die diese
Arbeit bisher geleistet haben, auf der anderen Seite?
Erstens. Herr Kollege Wieland, schon aus Ihrer
Fragestellung wird deutlich, dass die Bündelung der
Kompetenzen beim Bundesverwaltungsamt in der öffentlichen Wahrnehmung natürlich mit dem Risiko von
Missverständnissen behaftet sein kann, die wir vermeiden wollen. Aus diesem Grunde sind wir im Zuge dieses
Aufbaus von vornherein an Transparenz über das eigentliche Profil und das eigentliche Anliegen dieser Einrichtung interessiert. Aus diesem Grunde hat sich unser
Haus bereits im März mit einem Brief an die einschlägigen Ausschüsse und mit einer Information an die Parlamentarier gewandt. Wir haben also ein großes Interesse
daran, dass eben nicht ein Bild entsteht, das sich an Behörden wie in den Vereinigten Staaten oder in Großbritannien orientiert, die unter anderen rechtlichen Voraussetzungen arbeiten.
Der zweite Punkt. Was die personalwirtschaftlichen
Konsequenzen des Aufbaus einer solchen technischen
Bündelungseinrichtung angeht, so ist es nicht ungewöhnlich, dass, wegen eingeschränkter Mobilität, aber
zum Teil auch wegen der Erforderlichkeit spezifischer
Kenntnisse, an dem einen Ort - Sie wissen, dass wir es
mit verschiedenen Standorten zu tun haben; das Bundesverwaltungsamt ist in Köln - Stellen wegfallen und an
dem anderen Ort Stellen ausgeschrieben werden. Dies
ist, glaube ich, ein ganz normaler Vorgang und sollte jedenfalls kein weitergehendes Misstrauen bei Ihnen wecken. Denn es ist nun einmal so: Wenn man bei an mehreren Stellen lokalisierten Behörden Kapazitäten
aufbaut, muss das personalwirtschaftlich angemessen
umgesetzt werden. Wir reden im Übrigen über eine relativ kleine Zahl von Stellen; auch das muss einmal gesagt
sein.
Wir haben damit die Zeit, die uns für die Fragestunde
zur Verfügung steht, ausgeschöpft. Ich beende die Fragestunde. Herzlichen Dank, Herr Staatssekretär. Die übrigen Fragen werden schriftlich beantwortet.
Ich rufe den Zusatzpunkt 1 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und
der SPD
Berichte aus den Unterlagen der Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen, Marianne
Birthler, über vertrauliche Gespräche, die
Gregor Gysi 1979/80 als DDR-Rechtsanwalt
mit Mandanten geführt hat
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Maria Michalk für die Unionsfraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich will am Anfang dieser Aktuellen Stunde
feststellen, dass es inzwischen wohl kaum noch jemanden gibt, dem unbekannt ist, welcher Mittel sich die
SED-Diktatur bedient hat, um alles gesellschaftliche Leben in der DDR unter Kontrolle zu haben und zu halten.
Parteien und Massenorganisationen wurden gleichgeschaltet. Betriebe produzierten auf Anweisung. Den
dadurch selbstverschuldeten Versorgungsmangel erwiderte die Bevölkerung mit Hamsterkäufen. So drehte
sich die Spirale, bis das Wirtschaftssystem kaputt war.
An den Folgen arbeiten wir noch heute.
({0})
Dass die SED im gesellschaftlichen Leben alles im
Griff hatte, damit fanden sich nach und nach viele Bürger ab. Die spätere Generation kannte - außer durch Berichte im Westfernsehen, durch Medien, die in bestimmte Regionen durchdrangen, jedoch nicht ins Tal
der Ahnungslosen, nach Dresden, wo wir viel Kultur
hatten, aber kein ARD und kein ZDF - nichts anderes;
sie kannte den Begriff der Freiheit eigentlich nicht. So
haben sich die Menschen zunehmend auf ihr privates Leben konzentriert. Sie haben Nischen gesucht und gefunden und waren persönlich sehr glücklich. Es ist mir
wichtig, dass wir das zu Beginn dieser Debatte noch einmal feststellen.
Es menschelte auch in der DDR. Nach und nach
wusste jeder, dass, wenn irgendwo eine Versammlung,
ein Gespräch oder eine andere Gelegenheit war, zu der
Menschen zusammenkamen, immer ein Dritter, Vierter
oder Zehnter mit im Raum war, der sich nicht outete, wie
wir immer gesagt haben; deshalb der schöne Ausspruch:
„Horch und Guck“ ist mit dabei.
Obwohl ich aus Bautzen komme und 1989 durch die
Öffnung des Stasigefängnisses in Bautzen die unermessliche Tragik dieses Systems, das, was den Menschen angetan worden ist, erlebt habe, habe ich das ganze Ausmaß dieses Bespitzelungssystems erst richtig begriffen,
als ich 1990, damals in der Volkskammer, die Handlungsorientierung, sprich: die Aktenanweisung, im
Grunde genommen Dienstanweisung, des Herrn Mielke
gesehen habe, der im Auftrag der SED als oberster Stasimann zu organisieren hatte, wie man IMs rekrutiert, wie
man Menschen bespitzelt und wie man Menschen bei
der Stange hält. Ein Problembewusstsein dafür, dass hier
in die intimsten Sphären der Menschen eingedrungen
wurde, gab es nicht. Diese Erkenntnis wurde total ausgeblendet. Der Mensch war Objekt. Haargenau wurde beschrieben - dies kann auch heute noch jedermann nachlesen -, was ein IM, ein angehender IM oder ein auf
Probe handelnder IM anzustellen hatte, um Menschen
für die Arbeit des Stasisystems zu gewinnen: Diese wurden erpresst und letztendlich - auch dieser Ausdruck
wurde immer wieder verwendet - weichgekocht.
Leider müssen wir auch feststellen, dass sich viele
freiwillig in den Dienst dieses Apparates gestellt haben,
weil es Geschenke und etwas zu verdienen gab. Ich will
hier ein kurioses Ereignis erwähnen: Noch im Herbst
1990 fragte ein alter Herr am Postschalter nach, warum
er keine Überweisung mehr bekommen würde. Dies
zeigt die ganze Komik und Dramatik. In jedem Fall kann
man aber feststellen, dass es sich um ein Unrechtssystem
handelte.
Es ist traurig, feststellen zu müssen, dass jemand, der
in einem frei gewählten Parlament sitzt - ich meine
Herrn Gysi -, in der Tradition fortfährt, die wir all die
Jahre beobachten konnten, nämlich nur das zuzugeben,
was schwarz auf weiß nachgewiesen wurde.
({1})
Eine Aufarbeitung findet durch die Partei, die diesen
Schlamassel verursacht hat, nicht statt.
({2})
Deshalb war es richtig, in diesem Parlament für das
vereinte Deutschland ein Gesetz zu verabschieden, in
dem geregelt ist, wie man dieses Unrechtssystem nach
rechtsstaatlichen Kriterien aufarbeitet. Es ist gut, dass
wir die Stasi-Unterlagen-Behörde und ein Stasi-Unterlagen-Gesetz haben. Das aktuelle Ereignis, über das wir in
dieser Aktuellen Stunde diskutieren, zeigt, wie gut es
war, dass wir Kriterien gefunden haben, um das Geschehene zu bewerten.
Manche meinten damals, dass es nicht gut ist, die
„Krake Stasi“ in das vereinte Deutschland mitzunehmen,
weil dies uns blockieren würde. Aber das Gegenteil ist
der Fall: 19 Jahre nach dem Fall der Mauer und nach
19 Jahren Aufarbeitung stellen wir fest, dass es richtig
war, strenge Zugangskriterien zu schaffen und Mechanismen zu entwickeln, wie wissenschaftliche und mediale Aufarbeitung erfolgen soll.
Ich erwähne § 32 des Stasi-Unterlagen-Gesetzes, auf
den sich das Verwaltungsgericht Berlin beruft.
Kollegin Michalk, kommen Sie bitte zum Schluss.
Das Gericht hat sehr eindeutig die Richtigkeit dieser
Dokumente bestätigt. Das Faktum, dass Herr Gysi einen
Tag vor der Verhandlung seine Berufung zurückzieht, ist
ein Beweis dafür, dass es richtig ist, die Aufarbeitung
weiter konsequent durchzuführen und die maßgeblichen
Dokumente zu bewerten.
({0})
Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Christoph
Waitz das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Gregor Gysi macht uns seit Jahren vor, wie
sich alle verdächtigen Mitarbeiter der Staatssicherheit
verhalten.
({0})
Es wird alles geleugnet. Wenn Beweise auftauchen, wird
nur das zugegeben, was längst aktenkundig und bewiesen ist.
({1})
Die Zeitungen zitieren übereinstimmend aus den Stasiakten von Robert Havemann. Gregor Gysi war der Anwalt von Havemann. Thomas Erwin war Gast im Hause
Havemann und traf dort auf Gysi. Gysi nahm Erwin mit
dem Auto nach Berlin zurück. In der Akte steht dazu:
„Der IM nahm Erwin mit in die Stadt.“ Eine andere Person war im Auto nicht anwesend. Das Gesprächsprotokoll von der Autofahrt landete umgehend bei der Staatssicherheit.
Gregor Gysi habe willentlich und wissentlich an die
Stasi berichtet. Das sagte die Bundesbeauftragte für die
Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes Marianne
Birthler. Dieser Schluss ist in Anbetracht der Aktenlage
auch in meinen Augen notwendig und zulässig.
({2})
Der 19-jährige Thomas Erwin geriet infolge dieses
Berichtes in die Fänge der Staatssicherheit. Er wird im
Stasiuntersuchungsgefängnis Berlin-Hohenschönhausen
inhaftiert. Er bleibt Monate in Haft und wurde später in
die Bundesrepublik abgeschoben - vermutlich nachdem
er freigekauft wurde.
So weit, so klar. Unklar ist mir jedoch, warum es so
lange gedauert hat, bis die Informationen zu Gregor Gysi
als IM-Unterlagen eingestuft und als solche von der
BStU herausgegeben wurden. Hat sich die Bewertung
der Akten erst jetzt so dramatisch gewandelt? Dies wäre
ein erstaunlicher Vorgang, waren doch ähnliche VorChristoph Waitz
gänge im Zusammenhang mit dem Wirken von Gregor
Gysi schon seit längerem bekannt. Die Gründe und Hintergründe der Neubewertung dieser Aktenmaterialien
sind klärungsbedürftig.
Wir alle beobachten sehr genau, wie der Kollege Gysi
mit den Vorwürfen gegen seine Person umgeht. Er
spricht von „bösartigen“ Behauptungen, die „frei von
Kenntnis“ erfolgten. Da wird Oskar Lafontaine vorgeschickt, der von „Angriffen“ gegen Gysi spricht und den
Kopf von Frau Birthler fordert.
({3})
Da wird die Linkspartei bemüht, sich hinter den Fraktionsvorsitzenden zu stellen. Gregor Gysi gibt nur das
zu, was schon bekannt ist. Er dreht, verdreht und windet
sich. Dabei ist die Aktenlage aus meiner Sicht schlicht
und ergreifend erdrückend.
({4})
Die FDP-Fraktion fordert Gregor Gysi und die Linkspartei auf: Machen Sie Schluss mit dem unsinnigen Versteckspiel und klären Sie öffentlich die Rolle Ihres Fraktionsvorsitzenden im Unrechtssystem der DDR! Herr
Gysi, suchen Sie
({5})
den Ausgleich mit denjenigen, denen Sie in Ihrer Rolle
als Anwalt geschadet haben, und entschuldigen Sie sich
für das, was Sie getan haben!
({6})
Beteiligen Sie sich durch die Offenlegung Ihrer Akten an
der Aufarbeitung des Unrechts!
Meine Damen und Herren, Altbundespräsident
Gustav Heinemann hat einmal gesagt:
Wer auf andere mit dem ausgestreckten Zeigefinger
zeigt, der deutet mit drei Fingern seiner Hand auf
sich selbst.
Es geht heute nicht darum, mit dem Finger nur auf
Gregor Gysi und die Linkspartei zu zeigen. Es geht vielmehr um eine konsequente und unbeeinflusste Aufarbeitung des SED-Unrechts und um Aufklärung darüber, wo
und in welchem Umfang die SED und die Staatssicherheit das Leben von Bürgerinnen und Bürgern in Ost- und
Westdeutschland beeinflusst, manipuliert und teilweise
ruiniert und zerstört haben.
({7})
Bei diesen Bemühungen um Aufarbeitung stößt man
sehr schnell an Grenzen. Die FDP-Bundestagsfraktion
hat zweimal vergeblich bei der Bundesregierung angefragt, wie viele ehemalige Stasimitarbeiter in den Bundesministerien und den nachgeordneten Behörden tätig
sind. Die Bundesregierung hat die Auswertung der relevanten Personalakten für „praktisch nicht leistbar“ gehalten. Ich meine, sie hat es auch einfach nicht gewollt.
Dabei musste die Bundesregierung auf meine Nachfrage einräumen, dass ein auch heute noch aktiver Abteilungsleiter im Bundesministerium der Finanzen als „IM
Konrad“ für die Stasi spioniert hat.
({8})
Mit dem „IM Helene“ gibt es einen weiteren aktuellen
Fall im Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie, der aus meiner Sicht von besonderer Bedeutung ist.
Wir können uns ausmalen, dass diese Mitarbeiter nicht
nur ihren Amtseid gebrochen und wissentlich und willentlich der Bundesrepublik Deutschland geschadet haben. Sie sind auch heute noch als unentdeckte Inoffizielle Mitarbeiter einem erheblichen Erpressungspotenzial
ausgesetzt. Sie können auch heute noch von feindlichen
Geheimdiensten erpresst und angeworben werden. Ich
halte beide Fälle nur für die Spitze des Eisbergs. Daher
fordert die FDP-Fraktion von der Bundesregierung nun
endlich Aufklärung und eine fundierte Aufarbeitung der
sogenannten West-IMs im Ministerialapparat.
({9})
Aber auch an uns geht der Krug nicht vorbei. Denn
die Antwort auf die Frage, in welchem Umfang Bundestagsabgeordnete im Zeitraum von 1949 bis 1989 wissentlich und willentlich mit der Staatssicherheit zusammengearbeitet haben, gehört auch für uns auf die
Tagesordnung.
({10})
Der Einwand, dass die Archivbestände der Birthler-Behörde keine Differenzierung von Tätern und Opfern der
Staatssicherheit ermöglichten, ist unbegründet. Es genügt ein einfacher Gang in die Außenstellen der BirthlerBehörde, um sich ein besseres Bild machen zu können.
Gregor Gysi ist der Anlass der heutigen Aktuellen
Stunde. Er muss Grund für uns sein, die Aufarbeitung
des SED-Unrechts und seiner Konsequenzen bis zum
heutigen Tag weiter zu intensivieren.
({11})
Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Jörg Tauss
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Natürlich besteht die spannende Frage, lieber Kollege Waitz, warum Ihre Partei diese Forderung nicht
während ihrer damaligen Regierungszeit gestellt hat,
sondern erst heute; das ist aber ein Thema für sich. Dann
hätten wir vielleicht ein paar Probleme weniger.
Heute ist der Ticker voll mit Meldungen über Oskar
Lafontaine. Ich sehe hier viele Mitglieder der PDS bzw.
der Nachfolgepartei sitzen. Ich vermisse in der Tat Herrn
Gysi und Herrn Lafontaine, die beiden Betroffenen.
({0})
Ich halte es für skandalös, dass beide hier kneifen.
Nun gut, von Lafontaine sind wir es gewohnt, dass er
immer kneift, wenn es darauf ankommt. Von Lafontaine
sind wir diesen Stil gewohnt. Als es für ihn damals im
Saarland unbequem wurde, hat er die Pressegesetze verschärft. Jetzt wird Frau Birthler unangenehm. Daher fordert heute Herr Lafontaine von der Kanzlerin - er sollte
sich einmal über die gesetzlich geregelte Unabhängigkeit der Stellung von Frau Birthler informieren -, sie
möge Frau Birthler absetzen. Das ist bizarr. Diejenigen,
von denen heute die Ticker mit Meldungen überquellen,
kneifen und weigern sich, an dieser Debatte teilzunehmen. Das ist für sie bequem. Aber, wie gesagt, wir Sozialdemokraten kennen das von Lafontaine. Ihr hingegen
lernt ihn gerade kennen, wie ich es auf dem Parteitag gehört habe.
({1})
Heute gab es zusätzlich von Herrn Gysi den gelungenen Versuch, mit einer Reihe von juristischen Finten und
Verfügungen, die Berichterstattung in den Medien über
das, was Frau Birthler gesagt hat und worüber wir heute
diskutieren, zu verhindern. Auch dazu kann ich nur sagen: Das ist eine schöne Haltung zu Demokratie und
Pressefreiheit.
({2})
- Da kommt er ja gerade. Das finde ich ganz prima.
Dann können wir die Diskussion ja fortsetzen. Herzlich
willkommen, Herr Lafontaine. Wir haben zu Ihnen gerade schon die richtigen Worte gefunden.
Frau Birthler hat gesagt, Gysi habe der Stasi „willentlich und wissentlich“ zugearbeitet. Gysi erklärte, er
„überlege noch“, juristische Schritte zu ergreifen. Zwischenzeitlich ist er zumindest gegen die Medien juristisch vorgegangen. Ich kann nur sagen: Das, was Frau
Birthler festgestellt hat, ergibt sich aus der logischen Bewertung aller Unterlagen und der Zeugen, über die schon
gesprochen worden ist. Dafür muss man noch nicht einmal ein Jurist sein: Das ergibt sich aus der Aktenlage.
({3})
Es wäre an dieser Stelle gut, lieber Herr Gysi, dass
Sie Ihren Kettenhund Lafontaine zurückziehen
({4})
und an dieser Stelle klar sagen: Jawohl, ich stelle dar,
was damals meine Rolle war.
({5})
Ich glaube, damit würden Sie der Demokratie dieses
Landes - das sollten Sie im Übrigen auch aus Achtung
vor sich selbst tun - einen besseren Dienst erweisen, als
Sie dies mit Ihren Beiträgen auf Ihrem Parteitag in Cottbus oder sonst wo getan haben, um dies in aller Klarheit
zu sagen.
({6})
Ich will bei dieser Gelegenheit auch wegen der unsäglichen Attacken Lafontaines auf Frau Birthler sagen: Die
Arbeit der BStU hinsichtlich der Aufarbeitung ist überaus positiv. Sie ist auch ein Beleg dafür, dass es unter
rechtsstaatlichen Aspekten und unter Wahrung der Persönlichkeitsrechte möglich ist, die Situation des Unrechtsstaates DDR und die Tätigkeit der Stasi, die
Schwert und Schild der SED, also der Vorgängerpartei
der Linken, war, darzustellen. Sie haben sich bis heute
nicht von der Vergangenheit distanziert. Sie sagen lediglich, dass das alles fast 20 Jahre her ist. Sie können aber
nicht vor der Geschichte kneifen. 20 Jahre sind kein Argument und keine Rechtfertigung dafür, sich der eigenen
Geschichte auch im persönlichen Bereich zu entziehen.
({7})
Ich war als Forschungspolitiker einige Male an der
Novellierung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes beteiligt.
Ich kann nur sagen, dass mit diesem Gesetz das von uns
verfolgte Ziel, eine politische und historische Aufarbeitung der Tätigkeit des Staatssicherheitsdienstes unter
den Bedingungen eines freiheitlichen Rechtsstaates und
unter Wahrung von Persönlichkeitsrechten zu ermöglichen, voll erreicht worden ist. Wir können an dieser
Stelle auf die Arbeit der Behörde und auf Frau Birthler,
die diese Arbeit leistet, stolz sein. Ich sage in aller Deutlichkeit für die SPD-Fraktion: Ich stehe hinter Frau
Birthler und der Art, wie sie diese Arbeit leistet.
({8})
Der Versuch, sie daran zu hindern, ist auch der Versuch, die Bewältigung der DDR-Vergangenheit zu hintertreiben. Man muss sich nicht darüber wundern, dass
viele Jugendliche in den alten und in den neuen Bundesländern immer wieder sagen, sie hätten keine Ahnung
von dem, was damals geschehen ist. Genau deshalb
muss die Arbeit fortgeführt werden.
Oskar Lafontaine verweist, wie gesagt, immer darauf,
all das seien olle Kamellen und die Mauer sei vor fast
20 Jahren gefallen. Dazu habe ich etwas gesagt. Aber,
Herr Lafontaine, man kann aus Ihren Bemerkungen noch
etwas anderes schlussfolgern. Man hat den Eindruck,
Sie hätten die Weisheit mit Löffeln gefressen, und Sie
wüssten nicht nur ökonomisch, wo es langgehe. Aber
Ihre Parteifreunde kommen aus einem Staat, der, unbeeinflusst von der Globalisierung, geschützt durch eine
Weltmacht hinter Mauern und Stacheldraht, all das realiJörg Tauss
sieren konnte, was Sie heute in Ihrem Wolkenkuckucksheim auf Ihren Parteitagen formulieren. Dieser Staat ist
pleitegegangen. Sie wollen vertuschen, was vor
20 Jahren in der DDR der Fall war.
({9})
Im Übrigen gilt das, was der Deutsche Bundestag
- das ist in einer Drucksache aus der 13. Wahlperiode
festgehalten - klar festgestellt hat: Dr. Gregor Gysi
- darüber waren wir uns mit großer Mehrheit einig - hat
für das Ministerium für Staatssicherheit der ehemaligen
Deutschen Demokratischen Republik gearbeitet. Das ist
als erwiesen festgestellt worden.
({10})
Diese erwiesene Feststellung werden wir auch heute von
Ihnen nicht vertuschen lassen.
({11})
Für die Fraktion Die Linke hat nun Dr. Gregor Gysi
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Was Sie
heute hier mit der Debatte bieten, ist ein trauriges Schauspiel
({0})
und zeigt das enge Zusammenwirken der Bundesbeauftragten Frau Birthler mit gegnerischen und konkurrierenden Parteien der Linken.
({1})
Seit Jahren versuchen Sie mit allen Mitteln, mich zu
beschädigen, um meine Partei zu treffen.
({2})
Es zeigt sich aber immer wieder, dass Sie frei von
Kenntnissen und zumindest oftmals nur böswillig reagieren.
({3})
Vom Leben eines Anwalts in der DDR haben Sie
schlicht und einfach keine Ahnung.
({4})
Nachdem ich die Verteidigung und Vertretung von
Robert Havemann übernommen hatte,
({5})
habe ich Folgendes erreicht: Gegen ihn wurde kein
Strafverfahren mehr durchgeführt; es gab keine Hausdurchsuchungen und Beschlagnahmen mehr. Nicht einmal Ordnungsstrafen wurden noch gegen ihn ausgesprochen. Der gegen ihn vorher verhängte Hausarrest wurde
aufgehoben.
({6})
Der Verkauf eines weiteren Hauses auf seinem Grundstück an einen IM konnte durch mich verhindert werden.
Robert Havemann konnte sogar an Feierlichkeiten zur
Befreiung des faschistischen Zuchthauses Brandenburg
mit Erich Honecker teilnehmen, was damals ein in westdeutschen Medien Erstaunen auslösendes, herausragendes Ereignis war.
({7})
Nennen Sie mir andere Abgeordnete des Bundestages, die sich für Robert Havemann so eingesetzt haben
wie ich und diesbezüglich so viel erreicht haben.
({8})
Der Stern schilderte einen Fall, in dem ein angeblicher IM Gespräche mit der Staatssicherheit geführt haben soll, obwohl er in Wirklichkeit zu dieser Zeit auf
einer Theaterbühne stand, also gar nicht mit der Staatssicherheit sprechen konnte. Hierzu erklärte die Bundesbeauftragte für die Unterlagen der Staatssicherheit, dass
sie Diskrepanzen zwischen dem Akteninhalt und tatsächlichen Begebenheiten nicht untersuchen dürfe.
({9})
Die Behörde sei auch nicht befugt, Unterlagen zu bewerten, und auch nicht, Wahrheitsfeststellungen zu treffen.
Das alles können Sie in Nr. 16/2008 des Stern auf
Seite 135 nachlesen. Bei mir aber versuchte der Bundesbeauftragte bzw. die Bundesbeauftragte seit Jahren Gegenteiliges, das heißt, den Vergleich von Akteninhalt
und tatsächlichen Begebenheiten, Bewertungen der Unterlagen und vermeintliche Wahrheitsfeststellungen.
({10})
Sie unterstellen mir, dass ich die Staatssicherheit über
Robert Havemann im Oktober 1979 direkt informiert
hätte.
({11})
Sie wollen nicht zur Kenntnis nehmen, dass die Staatssicherheit sich erst im September 1980 entschied, meine
Eignung als IM zu prüfen. Welcher Schwachsinn, wenn
ich schon längst mit ihr zusammengearbeitet hätte.
({12})
1986 stellte die Staatssicherheit endgültig durch Beschluss fest, dass ich als IM nicht infrage käme,
({13})
weil ich - nun wörtlich - „zur Aufklärung und Bekämpfung politischer Untergrundtätigkeit nicht geeignet“ war.
Die Staatssicherheit versuchte nicht einmal, mich anzuwerben.
({14})
Sie wollen auch nicht zur Kenntnis nehmen, dass die
Staatssicherheit anschließend gegen mich eine operative
Personenkontrolle zu meiner Überwachung eröffnete,
unter anderem wegen meiner Kontakte zu Mitarbeitern
der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in der DDR, wegen meiner Kontakte zu westdeutschen Journalisten, wegen meiner Kontakte zu ehemaligen
Mandanten, das heißt zu Dissidenten, deren Verfahren
bereits abgeschlossen waren oder die die DDR schon
verlassen hatten, zum Beispiel zu Rudolf Bahro. Wegen
so bedeutender Dissidenten wie Robert Havemann und
Rudolf Bahro hatte ich in deren Auftrag regelmäßig Gespräche mit Mitarbeitern der Abteilung „Staat und
Recht“ des Zentralkomitees der SED. Sie haben bis
heute nicht begriffen, dass diese Partei in der DDR die
führende Rolle spielte.
({15})
Sie haben nicht begriffen, dass ich deshalb nur über diese
Kontakte und nicht über ein Kreisgericht als Rechtsanwalt versuchen konnte, für beide Mandanten das zu erreichen, was sie wollten und was zum Teil auch gelang
Robert Havemann war zum Zeitpunkt des Endes der
DDR bereits gestorben. Ich hatte ihn bis zu seinem Tod
vertreten. Rudolf Bahro hat auch nach der Wende meinen
anwaltlichen Einsatz mehrfach und ausdrücklich gewürdigt.
({16})
In der DDR entschied das ZK der SED, wen es über
solche Gespräche wie die mit mir informierte. Das galt
auch hinsichtlich der Staatssicherheit. Hätte ich versucht, parallele Beziehungen zur Staatssicherheit aufzubauen, hätten die Mitarbeiter der Abteilung Staat und
Recht des ZK der SED die Gespräche mit mir beendet.
({17})
Wozu sollte ich das riskieren?
Sie begreifen nicht, dass ich schon damals so souverän war wie heute.
({18})
Ich hatte Gespräche mit dem Zentralkomitee, der führenden Kraft der DDR. Ich brauchte keine Kontakte zur
Staatssicherheit. Sie waren gar nicht nötig, entsprachen
weder meinem Stil noch meiner Würde. Aus den Unterlagen ergibt sich klar, dass die Staatssicherheit mich
überwachte, mich nicht mochte. Das nützt mir bei Ihnen
gar nichts, weil Sie sich sehnlichst das Gegenteil wünschen.
({19})
Ich weiß nicht, inwieweit Ihre wiederholten, mich
persönlich diffamierenden Attacken in den letzten Jahren meiner Gesundheit geschadet haben.
({20})
Aber eines weiß ich: So schaffen Sie letztlich weder
mich noch die Linke.
({21})
Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Thomas
Strobl das Wort.
({0})
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Der 1. Ausschuss des Deutschen Bundestages
überprüft die Abgeordneten auf eine Tätigkeit für den
Staatssicherheitsdienst der ehemaligen DDR. Diese Überprüfung nach § 44 c des Abgeordnetengesetzes ist grundsätzlich freiwillig. Lediglich dann, wenn der 1. Ausschuss mit einer Zweitdrittelmehrheit das Vorliegen von
konkreten Anhaltspunkten für den Verdacht einer Stasiverstrickung feststellt, erfolgt die Überprüfung auch ohne
Zustimmung des Betroffenen.
Bereits in der 12. und 13. Wahlperiode sind gegen den
heutigen Fraktionsvorsitzenden der Linken Dr. Gregor
Gysi ohne dessen Zustimmung zwei Verfahren durchgeführt worden. Fast ist man geneigt, zu sagen: natürlich
ohne dessen Zustimmung.
({0})
Thomas Strobl ({1})
Denn bis heute hat Kollege Gysi nichts zur Aufklärung
der ihm zur Last gelegten Vorwürfe beigetragen, sich
nicht einmal von der Staatssicherheit öffentlich distanziert. Das finde ich bemerkenswert.
({2})
Auf der Grundlage der Expertisen der Stasi-Unterlagen-Behörde, der akribischen Prüfung und Bewertung
der beim damaligen Bundesbeauftragten aufgefundenen
Dokumente sowie der zahlreichen Stellungnahmen Gysis
selbst hat der 1. Ausschuss im Mai 1998 eine - ich zitiere - „inoffizielle Tätigkeit des Abgeordneten Dr. Gregor
Gysi für das Ministerium für Staatssicherheit der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik als erwiesen
festgestellt“.
({3})
Wörtlich - ich darf in diesem Zusammenhang aus der
entsprechenden Drucksache zitieren - lautete damals das
Urteil des Ausschusses:
Dr. Gregor Gysi hat in der Zeit seiner inoffiziellen
Tätigkeit Anweisungen seiner Führungsoffiziere
über die Beeinflussung seiner Mandanten ausgeführt und über die Erfüllung seiner Arbeitsaufträge
berichtet. Er hat sich hierauf nicht beschränkt, sondern auch eigene Vorschläge an das MfS herangetragen. Dr. Gysi hat seine herausgehobene berufliche Stellung als einer der wenigen Rechtsanwälte in
der DDR genutzt, um als Anwalt auch international
bekannter Oppositioneller die politische Ordnung
der DDR vor seinen Mandanten zu schützen.
Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen. Er
hat als Anwalt international bekannter Oppositioneller
die politische Ordnung der DDR vor seinen Mandanten
geschützt, nicht etwa seine Mandanten vor der DDRDiktatur.
({4})
Anders gesagt: Er hat seine Mandanten in gemeiner
Weise an die Staatssicherheit verraten. Das ist für einen
Anwalt eine Schande.
({5})
In diesem Zusammenhang möchte ich nebenbei bemerken, dass Dr. Gregor Gysi, was eine Tätigkeit für den
Staatssicherheitsdienst der DDR betrifft, in der Fraktion
Die Linke kein Einzelfall sein dürfte. So haben sich seit
Beginn dieser Wahlperiode im Deutschen Bundestag
insgesamt 141 Abgeordnete freiwillig auf eine Stasitätigkeit überprüfen lassen; darunter befand sich genau ein
einziges Mitglied der Fraktion Die Linke. Auch das ist
eine Schande.
({6})
Im Bericht des 1. Ausschusses ist auch das Verhältnis
Gysis zu seinem damaligen Mandanten Robert Havemann
untersucht worden. Gysi übernahm die anwaltliche Vertretung Havemanns, der im Zweiten Weltkrieg nur knapp
der Vollstreckung eines Todesurteils der Nationalsozialisten entgangen war und dann in den 60er-Jahren von der
SED aus der Humboldt-Universität vertrieben und
schließlich durch Hausarrest und Kontaktverbot in der
DDR in die Isolation gezwungen wurde.
Der Ausschuss sah es als erwiesen an, dass der heutige Fraktionsvorsitzende der Linken im Zeitraum von
Ende 1979 bis 1982 personenbezogene Informationen
über seinen Mandanten an den Staatssicherheitsdienst
weitergegeben hat. Der Bruch des Anwaltsgeheimnisses
ist in unserem Rechtsstaat eine schwere Straftat und wird
entsprechend bestraft.
({7})
Aber an Gemeinheit und Niedertracht kaum zu übertreffen ist es, einen Mandanten, der unter einer brutalen Diktatur für die Freiheit des Denkens eintritt, an den Geheimdienst ebendieser Diktatur zu verraten. Das ist mehr
als eine Schande. Das ist infam und niederträchtig.
({8})
Havemann war indessen nur das prominenteste Opfer,
nicht aber der einzige Mandant, den Gysi an die Staatssicherheit verraten hat. Dabei wurde Gysi vom Ministerium für Staatssicherheit eine - ich zitiere - „umsichtige
und parteiliche Erfüllung“ der ihm gestellten Aufgaben
bescheinigt, und er wurde von seinem Führungsoffizier
Lohr für seine - ich zitiere - „Zuverlässigkeit und eine
hohe Einsatzbereitschaft“ gelobt.
({9})
Ebenso wie Havemann von Gysi verraten wurde, erging es dem Oppositionellen Rudolf Bahro, um ein weiteres Beispiel zu nennen. So wurde in einem Stasivermerk über ein Gespräch Gysis ausgeführt - ich zitiere
aus dem Bericht des 1. Ausschusses -:
Er persönlich
- also Gysi … halte Leute wie BAHRO für unverbesserliche
Feinde des Sozialismus, die man besser rechtzeitig
versuchen solle, in die BRD abzuschieben, da eine
ideologische Umerziehung unmöglich sei. … Des
weiteren gab er der Hoffnung Ausdruck, daß eine
gerichtliche Hauptverhandlung, falls eine solche
stattfindet, nur „in ganz kleinem Rahmen“ durchgeführt wird und nicht aus „falschem Demokratieverständnis“ ein größerer Prozeß stattfindet.
Thomas Strobl ({10})
So das Mandanten-Anwalt-Verhältnis aus Sicht des
Rechtsanwaltes Dr. Gysi. Es ist eine Schande.
({11})
Man reibt sich bei der Lektüre dieser Zeilen verwundert die Augen und fragt sich erstaunt, wie Herr Gysi,
der nach Auffassung des 1. Ausschusses des Deutschen
Bundestages ein Inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit war und unter gemeinstem, ja liederlichstem
Verrat seiner Mandanten Informationen an die Repressionsorgane der DDR weitergab, Abgeordneter, ja Vorsitzender einer Fraktion im Deutschen Bundestag werden konnte.
({12})
Kollege Strobl, das Zeichen am Pult zeigt Ihnen, dass
Sie Ihre Redzeit bereits eine Minute überschritten haben.
({0})
Ich komme gleich zum Ende, Frau Präsidentin.
Das Ziel der Tätigkeit des Staatssicherheitsdienstes
unter Einbindung von Dr. Gysi war nämlich kein geringeres als die möglichst wirksame Unterdrückung der demokratischen Opposition in der DDR, falls notwendig
auch durch ihre brutale Zerschlagung oder die Vertreibung und Verschleppung ihrer Angehörigen in Gefängnisse.
Ich sage es klipp und klar: Wer solche Sauereien begangen hat, ist als Volksvertreter diskreditiert. Der Abgang ist überfällig.
({0})
Ziehen Sie die notwendigen Konsequenzen - Sie, Herr
Kollege Dr. Gysi, ganz persönlich und Sie in der Fraktion Die Linke ganz links in diesem Hause!
({1})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der
Kollege Wolfgang Wieland das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als jemand, der selber seit 30 Jahren als Anwalt tätig ist
- gleicher Jahrgang wie der Kollege Gysi - und das
Glück hatte, diesen Beruf nie unter den Bedingungen einer Diktatur ausüben zu müssen, neige ich wahrlich
nicht zur Selbstgerechtigkeit. Ich lasse mir aber auch
nicht sagen, dass ich, weil ich nicht unter dieser Diktatur
gelebt habe, nicht in der Lage bin, zu beurteilen, was ein
Anwalt in der DDR tun durfte oder nicht.
({0})
Hier ist wahrlich nicht alles beliebig.
Wenn der Mandant das weiß und ihn beauftragt hat,
kann und muss der Anwalt auch mit dem Teufel reden.
Das gehört zum Job. Es muss aber Folgendes klar sein:
Er tut das im Auftrag und im Interesse des Mandanten
und handelt nicht im Auftrag des Teufels. Hier muss
Klarheit herrschen. Diese fehlt bei Gysi.
({1})
Dass wir hier kein neutrales Gremium sind, brauchte
uns der Kollege nicht zu sagen. Hier geht es auch um
parteipolitische Interessen. Das ist doch gar keine Frage.
Ich gebe auch zu, dass die Auseinandersetzung mit der
DDR-Vergangenheit oft aufgeregt vonstattenging, was
aus Sicht der Opfer auch völlig verständlich ist. Wie
sollten sie da emotionslos sein?
Das alles erklärt, warum es Schwierigkeiten im Umgang mit der Wahrheit gibt und warum es für den Einzelnen schwierig ist, ehrlich zu sein. Das kann aber niemals
entschuldigen, dass man bis zum heutigen Tag ein Lügengebäude aufrechterhält, das im Übrigen gerade implodiert. Das tut Gysi bis zum heutigen Tag mit seiner
Kette von Prozessen und seinem ständigen Versuch, die
Kolportage dessen, was wir hier sagen, durch die Medien zu verhindern. Nach dem Urteil des Verwaltungsgerichtes hat er noch eine Chance gehabt, umzudenken. Er
hat sie wiederum verstreichen lassen.
({2})
Die Aktenlage ist widerleglich, aber man muss sie begründbar widerlegen. Ein Zitat des MfS-Majors Günter
Lohr vom 27. November 1980:
So bewies er in der bisherigen Zusammenarbeit Zuverlässigkeit und eine hohe Einsatzbereitschaft, als
er den Rechtsbeistand im Prozeß gegen Bahro übernahm und im Verfahren gegen Robert Havemann
wegen Verstoßes gegen das Devisengesetz unter
strenger Einhaltung der Konspiration über geplante
Aktivitäten, über das weitere Vorgehen von Verbindungspersonen, Ziele und Absichten über die
Rechtslagen und ihre Folgen berichtete.
Die Zielstellung besteht darin, dass der Kandidat
nach Abstimmung mit dem MfS … Pläne, Absichten und Vorhaben des Havemann, seiner Familienmitglieder, seines Freundes- und Bekanntenkreises
im Rahmen seiner anwaltlichen Aufgaben in Erfahrung bringt mit dem Ziel, diese für eine positive Beeinflussung, operative Nutzung bzw. für Zersetzungsmaßnahmen zu nutzen.
Es steht dort ebenfalls:
Der Kandidat soll mündlich, durch Handschlag,
verpflichtet werden und den Decknamen „Notar“
erhalten.
Das hat die Stasi zu Papier gebracht.
Nun hat sich Gregor Gysi hier hingestellt und gesagt,
dass fünf, sechs Jahre später festgestellt wurde, dass er
als IM nicht geeignet war. Das ist überhaupt kein Widerspruch und widerlegt nicht, dass er zunächst zugearbeitet
und tatsächlich einen eklatanten Mandanten- und Parteiverrat begangen hat. Dafür spricht alles.
Seine bisherige Verteidigungslinie war, es seien nur
Vieraugengespräche gewesen, die abgehört worden sein
könnten, und es könnte jemand Unterlagen aus seinem
Anwaltsbüro gestohlen haben.
({3})
Zu dieser bisherigen Verteidigungslinie zitiere ich das
Verwaltungsgericht Berlin. Es hat Folgendes gesagt - das
ist die neue Qualität -:
Nach alledem handelt es sich bei diesem Vorbringen zur Überzeugung der Kammer um eine nicht
glaubhafte bloße Schutzbehauptung.
Ich wiederhole: „eine nicht glaubhafte bloße Schutzbehauptung“.
({4})
Diese Aussage des Verwaltungsgerichtes ist durch die
Berufungsrücknahme, die Gysi selber vorgenommen hat,
bestandskräftig geworden.
Was wollen Sie denn eigentlich? Sie stellen sich hier
hin und sagen, dass alles sei für Ihren Parteitag getimt
gewesen. Dabei ist es Sache von Herr Gysi, wann er
seine Berufung zurücknimmt. Er hätte das vor einem
Jahr tun können; er hätte sie gar nicht einzulegen brauchen.
({5})
Es ist völlig durchsichtig, wie Sie sich verhalten.
Als Nächstes wurde Marianne Birthler angegriffen.
Gysi sagte, sie werde als Archivarin bezahlt und führe
sich wie eine Art Polizeiermittlerin auf. Ich sage: Sie
hätten es gerne, wenn die Stasi-Unterlagen-Behörde nur
ein Teil des Bundesarchivs wäre. Darauf arbeiten Sie
hin. Noch ist es aber eine aktive Aufklärungsbehörde.
({6})
Wenn sie diesen Aufgaben nachkommt, ist sie nicht zu
kritisieren.
Das Verwaltungsgericht hat dazu festgestellt, dass die
Behörde berechtigt - das Gericht sagt: „sogar verpflichtet“ - sei, die Unterlagen an das Nachrichtenmagazin
Der Spiegel herauszugeben. Sie musste aufgrund der
Gesetzeslage so handeln.
({7})
Fazit: Gregor Gysi selber hat einmal als Begründung
dafür, dass die SED nicht aufgelöst, sondern weitergeführt wurde - zunächst als SED/PDS, heute als Linkspartei -, gesagt: Die Geschichte braucht eine Anlaufstelle, eine Adresse; deswegen können wir nicht einfach
verschwinden. Die Geschichte braucht aber keine
Schutzbehauptungen. Sie braucht vor allem die Wahrheit. Eine Parole aus dem Prag des Jahres 1968 lautete:
„Die Wahrheit ist revolutionär.“ Sie verändert die Wirklichkeit und lässt sich durch niemanden auf Dauer unterdrücken, schon gar nicht durch Gregor Gysi.
({8})
Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Stephan
Hilsberg das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Glauben Sie mir, dass es mir nicht leichtfällt, zu diesem Thema zu sprechen, obwohl ich mich in
meiner politischen Biografie viel mit Staatssicherheit
auseinandergesetzt habe. Es fällt mir schwer, meine Gedanken und erst recht meine Gefühle zum Ausdruck zu
bringen. Ich werde das auch gar nicht richtig können.
Ich werde versuchen, bei dem Thema ruhig zu bleiben, weil über einen solch schwierigen Sachverhalt nur
in Ruhe diskutiert werden kann. Aber es ist unerträglich,
in welcher Art und Weise diese Partei - Die Linke und
insbesondere ihr Frontmann Gregor Gysi - nach wie vor
versucht, uns zu belügen und zu betrügen und die Öffentlichkeit zu täuschen. Das ist in jeder Hinsicht unerträglich, und zwar nicht nur für die Opfer, sondern für jeden, der ein solches Schicksal miterlebt hat.
({0})
Es geht, wie gesagt, nicht nur um die Opfer. Es geht
um Aufklärung. Wir werden die Zukunft nicht gewinnen
können, ohne uns ein den Sachverhalten angemessenes
Bild von den Fakten zu machen, die die DDR bestimmt
haben. Dazu gehört die konspirative Machtausübung des
Ministeriums für Staatssicherheit, die untrennbar mit der
Stabilität verbunden ist, die die DDR bis 1989 besaß.
Wie schwer einem die Aufklärung gemacht wird,
zeigt der Beitrag des Kollegen Gysi aufs Neue. Wir sind
nicht die Einzigen, die davon betroffen sind. Jedes Mal,
wenn jemand versucht, die Wahrheit und seine eigenen
Erfahrungen zum Ausdruck zu bringen, wenn Betroffene
bzw. ehemalige Opfer des Staatssicherheitsdienstes wie
Erwin Thomas oder jetzt Erwin Klingenstein äußern,
dass Gregor Gysi vermutlich IM gewesen sei, werden sie
von Gregor Gysi mit Gerichtsverfahren überzogen.
Gregor Gysi hat eine ungeheure Kampagnenaktivität
entfaltet, um zu verhindern, dass irgendjemand in diesem Deutschland sagt, was tatsächlich der Fall war,
nämlich dass Gregor Gysi mit dem Ministerium für
Staatssicherheit aufs Allerengste zusammengearbeitet
hat.
({1})
Es ist nicht das erste Mal, dass sich der Bundestag damit beschäftigt. Wir waren es der friedlichen Revolution
und vor allem den Bürgern schuldig, Aufklärung darüber
zu leisten, inwieweit die Hinterlassenschaft der konspirativen Tätigkeit für die Staatssicherheit in den heutigen
Bundestag hineinreicht. Wir hatten niemals das Recht,
einem Abgeordneten, der unter den Bedingungen der
Demokratie frei gewählt ist, das Mandat abzusprechen,
wie es in einigen Landesparlamenten versucht wurde.
Ich habe das auch immer für richtig gehalten. Aber wir
hatten die Pflicht - der sind wir auch nachgekommen -,
über die tatsächlichen Hintergründe aufzuklären.
Wir haben uns mit Abgeordneten aus den verschiedensten Parteien beschäftigt. Es war kein Zufall, dass die
meisten der Abgeordneten, die mit der Staatssicherheit
zu tun hatten, in den Reihen der damaligen PDS zu finden sind. Ich will nicht alle Namen aufzählen, die an dieser Stelle eine Rolle gespielt haben. Dazu gehört auch
Gregor Gysi.
Wir haben uns lange und auf rechtsstaatliche Weise
absolut fair und sehr intensiv mit der Staatssicherheit
und der Aktenlage Gregor Gysis beschäftigt. Wir haben
uns dafür ein eigenes Verfahren gegeben, das wir wohlabgewogen haben. Wir haben uns dafür Zeit genommen
und die gesamten Unterlagen studiert. Die Dokumente
füllen Bände, glauben Sie mir. Die Liste derjenigen, die
Gregor Gysi bespitzelt hat, liest sich wie ein Who’s Who
der DDR-Opposition. Nicht alle, aber doch sehr viele
sind darunter.
Anschließend haben wir ein Urteil gefällt, das Gregor
Gysi nie akzeptiert hat. Das ist sein gutes Recht. Wir haben erst mit Zweidrittelmehrheit im Immunitätsausschuss und dann mit der großen Mehrheit der Bundestagsabgeordneten festgestellt, dass wir die Tätigkeit von
Gregor Gysi für die Staatssicherheit der ehemaligen
DDR als erwiesen ansehen. Dabei geht es gar nicht um
die Betitelung, ob er nun IM war oder nicht; das spielt
überhaupt keine Rolle. Die entscheidende Frage lautet:
Wie ist sein Verhältnis zur Staatssicherheit zu bewerten?
Das hat auch nichts mit seiner anwaltlichen Tätigkeit zu
tun, sondern einzig und allein damit, wie eng er mit den
Mitarbeitern der Staatssicherheit zusammengearbeitet
hat. Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass es über
Jahre enger im Grunde genommen gar nicht ging.
Zum Schluss haben wir eine politische Bewertung
vorgenommen, wozu wir auch verpflichtet gewesen waren. Sie findet sich in der Bundestagsdrucksache 13/10893.
Dort heißt es, der Ausschuss habe „eine inoffizielle Tätigkeit des Abg. Dr. Gregor Gysi … als erwiesen festgestellt.“ Weiter heißt es:
Dr. Gysi hat in dieser Zeit
- es geht um die 70er- und 80er-Jahre nachweislich … unter verschiedenen Decknamen
dem MfS inoffiziell zugearbeitet.
Dort steht, dass er von der Abteilung XX geführt wurde,
der Abteilung, die für PUT und PID zuständig war, für
Politische Untergrundtätigkeit und Ideologische Diversion, womit natürlich sämtliche Oppositionellen gemeint
waren.
Zum Schluss heißt es dort:
Dr. Gregor Gysi hat in der Zeit seiner inoffiziellen
Tätigkeit Anweisungen seiner Führungsoffiziere
über die Beeinflussung seiner Mandanten ausgeführt und über die Erfüllung seiner Arbeitsaufträge
berichtet. Er hat sich hierauf nicht beschränkt, sondern auch eigene Vorschläge an das MfS herangetragen. Dr. Gysi hat seine herausgehobene berufliche Stellung als einer der wenigen Rechtsanwälte in
der DDR genutzt, um als Anwalt auch international
bekannter Oppositioneller die politische Ordnung
der DDR vor seinen Mandanten zu schützen. Um
dieses Ziel zu erreichen, hat er sich in die Strategien
des MfS einbinden lassen, selbst an der operativen
Bearbeitung von Oppositionellen teilgenommen
und wichtige Informationen an das MfS weitergegeben.
({2})
Auf diese Erkenntnisse war der Staatssicherheitsdienst zur Vorbereitung seiner Zersetzungsstrategien dringend angewiesen. Das Ziel dieser Tätigkeit unter Einbindung von Dr. Gysi war die
möglichst wirksame
- jetzt kommt es Unterdrückung der demokratischen Opposition in
der DDR.
Kollege Hilsberg, schauen Sie bitte auf die Uhr.
Gestatten Sie mir, auch wenn die Redezeit etwas
überzogen ist, eine kurze Bemerkung zum Schluss. Abgesehen davon, dass Gregor Gysi dreimal versucht hat,
dieses Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht zu
verhindern - was ihm nicht gelungen ist -, bleibt eines
festzuhalten: Wir haben uns damals dazu durchgerungen, dieses Verfahren durchzuführen, und können uns,
wie ich glaube, nach wie vor dazu bekennen. Es ist
schwer und zeigt Belastendes, nicht nur für Sie als Partei, in deren Reihen sich auch Opfer befinden. Es zeigt,
wie schwer die Verdrängungsarbeit sein muss, so etwas
immer wieder wegzutun, umzuwerten und dem sogar
noch einen humanen Anstrich zu geben. Tun Sie sich
den Gefallen und gehen Sie in sich! Sie täten sich selbst,
Ihrem Gewissen und der deutschen Öffentlichkeit einen
großen Gefallen.
({0})
Für die Unionsfraktion hat der Kollege Stephan
Mayer das Wort.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Es ist schon schauderhaft und abscheulich, mit welcher Chuzpe und mit welchem Zynismus der Abgeordnete - ich möchte ihn gar
nicht als Kollegen bezeichnen - Gregor Gysi am Rednerpult des Deutschen Bundestages freiweg behauptet,
er sei ein großer Gegner der Stasi gewesen und niemand
habe in der ehemaligen DDR so viel für Robert
Havemann getan wie er. Dies ist eine Verhöhnung und
Missachtung der Tausende von Opfern, die in der ehemaligen DDR gedemütigt, physisch und psychisch gefoltert wurden, unter anderen sein ehemaliger Mandant
Robert Havemann.
({0})
So viel Bescheidenheit und so viel Zurückhaltung ist
man an sich von dem Abgeordneten Gysi gar nicht gewohnt, dass er sich zunächst einmal in die letzte Reihe
setzt, dann seinen Redetext abliest, was man ebenfalls
nicht gewohnt ist, und anschließend sofort wieder verschwindet. Wenn Herr Gysi Rückgrat hätte, würde er
sich in die erste Reihe setzen und zuhören, was wir ihm
zu sagen haben. Ehrlichkeit erfordert Mut, und die
Wahrheit ist manchmal hart; aber es ist höchste Zeit,
dass der Abgeordnete Gysi endlich Verantwortung übernimmt, dass er sich endlich der Verantwortung stellt.
({1})
Die Berichte der Birthler-Behörde aus den Jahren
2004 und 2005 lassen keinen Zweifel, dass Gysi Informeller Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit
der DDR war. Gysi ist es - das ist erwiesen -, der mit
Thomas Erwin - der später den Namen Klingenstein annahm - am 3. Oktober 1979 von Grünheide mit dem
Auto nach Berlin fuhr, und es ist auch bekannt, dass die
Informationen, um die es geht, durch einen gezielten IMEinsatz bekannt wurden, also nicht aus einer Telefonabhöraktion im Hause Havemann stammen können. Damit
steht unzweifelhaft fest, dass diese Informationen der Informelle Mitarbeiter Gregor Gysi an seinen Führungsoffizier weitergeleitet haben muss. Da hilft keine Nonchalance, da hilft keine Showmasterattitüde. Es ist
offenkundig, dass Gregor Gysi tief in das Unrechtsregime der DDR verstrickt war. Er hat Mandanten verraten. Auf Parteienverrat steht in Deutschland eine Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren.
Bereits 1998 hat der Ausschuss für Wahlprüfung und
Immunität in einem Bericht festgestellt - mit einer
Mehrheit von zwei Dritteln der Abgeordneten -, dass erwiesen ist, dass Dr. Gregor Gysi als Informeller Mitarbeiter für das Ministerium für Staatssicherheit der DDR
tätig war. Auch in dem Gutachten der Gauck-Behörde
von 1995 wird dargestellt, dass Gregor Gysi offenkundig
unter den Decknamen Gregor, Lothar oder auch Sputnik
dem MfS zugearbeitet hat. Wie schon erwähnt: Der Führungsoffizier von der Stasi hat die Zuverlässigkeit und
die hohe Einsatzbereitschaft seines IM sehr gelobt. Damit steht fest, dass Gregor Gysi wissentlich und willentlich das Ministerium für Staatssicherheit unterrichtet hat,
seinen Mandanten Robert Havemann der Stasi ausgeliefert hat.
Es ist ein besonderes Stück Sarkasmus, dass Gysi, als
er ein Jahr nach der besagten Autofahrt im Stasigefängnis Berlin-Hohenschönhausen zu Thomas Klingenstein
gesagt hat: So sieht man sich wieder. Dies zeigt, welch
Geistes Kind Gregor Gysi ist. Es ist höchste Zeit, dass
Gregor Gysi für seine Missetaten Verantwortung übernimmt.
({2})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte
deutlich machen, dass Gregor Gysis Verhalten leider
Gottes auch für die heutige Linke exemplarisch ist. Die
Birthler-Behörde hat zutage gefördert, dass mindestens 7
der 53 Kolleginnen und Kollegen der Fraktion der Linken Informelle Mitarbeiter der Staatssicherheit waren.
({3})
Der - wenn auch mit einem schlechten Ergebnis - wiedergewählte Bundesvorsitzende der Linken, Klaus Ernst
- auch er hat den Plenarsaal bereits verlassen -, hat in
der vergangenen Woche wortwörtlich gesagt: „Es bestehen zum Teil noch die alten PDS-Strukturen.“
Die Linke ist die Nachfolgepartei der PDS, die PDS
wiederum ist die Nachfolgepartei der SED, einer Partei,
die ein brutales, menschenverachtendes Regime, ein Unrechtsregime aufrechterhalten hat. Es ist höchste Zeit,
dass dafür endlich die Verantwortung übernommen wird.
Wir können den Abgeordneten Dr. Gregor Gysi nur auffordern, endlich die Verantwortung zu übernehmen,
seine politischen Ämter niederzulegen und, mindestens
genauso wichtig, seine Zulassung als Rechtsanwalt zurückzugeben.
Herzlichen Dank.
({4})
Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege CarlChristian Dressel das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als unerträglich empfand ich das Verhalten der beiden Vorsitzenden der sogenannten Linksfraktion und ihres Hofstaats zu Beginn dieser Debatte,
({0})
hier aufzutauchen, auf den hinteren Rängen links Platz
zu nehmen und nach dem Wortbeitrag des Abgeordneten
Gregor Gysi diesem folgend den Plenarsaal des Deutschen Bundestages zu verlassen.
({1})
Einen solchen Klamauk in dieser Aktuellen Stunde, in
der es um einen der Vorsitzenden der Linksfraktion geht,
aufzuführen, stellt in meinen Augen eine Verhöhnung
nicht nur des Deutschen Bundestages, sondern des Parlamentarismus insgesamt dar.
({2})
Lachen Sie nicht so töricht, meine Damen und Herren
von der Linksfraktion! Hören Sie sich an, was Sie betrifft, und sagen Sie bitte Ihren Fraktionsvorderen, dass
sie anwesend sein sollten, wenn es um ihre eigene Vergangenheit geht.
Es muss aber nicht die weitere Vergangenheit sein.
Wenn ich in einer Tickermeldung lese, dass der Kovorsitzende der sogenannten Linksfraktion, Herr Oskar
Lafontaine, fordert, Frau Merkel solle Frau Birthler als
Behördenchefin abziehen
({3})
- klatschen Sie nur, Frau Jelpke! -, dann zeigt das für
mich, wes Geistes Kind Sie sind.
({4})
Der Beauftragte für die Stasi-Unterlagen wird nach § 35
Abs. 2 des Stasi-Unterlagen-Gesetzes auf Vorschlag der
Bundesregierung vom Deutschen Bundestag gewählt.
({5})
Das heißt, der Vorsitzende der sogenannten Linksfraktion verlangt nichts anderes, als dass die Kanzlerin dort
eingreift, wo das Parlament gesprochen hat. Ein sauberes
Demokratieverständnis ist das!
({6})
Historisch lässt sich das gut in die Situation Ende 2006
einreihen, als der Deutsche Bundestag in breitem parlamentarischen Konsens das Stasi-Unterlagen-Gesetz beschlossen hat. Jetzt fällt Ihnen Ihr damaliger Änderungsantrag auf die Füße, der zum Ziel hatte, mit dem
Auslaufen der damaligen Frist die Überprüfungsmöglichkeiten zu beenden. Sie wollen Schlussstriche und
Freisprüche. Aber das macht die übergroße Mehrheit des
Deutschen Bundestages nicht mit.
({7})
Sie handeln ausschließlich aus eigenem Interesse.
({8})
Die Causa Gysi bestätigt die Richtigkeit der Novellierung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes. Sie bestätigt aber
auch, dass Ihnen Ihre Tricks wie die fortlaufende Umbenennung Ihrer Partei und eine um sich greifende Ostalgie
nichts nutzen, die Vergangenheit ungeschehen zu machen. Kollege Mayer hat Herrn Ernst laut Süddeutscher
Zeitung vom 27. Mai mit den Worten zitiert - man
könnte ihn häufiger zitieren -: Die alten PDS-Strukturen
bestehen fort. - Sehr wahr! In Abwandlung eines
Spruchs Ihres Frontmanns Lafontaine: Sie sind an diesem Tag ganz besonders die Partei von Gregor Gysi. Sie
verklären noch immer die kommunistische Diktatur in
der DDR.
({9})
Sie haben sich nur in den wenigsten Punkten von Ihrer
Vergangenheit distanziert.
({10})
Wie sehr die Wahrheit dieser Erblast auf Ihnen lastet,
macht diese Debatte deutlich.
Wenn wir einen Ausflug ins Internet unternehmen,
dann sehen wir, dass Sie bei Ihrer Internetpräsenz von einem Gründungsparteitag der sogenannten Linken sprechen. Die Vergangenheit davor ist ausgeblendet und ist
nur noch in den Onlinearchiven von WASG und PDS zugänglich. Dort erfährt man genauso wie auf der Website
oder im offiziellen Lebenslauf von Gregor Gysi, dass er
seit 1989 Vorsitzender der PDS gewesen sei. Meine Damen und Herren, vom 16./17. Dezember 1989 bis zum
4. Februar 1990 nannten Sie Ihre Partei noch SED/PDS.
Das versucht Herr Gysi geschichtsklitternd aus seinem
Lebenslauf zu tilgen. Das ist bezeichnend für Sie in der
sogenannten Linkspartei insgesamt.
({11})
Dass und inwieweit Herr Gysi willentlich und wissentlich für das Ministerium für Staatssicherheit gearbeitet hat, hat der Deutsche Bundestag ausdrücklich festgestellt, und er hat seine Schutzbehauptungen gewürdigt.
Wenn er jetzt mit Klagen und Anträgen auf einstweilige
Verfügung um sich wirft, dann zeigt das seine Meinung
von der Pressefreiheit. Ich kann nur wiederholen, was
Frau Birthler gesagt hat: Herr Gysi hat erwiesenermaßen
willentlich und wissentlich für das Ministerium für
Staatssicherheit gearbeitet.
Herr Gysi
Kollege Dr. Dressel, achten Sie bitte auf das Zeichen
vor Ihnen.
- danke, ich bin schon beim vorletzten Satz -, der
nicht da ist - wir sind es gewohnt, auch in seiner Abwesenheit zu verhandeln -: Wenn Sie noch eine Spur von
Charakter haben, dann ziehen Sie die Konsequenzen, legen Sie Ihre politischen Mandate nieder, geben Sie Ihre
Anwaltszulassung zurück, und nehmen Sie aus Ihrer soDr. Carl-Christian Dressel
genannten Linksfraktion diejenigen gleich mit, für die
erwiesenermaßen dasselbe gilt!
Ich danke Ihnen.
({0})
Für die Unionsfraktion hat nun die Kollegin Beatrix
Philipp das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist
mir ein besonderes Bedürfnis, zu Beginn meiner Ausführungen Herrn Hilsberg ganz ausdrücklich für seine
bemerkenswerten und beeindruckenden Worte zu danken.
({0})
Wer Herrn Hilsberg kennt, der weiß, dass er in vielen
Gremien schmerzlich vermisst wird. Ich möchte das ausdrücklich hier am Anfang meiner Ausführungen sagen.
Ich weiß natürlich, dass sein Appell, der zu unterstreichen ist, sicherlich ungehört verhallen wird.
Herr Dr. Dressel hat den Auftritt und den Abgang von
Herrn Gysi als Klamauk bezeichnet. Dem ist eigentlich
nicht viel hinzuzufügen, aber ich möchte doch noch sagen: Si tacuisses … Das gilt natürlich für Herrn Gysi.
Angesichts all der Opfer und deren Familien ist es ein
Hohn, was sich Herr Dr. Gysi hier geleistet hat. Wer die
Staatssicherheit zum Zeugen für seine Unschuld bemühen muss, ist weit gesunken. Das ist ein Schlag in das
Gesicht aller,
({1})
die die Staatssicherheit auf dem Gewissen hat. Wer bis
jetzt auch nur ansatzweise am Ergebnis der Arbeit des
Immunitätsausschusses gezweifelt hat, dürfte nach diesem Auftritt sicher sein, dass das Ergebnis ein richtiges
gewesen ist.
({2})
Es gehört auch dazu, zu sagen, dass Herr Havemann
mehrfach erklärt hat, dass er einem Anwalt seines Vertrauens nicht zumuten könne, für ihn tätig zu werden.
Herr Gysi war ein Element der Scheinjustiz. Auch das ist
heute ganz eindeutig klar geworden.
Ich habe mich die ganze Zeit gefragt, warum ich immer bedrückter und ärgerlicher werde, je länger diese
Aktuelle Stunde dauert. Ich weiß jetzt auch, woran das
liegt: Es ist der Kontext, in dem das stattfindet, es ist die
unerträgliche Dreistigkeit, mit der die ehemaligen Stasioffiziere heute auftreten,
({3})
es ist die unverständliche Debatte über die Klarnamen
im Rahmen einer Ausstellung, es ist die mangelnde Abgrenzung manch demokratischer Partei von SED, PDS,
Linken - oder wie sie sich gerade nennen - und deren
Umwerbung. Das macht mir Sorgen, und das regt mich
fürchterlich auf.
({4})
Die Hoffnung, dass die Menschen das vergessen, darf
nicht Wirklichkeit werden. Deswegen ist die Aktuelle
Stunde heute richtig.
({5})
Mich regt noch etwas auf: Das sind die handelnden
Personen, die mit ihrem Verhalten immer wieder den Beweis dafür liefern, und zwar bis in die letzten Minuten
vor dieser Aktuellen Stunde, dass sie die Werkzeuge des
MfS immer noch sehr wohl zu nutzen wissen. Dazu gehört Herr Gysi ebenfalls. Dafür hat er eben einen Beweis
geliefert. Da wird bis in die letzten Minuten vor dieser
Aktuellen Stunde in mannigfachen Anläufen und auf
verschiedenen Wegen und mit unterschiedlichem Ergebnis versucht, Fakten zu leugnen, Fakten umzudeuten,
Menschen unter Druck zu setzen, zu verhindern, dass die
Wahrheit ans Licht kommt, bis es überhaupt nicht mehr
anders geht. Das heißt heute hier: Man versucht, zu verhindern, dass Herr Erwin - jetzt Herr Klingenstein - aussagen kann. Er würde untermauern, was der Immunitätsausschuss 1998 als erwiesen festgestellt hat.
Da werden von dieser Stelle aus immer wieder hohe
politische und moralische Ansprüche formuliert - natürlich an die Adresse der anderen. Da werden Menschenrechte eingefordert. Das heißt heute hier: Erst ein Gericht musste urteilen, dass die Schweigepflicht des
Rechtsanwalts, auf die Herr Gysi sich immer wieder beruft, allein dem Schutz des Mandanten und nicht dem
Schutz des Anwalts dient. Da meint man doch, der gesunde Menschenverstand würde einen verlassen.
({6})
Da wird versucht, ausgetüftelt juristisch zu argumentieren. Schon 1998 hat der Immunitätsausschuss Gysis
inoffizielle Tätigkeit für das Ministerium für Staatssicherheit festgestellt, worüber hier schon mehrfach berichtet wurde. Es wird immer wieder so getan, als wenn
das eigentlich nicht so ganz richtig wäre. Deswegen wird
auch jeder, der dies als Tatsache behauptet, sofort mit
drastischen juristischen Sanktionen überzogen.
Diese Reihe ließe sich beliebig fortsetzen, etwa mit
dem heutigen Tickerdienst. Die absolute Spitzenmeldung
dort ist nicht, dass Herr Gysi zurücktreten muss, sondern
dass der Rücktritt von Frau Birthler gefordert wird. Das
schlägt eigentlich dem Fass den Boden aus.
({7})
Und: Herr Lafontaine fordert das. Wer noch ein bisschen
mit seinem Gedächtnis unterwegs ist, der denkt vielleicht: Das ist eine alte Verbundenheit zu Herrn
Honecker. Die hat es nämlich zweifellos einmal gegeben. Auch das sollte man an dieser Stelle nicht vergessen.
Wer Herrn Gysi in den letzten Jahren hier erlebt hat,
der hat sich vielleicht einen Augenblick darüber gewundert, dass das Zurückziehen dieser Berufung eigentlich
sehr ruhig, fast klammheimlich passiert ist. Es ist schon
ein bemerkenswerter Vorgang, dass sogar die taz am
22. Mai titelte - ich zitiere -: „Gregor, gib’s doch endlich zu!“
({8})
Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen.
Wenn man jetzt über Konsequenzen reden würde,
würde man den Rahmen einer Aktuellen Stunde sprengen. Aber man kann nach diesen Feststellungen eigentlich nicht zur Tagesordnung übergehen.
({9})
Nach wie vor stehen wir alle in der Verantwortung - gerade den Opfern der SED-Diktatur gegenüber -, Aufarbeitung so weit wie möglich und noch intensiver als
bisher weiterzubetreiben. Darauf hat auch Herr Waitz
hingewiesen. Die Arbeit der Birthler-Behörde ist dabei
ebenso unverzichtbar wie die Fortführung und Intensivierung der Arbeit der automatisierten virtuellen
Rekonstruktion der vorvernichteten Stasi-Unterlagen im
Fraunhofer-Institut, hier in diesem Hause als „Schnipselmaschine“ bekannt.
Meine Damen und Herren, meine Fraktion wird allen
Störmanövern, die jetzt schon zu bemerken sind und von
denen wir jetzt schon wissen, entgegenwirken - egal, aus
welcher Ecke und von welcher Seite sie kommen.
Vielen Dank.
({10})
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Wir damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 29. Mai 2008,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.