Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie sehr herzlich zu unseren heutigen Beratun-
gen. Wir können unmittelbar in die Tagesordnung ein-
steigen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 21 a und 21 b auf:
a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Migrationsbericht 2006
- Drucksache 16/7705 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Kultur und Medien
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Erfahrungsbericht der Bundesregierung zu
Durchführung und Finanzierung der Integrationskurse nach § 43 Abs. 5 des Aufenthaltsgesetzes
- Drucksache 16/6043 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Sie
sind damit einverstanden, wie ich sehe. Dann können wir
so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort Herrn Bundesminister Dr. Wolfgang
Schäuble.
({2})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das
Phänomen der weltweiten Migration - Ursache und
Folge zunehmender Globalisierung zugleich - tritt zunehmend an die Spitze auf der globalen politischen
Agenda. Ohne umfassende Analyse der Migration würden wir mit unseren Konzepten für Zuwanderung,
Flüchtlingsschutz und Integration nur schwer vorankommen. Deswegen brauchen wir aussagekräftige Statistiken
und Berichte zur Entwicklung des Migrationsgeschehens. Mit dem Migrationsbericht 2006 legen wir einen
umfassenden Überblick über die Entwicklung der Zuund Abwanderung, über die rechtlichen Hintergründe
der Zuwanderung und über die Struktur der ausländischen Bevölkerung und der Bevölkerung mit Migrationshintergrund vor.
Ich will ein paar Schlaglichter dieses Berichts kurz
nennen: Der Wanderungssaldo 2006 von Deutschen und
Ausländern war mit einem Plus von 23 000 Zuwanderern auf dem niedrigsten Stand seit 1984. Wir hatten
662 000 Zuzüge und 639 000 Fortzüge. Bei den Ausländern gab es einen Wanderungsüberschuss von rund
75 000 Personen. Bei den Deutschen gab es unter dem
Strich eine Abwanderung von 59 000 Personen. Hauptziel für deutsche Auswanderer - übrigens auch
Hauptherkunftsland von deutschen Rückkehrern - waren
die Vereinigten Staaten von Amerika.
Im Zeitraum seit Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes am 1. Januar 2005 bis Ende 2006 erhielten - auch
diese Zahl ist bemerkenswert - 1 123 hochqualifizierte
Ausländer eine Niederlassungserlaubnis nach § 19 Aufenthaltsgesetz. Es gab im Jahr 2006 gegenüber 2005 eine
leichte Steigerung bei der Ersteinreise von Hochqualifizierten. Der Anteil der ausländischen Bevölkerung an
der Gesamtbevölkerung liegt weiterhin bei rund 8,8 Prozent. Rund ein Viertel aller in Deutschland lebenden
Ausländer - es sind genau 25,6 Prozent - sind türkische
Staatsangehörige. Das ist damit die größte Gruppe ausländischer Zuwanderer in Deutschland. Knapp ein weiteres Viertel sind übrigens Bürger der Europäischen
Union: 24,4 Prozent.
Redetext
Noch eine Zahl: Im Jahr 2006 wurden 125 000 Personen eingebürgert, seit Inkrafttreten des neuen Staatsangehörigkeitsrechts im Jahre 2000 insgesamt rund
1 Million. Eine letzte Zahl: Im Jahr 2006 sind knapp
100 000 Personen mit einer dauerhaften Bleibeperspektive aus Staaten außerhalb der Europäischen Union zu
uns gekommen, davon 56 302 im Wege des Familiennachzugs, 7 747 Spätaussiedler, 29 466 zum Zwecke der
Beschäftigung usw. Sie sehen an diesen Zahlen, dass
sich bei Menschen mit einer dauerhaften Bleibeperspektive die Notwendigkeit der Integration stellt; denn bei
Zuwanderung mit der Perspektive, dauerhaft zu bleiben,
ist es entscheidend, dass die Integration gelingt.
Die Zahlen, von denen der Migrationsbericht viele
enthält - ein paar habe ich genannt -, belegen - deswegen habe ich sie so ausgewählt -, dass zur Dramatisierung in mancherlei Richtung nicht zu viel Anlass besteht. Durch die Zahlen kann man die Dinge vielmehr
wieder auf den realen Kern zurückführen.
Wir wissen, dass die Defizite, die wir im Bereich der
Integration haben, nicht durch die aktuellen Zuwanderungszahlen begründet sind. Wir wissen, dass diese Defizite vor allen Dingen bei Menschen der zweiten und
dritten Generation bestehen, also bei Menschen, deren
Eltern oder Großeltern vor Jahrzehnten zugewandert sind.
Deswegen war es richtig - ich will daran erinnern -, dass
die Bundeskanzlerin in ihrer Regierungserklärung zu
Beginn dieser Legislaturperiode die Bekämpfung der
Integrationsdefizite innerhalb der zweiten und dritten Generation zu einem Schwerpunkt der Politik in
dieser Legislaturperiode erklärt hat. Die vielfältigen
Bemühungen von Bund, Ländern, Kommunen und Zivilgesellschaft - Sport und vieles andere mehr -, die es
diesbezüglich gibt, werden durch die Integrationsbeauftragte, die Kollegin Böhmer, koordiniert. Ich will darauf
hinweisen, dass diese Bemühungen auch im Rahmen des
Integrationsgipfels Schritt für Schritt vorangebracht werden. Ich glaube, dass wir schon ein gutes Stück vorangekommen sind.
({0})
Die Bemühungen des Bundes sind nur ein Teil der Integrationsmaßnahmen; das muss man immer berücksichtigen. Die wichtigste integrationspolitische Einzelmaßnahme des Bundes ist der Integrationskurs. Im
Jahr 2008 haben wir dafür Haushaltsmittel in Höhe von
insgesamt rund 155 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Die Integrationskurse sollen dazu beitragen, dass
Ausländer die Chancen, die unser Land allen bietet, besser nutzen können. Die Kurse sollen die gleiche Teilhabe
dieser Menschen an unserer Gesellschaft stärken. Die Integrationskurse sind ein Erfolg. Seit 2005 haben über
27 000 Kurse begonnen. 185 000 Teilnehmer haben den
Kurs bereits abgeschlossen. Wir evaluieren von Anfang
an und beständig. Aus diesen Studien ziehen wir immer
wieder Konsequenzen im Sinne von Verbesserungen:
Wir haben die Stundenkontingente flexibler gestaltet,
das Verfahren entbürokratisiert und finanzielle Anreize
geschaffen; so wird beispielsweise nach erfolgreicher
Teilnahme der Kostenbeitrag teilweise zurückerstattet.
Das ist ein fortlaufender Prozess, wir kommen damit
voran.
Ich will eine Bemerkung zur Sprache machen. Das
Beherrschen der deutschen Sprache ist zwar keine hinreichende Voraussetzung für gelingende Integration,
aber es ist eine notwendige, damit Bildungschancen und
Chancen auf dem Arbeitsmarkt genutzt werden können.
Chancen im Bildungssystem und auf dem Arbeitsmarkt
sind natürlich die eigentliche Voraussetzung für gelingende Integration. Sprachkenntnisse sind aber unerlässlich, damit diese Chancen genutzt werden können; deswegen ist das so wichtig.
Wir haben beschlossen, dass auch die Eltern der Kinder, insbesondere die Mütter, die deutsche Sprache lernen sollen. Das ist notwendig - das sagen insbesondere
die Lehrer der Schulen, die davon besonders betroffen
sind -, damit wir nicht in jeder Generation wieder von
vorne anfangen müssen. Deswegen haben wir im Zusammenhang mit dem Familiennachzug gesagt: Es ist
besser, wenn bei Einreise zumindest ein Minimum an
deutschen Sprachkenntnissen vorhanden ist.
({1})
Wir kommen damit voran. Ich habe mir das in der Türkei
im vergangenen Jahr genau angeschaut. Die anfänglich
befürchteten Schwierigkeiten sind längst weitgehend
verschwunden. Es funktioniert und wirkt sich in der Praxis Schritt für Schritt aus.
Das bringt mich zu einer anderen Bemerkung: Integration kann nur gelingen, wenn sie als Prozess der Gegenseitigkeit verstanden wird. Wir brauchen Fördern
und Fordern. Wir brauchen die Bereitschaft der Aufnahmegesellschaft zur Offenheit, die Bereitschaft der Aufnahmegesellschaft, Zuwanderer aufzunehmen. Wir brauchen aber auch die Bereitschaft der Zuwanderer bzw. der
Zugewanderten, in diesem Land heimisch werden zu
wollen. Auch das ist unerlässlich; das muss man sagen.
({2})
Wir wollen nicht - dazu ist Deutschland viel zu dicht
besiedelt und Europa viel zu kleinräumig und kleinteilig Parallelgesellschaften entstehen lassen. Das ist das Gegenteil von gelingender Integration. Das ist keine gute
Voraussetzung dafür, dass Toleranz, Offenheit und
Friedlichkeit in unserem Land bewahrt werden. Wir wollen keine Parallelgesellschaften, sondern Integration;
darauf müssen wir setzen.
({3})
Angesichts von Erfahrungen mit Medien, die wir
etwa im Zusammenhang mit der Brandkatastrophe in
Ludwigshafen gemacht haben, will ich noch einmal sagen: Es gibt auch eine Verantwortung der Medien.
Verzerrende Mediendarstellungen solcher Ereignisse,
beispielsweise auch in türkischen Zeitungen, dienen
nicht der Integration; sie fördern das Gegenteil. Jeder
muss seine Verantwortung wahrnehmen, der Staat alleine kann es nicht.
({4})
Deswegen will ich im Hinblick auf die viel diskutierte, vielleicht auch ein bisschen missverständliche
Rede von Premierminister Erdogan eine Bemerkung machen; Wahlkampfreden haben es gelegentlich an sich,
dass sie im politischen Streit ein bisschen aufgeladen
werden.
({5})
- Ich sagte ja deswegen gerade: „Hängt es ein bisschen
tiefer!“
({6})
- Sage ich doch. Ich habe nichts Gegenteiliges gesagt.
Ich wollte nur eines dazu sagen: In dieser Rede und
der Debatte dazu ist klargeworden, dass es wichtig ist,
sich dazu zu bekennen, dass wir den Menschen nicht auf
Dauer die Entscheidung ersparen können, ob sie ihre bisherige Staatsangehörigkeit behalten oder eine neue beantragen wollen. Das ist für Zuwanderer, die auf Dauer
zuwandern, eine schwere Entscheidung. Sie fällt Menschen niemals leicht; aber sie kann ihnen nicht erspart
werden. Wenn man die Entscheidung verweigert, dann
erfüllt man nicht die Grundvoraussetzung, die notwendig ist, damit Integration, Anpassung und Heimischwerden in der neuen Heimat gelingen.
Es war daher richtig, dass wir die Einführung der regelmäßigen doppelten Staatsangehörigkeit verhindert haben und jetzt - das habe ich mit der türkischen Regierung
verabredet - mit der türkischen Regierung zusammenarbeiten, damit Probleme im Alltag und im konkreten
Verwaltungsvollzug bei der Umsetzung der Optionslösung verhindert werden können.
Ich will in aller Kürze noch eine Bemerkung zu einem
weiteren Thema machen. Ein spezieller Aspekt von Migration und Integration ist die Tatsache, dass der Islam
ein Teil unseres Landes geworden ist. Dem tragen wir
mit der Islamkonferenz Rechnung, in deren Rahmen
wir versuchen, die Thematik aufzuarbeiten. Darüber haben wir vielfältig diskutiert und werden es weiter tun
müssen. Ich finde, dass wir mit dem Prozess, den wir
durch diesen Dialog zwischen Bund, Ländern und Kommunen sowie der vielfältigen pluralen Gemeinschaft von
Muslimen in unserem Lande auf den Weg gebracht haben, insgesamt gut vorangekommen sind.
Das wird im Übrigen insbesondere durch den Streit,
der dort vielfältig stattfindet, sichtbar. Denn Streit und
plurale Debatten sind Voraussetzung für offene demokratische Prozesse. Deswegen stört mich dieser Streit
nicht. Ich sehe es vielmehr als einen Fortschritt, dass die
Vielfalt von muslimischem Leben in unserem Lande
Muslimen wie der Mehrheitsgesellschaft durch diese
vielfältigen Debatten sichtbar wird. Auch wenn wir noch
nicht zu einem Ergebnis gekommen sind, weiß ich: Das
ist genau der richtige Weg, damit Integration gelingt.
Im Übrigen haben wir eine Reihe von wichtigen Vereinbarungen zustande gebracht. Die Voraussetzungen für
die Erteilung von Religionsunterricht als Bekenntnisunterricht im Sinne von Art. 7 des Grundgesetzes, wenn er
denn gewünscht wird, wurden in der Partnerschaft geschaffen. Wir haben gemeinsame Erklärungen über
Grundrechte, Grundwerte und Grundverständnisse unserer Verfassung mit allen Vertretern in der Islamkonferenz
verfasst; unter anderem auch dazu, dass islamistische
Bestrebungen, das heißt, der Missbrauch der Religion zu
Zwecken gewalttätiger Auseinandersetzungen, zu bekämpfen sind. Wir sind also insgesamt auf einem guten
Weg vorangekommen.
Ich will eine letzte Bemerkung machen, weil auch
dies in den Zusammenhang von Migration und Integration gehört. In einem Europa der offenen Grenzen können wir Migrationspolitik nicht mehr alleine national
steuern. Deswegen brauchen wir eine gemeinsame europäische Politik zur Bekämpfung illegaler Migration.
Wir haben gemeinsame Außengrenzen, wir brauchen
eine gemeinsame Flüchtlingspolitik. Wir bleiben dabei,
dass die Frage der Steuerung legaler Migration in den
Arbeitsmarkt Sache der Mitgliedstaaten bleibt, die die
Kompetenz für den Arbeitsmarkt haben. Natürlich gibt
es in der Partnerschaft mit Herkunfts- und Transitstaaten, die man braucht, um die Schleuserkriminalität zu
bekämpfen, auch Verbindungen zwischen der Steuerung
legaler und der Bekämpfung illegaler Migration. Dabei
müssen wir auch die Interessen der Dritten Welt, der
Herkunftsländer bedenken. Das nennt man dann strukturierte Migration. Und wenn wir dies tun, sehen wir auch
den Zusammenhang zwischen Migration und globaler
Verantwortung. Wenn wir eine solche Gesamtkonzeption
der Migrationspolitik verwirklichen, dann werden wir
unserer Verantwortung für die Zukunft gerecht.
Vielen Dank.
({7})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Sibylle Laurischk
für die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Herr Minister Schäuble, Sie haben gerade das
Thema Auswanderung angesprochen. Wir sollten nicht
vergessen, dass die Auswanderung in die Schweiz insbesondere in unserer südbadischen Heimat mittlerweile
bedeutsam geworden ist. Die Schweiz hat wohl einen
Standortvorteil. In der Schweiz wird gut verdient, und
auch die Arbeitsbedingungen sind gut - das gilt insbesondere für diejenigen, die im Gesundheitswesen tätig
sind -, sodass immer mehr Deutsche ihren Arbeitsplatz
und ihren Wohnort dort nehmen.
Deutschland wird vielfältiger; dieses Phänomen heißt
auf Neudeutsch „Diversity“. Der aktuelle Migrationsbericht zeigt dies klar auf. Der Anteil der Bevölkerung, der
einen Migrationshintergrund hat, steigt kontinuierlich. In
Großstädten ist in weiterer Zukunft mit einer Größenordnung von 40 bis 50 Prozent zu rechnen. Daran wird deutlich, dass die Integrationspolitik eine der wichtigsten gesellschaftspolitischen Herausforderungen der Zukunft
ist.
Die Tatsache, dass Migration stattfindet, wurde mit
dem Satz „Deutschland ist kein Einwanderungsland.“
lange Zeit schlichtweg geleugnet. Andere hingegen fanden „Multikulti“ besonders schick. Die Grünen lehnten
noch vor zwei Jahren tatsächlich das Sprechen der deutschen Sprache auf Berliner Schulhöfen ab.
({0})
Plötzlich mussten Migrantenkinder ihr Deutschsprechen
gegen die vermeintlich politisch Korrekten verteidigen.
Das war verkehrte Welt.
({1})
Tatsächlich erfolgt Integration über die Kenntnis der
deutschen Sprache. Viele Migranten haben aber keine
ausreichenden Deutschkenntnisse, auch wenn sie in
Deutschland aufgewachsen und hier zur Schule gegangen sind. Dies hat nichts mit der Schulart zu tun, sondern
ist ausschließlich auf die Intensität der Förderung zurückzuführen.
Die FDP will, dass Kinder so früh wie möglich gefördert werden. Entscheidend ist dabei die durchgängige,
systematische Sprachförderung: vom Kindergarten über
die Schule bis hin zur beruflichen Bildung. Der Schlüssel zum Bildungserfolg und damit zum Zugang zur Arbeitswelt ist die Kenntnis der deutschen Sprache.
Sprachstandstests dienen einer frühen Problemanalyse,
die allerdings auch Konsequenzen haben muss. Statt versäumte Bildungsangebote nachzuholen, müssen wir Kinder und Jugendliche früh für ein Leben in und nicht am
Rande unserer Gesellschaft fit machen. Hier sind auch
die Länder gefordert. Wir wissen: Wer am Anfang spart,
legt am Ende drauf.
Gleiches gilt für die nachholende Integration lange
hier lebender Migranten und neuer Zuwanderer. Das Ziel
der Sprachkurse, die im Rahmen der Integrationsbemühungen durchgeführt werden, ist dann erreicht, wenn
sich die Kursteilnehmer im täglichen Leben in ihrer Umgebung sprachlich selbstständig zurechtfinden, entsprechend ihrem Alter und Bildungsstand ein Gespräch führen und sich schriftlich ausdrücken können. Dieses B 1
genannte Niveau wird mit den geltenden 900 Lernstunden nicht erreicht. Die Praxis zeigt deutlich, dass es der
Mehrzahl der Kursabsolventen nicht möglich ist, das angestrebte Niveau nach 900 Lernstunden zu erreichen.
Die FDP fordert deshalb, dass im Rahmen der Integrationskurse 1 200 Unterrichtsstunden durchgeführt
werden. Außerdem sollte die Möglichkeit geschaffen
werden, innerhalb dieser Stundenzahl ein höheres
Sprachniveau als B 1 zu erreichen, um letztendlich insbesondere beruflich qualifizierten Migranten die Arbeitsaufnahme zu erleichtern.
Das Unterrichtsniveau hängt natürlich auch von einer
angemessenen Bezahlung der Lehrkräfte ab. Es kann
nicht angehen, dass qualifizierte Lehrkräfte Einkünfte
auf Hartz-IV-Niveau beziehen. Das ist ein falsches Signal. Der Integrationsarbeit muss eine angemessene
Wertschätzung entgegengebracht werden.
({2})
Herr Innenminister, ich lade Sie ein, sich einmal die konkrete Situation in unserem Wahlkreis gemeinsam mit mir
anzuschauen.
({3})
Lassen Sie mich jetzt noch das Thema Ehegattennachzug ansprechen. Die Bundesregierung hat nach
Auffassung der FDP mit dem neuen Zuwanderungsrecht
Ehen zweiter Klasse geschaffen. Hier müssen die nachziehenden Ehegatten in ihrem Heimatland Deutsch gelernt haben, während das für andere nicht gilt.
Die Frühjahrskonferenz der Integrations- und Ausländerbeauftragten der Länder hat Ende April dieses Jahres
festgestellt, dass sich diesbezüglich einige Schwierigkeiten ergeben haben und dass eine Bewertung der tatsächlichen Auswirkungen dieser Gesetzeslage notwendig ist
({4})
bzw. dass in begründeten Ausnahmefällen eine Einreise
ohne Sprachnachweis ermöglicht werden sollte. Erweist
sich das neue Gesetz bereits als nicht tragfähig? Unsere
Anstrengungen müssen doch dahin gehen, Frauen in ihrem Potenzial zur Integration gerade der Familie und der
Kinder zu stärken und nicht auszugrenzen.
Unverzichtbar für eine gelingende Integration bleibt
die Unvoreingenommenheit gegenüber und die Akzeptanz von Migranten; denn sie bedeuten für diese Gesellschaft Zukunft und Entwicklung.
Ich empfehle die Lektüre dieser beiden Berichte. Eine
moderne Gesellschaft braucht Vielfalt, nicht Einfalt.
({5})
Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege
Rüdiger Veit.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Als ich zu dieser Debatte kam, traf ich draußen den Kollegen Josef Winkler. Wir schätzten übereinstimmend ein
- das ist bisher auch wahr geworden -, dass diese Debatte nicht besonders streitig werden wird. Natürlich bieRüdiger Veit
ten die nüchternen Zahlen nur bedingt Material für
Streit; aber auf einige unterschiedliche Schlussfolgerungen muss man meines Erachtens hier und da auch hinweisen. Wir sprechen unter anderem über den Erfahrungsbericht zu den Integrationskursen. Die Sicht der
SPD-Fraktion dazu wird Ihnen mein Kollege Michael
Bürsch nachher noch einmal im Einzelnen darlegen.
Aber lassen Sie mich zu Beginn an Folgendes erinnern: Die Einführung dieser Integrationskurse ist ein
Verdienst und eine Initiative der früheren rot-grünen Regierung und der sie tragenden Mehrheiten.
({0})
Ich bin ausdrücklich sehr froh darüber, Herr Kollege
Grindel, dass unser nicht mehr ganz so neuer, aber jedenfalls anderer Koalitionspartner fest an unserer Seite
steht, wenn es um die Fortentwicklung der Integrationskurse geht. Ich halte die gemeinsam gefundene Formulierung zu der Integrationskursverordnung für ein gutes
Beispiel,
({1})
denn immerhin haben wir auf diesem Gebiet noch einiges zu leisten: Wir wissen vom Bundesamt in Nürnberg,
dass es immer noch etwa 1,6 Millionen Erwachsene und
circa 850 000 Jugendliche gibt, bei denen wir uns darüber freuen würden, wenn sie ein Integrationsangebot
annehmen würden.
Den Migrationsbericht könnte man in seinem Zahlenwerk unter das Motto stellen: Die Zeit ist reif. Sie ist reif
für einen Umdenkprozess aller wirtschaftlichen und politischen Kräfte in der Bundesrepublik, und zwar unter
Einschluss aller Innenminister und -senatoren der Länder. Reif ist die Zeit schon deswegen, weil wir nach der
Bevölkerungsprognose, die ebenfalls in diesem Bericht
enthalten ist, im Jahr 2050 mehr als ein Viertel der Bevölkerung verloren haben werden, falls wir uns nicht um
Gegensteuerung bemühen. Übrigens würde auch die
Entwicklung unserer Altersstruktur ohne Migration noch
weitaus ungünstiger verlaufen. Ich mache darauf aufmerksam, dass fast drei Viertel der ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger, die zu uns kommen und die
zu uns gekommen sind, unter 40 Jahre alt sind. Bei der
Stammbevölkerung trifft dies nur auf knapp die Hälfte
zu.
Der Minister hat richtigerweise darauf hingewiesen,
dass der sogenannte Wanderungssaldo, also der Überschuss der Zuzüge, im Jahre 2006 gerade noch
23 000 Menschen betragen hat.
({2})
In der Tat haben wir, auch wenn hier und da Überfremdung beklagt wird, aufgrund dieser Zahlen keinen
Grund, etwas zu dramatisieren. Aber wir müssen uns angesichts der von mir angesprochenen Bevölkerungsentwicklung Gedanken über angemessene Gegenstrategien
hierzu machen.
Dazu bilde ich einen Vergleich zu den Jahren 1991
und 1992. Wir hatten 1991 einen Wanderungssaldo von
circa 600 000 Menschen und im Jahr 1992 sogar von fast
800 000 Menschen, also mehr Zuzüge als Fortzüge. Beispielsweise sind in den Jahren 1997 und 1998 Ausländer
in größerer Zahl aus Deutschland weggezogen, als sie zu
uns gekommen sind. Die Zahl der Deutschen, die ausgewandert sind, hat übrigens mit 150 000 im Jahr 2006 ihren Höchststand seit 1954 erreicht.
Ein wenig abgrenzend zu Ihren Ausführungen, Herr
Minister, mache ich an dieser Stelle aber doch auf zwei
Dinge aufmerksam: Hinsichtlich des Familiennachzugs
sollten wir uns gemeinsam Gedanken über seine Förderung machen, statt ihn noch weiter zu begrenzen; denn
die mit ihm verbundene Möglichkeit, mit Familie hier
leben zu können, hat auch etwas mit Integration zu tun.
Auch hierzu einmal die Zahlen: 2002 sind zum Zwecke
der Familienzusammenführung 85 000 Visa erteilt worden. 2006 waren es nur noch rund 50 000 Visa. Die Zahl
der Visa, die an türkische Staatsbürger ausgestellt wurden, hat sich im gleichen Zeitraum übrigens halbiert; es
sind gerade noch 12 000 Visa pro Jahr.
Was Ihre Ausführungen zur doppelten Staatsbürgerschaft angeht, Herr Minister, will ich auf den Widerspruch aufmerksam machen, dass auch im Lichte des
neuen Staatsbürgerschaftsrechts, das wir geschaffen haben - Sie haben die doppelte Staatsbürgerschaft bekämpft -, aufgrund der verschiedensten Umstände immer noch über 50 Prozent der Eingebürgerten ihre
Staatsangehörigkeit als zweite Staatsangehörigkeit behalten. Auch hier gibt es also keinen Grund, zu dramatisieren. Wir haben vielmehr Anlass dazu, uns auch darüber noch einmal Gedanken zu machen, nicht nur was
die Frage der verwaltungsmäßigen Abwicklung angeht.
Ich habe darüber gesprochen, wie sich der Bevölkerungsrückgang bis zum Jahre 2050 vollziehen wird.
Selbst wenn wir jährlich 200 000 Menschen mehr bei
uns aufnehmen als von uns wegziehen, wird unsere Bevölkerung von heute 82 Millionen auf 74 Millionen zurückgehen. Außerdem muss man sehen, dass wir die genannte Größenordnung von 200 000 Menschen weder
mit einer Greencard noch mit der von der EU geplanten
Bluecard erreichen werden; da werden wir uns schon
mehr einfallen lassen müssen.
Es geht aber nicht nur um Arbeitsmigration: Auch bei
der Aufnahme von Flüchtlingen haben wir keinerlei
Anlass, etwaige hartherzige Abschottungstendenzen in
aller Zittrigkeit und Ängstlichkeit aufrechtzuerhalten. Es
macht - wie ich mich darzulegen bemüht habe - auch in
unserem wohlverstandenen wirtschaftlichen Interesse
Sinn, Menschen aufzunehmen. Gegenwärtig nehmen wir
gerade noch 20 000 Flüchtlinge im Jahr auf. Wir erinnern uns, dass das früher ganz anders war. Die Hauptlast
tragen heute die Mittelmeeranrainer, und das, wie wir
wissen, nicht immer vorbildlich im Hinblick auf humanitäre Standards, wie wir sie kennen.
Ein kleiner Exkurs an dieser Stelle: Wir von der SPDFraktion finden es ausgesprochen richtig, dass sich vor
dem Hintergrund dieser Zahlen der deutsche Innenminister und andere aus seiner Partei Gedanken machen,
ob wir nicht gut daran täten, Flüchtlinge aus dem Irak
bzw. Menschen, die aus dem Irak nach Jordanien oder
Syrien geflüchtet sind, aufzunehmen. Die SPD-Fraktion
würde das allerdings nicht gern nur auf verfolgte Christen beschränkt sehen. Wenn wir schon an der Religion
anknüpfen, sollten wir das auf alle religiösen Minderheiten aus dem Irak, die nicht muslimischen Glaubens sind,
ausweiten.
({3})
Wenn es Ihnen, Herr Minister Schäuble, gelingt - das
wünschen wir Ihnen -, diese Initiative, die die Aufnahmekapazität und -bereitschaft aller europäischen Staaten
betrifft, zu verbreitern, können wir uns auch Gedanken
darüber machen, wie wir weitere besonders schutz- und
betreuungsbedürftige Flüchtlinge von dort bei uns aufnehmen.
Lassen Sie mich gegen Ende meiner Ausführungen
ein Thema ansprechen, von dem Sie wissen, dass ich es
immer wieder anspreche, nicht nur weil Wiederholung
nach pädagogischen Grundsätzen ein wesentliches Element der Vertiefung ist, sondern auch deswegen, weil
man das der Bevölkerung, an die sich der Migrationsbericht ja richtet, deutlich sagen muss. Ich weiß, dass ich
damit bei vielen, über Parteigrenzen hinweg, offene Türen einrenne. Ich sage das aber auch und gerade wegen
der Erfahrungen, die ich mit manchen Innenministern
und -senatoren gemacht habe: Meine Damen und Herren, es macht doch keinen Sinn - Stichwort Beseitigung
von Kettenduldungen und Bleiberechtsregelung -, Kinder und Jugendliche, die in Deutschland geboren, die
hier aufgewachsen, die hier zur Schule gegangen sind,
ihrer Heimat - Deutschland ist ihre Heimat - zu berauben und sie samt ihren Eltern abzuschieben
({4})
und dafür andere, die wir zur Stabilisierung unseres Sozialversicherungssystems oder zur Aufrechterhaltung
unserer Wirtschaftsordnung brauchen, mit großem Kostenaufwand, mit großem Zeitaufwand anzuwerben und
sie langwierig zu integrieren. Wenn jemand schon hier
ist und gut integriert ist, sollte er bleiben können.
({5})
Wir wissen, dass durch die gesetzliche Bleiberechtsregelung - über die ich mich gefreut habe - mittlerweile rund
12 000 Personen begünstigt worden sind; das sind die
Zahlen vom Jahresende 2007, wenige Monate vorher trat
die Regelung inkraft.
Mein aufrichtiger Wunsch an Sie alle ist: Wir sollten
uns vom Bundesinnenminister und von den Landesinnenministern sowie -senatoren die Zahlen für das erste
Halbjahr 2008 bald geben lassen und auswerten, damit
wir wissen, ob wir das ausreichend ausgestaltet haben
oder ob wir unter Umständen noch etwas verbessern
müssen. Ich würde mir an dieser Stelle und im Lichte der
Zahlen dieses Migrationsberichtes jedenfalls wünschen,
dass alle, die mit der Anwendung dieses Rechts befasst
sind, nicht eng- bzw. hartherzig, sondern großzügig und
vernünftig handeln, damit diese Menschen, die zum Teil
schon seit vielen Jahren hier leben, auch eine Perspektive in Deutschland behalten.
({6})
Wir haben jetzt alle Zeit, zu handeln. Ich sagte schon:
Die Zeit ist reif. Die Zahlen liegen vor, und wir können
an dieser Stelle auch und gerade für unsere gesamte Bevölkerung Gutes und Richtiges tun.
Danke sehr.
({7})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Sevim Dağdelen
für die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Manchmal lohnt es sich, einen Blick
auf die vorliegenden Drucksachen zu werfen. Auf
Seite 5 der Drucksache 16/7705 heißt es nämlich:
Der Migrationsbericht der Bundesregierung verfolgt das Ziel, durch die Bereitstellung möglichst
aktueller
- aktuell sind sie ja nicht mehr -,
umfassender und ausreichend detaillierter statistischer Daten über Migration Grundlagen für die Entscheidungsfindung von Politik und Verwaltung im
Bereich der Migrationspolitik zu liefern. Zudem
möchte er die Öffentlichkeit über die Entwicklung
des Migrationsgeschehens informieren.
Wenn ich mir den Migrationsbericht 2006 daraufhin anschaue, stelle ich fest - hier muss ich mich Herrn Bundesminister Schäuble oder auch meinem Vorredner
anschließen -, dass es einen stetigen Rückgang bei den
Zuwanderungszahlen gibt.
Schauen wir uns einmal an, welche Ziele mit dem Zuwanderungsgesetz - es liegt sozusagen auch der vorliegenden Drucksache zugrunde - verfolgt werden:
Erstens. Eine Zuwanderung soll möglichst verhindert
werden. Laut Migrationsbericht gelingt das anscheinend
auch.
Zweitens. Wenn es überhaupt zur Zuwanderung
kommt, dann sollten es zumindest Menschen sein, die im
hiesigen Wirtschaftsprozess eine verwertbare Leistung
erbringen bzw. nützlich sind.
Manchmal kann man Politik aus einem Bauchgefühl
heraus gestalten, oder sie entsteht aus religiösen Sätzen
oder aber aus wissenschaftlichen Erkenntnissen oder der
Empirie bzw. Untersuchungen. Ich muss aber leider feststellen, dass die Politik der Bundesregierung weit von
den Fakten entfernt ist.
Erinnern wir uns und schauen wir uns einmal an, welche Einbürgerungspolitik gerade auch im Frühjahr
2006 betrieben wurde. Die Politikerinnen und Politiker
überboten sich fast schon hysterisch mit ihren Vorschlägen, einbürgerungswilligen Migranten mit Wissenstests,
Wertetests, Gesinnungstests, Staatsbürgerkursen oder
auch Einbürgerungsgesprächen zu Leibe zu rücken, um
zu überprüfen, ob sie eine rechtschaffene Gesinnung haben.
({0})
Oft überschritt das Niveau ihrer Argumente nicht das
Niveau der Parolen, die an Stammtischen von sich gegeben wurden. Wenn man sich den Bericht der Bundesregierung anschaut, dann erkennt man, dass Sätze wie
„Wir entscheiden, wer Deutscher ist“ und „Wir lassen
nicht jeden hinein“ - die Kanzlerin sprach von einer
Staatsbürgerschaft zu Ramschpreisen oder gar im Vorbeigehen - unerträglich sind und überhaupt keine materielle Basis haben.
({1})
Die Einbürgerungszahlen sinken stetig; das wissen
Sie auch. Das wird auch durch diesen Bericht gezeigt.
Im Jahr 2006 lagen die Einbürgerungszahlen nämlich
weit unter denen des Jahres 1999. 1999, also noch vor
der sogenannten Reform des Staatsangehörigkeitsgesetzes, gab es etwa 143 000 Einbürgerungen, 2006 waren
es dann 125 000. Obwohl dies mehr Einbürgerungen als
im Jahr 2005 waren, wird es hier keine Trendwende geben. Das hat die Bundesregierung im letzten Jahr durch
weitere Verschärfungen der Einbürgerungsvoraussetzungen bereits sichergestellt.
Es wundert auch nicht, dass die Bundesrepublik im
europäischen Vergleich trotz der leicht höheren Einbürgerungszahl in 2006 schlecht abschneidet. Durch die im
Oktober 2007 veröffentliche Untersuchung des British
Council und der Migration Policy Group wird der Bundesrepublik für die Integrationspolitik insgesamt nur
europäisches Mittelmaß bescheinigt. Denn die Einbürgerungsquote bei Migrantinnen und Migranten beträgt bei
uns nur 1,7 Prozent.
Die Linke fordert radikale Erleichterungen bei der
Einbürgerung, damit hier lebende Menschen nicht nur
Pflichten erfüllen müssen - was sie tun -, sondern auch
ihre staatsbürgerlichen Rechte erhalten.
({2})
Ein entsprechender Antrag liegt bereits seit längerem
vor.
Lassen Sie uns auf die Asylanerkennungspraxis eingehen. Auch sie sieht - gerade auch im Hinblick darauf,
dass sich in diesem Monat die faktische Abschaffung des
Asylrechts zum 15. Mal jährt - nicht berauschend aus.
Damals gab es eine sehr schlimme Stimmung in diesem
Lande. Ich erinnere mich noch sehr genau daran, weil
die Ereignisse in Solingen und Mölln dazu geführt haben, dass ich mich politisch in der antifaschistischen Arbeit engagiert habe.
Die Zahl der Asylanträge hat einen historischen Tiefstand erreicht. Das ist kein Wunder. Deutschland wird
schließlich nicht nur am Hindukusch verteidigt. Deutsche Interessen gibt es mittlerweile auch auf Lampedusa
und Lanzarote. Wie Herr Schäuble bereits deutlich gemacht hat, ist eine gemeinsame europäische Migrations- und Flüchtlingspolitik notwendig.
Aber statt die Ursachen für die Flucht von Menschen
zu bekämpfen oder nach humanitären Lösungen zu suchen, wird die EU-Grenze immer weiter militarisiert.
Hunderte von Toten werden an den Außengrenzen Europas billigend in Kauf genommen ebenso wie - das zeigen die Statistiken - die über 7 000 Toten im Mittelmeer.
({3})
Das ist die Folge der repressiven Flüchtlingspolitik, die
in Deutschland und auch in Europa betrieben wird, zum
großen Teil forciert durch die deutsche Bundesregierung.
({4})
Nur noch wenige Flüchtlinge erreichen die Bundesrepublik, um überhaupt einen Asylantrag stellen zu können. Trotzdem ist die Anerkennungspraxis restriktiver
denn je. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
hebt sogar die Anerkennungen nach Art. 16 a des
Grundgesetzes auf. Insofern fordert die Linke eine humanitäre Flüchtlingspolitik und die Beendigung dieser
skandalösen Praxis.
({5})
Sie haben festgestellt, dass die Sprache ein wesentliches Mittel für die Integration ist. Deshalb haben Sie die
Regelungen zum Ehegattennachzug geändert. Schon
dem Migrationsbericht 2006 ist ein deutlicher Rückgang
zu entnehmen, und zwar von einst rund 64 000 im Jahr
2002 auf nicht einmal mehr 40 000 im Jahr 2006. Die
Kinder sind hier nicht eingerechnet.
Der Rückgang in diesem Zeitraum hatte sicherlich
auch mit dem EU-Beitritt vieler Staaten zu tun. Das sieht
im letzten Jahr anders aus. Das hat mein Kollege Veit bereits deutlich gemacht. Vom dritten auf das vierte Quartal 2007 betrug der Rückgang laut einer Antwort auf eine
Kleine Anfrage meiner Fraktion allgemein 40 Prozent
und beim Ehegattennachzug aus der Türkei sogar fast
68 Prozent. Das liegt an den von der Bundesregierung
neu eingeführten Nachzugsbarrieren wie den Sprachanforderungen. Diese müssen nun bereits im Herkunftsland erworben werden. Unter welchen Umständen dies
geschieht, ist der Bundesregierung völlig egal.
Die Linke hat das bereits bei der Novellierung angemahnt. Selbst die Ausländerbeauftragten der Bundesländer haben uns auf ihrer Tagung Ende April in
Mainz unterstützt und gerade beim Ehegattennachzug
Sevim DaðdelenSevim Dağdelen
Verbesserungen gefordert. Diese Regelung gehört abgeschafft, und zwar sofort.
({6})
Leider kann ich aber der Bundesregierung nicht einmal in der Integrationspolitik das Motto „Einwanderung
nein - Integration ja“ unterstellen. Das wird auch im Migrationsbericht deutlich. Denn ihre Politik ist von national-kulturellen Hegemonisierungs- und Homogenisierungsversuchen geprägt. Verbesserungen im Hinblick
auf eine strukturell soziale Gleichstellung sind bei der
Bundesregierung jedenfalls nicht erkennbar.
Der zentrale Glaubenssatz der deutschen Integrationspolitik - den leider auch die FDP als Oppositionspartei
übernommen hat - lautet: Das Erlernen der deutschen
Sprache ist der Schlüssel zur Integration. So wird Integration im Wesentlichen auf das Beherrschen der deutschen Sprache reduziert. Doch wie Wilhelm Heitmeyer
in der FAZ vom 3. April 2006 festgestellt hat:
Wenn Sprache so betont wird wie derzeit, kann sie
auch zu einem neuen Ausgrenzungskriterium werden, statt, wie plötzlich behauptet wird, ein Integrationsinstrument.
({7})
Ich kann nur empfehlen, diesen Artikel zu lesen.
Die kritische Auseinandersetzung mit den seit
Januar 2005 angebotenen Integrationskursen mündete
in den Erlass einer neuen Integrationskursverordnung.
Wir begrüßen zwar die Erhöhung des Stundensatzes,
können aber leider nicht dahinter stehen, weil es einer
Erhöhung des Stundensatzes um 3 Euro und einer Senkung der Teilnehmerzahl auf maximal fünfzehn bedarf.
Nicht ohne Ironie ist, dass nun die Zulassung von Kursträgern mit Auflagen erteilt werden kann. Das betrifft
insbesondere die Regelungen zur Vergütung der Lehrkräfte. Dahinter verbirgt sich nichts anderes, als dass das
BAMF den Trägern einen Mindestlohn verordnen kann.
Die Bundestagsfraktion Die Linke begrüßt natürlich einen gesetzlichen Mindestlohn. Wir fordern ihn seit eh
und je. Angesichts der unzureichenden Finanzierung der
Träger ist dies allerdings nicht realistisch.
Ich komme zum Schluss. Integration ist weitaus mehr
als nur Sprache. Integration ist eine soziale Frage.
Schauen Sie sich die Statistiken und die Zahlen an! Exzellente Bildungsabschlüsse von Migrantinnen und Migranten führen nicht automatisch dazu, dass sie einen
Ausbildungsplatz oder einen Arbeitsplatz bekommen.
Das heißt, es hängt nicht von der Sprache, sondern von
den strukturellen Rahmenbedingungen ab. Schaffen Sie
entsprechende Rahmenbedingungen! Sorgen Sie für
gleiche Teilhabe sowohl in der Bildung als auch in der
Arbeitswelt, im Gesundheitsbereich und in der Politik!
Schaffen Sie endlich eine gleichberechtigte politische
Mitbestimmung, zum Beispiel ein kommunales Wahlrecht für Nicht-EU-Bürger, damit die unerträgliche Ungleichbehandlung von EU-Bürgern und Nicht-EU-Bürgern aufgehoben wird!
({8})
Nächster Redner ist der Kollege Josef Winkler für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Herr Kollege Veit, ich
fühle mich ein bisschen missverstanden. Ich habe zwar
gesagt, dass ich zustimme, es werde wahrscheinlich
nicht sehr strittig. Aber damit habe ich das Verhältnis
zwischen Union und SPD gemeint.
({0})
Es kommt so selten vor, dass zwischen euch etwas nicht
strittig ist, dass ich dem nur zustimmen konnte. Warum
konnte es heute nicht strittig werden? Die Koalition hat
gar keinen Entschließungsantrag vorgelegt. Sie haben
keine Kraft mehr, sich in der Migrationspolitik auf eine
gemeinsame Strategie zu einigen.
({1})
Wir diskutieren heute über eine Statistik aus dem Jahr
2006; das ist interessant. Interessanter wäre aber, zu hören, welche politischen Schlussfolgerungen Sie aus dieser Statistik ziehen.
({2})
Da hört die Einigkeit schnell auf. Trotz aller schönen
Worte, die wir eben gehört haben, betreibt diese Bundesregierung eine systematische Politik der Zuwanderungsverhinderung. Das hat das Gesetzesverfahren im letzten
Jahr eindeutig gezeigt.
({3})
Ich will zu einigen Zahlen etwas sagen. Wir haben den
Ehegattennachzug im letzten Jahr neu geregelt; das
wurde schon einige Male erwähnt. Ich möchte gleich einige krasse Fälle aufzeigen. So kurz vor Pfingsten hoffe
ich, dass der Heilige Geist insbesondere über die
Unionsfraktion ausgeschüttet wird, sodass dort eine Verbesserung festzustellen ist.
({4})
Wir sieht es denn inzwischen aus? Wir stellen fest,
dass seit der Verschärfung im letzten Jahr die Zahl der
Familienzusammenführungen, also der Nachzug zu bereits in Deutschland lebenden Familienangehörigen bzw.
Ehegatten, um 40 Prozent zurückgegangen ist, bei Menschen aus der Türkei sogar um 68 Prozent. Trotzdem
bestreitet die Bundesregierung, dass diese Regelung als
Anti-Türken-Gesetz gemeint war. Aber diese Regelung
stellt nun einmal für Türken ein schwieriges Problem
dar. Im gleichen Zeitraum ist unter Ihrer Regierung ein
Rückgang beim Spätaussiedlerzuzug um über 90 Prozent zu verzeichnen. Des Weiteren ist die jüdische
Zuwanderung faktisch zum Erliegen gekommen. 2007
gab es nur 14 - ich betone: 14 - Zusagen zu EinwandeSevim DaðdelenSevim Dağdelen
rungen nach Deutschland. Das ist noch nicht einmal eine
Zusage pro Bundesland. Dazu haben wir heute leider
nichts gehört.
Bei der Steuerung der Zuwanderung ist ein völliger
Stillstand zu beklagen. Bei der Begrenzung der Zuwanderung tut sich allerdings einiges, und das, obwohl die
Wirtschaft und verschiedene Dachverbände immer wieder sagen: Wir brauchen Zuwanderung. - Aber Sie wehren sich mit Händen und Füßen gegen eine Steuerung
und Regulierung der Zuwanderung durch ein Punktesystem. Das widerspricht den einfachsten Gesetzen der Logik. Sie sagen, man könne die demografischen Probleme
der Republik nicht alleine durch Zuwanderung lösen.
Das ist richtig. Wenn man aber ein demografisches Problem hat, dann wäre es sinnvoll, Zuwanderer, die mit
Kindern einreisen wollen, mit besonders vielen Punkten
zu honorieren, das heißt, sie primär einreisen zu lassen,
({5})
oder bestimmten Berufsgruppen, an denen die Bundesrepublik einen Mangel hat, einen Bonus zu geben. Dies
soll honoriert werden, und diese Personengruppen sollen
verstärkt einreisen können. Wieso Sie sich dagegen wenden,
({6})
obwohl Sie steuern und regulieren wollen, versteht nun
niemand.
({7})
Vielleicht können Sie das gleich klarstellen.
Wir brauchen in Deutschland eine Regulierung der
Zuwanderung, weil wir Zuwanderer haben wollen. Wir
brauchen diese Bereicherung für unser Land, und wir
sollten die Regulierung so gestalten, dass wir die Besten
der Besten, die wir brauchen, nach Deutschland holen
können. Es soll aber nicht nur ein Teil der Familie kommen, sondern sie sollen mit ihren Familien kommen. Sie
sollen sich hier integrieren können. Ich plädiere also für
ein Punktesystem. Die Zeit ist reif dafür. Bewegen Sie
sich!
({8})
Sie reden in diesem Zusammenhang immer davon,
dass die Belastungsschwelle erreicht, wenn nicht sogar
überschritten sei. Dazu ist hier schon etwas vom Kollegen Veit gesagt worden. Die Integrationsfähigkeit einer
Gesellschaft hängt zunächst einmal von der Integrationsbereitschaft ab, aber nicht von irgendeiner imaginären Grenze, die niemand kennt. Das heißt, die politischen Debatten, die wir hier im Deutschen Bundestag
oder auch in den Bundesländern während der Wahlkämpfe führen, entscheiden darüber, ob eine Integrationsbereitschaft der Bevölkerung besteht oder nicht. Da
hat nun zum Beispiel der Wahlkampf eines Roland Koch
in Hessen, der in unseliger Weise, geradezu mit verhetzerischer Qualität Wahlkampf betrieben hat, dazu beitragen sollen, dass die Integrationsbereitschaft der Bevölkerung, insbesondere in Hessen, sinkt. Dass ihm das
nicht gelungen ist, muss man der Bevölkerung in Hessen
hoch anrechnen und ist wohl dem Grad der politischen
Bildung der Hessen geschuldet. Herzlichen Dank dafür.
({9})
Ich will an einigen Punkten klarmachen, wo das Problem beim Ehegattennachzug liegt. Wir haben im Übrigen im Petitionsausschuss des Bundestages inzwischen
Dutzende von Petitionen von Einzelpersonen dazu vorliegen, die große Probleme haben und nicht zusammenkommen können. Es gibt zum Beispiel eine Weisung des
Auswärtigen Amtes vom Oktober letzten Jahres, wonach
Antragsteller, die ein Familienzusammenführungsvisum
beantragen wollen, nicht nach Hause geschickt werden
sollen, nur weil sie das geforderte Sprachzertifikat noch
nicht haben; denn damit wäre ihnen der Rechtsweg gegen diese Entscheidung verschlossen. Das wird aber
immer noch gemacht. Weiterhin werden nur die Sprachzertifikate des Goethe-Instituts akzeptiert, was unter
Wettbewerbsgesichtspunkten inakzeptabel ist und natürlich keinen Qualitätswettbewerb ermöglicht. Ferner steht
im Gesetz überhaupt nicht, dass das Sprachniveau A 1
erreicht werden soll. Das ist völlig willkürlich in die Verordnung eingefügt worden. Im Gesetz war von einfachsten Sprachkenntnissen die Rede, und es wurde kein festes Niveau definiert. Es kommt immer wieder vor - ich
weiß nicht, ob Sie das möchten -, dass selbst Antragsteller, die fließend deutsch sprechen können oder zumindest erkennbar über dem Niveau A 1 liegen, zurückgeschickt werden, nur weil sie den A-1-Test nicht machen.
Der kostet Geld und Zeit. Wenn man schon deutsch
kann, warum soll man diesen Test machen? Bewegen
Sie sich ein bisschen, und lassen Sie die Leute ins Land!
({10})
Bei den Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedlern
ist es besonders krass. Gerade ältere Menschen schaffen
den Nachweis der Sprachkenntnisse häufig nicht, sonst
wären sie nach dem Verfahren gemäß Bundesvertriebenengesetz nach Deutschland eingereist. Nun gibt es eine
ganze Reihe von Fällen, in denen sich Eheleute darauf
verlassen haben, dass ein Ehegattennachzug nach dem
Ausländerrecht möglich ist. Jetzt aber wird Eheleuten,
die nach Deutschland vorausgereist sind, gesagt: Wenn
ihr das nicht schafft, dann müsst ihr womöglich den Rest
eures Lebens eben getrennt leben. - Herzlichen Glückwunsch dazu. Die Alternative ist, dass der Partner die
Bundesrepublik Deutschland wieder verlässt und nach
Osteuropa zurückreist. Das kann doch bei Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedlern nicht Ihr Ernst sein.
Am allerschlimmsten trifft es die Analphabeten.
Auch wir in Deutschland haben einen gewissen Prozentsatz von Analphabeten. Das Grundrecht auf familiäres
Zusammenleben, nach Art. 6 des Grundgesetzes auch
der besondere Schutz der Ehe, gilt für Analphabeten faktisch nicht mehr. Dafür sollten Sie sich wirklich schämen, oder Sie sollten das schnellstmöglich ändern.
({11})
Ich nenne hier beispielhaft den Fall eines Mannes aus
Gambia, der Analphabet ist. Er bekam von der deutschen
Botschaft sinngemäß die Auskunft: Lerne doch erst einmal in deiner Muttersprache lesen und schreiben, dann
kannst du den Deutschkurs im Goethe-Institut machen,
falls du ihn dir leisten kannst. Falls du dann noch in den
Senegal reist, wo nämlich das nächste Goethe-Institut
ist, dann kannst du dort die Prüfung ablegen. Deine deutsche Frau muss dann eben so lange warten, bis du das alles geschafft hast. - Bis dahin können natürlich viele
Jahre ins Land gegangen sein.
({12})
Das ist ziemlich zynisch, und wenn Sie all das haben
wollen, dann haben Sie es zumindest mit dem Gesetz,
das Sie letztes Jahr verabschiedet haben, geschafft.
({13})
Sie reden auch über den Irak und die irakischen
Flüchtlinge. Ich bin gar nicht dagegen, dass man sie aufnimmt. Es leben allerdings auch schon welche bei uns,
die lediglich ihre Familienangehörigen nachziehen lassen wollen. Die bekommen jetzt gesagt - ({14})
- Frau Präsidentin, können Sie meine Redezeit etwas
verlängern? Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich weiß,
es ist alles spannend, aber hören Sie mir doch noch bis
zum Ende zu; ich bin gleich fertig.
({15})
- Genau. Die Union hat keine Flugblätter gekriegt. Vielleicht kann man ihr eins geben.
Die Antragsteller aus dem Irak zum Beispiel, wo es
faktisch keine deutsche Auslandsvertretung gibt, bekommen jetzt die Auskunft, sie sollten nach Ankara reisen
und dort in der deutschen Botschaft den Antrag auf Familienzusammenführung stellen.
Ich habe jetzt nur dieses eine Gesetz aus dem Gesetzespaket, das Sie letztes Jahr beschlossen haben, als Beispiel genommen, um zu zeigen, dass diese Politik, die
Sie als Migrationspolitik bezeichnen, in Wirklichkeit
eine Migrationsverhinderungspolitik ist. Das ist wirklich
kein Grund zum Feiern.
Herzlichen Dank.
({16})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Hans-Peter Uhl
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und
Kollegen! Die Vorlage des Migrationsberichts der Bundesregierung gibt Anlass, über unsere Zuwanderungspolitik der Vergangenheit und der Großen Koalition
nachzudenken. Deshalb möchte ich mir kurz einen
Rückblick erlauben. Wie Sie wissen, haben wir Jahrzehnte mit einem sehr törichten Definitionenstreit darüber verbracht, ob wir nun Einwanderungsland sind
oder nicht. Stattdessen hätten wir uns in den Jahrzehnten
besser um die Menschen und deren Integration kümmern
müssen.
({0})
Die Debatte war von Anfang an - ich blicke jetzt weit
zurück - ziemlich unehrlich und ziemlich inkonsequent.
Es begann ganz am Anfang mit dem unsäglichen Euphemismus „der Gastarbeiter“. Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, einen Gast lässt man nicht arbeiten,
und ein Gast geht irgendwann wieder. Das passte überhaupt nicht zum Thema, um das es damals ging.
({1})
- Ja, einen guten Morgen wünsche ich vor allem Ihnen
von den Linken.
({2})
Wir haben es ganz am Anfang versäumt, die Kriterien
für eine Zuwanderung festzulegen. Es wurde erst über
Rotation und dann wieder über Integration fabuliert.
Man kam aber zu keinem Ergebnis.
Nicht wir haben uns dafür entschieden, wann und wie
man zuwandert, sondern die Menschen, die gekommen
sind, haben sich selbst entschieden,
({3})
und dann hat man ihre Kinder nachkommen lassen. Das
waren die Fehler der Vergangenheit. Das war falsch.
Falsch war auch Folgendes: Nachdem sich die Zuwanderer der ersten Generation - sie waren sehr fleißig in das Arbeitsleben integriert und einen wesentlichen
Beitrag zu unserem Bruttosozialprodukt geleistet haben,
zogen wir den Trugschluss, dass sich Integration von
selbst erledige.
Genau das Gegenteil war der Fall: Die Probleme entstanden nicht mit der ersten, sondern mit der zweiten
und der dritten Generation, und diese Probleme haben
wir heute. Hier ist ein Kulturbruch festzustellen. Wir erleben, dass es nicht richtig ist, einfältig von ausländischen Mitbürgern zu reden, als würden sie mit uns leben.
Nein, sie leben teilweise neben uns und ohne uns in
Parallelwelten. Heute ist es leider einfacher denn je, in
einer Parallelwelt - insbesondere in einem Ballungsraum
oder in einer Großstadt - das gewohnte Leben von früher, das sie aus ihrem Heimatland kennen, unverändert
weiterzuleben, ihre alte Sprache zu sprechen, statt die
deutsche Sprache zu erlernen, sich nicht an unseren
Bräuchen zu orientieren und nicht unsere Werte und unsere Lebensgewohnheiten zu übernehmen.
Sie können heute in Deutschland etwa 40 türkische
Fernsehsender anschauen und natürlich auch türkische
Zeitungen bekommen. Das ist auch richtig so; aber das
zieht sich auch ins normale Alltagsleben hinein: Türkische Supermärkte, türkische Ärzte, selbst türkische
Rechtsanwälte - all diese kann man problemlos finden.
Sie können in Berlin so leben, als wären sie in der Türkei.
({4})
Es geht noch einen Schritt weiter: Sie können über arrangierte Ehen und Zwangsverheiratung - Dinge, die wir
alle, auch Sie, nicht billigen können - dafür sorgen, dass
diese Parallelwelt auch in der zweiten Generation bestehen bleibt.
({5})
Was ist angesichts der beängstigenden Zahlen, die uns
vorliegen, zu tun? Während 19 Prozent der deutschen
Jugendlichen eine Hauptschule besuchen, besuchen ja
44 Prozent der Ausländer eine Hauptschule. Während
8 Prozent der deutschen Jugendlichen keinen Schulabschluss haben, sind es ja 17 Prozent der ausländischen
Jugendlichen. Dieser Trend setzt sich auch in der Arbeitsmarktstatistik und in der Statistik der Sozialhilfeempfänger fort. Die Arbeitslosigkeit bei den Ausländern
liegt leider doppelt so hoch wie bei den Deutschen.
Nun sagt Herr Winkler, die Große Koalition habe
nicht die Kraft, daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen.
Dem widerspreche ich nachhaltig; denn die Große Koalition hat eine Wende in der Integrationspolitik herbeigeführt, indem wir, Herr Veit, nicht nur Integrationskurse wie früher unter Rot-Grün angeboten haben,
sondern das Erlernen der deutschen Sprache als Bestandteil der Integration eingefordert haben und dafür
gesorgt haben, dass Konsequenzen gezogen werden,
wenn sich jemand weigert.
({6})
Das stellt die eigentliche Wende in der Integrationspolitik dar: nicht nur reden, sondern auch für konsequente
Umsetzung sorgen.
({7})
Dazu gehört auch der Nationale Integrationsplan, den
die Bundeskanzlerin, Frau Merkel, zur Chefsache gemacht hat und für den Frau Staatsminister Böhmer wesentliche Vorarbeiten geleistet hat.
({8})
Wir haben dafür gesorgt, dass allen bewusst wird,
dass Zuwanderer die deutsche Sprache zu erlernen haben. Wir haben dafür gesorgt, dass sie unsere Rechtsund Werteordnung zu kennen und auch zu verstehen haben und dass man sich daran orientiert.
({9})
Nur so können Zuwanderer auf Dauer in Deutschland
heimisch werden.
Neuzuwanderer müssen mit ihren Integrationsbemühungen - das bekämpfen Sie offensichtlich immer noch im Heimatland beginnen. Bevor man sich entschließt,
seinen Lebensmittelpunkt zu uns nach Deutschland zu
verlagern, muss man im Heimatland anfangen, die deutsche Sprache zu lernen.
({10})
Jeder von uns würde es übrigens genauso machen, wenn
er sich entschlösse, seinen Lebensmittelpunkt von
Deutschland nach China zu verlagern: Er würde in
Deutschland beginnen, Chinesisch zu lernen.
({11})
Nichts anderes fordern wir von den Migranten, die zu
uns kommen.
({12})
Gute Sprachkenntnisse sind die Voraussetzung für
schulischen Erfolg. Der schulische Erfolg ist die Voraussetzung für eine Berufsausbildung, und diese ist die Voraussetzung für einen Arbeitsplatz. Dieses wiederum ist
die Voraussetzung für ökonomische Besserstellung und
ein zufriedenes Leben von Migranten in Deutschland.
Wir wissen, dass Integration keine Einbahnstraße ist.
Sie setzt voraus, dass die Zuwanderer hier heimisch werden wollen, dass sie die deutsche Sprache erlernen wollen und dass sie unsere Rechts- und Werteordnung übernehmen wollen. Wer dies nicht will, muss sich selber
klarmachen, dass er besser wieder das Land verlässt, als
weiter im Konflikt mit diesem Land zu leben. Das wissen auch die 3,5 Millionen Muslime. Hier ist es das
große Verdienst des Bundesinnenministers Schäuble,
sich diesem sehr komplexen und sehr schwierigen
Thema mit der Einrichtung von Islamkonferenzen ganz
besonders zugewandt zu haben.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum
Schluss kommen: Der Migrationsbericht beinhaltet
hochinteressante Zahlen und zeigt auf, was wir zu tun
haben. Er zeigt auch auf - das ist eine interessante Tatsache -: Die Abwanderungstendenz von Deutschen
nimmt zu. Waren es in den 70er-Jahren noch 50 000, um
1990 dann 100 000, sind es nun schon 150 000 Deutsche,
die das Land jährlich verlassen. Die Ursachen für diese
Abwanderung müssen untersucht werden. Wenn immer
mehr jüngere hochqualifizierte Leistungsträger aus
Deutschland wegziehen, dann läuft etwas schief in diesem Land, und wir müssen dafür sorgen, dass sich das
ändert. Auch der Bundesfinanzminister sollte vielleicht
darüber nachdenken; denn auch er hat die Möglichkeit,
Migrationsströme von Deutschen, die aus Deutschland
wegziehen, zu steuern.
({13})
- Ja, da haben Sie recht, Herr Veit; danke für den Zuruf.
Da hilft am Schluss nur eins: Mehr netto für alle, Herr
Veit. Daran sollten Sie sich orientieren.
({14})
Nächste Rednerin ist nun die Kollegin Gisela Piltz für
die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Migrationsbericht 2006 verdeutlicht, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Liebe Kolleginnen und
Kollegen von der CDU und der CSU, Sie haben das
lange verleugnet. Aber, Herr Uhl, Sie haben heute, wenn
ich das richtig mitgeschrieben habe, gesagt, dass Sie in
der Vergangenheit Fehler gemacht haben.
({0})
Wir nehmen einmal an, dass - Sie haben es nicht explizit
erwähnt - auch das ein Fehler in Ihrer Vergangenheit
war und Sie daraus gelernt haben.
Die Steuerung der Zuwanderung ist aus unserer
Sicht dringend notwendig und auch richtig, um ein friedliches und gedeihliches Zusammenleben in Deutschland
zu gewährleisten. Dabei ist es aus meiner Sicht besonders wichtig, dass wir denen, die hierher kommen und
die hier bleiben wollen, ein Heimatgefühl vermitteln
können.
Herr Schäuble, Sie haben recht, wenn Sie sagen, dass
wir hier keine Parallelgesellschaften wollen. Dem stimmen wir zu. Auch haben Sie recht, wenn Sie sagen, dass
diejenigen, die hierher kommen wollen, sich integrieren
müssen. Aber wir müssen nicht nur leisten, dass diejenigen, die hierher kommen, sich integrieren; vielmehr
müssen wir denen, die hier leben, ein Heimatgefühl bieten können. Ich glaube, das ist sehr wichtig.
Frau Dağdelen, ich denke, dass Sprache die Schlüsselqualifikation dafür ist, sich hier integrieren zu können. Denn - das hat auch mein Vorredner zu Recht gesagt - ohne Sprache ist eine Integration in einem Land
nicht möglich. Ich warte immer noch darauf, dass Sie
mir erklären, wie das gehen soll.
({1})
- Aber auch ein Hochqualifizierter, Frau Dağdelen, kann
in einem Land nur hochqualifiziert und dauerhaft arbeiten, wenn er die Sprache beherrscht.
({2})
Eine ganz persönliche Frage, die ich an Sie habe: Sie
sitzen ja auf der linken Seite quasi als Nach-Nachfolge
der SED in der DDR.
({3})
Wie war denn da eigentlich die Migrationspolitik? Was
Sie hier sagen, passt nicht zu der Geschichte, die Sie hier
sozusagen vertreten.
({4})
Sie haben hier sicherlich zu Recht manches angemahnt,
was andere Fraktionen nicht angesprochen haben. Aber
Sie haben zum Beispiel keinen Ton dazu gesagt, dass die
Folgen der schlechten Migrationspolitik in der ehemaligen DDR uns bis heute beschäftigen und dass es in den
neuen Ländern so schlimm ist wie nirgendwo anders.
Das ist kein Ossi-Bashing, sondern das ist eine Tatsache.
Dazu habe ich von Ihnen nichts gehört.
({5})
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Dağdelen?
Da ich eine Ahnung habe, dass die Zwischenfrage
polemisch sein wird, möchte ich sie nicht hören.
({0})
Zugleich zeigt der Migrationsbericht auf, dass immer
mehr Menschen Deutschland verlassen. Das ist hier von
allen Rednern gesagt worden. 2006 gab es mit über
150 000 Wegzügen von deutschen Staatsangehörigen
einen neuen Wegzugsrekord. Auch wenn der Bericht
hinsichtlich der Frage, ob insbesondere Hochqualifizierte Deutschland verlassen, auf eine dürftige Datenlage hinweist, ist die Befürchtung nicht von der Hand zu
weisen - auch unsere persönlichen Erfahrungen zeigen
das, je nachdem, mit wem man spricht -, dass Deutschland gerade für junge Wissenschaftler und Ingenieure
sowie andere innovative und hochqualifizierte Berufe,
auch Ärzte zum Beispiel, nicht mehr genügend Attraktivität zu bieten hat. Hier müssen Konsequenzen gezogen
werden, ebenso wie aus den Fragestellungen, die sich
nach wie vor bei der Einwanderung ergeben.
Herr Uhl, ich habe Sie eben so verstanden, dass die
CSU der Erbschaftsteuerreform offensichtlich nicht zustimmen will. Wir sind einmal gespannt, ob Sie sich daran auch halten.
({1})
Zuwanderung nach Deutschland steuern - das ist
nicht unanständig, sondern zwingend notwendig, um den
gesellschaftlichen Frieden zu sichern, die wirtschaftliche
Balance zu bewahren und zu verbessern sowie humanitären Verpflichtungen nachzukommen.
Es ist selbstverständlich, dass es zuerst darum gehen
muss, den Bedarf an Arbeitskräften mit Inländern zu decken. Dazu müssen wir auch für hochqualifizierte deutsche Arbeitskräfte attraktiver werden. Nur dann können
wir die Abwanderung stoppen. Wenn Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Großen Koalition, das als
Problem erkannt haben, dann tun Sie doch etwas!
({2})
Dennoch braucht Deutschland die Zuwanderung qualifizierter Kräfte in den Arbeitsmarkt. Dafür brauchen
wir ein Instrument, um flexibler auf die Entwicklungen
auf dem hiesigen Arbeitsmarkt reagieren zu können. Wir
haben einen Vorschlag für ein Punktesystem vorgelegt,
das wir für die richtige Maßnahme halten, um die Zuwanderung so zu steuern, wie wir es brauchen. Dabei
denken wir sowohl an hochqualifizierte Arbeitskräfte als
auch an Saisonarbeiter. Auch dieses Thema kommt bei
vielen hier zu kurz.
Im Umgang mit illegaler Migration tut sich dieses
Land leider noch sehr schwer. Ich glaube, wir müssen
schnell eine Regelung finden, wie wir insbesondere mit
Kindern derjenigen umgehen, die sich in unserem Land
illegal aufhalten. Die FDP setzt sich schon seit längerem
dafür ein, die Meldepflicht für Lehrer, was diesen Fall
betrifft, abzuschaffen.
({3})
Wir halten das für sehr wichtig.
Wir hoffen, dass das Parlament noch in dieser Legislaturperiode die Kraft findet, diesbezüglich zu einer Regelung zu kommen. Sie haben in dieser Woche eindrucksvoll bewiesen, dass Sie die Kraft haben, auch
anderes zu regeln. Wir hoffen für die Kinder der illegal
hier lebenden Menschen, dass Sie sich auch dieses Themas annehmen.
Herzlichen Dank.
({4})
Zu einer Kurzintervention erteile ich nun das Wort der
Kollegin Dağdelen.
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Es tut mir leid, liebe
Kolleginnen und Kollegen, dass ich diese Debatte jetzt
verlängern muss, weil Frau Piltz meine Zwischenfrage
nicht zugelassen hat.
Frau Piltz, Sie haben mich persönlich angesprochen,
und darauf möchte ich antworten. Zunächst einmal will
ich sagen, dass meine Eltern aus der Türkei kamen. Die
Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter sind aber nicht einfach gekommen, sondern sie wurden gerufen. Das sage
ich auch an die Adresse von Herrn Uhl. Vielleicht hat er
ja vergessen, dass es Anwerbeabkommen gegeben hat.
Ich bin in Duisburg geboren und auch dort aufgewachsen. Ich habe mich mit der Vergangenheit meiner
Partei - viele haben das hinsichtlich der Vergangenheit
ihrer eigenen Partei nicht getan - kritisch auseinandergesetzt. Es gab Probleme in der ehemaligen DDR bezüglich der Integration, was von mir und auch von meiner
Partei kritisiert wird.
Aber Tatsache ist doch - korrigieren Sie mich, wenn
ich falsch liege -, dass wir über den Migrationsbericht
2006 der Bundesregierung und nicht über die Politik
ehemaliger Staaten und Regierungen sprechen. Da muss
es auch erlaubt sein - vor allen Dingen Sie als Vertreterin einer Oppositionspartei müssten mir dieses Recht
doch eigentlich zugestehen und müssten mich darin unterstützen -, dass ich hier Kritik an der repressiven Migrations- und Integrationspolitik dieser Bundesregierung
anbringe.
Ich möchte ferner erwähnen, dass Sie anscheinend die
Zahlen überhaupt nicht kennen. Es gibt in diesem Land
sehr viele Jugendliche, die einen guten Bildungsabschluss haben. Aber sie haben keinen Ausbildungsplatz.
Schauen Sie sich den Bericht zur Lage der Ausländerinnen und Ausländer, der im Dezember des vergangenen
Jahres von der Bundesregierung veröffentlicht wurde,
einmal an. Daraus ergibt sich, dass die Sprache nicht die
einzige Voraussetzung für eine Integration ist. Ganz im
Gegenteil!
Gestern wurde eine Studie veröffentlicht, die von der
Ausländerbeauftragten, Frau Böhmer, unterstützt wurde.
Es lebt rund eine halbe Million Menschen in Deutschland, die ihre Qualifikation im Ausland erworben haben,
deren biografische Lebensleistung aber in diesem Land
nicht anerkannt wird. Deshalb kann ich Frau Böhmer nur
unterstützen, wenn sie sagt, dass hier ein Schatz zu
heben ist und dass man in Gesprächen mit der Kultusministerkonferenz erreichen muss, dass diese Abschlüsse anerkannt werden.
({0})
Russische Ärztinnen sollen nicht mehr als Putzfrauen arbeiten, und iranische Ingenieure sollen nicht mehr als
Hausmeister hier arbeiten. Die biografische Lebensleistung dieser Menschen muss anerkannt werden; sie darf
nicht mehr ignoriert werden.
Zu diesem Thema liegt von meiner Fraktion seit Anfang des Jahres ein entsprechender Antrag vor. Ich bitte
dafür um Unterstützung. Es kann keine Integration geben, wenn die Menschen keine Teilhabemöglichkeiten
in diesem Land haben.
Teilhabe ist nicht nur im Hinblick auf die Sprache,
sondern auch im Hinblick auf Bildung, Arbeitsmarkt
und Kultur von zentraler Bedeutung.
({1})
Frau Kollegin, möchten Sie erwidern? - Bitte sehr,
Frau Piltz.
Ich habe es geahnt. So gesehen, bereue ich meine Entscheidung, weil Sie jetzt noch mehr Redezeit hatten.
({0})
Erstens. Ich habe Sie nicht persönlich gemeint, sondern als Vertreterin Ihrer Fraktion. Das ist ein riesiger
Unterschied. Wenn Sie das persönlich nehmen, ist das
Ihr persönliches Problem.
Zweitens. Dass Sie sich so viel Zeit nehmen, um zu
sprechen, zeigt doch, wie wichtig Sprache ist. Sprache
ist aus meiner Sicht eine notwendige Voraussetzung, um
hier teilhaben zu können. Natürlich muss hier jeder teilhaben können. Teilhabe ist wichtig.
({1})
Aber ohne die deutsche Sprache ist keine ausreichende
Teilhabe möglich.
({2})
Das ist die herrschende Meinung in diesem Haus. Dagegen sollten Sie nicht immer wieder angehen.
Auf der ganzen Welt kann man sehen, wie wichtig die
Beherrschung der Landessprache ist; das ist Fakt. Wie
wollen Migranten hier lernen, wenn sie die Landessprache nicht können? Wie wollen sie sich an der Arbeit dieses Parlaments beteiligen, wenn sie kein Deutsch
können? Sie können Deutsch. Akzeptieren Sie, dass
Sprachbeherrschung eine Schlüsselqualifikation für Integration sein muss!
({3})
Nun hat das Wort der Kollege Dr. Michael Bürsch für
die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich komme auf das eigentliche Thema des heutigen
Tages zurück: Migration, Integration. Bis zu diesem
Zeitpunkt der Debatte kann ich zweierlei feststellen:
Erstens. Über Zahlen lässt sich offenbar doch streiten,
obwohl sie eigentlich einen objektiven Eindruck vermitteln sollen. Die Auslegung ist jedenfalls ein wenig unterschiedlich ausgefallen.
Zweitens. Die Ideologisierung dieses Themas verschwindet langsam. Es wird über dieses Thema erheblich weniger ideologisch als noch vor zwei, drei oder
zehn Jahren geredet. Insofern nehme ich den Beitrag von
Herrn Uhl durchaus mit Freude zur Kenntnis.
Im Folgenden möchte ich zwei Bemerkungen zu dem
Thema des heutigen Tages machen.
Erstens. Bei allen Wünschen, die vielleicht noch bestehen, bei aller Kritik, die man hier und dort üben kann,
kann man insgesamt sagen: Die Integrationskurse sind
ein Erfolgsmodell.
({0})
Diese Kurse hat die Bundesregierung vor drei Jahren
eingeführt. Wir wollen nicht über die Väter und Mütter
dieses Erfolges reden. Es war eine andere Bundesregierung, die diese Kurse eingeführt hat; sie hat das Fundament gelegt. Die Integrationskurse sind uns jetzt
155 Millionen Euro im Jahr wert. Das ist eine beträchtliche Summe, die wir, der Bund, freiwillig für die Sprachförderung ausgeben. Das Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge unter der Leitung von Albert Schmid leistet
eine hervorragende Arbeit, die wir auch an dieser Stelle
einmal loben sollten.
({1})
Wer immer diese Behörde besucht, muss feststellen, dass
sie sehr modern ist. Der Präsident dieser Behörde kommt
aus Bayern.
({2})
- Über die Parteizugehörigkeit sagen wir an dieser Stelle
nichts. - Diese Behörde macht eine hervorragende Arbeit und ist immer bereit, ihre Arbeit auch zu verbessern.
Sevim DaðdelenSevim Dağdelen
({3})
Das ist das, was ich beiden Berichten, insbesondere
dem Zwischenbericht über die Integrationskurse, entnehme. Es gibt immer noch Bedarf und Möglichkeiten,
zu verbessern. Das wird gemacht. Was ich besonders begrüße, ist, dass dieses Bundesamt ständige Evaluationen
vornimmt. Dort wird etwas gemacht, was wir in der Politik vielleicht zu selten machen: Man überzeugt sich jeweils in Zwischenschritten davon, wie die Programme,
die man beschlossen hat, eigentlich wirken. An anderen
Stellen dagegen herrscht vielleicht ein allzu großer Mangel an Evaluation.
Zweitens. Vermittlung der Sprache ist - darauf ist
schon hingewiesen worden - eine ausgesprochen wichtige Voraussetzung - da bin ich bei Frau Piltz -; aber sie
ist beileibe nicht alles. Integration verlangt erheblich
mehr.
({4})
Ich möchte die beiden Berichte zum Anlass nehmen,
drei Stichworte zu nennen, die wir bei der weiteren Arbeit im Auge behalten sollten: Bildung, Beteiligung und
Anerkennung.
Erstens: Bildung. Herr Uhl hat darauf hingewiesen:
Fast 10 Prozent der Jugendlichen in Deutschland und
fast 20 Prozent der Jugendlichen mit Migrationshintergrund haben keinen Hauptschulabschluss. Der Anteil ist
also bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund fast
doppelt so hoch. Ein weiterer Blick in die Statistik zeigt,
dass 30 Prozent der Jungen mit Migrationshintergrund
den Hauptschulabschluss nicht schaffen. Das ist im
Grunde wie eine versperrte Tür vor allem Positiven, das
sich besonders in beruflicher Hinsicht auf dem Lebensweg ergeben könnte.
An dieser Stelle ist eine Veränderung nötig. Insofern
begrüße ich sehr, was der Arbeitsminister gestern angeboten hat: Er hat eine Art Rechtsanspruch für jeden jungen Menschen in Deutschland auf einen Hauptschulabschluss angekündigt.
({5})
An dieser Stelle möchte sich die Bundesagentur für Arbeit mit einklinken. Damit würde eine ganz wichtige Voraussetzung für eine Veränderung in diesem Bereich geschaffen.
Wir reden hier über insgesamt 2 Millionen Menschen,
die zu uns gekommen sind und eine sogenannte nachholende Integration gebrauchen könnten, das heißt, die
nicht verpflichtet sind, Sprach- oder Integrationskurse zu
belegen, die aber durchaus davon profitieren könnten. In
dieser Gruppe gibt es rund 340 000 Haupt- und Realschüler zwischen zehn und 15 Jahren. Das ist aus Sicht
der SPD eine sehr schwierige Gruppe, die besonderer
Förderung bedarf. Eine solche Förderung würde nämlich
verhindern, dass in 10 oder 15 Jahren ein enormer sozialer Sprengstoff entsteht.
Zweitens: Beteiligung. Integration setzt in der Tat
gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft und eine
Begegnung auf gleicher Augenhöhe voraus. Dabei geht
es zum einen um die Teilhabe an der Bürgergesellschaft.
Hier wiederhole ich, was ich an anderer Stelle schon zu
diesem Thema gesagt habe: Zum Beispiel muss die freiwillige Feuerwehr mit ihren 1,2 Millionen Mitgliedern
die Türen öffnen. Sie sollte den Migranten sagen: Ihr
seid bei uns wirklich von Herzen willkommen; wir wollen und brauchen euch hier; ihr seid Teil der Gesellschaft, die etwa in der freiwilligen Feuerwehr gesellschaftliche Aufgaben wahrnimmt.
Beteiligung heißt aber noch mehr: Menschen müssen
bei wichtigen Entscheidungen mitwirken können, sowohl die Deutschen als auch diejenigen, die einen Migrationshintergrund haben. Mir hat das Beispiel eines
Moscheenbaus sehr eingeleuchtet - bei einer Veranstaltung wurde vor ein paar Tagen davon berichtet -: In
Nordrhein-Westfalen gibt es offenbar - so wurde mir berichtet - zwei eklatante Beispiele für Moscheenbau, bei
denen die Entwicklung bzw. die Kontroverse sehr unterschiedlich verlaufen ist. Vor dem Bau einer Moschee in
Köln hat es keine große Bürgerbeteiligung gegeben. Vor
dem Bau einer Moschee in Duisburg-Marxloh wurde in
einem langen Prozess offenbar ein großes Maß an Beteiligung praktiziert; die Menschen, die diese Moschee besuchen wollen - Ausländer, Migranten -, und Deutsche
sind in einen langwierigen Prozess der Beteiligung eingebunden worden. Dies war offensichtlich ein wichtiger
Schritt, der dazu geführt hat, dass die schwierige Entscheidung für einen Moscheebau in Duisburg mehr Akzeptanz findet als in Köln. Auch das ist ein Beispiel für
Beteiligung.
Bildung bedeutet beispielsweise, dass Menschen
nicht erst in der Schule, sondern noch früher - im Kindergarten oder in der Familie - eine Förderung erfahren.
Dafür gibt es wunderbare Beispiele; ich möchte nur eines nennen: HIPPY, ein Hausbesuchsprogramm für sozial benachteiligte Familien mit Kindern im Vorschulalter. Die deutschen Sprachkenntnisse sollen verbessert,
der Lernort Familie gestärkt werden. Türkische, arabische und russische Mütter finden sich dort engagiert zusammen. Sie bewerten die Frühförderung ihrer Kinder
überaus positiv. In erster Linie begrüßen sie, dass die
Kinder rechtzeitig Deutsch lernen und sie selbst als Eltern gefordert werden, sich an dieser Sprachförderung zu
beteiligen. Es gibt viele andere Beispiele; ich wünsche
mir noch mehr davon.
Drittens: Anerkennung. Ich komme zu einem Punkt,
bei dem es offensichtlich immer noch nicht zu einer einvernehmlichen Regelung mit der CDU/CSU kommen
kann. Ich bin der Meinung, dass die doppelte Staatsangehörigkeit in der Tat eine Form der Anerkennung wäre.
({6})
Der Innenminister hat davon gesprochen. Herr Schäuble,
es gibt nicht nur wenige Fälle von doppelter Staats16992
bürgerschaft in Deutschland. In vielen Fällen kommen
Inhaber der doppelten Staatsbürgerschaft aus den USA
oder anderen Ländern, in denen es das Recht des Geburtsortes gibt: Jemand, der dort gelebt hat, der also etwa
als Franzose oder Amerikaner geboren wurde, erhält zusätzlich die deutsche Staatsbürgerschaft. Es gibt viele
solcher Fälle in Deutschland. Dies dürfen wir nicht verteufeln. Die Süssmuth-Kommission hat damals gesagt,
die Zulassung von doppelten Staatsbürgerschaften sei
geeignet, die Kluft zwischen Staatsvolk und Wohnbevölkerung zu schließen. Es ist eine Form der Anerkennung,
dass es Menschen, die hier wohnen, erlaubt wird, eine
Identität zu haben, die sie weiterhin zum Beispiel mit der
Türkei oder anderen Ländern verbindet. An dieser Stelle
brauchen wir eine Entwicklung, wie wir sie inzwischen
zum Thema Einwanderungsland erlebt haben. Wir brauchen die Anerkennung doppelter Staatsbürgerschaften.
Dies nimmt uns nichts,
({7})
sondern fördert gerade das, was wir alle wollen: Integration.
Vielen Dank.
({8})
Nun hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion der
Kollege Reinhard Grindel.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es geht hier nicht nur um Zahlen, sondern auch um Menschen und um ihre Schicksale. Ich finde, Frau Kollegin
Dağdelen, wir müssen hier noch einige gemeinsame
Grundlagen möglich machen. Dass Sie hier sagen, dass
die bedauernswerten Todesfälle von Flüchtlingen aus
Afrika im Mittelmeer und vor den Kanarischen Inseln
Ergebnis unserer Ausländer- und Asylpolitik sind, geht
zu weit.
({0})
Das ist das Ergebnis menschenverachtenden Schlepperund Schleusertums. Wir sollten uns zumindest darin einig sein, dass wir das bekämpfen.
({1})
Das Zweite. Wir diskutieren hier über die Frage des
Familiennachzugs. Wir haben in diesem Zusammenhang zwei politische Ziele verfolgt: Wir wollten gerade
an die Familien in Deutschland das klare Signal geben,
dass es ohne die deutsche Sprache nicht geht, und - das
ist hier zu wenig betont worden - wir wollten Zwangsehen bekämpfen. Wir wollten Frauen durch Deutschkenntnisse, die sie vor der Übersiedlung in unser Land
erwerben, stärken, sich Hilfe holen zu können, sich gegen Unterdrückung und Gewalt wehren zu können.
({2})
Deswegen ist es logisch, dass diese Deutschkenntnisse
vor der Übersiedlung erworben werden müssen;
({3})
denn gerade die von Zwangsehen betroffenen Frauen
dürfen nicht an Integrationskursen teilnehmen. Mir haben die für die Erteilung von Visa zum Zwecke des Familiennachzugs zuständigen Mitarbeiter in unseren
Botschaften in Ankara und Istanbul gesagt, dass sie vermuten - obwohl sie es nicht immer beweisen können -,
dass 30 bis 40 Prozent der Visa, die erteilt werden, den
Hintergrund der Zwangsehe haben.
Insofern sage ich Ihnen: Wenn jetzt die Zahlen der Familienzusammenführung zurückgehen, dann heißt das
auch, dass wir Zwangsehen erfolgreich bekämpfen, dass
wir Hunderte, wahrscheinlich Tausende von Frauen davor bewahren, hier in Deutschland in einer Zwangsehe
leben zu müssen. Das ist eine richtige Politik.
({4})
Es wurde in der Debatte gesagt, wir müssten in der
Migrationspolitik einen europäischen Ansatz haben. Ich
will Sie darauf hinweisen, dass die französische Regierung im Rahmen ihrer EU-Präsidentschaft im zweiten
Halbjahr dieses Jahres an einem europäischen Einwanderungs- und Asylpakt arbeitet. Ich möchte mit Blick
auf die Opposition aus dem Entwurf dieses europäischen
Einwanderungs- und Asylpaktes zitieren. Dort steht: Der
Europäische Rat möchte eine bessere Regulierung der
Einwanderung aus familiären Gründen, bei der sowohl
die Aufnahmekapazitäten jedes Mitgliedslandes berücksichtigt werden sollen als auch die Integrationsfähigkeit
der Betroffenen, welche insbesondere nach ihren Mitteln, ihren Unterkunftsbedingungen und ihrer Beherrschung der Sprache des Ziellandes bewertet wird. - Mit
anderen Worten: Die französische EU-Präsidentschaft
will exakt das, was wir im Zuwanderungsrecht geregelt
haben.
({5})
Zu Recht sind die Erfolge unserer Integrationskurse
lobend erwähnt worden, für die wir über 154 Millionen
Euro ausgeben. Das hat in der Tat zu einer besseren Qualität geführt. Wir haben die Kostenerstattung für die
Kursträger deutlich erhöht,
({6})
damit die Kurse schneller beginnen können, und nicht
erst, wenn 20 Teilnehmer beisammen sind, und damit
qualifizierteres Personal eingestellt werden kann. Wir
haben das Angebot auf 900 Stunden ausgeweitet. Es gibt
mehr Kurse für Frauen mit Kinderbetreuung, mehr
Kurse für junge Leute in Verbindung mit Berufs- und
Betriebspraktika. Wir haben - gerade für den ländlichen
Raum ist das wichtig - eine umfassende Fahrtkostenerstattung vorgesehen.
Sicher, im Detail kann man immer noch etwas verbessern; da sind wir dran. Aber dass mit den Integrationskursen als Teil des Nationalen Integrationsplans ganz
praktisch etwas für ein besseres Zusammenleben, für ein
Miteinander von Ausländern und Deutschen in unserem
Land geschehen ist, kann niemand ernsthaft bestreiten.
({7})
Lassen Sie mich etwas zum Thema Arbeitsmigration sagen, weil das hier angesprochen worden ist. Lieber Kollege Veit, ich habe vor wenigen Tagen in mehreren Zeitungen aus dem Rhein-Main-Gebiet gelesen, dass
dort ein Autozulieferer einen Ingenieur mit chinesischen
Sprachkenntnissen suchte. Das ist von einem Arbeitgeberverband zum Anlass genommen worden, wieder eine
Änderung des Zuwanderungsgesetzes hinsichtlich der
Zuwanderung in den Arbeitsmarkt zu fordern. Ich habe
mir den Fall einmal genau angesehen. Was war das Problem? Das Problem war nicht, dass der Autozulieferer
diesen chinesischen Ingenieur nicht bekommen hat. Er
hat ihn bekommen, obwohl er weit weniger als die berühmten 84 000 Euro für Hochqualifizierte verdient.
Nein, das Problem war, dass es zwei Monate gedauert
hat, bis die zuständige Bundesagentur die Vorrangprüfung durchgeführt hat.
({8})
Darüber hat sich dieser Mittelständler zu Recht aufgeregt.
Lieber Kollege Bürsch, darum sage ich Ihnen: Wir
brauchen kein Punktesystem und auch keine neuen Vorschriften hinsichtlich der Zuwanderung in den Arbeitsmarkt. Wir brauchen mehr Flexibilität der Bundesagentur, der Industrie- und Handelskammern sowie der
Ausländerbehörden. Dann werden wir ausländische
Fachkräfte nach Deutschland bekommen.
({9})
Der Aussage, dass wir aufpassen müssen, damit wir
in Deutschland keine Talente vergeuden, stimme ich ausdrücklich zu; das ist ja hier angesprochen worden. Gerade etwa unter den Aussiedlern, die bei uns leben, gibt
es eine Vielzahl von Menschen, die in einfachen Kursen
die Qualifikationen erwerben könnten, die notwendig
sind, damit sie in ihren hochqualifizierten Berufen, etwa
als Arzt, in Deutschland arbeiten können.
({10})
Wir haben genug Taxifahrer in Großstädten, aber zu wenig Ärzte im ländlichen Raum. Durch eine bessere
Nachqualifizierung und eine flexiblere Anerkennung
von Abschlüssen können wir dafür sorgen, dass die Talente, die in unserem Land schlummern, besser genutzt
werden. Das ist im Interesse aller.
({11})
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Frau Präsidentin, ein Schlusswort. - Wir, besonders
der Bundesinnenminister und die Staatsministerin
Böhmer, haben der Integration neue Dynamik verliehen.
Sicherlich ist noch viel zu tun; dass wir das Thema angepackt haben, kann aber niemand bestreiten.
Herzlichen Dank.
({0})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist nun die Kollegin
Dr. Lale Akgün für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr Minister Schäuble! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Deutschland gleicht mehr und mehr einer Dame,
die nicht wahrhaben will, dass sie älter wird. Um die
Falten, die sich durch ihr Gesicht ziehen, nicht sehen zu
müssen, putzt sie zuerst ihre Brille nicht mehr und verhängt dann auch noch die Spiegel. Realitätsverweigerung nennt man das.
({0})
Wenn ich mir den Migrationsbericht 2006, über den
wir heute diskutieren, anschaue, kann ich nur sagen: Wir
betreiben gemeinsam kollektive Realitätsverweigerung.
Unser Land wird älter, aber wir wollen es nicht wahrhaben. Wir haben eine niedrigere Geburtenrate, und immer
weniger Menschen kommen als Zuwanderer zu uns. Beides führt zu einer rückläufigen Bevölkerungsentwicklung. Das heißt unterm Strich: Die alternde Dame nimmt
auch noch kräftig ab, und zwar mehr als ihr lieb sein
kann.
({1})
- Das ist eine Allegorie, Herr Kollege. Schauen Sie im
Wörterbuch nach, was das ist.
({2})
- Erkläre es ihm nachher.
Dabei müsste die alte Dame, um im Bild zu bleiben,
nur einen Blick in den Spiegel werfen, sprich: den Migrationsbericht, um zu erkennen, wie es um sie steht. Sie
bräuchte eigentlich keine Angst zu haben; denn es gibt
ein effektives Anti-Aging-Mittel: die gesteuerte
Zuwanderung. Durch Zuwanderung halten wir nicht
nur die Bevölkerungszahlen konstant, sondern verjüngen
unsere Gesellschaft auch. Wir verpassen der alten Dame
eine Frischzellenkur. Auch das sieht man an den Zahlen:
Im Jahr 2006 waren knapp 75 Prozent der Zugewanderten unter 40 Jahre. Der Anteil der unter 40-Jährigen an
der Gesamtbevölkerung beträgt nur 28 Prozent.
Tun wir also etwas dafür, dass Menschen aus aller
Welt nach Deutschland kommen und hier dauerhaft bleiben und arbeiten, ja, hier gerne leben. Diesem wichtigen
Ziel sollten wir unsere Integrationspolitik unterordnen.
Wenn wir es versäumen, mehr Zuwanderer ins Land zu
holen, wird sich die Erwerbsbevölkerung bis 2050 um
ein Viertel reduzieren, was dramatische Folgen für unser
Sozialsystem hätte. Rüdiger Veit hat das eben schon gesagt. Er hat aber auch gesagt, dass man das nicht oft genug wiederholen kann. Ich beschreibe hier kein Wolkenkuckucksheim, sondern die nackte Realität. Wir werden
einen eklatanten Mangel an Arbeitskräften haben, vor allem an Akademikern. Diesem Problem sollte unsere
volle Aufmerksamkeit gewidmet sein statt dem Ehegattennachzug aus der Türkei, aus Thailand und Trinidad.
Ich bin sehr froh, dass der Migrationsbericht 2006
sehr deutlich macht, worauf es ankommt. An dieser
Stelle möchte ich dem Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge für diesen ausgezeichneten Bericht ausdrücklich danken.
({3})
Damit haben wir eine hervorragende empirische Datengrundlage, die uns glasklar vor Augen führt, war wir tun
müssen. Nun liegt es an uns, die richtigen Schlüsse zu
ziehen und mit den Scheingefechten über die angebliche
Bedrohung Deutschlands durch sogenannte anatolische
Importbräute endlich aufzuhören.
Herr Grindel, Sie haben eben Applaus dafür bekommen, dass Sie gesagt haben, durch die Neuregelung des
Familiennachzugs sei die Anzahl der sogenannten
Zwangsehen zurückgegangen. Ich muss Ihnen leider sagen: Der Bericht ist aus dem Jahr 2006; da galt die Regelung noch gar nicht.
({4})
Wenn also die Anzahl der Ehen mit Partnern aus dem
Ausland, vor allem aus der Türkei, rückläufig ist, dann
ist das eine ganz normale Entwicklung und ein Zeichen
für die immer stärker einsetzende Integration und nicht
Ergebnis dessen, dass wir hier restriktive Regelungen
durchgesetzt haben.
({5})
Es kommen gewaltige gesellschaftliche Veränderungen auf uns zu. In wenigen Jahren werden wir in einer
Fifty-fifty-Gesellschaft leben, also in einer Gesellschaft, in der die Hälfte der Menschen einen Migrationshintergrund hat. Darauf sollten wir uns besser frühzeitig
einstellen, damit der Schock nicht wieder über Nacht
kommt, wie bei der Erkenntnis, dass Deutschland ein
Einwanderungsland ist. Früh darum kümmern, so lautet
die Devise; denn wer sich früh kümmert, hat Einfluss
und Steuerungsmöglichkeiten.
Wir müssen uns fragen: Wie bekommen wir mehr Zuwanderung hin, und wie bekommen wir die Zuwanderung, die wir brauchen? Darin schwingt die Frage mit:
Wie werden wir für potenzielle Zuwanderer attraktiv?
Ich meine die hochqualifizierten Zuwanderer, die Ärzte
und Ingenieure, aber auch die Facharbeiter und die niedriger qualifizierten Arbeitskräfte wie Handwerker und
Pflegepersonal; auch sie werden in den nächsten Jahren
fehlen.
Die Lösung ist eine Kombination aus Punktesystem
und Engpasszuwanderung. Ein Punktesystem hatte bereits der Zuwanderungsrat unter Rita Süssmuth vorgeschlagen und damit Weitsicht bewiesen. Dazu bedarf es
jedoch einer Zuwanderung, die Engpässen auf dem Arbeitsmarkt, zum Beispiel bei den Ingenieuren oder Lehrern, entgegensteuert. In diesem Zusammenhang begrüße ich die Blue-Card-Initiative der Europäischen
Kommission, die die Engpasszuwanderung regeln soll.
Das ist aber nicht alles. Wir brauchen auch - das ist
schon erwähnt worden - eine Bildungsoffensive bei den
noch nicht Qualifizierten. Außerdem müssen wir die stillen Reserven aktivieren. Das sind vor allem Aussiedler,
die oftmals gut ausgebildeten Lehrer oder Ingenieure,
die zurzeit zum Beispiel als Reinigungskräfte beschäftigt
sind. Es ist doch evident, welch enormes Potenzial wir
hier verschenken, erst recht, weil uns zugleich etwa
16 000 Lehrerinnen und Lehrer fehlen.
({6})
Sie kennen das Stichwort in diesem Zusammenhang:
nachholende Integration. Nachholende Integration in
einer Einwanderungsgesellschaft ist keine Kleinigkeit,
sondern unabdingbares Muss.
Neue Feststellungen werfen neue Fragen auf. Welche
Integrationspolitik braucht eine Fifty-fifty-Gesellschaft?
Man kann vorab sagen: auf jeden Fall eine Integrationspolitik, die das Klein-Klein ablegt und sich stattdessen
um Ganzheitliches bemüht. Mit dem großen Ganzen
meine ich mehrere Dinge. Zunächst einmal meine ich
eine Integrationspolitik, die das Gemeinsame aller hier
lebenden Menschen in den Blick nimmt, statt immer
wieder das Trennende zu schärfen. Glauben Sie mir, es
ist wichtig, hier und jetzt Schluss damit zu machen,
Menschen bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag in eine ethnische Schublade zu stecken.
Wenn wir zum Beispiel über Probleme von Menschen
mit türkischem Hintergrund auf dem Arbeitsmarkt sprechen, dann interessiert doch weder die ethnische Herkunft noch der muslimische oder sonstige Glaube. Eine
vernünftige Ursachenanalyse setzt bei der sozialen Lage
an. Im Übrigen ist es völlig verfehlt, sich bei der Integrationspolitik ausschließlich auf die Türken als Gruppe zu
fokussieren. Ein solcher Blick missachtet die Realitäten,
weil er die Entwicklung der Zuwandererzahlen schlichtweg ignoriert. Der Migrationsbericht 2006 weist deutlich aus, dass der Wanderungssaldo der in Deutschland
lebenden Türken im Jahr 2006 zum ersten Mal negativ
war: minus 1 700 Personen.
Im Moment herrscht aber leider immer noch ein
Klima vor, in dem Menschen in eine ethnische oder religiöse Ecke gestellt werden, in dem es nicht selbstverständlich ist, eine andere Hautfarbe zu haben, Russisch
oder Arabisch als Muttersprache zu sprechen oder gar
muslimischen Glaubens zu sein. Nein, unser Klima deklariert diese Eigenschaften im besten Falle als Exotik,
im schlechteren Falle als etwas, das man bekämpfen
muss.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Politik hat dazu
einen nicht geringen Beitrag geleistet. Aus diesem
Grunde finde ich - bei allem Respekt für das Engagement der Bundesregierung und für Ihr persönliches
Engagement, Herr Innenminister -, dass die ganze Gipfelei, die seit 2006 um sich greift, relativ sinnlos ist. Ein
Integrationsgipfel bei der Kanzlerin, ein Islamgipfel
beim Bundesinnenminister - durch all das suggeriert
man den Zugewanderten, vor allem den Muslimen: Ihr
seid so problematisch, dass wir uns gesondert um euch
kümmern müssen. - Diese Entwicklung halte ich für den
wahren Gipfel.
({7})
Eine moderne Integrationspolitik, die den Bedürfnissen
unseres Landes Rechnung trägt, kann doch keine Sonderschulveranstaltung für die Sitzengebliebenen sein.
({8})
Sie muss eine Politik sein, die Chancengleichheit so weit
wie möglich herstellt und auf das Gemeinsame statt auf
das Trennende setzt.
({9})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, vielleicht sind wir
in der Politik inzwischen etwas getrieben, auch aufgrund
der Medienberichterstattung. Unsere Aufgabe ist aber,
die Zuwanderung auf der Grundlage der Fakten zu gestalten. Dazu möchte ich Sie alle herzlich einladen.
({10})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 16/7705 und 16/6043 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 22 a bis 22 f
sowie Zusatzpunkt 7 auf:
22 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Eduard
Lintner, Eckart von Klaeden, Klaus Brähmig,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Lothar Mark,
Gert Weisskirchen ({0}), Niels Annen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Eine starke Partnerschaft - Europa und
Lateinamerika/Karibik
- Drucksache 16/9072 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({1})
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Anette
Hübinger, Dr. Christian Ruck, Dr. Wolf Bauer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Sascha
Raabe, Gregor Amann, Elvira Drobinski-Weiß,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Die entwicklungspolitische Zusammenarbeit
Deutschlands im Rahmen der strategischen
Partnerschaft der Europäischen Union mit
den Staaten Lateinamerikas und der Karibik
zielgerichtet stärken
- Drucksache 16/9073 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({2})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heike
Hänsel, Dr. Diether Dehm, Wolfgang Gehrcke,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Zum EU-Lateinamerika-Gipfel in Lima Impulse für solidarische und gleichberechtigte
Beziehungen zwischen der EU und Lateinamerika
- Drucksache 16/9074 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({3})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Thilo
Hoppe, Marieluise Beck ({4}), Volker Beck
({5}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Die strategische Partnerschaft zwischen der
Europäischen Union, Lateinamerika und der
Karibik durch eine intensive Umwelt- und Klimakooperation beleben
- Drucksache 16/8907 16996
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({1})
zu dem Antrag der Abgeordneten Heike Hänsel,
Wolfgang Gehrcke, Monika Knoche, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Deutsche Kolumbien-Politik auf die Stärkung
ziviler Friedensinitiativen und der sozialen,
demokratischen und Menschenrechte ausrich-
ten
- Drucksachen 16/5678, 16/8062 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Anette Hübinger
Dr. Karl Addicks
Ute Koczy
f) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({2})
zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Karl
Addicks, Hellmut Königshaus, Jens Ackermann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Die Regierungsverhandlungen mit Bolivien
für eine kritische Überprüfung der Entwicklungszusammenarbeit nutzen und an Bedingungen knüpfen
- Drucksachen 16/5615, 16/9114 Berichterstattung:
Abgeordnete Anette Hübinger
Dr. Karl Addicks
Ute Koczy
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Marina
Schuster, Dr. Werner Hoyer, Jens Ackermann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Die Beziehungen zu Lateinamerika und den
Staaten der Karibik stärken und den EULateinamerika/Karibik-Gipfel zu einer ehrlichen Bestandsaufnahme nutzen
- Drucksache 16/9056 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({3})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich
sehe und höre dazu keinen Widerspruch. Dann werden
wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat für
die Bundesregierung Herr Bundesminister Dr. FrankWalter Steinmeier das Wort.
({4})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Vor vielen Jahren war Lateinamerika in unseren
Köpfen der Kontinent der Militärdiktaturen, der schweren Menschenrechtsverletzungen und der sozialen Ungleichheit. Viele, auch hier in Europa, haben lange Zeit
für einen friedlichen Übergang zu Demokratie und
Rechtsstaatlichkeit gekämpft, darunter auch Stiftungen,
Menschenrechtsorganisationen und vor allen Dingen die
Kirchen. Wer sich heute, mit mehr als 30 Jahren Abstand
zu den frühen 70er-Jahren, über die Entwicklung dieser
Region informiert, der wird sagen müssen: Viele Länder
Südamerikas sind auf ihrem Weg sehr weit vorangekommen. In vielen dieser Länder - davon habe ich mich
überzeugen können - werden die Verbrechen, die unter
Militärdiktaturen begangen wurden, inzwischen aufgearbeitet, in einigen Ländern auch gesühnt. Wir können
feststellen, dass die aus demokratischen Wahlen hervorgegangenen Wahlergebnisse auf den Straßen überwiegend nicht mehr infrage gestellt und dass auch nicht
mehr geputscht wird. Südamerika ist ein Kontinent im
Aufbruch.
({0})
Ich habe mich ganz neu auf Südamerika konzentriert.
Demnächst steht meine dritte Reise in diese Region an.
Viele dieser Länder haben nicht nur ihre demokratischen
Strukturen deutlich gestärkt, sondern können auch beeindruckende Wachstumsraten von überwiegend mehr als
6 Prozent und eine Beschleunigung ihrer industriellen
Entwicklung vorweisen. All das verändert das Gesicht
dieses Kontinents weitaus mehr, als es hierzulande oft
wahrgenommen wird. Wer weiß zum Beispiel, dass einer
der Marktführer beim Bau mittelgroßer Flugzeuge aus
Brasilien kommt? Wer weiß, dass einer der weltweit
größten Beton- und Zementhersteller aus Mexiko
kommt?
Mit Blick auf solche Entwicklungen ist klar: Wo neue
Märkte und neue Nachfrage entstehen, da erwächst auch
ein Exportmarkt, der für uns relevant ist. Insofern haben
wir allen Anlass, die wirtschaftliche Entwicklung, die in
Mittel- und Südamerika im Augenblick im Gange ist, zu
unterstützen und die globale Partnerschaft, um die wir
uns bemühen, auszubauen.
({1})
Das wird auch die Botschaft sein, die von der Europäischen Union auf dem gemeinsamen Gipfel mit den laBundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier
teinamerikanischen Staaten in wenigen Tagen in Lima
ausgehen wird.
Es gibt aber durchaus auch gegenläufige Prozesse;
das konnten wir durch die Medien wahrnehmen. Die
Hungerproteste in Mexiko, Honduras und vor allen Dingen Haiti sind ein deutlicher Weckruf, der uns nicht vergessen lassen sollte, dass es neben den vielen Gewinnern
der Globalisierung auch Verlierer gibt und dass manche
Kosten der Globalisierung für die betroffenen Bevölkerungsgruppen dort in der Tat größer sind, als es unsere
euphorische Zeichnung gelegentlich vermittelt.
Diese Krisensignale zeigen auch: Es wäre sicherlich
nicht ausreichend, auf die Selbstheilungskräfte des
Marktes zu setzen.
({2})
Politik ist gefordert, zumal internationale Politik, daneben natürlich eine faire Welthandelsordnung, aber auch
nationale Politik. Mit Blick darauf können wir feststellen, dass in Ländern wie Mexiko und Brasilien jedenfalls
das Bemühen besteht, die Kluft zwischen Arm und
Reich auch aufgrund nationaler Maßnahmen zu verringern. In bescheidenem Maße trifft das nach meiner
Kenntnis inzwischen auch für Panama zu.
Meine Damen und Herren, als Deutsche und als Europäer müssen wir dafür werben, dass die von mir angesprochenen Anstrengungen überall in Lateinamerika und
auch in der Karibik ganz vorn auf der Agenda Platz finden. Nicht nur wir wollen verdeutlichen, sondern auch
diese Staaten in Südamerika haben allen Anlass, zu zeigen, dass der Weg einer nationalen Politik zur Verringerung der Kluft zwischen Arm und Reich allemal richtiger und besser ist als die Rezepte von Hugo Chávez und
anderen.
({3})
Wegen der Herausforderungen, die vor uns liegen,
brauchen wir aus eigenem Interesse ein stabiles, ein
langfristig denkendes Lateinamerika. Der Ressourcenreichtum und die Biodiversität Lateinamerikas spielen
auch für uns eine zentrale Rolle; dies wird bei der internationalen Konferenz in Deutschland in der nächsten
Woche sicherlich vielfach hervorgehoben werden. Zugleich ist diese Region, etwa mit Blick auf Brasilien und
das Regenwaldgebiet, eine der verwundbarsten Regionen der Welt. Ich war deshalb froh, feststellen zu
können, dass beides erfolgt: Einerseits wächst die Sensibilität für diese Fragen, andererseits stößt unsere Bereitschaft, unser Angebot zur Zusammenarbeit in diesen
Fragen in den südamerikanischen Ländern auf Interesse
und Unterstützung.
Nehmen Sie das Beispiel Peru. Dort hängt die gesamte Wasserversorgung im Grunde genommen an einem Gletschergebiet, von dem wir wegen der zugrunde
zu legenden Annahmen zu den klimatischen Veränderungen wissen, dass es in 20 Jahren überwiegend nicht
mehr vorhanden sein wird, während gleichzeitig aufgrund der wirtschaftlichen Entwicklung der Wasserbedarf in der gesamten Region extrem steigt.
Das zeigt: Nicht nur wir sind daran interessiert, unsere den Umweltbereich betreffenden Technologien zu
exportieren; es gibt auch in dieser Region ein extrem hohes Interesse, daran zu partizipieren. Wir sollten zum
Teilen von Know-how bereit sein und Unterstützung für
entsprechende Kooperationen anbieten.
Man kann in diesen Wochen nicht auf Südamerika,
auf Lateinamerika schauen, ohne den Blick auch auf
Kuba zu richten; das wäre nicht richtig, auf jeden Fall
wäre es nicht vollständig. Ich will hier wie an anderer
Stelle sagen: Kuba ist auch mit seinem neuen Präsidenten Raúl Castro nicht über Nacht zu einer Demokratie
geworden. Wer so etwas behauptet, liegt sicherlich
falsch. Wir sollten die kleinen und vorsichtigen Schritte
in Richtung auf eine Öffnung - nach der sich die Menschen auf Kuba so sehr sehnen - aber auch nicht kleinreden. Der vorsichtige Wandel auf Kuba bietet Chancen.
Wir sollten diese Chancen im Sinne der Menschen, die
sich nach Öffnung sehnen, nutzen. Was meine Person
angeht, so will ich sagen: Wir diskutieren auf der europäischen Ebene zurzeit mit den Kollegen, welche Handlungsspielräume gegenwärtig bestehen und genutzt werden können.
({4})
Alles in allem haben wir eine Situation, in der sich
eine Erneuerung der Partnerschaft mit den lateinamerikanischen Staaten lohnt: erstens wegen der Eigenentwicklung in Südamerika selbst, zweitens wegen der gemeinsamen Herausforderungen, denen wir nur mithilfe
der südamerikanischen Staaten begegnen können, und
drittens, weil wir als Europäische Union eine Form regionaler Kooperation entwickelt haben, an der in Südamerika Interesse besteht, seitens der Andengemeinschaft und seitens des Mercosur. Wir sind in den
entsprechenden Vertragsverhandlungen leider noch nicht
weit genug gekommen; aber wir bestärken die Kommission darin, diesen Weg weiterzugehen.
({5})
Ich plädiere für eine Partnerschaft mit Südamerika auf
Augenhöhe. Machen wir etwas daraus!
Herzlichen Dank.
({6})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Werner Hoyer für
die FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich freue mich, dass sich der Außenminister für Latein16998
amerika interessiert und sich engagieren will. Wir werden ihn an dieser Ankündigung messen. Sein Amtsvorgänger hat sich sieben Jahre lang nicht die Bohne für
Lateinamerika interessiert.
({0})
Lateinamerika ist für uns ein natürlicher Partner. Wer
kommt einem als Erste in den Sinn, wenn es darum geht,
die Gemeinschaft der aufgeklärten, rechtsstaatlichen Demokratien des Westens zu organisieren? Natürlich die
meisten Länder Lateinamerikas. Das ist sicherlich noch
ein weiter Weg, und wir müssen beharrlich dranbleiben.
Deswegen liegt der Gedanke einer strategischen Partnerschaft nahe.
Der SPD-Vorsitzende hat diese Woche die Forderung
erhoben, die EU solle auf Lateinamerika zugehen und
mit Lateinamerika eine strategische Partnerschaft begründen. Genau das ist 1999 geschehen; seither haben
wir eine strategische Partnerschaft EU-Lateinamerika.
Darüber hinaus ist jedoch nichts geschehen; die Defizite
sind da.
({1})
Wir sind in Lateinamerika verdammt schwach vertreten.
In diese Lücke stoßen andere vor: die Vereinigten Staaten sowieso - sie haben es allerdings seit dem 11. September 2001 schwer -; aber auch China und Russland
haben Lateinamerika mittlerweile entdeckt.
Im Hinblick auf Wirtschaft und Demokratie gibt es
positive Entwicklungen - Sie haben sie zu Recht beschrieben -, die wir nicht unterschätzen dürfen. Es gibt
aber auch Rückschläge, zum Beispiel die rückwärtsgewandten neuen Autokraten. Diese Caudillos geben uns,
auch wenn sie demokratisch gewählt sind, großen Anlass zur Sorge. Noch mehr Sorgen macht mir allerdings,
dass sich trotz der Öl- und Gasmilliarden, die verschiedene lateinamerikanische Länder Jahr für Jahr einnehmen, an der sozialen Schieflage nichts geändert hat, dass
sie sogar zugenommen hat. Offensichtlich fühlen sich
große Teile der Eliten nicht dafür verantwortlich, eine
nachhaltige Entwicklung in Gang zu setzen, die Ölmilliarden zu nutzen, um endlich in Bildung, Forschung
und Technologie, in Zukunftssicherung zu investieren.
Ich sehe auch mit Sorge, dass Lateinamerika - übrigens
der Halbkontinent, der als Erster, schon vor über 40 Jahren, zur kernwaffenfreien Zone erklärt worden ist - sehr
wohl über ein Massenvernichtungsmittel verfügt, nämlich über Kokain. Wir haben keine Rezepte, damit klarzukommen. Es gibt also viel zu tun.
Ich glaube, die Europäer müssen sich überlegen, ob
sie weiterhin eher als Entwicklungshilfegeber auftreten
wollen oder ob eine strategische Partnerschaft nicht
mehr erfordert. Ich meine das gemeinsame Diskutieren
und Vereinbaren von Zielen auf der Grundlage abgestimmter Interessen und das gemeinsame Entwickeln
von Strategien, um diese Ziele tatsächlich zu erreichen.
Das ist das, was Sie zum Schluss angesprochen haben:
Partnerschaft auf Augenhöhe. Davon spüre ich gegenwärtig noch recht wenig. Es kann nicht sein, dass in gewissen zeitlichen Abständen große Gipfel stattfinden,
während Lateinamerika bei uns ansonsten im Ressort
Entwicklungszusammenarbeit angesiedelt ist. Das ist zu
wenig.
({2})
Es gibt große globale Themen, bei denen wir unsere
Freunde in Lateinamerika mit in die Pflicht nehmen wollen. Die Abrüstung habe ich eben genannt. Es gibt noch
andere, zum Beispiel im Bereich der Bekämpfung des
internationalen Terrorismus. Wir sollten nicht nur mit
Brasilien, einem BRIC-Land, sondern auch mit anderen
Ländern darüber reden, wie wir große Weltprobleme in
den Griff bekommen können.
Meine Damen und Herren, ich denke, wir werden
auch über etwas sprechen müssen, was uns und übrigens
auch Investoren - aber bei Weitem nicht nur - besonders
besorgt, die Frage der Rechtsstaatlichkeit in Lateinamerika. Das steht wiederum in einem Zusammenhang
mit unserer Entwicklungszusammenarbeit. Ich habe sehr
große Sorgen in Bezug auf Budgethilfen für Staaten, bei
denen von Rechtssicherheit und Transparenz des Regierungshandelns nicht gesprochen werden kann. Es gibt
gegenwärtig das recht krasse Beispiel Nicaragua. Ich
finde, die Bundesregierung sollte da konsequent bleiben.
Durch das Moratorium hinsichtlich der Budgethilfe sind
wir in einer guten Ausgangsposition. Der Bericht des
Bundesrechnungshofes für Nicaragua ist vernichtend.
Folglich muss man sich selber treu bleiben.
({3})
Ich bitte darum, dass wir auch mit unseren Elitepartnern in Lateinamerika offener und klarer sprechen. Es
reicht nicht aus, dass es sich mittlerweile erfreulich viele
Menschen in Lateinamerika leisten können, ihre Kinder
auf gute Privatschulen und anschließend zum Beispiel
nach Miami oder auf gute amerikanische Ivy League
Schools und Universitäten zu schicken. Wir müssen erreichen, dass das in Lateinamerika selbst für alle möglich wird. Das ist gegenwärtig nicht der Fall. Ich denke,
hier müssen wir auch gegenüber unseren Freunden deutliche Erwartungen artikulieren.
Schließlich noch etwas zum Thema „wirtschaftliche
Zusammenarbeit“; das wird beim Gipfel sicherlich wieder eine große Rolle spielen. Gerade wir als Liberale haben eine Idealvorstellung davon, wie man den Welthandel organisieren kann. Deswegen wünschen wir uns so
sehr einen Fortschritt bei den WTO-Verhandlungen. Wir
werden aber immer wieder hingehalten; es passiert
nichts.
Als gute Europäer sagen wir: Wir sind von unserem
regionalen Integrationsmodell so überzeugt und begeistert, dass die anderen das jetzt auch so machen müssen. Wir predigen dies gegenüber Mercosur, der Andengemeinschaft und anderen regionalen Zusammenschlüssen, übrigens nicht erst seit heute. Wir kommen aber
nicht voran, weil die Bereitschaft wichtiger kongenialer
Partner in Lateinamerika nicht vorhanden ist, die Form
von Souveränitätsverzicht zugunsten einer regionalen
Wirtschaftsintegration zu leisten, die wir uns vorstellen.
Deswegen werden wir uns als drittbeste Lösung ernsthaft damit befassen müssen, ob man nicht zumindest mit
einigen der Schlüsselländer bilaterale Handelsvereinbarungen treffen kann, weil wir ansonsten in Lateinamerika an Boden verlieren. Nicht nur die Vereinigten Staaten wollen an eine früher erfolgreiche Strategie zur
Entwicklung von Freihandelszonen mit Lateinamerika
anknüpfen; auch China ist auf diesem Gebiet außerordentlich aktiv. Selbst Russland ist auf dem Markt zu
sehen. Die Europäer verstecken sich immer hinter ihren
Idealvorstellungen von regionaler Wirtschaftsintegration
im Sinne von Mercosur nach EU-Modell, die ich nachhaltig teile. Ich glaube aber, dass das auf lange Zeit nicht
funktionieren wird. Deswegen sollten wir uns auch in
der Handelspolitik flexibler zeigen.
Herzlichen Dank.
({4})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege
Eckart von Klaeden das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Wir befinden uns in Zeiten großer politischer und
wirtschaftlicher Umwälzungen. Die Haupttriebfeder für
diese Umwälzungen ist die Globalisierung. Gerade in
den letzten Jahren ist deutlich geworden, dass die Welt
von morgen weniger euroatlantisch geprägt sein wird als
heute. Die Konsequenz daraus ist: Wenn wir wollen,
dass sich auch die zukünftige Weltordnung an den Prinzipien Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, soziale Gerechtigkeit und Achtung der Menschenrechte orientiert
- wenn wir also wollen, dass wir nach unseren Prinzipien auch in einer Weltordnung leben können, die nicht
mehr so stark euroatlantisch geprägt sein wird -, dann
müssen wir uns stärker nach verlässlichen Partnern umsehen als bisher. Dafür bietet sich Lateinamerika wegen
seiner Geschichte, seiner Werte und seines Selbstverständnisses als Teil der westlichen Welt und der Gemeinschaft der Demokratien besonders an. Es gibt keine andere Entwicklungsregion, mit der wir, was unsere
Prinzipien und Werte angeht, eine so große Übereinstimmung haben wie mit Lateinamerika.
Lateinamerika bringt mit seinen 36 Staaten in der internationalen Ordnung ein großes Gewicht auf die
Waagschale. Da wir in diesen Tagen auch über 60 Jahre
Israel diskutieren, weise ich darauf hin, dass ohne die
Stimmen der lateinamerikanischen Staaten der Staat
Israel mit hoher Wahrscheinlichkeit von den Vereinten
Nationen nicht anerkannt worden wäre.
Wir müssen unsere Partnerschaft mit Lateinamerika
pflegen und ausbauen, und zwar vor allem vor dem Hintergrund - das hat der Kollege Hoyer schon angesprochen -, dass Deutschland und Europa dort zunehmend
an Bedeutung zu verlieren scheinen, da mit China und
anderen aufstrebenden asiatischen Staaten neue Partner
bereitstehen, die zumindest aus wirtschaftlicher Sicht
nicht weniger attraktiv sind als Europa. Der seit Jahren
propagierten strategischen Partnerschaft müssen daher
endlich konkrete und substanzielle politische Initiativen
folgen.
({0})
Lateinamerika hat in den vergangenen Jahren eine tief
greifende politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Veränderung erfahren. Unser Lateinamerikabild ist
noch zu sehr von den 70er- und 80er-Jahren des letzten
Jahrhunderts geprägt. Aber während in den 70er-Jahren
noch autoritäre Regimes die politische Landschaft Lateinamerikas dominiert haben, werden mittlerweile fast
alle Staaten außer Kuba von demokratisch gewählten
Regierungen geführt.
Herr Minister, ich stimme Ihnen ausdrücklich zu, dass
wir die kleinen Schritte, die Raúl Castro in Kuba unternimmt, nicht kleinreden sollten; denn dann wären sie ja
nicht mehr zu erkennen. Es müssen daher noch wesentlich mehr Schritte hinzukommen, zum Beispiel die Freilassung politischer Gefangener. Gerade ist der weltberühmten Bloggerin Yoani Sánchez die Ausreise nach
Spanien verweigert worden, die dort den renommierten
Ortega-y-Gasset-Preis der Zeitung El País entgegennehmen sollte. Sie ist mit ihren Bloggerforen eine Hoffnung
für die bürgerliche Gesellschaft, die Zivilgesellschaft
und die demokratische Opposition in Kuba. Ich finde,
wir alle sollten das Anliegen unterstützen, dass sie ausreisen darf und auf diese Weise ein Zeichen für das demokratische Kuba in Spanien setzen kann.
({1})
Heute wurde über die Agenturen verbreitet, dass
Morales in Bolivien ein Referendum zu seiner Amtsenthebung akzeptiert. Auch Herrn Chávez sind bei seinem
Referendum wegen seines autoritären und populistischen Kurses und wegen seiner offenen Sympathie für
Terrorgruppen wie der FARC auch von der eigenen Bevölkerung deutliche Grenzen gesetzt worden.
({2})
- Ich weiß, dass sie mit ihnen sympathisieren und dass
ihnen der Ausgang des Referendums nicht gefällt. Deswegen halte ich es für sinnvoll, das zu erwähnen.
Das Fehlen etablierter und stabiler Parteiensysteme
und das zunehmende Wohlstandsgefälle sind gerade für
die jungen Demokratien in Lateinamerika eine besondere Gefahr. Deswegen ist es unsere Aufgabe - wir haben die Möglichkeit -, diese Transformationsprozesse
weiter zu unterstützen; gleichzeitig ist aber auch zur
Kenntnis zu nehmen, dass diese Prozesse schon erhebliche Erfolge zeigen. Ich habe das schon im Hinblick auf
die demokratische Entwicklung festgestellt, aber es gilt
auch für die wirtschaftliche Entwicklung.
Das neue Lateinamerika, dem wir uns zuwenden müssen, erzielt zum Beispiel seit Jahren deutlich höhere
Wachstumsraten als wir. Unternehmen dieses neuen
Lateinamerikas - die sogenannten Multilatinas - sind
heute auf dem Weltmarkt zu einer Herausforderung als
Konkurrenten und zu Partnern im Hochtechnologiebereich geworden. Ich erinnere zum Beispiel an den brasilianischen Flugzeugbauer Embraer. Lateinamerikas
Reichtum an Bodenschätzen und Energieressourcen sowie sein landwirtschaftliches Potenzial haben die Region
zu einem begehrten Partner in der Weltwirtschaft werden
lassen. Gerade wenn wir uns die Struktur der chinesischen Wirtschaft anschauen, stellen wir fest, dass die lateinamerikanische und die chinesische Wirtschaft außerordentlich komplementär sind. China braucht wegen
seines gigantischen Wirtschaftswachstums große Rohstoffmengen, und Lateinamerika ist langfristig in der
Lage, sie zu liefern. Im Gegenzug kann China nahezu
alle Güter produzieren, die in Lateinamerika nachgefragt
werden.
Obwohl unsere Volkswirtschaften ähnlich komplementär sind, müssen wir feststellen, dass insbesondere
die Agrarpolitik als ein Hindernis für eine vertiefte
Kooperation zwischen der Europäischen Union und Lateinamerika erscheint.
({3})
Ich glaube, dass die aktuelle Entwicklung auf den Nahrungsmittelmärkten die Möglichkeit bietet, dieses Hindernis nach und nach zu beseitigen. Gerade das Beispiel
China zeigt, dass Lateinamerika nicht auf uns wartet. In
Zukunft werden wir auf Lateinamerika mehr angewiesen
sein als Lateinamerika auf uns.
Diese Herausforderung anzunehmen, erfordert Handeln auf drei Ebenen: erstens in Deutschland selbst,
zweitens in unseren bilateralen Beziehungen zu den lateinamerikanischen Staaten und drittens in der Europäischen Union bei ihren multilateralen Bemühungen. Wir
müssen also eine aktive und vor allem eine kontinuierliche Lateinamerikapolitik betreiben, die die Region wieder stärker in den Mittelpunkt unseres Interesses rückt.
Entwicklungspolitik sollte sich stärker an der Stabilisierung der fragilen demokratischen Systeme und an der
Überwindung defizitärer Verwaltungsstrukturen orientieren sowie für eine Verbesserung der sozioökonomischen und politischen Teilhabe aller gesellschaftlichen
Gruppen sorgen, damit die demokratischen Strukturen
gestärkt werden können.
Auf die vielfältigen Möglichkeiten der Kooperation
mit Lateinamerika auf internationaler Ebene - sei es bei
der Reform der Vereinten Nationen, sei es bei der Kooperation im Klimaschutz - kann ich leider nicht mehr
zu sprechen kommen. Die Stichpunkte sind Ihnen aber
sicherlich bekannt.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Das Wort hat nun Kollegin Heike Hänsel, Fraktion
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber
Herr Hoyer, Lateinamerika ist mehr als eine Marktlücke.
Lateinamerika ist ein Kontinent mit Millionen von Menschen, die auf ein besseres Leben hoffen. Auch darum
müsste es auf dem Gipfel in Lima in der nächsten Woche
gehen.
({0})
Die politischen Rahmenbedingungen und die neuen Entwicklungen, vor deren Hintergrund dieser Gipfel stattfindet, sind entscheidend. Wir erleben, dass soziale
Bewegungen in Lateinamerika es geschafft haben, den
Widerstand gegen die neoliberale Globalisierung auszubauen und ihre Folgen teilweise einzudämmen.
({1})
Das sind Hoffnungsträger, die wir unterstützen müssen.
Diese sozialen Bewegungen haben dazu beigetragen,
dass neue Regierungen in Lateinamerika an die Macht
gekommen sind. Diese versuchen teilweise, neue Ansätze im Rahmen ihrer Regierungsprogramme umzusetzen, manchmal gut, manchmal schlechter.
({2})
Die Regierungen werden von den Bewegungen kritisch
begleitet. Es gibt Aufbrüche. Sie sind ein Zeichen der
Hoffnung, weil sie gegen die bisherige neoliberale Globalisierung stehen.
({3})
Die Bewegungen sind breit gefächert. Es gibt Millionen
Landlose und indigene Bevölkerungen, die aufstehen,
sich um den Regenwaldschutz bemühen und ein Recht
auf Land einfordern. Es gibt Frauenorganisationen und
Kleinbauern, die sich auf den Weg machen. All das ist
Lateinamerika. Diese Menschen brauchen unsere Solidarität.
({4})
Für mich sind Länder wie Venezuela, Bolivien,
Ecuador, Paraguay, Brasilien, Argentinien und Guatemala Hoffnungsträger. Wir müssen sie unterstützen. Wir
dürfen nicht von oben herab sagen, welche Politik sie
betreiben sollen. Die entscheidende Frage ist: Wie reagiert die Europäische Union auf die aktuellen Entwicklungen in Lateinamerika? Was hat sie eigentlich anzubieten? Unterstützt sie diese Prozesse und versucht sie,
diese zu befördern, oder boykottiert sie eher alternative
Ansätze wie die Süd-Süd-Kooperation, die regionale Integration und die Entwicklung einer Bank des Südens als
Alternative zu IWF und Weltbank?
Wir sehen ganz klar, dass die Europäische Union mit
ihren Wirtschafts- und Freihandelsabkommen, die sie
plant, diese Ausrichtung boykottieren will. Wir erleben,
dass eine politische Strategie ausgearbeitet wird - das ist
in der Lissabon-Strategie festgehalten -, Europa zur
größten Wirtschaftsmacht und zum größten Wirtschaftsraum der Erde zu entwickeln. Der Anspruch eines globalen Europas wird doch formuliert. Es gibt aber auch dazu
eine Gegenbewegung in der Europäischen Union. Auch
hier stehen viele Menschen zum Beispiel gegen den EUVertrag und diese neoliberale Politik auf.
({5})
Diese Menschen in Lateinamerika und hier in der Europäischen Union müssen sich vernetzen und gemeinsam
gegen diese Politik arbeiten. Sie werden sich - das ist interessant - nächste Woche auf einem alternativen
Gipfel in Lima treffen und genau diese Forderungen formulieren. Sie haben bisher dazu nicht einmal die Möglichkeit. Die peruanische Regierung verhindert, dass sie
sich legal treffen können. Ich fordere hier die Bundeskanzlerin, die sich weltweit für Menschenrechte einsetzt,
auf, sich auch dafür einzusetzen, dass sich die Menschen
dort treffen können und auf dem Alternativgipfel in
Lima friedlich demonstrieren können.
({6})
Es gibt so viele hoffnungsvolle Prozesse in Lateinamerika. Es finden Verfassungsprozesse in Ecuador
und in Bolivien statt. Herr Steinmeier, es ist eine Katastrophe, dass es keine massive Unterstützung für den
Verfassungsprozess und den gewählten Präsidenten von
Bolivien, Evo Morales, gibt. Er braucht unsere Unterstützung.
({7})
Von den dortigen Eliten wird eine Sabotagepolitik betrieben. Ich würde von Ihnen gerne einmal eine Stellungnahme zu den Abspaltungstendenzen der Ostprovinzen
in Bolivien hören. Dazu muss es doch eine Haltung der
Bundesregierung geben. Hier werden zukunftsvolle Prozesse massiv boykottiert. Wir fordern eine offensive Unterstützung der bolivianischen Politik.
({8})
Es gibt viele andere hoffnungsvolle Ansätze, die wir
im Rahmen der Entwicklungspolitik besprochen haben.
Ich nenne als Beispiel Ecuador. Ecuador will Kompensationszahlungen dafür, dass es kein Erdöl im Nationalpark Yasuní fördert. Wir müssen Ecuador dabei
unterstützen. Das ist richtige Klimaschutzpolitik, im
Gegensatz zu den neuen Abkommen mit Brasilien,
durch die der Anbau von Agrarprodukten für Treibstoffe
noch weiter ausgebaut wird. Solche Prozesse wie in
Ecuador müssen wir massiv unterstützen. Diese kommen hier viel zu wenig zur Sprache, ebenso wie das, was
die Menschen an der Basis entwickeln.
({9})
Schauen Sie sich Kolumbien an. Es gibt Friedensgemeinden in Kolumbien, in denen sich Menschen mit
großem Mut zusammengeschlossen haben, um inmitten
von Regionen des Krieges humanitäre, gewaltfreie Zonen zu entwickeln. Sie werden massiv von Paramilitärs,
von der Armee und auch von der Guerilla angegriffen.
Diese Friedensgemeinden brauchen Unterstützung, weil
sie Hoffnungsträger für eine friedliche Entwicklung
Kolumbiens sind,
({10})
aber nicht Präsident Uribe und seine Regierung, die immer tiefer im paramilitärischen Sumpf versinkt.
({11})
Mittlerweile gibt es sogar Untersuchungen gegen den
Präsidenten Uribe. Herr Steinmeier, Sie müssen sich
wirklich fragen lassen, wer Ihr Kooperationspartner für
mehr Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte in Lateinamerika ist.
({12})
Wir wollen eine Neuausrichtung der Kolumbienpolitik.
Wir glauben, dass wir auf die zivilen friedenspolitischen
Initiativen von unten setzen müssen und diese Menschen
unterstützen müssen.
Ich habe ein ganz konkretes Anliegen: In meinem
Wahlkreis in Tübingen wurden Patenschaften für diese
Friedensgemeinden übernommen. Bürgerinnen und Bürger aus Tübingen haben mir gestern Abend eine Liste
mit Unterschriften mitgegeben, weil sie wissen, dass ich
nach Lateinamerika fahre. Sie fordern, dass die Bundesregierung offiziell die Friedensgemeinden in Kolumbien
unterstützen soll.
({13})
Diese Unterschriftenliste würde ich gerne der Kanzlerin
mitgeben. Wir brauchen eine neue Politik gegenüber
Kolumbien.
Danke.
({14})
Das Wort hat nun Jürgen Trittin, Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich
glaube, dass der Außenminister an einem Punkt sehr
recht hatte, nämlich in dem, dass Lateinamerika in einer
sehr positiven Entwicklung ist. Für mich ist das am deutlichsten geworden, als Frau Bachelet in Chile zur Präsidentin gewählt wurde. Sie ist eine Person, die in den
70er-Jahren noch vor dem Putsch in Deutschland Asyl
beantragen musste und es bekommen hat.
({0})
- In der DDR, das zu erwähnen, ist an der Stelle wichtig. Was lehrt uns das? Das lehrt uns, dass wir in der Lateinamerikapolitik in Sachen Menschenrechte und
Demokratie fest stehen müssen, aber dass wir uns vor
einseitiger Parteinahme gegenüber Regimes hüten sollten, die uns scheinbar nahestehen.
Das gilt etwa mit Blick auf Herrn Uribe, der nun
wahrlich kein großer Bündnispartner im Bereich der
Menschenrechte ist.
({1})
Im Kampf gegen den Terrorismus möchte ich den, ehrlich gesagt, nicht an meiner Seite haben. Wir müssen uns
natürlich nicht nur - Herr Hoyer hat darauf hingewiesen mit dem Drogenanbau beschäftigen, sondern auch mit
der Form von Drogenbekämpfungspolitik, die weite
Teile der dortigen Ökosysteme zerstört.
Nehmen wir ein anderes Beispiel: Da mit Evo
Morales zum ersten Mal ein Vertreter der Linken und der
indigenen Völker gewählt worden ist, versuchen nun bestimmte Teile der bolivianischen Bevölkerung, ein Referendum durchzuführen, das im Kern auf die Spaltung
des Landes zielt.
({2})
Es verfolgt ein bisschen das Motto: Wir wollen unsere
Steuern behalten.
({3})
Was würden Sie sagen, wenn in Hamburg eine Volksabstimmung darüber erfolgen würde, dass alle Steuern in
Hamburg bleiben? Dann würden die Umländer, auch die
Niedersachsen, lieber Kollege von Klaeden, das nicht
akzeptieren.
({4})
Die Ablehnung solcher Praktiken darf allerdings umgekehrt - und das sage ich ganz deutlich - auch nicht
zum Abfeiern von anderen Regimes und anderen Richtungen führen. Ich bin sehr gespannt, was aus dem Prozess folgt, den Raúl Castro begonnen hat, und wie weit
und wie mutig er ihn fortführen wird. Das darf aber kein
Anlass sein, zu Themen wie Menschenrechtsverletzungen, Reiseverbote und dergleichen zu schweigen.
({5})
Meine Damen und Herren, man muss auch Hugo
Chávez nicht für die Inkarnation des Bösen halten - das
kann man so oder so sehen -,
({6})
aber man sollte sich mit ihm auch nicht gemein machen.
Ich habe etwas Lustiges gelesen. Unter der Überschrift
„Zu Gast bei Hugo Chávez“ heißt es:
Am 24. Februar hat der venezolanische Präsident
Hugo Chávez die Abgeordnete Nele Hirsch in seiner TV-Show Aló Presidente empfangen.
({7})
Die 28-Jährige wurde in einem Airbus A 319 der
Präsidentenflotte
- immerhin fliegt er nicht Boeing ({8}) und im Helikopter Typ Super Puma ({9}) eingeflogen. Der TV-Auftritt
war der Auftakt einer einwöchigen Delegationsreise, an der auch … Dorothée Menzner … und
Paul Schäfer teilnahmen.
Das Ganze stammt nicht aus der Bunten,
({10})
sondern aus der Zeitung Klar. Das ist das Organ der
Linksfraktion.
({11})
Gnädige Frau, ich glaube, da haben Sie sich für Propaganda hergegeben,
({12})
und das ist das Gegenteil einer vernünftigen Partnerschaft mit Lateinamerika.
Wenn wir die Lateinamerikapolitik fortentwickeln
wollen, dann müssen wir dies auf der Basis gemeinsamer Interessen und gemeinsamer Werte tun. Nur auf dieser gemeinsamen Basis können wir drängende globale
Probleme angehen.
Die Voraussetzungen dafür sind nicht schlecht: Die
Entwicklung Lateinamerikas in Richtung Demokratie
und Rechtsstaatlichkeit sowie das Bekenntnis zu Multilateralismus sind gute Voraussetzungen.
In Lima werden wir über ein Thema reden, das auf
der Tagesordnung steht, nämlich über die Frage, wie wir
gemeinsam mit dem Klimawandel und der Bekämpfung von Armut umgehen. Dabei müssen wir natürlich
festhalten: Diese beiden Themen gehören unmittelbar
zusammen. Wir haben ein massives Interesse daran, dass
die sensiblen Ökosysteme Lateinamerikas erhalten werden. Sie bieten nämlich nicht nur einen unvorstellbaren
Artenreichtum, sondern sind auch für das globale Klima
von zentraler Bedeutung. Sie sind allerdings einem massiven Nutzungsdruck ausgesetzt.
Wenn wir diese Ökosysteme erhalten wollen, dann
müssen wir uns solchen Initiativen wie dem Angebot der
Regierung Ecuadors öffnen. Ecuador bietet an, auf die
Ausbeutung von Ölvorräten im Yasuni-Nationalpark zu
verzichten. Da Ecuador dadurch Einnahmen entgehen,
bedarf es zwar keines kompletten Ausgleichs,
({13})
aber die Europäer sollten sich im Gegenzug an einem
fairen und gemeinsamen Interessenausgleich beteiligen.
Wir sagen also: Ihr verzichtet auf die Reichtümer, die
sich daraus ergeben können. Als Ausgleich für diesen
Verzicht transferieren wir als diejenigen, die mitverantwortlich für den Klimawandel sind und die Masse des
Öls nachfragen, Geld an euch für eine vernünftigere und
nachhaltigere Entwicklung. Dies könnte wirklich ein
Musterbeispiel dafür sein, was auf der Vertragsstaatenkonferenz des Übereinkommens über die biologische
Vielfalt in den nächsten Wochen in Bonn verhandelt
wird.
({14})
Nehmen wir ein anderes Beispiel. Deutschland hat
gerade im Bereich der Technologiezusammenarbeit zum
Urwaldschutz etwas zu bieten. Das Projekt PPG7, das
von Helmut Kohl und Angela Merkel begonnen wurde,
von der Folgeregierung und der jetzigen Regierung fortgesetzt wurde, ist ein Musterbeispiel dafür, wie man Fragen der Nutzung und des Schutzes des Urwaldes in Brasilien zusammenbringen kann.
Ebenso zählt für mich zur Partnerschaft auch, in bestimmten Punkten Klartext zu reden. Herr Hoyer, Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, dass Lateinamerika
der erste Kontinent gewesen ist, der sich komplett zur
nuklearfreien Zone erklärt hat. Wie passt es zu dieser
Grundidee, wenn ausgerechnet der brasilianische Präsident, der Präsident eines Landes, das 80 Prozent seiner
Elektrizität aus erneuerbaren Energien erzeugt, das gerade riesige Ölvorräte im Atlantik gefunden hat, das über
Gasvorkommen verfügt, im Energiebereich also absolut
autark ist und sogar Energie exportiert, fordert, Brasilien
müsse unbedingt den nuklearen Brennstoffkreislauf von
der Anreicherung bis zur Wiederaufbereitung beherrschen? Meine Damen und Herren, das hat nichts, aber
auch gar nichts mit Energiepolitik zu tun, sondern hier
steht der Verdacht der Proliferation im Raum. Deswegen sind wir, wie ich glaube, gut beraten, darauf zu drängen, dass das deutsch-brasilianische Atomabkommen
endlich in ein Abkommen zur Zusammenarbeit auf dem
Gebiet der erneuerbaren Energien und der Energieeffizienz überführt wird.
({15})
Gerade im Bereich der energetischen Zusammenarbeit liegen ja unglaubliche Chancen, zum einen für den
Klimaschutz. So können wir durchaus noch etwas von
Brasilien lernen: Unser Bundesumweltminister ist ja mit
dem Projekt, 10 Prozent Bioethanol dem Benzin beizumischen, gescheitert; dagegen beträgt die Beimischungsrate in Brasilien heute schon 27 Prozent, und die Motoren vertragen das dort. Das scheinen die Brasilianer
besser zu können als die Produzenten in Deutschland; allerdings stammen dort viele Autos von deutschen Automobilherstellern. Irgendetwas scheint da also nicht zu
stimmen. Zum anderen kann man deutlich machen, dass
die Erzeugung von Bioenergie und die Nutzung von erneuerbaren Energien auf der einen Seite große Risiken
bergen - ich nenne den Nutzungsdruck, der zur Vernichtung von Primärwäldern führen kann -, auf der anderen
Seite aber auch die Chance bieten, Armut zu überwinden. Das sieht man ja ganz deutlich am brasilianischen
Biodieselprogramm.
Was sollen wir also tun? Wir müssen zu einem Zertifizierungssystem kommen, das sich nicht auf Biokraftstoffe beschränkt, sondern alle Agrarprodukte umfasst,
also Lebensmittel, Nahrungsmittel und Treibstoffe.
({16})
Um das bei den WTO-Verhandlungen zu erreichen, müssen wir den Mut aufbringen, eines der Haupthindernisse
hierfür abzuschaffen, nämlich die marktprotektionistischen Schutzzölle, die sich Europa immer noch gönnt.
({17})
Das ist nämlich nicht fair, wie wir mit denen hier umgehen. Es müssen also soziale und ökologische Standards
verankert werden, und auf der Basis dieser sozialen und
ökologischen Standards muss Freihandel ermöglicht
werden. So sieht mein Verständnis von Partnerschaft
aus.
Zum Abschluss - auch das gehört zu diesem Thema -:
Wir müssen die Rolle Lateinamerikas in den globalen
Systemen ernst nehmen. Ich finde, man kann nicht über
Partnerschaft mit Lateinamerika sprechen und zugleich
die Frage ausklammern, dass Lateinamerika bis heute im
wichtigsten Gremium der Vereinten Nationen, nämlich
im Sicherheitsrat, nicht repräsentiert ist.
({18})
Hier besteht akuter und dringender Nachholbedarf. Partnerschaft zum gemeinsamen Vorteil - das muss die
Grundlinie unserer Lateinamerikapolitik sein.
({19})
Das Wort hat nun Kollege Sascha Raabe, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Lateinamerika ist ein faszinierender Kontinent,
in Anbetracht der Vielfalt der Natur vielleicht der
schönste Kontinent. Er steht uns auch aufgrund vieler
gemeinsamer kultureller Traditionen sehr nahe. Auch in
Deutschland erfreuen sich viele an der Farbenpracht und
der Lebensfreude, die wir oft auch unmittelbar durch die
Menschen aus Lateinamerika, die bei uns leben, erfahren.
Es ist aber auch ein Kontinent mit großen Widersprüchen. Denn trotz des Reichtums und der Schönheit können nicht alle Menschen auf diesem Kontinent ohne
Hunger und Armut leben, und das, obwohl viele Böden
sehr fruchtbar sind, obwohl Rohstoffe vorhanden sind
und obwohl viel Reichtum, auch finanzieller Reichtum,
vorhanden ist, der sich allerdings in den Händen einiger
weniger Menschen befindet. Genau das ist eines der
Probleme: Nirgendwo sonst gibt es eine so große Ungleichverteilung zwischen Arm und Reich.
Wir haben in den letzten Jahren viele Fortschritte in
Richtung Demokratie gesehen. Ich sage ganz klar, dass
an der Armut zu einem großen Teil auch die Industrieländer schuld sind, und zwar aufgrund des ungerechten
Welthandelssystems. Das wurde schon erwähnt; ich
komme später darauf zurück. Aber wahr ist auch, dass es
- unabhängig von den äußeren Einflüssen und trotz Fortschritten in Richtung Demokratie - oft immer noch eine
schlechte Regierungsführung, viel Korruption und eine
ungenügende finanzielle Beteiligung der Eliten und
Oberschichten in diesen Ländern gibt, die sich nicht genug um die armen Menschen kümmern.
Vor diesem Hintergrund setzt die deutsche Entwicklungszusammenarbeit in Lateinamerika seit vielen Jahren die richtigen Schwerpunkte. Wir setzen uns für eine
gute Regierungsführung ein. Wir unterstützen Länder
bei Antikorruptionsmaßnahmen, bei der Einführung
transparenter Ausschreibungsregeln im öffentlichen Beschaffungswesen, bei der Stärkung der Justiz- und
Rechtssysteme oder auch bei einer effizienten Steuerund Haushaltspolitik. Das ist ganz wichtig. Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung hat neulich erst einen Kongress mit unseren
lateinamerikanischen Partnern veranstaltet, um die Einführung von Steuersystemen zu unterstützen, durch die
die Eliten in diesen Ländern durch höhere Zahlungen zu
mehr Einnahmen beitragen, die für soziale Zwecke ausgegeben werden können, die zum Beispiel in Bildung
oder den Aufbau sozialer Sicherungssysteme fließen
können.
Wir stärken viele lokale Prozesse, damit auch benachteiligte Menschen oder Menschen aus finanziell
schwachen Familien auf der kommunalen Ebene in der
Lage sind, Haushaltspolitik vor Ort mit zu kontrollieren,
sich an der Demokratie zu beteiligen und für ihre Interessen zu streiten.
Die Ergebnisse dieser Form der Entwicklungszusammenarbeit sind natürlich nicht so konkret messbar wie
bei dem Bau einer Schule oder einer Trinkwasserversorgungseinrichtung. Aber die Tatsache, dass es in den letzten Jahren, vielleicht sogar im letzten Jahrzehnt, keine
militärischen Putschversuche mehr gab und dass sich die
Demokratie in allen Ländern - eigentlich bis auf Kuba;
wir haben es gehört - durchgesetzt hat, ist auch ein Erfolg der deutschen und der internationalen Entwicklungszusammenarbeit.
Auch die Tatsache, dass bei den jüngsten Wahlen in
vielen lateinamerikanischen Ländern endlich die soziale
Frage die dominierende Rolle gespielt hat, ist zu einem
Teil darauf zurückzuführen, dass wir das dort über unsere Durchführungsorganisationen und politischen Stiftungen immer wieder zum Thema gemacht haben und
dass wir Oppositionspolitikern, Menschen aus der Zivilgesellschaft, Gewerkschaftern und anderen immer wieder die Chance gegeben haben, mit unseren politischen
Stiftungen Dialoge zu führen, um so auch die parlamentarische Opposition zu stärken.
Ich glaube schon, dass wir dort eine sehr gute Arbeit
geleistet haben. Messbare Erfolge sind an einigen Personalien erkennbar. Mittlerweile sind in einigen Regierungen prominente Führungspersönlichkeiten vertreten, die
früher Mitarbeiter der GTZ oder der Friedrich-EbertStiftung waren. Ich nenne nur den Generalstaatsanwalt
Kolumbiens, Iguarán, der für die GTZ einmal ein Gutachten zum Justizsystem erstellt hat und deshalb in diese
Position gekommen ist. Der Präsident der Verfassunggebenden Versammlung in Ecuador, Alberto Acosta, war
über zehn Jahre lang Mitarbeiter der Friedrich-EbertStiftung. Das sind Beispiele dafür, dass wir über die
breitangelegte Art der Zusammenarbeit in diesen Ländern durchaus einen positiven Einfluss haben.
Ich möchte an der Stelle all denen, die dazu beigetragen haben, Dank aussprechen, aber auch denjenigen, die
wir im Rahmen des - ein weiterer Schwerpunkt - zivilen
Friedensdienstes in Länder Lateinamerikas schicken,
wo sie durch Prävention, Konfliktbewältigung und Versöhnung einen unschätzbaren Dienst leisten und dabei an
ihre psychischen und physischen Grenzen gehen. Ihnen
sollten wir alle ein herzliches Dankeschön aussprechen.
({0})
Beim Stichwort „ziviler Friedensdienst“ fällt mir sofort Kolumbien ein. Frau Hänsel, Kolumbien ist schwerpunktmäßig ein Partnerland der deutschen Entwicklungszusammenarbeit. Natürlich stärken wir nur die
Kräfte, die für Menschenrechte eintreten. Wir wollen die
Rechtsstaatlichkeit fördern und unterstützen deswegen
das Justizsystem. Wir stärken natürlich auch die Friedensgemeinden.
Es ist schon erstaunlich, dass ausgerechnet Sie von
der Linkspartei - Herr Trittin hat eben zu Recht darauf
hingewiesen - sich von Herrn Chávez hätscheln lassen
und ihn im Gegenzug quasi als sozialen Friedensengel
bezeichnen. Es handelt sich aber um einen Präsidenten,
der die FARC direkt unterstützt. Es gibt fast erdrückende
Beweise, dass Präsident Chávez der FARC 300 Millionen US-Dollar zukommen lässt und sie an Öleinnahmen
Venezuelas beteiligen will. Er möchte ihr auch Waffen
aus den Altbeständen der Armee liefern. Das wird von
Interpol untersucht. Heute läuft die Meldung über den
Ticker, dass es Anzeichen dafür gibt, dass das alles wahr
ist.
Es ist wirklich ein Skandal, dass Sie in Ihrem Antrag
fordern, die FARC von der Terrorliste zu streichen. Da
wird schon ein gewisses Muster deutlich. Die Organisation, die die meisten Morde, Entführungen und Bombenanschläge in Kolumbien verübt, ist die FARC. Aber Sie
sind auf diesem Auge blind und preisen einen Präsidenten, der diese Terrororganisation unterstützt. Dies ist unglaubwürdig. Sie müssen schon Menschenrechtsverletzungen auf beiden Seiten anprangern.
({1})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Hänsel von der Fraktion Die Linke?
Ja.
({0})
Danke schön, Herr Präsident. - Herr Raabe, haben
auch Sie vielleicht die Berichte von US-Wissenschaftlern gelesen, die den Computer des zweiten FARCKommandierenden, der getötet worden ist, untersucht
haben und die die Aussagen der kolumbianischen Regierung bisher für nicht sehr belastbar halten? Es ist sehr
viel übertrieben und spekuliert worden. Bis jetzt gibt es
keine Ergebnisse von Interpol, die zeigen, dass das, worauf Sie sich berufen, den Tatsachen entspricht.
({0})
Glauben Sie nicht auch, dass es in Kolumbien eine
friedliche Lösung dieses Konfliktes geben muss und
dass es nicht möglich ist, diese Auseinandersetzung militärisch in irgendeiner Form zu gewinnen?
Wenn wir uns dafür einsetzen, dass die FARC von der
Terrorliste gestrichen wird, dann tun wir dies nicht, um
die FARC zu entlasten, sondern deswegen, um die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass Friedensverhandlungen und Friedensgespräche umfassend möglich werden, indem die FARC als Verhandlungspartner in der
Europäischen Union auftreten kann.
({1})
Diese Perspektive müssen wir doch eröffnen.
({2})
Sie sprachen von den Friedensgemeinden. Natürlich
bekommen sie Entwicklungsunterstützung. Aber wenn
die kolumbianische Regierung öffentlich die Mitglieder
der Friedensgemeinden und auch viele Menschenrechtsaktivisten in die Nähe von Terroristen rückt, dann wird
dadurch der Erfolg dieser Arbeit gefährdet.
({3})
Frau Kollegin, Sie sollten eine Frage stellen!
Ich frage: Wie stehen Sie dazu, dass Präsident Uribe
({0})
- könnte ich bitte einmal ausreden? ({1})
und viele Mitglieder der Regierung Kolumbiens Menschenrechtsaktivisten und Mitglieder der Friedensgemeinden offiziell diffamieren und sie in die Nähe von
Terroristen rücken? Ist das Friedenspolitik?
Sehr geehrte Kollegin Hänsel, ich bin nicht der Pressesprecher von Herrn Uribe. Deswegen möchte ich nicht
kommentieren, was Herr Uribe angeblich gesagt und
was er nicht gesagt hat.
Ich habe schon dargelegt - diesen Punkt haben auch
Sie angesprochen -, dass wir auf eine friedliche Lösung
in Kolumbien setzen. Wir unterstützen im Rahmen der
Entwicklungszusammenarbeit seit vielen Jahren diese
Prozesse; wir unterstützen auch die jetzige Regierung
Kolumbiens auf diesem Weg. Natürlich ist der von der
Regierung eingeschlagene Weg noch mit großen Mängeln behaftet. Aber so negativ, wie es oft geschildert
wird, ist die Situation nicht.
({0})
Die Zahl der Morde und Entführungen ist zurückgegangen. Menschen können sich endlich wieder in den Großstädten und zwischen den Großstädten frei bewegen.
Sie sagen, man könne den Konflikt nicht militärisch
lösen. Aber einem Staat muss es erlaubt sein, Polizeikräfte einzusetzen. Genau das macht Kolumbien. Es
macht keinen Sinn, mit einer menschenverachtenden
Terrororganisation, die Bomben legt und die die ehemalige Präsidentschaftskandidatin Ingrid Betancourt immer
noch unter menschenunwürdigen Bedingungen fast wie
ein Tier gefangen hält,
({1})
zu reden. Es macht keinen Sinn, dass sich Herr Uribe
- wie Sie das fordern - mit denen zum Kaffeetrinken
trifft. Das sind Kriminelle.
({2})
Wir haben damals den RAF-Terroristen auch nicht
Bayern als neutrale Verhandlungszone angeboten.
({3})
Sie fordern von der kolumbianischen Regierung, einer Terrororganisation ein riesiges Gebiet zur Verfügung
zu stellen - über das diese Terrorgruppe dann offiziell
herrscht - und dann jahrzehntelang über Frieden zu verhandeln. Ich finde es richtig, dass eine Terrororganisation als Terrororganisation behandelt wird.
Aber wir prangern auch ganz entschieden alle Übergriffe des Militärs auf die Zivilbevölkerung an. Wir fordern die kolumbianische Regierung auf, besser dagegen
vorzugehen. Wir halten da beide Augen auf und sind
wachsam.
({4})
Frau Hänsel, eines muss ich Ihnen schon noch sagen.
Was die auf diesem Computer gespeicherten Daten angeht: Gerade heute, am 9. Mai - mein Büro hat mich soeben über eine entsprechende Tickermeldung informiert -,
haben US-Wissenschaftler gesagt, nach Recherchen sei
die Authentizität dieser Daten eigentlich bewiesen. Es ist
ja nicht so, dass das Ganze nur eine Theorie ist. In Costa
Rica wurden bereits 480 000 Dollar gefunden; es wurden auch 30 Kilogramm Uran gefunden. Die entscheidenden Hinweise waren auf diesem Computer gespeicherte Daten.
Mir macht das große Angst. 30 Prozent des Drogenschmuggels der FARC wird über die venezolanische
Grenze abgewickelt. Warum sind sämtliche Terrorcamps
der FARC denn nicht in Kolumbien, sondern an der
Grenze Kolumbiens? Wer glaubt, Präsident Chávez unterstütze die FARC nicht, der täuscht sich; man muss das
ganz einfach offen ansprechen, Frau Hänsel. Sie sind auf
dem linken Auge blind, und das ist nicht lauter.
({5})
Was gute Regierungsführung angeht, geben wir keine
Unterstützung im Rahmen einer unkonditionierten Budgethilfe. Herr Hoyer, ich möchte Ihnen noch einmal sagen - Sie haben das Beispiel Nicaragua genannt -: Wir
haben aus den auch von Ihnen angesprochenen Gründen
die Budgethilfe für Nicaragua mittlerweile gestoppt.
({6})
Wir werden auch in Zukunft natürlich nur denjenigen
Budgethilfe geben, die die Bedingungen dafür erfüllen.
Budgethilfe kann dann ein sinnvolles Instrument sein.
Ich glaube, dass der Wissenschaftsaustausch, den
wir über den DAAD und über kulturelle Einrichtungen
durchführen, ein wichtiger Beitrag ist, Demokratie und
Menschenrechte zu stärken und vor Ort für wirtschaftlichen Aufschwung zu sorgen.
Leider komme ich aus Zeitgründen nicht mehr dazu,
auf Folgendes ausführlich einzugehen - es wurde schon
oft gesagt; Sie kennen meine Position -: Natürlich müssen wir endlich unsere Märkte für Agrarprodukte der
lateinamerikanischen Länder öffnen.
({7})
Wir dürfen da keinen Protektionismus betreiben und
müssen endlich unsere Exportsubventionen und unsere
handelsverzerrenden Subventionen abbauen. Wir müssen im Rahmen der WTO, der Welthandesrunde, endlich
zu fairen Ergebnissen kommen. Dann können wir diesen
Kontinent von außen und von innen auf dem guten Weg,
auf dem er schon ist, deutlich weiter nach vorne bringen.
Ich bin zuversichtlich im Hinblick auf die Reise zum
EU-Lateinamerika-Gipfel, die die Kanzlerin bald
macht; ich werde sie begleiten können. Ich hoffe, dass
die in dem Koalitionsantrag formulierten Schwerpunkte
berücksichtigt werden und auch das Strategiepapier, das
die SPD dazu neulich gemeinsam mit unserem Außenminister entwickelt hat. Er wird dieses Jahr wieder nach
Lateinamerika reisen und dadurch zeigen, dass Lateinamerika für ihn wichtig ist. Wir sollten diesem Kontinent
die nötige Aufmerksamkeit schenken. Wir brauchen
über Armut in Lateinamerika hoffentlich bald nicht mehr
zu reden, weil sie dann überwunden sein wird.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({8})
Das Wort hat nun Kollege Karl Addicks, FDP-Fraktion.
({0})
Vielen Dank. - Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Wir reden heute zum zweiten Mal in
dieser Legislaturperiode über die Beziehungen der EU
zu Lateinamerika. Vor dem Gipfel in Lima werden jetzt
wieder einmal wie damals in Wien die besonderen Beziehungen beschworen. Die Bundesregierung beteuert
treuherzig, wie wichtig die Beziehungen der EU und
Deutschlands zu Lateinamerika seien.
Ich darf an dieser Stelle einmal fragen: Was haben Sie
seit 2006 eigentlich getan, um Ihren Beteuerungen und
Ihren Worten Taten folgen zu lassen? Sie haben als Zeichen Ihrer besonderen Wertschätzung für Lateinamerika
vier Länder von der Liste der Partnerländer gestrichen:
Costa Rica, El Salvador, Paraguay und Chile. Keine andere Region war von so vielen Streichungen betroffen.
Stattdessen haben Sie freundlicherweise die Mittel für
die Entwicklungszusammenarbeit mit China um 10 Millionen Euro erhöht. Da frage ich mich schon: Was meinen Sie eigentlich mit „besonderen Beziehungen der EU
und Deutschlands zu Lateinamerika“? Wo sind eigentlich die vielbeschworenen Konzepte, die diese Partnerschaft einmal mit Leben füllen sollten?
({0})
Ein zentrales Thema auf diesem Gipfel wird wieder
die Armutsbekämpfung sein. Gestatten Sie mir in diesem Zusammenhang, zwei Länder in Lateinamerika herauszugreifen, die mir für die Behandlung durch die
Bundesregierung exemplarisch erscheinen.
Erstens: Bolivien. Das Land wird mit 52 Millionen
Euro gefördert. Damit ist es das meistgeförderte Land
der deutschen Entwicklungszusammenarbeit in Lateinamerika. Außerdem ist Bolivien am häufigsten entschuldet worden. Entschuldungen sind sicherlich ein Weg, um
einem Land, das in der Sackgasse steckt, einen Neuanfang zu ermöglichen. Nur sollten die dadurch freiwerdenden Mittel tatsächlich für die Bekämpfung der
Armutsursachen genutzt werden. In Hinblick darauf ist
Bolivien leider ein absolutes Negativbeispiel.
({1})
Nach wie vor ist Bolivien eines der ärmsten Länder
der Welt. Im Bertelsmann-Transformation-Index ist BoDr. Karl Addicks
livien von Platz 49 im Jahr 2006 auf Platz 74 zurückgefallen. Ich frage Sie: Halten Sie das für ein Zeichen von
wirksamer Entwicklungszusammenarbeit?
Wenn die Regierung eines Landes die von uns in der
Entwicklungszusammenarbeit aufgestellten Bedingungen einer Good Governance nicht erfüllt, wenn ein Land
eine Entwicklung nimmt, die ganz klar undemokratisch
und nicht rechtsstaatlich ist, müssen deutsche Leistungen infrage gestellt werden dürfen.
({2})
Gerade Bolivien ist hierfür ein gutes Beispiel. Die
verkehrte Politik Boliviens hat mit den Verstaatlichungen der Erdöl- und Gasindustrie angefangen;
({3})
sie endet mit dem Versuch, dem Land ohne ausreichende
Beteiligung der Bevölkerung eine neue Verfassung zu
oktroyieren.
({4})
Man sieht die Konsequenzen: Das Land fängt an, in autonome Regionen zu zerfallen. Das ist der Erfolg der linken Politik von Herrn Morales.
({5})
Diese Entwicklungen bestätigen die in unserem Antrag geäußerten Befürchtungen in vollem Umfang. Wir
haben in unserem Antrag bereits gefordert, dass die Bundesregierung ihren Einfluss geltend macht und den geplanten Verfassungsprozess entsprechend begleitet. Davon hat die Bundesregierung leider nichts umgesetzt.
({6})
Zweitens: Nicaragua. Das Land wurde heute schon
mehrfach genannt. Nicaragua ist der Empfänger der
zweithöchsten Leistungen der deutschen Entwicklungszusammenarbeit in Lateinamerika. Auch Nicaragua hat
große Schuldenerlasse erhalten und hätte damit die Möglichkeit zu einem Neuanfang gehabt. Trotzdem ist Nicaragua seit Amtsantritt Ihres Freundes Ortega, seit 2007,
in eine Abwärtsspirale sondergleichen gekommen. Die
Bundesregierung hat deshalb zu Recht - mein Kollege
Hoyer hat es erwähnt - die Budgethilfe für Nicaragua
gestrichen. Trotzdem zahlt Deutschland über den Umweg Europa weiterhin Budgethilfe an Nicaragua. Ich
frage Sie: Halten Sie das - gerade in einer Zeit, in der die
Kohärenz der Entwicklungszusammenarbeit von Europa
und den Nationalstaaten erörtert wird - für kohärente
Politik? Welches Signal wollen Sie damit an die Regierung Ortega senden?
({7})
Die Bundesregierung muss sich dafür einsetzen, dass
die EU gegenüber Nicaragua mit einer Stimme spricht.
Auch die EU muss gegenüber Staaten, die gemeinsame
Werte fortgesetzt unterlaufen, konsequent handeln. Dafür brauchen wir jetzt eine entschlossene Bundesregierung, die ihr Gewicht in Europa nutzt, um in den beiderseitigen Beziehungen bessere Bedingungen für die
Menschen vor Ort zu erreichen. In diesem Sinne hoffen
wir auf eine ehrgeizige Politik der Bundesregierung, auf
eine neue Lateinamerikapolitik.
Zum Schluss sollten wir alle die Führung der FARC
in Kolumbien auffordern, endlich Frau Betancourt freizulassen. Es ist eine Schande, was mit dieser Frau dort
gemacht wird. Ich würde mich über Applaus aus allen
Fraktionen freuen.
Danke sehr.
({8})
Das Wort hat nun Kollege Eduard Lintner, CDU/
CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! An der heutigen Debatte finde ich besonders positiv, dass sich - ich muss hinzufügen: endlich alle Fraktionen offenbar sehr intensiv mit den Beziehungen Europas und Deutschlands zu Südamerika befasst
haben.
({0})
Die große Zahl von Anträgen und die Art und Weise,
wie darin Aufforderungen formuliert sind, zeigen, dass
es ein gestiegenes Interesse gibt, das wir in Zukunft dynamisch nutzen sollten. Wir alle sind nämlich ein bisschen daran schuld, dass dieses Thema in der Vergangenheit nicht mit dem nötigen Gewicht versehen worden ist.
Es gibt, wenn ich es richtig gesehen habe, eine erfreuliche Übereinstimmung in wichtigen Punkten. Allerdings möchte ich da die Fraktion der Linken ausnehmen,
weil ihr Antrag - das war Gegenstand der Erörterung erkennbar darunter leidet, dass zentrale Aussagen zu dieser Thematik aus einem ideologischen Blickwinkel heraus getroffen werden.
({1})
- Nein, nein, Herr Kollege. - Damit verschließen Sie
aber zwangsläufig - das ist gerade deutlich geworden die Augen vor der Tatsache, dass die demokratische Legitimation mancher Machthaber und ihres Handelns sehr
kritisch bewertet werden muss.
Bereits beim ersten Gipfeltreffen zwischen der EU
und den lateinamerikanischen Staaten im Juli 1999 in
Rio wurde festgelegt, dass man künftig eine strategische Partnerschaft pflegen wolle. Das ist schon vom
Wort her ein ganz gewaltiges Vorhaben, wenn man sich
die beiden Begriffe einmal inhaltlich vergegenwärtigt.
Man muss selbstkritisch feststellen - auch das ist schon
zum Ausdruck gekommen -, dass die konkrete Politik
diesem hohen Anspruch in der Vergangenheit nicht gerecht geworden ist. Neue Dynamik ist deshalb in der Tat
vonnöten. In diesem Zusammenhang wird immer mit
Recht darauf hingewiesen, dass zwischen Europa und
Lateinamerika vielfältige geschichtliche, kulturelle,
wirtschaftliche oder auch gesellschaftliche Verbindungen bestehen - mehr als zu jedem anderen Kontinent,
ausgenommen vielleicht Nordamerika.
Natürlich gibt es schon heute eine Vielzahl von Abkommen, Institutionen und Verbindungen, die zusammengenommen bereits eine breite Palette denkbarer Kooperationsfelder abdecken. Aber es war eben mehr ein
Beharren auf dem Vorhandenen und kein dynamisches
Drängen nach mehr und nach vorne. So stehen zum Beispiel die wichtigen vertraglichen Regelungen mit dem
Mercosur immer noch aus; die Gründe dafür sind heute
bereits genannt worden. Aber hier gibt es immerhin
einen Hoffnungsschimmer; denn Frau Dr. FerreroWaldner - sie ist als EU-Kommissarin für diese Dinge
zuständig - hat gestern auf einem lateinamerikanischen
Kongress der CDU/CSU-Fraktion gesagt, dass die EUKommission derzeit prüft, ob jetzt Fortschritte möglich
sind. Es wäre in der Tat ein ermutigendes Zeichen, wenn
dieses schon lange versprochene Handelsabkommen
endlich zustande käme. Dies wäre ein echtes Aufbruchsignal.
Ich will den Antrag mit dem Titel „Eine starke Partnerschaft - Europa und Lateinamerika/Karibik“, zu dem
ich speziell sprechen möchte, jetzt nicht in seinen Einzelheiten vortragen; dies kann ja nachgelesen werden.
Ich finde, dass die dort aufgezeigten Ansatzpunkte für
unsere Lateinamerikapolitik sehr richtig sind.
Da geht es zum Ersten natürlich um die Pflege und
Weiterentwicklung der wirtschaftlichen Beziehungen.
Deutschland ist daran maßgeblich beteiligt. Aber unser
Anteil ist rückläufig. Es wäre wünschenswert, wenn sich
künftig noch mehr kleine und mittelständische Unternehmen engagieren würden. Ich kann mir im Übrigen
gut vorstellen, dass sich insbesondere das gesellschaftliche Engagement der großen Zahl der ansässigen deutschen Firmen - Südamerika ist dafür ein herausragendes
Beispiel - etwa bei der beruflichen Ausbildung junger
Menschen, im Kampf gegen die Armut und bei der Sicherung der Nachhaltigkeit in der Ressourcennutzung
sowie beim Umweltschutz ausbauen lässt.
Ein zweiter Schwerpunkt sollte der Sektor Bildung
sein - von den Schulen bis zu den Universitäten und
Forschungseinrichtungen. Dabei dürfen wir durchaus eigene Interessen im Blick haben. Die Globalisierung
zwingt uns, die Kooperationsfähigkeit mit einzelnen
Ländern und Gesellschaften gezielt zu entwickeln und
zu stärken. Auch dazu enthält unser Antrag konkrete
Vorschläge.
Ein dritter Ansatzpunkt wäre: Die engen geschichtlichen und kulturellen Bezüge befähigen uns Europäer in
besonderer Weise, den lateinamerikanischen Ländern zu
helfen. Das ist jetzt nicht überheblich gemeint; aber gerade Deutschland hat reiche Erfahrungen zum Beispiel
mit der Ausgestaltung und Effizienz der kommunalen
Selbstverwaltung. Wir wissen um die Vorteile der Aufteilung von Zuständigkeiten gemäß den Prinzipien der
Subsidiarität und des föderalen Staatsaufbaus. Wir können unsere jahrzehntelangen Erfahrungen mit einer Demokratie sowie einer sozialverträglichen Programmatik
von Parteien und ihrer konstruktiven Rolle im demokratischen Staat weitergeben.
Es muss den lateinamerikanischen Staaten gelingen,
alle Teile der Bevölkerung am wachsenden Wohlstand
und an den Bildungsmöglichkeiten des Landes zu beteiligen. Gerade auf diesem Gebiet scheinen die Eliten in
vielen lateinamerikanischen Staaten bisher versagt zu
haben. Anders sind die eruptiven Erfolge autoritärer
Führer, die sie mit ihren populistischen Programmen haben, gar nicht zu erklären.
Ein vierter Ansatzpunkt ist der multilaterale Ansatz
der lateinamerikanischen Staaten in ihrer Außenpolitik.
Dazu ist schon vieles ausgeführt worden, sodass ich
mich darauf nicht konzentrieren muss. Es gilt, die gemeinsamen Überzeugungen bei den vielfältigen Initiativen zu nutzen.
Ich kann nur hoffen, dass der heutige Tag für uns Anlass ist, die Dynamik, die sich in dieser Debatte gezeigt
hat, die mit Sicherheit mit dem Besuch der Bundeskanzlerin in Zusammenhang steht, zu nutzen, und wir uns
künftig öfter mit diesem wichtigen politischen Feld befassen.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat nun Kollege Wolfgang Gehrcke, Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
sehe auf der Besuchertribüne den Botschafter Boliviens. Ich freue mich, Exzellenz, dass Sie hier sind und
die Diskussion in diesem Parlament verfolgen.
({0})
Ich finde, so viel Zeit und Höflichkeit muss sein, diesen
Gruß auszusprechen.
Zur Sache: Der eigentliche Hintergrund der Debatte
ist doch, dass wir es in Lateinamerika mit einem sehr
kräftigen politischen Wind nach links zu tun haben, und
zwar in einer großen Zahl der Länder. Der Wind hat sich
gedreht. Der Wind nach links ist so stark, dass er sogar
die SPD erreicht und sie zu einem neuen Strategiepapier
gebracht hat.
({1})
Ich habe das Strategiepapier der SPD, das viele vernünftige Punkte enthält, mit dem verglichen, was Willy
Brandt zum Nord-Süd-Dialog geschrieben und geleistet
hat. Da haben Sie noch großen Nachholbedarf.
({2})
Arbeiten Sie ruhig weiter. Der Wind geht nach links, und
das finde ich sehr vernünftig.
({3})
- Der Wind treibt nach links.
Wenn man sich die Frage stellt, warum die Linke in
Lateinamerika trotz ihrer Vielfalt und Unterschiedlichkeit so viele Erfolge erreicht hat, kommt man nicht darum herum - Herr Lintner, Sie haben es mit anderen
Worten gesagt -, über die Spur der Zerstörung zu sprechen, die der Neoliberalismus in Lateinamerika hinterlassen hat. Das war der Ausgangspunkt.
({4})
Ich habe jetzt leider nicht die Zeit, Ihnen im Einzelnen zu schildern, wie es in den Ländern aussieht, die
sich dem neoliberalen Diktat gebeugt haben.
({5})
Ich war in einer Stadt nahe der Hauptstadt San Salvador,
einer Stadt mit 100 000 Einwohnern: kein Strom, kein
Wasser. Der einzige Brunnen ist privatisiert, man muss
Wasser kaufen. Selbst der Friedhof ist privatisiert, sodass die Armen ihre Toten irgendwo verscharren müssen
und nur die Reichen ihre Toten dort beerdigen können.
({6})
So ist das in vielen Ländern Lateinamerikas. Das ist einer der Hintergründe; da muss man Klartext sprechen.
Ich hoffe, dass die Zeit zu Ende geht, in der die USA
Lateinamerika als ihren Hinterhof behandeln und misshandeln konnten. Wenn man sich die Frage stellt, warum
es zu autoritären Regimen, zu Diktaturen gekommen ist,
kommt man zu dem Schluss, dass die Machthaber in diesen Ländern alle nicht ohne Duldung bzw. Hilfe der
USA an die Macht gekommen sind.
({7})
Wenn Sie hier nicht darüber reden wollen, wenn Sie das
verschweigen wollen, ist das Ihr Problem.
({8})
Herr Außenminister, ich habe sehr interessiert zur
Kenntnis genommen, was Sie zu Kuba gesagt haben.
Kuba bewegt und entwickelt sich. Das ist eine interessante Entwicklung. Ich habe auch zur Kenntnis genommen, dass sich die deutsche Kuba-Politik verändert, und
zwar stärker, als es anderen Fraktionen in diesem Hause
lieb ist. Sie wissen, dass eine Entwicklungszusammenarbeit mit Kuba heute möglich ist. Eine solche Entwicklungszusammenarbeit wäre aber leichter, wenn Sie von
diesem Pult aus auch gesagt hätten, dass die USA ihren
Boykott und ihre Sanktionen gegen Kuba endlich aufzuheben haben
({9})
und die Europäische Union diesbezüglich öffentlichen
Druck auf die USA ausüben wird.
({10})
Wenn Sie immer die Hälfte verschweigen, kommen Sie
nicht weiter. Sie wissen genauso gut wie ich, dass sich
die amerikanische Politik verändern muss.
Ich habe mich sehr darüber gefreut, dass sich mit
Paraguay eines der letzten diktatorisch geführten Länder durch Wahlen verändert hat. Ich freue mich über den
neuen Präsidenten, Ex-Bischof Lugo, der aus der Befreiungstheologie kommt. Ich bin sehr gespannt, was sich in
Paraguay entwickeln wird.
Ich habe ein ähnliches Gefühl wie Kollege Trittin: An
der Seite von Uribe möchte ich, wenn es um Demokratisierung geht, nicht stehen. Dort stehe ich auch nicht.
({11})
- Nein, ich stehe auf einer ganz anderen Seite.
Auch in Kolumbien, wo noch Bürgerkrieg herrscht,
wird sich die offene Wunde durch Verhandlungen und
Demokratisierung schließen. Ich sage, weil es immer
wieder angesprochen wird, von diesem Platz aus ganz
deutlich an die FARC gerichtet: Geiseln zu nehmen, ist
keine linke Politik.
({12})
Ich bin dagegen, dass Geiseln genommen werden. Ich
finde es unverantwortlich, Menschenleben und die Freiheit von Menschen als Waffe in der Politik einzusetzen.
Wenn die FARC auf eine sozialistische Kritik hört, kann
ich ihr nur sagen: Lasst die Geiseln in Kolumbien sofort
frei.
({13})
Das ist die Entscheidung, die wir fordern. Sie wollen es
nicht hören; Sie sind auf diesem Auge blind. Es wäre
eine sozialistische Politik, wenn man sich in diese Richtung verändern würde.
Ein letzter Gedanke - der Präsident macht mich darauf aufmerksam, dass meine Redezeit abgelaufen ist -:
Ich habe mich sehr gefreut, dass viele Redner den Umstand, dass Lateinamerika eine Zone frei von Massenvernichtungswaffen ist, positiv gewürdigt haben. Herr
Außenminister, wenn es nicht nur bei Worten bleiben
soll, muss man sich dafür einsetzen, dass auch Europa
eine atomwaffenfreie Zone wird.
({14})
Dann können wir auch auf dieser Ebene eine Partnerschaft mit Lateinamerika eingehen, und zwar glaubwürdiger und besser, als wenn wir nur über die anderen reden, uns freuen und selber nichts tun.
Danke sehr.
({15})
Das Wort hat nun Kollege Lothar Mark, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Das Problem der Lateinamerikapolitik beginnt aus unserer Sicht eigentlich schon mit der Begrifflichkeit, die
hier heute auch zutage kam. Wenn wir die Beziehungen
zu Nordamerika betrachten, wird von den transatlantischen Beziehungen gesprochen, ohne daran zu denken,
dass die Beziehungen zu Lateinamerika auch transatlantisch sind. Das wollte ich ganz besonders hervorheben;
ich habe dazu bereits vor vielen Jahren eine provokative
Vorlesung und ein Proseminar an der Uni in Mannheim
gehalten mit dem Titel: Transatlantische Beziehungen:
Europa - Lateinamerika.
Es ist schon sehr viel zu den jeweiligen Themenfeldern gesagt worden. Ich will diese nicht im Einzelnen
wiederholen. Ich möchte aber auf einige Schwerpunkte
eingehen.
Zunächst einmal ist immer wieder vom Wirtschaftswachstum in Lateinamerika gesprochen worden, das exorbitant hoch sei. Das ist richtig. Aber wenn man genau
hinschaut, stellt man fest, dass dieses Wachstum nicht
unbedingt mit Nachhaltigkeit, sozialen Auswirkungen
und Entwicklungen für die jeweiligen Länder verbunden
ist. Das kann man sehr gut an dem Beispiel Peru zeigen,
das jährlich ein Wachstum zwischen 6 und 7 Prozent hat.
Dies hängt aber in erster Linie mit der Ausfuhr von Kupfer als Rohstoff zusammen.
Wenn wir den Handel zwischen Europa und Lateinamerika betrachten, dann können wir feststellen, dass
noch unendlich viele Möglichkeiten in fast allen Bereichen bestehen. Wenn wir uns den Handel zwischen
Deutschland und Lateinamerika anschauen, dann müssen wir ernüchternd feststellen, dass der Anteil nur zwischen 2,2 und 2,3 Prozent liegt; also auch hier gibt es
ungeahnte Möglichkeiten für eine Ausweitung. Als Vergleichszahl nenne ich sehr gerne den Handel mit der
Schweiz: Er beträgt 3,8 bzw. 3,9 Prozent. Damit wird
deutlich, was sich hinter diesen Dimensionen verbirgt.
Auch auf die Frage der Verteilungsgerechtigkeit und
darauf, dass die Europäische Union und Deutschland
hier sehr viel tun können, wurde eingegangen. Ich will
das im Einzelnen nicht wiederholen. Ich will auch nicht
auf die Energie- und Klimapolitik eingehen; sie wurde
bereits mehrfach angesprochen. In diesem Bereich bestehen für die Bundesrepublik Deutschland wirklich interessante Kooperationsmöglichkeiten. Eine solche Kooperation wäre zum beiderseitigen Vorteil.
Das Stichwort „Ernährungssicherheit“ ist schon gefallen. Von der Explosion der Lebensmittelpreise sind
Lateinamerika und insbesondere Zentralamerika besonders heftig betroffen. In diesem Zusammenhang nenne
ich eine Zahl - solche Dinge hört man in Deutschland
sonst nicht so gern -: Nach UN-Angaben leiden in Lateinamerika 53 Millionen Menschen an Hunger, und
9 Millionen Kinder sind in Lateinamerika unterernährt.
Das sollte für uns Ansporn sein, über verschiedene politische Entwicklungsprozesse erneut nachzudenken.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, die strategische Partnerschaft wurde mehrfach erwähnt, und ihre
Wirksamkeit wurde bezweifelt. Es ist zutreffend, dass
von Wien keine großen Impulse ausgegangen sind.
Nichtsdestotrotz ist zutreffend, dass wir seit 1999 eine
intensive strategische Partnerschaft mit dem gesamten
lateinamerikanischen Raum und insbesondere mit Mexiko und Brasilien pflegen. Hier ist Deutschland, wie ich
denke, an führender Position zu nennen. Gerade diese
Bundesregierung mit Bundesaußenminister FrankWalter Steinmeier leistet im Rahmen dieser Zusammenarbeit permanent beste Arbeit.
({0})
Auf die Problematik der Sicherheitspartnerschaft hat
Herr Dr. Hoyer hingewiesen; auch diesem Thema will
ich mich nicht zuwenden, weil das, was dazu bisher gesagt wurde, richtig ist.
Was Mercosur betrifft, mache ich deutlich: Es ist
kein Ruhmesblatt für die Europäische Union, dass sie es
seit 1999 nicht geschafft hat, eine Partnerschaft mit Mercosur einzugehen. Allerdings muss ich auch sagen: Das
liegt nicht nur an der Europäischen Union, sondern auch
an Mercosur; denn die Mitgliedstaaten des Mercosur
verfolgen unterschiedliche Interessen.
({1})
Dennoch muss man den Mut finden, die Probleme anzusprechen und auch einmal über den eigenen Schatten zu
springen. Die Vorteile eines solchen Abkommens wären
für beide Seiten enorm.
({2})
Die Verhandlungen mit SICA und der Andengemeinschaft sind ebenfalls schon thematisiert worden;
auch das will ich nicht wiederholen. Ich mache nur
darauf aufmerksam: Es ist unabdingbar, dass wir mit diesen Ländern bzw. regionalen Gemeinschaften Fortschritte erzielen. Denn es ist notwendig, dass die Andengemeinschaft neue Akzente setzt und zur Kenntnis
nimmt, dass die Europäische Union sie als wichtigen
Partner betrachtet.
Zu den Energiefragen und den kulturellen und wissenschaftlichen Kooperationen im Rahmen der auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik will ich mich nicht äußern. Ich möchte nur noch ganz kurz auf ein paar Länder
eingehen; denn die Zeit schreitet sehr schnell voran.
({3})
Bolivien ist in einer schwierigen Situation und bedarf
unser aller Aufmerksamkeit und - das betone ich ganz
besonders - unser aller Unterstützung. Niemandem wäre
gedient, wenn Bolivien auseinanderbrechen würde. Das
Referendum, das gerade in Santa Cruz durchgeführt
wurde, und die Referenden, die im Juni dieses Jahres
noch stattfinden werden, sind widerrechtlich. Sie verstoßen gegen die Verfassung.
({4})
Deswegen möchte ich deutlich machen, dass wir die
rechtmäßig gewählte Regierung unterstützen. Ich begrüße es, dass sich Evo Morales bereit erklärt hat, sich
einem Referendum zu stellen. Auch wenn die Opposition dies im Senat durchgesetzt hat, muss man sagen:
Immerhin ist er bereit, sich diesem Konflikt zu stellen.
Mit Blick auf Venezuela will ich darauf hinweisen,
dass Hugo Chávez immer wieder als die dämonisierte
Person angesehen wird.
({5})
In diesem Zusammenhang könnte man über vieles diskutieren. Man muss aber zur Kenntnis nehmen, dass alle
Schritte, die von ihm unternommen wurden, demokratisch abgesegnet und abgesichert waren.
({6})
Wenn es im Parlament in Venezuela keine oder fast
keine Opposition gibt, ist dies nicht der Regierung anzulasten, sondern der Opposition, denn sie hat keine Kandidaten für die Wahl aufgestellt.
({7})
Es ist beispielhaft, wie die OAS und die Rio-Gruppe
quasi die Lösung der in Lateinamerika bestehenden
Schwierigkeiten mit Ecuador, Kolumbien und Venezuela
in die Hand genommen haben, ohne dass es weiterhin
große Probleme gab. Hinsichtlich der Computerfunde
stehe ich allerdings im Gegensatz zu meinem Kollegen
Sascha Raabe; denn der US-Geheimdienst verkündet
- so war heute wieder zu lesen -, was alles in diesen
Computern zu finden sei. Die OAS hat in der Vergangenheit ganz klar gesagt, dies sei nicht zutreffend. Meines Erachtens sind weder Kollege Raabe noch ich in der
Lage, das zu beurteilen.
({8})
Lassen wir die Weltöffentlichkeit dies näher untersuchen, um dann zu weiteren Schritten zu kommen.
Meine Zeit hier ist ablaufen, sehe ich.
({9})
Ich bedaure dies sehr, weil ich gern noch einiges zu
Kuba gesagt hätte.
({10})
Das muss ich dann eben auf die nächste Debatte verschieben.
Vielen Dank.
({11})
Das Wort hat nun Kollegin Anette Hübinger, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lateinamerika muss von Deutschland, aber auch von Europa
neu entdeckt werden. Lateinamerika muss wieder einen
Platz im Zentrum unseres Handelns einnehmen.
({0})
In den heute zu debattierenden Anträgen wird unser
Gestaltungswille für eine neue Partnerschaft mit Lateinamerika aufgezeigt. Die Welt hat sich seit dem Ende des
Ost-West-Konflikts und seit Beginn der Globalisierung
verändert. In vielen Ländern Lateinamerikas beobachten
wir in den letzten Jahren einen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandel, der uns in Europa
und in Deutschland nicht gleichgültig sein darf und
kann. Deutschland muss es ein Herzensanliegen sein, gemeinsam mit unseren lateinamerikanischen Partnern
eine lebendige Wertegemeinschaft zu entwickeln. Unsere gemeinsamen kulturellen Wurzeln, unsere gemeinsamen Wertevorstellungen wie Freiheit, Chancengleichheit und Verantwortung sowie unsere demokratischen
Überzeugungen sind eine gute Grundlage für eine vertrauensvolle Partnerschaft.
({1})
Heute ist es trotz dieser engen Bindungen eben nicht
mehr selbstverständlich, dass Deutschland und Europa
für Lateinamerika unweigerlich die wichtigsten Partner
sind. Deshalb müssen wir bei den Menschen in Lateinamerika für unsere Werte werben, die wirtschaftlichen
Erfolg und soziale Verantwortung miteinander vereinen.
Für die Pflege unserer kulturellen Nähe und für das vertiefende Verständnis füreinander brauchen wir einen zielgerichteten Austausch in den Bereichen Kultur, Bildung
und Wissenschaften. Der Austausch im universitären
Bereich, eine intensivere Kooperation von Forschungseinrichtungen, aber auch die Auslandsschulen in Lateinamerika sind in diesem Zusammenhang wichtige Ansätze. Sie bilden eine wichtige menschliche Brücke
zwischen diesen beiden Kontinenten. Dieser Austausch
bietet die Chance, dass wir auf die großen globalen Fragen wie Klimawandel und Energiesicherheit gemeinsame Antworten suchen und finden.
({2})
Die größten Herausforderungen für viele Länder in
Lateinamerika sind jedoch die Bewältigung des wachsenden sozialen Ungleichgewichts und der Kampf gegen die Armut. Trotz des guten Wirtschaftswachstums
der letzten Jahre leben immer noch mehr als 200 Millionen Menschen - das sind 40 Prozent der Bevölkerung von weniger als 2 Dollar pro Tag, und 80 Millionen
Menschen erleiden täglich Hunger. Diese Kluft bei der
Einkommensverteilung und im Wohlstandsniveau birgt
gefährlichen sozialen Sprengstoff und gefährdet erzielte
demokratische Transformationsgewinne. Fehlende oder
schwache staatliche Institutionen geben immer wieder
Raum für Menschenrechtsverletzungen, für Korruption
und kriminelle Gewalt; dies führt zur steigenden Migration. Die Bekämpfung der Armut ist dabei der Schlüssel
zur Demokratie. Es ist die Aufgabe der lateinamerikanischen Regierungen, diesen gewaltigen Herausforderungen konsequent zu begegnen.
Die Aufgabe unserer Entwicklungszusammenarbeit
ist es, sie dabei zu begleiten. Deutschland hat ein elementares Interesse daran, dass der Demokratisierungsprozess in Lateinamerika fortgesetzt und stabilisiert
wird. Demokratische Wahlen führen nämlich nicht automatisch zu demokratischer Regierungsführung. Die
wachsende Unzufriedenheit der Bevölkerung führt immer häufiger zu konfliktgeladenen Auseinandersetzungen.
({3})
Deshalb müssen wir unsere entwicklungspolitischen
Instrumente auf die Stärkung von demokratischen Strukturen, von Good Governance und von sozialen Sicherungssystemen ausrichten. Dass die indigene Bevölkerung an diesen Prozessen teilhaben muss, erklärt sich
von selbst.
Unzureichende gesellschaftliche und soziale Verantwortung der wirtschaftlichen Elite - wir haben heute
mehrfach davon gehört - ist in vielen Teilen Lateinamerikas ein großes Problem. Zur Lösung können und müssen wir mehr auf die erfolgreiche Arbeit unserer politischen Stiftungen zurückgreifen. Wir müssen die Eliten
darin bestärken, sozialstaatlich zu denken und Verantwortung zu übernehmen; bei der Bevölkerung müssen
wir ein besseres Demokratieverständnis fördern.
Mit den linkspopulistischen Regierungen müssen
wir einen kritischen Dialog führen, im Rahmen dessen
wir für demokratische Grundprinzipien und für die Unteilbarkeit der Menschenrechte werben.
({4})
Lateinamerika birgt eine der größten biologischen
Schatzkammern der Welt, die jedoch durch kurzfristige
Interessen höchst gefährdet ist. Deshalb steht der
Umwelt- und Ressourcenschutz einschließlich des Tropenwaldschutzes in unserer entwicklungspolitischen Zusammenarbeit an herausragender Stelle. Auch beim Gipfel in Lima in der nächsten Woche wird der
Umweltschutz ein zentrales Thema sein. Die Einbeziehung der Entwicklungs- und Schwellenländer in den
Umweltschutz ist von entscheidender Bedeutung: Diese
Länder werden von den Folgen des Klimawandels am
meisten bedroht; gerade sie können aber durch ihr künftiges Verhalten diesen Wandel positiv beeinflussen.
Deutschland verfügt im Umwelt- und Ressourcenschutz über viel Know-how und ist ein gefragter Partner.
Das Instrument einer Entwicklungspartnerschaft mit der
Wirtschaft sollte daher mehr einbezogen werden. Ein gutes Beispiel dafür ist das Tropenwaldprogramm Brasiliens.
Angesichts der weltweit steigenden Nachfrage nach
Nahrungsmitteln und der Ausweitung der Herstellung
von Treibstoff aus Agrarprodukten müssen wir die Förderung der ländlichen Entwicklung und der Agrarforschung in den Mittelpunkt unserer Zusammenarbeit
rücken. Dazu gehören Ansätze zu einer umfassenden
Landreform, der Aufbau von effizienten, mittelständischen Produktionsstrukturen, die Bereitstellung von Mikrofinanzierungen, aber auch Unterstützung beim Aufbau von Katastern und Flächennutzungsplänen.
Die ländliche Entwicklung dient nicht zuletzt der Eindämmung des Drogenanbaus und hilft den Menschen,
aus der nur zu oft unfreiwilligen Kriminalität herauszukommen.
Der Erfolg der ländlichen Entwicklung hängt auch
davon ab, ob es uns gelingt, zu einem gerechten Welthandelssystem zu kommen. Die Zusage der EU, die
Agrarexportsubventionen bis 2013 schrittweise auslaufen zu lassen, ist ein Schritt dorthin. Dennoch bedarf es
auf multilateraler Ebene noch erheblicher Anstrengungen, wenn die Doha-Runde zu einer erfolgreichen Entwicklungsrunde werden soll.
({5})
Mit einem Anteil von 40 Prozent ist die EU der
größte entwicklungspolitische Akteur in Lateinamerika.
Sie hat einen erheblichen Beitrag geleistet, innenpolitische Reformen zu unterstützen, die zu dem gegenwärtigen wirtschaftlichen Wachstum in vielen Ländern geführt haben. Wir müssen uns aber fragen, ob unser
eigener Einsatz wirksam genug ist. Die eingeleiteten Reformen der europäischen Entwicklungszusammenarbeit
müssen konsequenter umgesetzt werden, um durch ein
besseres Miteinander die Wirksamkeit zu erhöhen.
Die Menschen in den meisten Ländern Lateinamerikas stehen vor großen Herausforderungen. Wir in
Deutschland und in Europa tragen für die Bewältigung
dieser Probleme eine besondere Verantwortung. Mit unserer entwicklungspolitischen Zusammenarbeit wollen
wir einen Beitrag dazu leisten, dass durch das wirtschaftliche Wachstum der letzten Jahre auch die soziale Gerechtigkeit stärker berücksichtigt wird und letztendlich
zu einer nachhaltigen Armutsbekämpfung beigetragen
werden kann.
Ich meine, wir können uns glücklich schätzen, dass
Lateinamerika und Deutschland über gemeinsame kulturelle Wurzeln und so viele gemeinsame Wertevorstellungen und Prägungen verfügen. Nutzen wir diese bei der
Bewältigung der Probleme und globalen Herausforderungen zugunsten eines tieferen Verständnisses füreinander.
Unserer Bundeskanzlerin wünsche ich in der nächsten
Woche in Lima ein gutes Gelingen.
Herzlichen Dank.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/9072, 16/9073, 16/9074, 16/8907
und 16/9056 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so
beschlossen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem
Titel „Deutsche Kolumbien-Politik auf die Stärkung ziviler Friedensinitiativen und der sozialen, demokratischen und Menschenrechte ausrichten“.
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/8062, den Antrag der Fraktion
Die Linke auf Drucksache 16/5678 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung der Grünen
angenommen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem
Titel „Die Regierungsverhandlungen mit Bolivien für
eine kritische Überprüfung der Entwicklungszusammenarbeit nutzen und an Bedingungen knüpfen“.
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9114, den Antrag der Fraktion
der FDP auf Drucksache 16/5615 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der
Fraktion der FDP angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 23 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wolfgang Wieland, Silke Stokar von Neuforn,
Volker Beck ({0}), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Keine Einführung biometrischer Merkmale
im Personalausweis
- Drucksache 16/7749 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten
soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Wolfgang Wieland, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
({2})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist gerade einmal ein Jahr her, dass wir hier über den neuen
biometrischen Pass debattiert haben. Unsere Pässe, die ja
schon vorher maschinenlesbar und fälschungssicher waren und auf denen die biometrischen Gesichtszüge abgebildet wurden, enthalten nun auch noch die Fingerabdrücke. Der Sicherheitszuwachs war gleich null. Nicht
umsonst werden jetzt die Fingerabdrücke des geschätzten Innenministers Schäuble herumgereicht. Sie wurden
digital kopiert und befinden sich nun auf dem freien
Markt.
({0})
Als wäre das alles nicht schon absurd und schlimm
genug, soll dem Pass dieses Jahr nun auch noch der biometrische Personalausweis folgen, auf dem ebenfalls die
Fingerabdrücke hinterlegt sind. Die größten Dummheiten, die mit dem Passgesetz begangen wurden, sollen
nun, wie es heißt, auf Scheckkartenformat komprimiert
werden. Da kann ich nur sagen: Hier bekommt der Irrsinn Methode. Das sollte nicht geschehen.
({1})
Das hat auch die SPD-Fraktion, jedenfalls der Vorsitzende des Innenausschusses, der geschätzte Kollege
Edathy, gemerkt. Er ließ heute per Ticker verkünden
- ich hoffe, er bleibt dabei -: Der Personalausweis ist ein
Zwangsdokument. Das braucht jeder Bürger und jede
Bürgerin. Wenn vorgeschrieben wird, was bisher nur für
Ganoven vorgesehen war, nämlich dass Fingerabdrücke
abgenommen und in das Dokument aufgenommen
werden, dann wird das zur Pflichtübung für alle. Eine
größere Misstrauenserklärung des Staates gegenüber seinen Bürgerinnen und Bürgern ist kaum vorstellbar.
({2})
- Schade, dass der Kollege Edathy nicht anwesend ist.
Aber ich habe es mit Vergnügen gelesen.
({3})
Ich habe auch gehört, nun gebe es eine Koalitionskrise.
Nächste Woche folgt dann ein Krisengipfel, und Sie,
Herr Kollege Hofmann, werden ihm sicherlich alles
überbringen, was hier an Kritik vorgebracht wird.
({4})
Warum sollen die biometrischen Merkmale in den
Ausweis aufgenommen werden? Die internationalen
Terroristen reisen sicherlich nicht mit deutschen Personalausweisen oder Reisepässen. Das hat sie seinerzeit
nicht an den Anschlägen gehindert. Die Begründung der
Abwehr des internationalen Terrorismus ist völlig aberwitzig.
({5})
Auch hinter Europa kann man sich diesmal nicht verstecken. Es gibt keine entsprechende Vorgabe der EU.
Was sind die Gründe für Ihr Vorhaben? Wir argwöhnen,
dass es um reine Exportförderung der deutschen Hightech-Sicherheitsindustrie geht.
In diesem Zusammenhang ist eine kritische Bemerkung über den Kollegen Otto Schily notwendig. Er hätte
das nicht nötig. Ich sage nicht, dass er mit seinen Beteiligungen an entsprechenden Unternehmen und seinem
Aufsichtsratsmandat aus wirtschaftlichen Interessen
handelt. Aber er war lange genug Anwalt, um zu wissen,
dass man nicht nur die tatsächliche Vermischung von
wirtschaftlichen Interessen und politischem Handeln
vermeiden muss, sondern auch den bösen Schein, dies zu
tun.
({6})
- Der Kollege Schily wird lernen, dass die Rechtsordnung für alle gilt, selbst für Otto den Großen, Frau Kollegin Piltz. Da darf ich Sie beruhigen.
({7})
Aber im Ernst: Die innere Sicherheit dient nicht dem
Zweck, mit den Gebühren der Bürgerinnen und Bürger
Exportförderung für deutsche Hightechfirmen zu betreiben.
Lassen Sie mich noch auf die anderen Gründe eingehen, die angeführt werden. Der Bürger soll damit beim
Onlinehandel agieren. Er wird geradezu aufgefordert,
seine Daten in Breite im Internet zur Verfügung zu stellen. Es wäre Aufgabe der Bundesregierung, solche Datenmeere nicht entstehen zu lassen. Stattdessen füllt sie
diese weiter auf und schafft auch noch einen Anreiz dafür.
Schließlich - damit komme ich zur CDU/CSU-Fraktion; wir haben das nicht vergessen, Herr Kollege
Binninger - wollten Sie schon bei der Einführung der
Pässe eine Fingerabdruckdatei vorsehen, nach dem
Motto „Wenn die Bürgerinnen und Bürger schon ihren
Fingerabdruck zur Verfügung stellen müssen, dann behalten wir ihn doch gleich“.
({8})
Diese Versuchung ist beim Personalausweis noch viel
größer; denn dann hätten Sie alle Fingerabdrücke. Nicht
umsonst sind im Rohentwurf des Meldegesetzes zwei
leere Felder im zentralen Bundesmelderegister vorgesehen. Wir argwöhnen, dass in eines der Felder ein Foto
und in das andere die Fingerabdrücke aufgenommen
werden sollen.
Das ist die allergrößte Gefahr, vor der zu warnen ist.
Im Polizeijargon wird es „Erkennungsdienstliche Behandlung“ genannt, ED-Behandlung. Der Volksmund
nennt es einfach Verbrecheralbum. Wir warnen davor
und fordern Sie auf: Stecken Sie gefälligst nicht die Gesamtbevölkerung ins Verbrecheralbum! Geben Sie Ihre
Pläne auf! Noch ist Zeit dafür.
({9})
Das Wort hat nun Clemens Binninger, CDU/CSUFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Meine Damen und Herren! Gestatten Sie
mir, bevor ich auf den Antrag der Grünen eingehe, zwei
Anmerkungen an Ihre Adresse, Herr Wieland, und an
Ihre Fraktion. Ich möchte auch für die Menschen, die
uns zuhören und zusehen, daran erinnern, wer vor einigen Jahren die Weichen für die Aufnahme der biometrischen Merkmale in den Pass gestellt
({0})
und diese Technik mit einer guten Entscheidung, wie ich
finde, erst hoffähig gemacht hat. Rot-Grün hat die Einführung biometrischer Merkmale beschlossen, und Sie
haben damals mitgemacht. Heute wollen Sie davon
nichts mehr wissen. Das ist unseriös und scheinheilig.
({1})
Die zweite Anmerkung vorneweg: Wenn man Ihren
Antrag liest, könnte man den Eindruck haben, als ob die
größte Gefahr für den Datenschutz von unseren Sicherheitsbehörden und der Polizei ausginge. Das ist ein einigermaßen absurdes Verständnis der Arbeit unserer Sicherheitsbehörden und wird von uns in keiner Weise
geteilt.
({2})
Nun zu Ihrem Antrag. Man könnte ihn mit der Überschrift überschreiben: Wir sind dagegen, egal was die
Bundesregierung oder die Koalitionsfraktionen tun. Das
wäre einfacher und ehrlicher gewesen. Ich will auf ein
paar Punkte eingehen. Sie sagen: keine Biometrie und
auf gar keinen Fall Fingerabdrücke. Was ist denn Sinn
und Zweck der Biometrie? Der Reisepass bietet durch
die biometrischen Merkmale Gesicht und die beiden Zeigefingerabdrücke, die im Chip integriert sind, absolute
Fälschungssicherheit, weil bei einer Kontrolle die Daten
auf dem Chip mit den Daten desjenigen abgeglichen
werden, der das Dokument vorzeigt. Das leistet die Biometrie. Sie sorgt nicht nur für einen Qualitätsgewinn,
sondern auch für einen Sicherheitsgewinn.
Sie blenden mit Ihrer Behauptung, der Pass könne
kaum gefälscht werden - ich bestreite gar nicht, dass es
sich um ein fälschungssicheres Dokument handelt -, die
Missbrauchsanfälligkeit aus. In Deutschland sind derzeit
mehr als 2 Millionen Personalausweise entwendet. Sie
werden bei optischen Ähnlichkeiten eingesetzt, und
zwar häufig erfolgreich. Das heißt, mehr als 2 Millionen
Bürger müssen derzeit damit rechnen, dass ihr Personalausweis missbräuchlich eingesetzt wird; denn bei einer
flüchtigen Kontrolle kann nicht erkannt werden, dass die
Person, die auf dem Foto abgebildet ist, nicht diejenige
ist, die den Pass oder den Ausweis vorzeigt.
({3})
Genau an dieser Stelle erzielt die Biometrie einen entscheidenden Sicherheitsgewinn. Es wird keinen Missbrauch von Dokumenten mehr geben. Mehr als
2 Millionen gestohlene Ausweise, die sich derzeit in
Umlauf befinden, werden für diejenigen, die sie gestohlen haben, wertlos sein. Auf diesen Sicherheitsgewinn
können und werden wir nicht verzichten.
({4})
Über das Thema Fingerabdrücke führen Sie eine
ziemlich hysterische Debatte.
({5})
- Wenn ich Ihnen zuhöre, weiß ich, was Hysterie ist,
Herr Kollege Wieland, und zwar in gelebter Reinform.
Die im Chip gespeicherten Fingerabdrücke sind mit
einem so hohen Verschlüsselungsalgorithmus ausgestattet, dass man zukünftig mehr als zwölf Tage bräuchte,
um die Daten auszulesen, und zwar in einem Abstand
von 20 Zentimeter zu Pass oder Ausweis, der sich zudem
nicht bewegen dürfte. Das ist faktisch unmöglich. Mehr
Sicherheit geht nicht.
({6})
Wenn Sie ernsthaft Angst haben, dass der im Chip so
gut gesicherte biometrische Fingerabdruck ausgelesen
wird - das ist faktisch nicht möglich -, dann sage ich Ihnen: Der Fingerabdruck ist ein flüchtiges biometrisches
Merkmal.
({7})
Jeder von uns, ob er will oder nicht, hinterlässt rund
500-mal am Tag Fingerabdrücke bei jeder Gelegenheit,
beispielsweise an Tischen, Türgriffen und Gläsern. An
dem Pult, an dem ich stehe, lassen sich möglicherweise
die Fingerabdrücke aller Abgeordneten des Bundestages
finden. Wer Ihren Fingerabdruck wollte, hätte leichtes
Spiel und könnte ihn sich bei den eben beschriebenen
Gelegenheiten besorgen. Wenn Sie ernsthaft Angst haben, dass ein gesicherter Fingerabdruck im Chip Ihres
eigenen Ausweises - sonst ist er nirgendwo vorhanden ausgelesen wird, dann müssten Sie - das habe ich noch
nie gesehen - jeden Tag mit Handschuhen durch die Gegend laufen; denn nur dann wären Sie glaubwürdig. Da
Sie keine Handschuhe tragen, Herr Wieland, nehme ich
Ihnen dieses Argument nicht ab.
({8})
Interessant ist, zu sehen, wie sehr die Bürger in unserem Land diese Technik annehmen. Herr Wieland, Sie
haben darauf hingewiesen, dass die Große Koalition im
November letzten Jahres die Einführung des biometrischen Reisepasses beschlossen hat. In den vergangenen
sechs Monaten haben fast 1,5 Millionen Bundesbürger
den neuen Pass beantragt, weil sie diesen Pass, diese
Technik wollen.
({9})
Es war eine Abstimmung per Antrag. Herr Kollege
Ströbele, der alte Pass hätte seine Gültigkeit behalten.
Die Anzahl derer, die ohnehin einen neuen Pass gebraucht hätte, weil der alte zufällig zu dem Termin abgelaufen wäre, beträgt nur einen Bruchteil der Zahl derer,
die ihn jetzt beantragt haben. Die Bürger sind gegenüber
der Technik aufgeschlossen, sie erkennen im Gegensatz
zu den Grünen den Sicherheitsgewinn. 1,5 Millionen
biometrische Pässe sprechen eine eindeutige Sprache,
und das zeigt, dass dieses Produkt erfolgreich ist. Es ist
sicher, und es bringt einen Qualitätsgewinn. Deshalb
werden wir auf diesem Weg vorangehen, ob Sie es wollen oder nicht.
({10})
Herr Kollege Wieland, ich würde doch bitten, an einer
Stelle die Legendenbildung zu beenden: Referenzdateien, große Datenbanken, Möglichkeiten, wo man
überall abgleichen kann.
Herr Kollege Binninger, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ströbele?
({0})
Gerne.
Herr Kollege, wollen Sie allen Ernstes behaupten,
dass 1,5 Millionen Bürgerinnen und Bürger zu ihren
Bürgerämtern gegangen sind, um endlich biometrische
Merkmale in ihren Pass zu bekommen? Ist das tatsächlich Ihre Meinung? Wenn ja, worauf stützen Sie diese
Meinung? Haben Sie persönlich Untersuchungen vorgenommen, und haben Sie selber von dieser Möglichkeit,
endlich biometrische Merkmale in Ihren Pass zu bekommen, Gebrauch gemacht?
Nur ganz kurz: Im Diplomatenpass haben wir solche
Merkmale schon mit dem Gesichtsbild.
({0})
Ich hole mir selbstverständlich einen biometrischen
Pass.
Woher kommt diese Zahl? Ich will es Ihnen sagen,
Herr Kollege Ströbele. Die Passbehörden und auch das
Bundesinnenministerium haben Erfahrungswerte, sie
wissen, wann die Gültigkeit von Ausweisen abläuft und
wann und in welchem Umfang neue Pässe beantragt
werden müssen, weil der alte Pass abgelaufen ist. Die
Zahl der Menschen, deren Pass abgelaufen ist, ist aber
deutlich geringer als die Zahl derer, die einen neuen Pass
beantragt haben. Diese haben einen neuen Pass beantragt, obwohl ihr alter noch gültig war, womit sie klar
dokumentiert haben, dass diese Technik ein Gewinn ist,
die Reisefreiheit bei höchster Sicherheit und Qualität garantiert.
({1})
Die Zahl der Personen, die einen neuen Pass beantragt
haben, ist sehr viel höher als die, die nach dem Ablauf
des Gültigkeitsdatums zu erwarten gewesen wäre. Das
gefällt Ihnen nicht. Das ist mir klar. Sie hätten gerne mit
Ihrer Hysteriedebatte die Bürger verunsichert. Es ist Ihnen aber nicht gelungen. Das müssen Sie zur Kenntnis
nehmen, ob es Ihnen gefällt oder nicht.
({2})
Die Legende, wir würden eine große Datenbank anlegen, sollten Sie jetzt wirklich zu den Akten legen.
({3})
Die Diskussion darüber, welche Daten die Meldebehörden dezentral speichern und welche sie löschen, hatten
wir. Ich will aber deutlich machen: Im Gesetz zum biometrischen Pass ist klar geregelt, dass es keine Datei
gibt, weder eine dezentrale noch eine zentrale.
({4})
Es wird auch beim Personalausweis so sein, dass es weder eine dezentrale noch eine zentrale Datei geben wird.
Ich bitte Sie, an dieser Stelle nicht weiter Legendenbildung zu betreiben. Wenn Ihnen die Argumente ausgehen, dann geben Sie es einfach zu, aber führen Sie keine
Phantomdiskussionen und keine hysterischen Debatten.
Das wäre ehrlicher.
({5})
Der dritte Punkt, den Sie kritisieren, leuchtet wirklich
noch weniger ein als alle anderen, die Sie vortragen. Sie
lehnen die elektronische Signatur ab, eine Zusatzfunktion, die wir optional im Personalausweis für den Bürger
vorsehen wollen und die es dem Bürger erlauben wird,
bei höchster Sicherheit nicht nur die Geschäfte, die er
heute sowieso schon über Internet - Amazon, Ebay oder
Bankgeschäfte - tätigt, sicherer zu tätigen, sondern auch
Behördengänge von zu Hause am PC zu erledigen. Das
ist ein gigantischer neuer Nutzen, den wir mit dieser
Technik hätten. Sie verweigern dem Bürger diesen Nutzen, warum auch immer. Nur die elektronische Signatur
einzuführen, aber auf die Biometrie zu verzichten, hieße,
einen Ausweis mit neuen Funktionen auszustatten, aber
an der Sicherheit zu sparen.
Herr Kollege, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage,
diesmal von der Kollegin Stokar von den Grünen?
Ja.
Herr Kollege Binninger, ist Ihnen bekannt, dass der
Bankenverband in Deutschland die elektronische Signatur auf dem Personalausweis, so wie sie geplant ist, ablehnt und deutlich erklärt hat, dass die Technologie der
RFID-Chips nicht sicher und damit ungeeignet für Bankgeschäfte sowohl am Terminal als auch beim Onlinebanking ist? Was, bitte schön, soll dann diese Koppelung,
wenn schon der Bankenverband sagt, dass er mit diesem
System nicht arbeiten werde?
Frau Kollegin Stokar, möglicherweise ist Ihnen die
neueste Position aus der Bankenwelt nicht bekannt. Wir
haben am Dienstag oder Mittwoch dieser Woche eine Informationsveranstaltung besucht,
({0})
bei der Vertreter aus der Wirtschaft, Wissenschaft und
auch von Banken anwesend waren.
({1})
Sie alle haben unisono diese Technik begrüßt. Insofern
bitte ich darum, dass wir nicht immer so tun, als ob wir
in Deutschland beim BKA, beim BMI und beim Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik keine
Kompetenz hätten, die Datenschutz garantieren kann,
und wir unsichere Produkte auf den Markt werfen würden. Das ist doch falsch.
Die Position und die Erwartungshaltung sind eindeutig. Wir sollten - natürlich unter Berücksichtigung des
Datenschutzes - alles tun, um diese Technik sicher - das
möchte ich Ihnen gerne zugestehen - zu machen und
eben auch einzusetzen.
({2})
Wenn wir auf diese Funktion verzichten würden,
hieße es, sich vom E-Government zu verabschieden,
hieße es, den Bürger weiterhin zu Behördengängen zu
veranlassen, obwohl er seine Anliegen vielleicht auch
von zu Hause aus am PC erledigen könnte.
({3})
Es ist wirklich die Kombination aus einem sicheren Dokument mit Biometrie und dem Zusatznutzen für den
Bürger. Wer das dem Bürger vorenthalten will, soll es sagen. Wenn die Grünen es wollen, dann mag es ihre Position sein. Wir werden an dieser Stelle nicht mitgehen.
({4})
Für uns ist die Biometrie in Ausweisdokumenten, in
Pässen ein Gewinn an Qualität, ein Gewinn an Sicherheit und ein großer Gewinn an Zusatznutzen für den
Bürger. Deshalb werden wir dieses Projekt bzw. dieses
Produkt vorantreiben, und zwar unabhängig davon, ob es
Ihnen gefällt oder nicht.
Herzlichen Dank.
({5})
Das Wort hat nun Kollegin Gisela Piltz, FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Mehr Sicherheit,
mehr Service, keine Probleme - das ist der Dreiklang,
mit dem das BMI den elektronischen Personalausweis
verkauft. Insbesondere preisen aber auch die Großkoalitionäre - wir waren eben lange genug Zeuge - die zahlreichen Vorzüge dieses neuen Projektes an. Sogar von
einer kleinen Revolution, vom Ausweis fürs Internet ist
die Rede.
Als Opposition tun wir uns mit der Beurteilung im
Moment noch ein bisschen schwer. Bis heute haben wir
nicht einmal das Grundkonzept des Innenministeriums
für den neuen Personalausweis zur Verfügung gestellt
bekommen.
({0})
Auch unsere Berichtsanforderungen zum Stand der
Entwicklung der Lesegeräte und der Software für den
neuen Personalausweis sind bisher nicht übersandt worden. Damit nicht genug: Auch eine zuverlässige Kostenschätzung seitens des Innenministeriums gibt es noch
nicht. Aber tolles Projekt!
({1})
Wenn dieses Projekt so toll sein soll, wie Sie immer
darstellen, frage ich mich, warum Sie die Details vor der
Opposition und damit vor der Öffentlichkeit verstecken.
Diese Frage haben Sie heute nicht beantwortet, Herr
Binninger.
({2})
Ihre Argumente für den neuen Personalausweis sind
Fälschungssicherheit und die Möglichkeit der Identitätsüberprüfung. Fälschungssicher sind die alten Ausweispapiere, die wir in Deutschland haben, auch. Die Zahlen
kennen Sie; ich muss sie nicht wiederholen.
({3})
Was Sie damit allerdings wollen, erreichen Sie im
Moment noch gar nicht. Das erreichen Sie übrigens nicht
einmal hinsichtlich der Reisepässe. Sie wissen genau,
dass gerade einmal die Hälfte der deutschen Grenzübergänge mit Lesegeräten für die neuen biometrischen
Reisepässe ausgestattet ist. Es gibt auch noch keine
Möglichkeit, die von Ihnen so gelobte biometrische Gesichtserkennung durchzuführen, weil seitens des Innenministeriums noch nicht einmal ein Roll-out-Plan existiert, Kameras an den Grenzen zu installieren. Jetzt frage
ich Sie: Wie soll das ein Mehr an Sicherheit bringen, obwohl Sie weder die Lesegeräte noch eine Idee dafür haben, wie diese bezahlt werden sollen und woher diese
kommen sollen? Das hat mit Sicherheit überhaupt nichts
zu tun.
({4})
Wie immer bei der Sicherheitspolitik verfahren Sie
auch hier nach dem Motto „Augen zu und durch“.
Die Identitätsüberprüfung, bei der es nur darum geht,
ob der, der den Ausweis hat, auch der ist, für den er ausgestellt worden ist, rechtfertigt eine Aufrüstung in
diesem Sinne aus unserer Sicht nicht. Denn die biometrische Gesichtserkennung und erst recht der Fingerabdruck werden in der deutschen Bevölkerung mit - es ist
schon gesagt worden - erkennungsdienstlichen Behandlungen oder sogar mit der Vorstellung verbunden, dass
Bürger im Gefängnis ihre Fingerabdrücke abgeben müssen. Der Bürger verbindet damit aber nicht, dass er seinen Fingerabdruck abgeben muss, damit dieser in den
Personalausweis eingearbeitet wird, den er bei sich haben muss.
Dann möchte ich doch noch einmal mit einer Mär
aufräumen, die der Kollege Binninger hier hinsichtlich
der Zahlen gebracht hat. Herr Binninger - das müssten
Sie wissen -, es gibt den Reisepass mit biometrischen
Merkmalen schon seit dem 1. November 2005, zunächst
nur mit Gesichtserkennung, seit 1. November 2007 mit
Erfassung der Fingerabdrücke. Seit 1. November 2005
sind rund 5,4 Millionen Pässe ausgegeben worden.
Wenn man das auf Halbjahreszeiträume bezieht, dann
kommt man zu dem Ergebnis, das jedes halbe Jahr
1 Million Pässe ausgegeben werden. Sie können mir angesichts dieser Zahlen und bei Kosten von 59 Euro pro
Pass nicht erzählen, dass diese Pässe nun wirklich der
Renner bei den Bürgerinnen und Bürgern wären. Wenn
Sie daran glauben wollen, dann können Sie das gerne
tun. Ich finde, die Fakten sprechen dagegen.
({5})
Wenn Sie im Übrigen daran glauben, dass das alles
fälschungssicher sei, dann kann ich Ihnen nur raten:
Sprechen Sie mit Fachleuten! Die sagen Ihnen, dass natürlich auch ein biometrisches Foto oder auch ein Fingerabdruck gefälscht werden kann. Von daher sind solche Pässe nicht wirklich fälschungssicherer. Aber es gibt
Leute, die viel daran verdienen. Man muss ja die Bundesdruckerei wieder ein bisschen aufhübschen, man will
die biometrische Industrie fördern.
({6})
Das alles ist in Ordnung, aber dann sagen Sie es doch
und tun nicht so, als ob es Ihnen um mehr Sicherheit
ginge.
({7})
Auch die Kopplung mit der elektronischen Signatur
lehnen wir ab. Das hieße nämlich, dass zukünftig jeder,
der im Internet mit einem solchen Personalausweis unterwegs ist, identifiziert werden kann. Das wäre ein weiterer Schritt in die Totalüberwachung. Auch der Bankenverband hat ausdrücklich gesagt - das ist schon gesagt
worden; meine Gespräche mit diesem und anderen Verbänden sind sogar jüngeren Datums als Ihre; da muss ich
Sie enttäuschen -,
({8})
dass die Banken selber so viel Geld investiert haben,
dass sie überhaupt nicht einsehen, sich daran zu beteiligen. Das heißt, auch dieses von Ihnen genannte Argument zieht nicht mehr.
Im Zusammenhang mit Ihrem Versprechen, dass sich
die Bürgerinnen und Bürger dann an Bürgerportalen beteiligen könnten, verschweigen Sie den Bürgerinnen und
Bürgern die Tatsache, dass das Geld kosten würde, und
zwar durchaus viel Geld. Auch deshalb lehnen wir das
ab.
Sicherheit im Internet ist eine Sache, aber sie muss
nicht auf eine derartige Weise und schon gar nicht
zwangsweise staatlich verordnet werden. Meine 104-jährige Oma zum Beispiel könnte damit gar nichts mehr anfangen. Ich glaube, auch das sollten wir berücksichtigen.
Wir freuen uns, dass sich die Grünen noch einmal mit
diesem Thema an den Bundestag gewandt haben. Es ist
schön, wenn Sie Ideen von uns aufgreifen, auch wenn
dieses ein Jahr später geschieht.
({9})
Wir hoffen, dass insbesondere die CDU/CSU-Fraktion diese Debatte noch einmal zum Anlass nimmt, zu
überlegen, ob man nicht erst einmal abwartet, wie das
mit dem europäischen Pass, den wir ja einführen müssen, so läuft. Wir würden uns freuen, wenn wir dann danach hierüber noch einmal diskutieren könnten.
Herzlichen Dank.
({10})
Das Wort hat der Abgeordnete Gert Winkelmeier.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Da
versucht Herr Kollege Binninger, uns die Vorteile deutlich zu machen, die biometrische Merkmale im Personalausweis bringen, und verweist dabei darauf, dass so
Interneteinkäufe einfacher möglich wären und BehörGert Winkelmeier
dengänge überflüssig würden. Sie wissen wie jeder andere hier in diesem Hause, dass es auch heute schon
möglich ist, im Internet einzukaufen und Behördengänge
elektronisch zu erledigen.
({0})
Die zentrale Frage in diesem Zusammenhang lautet
doch: Was ist denn schlecht am alten Personalausweis?
Hierzu muss man sagen: Aus unserer Sicht gibt es überhaupt keinen Anlass, biometrische Merkmale in den Personalausweis einzubauen.
Ich möchte auf drei Punkte eingehen: Der erste Punkt
betrifft den Zusammenhang zwischen Fingerabdrücken
und Sicherheit. Es ist nun einmal so, dass jeder Deutsche
ab dem 16. Lebensjahr per Gesetz verpflichtet ist, einen
Personalausweis mit sich zu führen. Wenn nun aber bei
jedem Personalausweis Fingerabdrücke hinterlegt werden sollen, heißt das, dass Millionen Deutsche sozusagen erkennungsdienstlich behandelt werden. Das darf
einfach nicht sein. Experten sagen, dass dies verfassungsrechtlich höchst bedenklich ist. Ich glaube, dass
dies vor dem Bundesverfassungsgericht auch keinen Bestand haben wird. Ich halte die Maßnahme, dass wir alle
die Fingerabdrücke hinterlegen sollen, für moralisch
verwerflich. Diese Behandlung wie von mutmaßlichen
Verbrechern ist ungeheuerlich. Auf den psychologischen
Faktor in diesem Zusammenhang kann ich aus Zeitgründen nicht weiter eingehen.
Ein zweiter Punkt ist die Zentraldatei. Sie haben eben
gesagt, Sie verzichten auf die Zentraldatei, obwohl es in
Ihrer Partei Diskussionen dazu gegeben hat. Das ist aber
eine Sache des Glaubens. Wir wissen doch, dass Sie,
wenn sich bestimmte Dinge ändern, keinen Moment zögern werden, diese Zentraldatei zu fordern. Auch bei der
SPD, die sich heute noch dagegen ausspricht, stellt sich
die Frage, ob sie diese Position beibehalten wird.
Vor allem finde ich verwerflich, dass Sie mit Ihren
Überlegungen noch nicht einmal abwarten, bis das Bundesverfassungsgericht eine Entscheidung zum biometrischen Pass getroffen hat. Sie wissen, dass dort ein Verfahren anhängig ist.
Entlarvend ist auch, dass sich der sächsische Justizminister in diesem Zusammenhang in Zeitungen zitieren
lässt: Die Politik solle keinen vorauseilenden Gehorsam
gegenüber dem Bundesverfassungsgericht leisten und
die verfassungsrechtlichen Grenzen ausloten. Das zeigt
doch, wes Geistes Kind diese Leute sind.
Die größte Gefahrenquelle sehe ich allerdings in einem unbemerkten externen Auslesen der Daten durch
Kriminelle, die das bewusst machen, um einen Vorteil
für ihre kriminellen Aktionen zu haben. Wenn mir heute
der Personalausweis gestohlen wird, dann melde ich das,
und dann gibt es einen Vorgang dazu. Wenn Ihnen irgendwann einmal die Daten des Personalausweises ausgelesen werden, dann merken Sie das zunächst gar nicht,
sondern erst in dem Moment, wo die Staatsanwaltschaft
bei Ihnen klingelt und Sie zu den Dingen befragt, die Ihnen vorgeworfen werden. Dadurch erfolgt eine Umkehr
der Beweislast: Dann muss nämlich derjenige, dem unbemerkt die Daten entwendet worden sind, erklären,
dass er die ihm vorgeworfenen kriminellen Taten nicht
begangen hat.
Deswegen kann die Forderung in diesem Zusammenhang nur lauten: keine biometrischen Merkmale im Personalausweis.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat nun Kollege Frank Hofmann, SPDFraktion.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag der Grünen „Keine Einführung biometrischer Merkmale im Personalausweis“ hat bei mir Erstaunen und Kopfschütteln
ausgelöst.
({0})
So viel Humbug in so wenig Zeilen, das ist eine Riesenleistung.
({1})
Sie schreiben bereits in Satz 2:
Durch die elektronische Speicherung biometrischer
Merkmale in Personalausweisen droht eine Referenzdatei zu entstehen, die alle im Bundesgebiet lebenden Menschen erfasst.
Diese absurde Behauptung entbehrt jeder Tatsachengrundlage, ist aber geeignet, Ängste in der Bevölkerung
zu schüren.
({2})
Ein bisschen weniger Opportunismus, ein bisschen weniger Populismus - ich weiß, dass das den Grünen in der
Opposition schwerfällt - und etwas mehr pragmatische
Sacharbeit täten Ihnen gut. Schauen Sie doch zu Ihren
grünen Parteifreunden nach Hamburg, die da gerade eine
konservative Regierung gebildet haben! Da sind Sie zur
Sacharbeit verpflichtet. Und was steht dort in der Koalitionsvereinbarung? Sie bekennen sich zum Beispiel ausdrücklich zur Videoüberwachung im öffentlichen Raum
an Kriminalitätsschwerpunkten,
({3})
und hier in Berlin heucheln Sie vom Gespenst des Überwachungsstaates.
Ich möchte Sie an das erinnern, was wir beim europäischen Reisepass beschlossen haben: keine Speicherung von Fingerabdruckdaten, weder dezentral noch
zentral. Hier hat sich die SPD in den - zugegebenermaßen teilweise schwierigen - Verhandlungen in der
Koalition durchgesetzt.
Herr Kollege Hofmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Wieland?
Herr Wieland.
Herr Kollege Hofmann, da wir Ihrer Ansicht nach nur
Unsinn in komprimierter Form produzieren, muss ich
Sie Folgendes fragen: Glauben Sie wenigstens Ihrem
Kollegen Edathy, dem Vorsitzenden des Innenausschusses, der heute vor dem Kernstück warnt, um das es auch
uns geht, nämlich vor der zwangsweisen Einführung
- beim Personalausweis geschieht dies zwangsweise eines solchen biometrischen Dokumentes für alle Bürgerinnen und Bürger? Es ist noch keine Stunde her, dass
diese Meldung über den Ticker gegangen ist. Wenn Sie
mir schon nicht glauben, glauben Sie wenigstens Ihrem
Kollegen Edathy?
Es geht nicht um Glaubensfragen. Ich gehe Ihren Antrag Punkt für Punkt durch. Ich habe mich eben mit der
Referenzdatei beschäftigt und werde auch noch auf die
Frage eingehen, ob wir es nun machen oder nicht.
({0})
Ich komme, wie gesagt, noch später dazu. Zunächst will
ich Ihren Antrag weiter sezieren, weil ich glaube, dass
dies nach Ihrer fürchterlichen Rede dringend notwendig
ist.
({1})
Ich war beim europäischen Reisepass. Wie gesagt, es
gibt keine Speicherung von Fingerabdruckdaten, weder
dezentral noch zentral. Hier hat sich die SPD in teilweise
schwierigen Verhandlungen durchgesetzt. Wir wollen
eine schnelle Identifizierung, aber kein neues Fahndungshilfsmittel. So wie der neue Reisepass in Deutschland ausgestattet ist, dient er sowohl der Sicherheit als
auch der Freiheit. Das ist Sicherheitspolitik mit Augenmaß.
Zudem ist sich die Koalition einig - Sie haben eben
den Kollegen Clemens Binninger dazu gehört -: Die
Einrichtung einer Referenzdatei ist vom Tisch. Man
braucht also nicht mehr darüber zu reden. Die Angst, die
die Grünen vor dem Risiko einer umfassenden staatlichen Datensammlung schüren, ist unbegründet.
({2})
Das Risiko, dass Sie, lieber Herr Kollege Wieland, vom
Blitz getroffen werden, ist höher als die Wahrscheinlichkeit, dass wir einem solchen Horrorszenario zustimmen
werden.
({3})
In ihrer Fingerabdruckphobie sind die Grünen wohl
auch einigen Irrtümern aufgesessen. Fingerabdrücke
sind keineswegs Daten, die bisher nur im Rahmen von
Ermittlungen bei Straftaten erfasst werden, wie die Grünen in ihrem Antrag schreiben. Die Erhebung von Fingerabdrücken ist seit Jahrzehnten eine Standardbefugnis
aufgrund der Polizeigesetze der Länder. Herr Wieland,
Ihnen als Erstunterzeichner des Antrags und als kurzzeitiger Justizsenator in Berlin sollte bekannt sein, dass
auch das Berliner SOG die erkennungsdienstliche Behandlung enthält.
({4})
Wie konnte solch ein schlechter Antrag über Ihren Tisch
gehen?
({5})
- Nein, eben nicht. Bei der Gefahrenabwehr geht es
nicht um einen Straftatverdacht. Das haben Sie völlig
übersehen. Wie konnte so etwas über Ihren Tisch gehen?
({6})
Sie vermischen weiterhin Passregister und Melderegister; Herr Binninger hat es ebenfalls schon angesprochen. Das sind zwei Paar Stiefel. Das eine hat mit dem
anderen nichts zu tun. Das Melderegister wird keine biometrischen Daten beinhalten. Die Fantasie ist mit Ihnen
hier wohl kräftig durchgegangen.
Im Übrigen ist auch uns bekannt, dass die Aufnahme
biometrischer Merkmale in den Personalausweis einen
Eingriff in die Rechte von Bürgerinnen und Bürgern darstellt. Deshalb werden wir hier auch ganz genau prüfen,
ob diese Maßnahme überhaupt erforderlich ist. Die Bundesregierung muss nachweisen, weshalb man unter Sicherheitsaspekten einen neuen Personalausweis benötigt; denn bisher heißt es überall, wir hätten mit unserem
heutigen Personalausweis ein Dokument, das zu den fälschungssichersten der Welt gehört.
({7})
- Hören Sie einmal zu! - Deshalb fällt es mir gegenwärtig unter Sicherheitsaspekten schwer, einen Mehrwert zu
erkennen.
({8})
Hier hat die Bundesregierung also eine Bringschuld. Die
Willensbildung in unserer Fraktion ist hierzu noch nicht
abgeschlossen. Wir müssen uns zum Beispiel noch mit
der Problematik des möglichen Dokumentenmissbrauchs
Frank Hofmann ({9})
- sie wurde auch schon von Herrn Binninger angesprochen - beschäftigen.
Wichtig sind mir aber auch die mit dem neuen Personalausweis verbundenen technischen Innovationen für
unsere Bürgerinnen und Bürger. Es wurden schon der
elektronische Identitätsnachweis und die elektronische
Signatur angesprochen. Diese beiden zusätzlichen Funktionen halten wir für eine große Innovation. Sie können
so ausgestaltet sein, dass sie nachträglich freigeschaltet
oder gesperrt werden können, je nach individueller Entscheidung der Bürger. Es ist also kein Teil eines Zwangsdokumentes.
Die Authentisierungsfunktion und die elektronische
Signatur sind ein wichtiger Schritt hin zu mehr Sicherheit und Komfort im elektronischen Geschäftsverkehr.
Gerade die zunehmende kommerzielle Nutzung des Internets erfordert es, sich auch elektronisch ausweisen zu
können.
Ich meine, die möglichen Risiken des neuen elektronischen Personalausweises sind durchaus beherrschbar.
Der Einsatz der von den Grünen - im Antrag wie in der
Rede von Herrn Wieland - dargestellten Räuberpistolen
ist unwahrscheinlich.
Was den neuen Reisepass - sozusagen die zweite Generation des Reisepasses, Frau Piltz - angeht, sind mir
noch keine gravierenden technischen Probleme und
keine Sicherheitsprobleme zu Ohren gekommen. Als ich
mich bei den Fachleuten des Bundeskriminalamt informiert habe, haben sie mir gesagt - da waren die neuesten
Zahlen noch nicht bekannt -: Es war schon interessant,
wie viele Bürgerinnen und Bürger diesen neuen Pass haben wollten. Neben denjenigen, die - wie sicherlich auch
Sie - den neuen Pass kritisieren, gibt es viele, die sagen:
Wir wollen dieses neue Reisedokument haben. Es gibt
also viele Bürgerinnen und Bürger, die zu dieser neuen
Technologie Vertrauen gefasst haben.
Ich komme zum Schluss. Trotzdem gehen wir Sozialdemokraten die konkrete Umsetzung des Vorhabens, einen elektronischen Personalausweis auszustellen, kritisch an, aber nicht populistisch. Wir bleiben auf unserem
Kurs: Sicherheitspolitik mit Augenmaß.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat nun Jan Korte, Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Um
Hysterie geht es hier wirklich nicht. Der CDU/CSU ist
nämlich - das hat sie diese Woche eindrucksvoll gezeigt wirklich alles zuzutrauen. Deswegen kann einen gar
nicht genug schaudern. Sicher ist, dass die SPD im
Zweifel umfallen wird. Daher ist dieser Antrag richtig.
({0})
Wir wollen zur Versachlichung der Debatte beitragen;
das ist unsere Art.
({1})
Zurzeit sind 62 Millionen Personalausweise im Umlauf.
Wir haben die Bundesregierung in einer Kleinen Anfrage Folgendes gefragt:
Wie viele Fälschungen oder Verfälschungen von
deutschen Personalausweisen sind seit 2001 auf
welche Art und Weise und bei welcher Gelegenheit
aufgedeckt worden?
Die Bundesregierung antwortete - ich zitiere -:
Für den Zeitraum vom 1. Januar 2001 bis einschließlich 30. September 2007 sind insgesamt 495 Urkundendelikte … registriert. Dabei handelt es sich in
88 Fällen um Totalfälschungen sowie in 128 Fällen
um Verfälschungen von deutschen Personalausweisen.
({2})
Also 495 Urkundendelikte bei 62 Millionen in Umlauf
befindlichen Personalausweisen. In Ihrer Sprache würde
man sagen: ein wirklich deutsches Spitzenprodukt. Es
gibt überhaupt keine Handlungsnotwendigkeit für das,
was Sie hier planen.
({3})
Außerdem haben wir die Bundesregierung Folgendes
gefragt - das ist die entscheidende Frage; es geht ja um
mehr Sicherheit, wie Sie suggerien -:
Bei wie vielen der durchgeführten oder geplanten
und aufgedeckten oder verhinderten vermutlichen
terroristischen Anschläge seit dem Jahr 2000 spielten bei Planung und Durchführung gefälschte deutsche Personalausweise eine Rolle …?
Die Antwort der Bundesregierung war kurz und knapp
und ausnahmsweise klar:
Der Bundesregierung sind keine derartigen Fälle
bekannt.
({4})
Damit ist doch völlig deutlich geworden, worum es
hier geht: Es geht hier nicht um mehr Sicherheit, sondern
um Datensammelwut.
Kollege Binninger, Sie haben doch selber vorgeschlagen, dass die Schaffung einer Referenzdatei das Ziel sein
müsse. Dieses Ziel zu erreichen, wird mit der SPD in
den nächsten drei Monaten wahrscheinlich nicht zu machen sein. Ich wiederhole: Sie haben diesen Vorschlag
gemacht. Es ist in diesem Falle richtig, davor zu warnen.
Ich fasse zusammen: Diese biometrischen Merkmale
bringen nicht mehr, sondern weniger Sicherheit. Unsere
jetzigen Standards sind absolut sicher; das sagen Sie selber.
Die Debatten über einen neuen Reisepass sind noch
absurder. In einer Anhörung im Innenausschuss sagten
mehrere Sachverständige, die RFID-Technik bewirke
mehr Unsicherheit. Viele entgegneten: Nein, so ist das
nicht. Schließlich hat der BKA-Präsident - er steht nicht
im Verdacht, für uns zu arbeiten - seinen Reisepass herausgeholt, den er in Alufolie eingewickelt hatte, um zu
verhindern, dass seine darauf gespeicherten Daten ausgelesen werden. Das sagt doch wohl alles. Es geht hier
um weniger Sicherheit. Das, was Sie machen, ist also
grob fahrlässig.
({5})
Deswegen unterstützt die Linke diesen Antrag. Ich
finde, man muss noch weit darüber hinausgehen: Mit
Blick auf die Sicherheitsgesetze, die in den letzten zweieinhalb Jahren von der Bundesregierung, von Innenminister Schäuble, vorgestellt worden sind, brauchen wir
eigentlich ein grundsätzliches Moratorium für alle Planungen im Sicherheitsbereich.
({6})
Wir müssen innehalten und wirklich einmal darüber diskutieren: Was bringt mehr Sicherheit? Ist die Verhältnismäßigkeit überhaupt noch gewahrt? Wir fordern dazu auf,
nicht nur die Planungen zur Einführung biometrischer
Merkmale im Personalausweis einzustellen, sondern auch
innezuhalten, ein Moratorium zu verabschieden sowie
grundsätzlich und kritisch, auch mit Bürgerrechtsorganisationen, über den Weg der weiteren Sicherheitspolitik in
diesem Lande zu diskutieren.
Schönen Dank.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/7749 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe die Zusatzpunkte 8 bis 11 auf:
ZP 8 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Anpassung von Dienst- und
Versorgungsbezügen im Bund 2008/2009 ({0})
- Drucksache 16/9059 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Verteidigungsausschuss
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
ZP 9 Erste Beratung des von den Abgeordneten Jörg
van Essen, Dr. Max Stadler, Jens Ackermann,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP
eingebrachten Entwurfs eines Achtundzwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Abgeordnetengesetzes
- Drucksache 16/9054 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung ({2})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Haushaltsausschuss
ZP 10 Erste Beratung des von den Abgeordneten Jörg
van Essen, Dr. Max Stadler, Jens Ackermann,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP
eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes ({3})
- Drucksache 16/9055 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung ({4})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Haushaltsausschuss
ZP 11 Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Bundesbesoldungsgesetzes
- Drucksache 16/1033 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({5})
Verteidigungsausschuss
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort Kollegen Ralf Göbel, CDU/CSU-Fraktion.
({6})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit
die Große Koalition regiert, haben sich die wirtschaftlichen Rahmendaten in unserem Lande erheblich verbessert.
({0})
Der Wirtschaft geht es gut. Die Arbeitslosigkeit ist gesunken. Die Löhne und Gehälter haben sich in den vergangenen Jahren positiv entwickelt. Wir in diesem
Hause haben die Beamtinnen und Beamten, die Pensionärinnen und Pensionäre des Bundes von diesen allgemeinen Einkommensentwicklungen abgekoppelt.
({1})
Damit wir über Zahlen und Fakten reden können,
möchte ich Folgendes in Erinnerung rufen: Zuletzt wurden die Bezüge am 1. August 2004 angehoben: linear
um 1 Prozent, bei den Versorgungsempfängern um
0,46 Prozent. Seitdem gab es lediglich Einmalzahlungen
in den Jahren 2005 bis 2007 in Höhe von 300 Euro für
die aktiven Beamten; die Pensionäre sind jeweils leer
ausgegangen. Zweimal, nämlich 2004 und 2006, wurde
das Weihnachtsgeld gekürzt; das Urlaubsgeld wurde im
Jahr 2004 gänzlich gestrichen. Im Gegenzug wurde aber
die Arbeitszeit der Beamtinnen und Beamten erhöht.
Insgesamt gerechnet haben die Beamten seit dem Jahr
2002 einen Einkommensverlust in Höhe von circa
12 Prozent hinnehmen müssen. Sie haben damit einen
eigenständigen Beitrag zur Konsolidierung des Bundeshaushalts erbracht. Deswegen begrüßen wir, die CDU/
CSU-Fraktion - ich denke, auch die SPD-Fraktion -,
umso mehr die Absicht der Bundesregierung, nun den
Tarifabschluss, der im öffentlichen Dienst gefunden
worden ist, eins zu eins auf die Beamtinnen und Beamten sowie auf die Versorgungsempfänger zu übertragen.
({2})
Ich möchte dazu sagen: Wir, die CDU/CSU-Fraktion,
haben wesentlich dazu beigetragen, dass der Tarifabschluss zeitgleich übertragen wird. Damit werden die
Angestellten und die Beamtinnen und Beamten gleich
behandelt. Das war uns ein wichtiges Anliegen. Damit
haben wir die Zusage, die wir den Beamtinnen und Beamten gegeben haben, den Tarifabschluss zeit-, wirkungs- und inhaltsgleich zu übertragen, eingehalten.
Im Einzelnen heißt das jetzt: Die Dienst- und Versorgungsbezüge werden in den Jahren 2008 und 2009 in
drei Schritten angehoben. Zunächst einmal werden die
Grundgehaltssätze um einen Sockelbetrag von 50 Euro
ab dem 1. Januar 2008 angehoben. Auf dieser neuen
Grundlage erfolgt eine lineare Erhöhung um 3,1 Prozent
ebenfalls ab dem 1. Januar 2008. Am 1. Januar 2009
folgt eine weitere lineare Erhöhung um 2,8 Prozent. Im
Jahr 2009 erhalten die Empfänger von Dienst- und Versorgungsbezügen - auch hier werden die Versorgungsempfänger berücksichtigt - eine ergänzende Einmalzahlung in Höhe von 225 Euro.
Der Gesetzentwurf leistet einen guten Beitrag zur
Stärkung des Wirtschaftsstandorts Deutschland. Wenn
Sie mit Unternehmern, die sich in Deutschland angesiedelt haben, reden, werden Sie immer wieder feststellen,
dass auch der zuverlässige, an Recht und Gesetz orientierte, gemeinwohlorientierte und korruptionsfreie öffentliche Dienst in Deutschland ein wesentlicher Standortfaktor ist,
({3})
der für die Ansiedlung von Unternehmen eine Rolle
spielt. Ich meine, die Beamtinnen und Beamten haben es
zum einen verdient, dass man dies hier einmal erwähnt,
und zum anderen, dass man ihnen jetzt, nachdem ein Tarifergebnis gefunden worden ist, die notwendige Anerkennung für die Leistungen gewährt, die sie erbracht
haben und zukünftig erbringen. Dies kann zu einem Motivationsschub in der Bundesverwaltung führen.
Leider betrifft dies nur die Beamtinnen und Beamten
des Bundes. In der Föderalismusreform haben sich die
Länder abgekoppelt und eigene Besoldungshoheiten erreicht. Das führt natürlich in den öffentlichen Verwaltungen - das ist klar - zu schwierigen Situationen. Der
Tarifabschluss gilt ja auch für die Angestellten in den
Gemeinden. In meinem Bundesland Rheinland-Pfalz
({4})
sieht die Situation so aus, dass zum einen das Tarifergebnis komplett auf die Angestellten übertragen wird, zum
anderen aber die Beamten in diesem Jahr mit einer Gehaltserhöhung von 0,5 Prozent leben müssen. Die Bundesländer sollten sich überlegen, ob sie an dieser Tradition festhalten oder ob sie nicht wieder auf die bewährte
Verfahrensweise des Bundes einschwenken.
Herr Kollege, bevor Sie das Rednerpult verlassen,
wollte ich Sie noch fragen, ob Sie eine Zwischenfrage
- in diesem Fall ist es eine Nachfrage - des Kollegen
Des Kollegen Schily?
({0})
- ich bitte um Entschuldigung - des Kollegen
Ströbele zulassen.
({0})
Das verlängert Ihre Redezeit.
Wenn Herr Schily hier wäre, hätte ich auch ihm gern
die Gelegenheit gegeben, eine Frage zu stellen.
({0})
Herr Präsident, ich möchte für die Geschichte festhalten, dass ich nicht der Kollege Schily bin.
Herr Kollege, meine Frage bezieht sich auf Ihren gesamten Redebeitrag. Wie können Sie erklären, dass Sie
neben Ihren wohlgesetzten Worten kein Wort zu einem
Thema, das zweifellos unter diesen Tagesordnungspunkt
fällt, nämlich zum Thema „Diätenerhöhung für die Abgeordneten“, verloren haben?
({0})
Kann das damit zu tun haben, dass Sie selber und auch
Ihre Kolleginnen und Kollegen aus den Koalitionsfraktionen ein schlechtes Gewissen haben,
({1})
was auch dadurch zum Ausdruck kommt, dass der Punkt
„Diätenerhöhung“ nachträglich als Art. 13 in den Entwurf eines Bundesbesoldungs- und -versorgungsanpassungsgesetzes 2008/2009 hineingeschmuggelt worden
ist, und dass Sie damit der Intention und dem Petitum
des Bundesverfassungsgerichts, das dem Parlament aufgegeben hat, über die Diätenerhöhungen offen, ehrlich
und im Lichte der Öffentlichkeit zu diskutieren,
({2})
nicht nachkommen wollen?
Herr Kollege Ströbele, da Sie nicht das Wort zu einer
Regierungserklärung, sondern zu einer Zwischenfrage
erhalten haben, muss ich auf die üblichen Geschäftsordnungsregelungen hinweisen.
Herr Kollege Göbel, zur Beantwortung.
Kollege Ströbele hat offensichtlich von der Fraktion
der Grünen kein Rederecht bekommen und wollte jetzt
noch seine Meinung in irgendeiner Weise kundtun.
({0})
Ich will Ihnen sagen: Ich habe überhaupt kein
schlechtes Gewissen. Wenn Sie die Rednerliste betrachten, dann werden Sie feststellen, dass es noch einen Redner der Union gibt. Er wird den anderen Teil des Gesetzentwurfes begründen.
({1})
Das Wort erhält nun der Kollege Ernst Burgbacher für
die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Verehrter Herr Kollege Göbel, die Rede, die Sie gerade
gehalten haben, hatte auch ich am Dienstag fast fertig.
Ich finde es aber vermessen, dass Sie in der Eingangsrede keinen Ton zum Thema der Diätenerhöhung sagen.
({0})
Dem ersten Teil des Gesetzentwurfes, der die Anpassung
der Bezüge der Beamten, der Richter, der Soldaten und
der Versorgungsempfänger betrifft, stimmen wir ausdrücklich zu. Der Tarifabschluss ist übrigens erst nach
massiver Kritik der FDP und der Gewerkschaften eins zu
eins übernommen worden. Das begrüßen wir. Diesem
Teil stimmen wir ausdrücklich zu.
({1})
Die Tatsache, dass gleichzeitig die Diäten der Abgeordneten erhöht werden sollen, und zwar hintenherum,
sozusagen durch die kalte Küche - denn der Gesetzentwurf wurde erst Dienstagabend vorgelegt -, ist unglaublich.
({2})
Nach den vier Punkten zur Besoldungsanpassung wird
ein kleiner, unscheinbarer Punkt 5 eingefügt, über den
die Diäten der Abgeordneten in zwei Stufen um
491 Euro, was 6,4 Prozent entspricht, erhöht werden sollen. Diese zusätzliche Erhöhung um 6,4 Prozent ist maßlos und eine Provokation all der Bürgerinnen und Bürger, die im Augenblick versuchen, mit immer weniger
netto vom Brutto über die Runden zu kommen.
({3})
Das Bild, das die „Große Diätenkoalition“ bietet, ist
verheerend. Die Empörung in der Öffentlichkeit ist groß,
der Vorwurf der Selbstbedienung wird lauter. Die Abgeordneten der Regierungsfraktionen sind der Realität der
Menschen offenbar ein weites Stück entrückt. Sie haben
offenbar vergessen, was Sie in diesem Hohen Hause im
Dezember letzten Jahres beschlossen haben. In der Begründung Ihres Gesetzes steht - ich zitiere aus der Begründung -:
Mit der Anhebung … wird … auch die voraussichtliche Steigerung der durchschnittlichen Erwerbseinkommen bis zur nächsten Anpassung der Abgeordnetenentschädigung frühestens im Jahre 2010
berücksichtigt.
Entweder haben Sie den Leuten damals etwas vorgespielt, oder Sie spielen ihnen jetzt etwas vor. So können
wir mit den Bürgerinnen und Bürger jedenfalls nicht umgehen.
({4})
Mit Ihrem Vorgehen stellen Sie ein weiteres Mal die
Freiheit und Unabhängigkeit der Abgeordneten infrage.
Sie regeln die Höhe der Diäten in einem Gesetz über die
Besoldung der Beamten. Sie koppeln die Diäten an die
Beamtenbezüge. Die FDP hat ein anderes Verständnis
vom freien Abgeordneten.
({5})
Abgeordnete sind weder Beamte noch Angestellte des
öffentlichen Dienstes. Wir halten es für paradox und unverantwortlich, sogar für gefährlich, dass die Gewerkschaften bei den Tarifverhandlungen mit der Bundesregierung im stillen Kämmerlein gleichzeitig die Diäten
der Abgeordneten mitverhandeln. Ich lehne Herrn
Bsirske als Vertreter meiner Interessen ausdrücklich ab.
({6})
Niemand in diesem Land bezweifelt, dass Abgeordnete angemessen entschädigt werden müssen. Das fordert übrigens auch das Bundesverfassungsgericht.
({7})
Für Empörung sorgen doch vor allem das vermeintliche
System der Selbstbedienung und das System der Altersversorgung.
Deshalb schlägt die FDP seit vielen Jahren einen anderen Weg vor - wir haben unsere Anträge hier eingebracht -: Wir wollen nicht, dass Abgeordnete selbst über
die Höhe ihrer Entschädigung entscheiden. Wir schlagen
vor, dass der Bundespräsident eine neutrale Kommission
einberuft, die regelmäßig über die Höhe der Diäten entscheidet. Dann hätte sich der Vorwurf der Selbstbedienung ein für allemal erledigt.
({8})
Diese Kommission sollte auch Vorschläge für eine Neuregelung der Altersversorgung machen. Abgeordnete
sind keine Beamten. Sie sind, wenn Sie so wollen, freie
Mitarbeiter des deutschen Volkes. Sie sollten für ihre
Pension selbst sorgen, wie alle anderen Freiberufler es
auch tun.
({9})
Ich höre immer wieder, dass unsere Vorschläge nicht
mit dem Grundgesetz vereinbar seien. Diese Kritik können wir ganz leicht entkräften. Wir haben einen Vorschlag zur Änderung des Grundgesetzes vorgelegt, und
wir haben alle Forderungen des Bundesverfassungsgerichts in unseren Gesetzentwurf aufgenommen. Das geht
sehr wohl, meine Damen und Herren.
({10})
Wir haben der Presse entnommen, dass einige von Ihnen ihrem Gewissen folgen und dem Antrag nicht zustimmen wollen. Ich sage Ihnen ausdrücklich: Folgen
Sie Ihrem Gewissen, und stimmen Sie mit Nein. Ermöglichen Sie es, dass wir einen anderen Weg einschlagen,
einen Weg, der zu einem Systemwechsel führt; denn diesen Systemwechsel braucht unser Land dringend.
({11})
Die FDP sagt nicht einfach Nein; wir bieten eine Alternative. Für diese Alternative werben wir im Parlament, aber auch bei den Bürgerinnen und Bürgern. Wir
wollen einen neuen Weg beschreiten.
Danke schön.
({12})
Das Wort erhält nun der Kollege Siegmund Ehrmann,
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Um es vorab klarzustellen: Ich werde mich
auf das Thema Besoldungs- und Versorgungsrecht konzentrieren. Wir haben den Beschäftigten im öffentlichen
Dienst in den letzten Jahren viel hartes Brot zugemutet.
Ich denke, dass es sehr angemessen ist, jetzt bei dieser
Gelegenheit darzulegen, dass wir in der Lage sind, eine
Trendwende einzuleiten. Thomas Oppermann wird dann
die Position der SPD-Fraktion zur Frage der Diäten erläutern. Ich traue mir dies auch zu, aber ich denke, das
Thema Besoldung sollte in der Debatte nicht vollkommen zurückfallen.
({0})
Die positive Wirtschaftsentwicklung ermöglicht erfreulicherweise eine deutlichere Teilhabe der Beschäftigten am wirtschaftlichen Aufschwung. Die Tarifentwicklung in den verschiedenen Branchen zeigt, dass es
ordentlich vorangeht. Ich erinnere an die Abschlüsse in
der Metallindustrie von plus 5,2 Prozent und in der chemischen Industrie von plus 4,4 Prozent.
Die Tarifvertragspartner für den öffentlichen Dienst
haben ebenfalls ein sehr gutes Ergebnis erzielt. Herr
Burgbacher, es ist nun einmal so, dass die Tarifvertragspartner das ausstreiten. Leider ist im öffentlichen Sektor
im Bereich der Beamtinnen und Beamten nur eingeschränkte Koalitionsfreiheit gegeben. Hier haben wir
nun einen Maßstab, an dem wir uns orientieren, um die
Besoldungsentwicklung nachzuzeichnen.
Die SPD-Fraktion hat die Forderung erhoben, dass
der Tarifabschluss eins zu eins auf Besoldung und Versorgung übertragen wird. Das geschieht durch den Gesetzentwurf, den die Koalitionspartner hier in die Debatte einbringen. Rückwirkend zum 1. Januar 2008 wird
der Sockelbetrag zunächst um 50 Euro - bei den Anwärtern um 20 Euro - erhöht, sodann wird darauf eine
lineare Anpassung von plus 3,1 Prozent angewandt. Der
nächste Schritt zum 1. Januar 2009 sind zunächst eine
Einmalzahlung im Januar in Höhe von 225 Euro und
dann eine lineare Erhöhung um 2,8 Prozent.
Der Rückblick muss allerdings auch gestattet sein. Ich
erwähnte das harte Brot, das wir den Beschäftigten zugemutet haben, um einen deutlichen Beitrag zur Haushaltskonsolidierung zu leisten: Besoldungskürzungen in den
Jahren 2004 und 2006 - Herr Göbel hat es erwähnt -,
das Urlaubsgeld ist weggefallen, und das Weihnachtsgeld wurde zweimal gekürzt. Wenn wir das Besoldungsund das Versorgungsniveau von 2007 mit dem von 2002
vergleichen, dann sehen wir, dass die Besoldung um
2,5 Prozent und die Versorgung um 2,14 Prozent gekürzt
wurden. Demgegenüber stehen Preisentwicklungen in
diesem Zeitraum von plus 8 Prozent.
Wir sind mit diesem Gesetzentwurf nunmehr in der
Lage, den Tarifabschluss auf die Beamtinnen und Beamten, auf die Richter und Richterinnen sowie die Soldatinnen und Soldaten zu übertragen. Wir sind überdies in der
Lage, endlich etwas zu kompensieren, was wir lange vor
uns hergeschoben haben, nämlich die Angleichung der
Besoldung Ost an die Besoldung West von der Besoldungsgruppe A 10 an. Bei den Versorgungsempfängern
wird das entsprechend umgesetzt. Wir werden die Verabredung, die wir ins Versorgungsänderungsgesetz 2001
hineingeschrieben haben, einhalten und den Riester-Faktor bei den Versorgungsempfängern anwenden.
Rundum ist das eine gute Nachricht für die Beschäftigten des Bundes. Insofern hoffe ich, dass sich die
Länder ebenfalls daran orientieren. Wir werden in Kürze
eine nächste große beamtenrechtliche Baustelle mit, wie
ich hoffe, Erfolg abschließen und uns dem Dienstrechtsneuordnungsgesetz zuwenden. Zunächst einmal ist aber
das jetzt Geplante ein Schritt, der fällig ist.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Die Kollegin Dagmar Enkelmann ist die nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Für meine
Fraktion darf leider nur eine Rednerin sprechen, die vier
Minuten Redezeit hat. Ich muss also in diesen vier
Minuten alle Seiten dieses Gesetzentwurfes abarbeiten.
„Die Zeit der Einkommenseinbußen ist vorbei.“ Diese
Wertung des DGB zum vorliegenden Gesetzentwurf teilen wir ausdrücklich. Allerdings hat der DGB damit natürlich nicht die Abgeordneten des Bundestages gemeint; denn da kann von Einkommenseinbußen
überhaupt keine Rede sein.
({0})
Die Linke hat die Streiks im öffentlichen Dienst ausdrücklich unterstützt. Wir freuen uns mit den Beschäftigten, und wir hoffen auf einen Erfolg bei der Tarifauseinandersetzung in Berlin.
({1})
Im vorliegenden Gesetzentwurf geht es darum, dass
der Tarifabschluss des öffentlichen Dienstes auf die
Beamten und Beamtinnen des Bundes übertragen werden soll. Glaubt man dem Stammtisch, dann sind Beamte auf Rosen gebettet; die Zahlen, die in dieser Diskussion eine Rolle spielen, wurden schon genannt. Dass
dem nicht so ist, sieht man daran, dass sich 70 Prozent
der Beamtinnen und Beamten in den unteren oder mittleren Gehaltsgruppen befinden. Seit 2004 hat es keine Anhebung der Besoldung mehr gegeben, sondern lediglich
Einmalzahlungen, das Urlaubsgeld wurde gestrichen,
das Weihnachtsgeld gekürzt usw. Insofern war die Anhebung der Bezüge längst überfällig.
({2})
Was ich besonders hervorheben möchte, ist, dass es
endlich zu einer Anpassung der Ost- an die Westbezüge
kommt. Ich denke, das ist ein gutes Beispiel für die Tarifauseinandersetzungen in anderen Branchen. Das sollte
auch ein Signal für die Angleichung der Ostrenten an das
Westniveau sein.
({3})
So weit, so gut. Bis zu diesem Punkt würden wir dem
Gesetzentwurf zustimmen, wenn da nicht Art. 13 wäre.
Mit diesem Artikel wird der Tarifabschluss im öffentlichen Dienst mal eben auf die Abgeordneten übertragen. Richtig ist, dass die Koalitionsmehrheit dieses
Vorgehen im November des vergangenen Jahres beschlossen hat. Ich will aber daran erinnern: Damals
wurde beschlossen, dass es sich dabei um eine Orientierung handeln soll. Es hieß nicht, dass man diesen Abschluss eins zu eins auf die Abgeordneten des Bundestages überträgt. Hier belügen Sie die Bürgerinnen und
Bürger in diesem Land.
({4})
Die zweite Stufe der Diätenerhöhung, die die Große
Koalition im November 2007 beschlossen hat, ist noch
nicht einmal in Kraft, da wollen Sie schon wieder kräftig
zuschlagen. Gestern ließen Sie sich dafür feiern, dass Sie
die Renten um 1,1 Prozent erhöht haben - für den
Durchschnittsrentner entspricht das einer Erhöhung um
etwa 10 Euro pro Monat -, und heute wollen Sie ein Gesetz auf den Weg bringen, das zur Folge hat, dass ein
Abgeordneter ab Januar 2009 pro Monat fast 600 Euro
mehr bekommt. Das ist eine glatte Unverschämtheit. Das
ist mit uns nicht zu machen.
({5})
Mit einer gewissen Kaltschnäuzigkeit haben Sie Proteste gegen Ihre Pläne sogar einkalkuliert. Sie meinen,
bis zur nächsten Wahl sei das alles längst vergessen.
Wenn Sie sich da mal nicht täuschen! Die Wut der Bürgerinnen und Bürger kann ich gut verstehen. Ich denke,
Sie alle haben per Mail, per Post oder per Fax wütende
Reaktionen erreicht. Die Menschen sind über das, was
Sie vorhaben, zu Recht wütend.
({6})
Ich hoffe, dass Ihnen die Bürgerinnen und Bürger in
den nächsten beiden Wochen, in denen Sie hoffentlich in
Ihren Wahlkreisen unterwegs sind, gehörig die Meinung
geigen. Noch können Sie diese Entwicklung stoppen.
Wir können Ihre Pläne gemeinsam ändern. Sie müssen
dem nicht zustimmen. Ich hoffe sehr auf Ihre Vernunft.
Ich danke Ihnen.
({7})
Das Wort erhält nun die Kollegin Silke Stokar von
Neuforn für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Ver-
fahren, das die Geschäftsführer der Großen Koalition
gewählt haben, ist meiner Meinung nach schlicht verfas-
sungswidrig. Der Kollege Ströbele hat recht: Es ist un-
sere Aufgabe - dagegen verstößt auch die FDP in schö-
ner Regelmäßigkeit -, hier im Parlament in einer offenen
Aussprache und für die Öffentlichkeit nachvollziehbar
über die Höhe der Abgeordnetenentschädigung selbst
und transparent zu entscheiden.
Wie, meine Damen und Herren, soll das gewährleistet
werden, wenn die Abgeordneten der Opposition in der
Debatte zu diesem Tagesordnungspunkt, der „Bundesbe-
soldungs- und -versorgungsanpassungsgesetz 2008/2009“
lautet, nur vier Minuten Redezeit haben, sie in dieser
Zeit aber a) zu ihrem Fachthema und b) zur angehängten
Diätenerhöhung reden sollen?
Ich sage es gleich zu Beginn: Ich erwarte, dass es in
14 Tagen, wenn wir diese Tagesordnungspunkte erneut
auf dem Tisch haben werden, sowohl getrennte Abstimmungen als auch getrennte Beratungen geben wird, damit wir dem Auftrag des Bundesverfassungsgerichts
auch Folge leisten können.
({0})
Deswegen - ich kann mir aus zeitlichen Gründen noch
nicht einmal das Klatschen meiner eigenen Fraktion leisten - äußere ich mich zu beiden Punkten.
Selbstverständlich beglückwünschen wir Verdi zu
dem Tarifabschluss; das ist ein Hinweis, auf den Gewerkschaften warten. Wir begrüßen diesen Abschluss
und werden zustimmen, dass diese Tarifeinigung auf die
Beamtinnen und Beamten übertragen wird.
Zum zweiten Punkt, der Diätenerhöhung, kündige ich
bereits an, auch wenn wir heute nicht abstimmen: Meine
Fraktion wird diese Diätenerhöhung ablehnen. Dies
möchte ich hier durchaus sachlich begründen, weil ich
meine, dass der Debatte eine sachliche Begründung besser bekommt, als wenn wir auf andere Themenfelder
auswichen. Wir haben dem Verfahren der Kopplung an
R 6 und an die Tarifabschlüsse beim letzten Mal zugestimmt. Im Gegensatz zur FDP kritisieren wir dieses
Verfahren also nicht, denn wir halten es für vernünftig.
({1})
Überrascht war ich von der Dopplung der Diätenerhöhung; dem werden wir nicht zustimmen. Darin liegt der
erste Grund für unsere Ablehnung. Sie haben vor sechs
Monaten im Vorgriff auf den zu erwartenden Tarifabschluss die Diäten erhöht; nun, da der Tarifabschluss
vorliegt, machen Sie das Gleiche noch einmal. Meine
Damen und Herren, dieses Verfahren bedeutet Abzocke
und ist instinktlos. Es passt nicht in die politische Landschaft. Man kann sich nicht innerhalb kürzester Zeit
zweimal die Diäten erhöhen.
({2})
Ich komme zum zweiten Punkt unserer Ablehnung.
Damals, als wir uns auf dieses Verfahren verständigten
- ich halte die Orientierung an R 6 für richtig, wie es
meine Fraktion hier immer mit vertreten hat -, haben wir
erklärt, dass wir eine Reform der Altersversorgung wollen. Die hier von uns mit einem gesonderten Antrag geforderte Reform der Altersversorgung ist von Ihnen abgelehnt worden. Sie gehen nur den einen Schritt, die
Diäten zu erhöhen - dies gleich im Doppelpack -, packen aber das große, in der Öffentlichkeit diskutierte
Thema Altersversorgung nicht an.
({3})
Weil meine Redezeit bereits hier zu Ende ist, noch
kurz eine Bitte: Lassen Sie uns hier in 14 Tagen in einem
geordneten Verfahren, nicht mit Redebeiträgen der Opposition von zwei Minuten, darüber reden, wie wir solche Debatten um Diätenerhöhungen in Zukunft anders
und transparenter führen können, vielleicht auch im Hinblick auf eine Einigung über die Instrumente.
Hören Sie bitte auf - Sie machen es zum zweiten Mal -,
von Ihnen heimlich verabredete Diätenerhöhungen, die
die Kolleginnen und Kollegen Abgeordneten selber
nicht nachvollziehen können, im Schweinsgalopp durch
das Parlament zu jagen. Es geht nicht, dass Sie darüber
in geheimen Zirkeln eilig befinden, das ist intransparent.
So machen Sie gute Verfahren, für die es in der Bevölkerung durchaus Verständnis gibt, kaputt. Deshalb wiederhole ich: Meine Fraktion wird diese Diätenerhöhung in
der vorgeschlagenen Form nicht mittragen.
Danke schön.
({4})
Um sicherzustellen, dass Einwände gegen wie Argumente für die vorgeschlagenen Regelungen mit der notwendigen Deutlichkeit vorgetragen werden können,
habe ich Ihnen Ihre Redezeit, wie Ihnen aufgefallen sein
wird, großzügig und angemessen verlängert.
({0})
Nun hat der Kollege Norbert Röttgen für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Im Jahre 1993 hat eine vom Bundestag eingesetzte
unabhängige Kommission, der Wissenschaftler, Angehörige der Wirtschaft und der Gewerkschaften sowie
Richterpersönlichkeiten angehörten, ihren Bericht und
ihre Empfehlungen vorgelegt. Ich möchte zwei der Empfehlungen, die diese unabhängige Kommission vor
ziemlich genau 15 Jahren vorgelegt hat, erneut zitieren:
Erstens. Die Festsetzung, Überprüfung und Anpassung der angemessenen, die Unabhängigkeit sichernden
Entschädigung ist Aufgabe des Gesetzgebers.
Zweitens. Eine auch nur teilweise Übertragung dieser
Aufgabe auf eine andere Institution ist - Art. 79 Abs. 3
Grundgesetz: Ewigkeitsgarantie, Demokratieprinzip selbst im Wege einer Verfassungsänderung ausgeschlossen.
({0})
Das waren die klaren Ergebnisse der unabhängigen
Kommission, die der Bundestag eingesetzt hatte.
({1})
Darum ist es nicht ehrlich, meine Damen und Herren,
jetzt eine unabhängige Kommission zu verlangen, die
sagen soll, was richtig ist.
({2})
Das Bundesverfassungsgericht hat übrigens genau so
judiziert; es ist die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die sich die Kommission zu eigen gemacht hat.
({3})
Was bedeuten diese Punkte für unsere heutige Debatte? Ich will es kurz zusammenfassen: Erstens. Die
Kommission hat deutlich gemacht - das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung ebenfalls, und
zwar wiederholt -, dass es im Kern um die verfassungsrechtliche Verantwortung geht, die wir als Gesetzgeber
gegenüber der zentralen, wichtigsten Institution einer
parlamentarischen Demokratie, dem Parlament, haben.
Es geht um die Frage: Was ist unsere verfassungsrechtliche Verantwortung in der Gewährleistung von Angemessenheit und Unabhängigkeit? Es geht nicht um uns Einzelne, es geht um institutionelle Verantwortung, vor der
wir nicht fliehen können.
({4})
Wir müssen diese Verantwortung wahrnehmen. Das ist
nicht nur die Verantwortung der Regierungsfraktionen,
das ist die Verantwortung des gesamten Hauses. Natürlich hat die Opposition das Recht, unsere Vorschläge zu
kritisieren.
({5})
- Das ist Ihr gutes Recht. Aber Sie stehen dann auch in
der Pflicht, den Bürgern zu sagen, was Sie für richtig
halten.
({6})
Doch das tun Sie nicht; Sie haben nicht den Mut, den
Bürgern in Euro und Cent zu sagen, was Ihre Vorstellung
ist.
({7})
Zweitens. Wir alle miteinander haben nicht das Recht,
uns wegzuducken, wir haben nicht das Recht, vor der
Verantwortung zu fliehen, indem wir uns hinter einer
Kommission verstecken, die uns diese Entscheidung abnimmt. Demokratie heißt, dass das Parlament entscheidet.
({8})
Darum ist der Vorschlag der FDP verfassungsrechtlich
nicht umsetzbar.
So etwas wäre auch nicht richtig. Die Diäten zu regeln, die Diäten anzupassen, setzt das Parlament zu
Recht einer besonderen Begründungslast gegenüber der
Öffentlichkeit aus. Das ist richtig so. Es ist notwendig,
dass wir diese Last der Begründung spüren, dass wir sie
tragen und versuchen, ihr gerecht zu werden. Dieser Begründungslast gerecht zu werden, ist nur auf eine Weise
möglich: dadurch, dass man für die Abgeordnetenbesoldung einen Maßstab findet. Das ist ein Weg, Bezüge aufzuzeigen, die Größenordnung plausibel zu machen. Wir
entwickeln einen Maßstab, an den wir uns dann auch
halten. Diese unabhängige Kommission hat das getan,
und wir haben mit großer Mehrheit ins Gesetz geschrieben, dass wir uns an der Besoldung von Bürgermeistern
kleinerer und mittlerer Städte, an der Besoldung von
Landräten kleinerer Kreise, an der Besoldung von einfachen Bundesrichtern - nicht an der von Richtern am
Bundesverfassungsgericht oder an der von Vorsitzenden
Richtern - orientieren wollen. Wir finden, das ist ein
Maßstab, das ist eine Größenordnung, die plausibel, die
begründbar ist. Diese Größenordnung mag man kritisieren; aber ich habe noch keinen besseren Vorschlag gehört, der zur Abstimmung gestellt würde.
Wenn man einen solchen Maßstab, der die Funktion
hat, Plausibilität, Nachvollziehbarkeit und damit Transparenz und Akzeptanz dieser Entscheidung herzustellen,
gefunden hat, muss man sich an diesen Maßstab auch
halten. Das ist der Gegenstand unserer Entscheidung.
Der Maßstab steht im Gesetz. Wir halten ihn für richtig.
Er ist gut begründet. Es ist nun ein Gebot der Glaubwürdigkeit, diesen Maßstab zur Anwendung zu bringen.
Nichts anderes ist der Gegenstand unseres Gesetzesvorschlages.
({9})
Ich glaube, es ist ein vertretbarer und nicht überzogener Maßstab. Übrigens sind die Journalisten in ihrer Kritik viel sachlicher und differenzierter gewesen als die
Oppositionsredner.
({10})
Das zeigt, dass Akzeptanz vorhanden ist, dass unser Bemühen, in Ausübung unserer Verantwortung für Parlament und Parlamentarismus einen Maßstab zu finden,
erfolgreich war.
({11})
Dieser Maßstab entspricht unserer Überzeugung. Das
ist unsere Pflicht, der wir durch unseren Vorschlag gerecht zu werden versuchen.
({0})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Thomas Oppermann für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich
glaube, wir sind uns darüber einig: Niemand sollte nur
deshalb in die Politik gehen, um dort Geld zu verdienen,
es darf aber auch nicht so sein, dass nur diejenigen in die
Politik gehen, die sich das finanziell leisten können.
({0})
Art. 48 des Grundgesetzes ist deshalb eine demokratische Errungenschaft. Denn in ihm wird vorgeschrieben,
dass die Abgeordneten Anspruch auf eine angemessene
und ihre Unabhängigkeit sichernde Entschädigung haben. Die Frage, was angemessen ist, ist schon so lange
streitig, wie es das Grundgesetz gibt. Sie wird auch streitig bleiben. Wir haben lange darüber diskutiert. Jetzt haben wir einen Maßstab gefunden. Mein Kollege Röttgen
hat das hier im Einzelnen ausgeführt. Maßstab sind die
Besoldungsgruppen R 6 und B 6.
({1})
Das ist so viel, wie Bürgermeister, Landräte, Richter an
Bundesgerichten und auch Unterabteilungsleiter in Ministerien verdienen. Sie alle üben eine verantwortungsvolle Tätigkeit aus.
Ich bin der Meinung, dass die Arbeit eines Abgeordneten dem nicht nachsteht. Wer Abgeordneter ist, muss
enorme Anforderungen erfüllen. Er braucht ein enormes
Maß an Wissen, er braucht Kompetenzen in unterschiedlichsten Bereichen, und er braucht eine hohe Einsatzbereitschaft. Ich denke, dass die Besoldung nach R 6 - Anfang 2010 werden das monatlich 8 159 Euro sein zweifellos ein guter Verdienst ist.
({2})
- Das ist selbstverständlich brutto, und man erhält nicht
13 oder 14, sondern 12 Monatsgehälter. - Das ist zwar
viel weniger, als man zum Beispiel in mittleren Positionen in der Wirtschaft verdienen kann, aber das ist natürlich sehr viel mehr, als die meisten Menschen in diesem
Land verdienen. Ich denke aber, dass das eine angemessene Entschädigung ist. Es ist ganz gewiss nicht zu wenig, aber es ist auch nicht zu viel.
In den letzten 30 Jahren hat es aus unterschiedlichen
Gründen insgesamt 13 Nullrunden bei der Aufwandsentschädigung gegeben. Das hat dazu geführt, dass die Lücke zwischen dem Maßstab R 6 und der tatsächlichen
Aufwandsentschädigung immer größer geworden ist.
Jetzt wird diese Lücke durch drei große Anpassungsschritte überbrückt. Dann werden wir bei R 6 sein. Wir
sind der Meinung, dass das natürlich keine Einbahnstraße ist.
Eine weitere Erhöhung der Aufwandsentschädigung
für Abgeordnete kann es nur dann geben, wenn das Gehalt eines Bundesrichters steigt.
({3})
Wenn es jedoch keine Erhöhungen gibt, wie das in den
letzten Jahren - zwischen 2002 und 2008 - gerade im öffentlichen Dienst der Fall gewesen ist, dann wird es
selbstverständlich auch keine Erhöhung der Aufwandsentschädigung für die Abgeordneten geben. Das versteht
sich von selbst.
({4})
Nun zum Verfahren. Mein Kollege Röttgen hat schon
darauf hingewiesen. Das Bundesverfassungsgericht hat
einen Fall glasklar entschieden. Der Saarländische Landtag hatte versucht, die Aufwandsentschädigung direkt an
die Beamtenbesoldung zu koppeln. Das Bundesverfassungsgericht hat gesagt, das sei kein akzeptables Verfahren. Das Verfahren müsse für den Bürger durchschaubar
sein, und das Ergebnis des Verfahrens müsse vor den
Augen der Öffentlichkeit beschlossen werden. - Das ist
nicht bequem, aber richtig.
Frau Stokar, Sie sagen, das Verfahren hier sei nicht
transparent.
({5})
Ich frage mich: Wo leben Sie eigentlich? Ganz Deutschland diskutiert über die Höhe der Entschädigung.
({6})
In allen Zeitungen können Sie Tabellen, Zahlen, Prozente und Begründungen finden.
({7})
- Herr Ströbele, auch der Bundestag diskutiert das gerade. Ich weiß nicht, ob Sie unsere Argumente nicht zur
Kenntnis nehmen.
({8})
Herr Burgbacher, was Sie und die FDP-Fraktion vorschlagen, nämlich eine unabhängige Kommission beim
Bundespräsidenten, ist in Wirklichkeit eine Scheinlösung. Selbst wenn man sie durch eine Verfassungsänderung installieren könnte
({9})
- ja -, dann könnte sie zwar sicherlich einen Vorschlag
dafür machen, was eine angemessene Aufwandsentschädigung für einen Abgeordneten ist, aber weder eine Expertenkommission beim Bundespräsidenten noch der
Bundespräsident selbst - dieser schon gar nicht - könnten
({10})
im Haushalt die dafür nötigen Mittel bereitstellen.
Das muss immer der Haushaltsgesetzgeber machen.
Insofern ist das Parlament wieder beteiligt und muss
diese Entscheidung treffen. Darum kommen Sie nicht
herum.
({11})
Ich finde es richtig, dass wir den Gesetzentwurf so beschließen, wie wir ihn eingebracht haben. Ich finde die
Höhe der Entschädigung in dieser Form richtig.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({12})
Ich schließe die Aussprache.
Ich darf eine Bemerkung hinzufügen. Parlamente sind
keine Gremien zur Vermeidung von Streit, sondern Institutionen zum Austragen von Streit und zum Herbeiführen demokratisch legitimer Entscheidungen. Das gilt für
fast jeden Tagesordnungspunkt, den wir hier behandeln,
bei dem einen stärker, bei dem anderen weniger. Dass es
für diese gerade diskutierte Frage in besonderer Weise
unvermeidlich ist, bedarf keiner Erläuterung. Ich habe
nur die eine Bitte, dass wir den unvermeidlichen und
notwendigen Streit über die Angemessenheit dieser oder
jener Regelung nicht mit dem völlig unnötigen Streit belasten, hier würde nicht offen und transparent entschieden.
({0})
Jeder hat hier die Möglichkeit, seine Auffassungen
zur Geltung zu bringen, und am Ende wird, wenn - was
auch bei diesem Thema passieren könnte - nicht alle ei-
ner Meinung sind, per Mehrheit entschieden, was gilt;
nicht mehr und nicht weniger.
Nun wird interfraktionell die Überweisung der Ge-
setzentwürfe auf den Drucksachen 16/9059, 16/9054,
16/9055 und 16/1033 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu andere
Vorschläge? - Dann gibt es zumindest dazu Einverneh-
men. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Nun rufe ich die Tagesordnungspunkte 24 a und 24 b
auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.
Christel Happach-Kasan, Hans-Michael Goldmann,
Dr. Edmund Peter Geisen, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP
Effiziente und ökologische Energie- und Wertholzproduktion in Agroforstsystemen ermöglichen - Ökologische Vorteilswirkungen von
Agroforstsystemen erforschen
- Drucksache 16/8409 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({1})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.
Kirsten Tackmann, Dr. Gesine Lötzsch, Eva
Bulling-Schröter, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE
Bundeswaldgesetz ändern - Agroforstsysteme
unterstützen, forstwirtschaftliche Vereinigungen stärken und Gentechnik im Wald verbieten
- Drucksache 16/9075 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({2})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll für
die Aussprache, für die eine halbe Stunde vorgesehen ist,
die Fraktion der FDP sechs Minuten Redezeit erhalten. Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so vereinbart.
Ich erteile das Wort der Kollegin Dr. Christel
Happach-Kasan.
({3})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich bedaure ein bisschen, dass wir heute nicht
alle vollzählig sprechen werden, aber ich freue mich
sehr, dass die FDP-Fraktion genauso stark vertreten ist
wie die SPD-Fraktion. Das haben wir im Deutschen
Bundestag nicht alle Tage.
({0})
Ich bin von vielen Kollegen angerufen worden mit
der Bitte, meine Rede zu Protokoll zu geben. Der Präsident hat bereits darauf hingewiesen: Der Bundestag ist
der Ort, in dem wir uns über die Fragen auseinandersetzen, die in Deutschland von Belang sind. Aus diesem
Grunde spreche ich hier.
Wir fordern die Bundesregierung auf, das Bundeswaldgesetz umgehend zu ändern, damit in Zukunft die
Begriffe „Agroforstsysteme“ und „Wald“ klar voneinander abgegrenzt sind. Agroforstsysteme sind kein Wald.
Sie sind eine besondere Form landwirtschaftlicher Nutzung. Das muss im Bundeswaldgesetz entsprechend klar
formuliert werden, damit für diejenigen, die sich in diesem Bereich engagieren wollen, klare rechtliche Rahmenbedingungen gelten.
Insbesondere nach Vorlage des Gutachtens des Wissenschaftlichen Beirats beim Ministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ist eine solche Gesetzesänderung überfällig. Das Gutachten hat klar
herausgestellt, dass hinsichtlich der CO2-Vermeidungskosten und der Flächeneffizienz die Nutzung von Hackschnitzeln, die aus Holz aus Kurzumtriebsplantagen erzeugt wurden, die günstigsten Werte aufweist.
Vor diesem Hintergrund ist meines Erachtens der Gesetzgeber gefordert, die notwendigen rechtlichen Rahmenbedingungen zu schaffen. Die Kritik des BBE - des
Bundesverbandes Bio-Energie - geht ins Leere, denn sie
hat den Zahlen, die das Isermeyer-Gutachten vorgelegt
hat, nichts entgegenzusetzen.
Für mich ist völlig unverständlich, dass Minister
Seehofer nicht schon längst die Initiative ergriffen hat.
Jede weitere Verzögerung verschiebt Investitionen in
Deutschland und kostet die Verbraucherinnen und Verbraucher sehr viel Geld. Der Minister könnte hier ohne
große Anstrengungen Pluspunkte sammeln. Ich meine,
solche Pluspunkte hätte dieser Minister tatsächlich nötig.
({1})
Wir wollen in der Europäischen Union einen Anteil
von 20 Prozent erneuerbarer Energien am Primärenergieverbrauch erreichen. Deutschland hat weiterhin als
verbindliches Ziel eine Minderung der Treibhausgasemissionen um 40 Prozent festgelegt. Beides sind wichtige Ziele im Sinne des Klimaschutzes. Gleichzeitig wird
ein erster Schritt auf dem Weg „weg von den fossilen
Energieträgern“ getan. Aber im Erreichen dieser Ziele
müssen wir darauf achten, dass die Energiepreise bezahlbar bleiben. Die Kosten für das Energieeinspeisegesetz
werden allein von den Stromkunden getragen. Gegen die
gesetzlich festgelegten Preise können sie sich nicht wehren. Das bedeutet, dass wir als Gesetzgeber, der Deutsche Bundestag, erhebliche Verantwortung dafür tragen,
die gesetzlichen Rahmenbedingungen so zu gestalten,
dass die Ziele mit möglichst niedrigen Energiepreisen
erreicht werden.
({2})
Im vergangenen Jahr hatten die erneuerbaren Energien einen Anteil von 6,7 Prozent am gesamten Primärenergieverbrauch. Wir haben fast ein Drittel des für 2020
festgelegten Ziels erreicht. Allein für den Strom zahlen
die Stromkunden an zusätzlichen Kosten bereits 3,3 Milliarden Euro. Das zeigt, welch große Verantwortung wir
haben, die Preise nicht weiter in die Höhe zu treiben.
Wichtigster Energieträger bei den erneuerbaren Energien
ist die Biomasse.
Die energetische Nutzung der Biomasse hat einen Anteil an den erneuerbaren Energien von knapp 75 Prozent.
Der Wissenschaftliche Beirat für Agrarpolitik hat mit
seinem Gutachten Nutzung von Biomasse zur Energiegewinnung - Empfehlungen an die Politik die verschiedenen Biomasseträger und deren unterschiedliche Nutzung
miteinander verglichen. Dabei wird deutlich, dass erhebliche Korrekturen am Erneuerbare-Energien-Gesetz vorgenommen werden müssen, um zu volkswirtschaftlich
vertretbaren Kosten das 20-Prozent-Ziel der EU und das
40-Prozent-Ziel Deutschlands zu erreichen. Die höchsten CO2-Vermeidungskosten mit etwa 400 Euro fallen
bei der Verstromung von Energiemais an. Solche Preise
sind den Stromkunden nicht zumutbar und für die Volkswirtschaft nicht verkraftbar.
({3})
Die Flächeneffizienz ist bei der Verstromung von
Energiemais nur halb so hoch wie bei der Nutzung von
Hackschnitzeln. Das bedeutet, dass bei einer weiteren
Bevorzugung von Energiemais die Konkurrenz zwischen der Nutzung von Mais als Tierfutter und der energetischen Nutzung verstärkt wird. Das Bild verschiebt
sich bei der Verwertung von Reststoffen aus der Landwirtschaft und bei der Nutzung durch die Kraft-WärmeKopplung. Deutlich günstiger ist jedoch die energetische
Nutzung von Hackschnitzeln aus Holz von Kurzumtriebsplantagen. Die CO2-Vermeidungskosten liegen bei
der Nutzung von Hackschnitzeln unter 100 Euro pro
Tonne CO2-Äquivalent. Das heißt, sie betragen weniger
als ein Viertel im Vergleich zur Verstromung von Energiemais. Das Gutachten zeigt auf, dass angesichts der
Vermeidungskosten pro eingesparter Tonne CO2-Äquivalent und der Vermeidungsleistung Tonne CO2-Äquivalent pro Hektar die Verwendung von Hackschnitzeln aus
Kurzumtriebsplantagen die mit Abstand kostengünstigste und effizienteste Möglichkeit der Erzeugung erneuerbarer Energien auf Biomassebasis ist. Kurzumtriebsplantagen als eine Form von Agroforstsystemen
eröffnen in Deutschland somit die besten Chancen zur
CO2-Reduzierung zu vertretbaren Kosten.
Agroforstsysteme sind nicht wirklich etwas Neues. In
Europa waren sie über Jahrhunderte ein integraler Bestandteil der Agrarlandschaft. Beispiele für historische
Agroforstsysteme sind die Knicklandschaft in SchleswigHolstein, Streuobstwiesen, Waldweidewirtschaften, Niederwälder in Bergbauregionen und der Korkeichenanbau
in Portugal. In anderen europäischen Ländern gibt es eine
Vielzahl von Pilotprojekten. In Deutschland sind es weniger als zehn. Wir hinken deutlich hinterher, auch hinsichtlich der Erforschung des ökologischen Nutzens der
Agroforstsysteme.
Ich bin der Meinung, dass wir endlich anfangen sollten. Wir fordern die Bundesregierung auf, endlich einen
Gesetzentwurf vorzulegen und das Bundeswaldgesetz zu
ändern, damit Agroforstsysteme auch in Deutschland genutzt werden können.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Die Kolleginnen und Kollegen Dr. Jordan,
Dr. Tackmann, Dr. Botz und Frau Kollegin Behm geben
ihre Reden zu Protokoll.1) Damit können wir zur Über-
weisung der Vorlagen kommen. Es wird vorgeschlagen,
die Vorlagen auf den Drucksachen 16/8409 und 16/9075
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist of-
fenkundig der Fall. Dann sind die Überweisungen so be-
schlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Gesine Lötzsch,
Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion DIE LINKE
1) Anlage 2
Präsident Dr. Norbert Lammert
Volkswirtschaftliche Kosten der Agro-Gentechnik ermitteln und offenlegen
- Drucksache 16/7903 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Auch hier werden die Reden der Kollegen
Dr. Tackmann, Dr. Lehmer, Frau Dr. Happach-Kasan,
Frau Drobinski-Weiß und Ulrike Höfken zu Protokoll
gegeben.1) Die Vorlage auf Drucksache 16/7903 soll an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist
der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 26:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainder
Steenblock, Jürgen Trittin, Omid Nouripour, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Plenarsitzungen des Europäischen Parlaments
gänzlich in Brüssel und Tagungen des Europäischen Rates in Straßburg abhalten
- Drucksache 16/8051 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({1})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für
diese Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten soll.
Bevor ich als erstem Redner dem Kollegen Rainder
Steenblock für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das
Wort erteile, darf ich daran erinnern, dass wir heute den
9. Mai und damit den jährlichen Europatag haben. Unsere Verbindung und Zugehörigkeit zu Europa kommt in
vielfacher Weise zum Ausdruck, auch darin, dass die Europafahne seit Jahren neben der Nationalflagge im Plenarsaal des Deutschen Bundestages aufgestellt ist. Ich
habe das zum Anlass genommen, sie heute auch auf dem
Dach des Reichstages zur Geltung zu bringen, was, wie
ich denke, eine gewisse Logik hat und mindestens für
den heutigen Tag, wenn nicht darüber hinaus, eine vernünftige Regelung sein sollte.
({2})
Nun hat der Kollege Rainder Steenblock das Wort.
1) Anlage 3
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Präsident, Sie haben schon einen Teil der Einleitung vorweggenommen, wobei wir das mit der Fahne für
eine gute Idee halten.
Eine der Schwierigkeiten, die wir haben, ist, dass wir
an solchen Tagen wie heute, dem Europatag, geneigt
sind, große Reden über die Verdienste Europas, die es
ohne Frage gibt, zu halten. Ich glaube, alle Europäer
können auf das, was wir geleistet haben, auf dieses Friedensprojekt, stolz sein. Trotzdem müssen wir uns an solchen Tagen ganz besonders mit der Kritik auseinandersetzen, die es nicht immer zu Recht, aber doch immer
wieder an dem europäischen Integrationsprojekt gibt.
Wir müssen an diesem Tag ganz besonders dafür kämpfen und dafür arbeiten, dass wir in Deutschland das Vertrauen der Menschen in Europa und in die europäische
Integration stärken. Wir müssen deutlich machen, dass
Europa das Projekt ist, das wir realisieren wollen, um
den Menschen in Deutschland und in Europa mehr
Wohlstand, mehr Sicherheit und mehr Freiheitsrechte zu
geben. Dafür steht Europa, und dafür kämpfen wir, und
das heißt Arbeit.
({0})
Das heißt natürlich auch, dass wir uns all der Kritik,
zum Beispiel dass in Europa nicht richtig mit dem Geld
der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler umgegangen
und Geld verschwendet wird, stellen müssen. Ich glaube,
das Thema, das wir heute auf die Tagesordnung gesetzt
haben, der Wanderzirkus des Europäischen Parlaments
zwischen Brüssel und Straßburg, ist ein Punkt, an dem
man ganz konkret im Interesse der Steuerzahlerinnen
und Steuerzahler deutlich machen kann, dass wir in eine
andere Richtung wollen, weil hier viel Geld verschwendet wird, ohne dass damit auch nur der Ansatz eines
Mehrwertes verbunden wäre.
({1})
Jeden Monat gehen 785 Abgeordnete des Europäischen Parlaments, die normalerweise in Brüssel sitzen,
auf Reisen nach Straßburg. Dazu kommen jeden Monat
3 000 Mitarbeiter und neun Sattelzüge mit Unterlagen,
die zwischen Brüssel und Straßburg hin- und hergefahren werden. Das kostet jedes Jahr 200 Millionen Euro.
Das sind in einer EU-Finanzperiode fast 1,5 Milliarden
Euro, die wir nur dafür ausgeben, um unsere Abgeordneten, ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und die Unterlagen zwischen Straßburg und Brüssel hin- und herzufahren. Man kann keinem Menschen vernünftigerweise
erklären, warum wir das machen. Das dient nicht der Arbeitsfähigkeit der Parlamentarier.
({2})
Wir als Grüne, die wir uns der europäischen Integration verpflichtet fühlen, wissen sehr wohl um die Bedeutung Straßburgs als der Stadt, die die europäische Versöhnung symbolisiert. Dem stellen wir uns auch. Daher
lautet unser Vorschlag, das nicht quantitativ, aber qualitativ auszugleichen, das heißt, in Zukunft die Sitzungen
des Europäischen Rates in Straßburg abzuhalten, also
neben dem Sitz des Europarates, dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und vielen anderen europäischen Einrichtungen. Diesen Charakter der Stadt
Straßburg wollen wir erhalten und stärken, und die Verlegung des Europäischen Rates ist hierfür sicherlich ein
vernünftiges Instrument.
Wir wollen, dass die Verschwendung von Ressourcen
aufhört. Es geht nicht nur um die Verschwendung von
Geld, sondern - das sage ich natürlich insbesondere als
Grüner - um eine Vergeudung von Ressourcen; damit
greife ich die Transporte und damit verbundenen CO2Emissionen auf. Ein offizieller Bericht des EU-Parlaments enthält die Aussage - das wurde ausgerechnet -,
dass durch diese Transporte 20 000 Tonnen CO2 zusätzlich emittiert werden.
({3})
- Herr Westerwelle, wenn man alle Parlamentarier des
Europäischen Parlaments in ein Großraumflugzeug
steckt und dieses Flugzeug jeden Tag im Jahr fünfmal
um die Erde kreisen lässt, dann kommt man auf
20 000 Tonnen CO2. Ich halte es für nicht verantwortbar,
dass wir einen solchen Unfug mitmachen.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es wird Geld verschwendet und führt zu Klimaschädigung. Deshalb
glaube ich, dass diese Form der Verschwendung von
Steuergeldern und Ressourcen beendet werden muss. Es
muss ein klares Konzept mit Richtung Kompensation
geben. Wir sagen Ja zu den Franzosen und Ja zum europäischen Integrationsgedanken, aber Nein zur Verschwendung von Steuergeldern. Das schafft Vertrauen in
die europäische Integration. Wir fühlen uns dieser sehr
verpflichtet. Es geht hier nicht um Populismus gegen
Europa. Es geht darum, dass wir mit Steuergeldern verantwortungsvoll umgehen.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort erhält nun der Kollege Thomas Bareiß,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Lieber Kollege Steenblock, ich möchte gleich
zu Beginn sagen, dass heute Nachmittag kein Mensch
die Fakten, die Sie sehr eindrücklich beschrieben haben,
bezweifeln wird. Es ist in der Tat sehr ärgerlich, dass das
Europäische Parlament de facto drei Arbeitsorte hat. Es
ist sowohl ineffizient als auch - als Schwabe und als Betriebswirt möchte ich das sagen - kostenintensiv und
- Sie betonten es - sehr umweltschädlich. Wir haben
auch innerhalb der Fraktion gesagt, dass Sie eigentlich in
vielen Punkten recht haben.
Nur: Wenn man dieses und die Fakten erkennt, dann
muss man auch erkennen, dass es so einfach, wie Sie es
in Ihrem Antrag beschrieben haben, eben nicht geht. Insofern möchte ich die Ernsthaftigkeit Ihres Antrags ein
bisschen infrage stellen.
({0})
Sie wissen nämlich selber, dass in einer Europäischen
Union mit 27 Mitgliedstaaten vieles nicht so einfach zu
regeln ist und vielfach Zugeständnisse und Kompromisse zu machen sind. Erwin Teufel, ein großer Europäer, hat einmal gesagt: Politik beginnt mit dem Erkennen von Realitäten. - Auch hier müssen wir die
Realitäten erkennen.
Bevor ich noch einige Punkte dazu ausführe, möchte
ich kurz auf die Historie eingehen. Bei der Gründung der
Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl vor
mehr als 50 Jahren hat man sich für Luxemburg als Sitz
entschieden. Luxemburg wurde relativ schnell zu klein.
Bereits kurz darauf hat man den Europaratssaal in Straßburg für die Versammlungszusammenkünfte verwendet.
Diese Struktur hat sich von 1952 bis 1958 aufgrund von
Effizienzgesichtspunkten ergeben.
Infolge der Gründung der EWG im Jahre 1958 kam es
zu einer Ausdehnung. Man hat sich damals ganz bewusst
neben Straßburg, das für die deutsch-französische
Freundschaft und deutsch-französische Aussöhnung ein
ganz wichtiges Symbol damals war und heute nach wie
vor ist, für einen weiteren Kleinstaat in Europa entschieden, nämlich Belgien mit Brüssel. Dort hat man weitere
Institutionen angesiedelt.
Mit den Verträgen von Amsterdam und Nizza hat man
diese Konstruktion zementiert, und Sie alle wissen, unter
welchen schwierigen Bedingungen die Verträge damals
ausgehandelt wurden und wie schwierig es damals für
Helmut Kohl und andere war, eine sinnvolle Lösung zu
finden. Dieser dreigliedrige Standort war damals leider
auch ein Punkt, der mit in die Waagschale geworfen
wurde.
Meine Damen und Herren, Sie sehen, die heutige
Aufteilung des Parlaments auf drei verschiedene Standorte ist somit das Ergebnis eines langjährigen Prozesses
zwischen den Mitgliedstaaten und ist auch in den EGVerträgen zementiert. Eine Änderung dieser Situation
könnte nur bei Zustimmung aller EU-Mitgliedstaaten erreicht werden, womit wir bei dem eingangs erwähnten
Punkt wären, nämlich dass die Europäische Union sich
als ein Staatenverbund darstellt, in welchem verschiedenste Interessen aufeinandertreffen. In diesem Fall
- das müssen wir sehen - spielen ganz besondere Interessen eine Rolle.
Wir müssen auch ganz klar sehen, dass unsere französischen Freunde wahrscheinlich niemals, aber erst recht
nicht in den nächsten Monaten, einer Regelung zustimmen würden, die eine Änderung mit sich bringt, auch
nicht, wenn es die Kompensationsleistungen erhielte, die
Sie genannt haben. Dies einfach so zu behaupten, wie
Sie es getan haben, zeugt von einer gewissen - mit Verlaub gesagt - Naivität. Dass Sie dies zudem ein Vierteljahr, bevor Frankreich die EU-Ratspräsidentschaft
übernimmt, in die Diskussion werfen, macht diesen Antrag ebenfalls ziemlich fragwürdig.
Gleichwohl müssen wir sehen, dass Frankreich vor einer großen Herausforderung steht, nachdem Angela
Merkel und die Bundesregierung im letzten Jahr eine
hervorragende EU-Ratspräsidentschaft vorgelegt haben.
So stehen sie jetzt noch mehr unter dem Druck, im
nächsten halben Jahr eine erfolgreiche EU-Ratspräsidentschaft hinzulegen. Insofern glaube ich auch vor diesem Hintergrund nicht, dass wir den Druck auf Frankreich erhöhen können.
Um es an dieser Stelle noch einmal ganz klar zum
Ausdruck zu bringen: In der Sache sind wir uns sicherlich in vielen Punkten einig. Die Frage ist nur, wie wir
das umsetzen wollen und wie wir in den nächsten Jahren
damit umgehen.
({1})
Ihr Antrag eignet sich in dieser Form dazu nicht. Er ist in
gewisser Weise ein Oppositionsantrag, der die realpolitische Wirklichkeit ein Stück weit außer Acht lässt. Mit
der Arbeitsaufteilung des Europäischen Parlaments auf
verschiedene Orte herrscht ein zugegebenermaßen nicht
ganz zufriedenstellender Zustand. Aber es braucht diplomatisches Geschick und Augenmaß, um das zu ändern.
Ihr Antrag weist leider dieses Augenmaß nicht auf. Insofern können wir Ihrem Antrag in der Form, wie er heute
vorliegt, nicht zustimmen.
Herzlichen Dank.
({2})
Das Wort erhält der Kollege Markus Löning, FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Zunächst herzlichen Dank an die Kollegen von der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen, dass sie die Idee unserer liberalen Kollegen aufgenommen haben.
({0})
Es war unsere liberale Kollegin Cecilia Malmström,
jetzt schwedische Europaministerin, damals Mitglied der
liberalen Fraktion, die diese Oneseat-Kampagne für einen einzigen Sitz des Europäischen Parlaments losgetreten hat. Zusammen mit Silvana Koch-Mehrin, Alexander
Alvaro und anderen Kollegen aus dem Europäischen
Parlament hat sie über 1 Million Unterschriften für die
Verlegung des Sitzes des Europäischen Parlaments nach
Brüssel gesammelt. Eine beeindruckende Leistung und
vor allen Dingen eine beeindruckende klare Äußerung
der europäischen Bürgerinnen und Bürger zum Thema
Reisezirkus! Innerhalb kürzester Zeit haben über
1 Million Europäerinnen und Europäer das unterschrieben. Meine Damen und Herren, wir unterschätzen vielleicht manchmal den gesunden Menschenverstand bei
den Bürgerinnen und Bürgern. Er ist aber da, und man
sollte ihm bei solchen Forderungen folgen.
({1})
Dass zwei Sitze für ein Parlament offensichtlicher
Unsinn sind, das braucht man niemandem zu erklären.
Das versteht jedes Schulkind. Kein Bürger versteht, warum das Parlament auf Dauer diesen enormen Aufwand,
der hier schon geschildert worden ist, betreibt. Es handelt sich um eine enorme Verschwendung von Zeit, von
Ressourcen und von Energie, die nicht in die politische
Arbeit der Kolleginnen und Kollegen und all der Mitarbeiter, die hin und her reisen müssen, fließen kann.
Es ist von einer hohen politischen Symbolkraft, dass
Europa nicht in der Lage ist, solch einen offensichtlichen
Blödsinn abzustellen, dass wir nicht in der Lage sind, einen Zustand zu beenden, den jeder für Blödsinn hält.
Deswegen ist es so wichtig, dass diese Initiative jetzt
hier diskutiert wird und wir ein klares Signal setzen, dass
dieser Reisezirkus aufhören muss.
Sie haben in Ihrem Antrag, liebe Kolleginnen und
Kollegen von den Grünen, zwei Kernforderungen: zum
einen einziger Sitz des Parlaments in Brüssel und zum
anderen Kompensationsleistungen für Straßburg. Ich
weiß nicht, ob wir als Deutscher Bundestag für Straßburg eine Kompensation diskutieren müssen. Straßburg
hat eine große europäische Geschichte und spielt eine
große Rolle in der europäischen Geschichte. Eine ganz
herausragende Bedeutung hat Straßburg in der deutschfranzösischen Geschichte. Aber ob es richtig ist, im Zusammenhang mit der Sitzverlagerung hier eine Kompensation zu diskutieren, möchte ich in Zweifel ziehen. Ich
glaube, dass Straßburg als Sitz des Europarates und des
Menschenrechtsgerichtshofes auch in Zukunft ganz sicher eine herausragende europäische Sichtbarkeit haben
wird und niemand die deutsch-französische und die europäische Geschichte von Straßburg jemals in Zweifel
ziehen wird.
Vielleicht ist in diesem Antrag der vorauseilende
Kompromiss gleich mitgedacht worden; ich weiß es
nicht. Ich glaube, das ist eine Sache, über die sich die
Regierungschefs Gedanken machen können und gerne
auch unsere Kolleginnen und Kollegen im Europäischen
Parlament. Aber es ist nicht unsere Aufgabe als Deutscher Bundestag.
Die zweite Forderung ist die nach einem Sitz in Brüssel. Die Einrichtung eines Sitzes in Brüssel ist ein Appell, den wir an die Regierung richten. Ich frage mich,
ob der Appell nicht ein anderer sein müsste, nämlich
dass ein Parlament selbstverständlich selbst über seine
Organisation und seinen Sitz entscheiden können muss.
({2})
Das hat etwas mit dem Selbstverständnis eines frei gewählten Parlaments zu tun. Der Appell an die Regierungen der europäischen Staaten müsste eher dahin gehen,
dass wir sagen: Gebt dem Parlament, was des ParlamenMarkus Löning
tes ist! Gebt ihm das Recht, selbst über seinen Sitz zu
entscheiden! Ich habe überhaupt keinen Zweifel daran,
dass das Parlament sich dann - wahrscheinlich fast einstimmig - für einen Sitzungsturnus nur noch in Brüssel
aussprechen wird. Es gibt eine Umfrage unter den Kolleginnen und Kollegen, die zeigt, dass sie sich schon jetzt
zu 80 Prozent für Brüssel ausgesprochen haben. Mein
Appell an die Bundesregierung, Herr Staatsminister, lautet also: Setzen Sie sich dafür ein, dass das Parlament
selbst entscheiden kann, wo es in Zukunft sitzen möchte!
Das ist eines Parlamentes würdig.
Vielen Dank.
({3})
Steffen Reiche ist der nächste Redner für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag der Grünen von der Delegiertenkonferenz in Nürnberg - von da ist er ja übernommen - ist berechtigt; er ist klug, und er ist sinnvoll.
({0})
Trotzdem wird der Bundestag nicht zustimmen können,
nicht nur, weil die Sitzfrage verbindlich geregelt ist und
diese Regelung nur mit allen 27 Stimmen aufgehoben
werden könnte. Sie wissen, dass Frankreich dem nicht
zustimmt, zumindest zurzeit nicht. Deshalb kann man
diesen Antrag hier nicht sinnvoll beschließen und umsetzen.
({1})
Es gibt drei Gründe, die deutlich schwerer wiegen als
der eben genannte:
Erstens. Der Vertrag von Lissabon ist im Ratifizierungsprozess. Er ist zu wichtig, als dass er konterkariert
werden dürfte.
Zweitens. Gerade Deutschland sollte in dieser Frage
nicht vorpreschen, weil wir in einem besonders sensiblen Verhältnis zu Frankreich stehen. Sie wissen, der
Motor läuft zurzeit nicht so gut, wie er schon einmal gelaufen ist. Vor der französischen Ratspräsidentschaft, wo
wir einiges gemeinsam auf den Weg bringen müssten, ist
das besonders heikel.
Drittens. Die Entscheidung - das ist eben von der
FDP zu Recht schon genannt worden - muss das Europäische Parlament treffen. Aber ich glaube - deshalb
sind wir der Umsetzung Ihres berechtigten Vorschlages
vielleicht näher, als mancher denkt -, mit dem Vertrag
von Lissabon gibt es für die Europäische Union eine
ganz neue Dynamik: mehr Rechte für das Europäische
Parlament; viele Dinge, die bisher nach dem Einstimmigkeitsprinzip geregelt worden sind, gehen dann ins
Mehrheitsprinzip über. Die Sitzfrage zugegebenermaßen
nicht; da muss der Vertrag geändert werden, und dafür
müssten alle 27 Staaten in einem entsprechenden Ratifizierungsverfahren, wie jetzt beim Vertrag von Lissabon,
zustimmen.
Aber mit diesem Vorschlag ist perspektivisch ein akzeptabler Weg für Frankreich aufgezeigt. Zugleich werden wir auf der Grundlage des Vertrags von Lissabon einen Europäischen Rat mit einem eigenen Präsidenten,
das heißt mit einer eigenen, neuen Sichtbarkeit, haben.
Ich denke, das könnte ein zusätzliches Argument für einen „eigenen“ Ort mitten in Europa sein; dieser Ort
könnte zum Beispiel Straßburg sein.
Die EU selber - auch das bedingt der Vertrag von Lissabon - wird Völkerrechtssubjekt. Das heißt, der Weg zu
einer europäischen Republik oder - wie es Stefan
Collignon genannt hat - der Weg zu einer Bundesrepublik Europa ist damit eingeschlagen worden.
Ein wichtiger Aspekt hinsichtlich der Frage, wo der
Sitz des Europäischen Parlaments sein soll, ist, dass der
EU-Reformvertrag Volksinitiativen ermöglicht. Herr
Löning hat eben zu Recht darauf hingewiesen, dass
schon 1 Million Menschen unterschrieben haben. Warum sollten dann nicht auf Grundlage des Lissabonner
Vertrages 1 Million Menschen eine solche europäische
Volksinitiative starten? Damit können die Menschen in
Europa den Sitz des Europäischen Parlaments als Thema
erneut auf die Tagesordnung setzen. Ich denke, die Menschen in Europa könnten mit ihrem Votum in dieser
Frage ein wichtiges Signal setzen.
Die Mehrheit des Europäischen Parlaments lehnt die
aktuelle Regelung hinsichtlich des Sitzes des Europäischen Parlamentes schon jetzt ab. Die Franzosen gehören leider noch nicht dazu. Würden sie sich der Mehrheit
anschließen, wäre der Weg für eine neue Regelung frei.
Ich wünschte, wir wären schon so weit, dass wir Ihrem Vorschlag zustimmen könnten. Aber wir sind es leider noch nicht. Wir können den Satz, den der Gründer
des Staates Israel gesagt hat, auch auf Europa übertragen: Wer in Europa nicht an Wunder glaubt, der ist kein
Realist.
In diesem Sinne bin ich Realist; ich glaube an dieses
Wunder und daran, dass wir es miteinander noch erleben
werden.
Vielen Dank.
({2})
Alexander Ulrich ist der nächste Redner für die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn ein Maler ein Bild über die Entfremdung der Menschen von Europa zeichnen müsste, würde er als Motiv
einen Umzugskarton mit europäischen Sternen darauf
wählen. Die Debatte heute zeigt, dass alle Redner erkannt haben: Es macht wenig Sinn, dass wir weiterhin
und auf Dauer das Europäische Parlament in Straßburg
tagen lassen.
Herr Steenblock, das Problem ist, dass die Grünen
immer dann, wenn die Linke im Europaausschuss des
Bundestages den Vertrag von Lissabon kritisiert hat, zu
dem glühendsten Verfechter dieses Vertrages wurden.
({0})
Mit Ihrer Zustimmung zu diesem Vertrag vor wenigen
Wochen tragen Sie dazu bei, dass Straßburg weiterhin
Sitz des Europäischen Parlamentes bleibt. Deshalb muss
man sagen, dass Ihr Antrag zwar gut gemeint, aber eben
populistisch ist. Denn vor 14 Tagen haben Sie sich anders entschieden.
({1})
Herr Steenblock, Sie können sich ertappt fühlen. Natürlich ist dies ein weiteres Beispiel, wie undemokratisch
die Europäische Union durch die Verträge von Lissabon
aufgebaut wird. Ich gebe den Vorrednern recht, die gesagt haben: Wie der Deutsche Bundestag über seinen
Sitz in Berlin entschieden hat, muss das Europäische
Parlament über seinen Sitz selbst entscheiden. Sie sagen
aber, dass dies die Regierungen entscheiden sollen. Sie
sollten sich für eine Vertragsveränderung einsetzen, damit das Europäische Parlament selbst entscheiden kann,
wo sein Sitz sein soll. Ich bin mir sicher, die Mehrheit
der Europaabgeordneten wird sich dafür entscheiden,
dass nur noch in Brüssel getagt wird.
({2})
Es freut mich, dass die FDP sagt, die Grünen hätten
einen Vorschlag von ihr aufgegriffen. Der Fraktionsvorsitzende der FDP und Bonn-Lobbyist ist jetzt leider nicht
mehr anwesend.
({3})
Wir wären manchmal gut beraten, mit dem Finger
nicht nur auf Europa zu zeigen. Denn auch wir in
Deutschland könnten jedes Jahr etliche Millionen Euro
und auch viel CO2 einsparen, wenn wir dafür sorgen
würden, dass die Ministerien komplett von Bonn nach
Berlin umziehen.
({4})
Wir dürfen nicht nur auf Europa schauen, sondern
sollten den Franzosen ein gutes Beispiel geben. Dazu gehört, dass die Geldverschwendung im eigenen Land, die
durch Bonn und Berlin als Sitz für die Ministerien verursacht wird, aufhört.
({5})
Das Parlamentsgebäude in Straßburg steht 317 Tage
im Jahr leer. Es macht keinen Sinn, dafür jedes Jahr
200 Millionen Euro auszugeben. Richtig ist aber auch,
dass wir diesen Zustand auf absehbare Zeit nicht verändern können.
Deshalb glaube ich, dass diese Debatte richtig ist. Ich
kann nicht verstehen, warum manche sagen: Wir beschäftigen uns nicht mit diesem Thema. Tatsächlich ist
es so, dass nicht alle Punkte in die richtige Richtung weisen. Ich meine nicht, dass wir ein Kompensationsgeschäft brauchen. Man würde uns immer vorrechnen,
welche Kosten anfallen - etwa 200 Millionen Euro oder
50 Millionen Euro -, das heißt, wie viel Geld verschleudert wird. Brüssel sollte Mittelpunkt werden. Ich bin mir
sicher, das Europaparlament wird das so entscheiden.
Ihr Beitrag glich in weiten Strecken einer Sonntagsrede. Wir sollten nicht nur an dieser Stelle, sondern auch
an anderen Stellen über Geldverschwendung auf europäischer Ebene und über mehr Demokratie im Europäischen Parlament reden. Die Grünen tun mir ein bisschen
leid, dass sie sich dagegen ausgesprochen haben, dass
die Bevölkerung über den Lissabon-Vertrag abstimmt.
({6})
Hätte die Bevölkerung darüber entschieden, wäre die
Ratifizierung dieses Vertrages - da bin ich mir sicher noch nicht durch. Herr Steenblock, Ihr Antrag geht in die
richtige Richtung, ist aber populistisch.
Vielen Dank.
({7})
Zum Schluss dieses Tagesordnungspunkts hat der
Kollege Hans Peter Thul für die CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
({0})
Wenn man manche Reden in diesem Haus gehört hat,
dann darf man feststellen, dass der Heilige Geist vielleicht doch um zwei Tage zu spät gekommen ist.
({0})
Ich bin froh, dass wir vielleicht etwas versöhnlicher in
dieses Wochenende gehen können.
({1})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Grundsätzlich sind alle Überlegungen, Herr
Kollege, die uns zu mehr Effizienz in den Verwaltungen,
zu weniger Kosten oder möglicherweise zu einer - ich
sage das mit Blick auf Ihren Vorschlag - Reduzierung
oder sogar Vermeidung von CO2-Emissionen führen, zu
begrüßen. Selbstverständlich sehen Sie uns da auf Ihrer
Seite. Alle Reden, die in diesem Haus zu diesem Thema
und zu Ihrem Antrag gehalten wurden, geben Ihnen in
diesem Ansatz recht. Wir haben etwas genauer hingeschaut und können Ihrem Antrag aus einigen Gründen,
die ich Ihnen gleich darlegen werde, so nicht folgen.
Vor wenigen Tagen ist unsere Bundeskanzlerin mit
dem renommierten Karlspreis ausgezeichnet worden.
Dies geschah unter anderem deshalb, weil sie mit sehr
viel Geschick die Interessen der großen und kleinen
Partner in der europäischen Familie vertritt.
({2})
Ich denke, Sie spenden dieser Preisverleihung Beifall.
Wir dürfen also mit Fug und Recht feststellen, dass die
deutsche Ratspräsidentschaft unter Führung von Angela
Merkel eine der erfolgreichsten der vergangenen Jahre
war.
({3})
Dennoch wirkt der Preis über den Tag hinaus, Herr
Löning. Noch ist der Vertrag von Lissabon nicht von allen 27 Mitgliedstaaten ratifiziert;
({4})
aber wir sind, wie ich finde, auf einem guten Weg. In einer Vielzahl von Veranstaltungen im Lande, zuletzt in
Göttingen und auch hier in Berlin, sind wir mit den Menschen im Gespräch und erklären den Geist von Lissabon.
Ich darf Ihnen berichten: Wir erfahren in allen Veranstaltungen ein hohes Maß an Zustimmung.
Nun komme ich zur Kritik, verehrter Kollege
Steenblock. Die Verabschiedung Ihres Antrags würde für
die französische Ratspräsidentschaft vor diesem Hintergrund einer Aufforderung gleichkommen, sich dafür einzusetzen, dass sich die Parlamente erneut mit einer Vertragsänderung zu beschäftigen haben. Das Ganze würde
in der Zeit der Ratifizierungen stattfinden. Das allein ist
schon fast ein Affront gegenüber dem französischen Nationalstaat.
({5})
Das ist eine, wie ich finde, geradezu abwegige Vorstellung.
Warum sollten wir, Deutschland, während der derzeitigen Ratifizierungsbemühungen aller anderen Partner
ohne Not einen solchen Nebenkriegsschauplatz eröffnen,
der Frankreich, Belgien und Luxemburg unmittelbar betreffen würde? Es gibt hierfür keine rationale Erklärung.
Ich möchte auf den von Ihnen errechneten, von mir
nicht ganz nachvollziehbaren Effekt der CO2-Einsparungen zu sprechen kommen. Ich empfehle Ihnen: Rechnen
Sie einmal nach, wie viele vermeidbare Kosten dadurch
entstehen, dass in Bonn immer noch zahlreiche Ministerien der Bundesregierung sind! Missionieren Sie einmal
in Ihren eigenen Reihen, etwa bei den Abgeordneten der
Grünen aus Rheinland-Pfalz! Fragen Sie einmal die Bereitschaft ab, dafür einzutreten, dass sämtliche Ministerien der Bundesregierung nach Berlin umziehen! Ich
glaube, Sie würden bei Ihren Bemühungen ebenfalls ein
Waterloo erleben.
({6})
Wenn wir diese Sache in aller Ruhe miteinander besprechen, dann kommen wir ganz bestimmt zu dem Ergebnis: Wir sollten in dem Bemühen, Kosten zu senken
und CO2-Belastungen zurückzuführen, nicht nachlassen.
Ihr Antrag, meine verehrten Damen und Herren der Grünen,
({7})
ist hierfür allerdings nicht geeignet.
Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende und entspannte Pfingsttage.
Schönen Dank.
({8})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
der Drucksache 16/8051 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Damit sind Sie
offensichtlich einverstanden. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe nun Zusatzpunkt 12 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE
Haltung der Bundesregierung zu aktuellen
Vorschlägen einer steuerlichen Entlastung von
kleinen und mittleren Einkommen
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält die Kollegin Barbara Höll für die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Es ist schon ein erstaunliches Schauspiel, das
wir aktuell in Bayern geboten bekommen:
({0})
Die CSU rutscht in Umfragen unter 50 Prozent und
spielt verrückt. Links wirkt eben nicht nur bei der SPD;
endlich hat auch die CSU registriert, dass der Aufschwung - die Frage ist, welcher Aufschwung überhaupt bei den meisten nicht angekommen ist.
Es ist längst überfällig, dass die Forderungen nach
Wiedereinführung der alten Pendlerpauschale, nach Anhebung des Grundfreibetrags in der Einkommensteuer,
nach der tendenziellen Begradigung des Einkommensteuertarifs und nach der Erhöhung des Kindergeldes erhoben werden. Die Bundestagsfraktion Die Linke fordert all das schon seit langem.
({1})
Wir haben zu all diesen Punkten bereits Anträge gestellt,
die die CSU in schnöder Regelmäßigkeit abgelehnt hat.
Bei etlichen Anträgen haben Sie nun regelrecht von
uns abgeschrieben,
({2})
zum Beispiel aus unserem Antrag zur Pendlerpauschale
oder zur Begradigung des Einkommensteuertarifs. Sie
wissen, dass sofort eine Erhöhung des Kindergeldes auf
200 Euro erfolgen sollte.
({3})
Ganz abgesehen davon, ist die CSU selbstverständlich
für die soziale Schieflage, für all die Ungerechtigkeiten,
mit denen wir gegenwärtig konfrontiert sind, mitverantwortlich. Zuerst hat sie ihre Wählerinnen und Wähler
wirklich abgeschreckt; jetzt will sie sie wieder einsammeln.
Es ist Fakt: In Deutschland gibt es viel Armut. Zudem
schrumpft die Mittelschicht dramatisch; das belegen aktuelle Studien des DIW und von McKinsey.
({4})
Es ist das Ergebnis Ihrer Politik, dass nach Berechnungen von Allianz und Dresdner Bank die Arbeitnehmer
und Arbeitnehmerinnen in den vergangenen fünf Jahren
3,7 Prozent Kaufkraftverlust hinnehmen mussten; zwischen 1991 und 2007 betrug der Kaufkraftverlust sogar
6,1 Prozent.
Die CSU stellt nun mit ihrem Steuerkonzept - das
kann man so konstatieren - ihrer bisherigen Steuerpolitik ein Armutszeugnis aus.
({5})
Bisher zeichnete sich die Steuerpolitik der CSU dadurch
aus: Die CSU hat die Mehrwertsteuererhöhung um
3 Prozentpunkte mitgetragen; sie hat die Unternehmensteuerreform mitgetragen, die durch die Senkung der
Körperschaftsteuer zu einer massiven Entlastung der
Unternehmen geführt hat; sie hat die Senkung des Spitzensteuersatzes mitgetragen; auch der Eiertanz bei der
Erbschaftsteuer wird von der CSU mitgetragen.
Ich sage: Bei näherem Hinsehen entpuppt sich vieles
aus dem Steuerreformkonzept der CSU als wahlkampftaktische Mogelpackung. Zum Beispiel behauptet sie
großspurig in der Presse, sie würde sich vor allem der
vielen kleinen und mittleren Einkommen annehmen.
({6})
Die Entlastungsbeispiele, die bisher veröffentlicht wurden, zeigen aber, dass sie vor allem die höheren Einkommen entlasten will.
Eine wirkliche Entlastung der kleinen und mittleren
Einkommen erreichen Sie nur, wenn Sie den Einkommensteuertarif tatsächlich linear-progressiv gestalten.
Das wollen Sie im ersten Schritt nicht tun; im zweiten
Schritt wollen Sie wenig dafür tun. Wir haben es in einem Antrag vorgeschlagen. Er trägt den Titel „Einkommensteuertarif gerecht gestalten - Steuerentlastung für
geringe und mittlere Einkommen umsetzen“. Sie hätten
den im Mai vergangenen Jahres gestellten Antrag mittragen können.
Die Progression im Einkommensteuertarif schlägt im
unteren Bereich überproportional zu und trifft damit gerade die unteren und mittleren Einkommensgruppen.
Deshalb sind sie stärker von der kalten Progression betroffen, die durch die Inflation verursacht wird. Gerade
bei diesen Einkommen bleibt von einem Bruttozuwachs
netto nicht wesentlich mehr übrig. Dafür geben Sie allerdings am Ende des Tarifverlaufs so richtig Gas: Sie lassen zwar den Spitzensteuersatz unverändert bei 42 Prozent; aber er soll erst bei 60 000 Euro statt wie bisher bei
52 151 Euro greifen. Ihre Entlastungsvorschläge wirken
also umso stärker, je höher die zu versteuernden Einkommen sind. Das sind Steuergeschenke für Fußballmillionäre und Topmanager.
Noch einmal kurz zur kalten Progression, zur inflationsbedingten Einkommnensenkung aufgrund des Tarifverlaufs. Sie behaupten, Ihr Steuerkonzept korrigiere
das. Es ist an keiner Stelle eine Maßnahme zu finden, die
tatsächlich dauerhaft wirken könnte. Die Fraktion Die
Linke hat am 6. Juli 2007 einen Antrag für eine konsequente Berücksichtigung der Inflation im Steuerrecht
vorgelegt.
Noch ein Wort zur Gegenfinanzierung. Normalerweise wird uns vorgeworfen, wir könnten das nicht.
({7})
Herr Huber hat eine ganz klare Haltung - ich zitiere -:
Das Gegenrechnen bringt doch nur Ärger, und die
Entlastungen werden nicht mehr richtig gesehen.
({8})
Was soll das Ganze? Herr Huber sieht das locker, flockig. Seriöse Haushaltspolitik ist das wohl nicht.
({9})
Wenn man genau hinschaut, kündigt er allerdings an,
wie vielleicht eine Gegenfinanzierung aussehen könnte.
Dazu möchte ich noch einmal zitieren
Nein, das geht jetzt nicht mehr, weil nämlich unsere
- ich bin gleich zu Ende, Herr Präsident -:
… strikte Disziplin auf der Ausgabenseite. Die
CSU ist bereit, ihren politischen Beitrag zu erbringen.
Wie ehrlich Sie es meinen, das merkt man jetzt, wenn
man sich den Bankenskandal anschaut, den Sie in Bayern haben,
({0})
wo der Öffentlichkeit nicht die Wahrheit gesagt wurde.
({1})
Daran sind Sie beteiligt.
({2})
Ich glaube, das Verfallsdatum Ihres Steuerkonzepts kann
man vorhersagen: der 29. September dieses Jahres.
Danke.
({3})
Frau Kollegin, Sie strapazieren im Augenblick nicht
nur den amtierenden Präsidenten, was ja durchaus hinzunehmen wäre, sondern auch die Geschäftsordnung, die,
was bei Aktuellen Stunden regelmäßig übersehen wird,
dem Präsidenten den Ermessensspielraum, den alle Rednerinnen und Redner mit bemerkenswerter Souveränität
immer wieder für sich in Anspruch nehmen, gar nicht
einräumt.
Nun hat der Kollege Eduard Oswald für die CDU/
CSU das Wort, der den Nachweis erbringen wird, dass
das in fünf Minuten gehen muss.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
Echo auf die Vorschläge der Christlich-Sozialen Union
zeigt: Der richtige Schritt zur rechten Zeit.
({0})
Das Thema der Steuerentlastungen für den Bürger steht
auf der Tagesordnung deutscher Politik. Die CSU legt
mit diesen Vorschlägen den Finger in die Wunde: In unserem Land wird zu wenig an die Mitte der Bevölkerung, an die ganz normalen Leute, die tagtäglich für ihren Lebensunterhalt arbeiten und ihre Kinder mit wenig
staatlicher Hilfe großziehen, gedacht. Viele Arbeitnehmer, auch wenn sie sich freuen, dass ihr Arbeitsplatz
durch die Arbeit der Großen Koalition sicherer geworden ist, spüren nicht immer, dass der wirtschaftliche
Aufschwung bei ihnen im Geldbeutel ganz persönlich
ankommt.
Die Tarifabschlüsse der letzten Monate haben für
viele Beschäftigte eine nennenswerte Erhöhung des
Bruttolohns gebracht. Aber Lohnerhöhungen werden
vielfach durch Preissteigerungen bei den Ausgaben des
täglichen Bedarfs und vor allem bei Strom und Benzin
aufgezehrt. Die CSU will: Jeder Einzelne muss wirklich
von den Lohnerhöhungen profitieren.
({1})
Die Menschen brauchen mehr netto vom Brutto.
Ich kann es nur bedauern, dass durch die Heftigkeit
der ersten politischen Reaktionen bei manchen verloren
geht, wie wichtig eine Steuerentlastung der Bürger ist.
Es ist doch eine Tatsache, dass unser progressiver Steuertarif den Menschen, vor allem den Leistungsträgern
der Mittelschicht, den Facharbeitern und auch den Familien, in ganz erheblichem Umfang heimlich das Geld aus
der Tasche zieht und damit die wohlverdiente Kaufkraft
der Bevölkerung verringert wird.
Nahezu alle unabhängigen Sachverständigen kritisieren immer wieder diese geräuschlose Umverteilung zugunsten des Staates als wachstums- und leistungsschädlich. Deshalb nimmt die CSU diese kalte Progression
völlig zu Recht ins Visier und schützt den Bürger vor
weiteren Steuererhöhungen.
({2})
Wer das als unehrliche Politik ohne Gegenfinanzierung
bezeichnet, verwechselt Ursache mit Wirkung.
({3})
Ich sage klar und unmissverständlich: Für die CSU
gibt es zur weiteren Konsolidierung der öffentlichen
Haushalte keine Alternative. Steuerentlastungen stehen
hierzu nicht im Widerspruch. Vielmehr verhelfen sie der
Strategie der Haushaltskonsolidierung zum Erfolg. Sie
erhöhen das verfügbare Einkommen der Bürgerinnen
und Bürger. Sie setzen Leistungs- und Arbeitsanreize
und fördern damit das Wirtschaftswachstum. Alle in diesem Haus wissen: Mit überschuldeten Haushalten ist auf
Dauer kein Staat zu machen. Mit Bürgerinnen und Bürgern, die kein Geld in der Tasche haben, aber auch nicht.
({4})
Nach unserer Auffassung ist das Einkommensteuerentlastungskonzept durch das stufenweise Wirksamwerden
- das ist das Entscheidende; man muss hinschauen, was
sofort und was in den nächsten Jahren wirksam wird mit den besonderen Belangen des Bundeshaushalts vereinbar.
({5})
Dass die CSU für eine nachhaltige Finanzpolitik
steht, hat sie in Bayern bewiesen.
({6})
Bayern ist ein wunderschönes Land mit einer stabilen
und guten Regierung, die Erfolge vorweisen kann. Im
Vergleich mit allen anderen Bundesländern wird das
deutlich. Als einziges Land hat Bayern seit 2006 einen
ausgeglichenen Landeshaushalt.
({7})
- Daran ändert Ihr Schreien nichts. Die Fakten zählen.
({8})
Jetzt ist der richtige Zeitpunkt für den Einstieg in eine
Einkommensteuerreform. Mit unserem Drei-StufenKonzept haben wir die Diskussion eröffnet.
({9})
Wir haben Vorschläge unterbreitet, wie eine echte Entlastung für jedermann erreicht werden kann. Jeder kann
sich dem anschließen.
({10})
Herr Präsident, ich bin im vorgegebenen Zeitrahmen
geblieben, um Ihrem ausdrücklichen Wunsch zu entsprechen.
({11})
Vielen herzlichen Dank.
({12})
Ich bin zutiefst beeindruckt und empfehle dieses
leuchtende Beispiel zur Nachahmung. - Der nächste
Redner ist der Kollege Dr. Hermann Otto Solms für die
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Es war amüsant, Edi Oswalds Märchenstunde
zu lauschen.
({0})
Sie war verbunden mit einem echt bayerischen Werbeblock. Das war sehr eindrucksvoll. Die bayerischen Tourismusbehörden werden Ihnen dankbar sein.
Lassen Sie uns einmal auf die Aussagen zurückblicken, die im Wahlkampf vor der letzten Bundestagwahl
gemacht wurden. Die CDU/CSU hat damals ein mutiges
Steuerkonzept vorgeschlagen, unter der Federführung
von Richard Merz - Friedrich Merz, Entschuldigung.
({1})
12, 24 und 36 Prozent sollten die Steuersätze betragen.
Man hat den Wählern vor der Bundestagwahl also Steuersenkungen versprochen. Was hat die CDU/CSU - die
CSU ist übrigens immer noch Teil dieser Koalition, auch
wenn man das manchmal vergisst;
({2})
sie stellt sogar zwei Bundesminister und stimmt allem
immer brav zu - dann aber in der Koalition gemacht?
Abschaffung der Eigenheimzulage, Abschaffung der degressiven AfA, Abschaffung der Abzugsfähigkeit der
Steuerberatungskosten. Das war im Jahr 2005 und geschah mit einstimmiger Zustimmung der CSU in Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung.
({3})
Im Jahre 2006 kam dann die Erhöhung der Mehrwertsteuer, die Erhöhung der Versicherungsteuer, die Einführung einer Reichensteuer, die Absenkung der Altersgrenze beim Kindergeld und bei Kinderfreibeträgen von
27 auf 25 Jahre, die Reduzierung der Entfernungspauschale und die Halbierung des Sparerfreibetrages. All
das waren Entscheidungen, die die Bürger hart getroffen
haben. Hinzu kam die Neueinführung einer Steuer auf
Biokraftstoffe. Zu all diesen Maßnahmen gab die CSU
einstimmig ihre Zustimmung.
({4})
Im Jahr 2007 folgte die Unternehmensteuerreform.
Erinnern Sie sich an die mittelstandsfeindlichen Entscheidungen bei der Hinzurechnungsregelung bei der
Gewerbesteuer, die Einführung einer Zinsschranke, die
Einschränkung beim Mantelkauf und die Einführung der
Funktionsverlagerung. All das waren absurde Entscheidungen. Es kam aber kein Widerspruch von den Fachleuten aus Bayern. Erwin Huber war lange Zeit FinanzDr. Hermann Otto Solms
minister. Er ist ein Experte, aber auch von seiner Seite
kam kein Widerspruch. Die CSU hat zwar allem zugestimmt, aber jetzt beschwert sie sich.
Jetzt kommt das Jahressteuergesetz 2007, mit dem die
zentrale Lohnsteuerdatei und ein umfassender Datenpool
mit persönlichen Daten aller Steuerpflichtigen eingeführt
werden. Sie haben eine Änderung in § 42 AO - Entscheidungen stehen unter dem Vorbehalt der Zustimmung
durch die Finanzverwaltung - herbeigeführt. Auch hier
gilt: volle Zustimmung der CSU.
Bei der aktuellen Diskussion über die Erbschaftsteuer
höre ich von der CSU nichts mehr.
({5})
Sie hat dem Vorschlag widersprochen. Jetzt hört man
aber nichts mehr.
({6})
Man munkelt, man wolle die Entscheidung auf die Zeit
nach dem 28. September verschieben. Warum? Dann ist
in Bayern Landtagswahl. Kaum droht also die Rache der
Wähler, wechselt die CSU die Seite.
({7})
Jetzt ist sie wieder Steuersenkungspartei.
({8})
Meine Damen und Herren, all das, was die CSU zurzeit unter dem Stichwort „Mehr netto vom Brutto“ vorschlägt,
({9})
ist nicht ernst zu nehmen.
({10})
Ich weiß nicht, wann Sie das letzte Mal auf dem Nockherberg waren bzw. wann Sie diese Veranstaltung zuletzt
im Fernsehen gesehen haben.
({11})
Dort ist der Vorsitzende der FDP, Guido Westerwelle,
einmal derbleckt worden; so sagt man das in Bayern.
({12})
Es ging um das Motto „Mehr netto vom Brutto“. Derjenige, der ihn damals kopiert hat, hat dieses Prinzip regelrecht gepredigt.
({13})
Man hörte immer nur: Mehr netto vom Brutto! Dann trat
ein Chor auf, der „Mehr netto vom Brutto“ gesungen hat.
({14})
Erwin Huber war damals auch anwesend. Das hat er sich
wohl gemerkt und sich gesagt: Das kann ich auch.
({15})
Nun liegt das neue Steuersenkungsprogramm der CSU
auf dem Tisch, und es trägt den Titel „Mehr netto vom
Brutto“.
({16})
Auch Frau Merkel war nicht faul. Sie hat sich das zu
Herzen genommen.
({17})
Nach einer aktuellen dpa-Meldung möchte jetzt auch sie
das Prinzip „Mehr netto vom Brutto“ zum Motto ihrer
Politik machen.
({18})
Im Moment diskutiert die Koalition aber immer noch
über Steuererhöhungen, nämlich über die Erhöhung der
Erbschaftsteuer, und nicht über Steuersenkungen.
({19})
Es ist wirklich interessant, welch eine Meinungsvielfalt
plötzlich entsteht. Frau Merkel sagt: Steuersenkungen ja,
aber erst nach der Wahl. Sie verhält sich also genauso
wie im letzten Bundestagswahlkampf: Vor der Wahl
werden Steuersenkungen versprochen, nach der Wahl
werden diese Versprechen zurückgezogen.
({20})
Witzig ist auch, wie die SPD darauf reagiert. Herr Beck
sagt: Wir brauchen eine Steuerreform. Herr Poß sagt: Ja,
aber sie darf nichts kosten. Es darf also keine richtige
Steuerreform sein. Herr Steinbrück dementiert alles und
lässt heimlich eine Steuerreform vorbereiten; das ist
heute auf Spiegel Online zu lesen.
({21})
Wir erleben gerade eine spannende Zeit. Bis zur Bundestagswahl haben wir noch ein Jahr vor uns, in dem wir
über die Steuerpolitik diskutieren können. Wir werden
sehen, wer glaubwürdig ist. Die FDP jedenfalls vertritt
bereits seit 15 Jahren die Auffassung, dass eine große
Steuerreform notwendig ist. Diese Politik werden wir
auch nach der nächsten Bundestagswahl fortsetzen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({22})
Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Florian
Pronold das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Es gibt im Deutschen Bundestag immer noch
überraschende Debatten. Jeder, der weiß, wie die Debattenkultur hier normalerweise ausgeprägt ist, müsste
diese Debatte als besonders überraschend bewerten. Da
wirft Frau Höll der CSU vor, sie habe von der Linken abgeschrieben, und die CSU widerspricht noch nicht einmal.
({0})
Dann sagt Frau Höll sogar: Wenn man sich genau anschaut, was sie abgeschrieben hat, stellt man fest: Das ist
eine Mogelpackung.
({1})
Das ist richtig, allerdings in beiden Fällen:
({2})
Das trifft sowohl für die Linke als auch für die CSU zu.
Beide Parteien versprechen Steuerentlastungen in einer
Größenordnung, dass man denkt, Weihnachten, Ostern
und Pfingsten fallen auf denselben Tag.
({3})
Das Problem ist: Diese Versprechen kann niemand einhalten. Wenn Politiker, weil bald ein Wahlkampf ansteht,
plötzlich ganz andere Positionen vertreten, führt das bei
den Menschen zu Politikverdrossenheit.
Herr Solms, Sie haben auf das Steuerkonzept der
CSU aus dem Jahre 2005 hingewiesen, an dessen Erarbeitung Erwin Huber wesentlich beteiligt war. Damals
sollte es mehr netto geben, aber nur für die oberen Zehntausend. Diese Steuersenkungen sollten die kleinen
Leute bezahlen. Die Vorschläge der CSU lauteten: Abschaffung der Steuerfreiheit der Zuschläge für Nacht-,
Schicht- und Sonntagsarbeit, Streichung bzw. Kürzung
der Pendlerpauschale usw.
({4})
- Darauf komme ich gleich zu sprechen. Ich will aber
zuerst auf das Motto „Mehr netto vom Brutto“ eingehen,
das die FDP für sich reklamiert
({5})
- auf dem Nockherberg, um den es eben ging, war auch
ich anwesend - und nun auch die CSU, die uns jetzt eine
Wandlung vom Saulus zum Paulus vortäuscht.
Ich darf darauf hinweisen, dass Rot-Grün die größte
Steuersenkung für die unteren und mittleren Einkommen
in der Geschichte der Bundesrepublik durchgeführt hat.
({6})
Die SPD-Bundestagsfraktion hat damals eine entsprechende Information veröffentlicht. Um das einmal in
Zahlen auszudrücken: Im Vergleich zu der Zeit von
Schwarz-Gelb, liebe FDP, ist eine Familie mit zwei Kindern und einem Durchschnittseinkommen - mit Kindergelderhöhung - in dieser Zeit um 2 392 Euro im Jahr
netto entlastet worden.
({7})
Das sind fast 5 000 DM; das ist eine ganze Menge. Das
Ziel „Mehr netto vom Brutto“ ist also gegebenenfalls
Rot-Grün zuzuschreiben.
({8})
Die spannende Frage in der Steuerpolitik ist, warum
bei den Leuten nach deren Gefühl nichts angekommen
ist. Dies ist so, weil im selben Zeitraum nicht die Löhne,
aber die Belastungen gestiegen sind, weil Weihnachtsund Urlaubsgeld gekürzt worden sind und weil der Niedriglohnsektor dramatisch ausgeweitet worden ist.
({9})
Wenn man wirklich will, dass die Bezieher unterer Einkommen mehr netto haben, dann muss man dafür sorgen, dass der Niedriglohnbereich zurückgedrängt wird.
Es wäre daher schön, wenn die CSU der Forderung nach
einem Mindestlohn endlich uneingeschränkt zustimmen
würde.
({10})
Ein sehr wichtiger Punkt ist auch die Wandlung bei
der Pendlerpauschale.
({11})
Wir haben in der Koalition eine Vereinbarung getroffen,
die die Kürzung der Pendlerpauschale vorsah. Die SPDBundestagsfraktion - das haben wir damals in der Debatte deutlich gemacht - wollte mit den Kollegen noch
in der Debatte festlegen, diese Pauschale doch wieder ab
dem ersten Kilometer gelten zu lassen. Die Kollegen
durften aber nicht kommen, weil sie von der CSU zurückgepfiffen worden waren. Im November letzten Jahres, nach dem BFH-Urteil, gab es erneut den Vorschlag
der SPD-Bundestagsfraktion, wieder die alte Regelung
einzuführen, und zwar unterlegt mit einem seriösen Gegenfinanzierungskonzept. Was war die erste Tat des neu
gewählten CSU-Vorsitzenden Erwin Huber im Koalitionsausschuss? Sie bestand darin, genau dies abzulehnen und anzuregen, doch zu warten, bis das Bundesverfassungsgericht darüber entschieden hat. Er ist ein
Brandstifter, der sich jetzt als Feuerwehrmann gebärdet,
({12})
der aber kein Löschwasser dabei hat, weil er keinen Gegenfinanzierungsvorschlag macht; vielmehr hat er Sand
dabei, den er den Wählerinnen und Wählern in die Augen streuen will. Das ist die Wahrheit zum Thema Pendlerpauschale.
({13})
Wenn Sie es ernst meinen, dann gibt es in der nächsten Sitzungswoche des Bayerischen Landtags eine
schöne Gelegenheit, dies zu zeigen, liebe Freunde und
Koalitionspartner von der CSU. Das von Erwin Huber
geforderte Auslaufen der Erbschaftsteuer und die von
ihm jetzt beabsichtigte Änderung hinsichtlich der Einkommensteuer machen im Haushalt des Freistaates Bayern etwa 3,5 Milliarden Euro aus. Ich bin dafür, dass
man dies den Bürgerinnen und Bürgern im Wege eines
Nachtragshaushalts sofort, also noch vor der Landtagswahl, zugutekommen lässt, indem man das letzte Kindergartenjahr kostenfrei stellt, indem man mehr Lehrer
einstellt und indem man dafür sorgt, dass die Studiengebühren abgeschafft werden. - Nicht an ihren Worten, an
ihren Taten sollt ihr sie erkennen.
({14})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die
Kollegin Christine Scheel das Wort.
({0})
Ja, Unterfranken gehört zu Bayern.
({0})
- Was heißt hier „noch“? Wir haben einmal zum Kurfürstentum Mainz gehört; aber das ist schon lange her.
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen!
Ich bin schon etwas überrascht, dass es der SPD-Fraktion, die im Bundestag in einer gewissen Größe vertreten
ist und einen maßgeblichen Teil dieser Koalition darstellt, nicht gelingt, sich gegen eigenartige Vorschläge
von Erwin Huber durchzusetzen. Man muss es sich einmal auf der Zunge zergehen lassen: Anscheinend dirigiert Erwin Huber von Bayern aus die Große Koalition
so, dass all das, was er möchte, hier umgesetzt wird. Ich
glaube, das hätte er gern; aber die Wirklichkeit schaut etwas anders aus.
Sie lenken permanent davon ab, warum die Probleme
so sind, wie sie sind. Der Kollege Otto Solms hat mehrere Punkte aufgezählt, was das Reden vor der Wahl und
das Handeln nach der Wahl angeht. Ich kann nur sagen:
Wer einer rot-grünen Regierung, die meiner Meinung
nach viele Fehler,
({1})
aber insgesamt einen guten Job gemacht hat, vorgeworfen hat - damals vonseiten der Union -, die Steuern
nicht ausreichend gesenkt zu haben,
({2})
dann aber, wenn eine Große Koalition an die Regierung
kommt, nichts anderes tut, als die Steuern zu erhöhen,
der macht sich in der Bevölkerung nicht glaubwürdiger,
sondern trägt zur Politikverdrossenheit bei.
({3})
Wenn wir jetzt vor der Wahl - Ende September wird
in Bayern ein neuer Landtag gewählt - feststellen,
({4})
dass sich die Rhetorik von Erwin Huber und zum Teil
auch von Günther Beckstein kaum mehr von der Rhetorik von Herrn Gysi und Herrn Lafontaine unterscheidet,
({5})
muss ich sagen: Die Welt ist anscheinend nicht mehr
ganz so einfach sortiert, wie das den Bürgern und Bürgerinnen in Bayern früher vorkommen musste.
({6})
Man muss an dieser Stelle klipp und klar benennen,
wo es in den letzten Jahren politische Fehlentscheidungen gegeben hat und wer dafür verantwortlich ist. Dass
sich die Steuer- und Abgabenbelastung für die kleinen
und mittleren Einkommen so negativ entwickelt hat,
liegt an den Entscheidungen dieser Großen Koalition.
Da kann die Große Koalition nicht abtauchen; da kann
sie nicht so tun, als seien andere schuld.
Der Bundesfinanzminister sagt ja gerne: Das Durchschnittseinkommen liegt bei 25 000 Euro brutto, und
darauf muss man nur 620 Euro Steuern zahlen. Es gehört
allerdings zur Wahrheit, darauf hinzuweisen, dass er sich
bei dieser Rechnung auf einen Alleinverdiener in einer
Ehe bezieht.
({7})
Die Lebensrealität vieler Menschen ist hingegen die,
dass man, wenn man alleinstehend ist, sein Einkommen
von brutto 25 000 Euro voll versteuern muss, was eine
Steuerbelastung von 3 500 Euro bedeutet. Das ist das,
was die Leute so ärgert: dass Sie einem erzählen wollen,
man würde kaum Steuern zahlen, man aber, wenn man
seinen Lohnzettel anschaut, feststellen muss, dass einem
gerade einmal die Hälfte des Einkommens bleibt,
({8})
dass jeder Euro, der hinzukommt, zur Hälfte mit Steuern
und Abgaben belegt wird. Das schwächt die Leistungsmotivation in unserem Lande.
Wir müssen aus diesem Grund dringend etwas gegen
die kalte Progression tun. Wir müssen dringend dafür
sorgen, dass die Abgabenbelastung sehr niedriger Einkommen - bei ihnen ist sie das Hauptproblem - sinkt.
Die Grünen haben zu diesem Zweck ein Progressivmodell mit einer Staffelung der Sozialversicherungsbeiträge
vorgeschlagen. Wir wollen damit insbesondere denjenigen, die ein kleines Einkommen haben, helfen, die gestiegenen Energiepreise zu verkraften und ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.
Die Große Koalition muss handeln. Es versteht draußen kein Mensch, dass Sie in einer Größenordnung von
50 Milliarden Euro die Steuern erhöht haben und 2008
trotzdem auf eine Neuverschuldung von immerhin noch
12 Milliarden Euro angewiesen sind. Das müssen Sie
den Leuten einmal erklären. Die Leute fragen sich verständlicherweise, ob die in Berlin alle verrückt geworden sind. Deshalb sagen wir Grünen seit langem: Wir
brauchen strukturelle Veränderungen, wir brauchen
echte Haushaltskonsolidierung. Man muss sich bei den
Ausgaben auf die Zukunft - auf Bildung und Forschung konzentrieren, anstatt Wohltaten mit der Gießkanne zu
verteilen.
Danke schön.
({9})
Das Wort hat der Kollege Olav Gutting für die Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen!
Meine Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein
klares, ein einfaches, ein transparentes Steuerrecht ist
möglich, und es ist notwendig.
({0})
Das sage ich ganz unabhängig vom bayerischen Landtagswahlkampf, der anscheinend schon stattfindet. Wer
behauptet, es gebe beim Steuerrecht keinen Handlungsbedarf, ist mindestens so unseriös wie derjenige, der in
diesem Bereich Luftschlösser verspricht.
Neben einer wünschenswerten Entlastung sollte bei
der ganzen Debatte zunächst einmal eine Vereinfachung
des Steuerrechts im Vordergrund stehen.
({1})
Die bisherigen Versuche, das deutsche Steuerrecht mit
seinen zahlreichen Ausnahmetatbeständen und Sonderregelungen nicht nur für die Bürger, sondern auch für die
Finanzverwaltung verständlich zu machen,
({2})
sind in der Vergangenheit regelmäßig gescheitert.
({3})
Das Steuerrecht wird von Jahr zu Jahr - das galt auch
während Ihrer Regierungszeit - komplizierter und zunehmend intransparent.
({4})
Steuerzufriedenheit und Steuergerechtigkeit sind nur
dann dauerhaft zu wahren, wenn das Steuerrecht durch
Klarheit, Einfachheit und Transparenz geprägt ist.
({5})
Ich bedauere sehr, dass uns die Regierungen der letzten Jahrzehnte durch ihre Verschuldungspolitik kaum
noch finanziellen und damit auch politischen Handlungsspielraum hinterlassen haben. Diese Große Koalition hat nun endlich den Weg zur Haushaltskonsolidierung eingeschlagen. Dieser Kurs muss konsequent
fortgesetzt werden und hat absoluten Vorrang vor Steuersenkungen.
({6})
Das gilt auch für Steuersenkungen bei der Einkommensteuer. Es gilt eben nicht mehr nur der Satz „Die Schulden von heute sind die Steuern von morgen“; wir sind
bereits im Morgen angelangt.
({7})
Die Schulden von gestern sind die Steuern von heute.
Das gilt auch für die Schulden aus Ihrer Regierungszeit.
({8})
Wir können die unumgängliche Haushaltskonsolidierung nur dann erfolgreich zu Ende bringen, wenn wir einerseits die Ausgabenseite betrachten und sparsam mit
dem uns anvertrauten Steuergeld umgehen und andererseits auf der Einnahmeseite keine Verluste aufkommen
lassen.
Machen wir uns nichts vor: Wir müssen damit rechnen, dass die Steuereinnahmen in Zukunft nicht so anwachsen werden, wie sich das einige erhofft haben. Niemand weiß, wie stark sich die Immobilienkrise in den
USA und die steigenden Energiepreise auf die weltweite
Konjunktur und die deutsche Wirtschaft auswirken.
({9})
Wir sollten deshalb vorsichtig damit sein, noch nicht eingenommene Steuergelder für eine große Einkommensteuerreform zu verplanen.
Lassen Sie mich hier aber noch einmal klarstellen: Es
geht mir um die Reihenfolge. Sie muss lauten: erst Haushaltskonsolidierung, dann die Einkommensteuerreform.
({10})
Wenn wir beim Bund bereits so weit wären wie die Bayern und die Baden-Württemberger und keine neuen
Schulden, sondern einen ausgeglichenen Haushalt hätten, dann wäre jetzt die Zeit reif für eine Einkommensteuerreform. Leider haben wir dieses Ziel beim Bund
noch nicht erreicht, aber wir können auch jetzt schon etwas für die Bürger mit niedrigen und mittleren Einkommen tun. Wir haben das vorgemacht, indem wir die
Lohnnebenkosten bereits erheblich gesenkt haben. Diese
Senkung macht sich ganz direkt im Portemonnaie der
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bemerkbar.
({11})
Ein Arbeitnehmer mit einem Durchschnittseinkommen
von 2 800 Euro hat durch die Beitragssenkungen dieser
Großen Koalition seit 2007 am Jahresende 500 Euro
mehr netto vom Brutto in der Tasche.
({12})
Das ist eine spürbare Entlastung.
({13})
Lassen Sie uns daher die Lohnnebenkosten weiter senken. Dadurch bekommen die Menschen mehr netto, werden die Arbeitskosten gesenkt und neue Arbeitsplätze
geschaffen.
Lassen Sie mich zusammenfassen: Ja, wir brauchen
eine Reform der Einkommensteuer.
({14})
Die Missstände müssen beseitigt werden. Hierzu zählt
auch das von der CSU aufgegriffene Problem der kalten
Progression.
({15})
Der richtige Zeitpunkt für die Einkommensteuerreform, durch die den Menschen in Deutschland auch wieder mehr Anreize zur Leistung gegeben werden, ist in
dieser Legislaturperiode zumindest noch nicht gegeben.
Wir als CDU/CSU werden in den nächsten Monaten, wie
verabredet, ein gemeinsames und zukunftsweisendes
Konzept zur Einkommensteuerreform weiterentwickeln. Bis dorthin gilt aber: erst die Konsolidierung,
dann die Reform. Beides sind wir auch und gerade der
jungen Generation in diesem Land schuldig.
({16})
Für die Fraktion Die Linke hat nun der Kollege
Dr. Gregor Gysi das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Kollege Pronold, ich habe mit Interesse zur Kenntnis genommen, dass Sie glauben, dass
Feiertage nie zusammenfallen können.
({0})
Wir haben dieses Jahr schon das Gegenteil erlebt: Der
1. Mai und Himmelfahrt sind zusammengefallen.
({1})
Sie haben auch festgestellt, dass Kollegin Höll behauptet habe, die CSU hätte von uns abgeschrieben und
eine Mogelpackung geliefert. Sie meinten, schlau zu
sein, und sagten, dann hätten wir eine Mogelpackung geschrieben. Da verwechseln Sie etwas. Sie haben überhört, dass Kollege Solms darauf hingewiesen hat, dass
die CSU auch von Herrn Westerwelle abgeschrieben hat.
So wurde aus unserer Packung eine Mogelpackung.
({2})
Die Kollegin Scheel hat gesagt, dass die Kollegen
Beckstein und Huber jetzt reden wie Lafontaine und
Gysi.
({3})
Damit tun Sie zwei von ihnen - ich lasse völlig offen,
wem - Unrecht.
({4})
Eines, was die CSU in Bayern versucht, klappt nicht.
Ich finde den Versuch ganz nett, betrachte ihn aber eher
als Episode. In Bayern tun Sie so, als ob Sie hier zur Opposition gehörten. Aber Sie vergessen dabei immer, zu
erwähnen, dass hier nichts beschlossen wurde, dem Sie
nicht zugestimmt haben. Deshalb müssen die FDP und
wir mit unterschiedlichen Zielen nach Bayern kommen
und versuchen, die Menschen aufzuklären. Das werden
wir so intensiv wie möglich tun.
({5})
In Bayern gibt es die Bayerische Landesbank, die sich
weltweit ohne jede Sachkenntnis an Spekulationen beteiligt hat. Dabei sind Milliardenverluste entstanden, die
jetzt die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler ausgleichen
müssen. Herr Huber wirkt etwas einfältig, wenn er diese
Dinge erklärt. Er meint, er sei der Mann der Zukunft. Ich
kann das nicht erkennen.
({6})
Die Opposition in Bayern ist, finde ich, etwas lahm
aufgestellt. Dort fehlen zwei Parteien: die FDP und die
Linke.
({7})
Zumindest für die Linke hoffe ich, dass sie ins Parlament
hineinkommt.
({8})
Jetzt versucht die CSU, in Bayern die Kurve zu kriegen, macht Oppositionspolitik gegenüber dem Bund,
vergisst zu erwähnen, dass sie dort an der Regierung beteiligt ist und alles mitbeschlossen hat, und macht Vorschläge. Dabei haben Sie abgeschrieben, aber - wie die
CSU eben ist - nicht konsequent. Dadurch haben sich
ein paar Fehler eingemogelt. Trotzdem sage ich Ihnen:
Links wirkt.
Ernsthaft betrachtet haben Sie Themen aufgegriffen,
die wir alle schon im Bundestag zur Abstimmung gestellt haben. Die CSU hat immer dagegen gestimmt, aber
jetzt meinen Sie, dass man diese Themen im Wahlkampf
bedienen muss.
({9})
Diese Art von Unehrlichkeit nimmt uns die Bevölkerung
zunehmend übel. Wenn Sie es vorschlagen, dann realisieren Sie es auch im Bundestag! Machen Sie es nicht
umgekehrt!
({10})
Fangen wir mit der Wiedereinführung der Pendlerpauschale an. Sie sollten dazusagen, dass ohne Ihre Zustimmung die Kürzung der Pendlerpauschale im Bundestag nicht beschlossen worden wäre. Sagen Sie das
wenigstens selbstkritisch.
({11})
Allerdings finde ich die Haltung von CDU und SPD
auch abenteuerlich, Politik auf das Bundesverfassungsgericht zu verlagern. Der Bundesfinanzhof begründet
ausführlich, warum diese Maßnahme grundgesetzwidrig
ist.
({12})
Statt jetzt die Initiative zu ergreifen und den Beschluss
entsprechend zu ändern, wollen Sie noch zwei Jahre abwarten, bis das Bundesverfassungsgericht in der Sache
entschieden hat. Politik wird aber im Bundestag gemacht. Es ist eine Notvariante, dass das Bundesverfassungsgericht darüber entscheiden muss.
({13})
Wir haben vorgeschlagen, die grundgesetzwidrige
Kürzung der Pendlerpauschale zu streichen. Die CSU im
Bundestag hat aber geschlossen dagegen gestimmt.
Auch über das Kindergeld und die Erhöhung des Kinderfreibetrages haben wir im Bundestag abstimmen lassen.
Die CSU hat dagegen gestimmt. Die Anhebung des steuerlichen Grundfreibetrags und die Abschaffung des
Steuerbauches für die durchschnittlich Verdienenden
sind völlig richtige Maßnahmen. Aber was haben Sie im
Bundestag gemacht, als wir das gefordert haben? Sie haben dagegen gestimmt. Das alles erwähnen Sie nicht. So
oft kann ich gar nicht nach Bayern kommen, um den
Menschen zu erklären, gegen welche Vorhaben Sie alle
gestimmt haben.
({14})
Leider sind Sie nicht konsequent. Ich erinnere an den
Steuerbauch. Als SPD und Grüne den Spitzensteuersatz
der Einkommensteuer gesenkt haben, haben sie den
Steuerbauch gebildet. Das heißt, dass die durchschnittlich Verdienenden unverhältnismäßig mehr Steuern zahlen als die Besser- und Bestverdienenden.
({15})
- Aber Sie haben den Bauch zumindest bestätigt, statt
ihn zu beseitigen. Das können Sie nicht leugnen.
Sie haben mit Ihren Vorschlägen dafür gesorgt, dass
Menschen, die bis zu 40 000 Euro verdienen, viel geringere Steuererleichterungen haben als diejenigen, deren
Einkommen über dieser Grenze liegt.
({16})
Wir müssen endlich mehr Gerechtigkeit herstellen. Wir
schlagen vor, dass diejenigen, die mehr als 80 000 Euro
im Jahr verdienen, mehr zahlen müssen, aber die durchschnittlich Verdienenden entlastet werden.
Das Gleiche gilt für die Abgabenpolitik. Beispiel
Rentenversicherung: Solange es Beitragsbemessungsgrenzen gibt, müssen die Bezieher hoher Einkommen
nicht entsprechend mehr zahlen. Deswegen müssen die
Bezieher durchschnittlicher Einkommen mehr zahlen.
Verstehen Sie? So wird das nichts. Wir müssen Gerechtigkeit für die durchschnittlich Verdienenden herstellen.
Sie wollen, dass ich aufhöre, Herr Oswald. Ich nerve
Sie. Ich verstehe Sie ausnahmsweise. Aber ich verspreche Ihnen, dass ich im September ungefähr achtmal nach
Bayern komme und landauf, landab versuchen werde,
die Menschen aufzuklären. Nach der Wahl werden Sie
uns in Ihrem Landtag erleben. Das wird dann spannend.
Danke schön.
({17})
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär
Karl Diller.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Bundesregierung hat sich verpflichtet, einen
finanzpolitischen Dreiklang in dieser Wahlperiode zu
verwirklichen. Er besteht aus Sanieren, Investieren, Reformieren. Sanieren steht ganz bewusst an erster Stelle;
denn nur wenn der Haushalt saniert ist, kann der Staat
zukunftsfähig sein. Gerade die Menschen mit kleinen
und mittleren Einkommen sind auf einen handlungsfähigen Staat angewiesen; denn sie sind darauf angewiesen,
dass Länder und Kommunen ordentliche Schulen und
Kindergärten sowie Universitäten auf hohem Niveau
vorhalten. Dafür sind ausreichende Steuereinnahmen
notwendig.
({0})
Die Bundesregierung hat viel erreicht. Wir sind auf
einem guten Weg, das gesteckte Ziel, 2011 einen ausgeglichenen Bundeshaushalt vorzulegen, tatsächlich zu erreichen. Wir dürfen aber bei den Anstrengungen nicht
lockerlassen. Dass wir noch lange nicht am Ziel sind,
liegt daran, dass nicht immer alles so läuft, wie man es
sich wünscht. Gäbe es in den Vereinigten Staaten eine
Rezession, hätte das sicherlich auch Auswirkungen auf
unsere Steuereinnahmen und unser Wirtschaftswachstum. Hinzu kommt - das spielt bei Ihnen, Herr Oswald,
seltsamerweise nur als Fußnote eine Rolle - die Umsetzung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts zur
steuerlichen Behandlung von Beiträgen zur Krankenund Pflegeversicherung.
({1})
Dieses Urteil vom Anfang dieses Jahres wird einen Einnahmeausfall für Bund, Länder und Gemeinden in Höhe
von 10 Milliarden Euro jährlich verursachen. Dies zeigt,
dass wir bei unseren Sparanstrengungen nicht nachlassen dürfen. Herr Oswald, wer wie Herr Huber in einer
solchen Situation zusätzliche Steuersenkungen in Höhe
von 28 Milliarden Euro fordert und dabei die 10 Milliarden Euro, die das Bundesverfassungsgerichtsurteil an
Einnahmeausfällen verursacht, nur als Fußnote erwähnt,
ohne zu sagen, wie er sich das vorstellt, der muss sich
fragen lassen: Sind die 28 Milliarden Euro inklusive
oder exklusive der 10 Milliarden Euro? Im letzten Fall
wären es 38 Milliarden Euro.
({2})
Dann stünde sein Finanzkonzept erst recht auf ganz
schwachen Füßen.
So leid es mir tut, Herr Oswald, aber noch einmal
ganz deutlich: Das, was hier vorgelegt wurde, läuft darauf hinaus, Steuersenkungen auf Pump zu finanzieren.
({3})
Der Hinweis von Herrn Huber auf steigende Steuereinnahmen in der Zukunft ist richtig. Die Behauptung, daraus
würden neue Finanzierungsspielräume erwachsen, ist aber
falsch. Denn der Blick auf die gestrige Steuerschätzung
und ein Vergleich mit unserer geltenden Finanzplanung
vom letzten Jahr zeigen: Die Steuermehreinnahmen, die
uns auch dieses Jahr wieder prognostiziert werden, sind
schon in der Finanzplanung berücksichtigt. Deswegen
wird es im nächsten Jahr nur 1,1 Milliarden Euro weniger,
2010 400 Millionen Euro mehr und 2011 3,5 Milliarden
Euro mehr geben. Das heißt, die Steuerschätzung bestätigt im Prinzip die Schätzung vom Mai letzten Jahres.
Unser Beschluss über die Verwendung der Steuermehreinnahmen im letzten Jahr trägt nun Früchte.
Wir sind im Jahr 2005 mit einem strukturellen Defizit
zwischen den laufenden Ausgaben und den laufenden
Einnahmen in Höhe von über 51 Milliarden Euro gestartet. Wir sind in diesem Jahr bei nur noch 22,6 Milliarden
Euro, weil wir die steigenden Steuereinnahmen vor allem zur Reduzierung dieser Lücke eingesetzt haben.
({4})
Sie soll im Jahr 2011 möglichst auf null sinken. Hinzu
kommt, dass wir einen großen Teil der Steuermehreinnahmen dazu verwenden, um Investitionen in die Zukunft zu finanzieren, von der Infrastruktur über die
Schulen bis hin zu den Universitäten und der Kinderbetreuung.
Lassen Sie mich noch einen Blick in die bayerische
Finanzplanung werfen und die Frage stellen, wie es dort
aussieht.
({5})
Unterstellt, dass der bayerische Finanzplan in der mittelfristigen Finanzplanung ebenfalls auf dem Jahr der Steuerschätzung 2007 beruht, dann sind alle Steuermehreinnahmen in dem Staatshaushalt eingebracht. Der Haushalt
weist für jedes Jahr - Donnerwetter! Anerkennung! - einen Überschuss von 200 Millionen Euro aus. Kompliment!
({6})
Aber, Herr Oswald, allein die Realisierung Ihrer Vorstellung bezüglich der Änderung der Entfernungspauschale
würde Ihr Bundesland mit 230 Millionen Euro belasten.
Damit wäre der Überschuss, den Sie in die Tilgung stecken wollen, weg. Sie könnten nicht mehr tilgen, sondern Sie müssten zur Finanzierung der Neuregelung der
Entfernungspauschale Kredite aufnehmen. Das ist die
bayerische Situation.
Wenn wir die Diskussionen in der Föderalismuskommission II mit den Vorstellungen der CDU betrachten,
die eine möglichst scharfe Regelung für eine Schuldenbremse fordert, dann ist davon auszugehen, dass der
CSU-Vorschlag wahrscheinlich gar nicht mehr diskutiert
werden würde, weil er nicht zu realisieren wäre.
({7})
Wir haben auch zu bedenken, dass gegenüber den Ansätzen der Finanzplanung erstmals das Jahr 2012 erfasst
ist. Im Jahr 2012 brauchen wir 8,5 Milliarden Euro zusätzlich als Zuschuss an die gesetzlichen Krankenversicherungen. Wir haben das Problem, dass wir die Tarifabschlüsse umsetzen müssen. Die sind nicht in der
Finanzplanung enthalten. Allein beim Bund ergibt sich
eine Kostenbelastung von jährlich über 1,5 Milliarden
Euro. Wir haben darüber hinaus gemeinsame Zukunftsinvestitionen beschlossen. Auch die sind noch nicht in
der Finanzplanung enthalten. Deswegen haben wir noch
große Anstrengungen zur Sanierung unseres Haushaltes
zu machen. Ich danke ausdrücklich dem Kollegen Olav
Gutting für seine am 10. April für die CDU/CSU-Fraktion geäußerten Worte - ich zitiere -:
Vor einer Einkommensteuerreform, die diesen Namen auch wirklich verdient und die eine runde Sache ist, müssen deshalb die Staatsfinanzen saniert
werden.
Unter Finanzminister Hans Eichel wurde in diesem
Jahrzehnt die Lohn- und Einkommensteuer stark verringert, der Grundfreibetrag wurde stark erhöht. Der Eingangssteuersatz und der Spitzensteuersatz wurden jeweils um 11 Prozentpunkte gesenkt. Noch nie in der
Geschichte der Bundesrepublik Deutschland war der
Eingangssteuersatz niedriger als diese 15 Prozent. Auch
im internationalen Vergleich zeigt sich, dass Deutschland bei der Steuerbelastung nach OECD-Maßstäben mit
22 Prozent eine der geringsten Steuerquoten überhaupt
hat. Erst durch die Einbeziehung der Sozialversicherungsbeiträge verschlechtert sich unsere Position. Deshalb ist eine Entlastung bei den Sozialversicherungsbeiträgen notwendiger;
({8})
denn die Sozialversicherungsbeiträge stellen gerade für
Bezieher niedriger und mittlerer Einkommen eine größere Belastung dar als die Einkommensteuer. Dort muss
gehandelt werden.
Nun noch ein Wort zu den Linken, Herr Gysi. Finanzpolitisch völlig von der Rolle ist die Fraktion Die Linke.
In der vorletzten Sitzungswoche debattierten wir hier
über die Eigenmittelausstattung der EU. Ihre Sprecher
forderten im Europaausschuss und hier im Plenum, dass
man, damit jeder Arme in Europa von der EU 50 Euro
pro Monat bekommt, die Abführung an die EU von
1 Prozentpunkt des Bruttoinlandsprodukts, in Steuern
ausgedrückt, auf 3 Prozentpunkte anheben soll. Das ist
in Geld eine Forderung von 48 Milliarden Euro pro Jahr.
Ihre Kollegen schweigen sich darüber aus, wie das zu finanzieren ist.
({9})
Sie haben in der gleichen Sitzung beim nächsten Tagesordnungspunkt über Ihre steuerpolitische Konzeption
- Frau Dr. Höll war das - gesprochen. Das würde einen
weiteren Einnahmeausfall von 13 Milliarden bedeuten.
Also, innerhalb einer Stunde haben Sie 48 plus
13 Milliarden Euro gefordert, ohne zu sagen, wie diese
finanziert werden.
({10})
Gestern haben Sie den Vorschlag gemacht, den Rentnerinnen und Rentnern nicht 1 Prozent, sondern 4 Prozent Rentenerhöhung zu gewähren.
({11})
Das würde noch einmal 17 Milliarden Euro bedeuten.
Wer 78 Milliarden Euro in nur drei Anträgen derart vorstellt, ohne den Leuten zu sagen, wie es finanziert werden soll ({12})
die Finanzierung würde eine um 10 Prozentpunkte höhere Mehrwertsteuer bedeuten, also eine Steigerung von
19 auf 29 Prozent -,
({13})
der hat überhaupt kein Recht, mit dem Finger auf die
Kolleginnen und Kollegen von der CSU zu zeigen.
({14})
Das Wort hat der Kollege Otto Bernhardt für die Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die CSU hat als erste der drei Regierungsparteien eine große Einkommensteuerreform vorgelegt. Sie
hat auch die größte Kompetenz dafür. Denn Bayern
({0})
ist nun einmal das Land, das als erstes einen ausgeglichenen Haushalt vorlegen konnte und inzwischen seine
Schulden zurückzahlt.
({1})
Die beiden anderen Regierungsparteien werden nachziehen. Die Sozialdemokraten haben angekündigt, bereits Ende dieses Monats eine Einkommensteuerreform
vorzulegen;
({2})
wir sind gespannt, was drinsteht. Wir haben angekündigt, dass wir Anfang kommenden Jahres eine Reform
vorlegen. Ich sage schon an dieser Stelle: Es wird nicht
sehr viele Unterschiede zum Programm der CSU geben.
Denn es ist ein gutes Programm, das von der CSU vorgelegt wurde.
({3})
Die Diskussion konzentriert sich im Wesentlichen auf
vier Punkte. Der eine Punkt ist der Grundfreibetrag. Ob
wir die 8 000 Euro schaffen, hängt davon ab, was die
Finanzen hergeben. Allerdings müssen wir beim Grundfreibetrag ein Stück nach oben.
({4})
Der zweite Punkt, der leider sehr teuer wird, ist die
Abflachung des Tarifs. Allerdings ist es das Thema, das
die Menschen bewegt und das letztlich zu stiller Progression führt, also dazu, dass mancher zu wenig netto im
Portemonnaie hat.
Der dritte Punkt ist der Eingangssteuersatz. Den Ansatz der CSU in Richtung 12 Prozent wird wahrscheinlich auch unser gemeinsames Programm enthalten, und
hinsichtlich des Spitzensteuersatzes gibt es zurzeit weder
bei der CSU noch bei der CDU die Diskussion, diesen zu
senken. Hier geht es um eine andere Frage.
({5})
- Lesen Sie einmal das Programm der CSU und die Vorstellungen, die ich dazu für die CDU/CSU-Fraktion entwickelt habe. Hier geht es darum, den Betrag, bei dem
der Spitzensteuersatz beginnt, nach oben zu schieben.
Alle, die sich mit Steuerfragen beschäftigen, wissen: Als
der Spitzensteuersatz in dieser Form eingeführt wurde,
gab es eine viel größere Differenz zwischen dem durchschnittlichen Einkommen und dem, das dem Spitzensteuersatz unterliegt. Wir haben heute die Situation, dass
hochqualifizierte Facharbeiter hier in eine ziemlich bedrohliche Nähe kommen.
Das sind vier Mosaiksteine, in denen wir uns einig
sind. Ich habe heute gehört, dass sie von den Linken
oder von der FDP abgeschrieben sein sollen. Okay. Ist
egal. Vielleicht finden wir dann eine große Mehrheit hier
im Hause.
Es gibt natürlich noch zwei andere Punkte, hinsichtlich deren ich mir sicher bin, dass wir die Kraft haben,
sie aufzunehmen. Wir müssen allerdings auch über das
Thema des Solidaritätszuschlags sprechen.
({6})
Natürlich können wir auf die 13 Milliarden Euro nicht in
einem Zug verzichten. Aber dass das eine Dauereinrichtung wird, hat niemand geglaubt, und das war nicht gemeint.
Ich nenne als sechsten Mosaikstein, der mir persönlich besonders am Herzen liegt: Wir müssen mittelfristig
- damit kein falscher Eindruck entsteht - versuchen, die
Erbschaftsteuer in die Einkommensteuer zu integrieren.
Je mehr man sich mit der Erbschaftsteuer beschäftigt,
desto mehr erkennt man, dass es keine gerechte einfache
Erbschaftsteuer gibt. Dennoch keine Sorge: Wir werden
den vorliegenden Entwurf mit den im Wesentlichen ausgehandelten und den letzten noch offenen Punkten natürlich in dieser Legislaturperiode verabschieden, aber wir
dürfen auch in die nächste gucken. Ich sage sehr deutlich: Die in dieser Legislaturperiode von der Großen Koalition gemeinsam durchgeführte Unternehmensteuerreform, dieses gemeinsame Reformwerk, ist einer der
Gründe für die positive Entwicklung der Wirtschaft. Wir
werden in dieser Legislaturperiode auch eine vernünftige
Erbschaftsteuer verabschieden.
({7})
Im Mittelpunkt der Überlegungen für die nächste Legislaturperiode steht aber mit Sicherheit eine große Einkommensteuerreform. Der Tatbestand, dass heute von
100 Euro brutto im Durchschnitt 40 Euro netto übrig
bleiben, kann so nicht hingenommen werden. Natürlich
weiß ich, dass dies nicht nur ein Thema der Steuerpolitik
ist, sondern dass auch die Sozialabgaben daran einen
wesentlichen Anteil haben. Es wird aber auf alle Fälle
eine Einkommensteuerreform geben, und die CSU hat
wichtige Impulse für diese notwendige Maßnahme gegeben.
Danke schön.
({8})
Für die SPD-Fraktion spricht nun die Kollegin
Gabriele Frechen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Eigentlich müssten wir den Linken ja dankbar
sein, dass sie diese Aktuelle Stunde beantragt haben. Es
war doch richtig amüsant: Frau Höll wirft dem Ausschussvorsitzenden Oswald vor, dass er ihre Mogelpackung als Wahlversprechen verkauft.
({0})
Herr Dr. Solms beschwert sich, dass er nicht genannt
wurde, obwohl er ja einen Beitrag zur Überschrift geleistet hat. Als Florian Pronold die Genese der Abschaffung
der Entfernungspauschale darlegte, hat das ganze Haus,
außer der SPD natürlich, völlig entrüstet aufgeschrien.
({1})
Frau Scheel möchte auch noch ein wenig beteiligt sein:
Statt Sparen und Verzicht auf Steuersenkung sagt Frau
Scheel, wir müssten mehr ausgeben und mehr investieren, also rauf mit den Schulden und runter mit den Steuern.
({2})
Das war zum Teil schon kabarettistisch.
Herrn Oswald bewundere ich dafür, mit wie viel
Charme er das vorgetragen hat, was die CSU wo auch
immer hergeholt hat. À la bonheur! Bei Otto Bernhardt
hatte ich immer Angst, er müsste anfangen zu lachen, als
er das Ganze auch noch als große Einkommensteuerreform verkaufen wollte. Er hat es geschafft, seine Rede
ohne Lachen über die Bühne zu bringen.
({3})
Der schönste Satz in dem Papier der CSU lautet: Die
CSU lehnt Steuersenkungen auf Pump ab. - Das ist ja
einhellige Meinung innerhalb der Großen Koalition. Das
können wir unterstützen.
({4})
Der CDU-Haushaltsexperte, Herr Kampeter, hat dazu
ganz klar gesagt, er fordere die Schwesterpartei zur Zusammenarbeit auf und erteile Entlastungen vor der Bundestagswahl im kommenden Jahr eine klare Absage.
({5})
Auch Peer Steinbrück bekennt sich zu der Aussage,
keine Steuersenkung auf Pump durchzuführen. Er sagte
dem Handelsblatt:
Wer zum jetzigen Zeitpunkt Steuersenkungen fordert, setzt ohne rot zu werden die Politik fort, die in
der Vergangenheit zu dem Schuldenberg von
1500 Mrd. Euro in Deutschland geführt hat.
({6})
Ein bisschen wundere ich mich über den Zeitpunkt.
Es wird nun ausgerechnet wenige Monate vor der bayerischen Landtagswahl, in deren Vorfeld ja das Problem
auf der CSU lastet, dass der neuen Doppelspitze trotz ihrer vier Füße die Schuhe des Vorgängers immer noch etwas zu groß sind,
({7})
dieses Konzept vorgelegt, das ab 2012 Steuersenkungen
verspricht.
Das Konzept weicht ja ein wenig vom Vorschlag der
Linken zur Erhöhung des Grundfreibetrages ab. Laut
Antrag der Linken sollte der Grundfreibetrag um
28 Euro pro Monat steigen, laut Konzept der CSU soll er
um 28 Euro und 34 Cent steigen. Das sind natürlich ganz
gravierende Unterschiede.
Auf der Homepage der CSU habe ich folgende Aussagen zur Erläuterung des Konzeptes gefunden:
Wesentlicher Bestandteil des Steuerkonzepts sei ein
Grundfreibetrag von 8000 Euro für jedes Kind ab
2012. Für eine fünfköpfige Familie sei dann ein
Jahreseinkommen von 40 000 Euro steuerfrei. Damit orientiere sich die CSU an der kinderfreundlichen Steuerpolitik Frankreichs.
Diese fünfköpfige Familie bezahlt in Deutschland nach
Verrechnung des Kindergelds auch heute keine Steuern.
Und über die Kinderfreundlichkeit der Steuerpolitik
Frankreichs sollten Sie noch einmal ein bisschen nachlesen. Die Welt hat dazu geschrieben:
Gezahlt wird häufig nur, wenn die Eltern arbeiten.
Die Höhe der Förderung pro Kind steigt mit der
Zahl der Kinder an. Und anstatt das Kinderkriegen
zu unterstützen, konzentriert sich der Staat auf die
Vereinbarkeit von Familie und Beruf.
Das ist hundertprozentig auch die Meinung der SPDFraktion. Deshalb werden wir auch in diese Richtung
weitergehen.
({8})
Wer vorgibt, Menschen helfen zu wollen, und sich
nicht zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie bekennt,
der schadet nicht nur den Menschen, die heute berufstätig sein können, sondern auch denen, die irgendwann
später einmal Rente haben wollen. Wer dann noch Altersarmut beklagt und sich gegen die Vereinbarkeit von
Beruf und Familie und gegen Mindestlöhne ausspricht,
ist ein politischer Hütchenspieler, zumindest in meinen
Augen.
({9})
Ich habe noch einen letzten Satz gefunden, der mir
ebenfalls sehr gut gefällt:
Unser Steuerkonzept ist ohne neue Schulden solide
finanzierbar.
Auch dieser Satz stammt aus dem CSU-Konzept. Wir in
der Großen Koalition versuchen, bis 2011 einen ausgeglichenen Haushalt hinzubekommen. Noch machen wir
jedes Jahr neue Schulden, und noch sind wir von Tilgung
weit entfernt. Ihr Programm - ich sage das in aller
Freundschaft, Herr Oswald - kostet bis 2012 63 Milliarden Euro. Man muss nämlich 2009, 2010, 2011 und
2012 addieren; es gilt ja nicht nur für ein Jahr.
({10})
Als ob Sie das ohne neue Schulden hinbekommen könnten! Das ist wirklich eine Beleidigung für jedes bayerische Milchmädchen.
({11})
Das Wort hat der Kollege Albert Rupprecht für die
Unionsfraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Einige der Reden haben sich stark mit der Vergangenheit
beschäftigt.
({0})
Herr Gysi, Herr Solms, Sie wissen wie wir alle, dass wir
2002 eine vollkommen andere Situation hatten. Wir hatten im Haushalt ein strukturelles Defizit von 60 Milliarden Euro und eine Arbeitslosigkeit von 5 Millionen. Sie
wissen, dass uns das gezwungen hat, Maßnahmen zu ergreifen, die wir nicht ergreifen wollten, die aber zwingend notwendig waren.
Herr Gysi, wenn Sie das hören wollen - ich sage es
gerne an dieser Stelle -: Es war in der Tat ein Fehler, die
Pendlerpauschale abzuschaffen. Ich glaube, es gehört
zur politischen Kultur, zugeben zu können, dass man einen Fehler begangen hat.
({1})
Bei der heutigen Debatte geht es aber um weit mehr
als um Steuerfragen. Es geht um die erstmalig eingetretene Situation im Nachkriegsdeutschland, dass die Leistungsträger der Gesellschaft trotz Wirtschaftswachstum
ärmer werden. Früher hatten die Fleißigen in der Gesellschaft - die Arbeitnehmer, die Mittelständler - das Vertrauen in unser Land, dass, wer anpackt, wer fleißig ist,
auch die Möglichkeit hat, etwas aufzubauen. Das Motto
in Deutschland war: Wenn ich fleißig bin, besteht die
Chance, dass meine Kinder es einmal besser haben als
ich.
Heute erleben die Leistungsträger in Deutschland die
Situation, dass die Lohnerhöhungen durch Preissteigerungen aufgezehrt werden und dass die kalte Progression
den Steuerzahlern 15 Milliarden Euro jährlich aus den
Taschen zieht, sodass sie unterm Strich real Einkommensverluste erleiden. Deswegen zweifeln die Menschen daran, dass Leistung sich lohnt. Dieser Vertrauensverlust ist
in der Tat hochgefährlich für das Gemeinwesen als solches.
({2})
Es geht schlichtweg darum, ob es künftig noch eine
ausgeprägt bürgerliche Gesellschaft und Mittelschicht
gibt, ob es eine bürgerliche Basis gibt. Ohne Mittelschicht und ohne Leistungsträger wird Deutschland wirtschaftlich, kulturell, aber auch sozial Schaden leiden.
Der Staat hat den Leistungsträgern in den vergangenen
Jahren einen erheblichen Beitrag zur Sanierung unseres
Landes abverlangt: Abbau der Arbeitslosigkeit, Abbau
der Staatsverschuldung, Steigerung des Wirtschaftswachstums; ein Kraftakt, der wesentlich vom Mittelstand geschultert wurde.
Jetzt geht es im nächsten Schritt in der Tat darum,
dass sich der Staat selbst diszipliniert und den Bürgern
wieder mehr Geld in der Tasche lässt.
({3})
Es geht darum, dass die Bürger am Aufschwung teilhaben. Mehr netto vom Brutto ist das Gebot der Stunde.
Deswegen schlagen wir von der CSU ein Steuerprogramm mit einer Entlastung von 28 Milliarden Euro bei
der Einkommensteuer vor. Diese Entlastung gibt den Arbeitnehmern, den Mittelständlern und den Familien
mehr Spielraum.
Lassen Sie mich auf zwei Punkte, die in den vergangenen Tagen und auch heute diskutiert wurden, eingehen.
Erster Punkt. Herr Staatssekretär, es stellt sich natürlich die Frage, ob wir mit unserem Konzept im Jahre
2011 einen ausgeglichenen Haushalt erreichen werden.
Zunächst einmal ist festzustellen, dass das Konzept drei
Schritte beinhaltet. Bis 2011 vollziehen wir nicht alle
drei Schritte, sondern nur die ersten beiden. Diese beiden
Schritte bedeuten für den Bundeshaushalt nicht eine Belastung von 28 Milliarden Euro, sondern nur eine Belastung von 9 Milliarden Euro. Dies relativiert einiges.
Zudem wird Deutschland nach den vorliegenden
Wachstumsprognosen im Jahr 2012 90 bis 100 Milliarden Euro mehr Steuern einnehmen als 2008. Wir wollen,
dass der Staat zumindest auf ein Drittel davon zugunsten
der Steuerzahler verzichtet. Herr Staatssekretär, der
Haushalt 2012 ist noch nicht verabschiedet. Jedes Jahr
muss politisch diskutiert werden, wo die Schwerpunkte
zu setzen sind. Es würde aber an den Nerv der Gesellschaft gehen, wenn die Leistungsträger die Reformen
nicht mehr mittragen, weil sie merken, dass sie am Aufschwung nicht teilhaben. Es ist an der Zeit, zu hinterfragen, ob die Gewichtung bei den bisher getroffenen Entscheidungen verändert werden muss. Ich wiederhole:
Der Haushalt des Jahres 2012 wird nicht im Jahr 2008
verabschiedet. Was hätten wir für ein parlamentarisches
Albert Rupprecht ({4})
Selbstverständnis, wenn wir nicht Gewichtungen verschieben und Veränderungen vornehmen könnten?
({5})
Wir wollen, wie gesagt, dass der Staat auf ein Drittel
der Mehreinnahmen zugunsten der Steuerzahler verzichtet - nicht mehr und nicht weniger. Der Staat hat dann
immer noch 72 Milliarden Euro der Mehreinnahmen für
zusätzliche öffentliche Ausgaben zur Verfügung.
({6})
Das ist eine gesellschaftspolitische Frage; denn es kann
nicht sein, dass der Staat 100 Prozent der Mehreinnahmen an sich reißt. Wer die steuerliche Entlastung in
Gänze ablehnt und der Meinung ist, dass 100 Prozent der
Steuermehreinnahmen dem Staat zugute kommen müssten, akzeptiert im Umkehrschluss den Weg in den hundertprozentigen Steuerstaat. Ich bin der Ansicht, das hat
mit einer freien Gesellschaft nichts zu tun; das kann
nicht unser politisches Leitbild sein.
Zweiter Punkt. Manche sagen, Entlastung ja, aber
ausschließlich über eine Senkung der Lohnnebenkosten.
Wir haben die Lohnnebenkosten in den vergangenen
Jahren um 23 Milliarden Euro gesenkt. Aber auch da
gibt es Grenzen. Eine Senkung der Lohnnebenkosten
heißt umgekehrt auch weniger Geld für das Gesundheitswesen, Krankenhäuser, Pflegeheime und Arbeitslose.
({7})
Kollege Rupprecht, achten Sie bitte auf Ihre Redezeit.
Sie können in den sozialen Sicherungen nicht unendlich mehr sparen und den Druck weiter erhöhen.
({0})
Ich komme zum Schluss. Eine Steuerentlastung um
28 Milliarden Euro für die Bürger ist bei einem vernünftigen wirtschaftlichen Wachstum mit einem ausgeglichenen Haushalt 2011 vereinbar. Mehr netto vom Brutto ist
zwingend notwendig, damit die Leistungsträger im Land
motiviert anpacken und Vertrauen in unser Gemeinwesen zurückgewinnen.
Herzlichen Dank.
({1})
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 28. Mai 2008, 13 Uhr, ein.
Ich wünsche Ihnen schöne Pfingstfeiertage.
Die Sitzung ist geschlossen