Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 5/9/2008

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Die Sitzung ist eröffnet. Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie sehr herzlich zu unseren heutigen Beratun- gen. Wir können unmittelbar in die Tagesordnung ein- steigen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 21 a und 21 b auf: a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Migrationsbericht 2006 - Drucksache 16/7705 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({0}) Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für Kultur und Medien b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Erfahrungsbericht der Bundesregierung zu Durchführung und Finanzierung der Integrationskurse nach § 43 Abs. 5 des Aufenthaltsgesetzes - Drucksache 16/6043 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({1}) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Sie sind damit einverstanden, wie ich sehe. Dann können wir so verfahren. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort Herrn Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble. ({2})

Dr. Wolfgang Schäuble (Minister:in)

Politiker ID: 11001938

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Phänomen der weltweiten Migration - Ursache und Folge zunehmender Globalisierung zugleich - tritt zunehmend an die Spitze auf der globalen politischen Agenda. Ohne umfassende Analyse der Migration würden wir mit unseren Konzepten für Zuwanderung, Flüchtlingsschutz und Integration nur schwer vorankommen. Deswegen brauchen wir aussagekräftige Statistiken und Berichte zur Entwicklung des Migrationsgeschehens. Mit dem Migrationsbericht 2006 legen wir einen umfassenden Überblick über die Entwicklung der Zuund Abwanderung, über die rechtlichen Hintergründe der Zuwanderung und über die Struktur der ausländischen Bevölkerung und der Bevölkerung mit Migrationshintergrund vor. Ich will ein paar Schlaglichter dieses Berichts kurz nennen: Der Wanderungssaldo 2006 von Deutschen und Ausländern war mit einem Plus von 23 000 Zuwanderern auf dem niedrigsten Stand seit 1984. Wir hatten 662 000 Zuzüge und 639 000 Fortzüge. Bei den Ausländern gab es einen Wanderungsüberschuss von rund 75 000 Personen. Bei den Deutschen gab es unter dem Strich eine Abwanderung von 59 000 Personen. Hauptziel für deutsche Auswanderer - übrigens auch Hauptherkunftsland von deutschen Rückkehrern - waren die Vereinigten Staaten von Amerika. Im Zeitraum seit Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes am 1. Januar 2005 bis Ende 2006 erhielten - auch diese Zahl ist bemerkenswert - 1 123 hochqualifizierte Ausländer eine Niederlassungserlaubnis nach § 19 Aufenthaltsgesetz. Es gab im Jahr 2006 gegenüber 2005 eine leichte Steigerung bei der Ersteinreise von Hochqualifizierten. Der Anteil der ausländischen Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung liegt weiterhin bei rund 8,8 Prozent. Rund ein Viertel aller in Deutschland lebenden Ausländer - es sind genau 25,6 Prozent - sind türkische Staatsangehörige. Das ist damit die größte Gruppe ausländischer Zuwanderer in Deutschland. Knapp ein weiteres Viertel sind übrigens Bürger der Europäischen Union: 24,4 Prozent. Redetext Noch eine Zahl: Im Jahr 2006 wurden 125 000 Personen eingebürgert, seit Inkrafttreten des neuen Staatsangehörigkeitsrechts im Jahre 2000 insgesamt rund 1 Million. Eine letzte Zahl: Im Jahr 2006 sind knapp 100 000 Personen mit einer dauerhaften Bleibeperspektive aus Staaten außerhalb der Europäischen Union zu uns gekommen, davon 56 302 im Wege des Familiennachzugs, 7 747 Spätaussiedler, 29 466 zum Zwecke der Beschäftigung usw. Sie sehen an diesen Zahlen, dass sich bei Menschen mit einer dauerhaften Bleibeperspektive die Notwendigkeit der Integration stellt; denn bei Zuwanderung mit der Perspektive, dauerhaft zu bleiben, ist es entscheidend, dass die Integration gelingt. Die Zahlen, von denen der Migrationsbericht viele enthält - ein paar habe ich genannt -, belegen - deswegen habe ich sie so ausgewählt -, dass zur Dramatisierung in mancherlei Richtung nicht zu viel Anlass besteht. Durch die Zahlen kann man die Dinge vielmehr wieder auf den realen Kern zurückführen. Wir wissen, dass die Defizite, die wir im Bereich der Integration haben, nicht durch die aktuellen Zuwanderungszahlen begründet sind. Wir wissen, dass diese Defizite vor allen Dingen bei Menschen der zweiten und dritten Generation bestehen, also bei Menschen, deren Eltern oder Großeltern vor Jahrzehnten zugewandert sind. Deswegen war es richtig - ich will daran erinnern -, dass die Bundeskanzlerin in ihrer Regierungserklärung zu Beginn dieser Legislaturperiode die Bekämpfung der Integrationsdefizite innerhalb der zweiten und dritten Generation zu einem Schwerpunkt der Politik in dieser Legislaturperiode erklärt hat. Die vielfältigen Bemühungen von Bund, Ländern, Kommunen und Zivilgesellschaft - Sport und vieles andere mehr -, die es diesbezüglich gibt, werden durch die Integrationsbeauftragte, die Kollegin Böhmer, koordiniert. Ich will darauf hinweisen, dass diese Bemühungen auch im Rahmen des Integrationsgipfels Schritt für Schritt vorangebracht werden. Ich glaube, dass wir schon ein gutes Stück vorangekommen sind. ({0}) Die Bemühungen des Bundes sind nur ein Teil der Integrationsmaßnahmen; das muss man immer berücksichtigen. Die wichtigste integrationspolitische Einzelmaßnahme des Bundes ist der Integrationskurs. Im Jahr 2008 haben wir dafür Haushaltsmittel in Höhe von insgesamt rund 155 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Die Integrationskurse sollen dazu beitragen, dass Ausländer die Chancen, die unser Land allen bietet, besser nutzen können. Die Kurse sollen die gleiche Teilhabe dieser Menschen an unserer Gesellschaft stärken. Die Integrationskurse sind ein Erfolg. Seit 2005 haben über 27 000 Kurse begonnen. 185 000 Teilnehmer haben den Kurs bereits abgeschlossen. Wir evaluieren von Anfang an und beständig. Aus diesen Studien ziehen wir immer wieder Konsequenzen im Sinne von Verbesserungen: Wir haben die Stundenkontingente flexibler gestaltet, das Verfahren entbürokratisiert und finanzielle Anreize geschaffen; so wird beispielsweise nach erfolgreicher Teilnahme der Kostenbeitrag teilweise zurückerstattet. Das ist ein fortlaufender Prozess, wir kommen damit voran. Ich will eine Bemerkung zur Sprache machen. Das Beherrschen der deutschen Sprache ist zwar keine hinreichende Voraussetzung für gelingende Integration, aber es ist eine notwendige, damit Bildungschancen und Chancen auf dem Arbeitsmarkt genutzt werden können. Chancen im Bildungssystem und auf dem Arbeitsmarkt sind natürlich die eigentliche Voraussetzung für gelingende Integration. Sprachkenntnisse sind aber unerlässlich, damit diese Chancen genutzt werden können; deswegen ist das so wichtig. Wir haben beschlossen, dass auch die Eltern der Kinder, insbesondere die Mütter, die deutsche Sprache lernen sollen. Das ist notwendig - das sagen insbesondere die Lehrer der Schulen, die davon besonders betroffen sind -, damit wir nicht in jeder Generation wieder von vorne anfangen müssen. Deswegen haben wir im Zusammenhang mit dem Familiennachzug gesagt: Es ist besser, wenn bei Einreise zumindest ein Minimum an deutschen Sprachkenntnissen vorhanden ist. ({1}) Wir kommen damit voran. Ich habe mir das in der Türkei im vergangenen Jahr genau angeschaut. Die anfänglich befürchteten Schwierigkeiten sind längst weitgehend verschwunden. Es funktioniert und wirkt sich in der Praxis Schritt für Schritt aus. Das bringt mich zu einer anderen Bemerkung: Integration kann nur gelingen, wenn sie als Prozess der Gegenseitigkeit verstanden wird. Wir brauchen Fördern und Fordern. Wir brauchen die Bereitschaft der Aufnahmegesellschaft zur Offenheit, die Bereitschaft der Aufnahmegesellschaft, Zuwanderer aufzunehmen. Wir brauchen aber auch die Bereitschaft der Zuwanderer bzw. der Zugewanderten, in diesem Land heimisch werden zu wollen. Auch das ist unerlässlich; das muss man sagen. ({2}) Wir wollen nicht - dazu ist Deutschland viel zu dicht besiedelt und Europa viel zu kleinräumig und kleinteilig Parallelgesellschaften entstehen lassen. Das ist das Gegenteil von gelingender Integration. Das ist keine gute Voraussetzung dafür, dass Toleranz, Offenheit und Friedlichkeit in unserem Land bewahrt werden. Wir wollen keine Parallelgesellschaften, sondern Integration; darauf müssen wir setzen. ({3}) Angesichts von Erfahrungen mit Medien, die wir etwa im Zusammenhang mit der Brandkatastrophe in Ludwigshafen gemacht haben, will ich noch einmal sagen: Es gibt auch eine Verantwortung der Medien. Verzerrende Mediendarstellungen solcher Ereignisse, beispielsweise auch in türkischen Zeitungen, dienen nicht der Integration; sie fördern das Gegenteil. Jeder muss seine Verantwortung wahrnehmen, der Staat alleine kann es nicht. ({4}) Deswegen will ich im Hinblick auf die viel diskutierte, vielleicht auch ein bisschen missverständliche Rede von Premierminister Erdogan eine Bemerkung machen; Wahlkampfreden haben es gelegentlich an sich, dass sie im politischen Streit ein bisschen aufgeladen werden. ({5}) - Ich sagte ja deswegen gerade: „Hängt es ein bisschen tiefer!“ ({6}) - Sage ich doch. Ich habe nichts Gegenteiliges gesagt. Ich wollte nur eines dazu sagen: In dieser Rede und der Debatte dazu ist klargeworden, dass es wichtig ist, sich dazu zu bekennen, dass wir den Menschen nicht auf Dauer die Entscheidung ersparen können, ob sie ihre bisherige Staatsangehörigkeit behalten oder eine neue beantragen wollen. Das ist für Zuwanderer, die auf Dauer zuwandern, eine schwere Entscheidung. Sie fällt Menschen niemals leicht; aber sie kann ihnen nicht erspart werden. Wenn man die Entscheidung verweigert, dann erfüllt man nicht die Grundvoraussetzung, die notwendig ist, damit Integration, Anpassung und Heimischwerden in der neuen Heimat gelingen. Es war daher richtig, dass wir die Einführung der regelmäßigen doppelten Staatsangehörigkeit verhindert haben und jetzt - das habe ich mit der türkischen Regierung verabredet - mit der türkischen Regierung zusammenarbeiten, damit Probleme im Alltag und im konkreten Verwaltungsvollzug bei der Umsetzung der Optionslösung verhindert werden können. Ich will in aller Kürze noch eine Bemerkung zu einem weiteren Thema machen. Ein spezieller Aspekt von Migration und Integration ist die Tatsache, dass der Islam ein Teil unseres Landes geworden ist. Dem tragen wir mit der Islamkonferenz Rechnung, in deren Rahmen wir versuchen, die Thematik aufzuarbeiten. Darüber haben wir vielfältig diskutiert und werden es weiter tun müssen. Ich finde, dass wir mit dem Prozess, den wir durch diesen Dialog zwischen Bund, Ländern und Kommunen sowie der vielfältigen pluralen Gemeinschaft von Muslimen in unserem Lande auf den Weg gebracht haben, insgesamt gut vorangekommen sind. Das wird im Übrigen insbesondere durch den Streit, der dort vielfältig stattfindet, sichtbar. Denn Streit und plurale Debatten sind Voraussetzung für offene demokratische Prozesse. Deswegen stört mich dieser Streit nicht. Ich sehe es vielmehr als einen Fortschritt, dass die Vielfalt von muslimischem Leben in unserem Lande Muslimen wie der Mehrheitsgesellschaft durch diese vielfältigen Debatten sichtbar wird. Auch wenn wir noch nicht zu einem Ergebnis gekommen sind, weiß ich: Das ist genau der richtige Weg, damit Integration gelingt. Im Übrigen haben wir eine Reihe von wichtigen Vereinbarungen zustande gebracht. Die Voraussetzungen für die Erteilung von Religionsunterricht als Bekenntnisunterricht im Sinne von Art. 7 des Grundgesetzes, wenn er denn gewünscht wird, wurden in der Partnerschaft geschaffen. Wir haben gemeinsame Erklärungen über Grundrechte, Grundwerte und Grundverständnisse unserer Verfassung mit allen Vertretern in der Islamkonferenz verfasst; unter anderem auch dazu, dass islamistische Bestrebungen, das heißt, der Missbrauch der Religion zu Zwecken gewalttätiger Auseinandersetzungen, zu bekämpfen sind. Wir sind also insgesamt auf einem guten Weg vorangekommen. Ich will eine letzte Bemerkung machen, weil auch dies in den Zusammenhang von Migration und Integration gehört. In einem Europa der offenen Grenzen können wir Migrationspolitik nicht mehr alleine national steuern. Deswegen brauchen wir eine gemeinsame europäische Politik zur Bekämpfung illegaler Migration. Wir haben gemeinsame Außengrenzen, wir brauchen eine gemeinsame Flüchtlingspolitik. Wir bleiben dabei, dass die Frage der Steuerung legaler Migration in den Arbeitsmarkt Sache der Mitgliedstaaten bleibt, die die Kompetenz für den Arbeitsmarkt haben. Natürlich gibt es in der Partnerschaft mit Herkunfts- und Transitstaaten, die man braucht, um die Schleuserkriminalität zu bekämpfen, auch Verbindungen zwischen der Steuerung legaler und der Bekämpfung illegaler Migration. Dabei müssen wir auch die Interessen der Dritten Welt, der Herkunftsländer bedenken. Das nennt man dann strukturierte Migration. Und wenn wir dies tun, sehen wir auch den Zusammenhang zwischen Migration und globaler Verantwortung. Wenn wir eine solche Gesamtkonzeption der Migrationspolitik verwirklichen, dann werden wir unserer Verantwortung für die Zukunft gerecht. Vielen Dank. ({7})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächste Rednerin ist die Kollegin Sibylle Laurischk für die FDP-Fraktion. ({0})

Sibylle Laurischk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003580, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Minister Schäuble, Sie haben gerade das Thema Auswanderung angesprochen. Wir sollten nicht vergessen, dass die Auswanderung in die Schweiz insbesondere in unserer südbadischen Heimat mittlerweile bedeutsam geworden ist. Die Schweiz hat wohl einen Standortvorteil. In der Schweiz wird gut verdient, und auch die Arbeitsbedingungen sind gut - das gilt insbesondere für diejenigen, die im Gesundheitswesen tätig sind -, sodass immer mehr Deutsche ihren Arbeitsplatz und ihren Wohnort dort nehmen. Deutschland wird vielfältiger; dieses Phänomen heißt auf Neudeutsch „Diversity“. Der aktuelle Migrationsbericht zeigt dies klar auf. Der Anteil der Bevölkerung, der einen Migrationshintergrund hat, steigt kontinuierlich. In Großstädten ist in weiterer Zukunft mit einer Größenordnung von 40 bis 50 Prozent zu rechnen. Daran wird deutlich, dass die Integrationspolitik eine der wichtigsten gesellschaftspolitischen Herausforderungen der Zukunft ist. Die Tatsache, dass Migration stattfindet, wurde mit dem Satz „Deutschland ist kein Einwanderungsland.“ lange Zeit schlichtweg geleugnet. Andere hingegen fanden „Multikulti“ besonders schick. Die Grünen lehnten noch vor zwei Jahren tatsächlich das Sprechen der deutschen Sprache auf Berliner Schulhöfen ab. ({0}) Plötzlich mussten Migrantenkinder ihr Deutschsprechen gegen die vermeintlich politisch Korrekten verteidigen. Das war verkehrte Welt. ({1}) Tatsächlich erfolgt Integration über die Kenntnis der deutschen Sprache. Viele Migranten haben aber keine ausreichenden Deutschkenntnisse, auch wenn sie in Deutschland aufgewachsen und hier zur Schule gegangen sind. Dies hat nichts mit der Schulart zu tun, sondern ist ausschließlich auf die Intensität der Förderung zurückzuführen. Die FDP will, dass Kinder so früh wie möglich gefördert werden. Entscheidend ist dabei die durchgängige, systematische Sprachförderung: vom Kindergarten über die Schule bis hin zur beruflichen Bildung. Der Schlüssel zum Bildungserfolg und damit zum Zugang zur Arbeitswelt ist die Kenntnis der deutschen Sprache. Sprachstandstests dienen einer frühen Problemanalyse, die allerdings auch Konsequenzen haben muss. Statt versäumte Bildungsangebote nachzuholen, müssen wir Kinder und Jugendliche früh für ein Leben in und nicht am Rande unserer Gesellschaft fit machen. Hier sind auch die Länder gefordert. Wir wissen: Wer am Anfang spart, legt am Ende drauf. Gleiches gilt für die nachholende Integration lange hier lebender Migranten und neuer Zuwanderer. Das Ziel der Sprachkurse, die im Rahmen der Integrationsbemühungen durchgeführt werden, ist dann erreicht, wenn sich die Kursteilnehmer im täglichen Leben in ihrer Umgebung sprachlich selbstständig zurechtfinden, entsprechend ihrem Alter und Bildungsstand ein Gespräch führen und sich schriftlich ausdrücken können. Dieses B 1 genannte Niveau wird mit den geltenden 900 Lernstunden nicht erreicht. Die Praxis zeigt deutlich, dass es der Mehrzahl der Kursabsolventen nicht möglich ist, das angestrebte Niveau nach 900 Lernstunden zu erreichen. Die FDP fordert deshalb, dass im Rahmen der Integrationskurse 1 200 Unterrichtsstunden durchgeführt werden. Außerdem sollte die Möglichkeit geschaffen werden, innerhalb dieser Stundenzahl ein höheres Sprachniveau als B 1 zu erreichen, um letztendlich insbesondere beruflich qualifizierten Migranten die Arbeitsaufnahme zu erleichtern. Das Unterrichtsniveau hängt natürlich auch von einer angemessenen Bezahlung der Lehrkräfte ab. Es kann nicht angehen, dass qualifizierte Lehrkräfte Einkünfte auf Hartz-IV-Niveau beziehen. Das ist ein falsches Signal. Der Integrationsarbeit muss eine angemessene Wertschätzung entgegengebracht werden. ({2}) Herr Innenminister, ich lade Sie ein, sich einmal die konkrete Situation in unserem Wahlkreis gemeinsam mit mir anzuschauen. ({3}) Lassen Sie mich jetzt noch das Thema Ehegattennachzug ansprechen. Die Bundesregierung hat nach Auffassung der FDP mit dem neuen Zuwanderungsrecht Ehen zweiter Klasse geschaffen. Hier müssen die nachziehenden Ehegatten in ihrem Heimatland Deutsch gelernt haben, während das für andere nicht gilt. Die Frühjahrskonferenz der Integrations- und Ausländerbeauftragten der Länder hat Ende April dieses Jahres festgestellt, dass sich diesbezüglich einige Schwierigkeiten ergeben haben und dass eine Bewertung der tatsächlichen Auswirkungen dieser Gesetzeslage notwendig ist ({4}) bzw. dass in begründeten Ausnahmefällen eine Einreise ohne Sprachnachweis ermöglicht werden sollte. Erweist sich das neue Gesetz bereits als nicht tragfähig? Unsere Anstrengungen müssen doch dahin gehen, Frauen in ihrem Potenzial zur Integration gerade der Familie und der Kinder zu stärken und nicht auszugrenzen. Unverzichtbar für eine gelingende Integration bleibt die Unvoreingenommenheit gegenüber und die Akzeptanz von Migranten; denn sie bedeuten für diese Gesellschaft Zukunft und Entwicklung. Ich empfehle die Lektüre dieser beiden Berichte. Eine moderne Gesellschaft braucht Vielfalt, nicht Einfalt. ({5})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege Rüdiger Veit. ({0})

Rüdiger Veit (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003249, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als ich zu dieser Debatte kam, traf ich draußen den Kollegen Josef Winkler. Wir schätzten übereinstimmend ein - das ist bisher auch wahr geworden -, dass diese Debatte nicht besonders streitig werden wird. Natürlich bieRüdiger Veit ten die nüchternen Zahlen nur bedingt Material für Streit; aber auf einige unterschiedliche Schlussfolgerungen muss man meines Erachtens hier und da auch hinweisen. Wir sprechen unter anderem über den Erfahrungsbericht zu den Integrationskursen. Die Sicht der SPD-Fraktion dazu wird Ihnen mein Kollege Michael Bürsch nachher noch einmal im Einzelnen darlegen. Aber lassen Sie mich zu Beginn an Folgendes erinnern: Die Einführung dieser Integrationskurse ist ein Verdienst und eine Initiative der früheren rot-grünen Regierung und der sie tragenden Mehrheiten. ({0}) Ich bin ausdrücklich sehr froh darüber, Herr Kollege Grindel, dass unser nicht mehr ganz so neuer, aber jedenfalls anderer Koalitionspartner fest an unserer Seite steht, wenn es um die Fortentwicklung der Integrationskurse geht. Ich halte die gemeinsam gefundene Formulierung zu der Integrationskursverordnung für ein gutes Beispiel, ({1}) denn immerhin haben wir auf diesem Gebiet noch einiges zu leisten: Wir wissen vom Bundesamt in Nürnberg, dass es immer noch etwa 1,6 Millionen Erwachsene und circa 850 000 Jugendliche gibt, bei denen wir uns darüber freuen würden, wenn sie ein Integrationsangebot annehmen würden. Den Migrationsbericht könnte man in seinem Zahlenwerk unter das Motto stellen: Die Zeit ist reif. Sie ist reif für einen Umdenkprozess aller wirtschaftlichen und politischen Kräfte in der Bundesrepublik, und zwar unter Einschluss aller Innenminister und -senatoren der Länder. Reif ist die Zeit schon deswegen, weil wir nach der Bevölkerungsprognose, die ebenfalls in diesem Bericht enthalten ist, im Jahr 2050 mehr als ein Viertel der Bevölkerung verloren haben werden, falls wir uns nicht um Gegensteuerung bemühen. Übrigens würde auch die Entwicklung unserer Altersstruktur ohne Migration noch weitaus ungünstiger verlaufen. Ich mache darauf aufmerksam, dass fast drei Viertel der ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger, die zu uns kommen und die zu uns gekommen sind, unter 40 Jahre alt sind. Bei der Stammbevölkerung trifft dies nur auf knapp die Hälfte zu. Der Minister hat richtigerweise darauf hingewiesen, dass der sogenannte Wanderungssaldo, also der Überschuss der Zuzüge, im Jahre 2006 gerade noch 23 000 Menschen betragen hat. ({2}) In der Tat haben wir, auch wenn hier und da Überfremdung beklagt wird, aufgrund dieser Zahlen keinen Grund, etwas zu dramatisieren. Aber wir müssen uns angesichts der von mir angesprochenen Bevölkerungsentwicklung Gedanken über angemessene Gegenstrategien hierzu machen. Dazu bilde ich einen Vergleich zu den Jahren 1991 und 1992. Wir hatten 1991 einen Wanderungssaldo von circa 600 000 Menschen und im Jahr 1992 sogar von fast 800 000 Menschen, also mehr Zuzüge als Fortzüge. Beispielsweise sind in den Jahren 1997 und 1998 Ausländer in größerer Zahl aus Deutschland weggezogen, als sie zu uns gekommen sind. Die Zahl der Deutschen, die ausgewandert sind, hat übrigens mit 150 000 im Jahr 2006 ihren Höchststand seit 1954 erreicht. Ein wenig abgrenzend zu Ihren Ausführungen, Herr Minister, mache ich an dieser Stelle aber doch auf zwei Dinge aufmerksam: Hinsichtlich des Familiennachzugs sollten wir uns gemeinsam Gedanken über seine Förderung machen, statt ihn noch weiter zu begrenzen; denn die mit ihm verbundene Möglichkeit, mit Familie hier leben zu können, hat auch etwas mit Integration zu tun. Auch hierzu einmal die Zahlen: 2002 sind zum Zwecke der Familienzusammenführung 85 000 Visa erteilt worden. 2006 waren es nur noch rund 50 000 Visa. Die Zahl der Visa, die an türkische Staatsbürger ausgestellt wurden, hat sich im gleichen Zeitraum übrigens halbiert; es sind gerade noch 12 000 Visa pro Jahr. Was Ihre Ausführungen zur doppelten Staatsbürgerschaft angeht, Herr Minister, will ich auf den Widerspruch aufmerksam machen, dass auch im Lichte des neuen Staatsbürgerschaftsrechts, das wir geschaffen haben - Sie haben die doppelte Staatsbürgerschaft bekämpft -, aufgrund der verschiedensten Umstände immer noch über 50 Prozent der Eingebürgerten ihre Staatsangehörigkeit als zweite Staatsangehörigkeit behalten. Auch hier gibt es also keinen Grund, zu dramatisieren. Wir haben vielmehr Anlass dazu, uns auch darüber noch einmal Gedanken zu machen, nicht nur was die Frage der verwaltungsmäßigen Abwicklung angeht. Ich habe darüber gesprochen, wie sich der Bevölkerungsrückgang bis zum Jahre 2050 vollziehen wird. Selbst wenn wir jährlich 200 000 Menschen mehr bei uns aufnehmen als von uns wegziehen, wird unsere Bevölkerung von heute 82 Millionen auf 74 Millionen zurückgehen. Außerdem muss man sehen, dass wir die genannte Größenordnung von 200 000 Menschen weder mit einer Greencard noch mit der von der EU geplanten Bluecard erreichen werden; da werden wir uns schon mehr einfallen lassen müssen. Es geht aber nicht nur um Arbeitsmigration: Auch bei der Aufnahme von Flüchtlingen haben wir keinerlei Anlass, etwaige hartherzige Abschottungstendenzen in aller Zittrigkeit und Ängstlichkeit aufrechtzuerhalten. Es macht - wie ich mich darzulegen bemüht habe - auch in unserem wohlverstandenen wirtschaftlichen Interesse Sinn, Menschen aufzunehmen. Gegenwärtig nehmen wir gerade noch 20 000 Flüchtlinge im Jahr auf. Wir erinnern uns, dass das früher ganz anders war. Die Hauptlast tragen heute die Mittelmeeranrainer, und das, wie wir wissen, nicht immer vorbildlich im Hinblick auf humanitäre Standards, wie wir sie kennen. Ein kleiner Exkurs an dieser Stelle: Wir von der SPDFraktion finden es ausgesprochen richtig, dass sich vor dem Hintergrund dieser Zahlen der deutsche Innenminister und andere aus seiner Partei Gedanken machen, ob wir nicht gut daran täten, Flüchtlinge aus dem Irak bzw. Menschen, die aus dem Irak nach Jordanien oder Syrien geflüchtet sind, aufzunehmen. Die SPD-Fraktion würde das allerdings nicht gern nur auf verfolgte Christen beschränkt sehen. Wenn wir schon an der Religion anknüpfen, sollten wir das auf alle religiösen Minderheiten aus dem Irak, die nicht muslimischen Glaubens sind, ausweiten. ({3}) Wenn es Ihnen, Herr Minister Schäuble, gelingt - das wünschen wir Ihnen -, diese Initiative, die die Aufnahmekapazität und -bereitschaft aller europäischen Staaten betrifft, zu verbreitern, können wir uns auch Gedanken darüber machen, wie wir weitere besonders schutz- und betreuungsbedürftige Flüchtlinge von dort bei uns aufnehmen. Lassen Sie mich gegen Ende meiner Ausführungen ein Thema ansprechen, von dem Sie wissen, dass ich es immer wieder anspreche, nicht nur weil Wiederholung nach pädagogischen Grundsätzen ein wesentliches Element der Vertiefung ist, sondern auch deswegen, weil man das der Bevölkerung, an die sich der Migrationsbericht ja richtet, deutlich sagen muss. Ich weiß, dass ich damit bei vielen, über Parteigrenzen hinweg, offene Türen einrenne. Ich sage das aber auch und gerade wegen der Erfahrungen, die ich mit manchen Innenministern und -senatoren gemacht habe: Meine Damen und Herren, es macht doch keinen Sinn - Stichwort Beseitigung von Kettenduldungen und Bleiberechtsregelung -, Kinder und Jugendliche, die in Deutschland geboren, die hier aufgewachsen, die hier zur Schule gegangen sind, ihrer Heimat - Deutschland ist ihre Heimat - zu berauben und sie samt ihren Eltern abzuschieben ({4}) und dafür andere, die wir zur Stabilisierung unseres Sozialversicherungssystems oder zur Aufrechterhaltung unserer Wirtschaftsordnung brauchen, mit großem Kostenaufwand, mit großem Zeitaufwand anzuwerben und sie langwierig zu integrieren. Wenn jemand schon hier ist und gut integriert ist, sollte er bleiben können. ({5}) Wir wissen, dass durch die gesetzliche Bleiberechtsregelung - über die ich mich gefreut habe - mittlerweile rund 12 000 Personen begünstigt worden sind; das sind die Zahlen vom Jahresende 2007, wenige Monate vorher trat die Regelung inkraft. Mein aufrichtiger Wunsch an Sie alle ist: Wir sollten uns vom Bundesinnenminister und von den Landesinnenministern sowie -senatoren die Zahlen für das erste Halbjahr 2008 bald geben lassen und auswerten, damit wir wissen, ob wir das ausreichend ausgestaltet haben oder ob wir unter Umständen noch etwas verbessern müssen. Ich würde mir an dieser Stelle und im Lichte der Zahlen dieses Migrationsberichtes jedenfalls wünschen, dass alle, die mit der Anwendung dieses Rechts befasst sind, nicht eng- bzw. hartherzig, sondern großzügig und vernünftig handeln, damit diese Menschen, die zum Teil schon seit vielen Jahren hier leben, auch eine Perspektive in Deutschland behalten. ({6}) Wir haben jetzt alle Zeit, zu handeln. Ich sagte schon: Die Zeit ist reif. Die Zahlen liegen vor, und wir können an dieser Stelle auch und gerade für unsere gesamte Bevölkerung Gutes und Richtiges tun. Danke sehr. ({7})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächste Rednerin ist die Kollegin Sevim Dağdelen für die Fraktion Die Linke. ({0})

Sevim Dağdelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003746, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Manchmal lohnt es sich, einen Blick auf die vorliegenden Drucksachen zu werfen. Auf Seite 5 der Drucksache 16/7705 heißt es nämlich: Der Migrationsbericht der Bundesregierung verfolgt das Ziel, durch die Bereitstellung möglichst aktueller - aktuell sind sie ja nicht mehr -, umfassender und ausreichend detaillierter statistischer Daten über Migration Grundlagen für die Entscheidungsfindung von Politik und Verwaltung im Bereich der Migrationspolitik zu liefern. Zudem möchte er die Öffentlichkeit über die Entwicklung des Migrationsgeschehens informieren. Wenn ich mir den Migrationsbericht 2006 daraufhin anschaue, stelle ich fest - hier muss ich mich Herrn Bundesminister Schäuble oder auch meinem Vorredner anschließen -, dass es einen stetigen Rückgang bei den Zuwanderungszahlen gibt. Schauen wir uns einmal an, welche Ziele mit dem Zuwanderungsgesetz - es liegt sozusagen auch der vorliegenden Drucksache zugrunde - verfolgt werden: Erstens. Eine Zuwanderung soll möglichst verhindert werden. Laut Migrationsbericht gelingt das anscheinend auch. Zweitens. Wenn es überhaupt zur Zuwanderung kommt, dann sollten es zumindest Menschen sein, die im hiesigen Wirtschaftsprozess eine verwertbare Leistung erbringen bzw. nützlich sind. Manchmal kann man Politik aus einem Bauchgefühl heraus gestalten, oder sie entsteht aus religiösen Sätzen oder aber aus wissenschaftlichen Erkenntnissen oder der Empirie bzw. Untersuchungen. Ich muss aber leider feststellen, dass die Politik der Bundesregierung weit von den Fakten entfernt ist. Erinnern wir uns und schauen wir uns einmal an, welche Einbürgerungspolitik gerade auch im Frühjahr 2006 betrieben wurde. Die Politikerinnen und Politiker überboten sich fast schon hysterisch mit ihren Vorschlägen, einbürgerungswilligen Migranten mit Wissenstests, Wertetests, Gesinnungstests, Staatsbürgerkursen oder auch Einbürgerungsgesprächen zu Leibe zu rücken, um zu überprüfen, ob sie eine rechtschaffene Gesinnung haben. ({0}) Oft überschritt das Niveau ihrer Argumente nicht das Niveau der Parolen, die an Stammtischen von sich gegeben wurden. Wenn man sich den Bericht der Bundesregierung anschaut, dann erkennt man, dass Sätze wie „Wir entscheiden, wer Deutscher ist“ und „Wir lassen nicht jeden hinein“ - die Kanzlerin sprach von einer Staatsbürgerschaft zu Ramschpreisen oder gar im Vorbeigehen - unerträglich sind und überhaupt keine materielle Basis haben. ({1}) Die Einbürgerungszahlen sinken stetig; das wissen Sie auch. Das wird auch durch diesen Bericht gezeigt. Im Jahr 2006 lagen die Einbürgerungszahlen nämlich weit unter denen des Jahres 1999. 1999, also noch vor der sogenannten Reform des Staatsangehörigkeitsgesetzes, gab es etwa 143 000 Einbürgerungen, 2006 waren es dann 125 000. Obwohl dies mehr Einbürgerungen als im Jahr 2005 waren, wird es hier keine Trendwende geben. Das hat die Bundesregierung im letzten Jahr durch weitere Verschärfungen der Einbürgerungsvoraussetzungen bereits sichergestellt. Es wundert auch nicht, dass die Bundesrepublik im europäischen Vergleich trotz der leicht höheren Einbürgerungszahl in 2006 schlecht abschneidet. Durch die im Oktober 2007 veröffentliche Untersuchung des British Council und der Migration Policy Group wird der Bundesrepublik für die Integrationspolitik insgesamt nur europäisches Mittelmaß bescheinigt. Denn die Einbürgerungsquote bei Migrantinnen und Migranten beträgt bei uns nur 1,7 Prozent. Die Linke fordert radikale Erleichterungen bei der Einbürgerung, damit hier lebende Menschen nicht nur Pflichten erfüllen müssen - was sie tun -, sondern auch ihre staatsbürgerlichen Rechte erhalten. ({2}) Ein entsprechender Antrag liegt bereits seit längerem vor. Lassen Sie uns auf die Asylanerkennungspraxis eingehen. Auch sie sieht - gerade auch im Hinblick darauf, dass sich in diesem Monat die faktische Abschaffung des Asylrechts zum 15. Mal jährt - nicht berauschend aus. Damals gab es eine sehr schlimme Stimmung in diesem Lande. Ich erinnere mich noch sehr genau daran, weil die Ereignisse in Solingen und Mölln dazu geführt haben, dass ich mich politisch in der antifaschistischen Arbeit engagiert habe. Die Zahl der Asylanträge hat einen historischen Tiefstand erreicht. Das ist kein Wunder. Deutschland wird schließlich nicht nur am Hindukusch verteidigt. Deutsche Interessen gibt es mittlerweile auch auf Lampedusa und Lanzarote. Wie Herr Schäuble bereits deutlich gemacht hat, ist eine gemeinsame europäische Migrations- und Flüchtlingspolitik notwendig. Aber statt die Ursachen für die Flucht von Menschen zu bekämpfen oder nach humanitären Lösungen zu suchen, wird die EU-Grenze immer weiter militarisiert. Hunderte von Toten werden an den Außengrenzen Europas billigend in Kauf genommen ebenso wie - das zeigen die Statistiken - die über 7 000 Toten im Mittelmeer. ({3}) Das ist die Folge der repressiven Flüchtlingspolitik, die in Deutschland und auch in Europa betrieben wird, zum großen Teil forciert durch die deutsche Bundesregierung. ({4}) Nur noch wenige Flüchtlinge erreichen die Bundesrepublik, um überhaupt einen Asylantrag stellen zu können. Trotzdem ist die Anerkennungspraxis restriktiver denn je. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hebt sogar die Anerkennungen nach Art. 16 a des Grundgesetzes auf. Insofern fordert die Linke eine humanitäre Flüchtlingspolitik und die Beendigung dieser skandalösen Praxis. ({5}) Sie haben festgestellt, dass die Sprache ein wesentliches Mittel für die Integration ist. Deshalb haben Sie die Regelungen zum Ehegattennachzug geändert. Schon dem Migrationsbericht 2006 ist ein deutlicher Rückgang zu entnehmen, und zwar von einst rund 64 000 im Jahr 2002 auf nicht einmal mehr 40 000 im Jahr 2006. Die Kinder sind hier nicht eingerechnet. Der Rückgang in diesem Zeitraum hatte sicherlich auch mit dem EU-Beitritt vieler Staaten zu tun. Das sieht im letzten Jahr anders aus. Das hat mein Kollege Veit bereits deutlich gemacht. Vom dritten auf das vierte Quartal 2007 betrug der Rückgang laut einer Antwort auf eine Kleine Anfrage meiner Fraktion allgemein 40 Prozent und beim Ehegattennachzug aus der Türkei sogar fast 68 Prozent. Das liegt an den von der Bundesregierung neu eingeführten Nachzugsbarrieren wie den Sprachanforderungen. Diese müssen nun bereits im Herkunftsland erworben werden. Unter welchen Umständen dies geschieht, ist der Bundesregierung völlig egal. Die Linke hat das bereits bei der Novellierung angemahnt. Selbst die Ausländerbeauftragten der Bundesländer haben uns auf ihrer Tagung Ende April in Mainz unterstützt und gerade beim Ehegattennachzug Sevim DaðdelenSevim Dağdelen Verbesserungen gefordert. Diese Regelung gehört abgeschafft, und zwar sofort. ({6}) Leider kann ich aber der Bundesregierung nicht einmal in der Integrationspolitik das Motto „Einwanderung nein - Integration ja“ unterstellen. Das wird auch im Migrationsbericht deutlich. Denn ihre Politik ist von national-kulturellen Hegemonisierungs- und Homogenisierungsversuchen geprägt. Verbesserungen im Hinblick auf eine strukturell soziale Gleichstellung sind bei der Bundesregierung jedenfalls nicht erkennbar. Der zentrale Glaubenssatz der deutschen Integrationspolitik - den leider auch die FDP als Oppositionspartei übernommen hat - lautet: Das Erlernen der deutschen Sprache ist der Schlüssel zur Integration. So wird Integration im Wesentlichen auf das Beherrschen der deutschen Sprache reduziert. Doch wie Wilhelm Heitmeyer in der FAZ vom 3. April 2006 festgestellt hat: Wenn Sprache so betont wird wie derzeit, kann sie auch zu einem neuen Ausgrenzungskriterium werden, statt, wie plötzlich behauptet wird, ein Integrationsinstrument. ({7}) Ich kann nur empfehlen, diesen Artikel zu lesen. Die kritische Auseinandersetzung mit den seit Januar 2005 angebotenen Integrationskursen mündete in den Erlass einer neuen Integrationskursverordnung. Wir begrüßen zwar die Erhöhung des Stundensatzes, können aber leider nicht dahinter stehen, weil es einer Erhöhung des Stundensatzes um 3 Euro und einer Senkung der Teilnehmerzahl auf maximal fünfzehn bedarf. Nicht ohne Ironie ist, dass nun die Zulassung von Kursträgern mit Auflagen erteilt werden kann. Das betrifft insbesondere die Regelungen zur Vergütung der Lehrkräfte. Dahinter verbirgt sich nichts anderes, als dass das BAMF den Trägern einen Mindestlohn verordnen kann. Die Bundestagsfraktion Die Linke begrüßt natürlich einen gesetzlichen Mindestlohn. Wir fordern ihn seit eh und je. Angesichts der unzureichenden Finanzierung der Träger ist dies allerdings nicht realistisch. Ich komme zum Schluss. Integration ist weitaus mehr als nur Sprache. Integration ist eine soziale Frage. Schauen Sie sich die Statistiken und die Zahlen an! Exzellente Bildungsabschlüsse von Migrantinnen und Migranten führen nicht automatisch dazu, dass sie einen Ausbildungsplatz oder einen Arbeitsplatz bekommen. Das heißt, es hängt nicht von der Sprache, sondern von den strukturellen Rahmenbedingungen ab. Schaffen Sie entsprechende Rahmenbedingungen! Sorgen Sie für gleiche Teilhabe sowohl in der Bildung als auch in der Arbeitswelt, im Gesundheitsbereich und in der Politik! Schaffen Sie endlich eine gleichberechtigte politische Mitbestimmung, zum Beispiel ein kommunales Wahlrecht für Nicht-EU-Bürger, damit die unerträgliche Ungleichbehandlung von EU-Bürgern und Nicht-EU-Bürgern aufgehoben wird! ({8})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Josef Winkler für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Josef Philip Winkler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003660, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Herr Kollege Veit, ich fühle mich ein bisschen missverstanden. Ich habe zwar gesagt, dass ich zustimme, es werde wahrscheinlich nicht sehr strittig. Aber damit habe ich das Verhältnis zwischen Union und SPD gemeint. ({0}) Es kommt so selten vor, dass zwischen euch etwas nicht strittig ist, dass ich dem nur zustimmen konnte. Warum konnte es heute nicht strittig werden? Die Koalition hat gar keinen Entschließungsantrag vorgelegt. Sie haben keine Kraft mehr, sich in der Migrationspolitik auf eine gemeinsame Strategie zu einigen. ({1}) Wir diskutieren heute über eine Statistik aus dem Jahr 2006; das ist interessant. Interessanter wäre aber, zu hören, welche politischen Schlussfolgerungen Sie aus dieser Statistik ziehen. ({2}) Da hört die Einigkeit schnell auf. Trotz aller schönen Worte, die wir eben gehört haben, betreibt diese Bundesregierung eine systematische Politik der Zuwanderungsverhinderung. Das hat das Gesetzesverfahren im letzten Jahr eindeutig gezeigt. ({3}) Ich will zu einigen Zahlen etwas sagen. Wir haben den Ehegattennachzug im letzten Jahr neu geregelt; das wurde schon einige Male erwähnt. Ich möchte gleich einige krasse Fälle aufzeigen. So kurz vor Pfingsten hoffe ich, dass der Heilige Geist insbesondere über die Unionsfraktion ausgeschüttet wird, sodass dort eine Verbesserung festzustellen ist. ({4}) Wir sieht es denn inzwischen aus? Wir stellen fest, dass seit der Verschärfung im letzten Jahr die Zahl der Familienzusammenführungen, also der Nachzug zu bereits in Deutschland lebenden Familienangehörigen bzw. Ehegatten, um 40 Prozent zurückgegangen ist, bei Menschen aus der Türkei sogar um 68 Prozent. Trotzdem bestreitet die Bundesregierung, dass diese Regelung als Anti-Türken-Gesetz gemeint war. Aber diese Regelung stellt nun einmal für Türken ein schwieriges Problem dar. Im gleichen Zeitraum ist unter Ihrer Regierung ein Rückgang beim Spätaussiedlerzuzug um über 90 Prozent zu verzeichnen. Des Weiteren ist die jüdische Zuwanderung faktisch zum Erliegen gekommen. 2007 gab es nur 14 - ich betone: 14 - Zusagen zu EinwandeSevim DaðdelenSevim Dağdelen rungen nach Deutschland. Das ist noch nicht einmal eine Zusage pro Bundesland. Dazu haben wir heute leider nichts gehört. Bei der Steuerung der Zuwanderung ist ein völliger Stillstand zu beklagen. Bei der Begrenzung der Zuwanderung tut sich allerdings einiges, und das, obwohl die Wirtschaft und verschiedene Dachverbände immer wieder sagen: Wir brauchen Zuwanderung. - Aber Sie wehren sich mit Händen und Füßen gegen eine Steuerung und Regulierung der Zuwanderung durch ein Punktesystem. Das widerspricht den einfachsten Gesetzen der Logik. Sie sagen, man könne die demografischen Probleme der Republik nicht alleine durch Zuwanderung lösen. Das ist richtig. Wenn man aber ein demografisches Problem hat, dann wäre es sinnvoll, Zuwanderer, die mit Kindern einreisen wollen, mit besonders vielen Punkten zu honorieren, das heißt, sie primär einreisen zu lassen, ({5}) oder bestimmten Berufsgruppen, an denen die Bundesrepublik einen Mangel hat, einen Bonus zu geben. Dies soll honoriert werden, und diese Personengruppen sollen verstärkt einreisen können. Wieso Sie sich dagegen wenden, ({6}) obwohl Sie steuern und regulieren wollen, versteht nun niemand. ({7}) Vielleicht können Sie das gleich klarstellen. Wir brauchen in Deutschland eine Regulierung der Zuwanderung, weil wir Zuwanderer haben wollen. Wir brauchen diese Bereicherung für unser Land, und wir sollten die Regulierung so gestalten, dass wir die Besten der Besten, die wir brauchen, nach Deutschland holen können. Es soll aber nicht nur ein Teil der Familie kommen, sondern sie sollen mit ihren Familien kommen. Sie sollen sich hier integrieren können. Ich plädiere also für ein Punktesystem. Die Zeit ist reif dafür. Bewegen Sie sich! ({8}) Sie reden in diesem Zusammenhang immer davon, dass die Belastungsschwelle erreicht, wenn nicht sogar überschritten sei. Dazu ist hier schon etwas vom Kollegen Veit gesagt worden. Die Integrationsfähigkeit einer Gesellschaft hängt zunächst einmal von der Integrationsbereitschaft ab, aber nicht von irgendeiner imaginären Grenze, die niemand kennt. Das heißt, die politischen Debatten, die wir hier im Deutschen Bundestag oder auch in den Bundesländern während der Wahlkämpfe führen, entscheiden darüber, ob eine Integrationsbereitschaft der Bevölkerung besteht oder nicht. Da hat nun zum Beispiel der Wahlkampf eines Roland Koch in Hessen, der in unseliger Weise, geradezu mit verhetzerischer Qualität Wahlkampf betrieben hat, dazu beitragen sollen, dass die Integrationsbereitschaft der Bevölkerung, insbesondere in Hessen, sinkt. Dass ihm das nicht gelungen ist, muss man der Bevölkerung in Hessen hoch anrechnen und ist wohl dem Grad der politischen Bildung der Hessen geschuldet. Herzlichen Dank dafür. ({9}) Ich will an einigen Punkten klarmachen, wo das Problem beim Ehegattennachzug liegt. Wir haben im Übrigen im Petitionsausschuss des Bundestages inzwischen Dutzende von Petitionen von Einzelpersonen dazu vorliegen, die große Probleme haben und nicht zusammenkommen können. Es gibt zum Beispiel eine Weisung des Auswärtigen Amtes vom Oktober letzten Jahres, wonach Antragsteller, die ein Familienzusammenführungsvisum beantragen wollen, nicht nach Hause geschickt werden sollen, nur weil sie das geforderte Sprachzertifikat noch nicht haben; denn damit wäre ihnen der Rechtsweg gegen diese Entscheidung verschlossen. Das wird aber immer noch gemacht. Weiterhin werden nur die Sprachzertifikate des Goethe-Instituts akzeptiert, was unter Wettbewerbsgesichtspunkten inakzeptabel ist und natürlich keinen Qualitätswettbewerb ermöglicht. Ferner steht im Gesetz überhaupt nicht, dass das Sprachniveau A 1 erreicht werden soll. Das ist völlig willkürlich in die Verordnung eingefügt worden. Im Gesetz war von einfachsten Sprachkenntnissen die Rede, und es wurde kein festes Niveau definiert. Es kommt immer wieder vor - ich weiß nicht, ob Sie das möchten -, dass selbst Antragsteller, die fließend deutsch sprechen können oder zumindest erkennbar über dem Niveau A 1 liegen, zurückgeschickt werden, nur weil sie den A-1-Test nicht machen. Der kostet Geld und Zeit. Wenn man schon deutsch kann, warum soll man diesen Test machen? Bewegen Sie sich ein bisschen, und lassen Sie die Leute ins Land! ({10}) Bei den Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedlern ist es besonders krass. Gerade ältere Menschen schaffen den Nachweis der Sprachkenntnisse häufig nicht, sonst wären sie nach dem Verfahren gemäß Bundesvertriebenengesetz nach Deutschland eingereist. Nun gibt es eine ganze Reihe von Fällen, in denen sich Eheleute darauf verlassen haben, dass ein Ehegattennachzug nach dem Ausländerrecht möglich ist. Jetzt aber wird Eheleuten, die nach Deutschland vorausgereist sind, gesagt: Wenn ihr das nicht schafft, dann müsst ihr womöglich den Rest eures Lebens eben getrennt leben. - Herzlichen Glückwunsch dazu. Die Alternative ist, dass der Partner die Bundesrepublik Deutschland wieder verlässt und nach Osteuropa zurückreist. Das kann doch bei Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedlern nicht Ihr Ernst sein. Am allerschlimmsten trifft es die Analphabeten. Auch wir in Deutschland haben einen gewissen Prozentsatz von Analphabeten. Das Grundrecht auf familiäres Zusammenleben, nach Art. 6 des Grundgesetzes auch der besondere Schutz der Ehe, gilt für Analphabeten faktisch nicht mehr. Dafür sollten Sie sich wirklich schämen, oder Sie sollten das schnellstmöglich ändern. ({11}) Ich nenne hier beispielhaft den Fall eines Mannes aus Gambia, der Analphabet ist. Er bekam von der deutschen Botschaft sinngemäß die Auskunft: Lerne doch erst einmal in deiner Muttersprache lesen und schreiben, dann kannst du den Deutschkurs im Goethe-Institut machen, falls du ihn dir leisten kannst. Falls du dann noch in den Senegal reist, wo nämlich das nächste Goethe-Institut ist, dann kannst du dort die Prüfung ablegen. Deine deutsche Frau muss dann eben so lange warten, bis du das alles geschafft hast. - Bis dahin können natürlich viele Jahre ins Land gegangen sein. ({12}) Das ist ziemlich zynisch, und wenn Sie all das haben wollen, dann haben Sie es zumindest mit dem Gesetz, das Sie letztes Jahr verabschiedet haben, geschafft. ({13}) Sie reden auch über den Irak und die irakischen Flüchtlinge. Ich bin gar nicht dagegen, dass man sie aufnimmt. Es leben allerdings auch schon welche bei uns, die lediglich ihre Familienangehörigen nachziehen lassen wollen. Die bekommen jetzt gesagt - ({14}) - Frau Präsidentin, können Sie meine Redezeit etwas verlängern? Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich weiß, es ist alles spannend, aber hören Sie mir doch noch bis zum Ende zu; ich bin gleich fertig. ({15}) - Genau. Die Union hat keine Flugblätter gekriegt. Vielleicht kann man ihr eins geben. Die Antragsteller aus dem Irak zum Beispiel, wo es faktisch keine deutsche Auslandsvertretung gibt, bekommen jetzt die Auskunft, sie sollten nach Ankara reisen und dort in der deutschen Botschaft den Antrag auf Familienzusammenführung stellen. Ich habe jetzt nur dieses eine Gesetz aus dem Gesetzespaket, das Sie letztes Jahr beschlossen haben, als Beispiel genommen, um zu zeigen, dass diese Politik, die Sie als Migrationspolitik bezeichnen, in Wirklichkeit eine Migrationsverhinderungspolitik ist. Das ist wirklich kein Grund zum Feiern. Herzlichen Dank. ({16})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Hans-Peter Uhl für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Hans Peter Uhl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003247, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die Vorlage des Migrationsberichts der Bundesregierung gibt Anlass, über unsere Zuwanderungspolitik der Vergangenheit und der Großen Koalition nachzudenken. Deshalb möchte ich mir kurz einen Rückblick erlauben. Wie Sie wissen, haben wir Jahrzehnte mit einem sehr törichten Definitionenstreit darüber verbracht, ob wir nun Einwanderungsland sind oder nicht. Stattdessen hätten wir uns in den Jahrzehnten besser um die Menschen und deren Integration kümmern müssen. ({0}) Die Debatte war von Anfang an - ich blicke jetzt weit zurück - ziemlich unehrlich und ziemlich inkonsequent. Es begann ganz am Anfang mit dem unsäglichen Euphemismus „der Gastarbeiter“. Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, einen Gast lässt man nicht arbeiten, und ein Gast geht irgendwann wieder. Das passte überhaupt nicht zum Thema, um das es damals ging. ({1}) - Ja, einen guten Morgen wünsche ich vor allem Ihnen von den Linken. ({2}) Wir haben es ganz am Anfang versäumt, die Kriterien für eine Zuwanderung festzulegen. Es wurde erst über Rotation und dann wieder über Integration fabuliert. Man kam aber zu keinem Ergebnis. Nicht wir haben uns dafür entschieden, wann und wie man zuwandert, sondern die Menschen, die gekommen sind, haben sich selbst entschieden, ({3}) und dann hat man ihre Kinder nachkommen lassen. Das waren die Fehler der Vergangenheit. Das war falsch. Falsch war auch Folgendes: Nachdem sich die Zuwanderer der ersten Generation - sie waren sehr fleißig in das Arbeitsleben integriert und einen wesentlichen Beitrag zu unserem Bruttosozialprodukt geleistet haben, zogen wir den Trugschluss, dass sich Integration von selbst erledige. Genau das Gegenteil war der Fall: Die Probleme entstanden nicht mit der ersten, sondern mit der zweiten und der dritten Generation, und diese Probleme haben wir heute. Hier ist ein Kulturbruch festzustellen. Wir erleben, dass es nicht richtig ist, einfältig von ausländischen Mitbürgern zu reden, als würden sie mit uns leben. Nein, sie leben teilweise neben uns und ohne uns in Parallelwelten. Heute ist es leider einfacher denn je, in einer Parallelwelt - insbesondere in einem Ballungsraum oder in einer Großstadt - das gewohnte Leben von früher, das sie aus ihrem Heimatland kennen, unverändert weiterzuleben, ihre alte Sprache zu sprechen, statt die deutsche Sprache zu erlernen, sich nicht an unseren Bräuchen zu orientieren und nicht unsere Werte und unsere Lebensgewohnheiten zu übernehmen. Sie können heute in Deutschland etwa 40 türkische Fernsehsender anschauen und natürlich auch türkische Zeitungen bekommen. Das ist auch richtig so; aber das zieht sich auch ins normale Alltagsleben hinein: Türkische Supermärkte, türkische Ärzte, selbst türkische Rechtsanwälte - all diese kann man problemlos finden. Sie können in Berlin so leben, als wären sie in der Türkei. ({4}) Es geht noch einen Schritt weiter: Sie können über arrangierte Ehen und Zwangsverheiratung - Dinge, die wir alle, auch Sie, nicht billigen können - dafür sorgen, dass diese Parallelwelt auch in der zweiten Generation bestehen bleibt. ({5}) Was ist angesichts der beängstigenden Zahlen, die uns vorliegen, zu tun? Während 19 Prozent der deutschen Jugendlichen eine Hauptschule besuchen, besuchen ja 44 Prozent der Ausländer eine Hauptschule. Während 8 Prozent der deutschen Jugendlichen keinen Schulabschluss haben, sind es ja 17 Prozent der ausländischen Jugendlichen. Dieser Trend setzt sich auch in der Arbeitsmarktstatistik und in der Statistik der Sozialhilfeempfänger fort. Die Arbeitslosigkeit bei den Ausländern liegt leider doppelt so hoch wie bei den Deutschen. Nun sagt Herr Winkler, die Große Koalition habe nicht die Kraft, daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen. Dem widerspreche ich nachhaltig; denn die Große Koalition hat eine Wende in der Integrationspolitik herbeigeführt, indem wir, Herr Veit, nicht nur Integrationskurse wie früher unter Rot-Grün angeboten haben, sondern das Erlernen der deutschen Sprache als Bestandteil der Integration eingefordert haben und dafür gesorgt haben, dass Konsequenzen gezogen werden, wenn sich jemand weigert. ({6}) Das stellt die eigentliche Wende in der Integrationspolitik dar: nicht nur reden, sondern auch für konsequente Umsetzung sorgen. ({7}) Dazu gehört auch der Nationale Integrationsplan, den die Bundeskanzlerin, Frau Merkel, zur Chefsache gemacht hat und für den Frau Staatsminister Böhmer wesentliche Vorarbeiten geleistet hat. ({8}) Wir haben dafür gesorgt, dass allen bewusst wird, dass Zuwanderer die deutsche Sprache zu erlernen haben. Wir haben dafür gesorgt, dass sie unsere Rechtsund Werteordnung zu kennen und auch zu verstehen haben und dass man sich daran orientiert. ({9}) Nur so können Zuwanderer auf Dauer in Deutschland heimisch werden. Neuzuwanderer müssen mit ihren Integrationsbemühungen - das bekämpfen Sie offensichtlich immer noch im Heimatland beginnen. Bevor man sich entschließt, seinen Lebensmittelpunkt zu uns nach Deutschland zu verlagern, muss man im Heimatland anfangen, die deutsche Sprache zu lernen. ({10}) Jeder von uns würde es übrigens genauso machen, wenn er sich entschlösse, seinen Lebensmittelpunkt von Deutschland nach China zu verlagern: Er würde in Deutschland beginnen, Chinesisch zu lernen. ({11}) Nichts anderes fordern wir von den Migranten, die zu uns kommen. ({12}) Gute Sprachkenntnisse sind die Voraussetzung für schulischen Erfolg. Der schulische Erfolg ist die Voraussetzung für eine Berufsausbildung, und diese ist die Voraussetzung für einen Arbeitsplatz. Dieses wiederum ist die Voraussetzung für ökonomische Besserstellung und ein zufriedenes Leben von Migranten in Deutschland. Wir wissen, dass Integration keine Einbahnstraße ist. Sie setzt voraus, dass die Zuwanderer hier heimisch werden wollen, dass sie die deutsche Sprache erlernen wollen und dass sie unsere Rechts- und Werteordnung übernehmen wollen. Wer dies nicht will, muss sich selber klarmachen, dass er besser wieder das Land verlässt, als weiter im Konflikt mit diesem Land zu leben. Das wissen auch die 3,5 Millionen Muslime. Hier ist es das große Verdienst des Bundesinnenministers Schäuble, sich diesem sehr komplexen und sehr schwierigen Thema mit der Einrichtung von Islamkonferenzen ganz besonders zugewandt zu haben. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluss kommen: Der Migrationsbericht beinhaltet hochinteressante Zahlen und zeigt auf, was wir zu tun haben. Er zeigt auch auf - das ist eine interessante Tatsache -: Die Abwanderungstendenz von Deutschen nimmt zu. Waren es in den 70er-Jahren noch 50 000, um 1990 dann 100 000, sind es nun schon 150 000 Deutsche, die das Land jährlich verlassen. Die Ursachen für diese Abwanderung müssen untersucht werden. Wenn immer mehr jüngere hochqualifizierte Leistungsträger aus Deutschland wegziehen, dann läuft etwas schief in diesem Land, und wir müssen dafür sorgen, dass sich das ändert. Auch der Bundesfinanzminister sollte vielleicht darüber nachdenken; denn auch er hat die Möglichkeit, Migrationsströme von Deutschen, die aus Deutschland wegziehen, zu steuern. ({13}) - Ja, da haben Sie recht, Herr Veit; danke für den Zuruf. Da hilft am Schluss nur eins: Mehr netto für alle, Herr Veit. Daran sollten Sie sich orientieren. ({14})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächste Rednerin ist nun die Kollegin Gisela Piltz für die FDP-Fraktion. ({0})

Gisela Piltz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003667, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Migrationsbericht 2006 verdeutlicht, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU und der CSU, Sie haben das lange verleugnet. Aber, Herr Uhl, Sie haben heute, wenn ich das richtig mitgeschrieben habe, gesagt, dass Sie in der Vergangenheit Fehler gemacht haben. ({0}) Wir nehmen einmal an, dass - Sie haben es nicht explizit erwähnt - auch das ein Fehler in Ihrer Vergangenheit war und Sie daraus gelernt haben. Die Steuerung der Zuwanderung ist aus unserer Sicht dringend notwendig und auch richtig, um ein friedliches und gedeihliches Zusammenleben in Deutschland zu gewährleisten. Dabei ist es aus meiner Sicht besonders wichtig, dass wir denen, die hierher kommen und die hier bleiben wollen, ein Heimatgefühl vermitteln können. Herr Schäuble, Sie haben recht, wenn Sie sagen, dass wir hier keine Parallelgesellschaften wollen. Dem stimmen wir zu. Auch haben Sie recht, wenn Sie sagen, dass diejenigen, die hierher kommen wollen, sich integrieren müssen. Aber wir müssen nicht nur leisten, dass diejenigen, die hierher kommen, sich integrieren; vielmehr müssen wir denen, die hier leben, ein Heimatgefühl bieten können. Ich glaube, das ist sehr wichtig. Frau Dağdelen, ich denke, dass Sprache die Schlüsselqualifikation dafür ist, sich hier integrieren zu können. Denn - das hat auch mein Vorredner zu Recht gesagt - ohne Sprache ist eine Integration in einem Land nicht möglich. Ich warte immer noch darauf, dass Sie mir erklären, wie das gehen soll. ({1}) - Aber auch ein Hochqualifizierter, Frau Dağdelen, kann in einem Land nur hochqualifiziert und dauerhaft arbeiten, wenn er die Sprache beherrscht. ({2}) Eine ganz persönliche Frage, die ich an Sie habe: Sie sitzen ja auf der linken Seite quasi als Nach-Nachfolge der SED in der DDR. ({3}) Wie war denn da eigentlich die Migrationspolitik? Was Sie hier sagen, passt nicht zu der Geschichte, die Sie hier sozusagen vertreten. ({4}) Sie haben hier sicherlich zu Recht manches angemahnt, was andere Fraktionen nicht angesprochen haben. Aber Sie haben zum Beispiel keinen Ton dazu gesagt, dass die Folgen der schlechten Migrationspolitik in der ehemaligen DDR uns bis heute beschäftigen und dass es in den neuen Ländern so schlimm ist wie nirgendwo anders. Das ist kein Ossi-Bashing, sondern das ist eine Tatsache. Dazu habe ich von Ihnen nichts gehört. ({5})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Dağdelen?

Gisela Piltz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003667, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Da ich eine Ahnung habe, dass die Zwischenfrage polemisch sein wird, möchte ich sie nicht hören. ({0}) Zugleich zeigt der Migrationsbericht auf, dass immer mehr Menschen Deutschland verlassen. Das ist hier von allen Rednern gesagt worden. 2006 gab es mit über 150 000 Wegzügen von deutschen Staatsangehörigen einen neuen Wegzugsrekord. Auch wenn der Bericht hinsichtlich der Frage, ob insbesondere Hochqualifizierte Deutschland verlassen, auf eine dürftige Datenlage hinweist, ist die Befürchtung nicht von der Hand zu weisen - auch unsere persönlichen Erfahrungen zeigen das, je nachdem, mit wem man spricht -, dass Deutschland gerade für junge Wissenschaftler und Ingenieure sowie andere innovative und hochqualifizierte Berufe, auch Ärzte zum Beispiel, nicht mehr genügend Attraktivität zu bieten hat. Hier müssen Konsequenzen gezogen werden, ebenso wie aus den Fragestellungen, die sich nach wie vor bei der Einwanderung ergeben. Herr Uhl, ich habe Sie eben so verstanden, dass die CSU der Erbschaftsteuerreform offensichtlich nicht zustimmen will. Wir sind einmal gespannt, ob Sie sich daran auch halten. ({1}) Zuwanderung nach Deutschland steuern - das ist nicht unanständig, sondern zwingend notwendig, um den gesellschaftlichen Frieden zu sichern, die wirtschaftliche Balance zu bewahren und zu verbessern sowie humanitären Verpflichtungen nachzukommen. Es ist selbstverständlich, dass es zuerst darum gehen muss, den Bedarf an Arbeitskräften mit Inländern zu decken. Dazu müssen wir auch für hochqualifizierte deutsche Arbeitskräfte attraktiver werden. Nur dann können wir die Abwanderung stoppen. Wenn Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Großen Koalition, das als Problem erkannt haben, dann tun Sie doch etwas! ({2}) Dennoch braucht Deutschland die Zuwanderung qualifizierter Kräfte in den Arbeitsmarkt. Dafür brauchen wir ein Instrument, um flexibler auf die Entwicklungen auf dem hiesigen Arbeitsmarkt reagieren zu können. Wir haben einen Vorschlag für ein Punktesystem vorgelegt, das wir für die richtige Maßnahme halten, um die Zuwanderung so zu steuern, wie wir es brauchen. Dabei denken wir sowohl an hochqualifizierte Arbeitskräfte als auch an Saisonarbeiter. Auch dieses Thema kommt bei vielen hier zu kurz. Im Umgang mit illegaler Migration tut sich dieses Land leider noch sehr schwer. Ich glaube, wir müssen schnell eine Regelung finden, wie wir insbesondere mit Kindern derjenigen umgehen, die sich in unserem Land illegal aufhalten. Die FDP setzt sich schon seit längerem dafür ein, die Meldepflicht für Lehrer, was diesen Fall betrifft, abzuschaffen. ({3}) Wir halten das für sehr wichtig. Wir hoffen, dass das Parlament noch in dieser Legislaturperiode die Kraft findet, diesbezüglich zu einer Regelung zu kommen. Sie haben in dieser Woche eindrucksvoll bewiesen, dass Sie die Kraft haben, auch anderes zu regeln. Wir hoffen für die Kinder der illegal hier lebenden Menschen, dass Sie sich auch dieses Themas annehmen. Herzlichen Dank. ({4})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Zu einer Kurzintervention erteile ich nun das Wort der Kollegin Dağdelen. ({0})

Sevim Dağdelen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003746, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Es tut mir leid, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass ich diese Debatte jetzt verlängern muss, weil Frau Piltz meine Zwischenfrage nicht zugelassen hat. Frau Piltz, Sie haben mich persönlich angesprochen, und darauf möchte ich antworten. Zunächst einmal will ich sagen, dass meine Eltern aus der Türkei kamen. Die Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter sind aber nicht einfach gekommen, sondern sie wurden gerufen. Das sage ich auch an die Adresse von Herrn Uhl. Vielleicht hat er ja vergessen, dass es Anwerbeabkommen gegeben hat. Ich bin in Duisburg geboren und auch dort aufgewachsen. Ich habe mich mit der Vergangenheit meiner Partei - viele haben das hinsichtlich der Vergangenheit ihrer eigenen Partei nicht getan - kritisch auseinandergesetzt. Es gab Probleme in der ehemaligen DDR bezüglich der Integration, was von mir und auch von meiner Partei kritisiert wird. Aber Tatsache ist doch - korrigieren Sie mich, wenn ich falsch liege -, dass wir über den Migrationsbericht 2006 der Bundesregierung und nicht über die Politik ehemaliger Staaten und Regierungen sprechen. Da muss es auch erlaubt sein - vor allen Dingen Sie als Vertreterin einer Oppositionspartei müssten mir dieses Recht doch eigentlich zugestehen und müssten mich darin unterstützen -, dass ich hier Kritik an der repressiven Migrations- und Integrationspolitik dieser Bundesregierung anbringe. Ich möchte ferner erwähnen, dass Sie anscheinend die Zahlen überhaupt nicht kennen. Es gibt in diesem Land sehr viele Jugendliche, die einen guten Bildungsabschluss haben. Aber sie haben keinen Ausbildungsplatz. Schauen Sie sich den Bericht zur Lage der Ausländerinnen und Ausländer, der im Dezember des vergangenen Jahres von der Bundesregierung veröffentlicht wurde, einmal an. Daraus ergibt sich, dass die Sprache nicht die einzige Voraussetzung für eine Integration ist. Ganz im Gegenteil! Gestern wurde eine Studie veröffentlicht, die von der Ausländerbeauftragten, Frau Böhmer, unterstützt wurde. Es lebt rund eine halbe Million Menschen in Deutschland, die ihre Qualifikation im Ausland erworben haben, deren biografische Lebensleistung aber in diesem Land nicht anerkannt wird. Deshalb kann ich Frau Böhmer nur unterstützen, wenn sie sagt, dass hier ein Schatz zu heben ist und dass man in Gesprächen mit der Kultusministerkonferenz erreichen muss, dass diese Abschlüsse anerkannt werden. ({0}) Russische Ärztinnen sollen nicht mehr als Putzfrauen arbeiten, und iranische Ingenieure sollen nicht mehr als Hausmeister hier arbeiten. Die biografische Lebensleistung dieser Menschen muss anerkannt werden; sie darf nicht mehr ignoriert werden. Zu diesem Thema liegt von meiner Fraktion seit Anfang des Jahres ein entsprechender Antrag vor. Ich bitte dafür um Unterstützung. Es kann keine Integration geben, wenn die Menschen keine Teilhabemöglichkeiten in diesem Land haben. Teilhabe ist nicht nur im Hinblick auf die Sprache, sondern auch im Hinblick auf Bildung, Arbeitsmarkt und Kultur von zentraler Bedeutung. ({1})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Frau Kollegin, möchten Sie erwidern? - Bitte sehr, Frau Piltz.

Gisela Piltz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003667, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich habe es geahnt. So gesehen, bereue ich meine Entscheidung, weil Sie jetzt noch mehr Redezeit hatten. ({0}) Erstens. Ich habe Sie nicht persönlich gemeint, sondern als Vertreterin Ihrer Fraktion. Das ist ein riesiger Unterschied. Wenn Sie das persönlich nehmen, ist das Ihr persönliches Problem. Zweitens. Dass Sie sich so viel Zeit nehmen, um zu sprechen, zeigt doch, wie wichtig Sprache ist. Sprache ist aus meiner Sicht eine notwendige Voraussetzung, um hier teilhaben zu können. Natürlich muss hier jeder teilhaben können. Teilhabe ist wichtig. ({1}) Aber ohne die deutsche Sprache ist keine ausreichende Teilhabe möglich. ({2}) Das ist die herrschende Meinung in diesem Haus. Dagegen sollten Sie nicht immer wieder angehen. Auf der ganzen Welt kann man sehen, wie wichtig die Beherrschung der Landessprache ist; das ist Fakt. Wie wollen Migranten hier lernen, wenn sie die Landessprache nicht können? Wie wollen sie sich an der Arbeit dieses Parlaments beteiligen, wenn sie kein Deutsch können? Sie können Deutsch. Akzeptieren Sie, dass Sprachbeherrschung eine Schlüsselqualifikation für Integration sein muss! ({3})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nun hat das Wort der Kollege Dr. Michael Bürsch für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Michael Bürsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003018, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich komme auf das eigentliche Thema des heutigen Tages zurück: Migration, Integration. Bis zu diesem Zeitpunkt der Debatte kann ich zweierlei feststellen: Erstens. Über Zahlen lässt sich offenbar doch streiten, obwohl sie eigentlich einen objektiven Eindruck vermitteln sollen. Die Auslegung ist jedenfalls ein wenig unterschiedlich ausgefallen. Zweitens. Die Ideologisierung dieses Themas verschwindet langsam. Es wird über dieses Thema erheblich weniger ideologisch als noch vor zwei, drei oder zehn Jahren geredet. Insofern nehme ich den Beitrag von Herrn Uhl durchaus mit Freude zur Kenntnis. Im Folgenden möchte ich zwei Bemerkungen zu dem Thema des heutigen Tages machen. Erstens. Bei allen Wünschen, die vielleicht noch bestehen, bei aller Kritik, die man hier und dort üben kann, kann man insgesamt sagen: Die Integrationskurse sind ein Erfolgsmodell. ({0}) Diese Kurse hat die Bundesregierung vor drei Jahren eingeführt. Wir wollen nicht über die Väter und Mütter dieses Erfolges reden. Es war eine andere Bundesregierung, die diese Kurse eingeführt hat; sie hat das Fundament gelegt. Die Integrationskurse sind uns jetzt 155 Millionen Euro im Jahr wert. Das ist eine beträchtliche Summe, die wir, der Bund, freiwillig für die Sprachförderung ausgeben. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge unter der Leitung von Albert Schmid leistet eine hervorragende Arbeit, die wir auch an dieser Stelle einmal loben sollten. ({1}) Wer immer diese Behörde besucht, muss feststellen, dass sie sehr modern ist. Der Präsident dieser Behörde kommt aus Bayern. ({2}) - Über die Parteizugehörigkeit sagen wir an dieser Stelle nichts. - Diese Behörde macht eine hervorragende Arbeit und ist immer bereit, ihre Arbeit auch zu verbessern. Sevim DaðdelenSevim Dağdelen ({3}) Das ist das, was ich beiden Berichten, insbesondere dem Zwischenbericht über die Integrationskurse, entnehme. Es gibt immer noch Bedarf und Möglichkeiten, zu verbessern. Das wird gemacht. Was ich besonders begrüße, ist, dass dieses Bundesamt ständige Evaluationen vornimmt. Dort wird etwas gemacht, was wir in der Politik vielleicht zu selten machen: Man überzeugt sich jeweils in Zwischenschritten davon, wie die Programme, die man beschlossen hat, eigentlich wirken. An anderen Stellen dagegen herrscht vielleicht ein allzu großer Mangel an Evaluation. Zweitens. Vermittlung der Sprache ist - darauf ist schon hingewiesen worden - eine ausgesprochen wichtige Voraussetzung - da bin ich bei Frau Piltz -; aber sie ist beileibe nicht alles. Integration verlangt erheblich mehr. ({4}) Ich möchte die beiden Berichte zum Anlass nehmen, drei Stichworte zu nennen, die wir bei der weiteren Arbeit im Auge behalten sollten: Bildung, Beteiligung und Anerkennung. Erstens: Bildung. Herr Uhl hat darauf hingewiesen: Fast 10 Prozent der Jugendlichen in Deutschland und fast 20 Prozent der Jugendlichen mit Migrationshintergrund haben keinen Hauptschulabschluss. Der Anteil ist also bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund fast doppelt so hoch. Ein weiterer Blick in die Statistik zeigt, dass 30 Prozent der Jungen mit Migrationshintergrund den Hauptschulabschluss nicht schaffen. Das ist im Grunde wie eine versperrte Tür vor allem Positiven, das sich besonders in beruflicher Hinsicht auf dem Lebensweg ergeben könnte. An dieser Stelle ist eine Veränderung nötig. Insofern begrüße ich sehr, was der Arbeitsminister gestern angeboten hat: Er hat eine Art Rechtsanspruch für jeden jungen Menschen in Deutschland auf einen Hauptschulabschluss angekündigt. ({5}) An dieser Stelle möchte sich die Bundesagentur für Arbeit mit einklinken. Damit würde eine ganz wichtige Voraussetzung für eine Veränderung in diesem Bereich geschaffen. Wir reden hier über insgesamt 2 Millionen Menschen, die zu uns gekommen sind und eine sogenannte nachholende Integration gebrauchen könnten, das heißt, die nicht verpflichtet sind, Sprach- oder Integrationskurse zu belegen, die aber durchaus davon profitieren könnten. In dieser Gruppe gibt es rund 340 000 Haupt- und Realschüler zwischen zehn und 15 Jahren. Das ist aus Sicht der SPD eine sehr schwierige Gruppe, die besonderer Förderung bedarf. Eine solche Förderung würde nämlich verhindern, dass in 10 oder 15 Jahren ein enormer sozialer Sprengstoff entsteht. Zweitens: Beteiligung. Integration setzt in der Tat gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft und eine Begegnung auf gleicher Augenhöhe voraus. Dabei geht es zum einen um die Teilhabe an der Bürgergesellschaft. Hier wiederhole ich, was ich an anderer Stelle schon zu diesem Thema gesagt habe: Zum Beispiel muss die freiwillige Feuerwehr mit ihren 1,2 Millionen Mitgliedern die Türen öffnen. Sie sollte den Migranten sagen: Ihr seid bei uns wirklich von Herzen willkommen; wir wollen und brauchen euch hier; ihr seid Teil der Gesellschaft, die etwa in der freiwilligen Feuerwehr gesellschaftliche Aufgaben wahrnimmt. Beteiligung heißt aber noch mehr: Menschen müssen bei wichtigen Entscheidungen mitwirken können, sowohl die Deutschen als auch diejenigen, die einen Migrationshintergrund haben. Mir hat das Beispiel eines Moscheenbaus sehr eingeleuchtet - bei einer Veranstaltung wurde vor ein paar Tagen davon berichtet -: In Nordrhein-Westfalen gibt es offenbar - so wurde mir berichtet - zwei eklatante Beispiele für Moscheenbau, bei denen die Entwicklung bzw. die Kontroverse sehr unterschiedlich verlaufen ist. Vor dem Bau einer Moschee in Köln hat es keine große Bürgerbeteiligung gegeben. Vor dem Bau einer Moschee in Duisburg-Marxloh wurde in einem langen Prozess offenbar ein großes Maß an Beteiligung praktiziert; die Menschen, die diese Moschee besuchen wollen - Ausländer, Migranten -, und Deutsche sind in einen langwierigen Prozess der Beteiligung eingebunden worden. Dies war offensichtlich ein wichtiger Schritt, der dazu geführt hat, dass die schwierige Entscheidung für einen Moscheebau in Duisburg mehr Akzeptanz findet als in Köln. Auch das ist ein Beispiel für Beteiligung. Bildung bedeutet beispielsweise, dass Menschen nicht erst in der Schule, sondern noch früher - im Kindergarten oder in der Familie - eine Förderung erfahren. Dafür gibt es wunderbare Beispiele; ich möchte nur eines nennen: HIPPY, ein Hausbesuchsprogramm für sozial benachteiligte Familien mit Kindern im Vorschulalter. Die deutschen Sprachkenntnisse sollen verbessert, der Lernort Familie gestärkt werden. Türkische, arabische und russische Mütter finden sich dort engagiert zusammen. Sie bewerten die Frühförderung ihrer Kinder überaus positiv. In erster Linie begrüßen sie, dass die Kinder rechtzeitig Deutsch lernen und sie selbst als Eltern gefordert werden, sich an dieser Sprachförderung zu beteiligen. Es gibt viele andere Beispiele; ich wünsche mir noch mehr davon. Drittens: Anerkennung. Ich komme zu einem Punkt, bei dem es offensichtlich immer noch nicht zu einer einvernehmlichen Regelung mit der CDU/CSU kommen kann. Ich bin der Meinung, dass die doppelte Staatsangehörigkeit in der Tat eine Form der Anerkennung wäre. ({6}) Der Innenminister hat davon gesprochen. Herr Schäuble, es gibt nicht nur wenige Fälle von doppelter Staats16992 bürgerschaft in Deutschland. In vielen Fällen kommen Inhaber der doppelten Staatsbürgerschaft aus den USA oder anderen Ländern, in denen es das Recht des Geburtsortes gibt: Jemand, der dort gelebt hat, der also etwa als Franzose oder Amerikaner geboren wurde, erhält zusätzlich die deutsche Staatsbürgerschaft. Es gibt viele solcher Fälle in Deutschland. Dies dürfen wir nicht verteufeln. Die Süssmuth-Kommission hat damals gesagt, die Zulassung von doppelten Staatsbürgerschaften sei geeignet, die Kluft zwischen Staatsvolk und Wohnbevölkerung zu schließen. Es ist eine Form der Anerkennung, dass es Menschen, die hier wohnen, erlaubt wird, eine Identität zu haben, die sie weiterhin zum Beispiel mit der Türkei oder anderen Ländern verbindet. An dieser Stelle brauchen wir eine Entwicklung, wie wir sie inzwischen zum Thema Einwanderungsland erlebt haben. Wir brauchen die Anerkennung doppelter Staatsbürgerschaften. Dies nimmt uns nichts, ({7}) sondern fördert gerade das, was wir alle wollen: Integration. Vielen Dank. ({8})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nun hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Reinhard Grindel. ({0})

Reinhard Grindel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003539, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es geht hier nicht nur um Zahlen, sondern auch um Menschen und um ihre Schicksale. Ich finde, Frau Kollegin Dağdelen, wir müssen hier noch einige gemeinsame Grundlagen möglich machen. Dass Sie hier sagen, dass die bedauernswerten Todesfälle von Flüchtlingen aus Afrika im Mittelmeer und vor den Kanarischen Inseln Ergebnis unserer Ausländer- und Asylpolitik sind, geht zu weit. ({0}) Das ist das Ergebnis menschenverachtenden Schlepperund Schleusertums. Wir sollten uns zumindest darin einig sein, dass wir das bekämpfen. ({1}) Das Zweite. Wir diskutieren hier über die Frage des Familiennachzugs. Wir haben in diesem Zusammenhang zwei politische Ziele verfolgt: Wir wollten gerade an die Familien in Deutschland das klare Signal geben, dass es ohne die deutsche Sprache nicht geht, und - das ist hier zu wenig betont worden - wir wollten Zwangsehen bekämpfen. Wir wollten Frauen durch Deutschkenntnisse, die sie vor der Übersiedlung in unser Land erwerben, stärken, sich Hilfe holen zu können, sich gegen Unterdrückung und Gewalt wehren zu können. ({2}) Deswegen ist es logisch, dass diese Deutschkenntnisse vor der Übersiedlung erworben werden müssen; ({3}) denn gerade die von Zwangsehen betroffenen Frauen dürfen nicht an Integrationskursen teilnehmen. Mir haben die für die Erteilung von Visa zum Zwecke des Familiennachzugs zuständigen Mitarbeiter in unseren Botschaften in Ankara und Istanbul gesagt, dass sie vermuten - obwohl sie es nicht immer beweisen können -, dass 30 bis 40 Prozent der Visa, die erteilt werden, den Hintergrund der Zwangsehe haben. Insofern sage ich Ihnen: Wenn jetzt die Zahlen der Familienzusammenführung zurückgehen, dann heißt das auch, dass wir Zwangsehen erfolgreich bekämpfen, dass wir Hunderte, wahrscheinlich Tausende von Frauen davor bewahren, hier in Deutschland in einer Zwangsehe leben zu müssen. Das ist eine richtige Politik. ({4}) Es wurde in der Debatte gesagt, wir müssten in der Migrationspolitik einen europäischen Ansatz haben. Ich will Sie darauf hinweisen, dass die französische Regierung im Rahmen ihrer EU-Präsidentschaft im zweiten Halbjahr dieses Jahres an einem europäischen Einwanderungs- und Asylpakt arbeitet. Ich möchte mit Blick auf die Opposition aus dem Entwurf dieses europäischen Einwanderungs- und Asylpaktes zitieren. Dort steht: Der Europäische Rat möchte eine bessere Regulierung der Einwanderung aus familiären Gründen, bei der sowohl die Aufnahmekapazitäten jedes Mitgliedslandes berücksichtigt werden sollen als auch die Integrationsfähigkeit der Betroffenen, welche insbesondere nach ihren Mitteln, ihren Unterkunftsbedingungen und ihrer Beherrschung der Sprache des Ziellandes bewertet wird. - Mit anderen Worten: Die französische EU-Präsidentschaft will exakt das, was wir im Zuwanderungsrecht geregelt haben. ({5}) Zu Recht sind die Erfolge unserer Integrationskurse lobend erwähnt worden, für die wir über 154 Millionen Euro ausgeben. Das hat in der Tat zu einer besseren Qualität geführt. Wir haben die Kostenerstattung für die Kursträger deutlich erhöht, ({6}) damit die Kurse schneller beginnen können, und nicht erst, wenn 20 Teilnehmer beisammen sind, und damit qualifizierteres Personal eingestellt werden kann. Wir haben das Angebot auf 900 Stunden ausgeweitet. Es gibt mehr Kurse für Frauen mit Kinderbetreuung, mehr Kurse für junge Leute in Verbindung mit Berufs- und Betriebspraktika. Wir haben - gerade für den ländlichen Raum ist das wichtig - eine umfassende Fahrtkostenerstattung vorgesehen. Sicher, im Detail kann man immer noch etwas verbessern; da sind wir dran. Aber dass mit den Integrationskursen als Teil des Nationalen Integrationsplans ganz praktisch etwas für ein besseres Zusammenleben, für ein Miteinander von Ausländern und Deutschen in unserem Land geschehen ist, kann niemand ernsthaft bestreiten. ({7}) Lassen Sie mich etwas zum Thema Arbeitsmigration sagen, weil das hier angesprochen worden ist. Lieber Kollege Veit, ich habe vor wenigen Tagen in mehreren Zeitungen aus dem Rhein-Main-Gebiet gelesen, dass dort ein Autozulieferer einen Ingenieur mit chinesischen Sprachkenntnissen suchte. Das ist von einem Arbeitgeberverband zum Anlass genommen worden, wieder eine Änderung des Zuwanderungsgesetzes hinsichtlich der Zuwanderung in den Arbeitsmarkt zu fordern. Ich habe mir den Fall einmal genau angesehen. Was war das Problem? Das Problem war nicht, dass der Autozulieferer diesen chinesischen Ingenieur nicht bekommen hat. Er hat ihn bekommen, obwohl er weit weniger als die berühmten 84 000 Euro für Hochqualifizierte verdient. Nein, das Problem war, dass es zwei Monate gedauert hat, bis die zuständige Bundesagentur die Vorrangprüfung durchgeführt hat. ({8}) Darüber hat sich dieser Mittelständler zu Recht aufgeregt. Lieber Kollege Bürsch, darum sage ich Ihnen: Wir brauchen kein Punktesystem und auch keine neuen Vorschriften hinsichtlich der Zuwanderung in den Arbeitsmarkt. Wir brauchen mehr Flexibilität der Bundesagentur, der Industrie- und Handelskammern sowie der Ausländerbehörden. Dann werden wir ausländische Fachkräfte nach Deutschland bekommen. ({9}) Der Aussage, dass wir aufpassen müssen, damit wir in Deutschland keine Talente vergeuden, stimme ich ausdrücklich zu; das ist ja hier angesprochen worden. Gerade etwa unter den Aussiedlern, die bei uns leben, gibt es eine Vielzahl von Menschen, die in einfachen Kursen die Qualifikationen erwerben könnten, die notwendig sind, damit sie in ihren hochqualifizierten Berufen, etwa als Arzt, in Deutschland arbeiten können. ({10}) Wir haben genug Taxifahrer in Großstädten, aber zu wenig Ärzte im ländlichen Raum. Durch eine bessere Nachqualifizierung und eine flexiblere Anerkennung von Abschlüssen können wir dafür sorgen, dass die Talente, die in unserem Land schlummern, besser genutzt werden. Das ist im Interesse aller. ({11})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Reinhard Grindel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003539, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin, ein Schlusswort. - Wir, besonders der Bundesinnenminister und die Staatsministerin Böhmer, haben der Integration neue Dynamik verliehen. Sicherlich ist noch viel zu tun; dass wir das Thema angepackt haben, kann aber niemand bestreiten. Herzlichen Dank. ({0})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Letzte Rednerin in dieser Debatte ist nun die Kollegin Dr. Lale Akgün für die SPD-Fraktion.

Dr. Lale Akgün (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003492, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrter Herr Minister Schäuble! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Deutschland gleicht mehr und mehr einer Dame, die nicht wahrhaben will, dass sie älter wird. Um die Falten, die sich durch ihr Gesicht ziehen, nicht sehen zu müssen, putzt sie zuerst ihre Brille nicht mehr und verhängt dann auch noch die Spiegel. Realitätsverweigerung nennt man das. ({0}) Wenn ich mir den Migrationsbericht 2006, über den wir heute diskutieren, anschaue, kann ich nur sagen: Wir betreiben gemeinsam kollektive Realitätsverweigerung. Unser Land wird älter, aber wir wollen es nicht wahrhaben. Wir haben eine niedrigere Geburtenrate, und immer weniger Menschen kommen als Zuwanderer zu uns. Beides führt zu einer rückläufigen Bevölkerungsentwicklung. Das heißt unterm Strich: Die alternde Dame nimmt auch noch kräftig ab, und zwar mehr als ihr lieb sein kann. ({1}) - Das ist eine Allegorie, Herr Kollege. Schauen Sie im Wörterbuch nach, was das ist. ({2}) - Erkläre es ihm nachher. Dabei müsste die alte Dame, um im Bild zu bleiben, nur einen Blick in den Spiegel werfen, sprich: den Migrationsbericht, um zu erkennen, wie es um sie steht. Sie bräuchte eigentlich keine Angst zu haben; denn es gibt ein effektives Anti-Aging-Mittel: die gesteuerte Zuwanderung. Durch Zuwanderung halten wir nicht nur die Bevölkerungszahlen konstant, sondern verjüngen unsere Gesellschaft auch. Wir verpassen der alten Dame eine Frischzellenkur. Auch das sieht man an den Zahlen: Im Jahr 2006 waren knapp 75 Prozent der Zugewanderten unter 40 Jahre. Der Anteil der unter 40-Jährigen an der Gesamtbevölkerung beträgt nur 28 Prozent. Tun wir also etwas dafür, dass Menschen aus aller Welt nach Deutschland kommen und hier dauerhaft bleiben und arbeiten, ja, hier gerne leben. Diesem wichtigen Ziel sollten wir unsere Integrationspolitik unterordnen. Wenn wir es versäumen, mehr Zuwanderer ins Land zu holen, wird sich die Erwerbsbevölkerung bis 2050 um ein Viertel reduzieren, was dramatische Folgen für unser Sozialsystem hätte. Rüdiger Veit hat das eben schon gesagt. Er hat aber auch gesagt, dass man das nicht oft genug wiederholen kann. Ich beschreibe hier kein Wolkenkuckucksheim, sondern die nackte Realität. Wir werden einen eklatanten Mangel an Arbeitskräften haben, vor allem an Akademikern. Diesem Problem sollte unsere volle Aufmerksamkeit gewidmet sein statt dem Ehegattennachzug aus der Türkei, aus Thailand und Trinidad. Ich bin sehr froh, dass der Migrationsbericht 2006 sehr deutlich macht, worauf es ankommt. An dieser Stelle möchte ich dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge für diesen ausgezeichneten Bericht ausdrücklich danken. ({3}) Damit haben wir eine hervorragende empirische Datengrundlage, die uns glasklar vor Augen führt, war wir tun müssen. Nun liegt es an uns, die richtigen Schlüsse zu ziehen und mit den Scheingefechten über die angebliche Bedrohung Deutschlands durch sogenannte anatolische Importbräute endlich aufzuhören. Herr Grindel, Sie haben eben Applaus dafür bekommen, dass Sie gesagt haben, durch die Neuregelung des Familiennachzugs sei die Anzahl der sogenannten Zwangsehen zurückgegangen. Ich muss Ihnen leider sagen: Der Bericht ist aus dem Jahr 2006; da galt die Regelung noch gar nicht. ({4}) Wenn also die Anzahl der Ehen mit Partnern aus dem Ausland, vor allem aus der Türkei, rückläufig ist, dann ist das eine ganz normale Entwicklung und ein Zeichen für die immer stärker einsetzende Integration und nicht Ergebnis dessen, dass wir hier restriktive Regelungen durchgesetzt haben. ({5}) Es kommen gewaltige gesellschaftliche Veränderungen auf uns zu. In wenigen Jahren werden wir in einer Fifty-fifty-Gesellschaft leben, also in einer Gesellschaft, in der die Hälfte der Menschen einen Migrationshintergrund hat. Darauf sollten wir uns besser frühzeitig einstellen, damit der Schock nicht wieder über Nacht kommt, wie bei der Erkenntnis, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Früh darum kümmern, so lautet die Devise; denn wer sich früh kümmert, hat Einfluss und Steuerungsmöglichkeiten. Wir müssen uns fragen: Wie bekommen wir mehr Zuwanderung hin, und wie bekommen wir die Zuwanderung, die wir brauchen? Darin schwingt die Frage mit: Wie werden wir für potenzielle Zuwanderer attraktiv? Ich meine die hochqualifizierten Zuwanderer, die Ärzte und Ingenieure, aber auch die Facharbeiter und die niedriger qualifizierten Arbeitskräfte wie Handwerker und Pflegepersonal; auch sie werden in den nächsten Jahren fehlen. Die Lösung ist eine Kombination aus Punktesystem und Engpasszuwanderung. Ein Punktesystem hatte bereits der Zuwanderungsrat unter Rita Süssmuth vorgeschlagen und damit Weitsicht bewiesen. Dazu bedarf es jedoch einer Zuwanderung, die Engpässen auf dem Arbeitsmarkt, zum Beispiel bei den Ingenieuren oder Lehrern, entgegensteuert. In diesem Zusammenhang begrüße ich die Blue-Card-Initiative der Europäischen Kommission, die die Engpasszuwanderung regeln soll. Das ist aber nicht alles. Wir brauchen auch - das ist schon erwähnt worden - eine Bildungsoffensive bei den noch nicht Qualifizierten. Außerdem müssen wir die stillen Reserven aktivieren. Das sind vor allem Aussiedler, die oftmals gut ausgebildeten Lehrer oder Ingenieure, die zurzeit zum Beispiel als Reinigungskräfte beschäftigt sind. Es ist doch evident, welch enormes Potenzial wir hier verschenken, erst recht, weil uns zugleich etwa 16 000 Lehrerinnen und Lehrer fehlen. ({6}) Sie kennen das Stichwort in diesem Zusammenhang: nachholende Integration. Nachholende Integration in einer Einwanderungsgesellschaft ist keine Kleinigkeit, sondern unabdingbares Muss. Neue Feststellungen werfen neue Fragen auf. Welche Integrationspolitik braucht eine Fifty-fifty-Gesellschaft? Man kann vorab sagen: auf jeden Fall eine Integrationspolitik, die das Klein-Klein ablegt und sich stattdessen um Ganzheitliches bemüht. Mit dem großen Ganzen meine ich mehrere Dinge. Zunächst einmal meine ich eine Integrationspolitik, die das Gemeinsame aller hier lebenden Menschen in den Blick nimmt, statt immer wieder das Trennende zu schärfen. Glauben Sie mir, es ist wichtig, hier und jetzt Schluss damit zu machen, Menschen bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag in eine ethnische Schublade zu stecken. Wenn wir zum Beispiel über Probleme von Menschen mit türkischem Hintergrund auf dem Arbeitsmarkt sprechen, dann interessiert doch weder die ethnische Herkunft noch der muslimische oder sonstige Glaube. Eine vernünftige Ursachenanalyse setzt bei der sozialen Lage an. Im Übrigen ist es völlig verfehlt, sich bei der Integrationspolitik ausschließlich auf die Türken als Gruppe zu fokussieren. Ein solcher Blick missachtet die Realitäten, weil er die Entwicklung der Zuwandererzahlen schlichtweg ignoriert. Der Migrationsbericht 2006 weist deutlich aus, dass der Wanderungssaldo der in Deutschland lebenden Türken im Jahr 2006 zum ersten Mal negativ war: minus 1 700 Personen. Im Moment herrscht aber leider immer noch ein Klima vor, in dem Menschen in eine ethnische oder religiöse Ecke gestellt werden, in dem es nicht selbstverständlich ist, eine andere Hautfarbe zu haben, Russisch oder Arabisch als Muttersprache zu sprechen oder gar muslimischen Glaubens zu sein. Nein, unser Klima deklariert diese Eigenschaften im besten Falle als Exotik, im schlechteren Falle als etwas, das man bekämpfen muss. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Politik hat dazu einen nicht geringen Beitrag geleistet. Aus diesem Grunde finde ich - bei allem Respekt für das Engagement der Bundesregierung und für Ihr persönliches Engagement, Herr Innenminister -, dass die ganze Gipfelei, die seit 2006 um sich greift, relativ sinnlos ist. Ein Integrationsgipfel bei der Kanzlerin, ein Islamgipfel beim Bundesinnenminister - durch all das suggeriert man den Zugewanderten, vor allem den Muslimen: Ihr seid so problematisch, dass wir uns gesondert um euch kümmern müssen. - Diese Entwicklung halte ich für den wahren Gipfel. ({7}) Eine moderne Integrationspolitik, die den Bedürfnissen unseres Landes Rechnung trägt, kann doch keine Sonderschulveranstaltung für die Sitzengebliebenen sein. ({8}) Sie muss eine Politik sein, die Chancengleichheit so weit wie möglich herstellt und auf das Gemeinsame statt auf das Trennende setzt. ({9}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, vielleicht sind wir in der Politik inzwischen etwas getrieben, auch aufgrund der Medienberichterstattung. Unsere Aufgabe ist aber, die Zuwanderung auf der Grundlage der Fakten zu gestalten. Dazu möchte ich Sie alle herzlich einladen. ({10})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/7705 und 16/6043 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 22 a bis 22 f sowie Zusatzpunkt 7 auf: 22 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Eduard Lintner, Eckart von Klaeden, Klaus Brähmig, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Lothar Mark, Gert Weisskirchen ({0}), Niels Annen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Eine starke Partnerschaft - Europa und Lateinamerika/Karibik - Drucksache 16/9072 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({1}) Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Anette Hübinger, Dr. Christian Ruck, Dr. Wolf Bauer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Sascha Raabe, Gregor Amann, Elvira Drobinski-Weiß, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Die entwicklungspolitische Zusammenarbeit Deutschlands im Rahmen der strategischen Partnerschaft der Europäischen Union mit den Staaten Lateinamerikas und der Karibik zielgerichtet stärken - Drucksache 16/9073 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({2}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heike Hänsel, Dr. Diether Dehm, Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Zum EU-Lateinamerika-Gipfel in Lima Impulse für solidarische und gleichberechtigte Beziehungen zwischen der EU und Lateinamerika - Drucksache 16/9074 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({3}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Thilo Hoppe, Marieluise Beck ({4}), Volker Beck ({5}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Die strategische Partnerschaft zwischen der Europäischen Union, Lateinamerika und der Karibik durch eine intensive Umwelt- und Klimakooperation beleben - Drucksache 16/8907 16996

Not found (Mitglied des Präsidiums)

Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({0}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Heike Hänsel, Wolfgang Gehrcke, Monika Knoche, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Deutsche Kolumbien-Politik auf die Stärkung ziviler Friedensinitiativen und der sozialen, demokratischen und Menschenrechte ausrich- ten - Drucksachen 16/5678, 16/8062 - Berichterstattung: Abgeordnete Anette Hübinger Dr. Karl Addicks Ute Koczy f) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Karl Addicks, Hellmut Königshaus, Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Die Regierungsverhandlungen mit Bolivien für eine kritische Überprüfung der Entwicklungszusammenarbeit nutzen und an Bedingungen knüpfen - Drucksachen 16/5615, 16/9114 Berichterstattung: Abgeordnete Anette Hübinger Dr. Karl Addicks Ute Koczy ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Marina Schuster, Dr. Werner Hoyer, Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Die Beziehungen zu Lateinamerika und den Staaten der Karibik stärken und den EULateinamerika/Karibik-Gipfel zu einer ehrlichen Bestandsaufnahme nutzen - Drucksache 16/9056 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({3}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich sehe und höre dazu keinen Widerspruch. Dann werden wir so verfahren. Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat für die Bundesregierung Herr Bundesminister Dr. FrankWalter Steinmeier das Wort. ({4})

Dr. Frank Walter Steinmeier (Minister:in)

Politiker ID: 11004167

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor vielen Jahren war Lateinamerika in unseren Köpfen der Kontinent der Militärdiktaturen, der schweren Menschenrechtsverletzungen und der sozialen Ungleichheit. Viele, auch hier in Europa, haben lange Zeit für einen friedlichen Übergang zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gekämpft, darunter auch Stiftungen, Menschenrechtsorganisationen und vor allen Dingen die Kirchen. Wer sich heute, mit mehr als 30 Jahren Abstand zu den frühen 70er-Jahren, über die Entwicklung dieser Region informiert, der wird sagen müssen: Viele Länder Südamerikas sind auf ihrem Weg sehr weit vorangekommen. In vielen dieser Länder - davon habe ich mich überzeugen können - werden die Verbrechen, die unter Militärdiktaturen begangen wurden, inzwischen aufgearbeitet, in einigen Ländern auch gesühnt. Wir können feststellen, dass die aus demokratischen Wahlen hervorgegangenen Wahlergebnisse auf den Straßen überwiegend nicht mehr infrage gestellt und dass auch nicht mehr geputscht wird. Südamerika ist ein Kontinent im Aufbruch. ({0}) Ich habe mich ganz neu auf Südamerika konzentriert. Demnächst steht meine dritte Reise in diese Region an. Viele dieser Länder haben nicht nur ihre demokratischen Strukturen deutlich gestärkt, sondern können auch beeindruckende Wachstumsraten von überwiegend mehr als 6 Prozent und eine Beschleunigung ihrer industriellen Entwicklung vorweisen. All das verändert das Gesicht dieses Kontinents weitaus mehr, als es hierzulande oft wahrgenommen wird. Wer weiß zum Beispiel, dass einer der Marktführer beim Bau mittelgroßer Flugzeuge aus Brasilien kommt? Wer weiß, dass einer der weltweit größten Beton- und Zementhersteller aus Mexiko kommt? Mit Blick auf solche Entwicklungen ist klar: Wo neue Märkte und neue Nachfrage entstehen, da erwächst auch ein Exportmarkt, der für uns relevant ist. Insofern haben wir allen Anlass, die wirtschaftliche Entwicklung, die in Mittel- und Südamerika im Augenblick im Gange ist, zu unterstützen und die globale Partnerschaft, um die wir uns bemühen, auszubauen. ({1}) Das wird auch die Botschaft sein, die von der Europäischen Union auf dem gemeinsamen Gipfel mit den laBundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier teinamerikanischen Staaten in wenigen Tagen in Lima ausgehen wird. Es gibt aber durchaus auch gegenläufige Prozesse; das konnten wir durch die Medien wahrnehmen. Die Hungerproteste in Mexiko, Honduras und vor allen Dingen Haiti sind ein deutlicher Weckruf, der uns nicht vergessen lassen sollte, dass es neben den vielen Gewinnern der Globalisierung auch Verlierer gibt und dass manche Kosten der Globalisierung für die betroffenen Bevölkerungsgruppen dort in der Tat größer sind, als es unsere euphorische Zeichnung gelegentlich vermittelt. Diese Krisensignale zeigen auch: Es wäre sicherlich nicht ausreichend, auf die Selbstheilungskräfte des Marktes zu setzen. ({2}) Politik ist gefordert, zumal internationale Politik, daneben natürlich eine faire Welthandelsordnung, aber auch nationale Politik. Mit Blick darauf können wir feststellen, dass in Ländern wie Mexiko und Brasilien jedenfalls das Bemühen besteht, die Kluft zwischen Arm und Reich auch aufgrund nationaler Maßnahmen zu verringern. In bescheidenem Maße trifft das nach meiner Kenntnis inzwischen auch für Panama zu. Meine Damen und Herren, als Deutsche und als Europäer müssen wir dafür werben, dass die von mir angesprochenen Anstrengungen überall in Lateinamerika und auch in der Karibik ganz vorn auf der Agenda Platz finden. Nicht nur wir wollen verdeutlichen, sondern auch diese Staaten in Südamerika haben allen Anlass, zu zeigen, dass der Weg einer nationalen Politik zur Verringerung der Kluft zwischen Arm und Reich allemal richtiger und besser ist als die Rezepte von Hugo Chávez und anderen. ({3}) Wegen der Herausforderungen, die vor uns liegen, brauchen wir aus eigenem Interesse ein stabiles, ein langfristig denkendes Lateinamerika. Der Ressourcenreichtum und die Biodiversität Lateinamerikas spielen auch für uns eine zentrale Rolle; dies wird bei der internationalen Konferenz in Deutschland in der nächsten Woche sicherlich vielfach hervorgehoben werden. Zugleich ist diese Region, etwa mit Blick auf Brasilien und das Regenwaldgebiet, eine der verwundbarsten Regionen der Welt. Ich war deshalb froh, feststellen zu können, dass beides erfolgt: Einerseits wächst die Sensibilität für diese Fragen, andererseits stößt unsere Bereitschaft, unser Angebot zur Zusammenarbeit in diesen Fragen in den südamerikanischen Ländern auf Interesse und Unterstützung. Nehmen Sie das Beispiel Peru. Dort hängt die gesamte Wasserversorgung im Grunde genommen an einem Gletschergebiet, von dem wir wegen der zugrunde zu legenden Annahmen zu den klimatischen Veränderungen wissen, dass es in 20 Jahren überwiegend nicht mehr vorhanden sein wird, während gleichzeitig aufgrund der wirtschaftlichen Entwicklung der Wasserbedarf in der gesamten Region extrem steigt. Das zeigt: Nicht nur wir sind daran interessiert, unsere den Umweltbereich betreffenden Technologien zu exportieren; es gibt auch in dieser Region ein extrem hohes Interesse, daran zu partizipieren. Wir sollten zum Teilen von Know-how bereit sein und Unterstützung für entsprechende Kooperationen anbieten. Man kann in diesen Wochen nicht auf Südamerika, auf Lateinamerika schauen, ohne den Blick auch auf Kuba zu richten; das wäre nicht richtig, auf jeden Fall wäre es nicht vollständig. Ich will hier wie an anderer Stelle sagen: Kuba ist auch mit seinem neuen Präsidenten Raúl Castro nicht über Nacht zu einer Demokratie geworden. Wer so etwas behauptet, liegt sicherlich falsch. Wir sollten die kleinen und vorsichtigen Schritte in Richtung auf eine Öffnung - nach der sich die Menschen auf Kuba so sehr sehnen - aber auch nicht kleinreden. Der vorsichtige Wandel auf Kuba bietet Chancen. Wir sollten diese Chancen im Sinne der Menschen, die sich nach Öffnung sehnen, nutzen. Was meine Person angeht, so will ich sagen: Wir diskutieren auf der europäischen Ebene zurzeit mit den Kollegen, welche Handlungsspielräume gegenwärtig bestehen und genutzt werden können. ({4}) Alles in allem haben wir eine Situation, in der sich eine Erneuerung der Partnerschaft mit den lateinamerikanischen Staaten lohnt: erstens wegen der Eigenentwicklung in Südamerika selbst, zweitens wegen der gemeinsamen Herausforderungen, denen wir nur mithilfe der südamerikanischen Staaten begegnen können, und drittens, weil wir als Europäische Union eine Form regionaler Kooperation entwickelt haben, an der in Südamerika Interesse besteht, seitens der Andengemeinschaft und seitens des Mercosur. Wir sind in den entsprechenden Vertragsverhandlungen leider noch nicht weit genug gekommen; aber wir bestärken die Kommission darin, diesen Weg weiterzugehen. ({5}) Ich plädiere für eine Partnerschaft mit Südamerika auf Augenhöhe. Machen wir etwas daraus! Herzlichen Dank. ({6})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Werner Hoyer für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Werner Hoyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000967, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich, dass sich der Außenminister für Latein16998 amerika interessiert und sich engagieren will. Wir werden ihn an dieser Ankündigung messen. Sein Amtsvorgänger hat sich sieben Jahre lang nicht die Bohne für Lateinamerika interessiert. ({0}) Lateinamerika ist für uns ein natürlicher Partner. Wer kommt einem als Erste in den Sinn, wenn es darum geht, die Gemeinschaft der aufgeklärten, rechtsstaatlichen Demokratien des Westens zu organisieren? Natürlich die meisten Länder Lateinamerikas. Das ist sicherlich noch ein weiter Weg, und wir müssen beharrlich dranbleiben. Deswegen liegt der Gedanke einer strategischen Partnerschaft nahe. Der SPD-Vorsitzende hat diese Woche die Forderung erhoben, die EU solle auf Lateinamerika zugehen und mit Lateinamerika eine strategische Partnerschaft begründen. Genau das ist 1999 geschehen; seither haben wir eine strategische Partnerschaft EU-Lateinamerika. Darüber hinaus ist jedoch nichts geschehen; die Defizite sind da. ({1}) Wir sind in Lateinamerika verdammt schwach vertreten. In diese Lücke stoßen andere vor: die Vereinigten Staaten sowieso - sie haben es allerdings seit dem 11. September 2001 schwer -; aber auch China und Russland haben Lateinamerika mittlerweile entdeckt. Im Hinblick auf Wirtschaft und Demokratie gibt es positive Entwicklungen - Sie haben sie zu Recht beschrieben -, die wir nicht unterschätzen dürfen. Es gibt aber auch Rückschläge, zum Beispiel die rückwärtsgewandten neuen Autokraten. Diese Caudillos geben uns, auch wenn sie demokratisch gewählt sind, großen Anlass zur Sorge. Noch mehr Sorgen macht mir allerdings, dass sich trotz der Öl- und Gasmilliarden, die verschiedene lateinamerikanische Länder Jahr für Jahr einnehmen, an der sozialen Schieflage nichts geändert hat, dass sie sogar zugenommen hat. Offensichtlich fühlen sich große Teile der Eliten nicht dafür verantwortlich, eine nachhaltige Entwicklung in Gang zu setzen, die Ölmilliarden zu nutzen, um endlich in Bildung, Forschung und Technologie, in Zukunftssicherung zu investieren. Ich sehe auch mit Sorge, dass Lateinamerika - übrigens der Halbkontinent, der als Erster, schon vor über 40 Jahren, zur kernwaffenfreien Zone erklärt worden ist - sehr wohl über ein Massenvernichtungsmittel verfügt, nämlich über Kokain. Wir haben keine Rezepte, damit klarzukommen. Es gibt also viel zu tun. Ich glaube, die Europäer müssen sich überlegen, ob sie weiterhin eher als Entwicklungshilfegeber auftreten wollen oder ob eine strategische Partnerschaft nicht mehr erfordert. Ich meine das gemeinsame Diskutieren und Vereinbaren von Zielen auf der Grundlage abgestimmter Interessen und das gemeinsame Entwickeln von Strategien, um diese Ziele tatsächlich zu erreichen. Das ist das, was Sie zum Schluss angesprochen haben: Partnerschaft auf Augenhöhe. Davon spüre ich gegenwärtig noch recht wenig. Es kann nicht sein, dass in gewissen zeitlichen Abständen große Gipfel stattfinden, während Lateinamerika bei uns ansonsten im Ressort Entwicklungszusammenarbeit angesiedelt ist. Das ist zu wenig. ({2}) Es gibt große globale Themen, bei denen wir unsere Freunde in Lateinamerika mit in die Pflicht nehmen wollen. Die Abrüstung habe ich eben genannt. Es gibt noch andere, zum Beispiel im Bereich der Bekämpfung des internationalen Terrorismus. Wir sollten nicht nur mit Brasilien, einem BRIC-Land, sondern auch mit anderen Ländern darüber reden, wie wir große Weltprobleme in den Griff bekommen können. Meine Damen und Herren, ich denke, wir werden auch über etwas sprechen müssen, was uns und übrigens auch Investoren - aber bei Weitem nicht nur - besonders besorgt, die Frage der Rechtsstaatlichkeit in Lateinamerika. Das steht wiederum in einem Zusammenhang mit unserer Entwicklungszusammenarbeit. Ich habe sehr große Sorgen in Bezug auf Budgethilfen für Staaten, bei denen von Rechtssicherheit und Transparenz des Regierungshandelns nicht gesprochen werden kann. Es gibt gegenwärtig das recht krasse Beispiel Nicaragua. Ich finde, die Bundesregierung sollte da konsequent bleiben. Durch das Moratorium hinsichtlich der Budgethilfe sind wir in einer guten Ausgangsposition. Der Bericht des Bundesrechnungshofes für Nicaragua ist vernichtend. Folglich muss man sich selber treu bleiben. ({3}) Ich bitte darum, dass wir auch mit unseren Elitepartnern in Lateinamerika offener und klarer sprechen. Es reicht nicht aus, dass es sich mittlerweile erfreulich viele Menschen in Lateinamerika leisten können, ihre Kinder auf gute Privatschulen und anschließend zum Beispiel nach Miami oder auf gute amerikanische Ivy League Schools und Universitäten zu schicken. Wir müssen erreichen, dass das in Lateinamerika selbst für alle möglich wird. Das ist gegenwärtig nicht der Fall. Ich denke, hier müssen wir auch gegenüber unseren Freunden deutliche Erwartungen artikulieren. Schließlich noch etwas zum Thema „wirtschaftliche Zusammenarbeit“; das wird beim Gipfel sicherlich wieder eine große Rolle spielen. Gerade wir als Liberale haben eine Idealvorstellung davon, wie man den Welthandel organisieren kann. Deswegen wünschen wir uns so sehr einen Fortschritt bei den WTO-Verhandlungen. Wir werden aber immer wieder hingehalten; es passiert nichts. Als gute Europäer sagen wir: Wir sind von unserem regionalen Integrationsmodell so überzeugt und begeistert, dass die anderen das jetzt auch so machen müssen. Wir predigen dies gegenüber Mercosur, der Andengemeinschaft und anderen regionalen Zusammenschlüssen, übrigens nicht erst seit heute. Wir kommen aber nicht voran, weil die Bereitschaft wichtiger kongenialer Partner in Lateinamerika nicht vorhanden ist, die Form von Souveränitätsverzicht zugunsten einer regionalen Wirtschaftsintegration zu leisten, die wir uns vorstellen. Deswegen werden wir uns als drittbeste Lösung ernsthaft damit befassen müssen, ob man nicht zumindest mit einigen der Schlüsselländer bilaterale Handelsvereinbarungen treffen kann, weil wir ansonsten in Lateinamerika an Boden verlieren. Nicht nur die Vereinigten Staaten wollen an eine früher erfolgreiche Strategie zur Entwicklung von Freihandelszonen mit Lateinamerika anknüpfen; auch China ist auf diesem Gebiet außerordentlich aktiv. Selbst Russland ist auf dem Markt zu sehen. Die Europäer verstecken sich immer hinter ihren Idealvorstellungen von regionaler Wirtschaftsintegration im Sinne von Mercosur nach EU-Modell, die ich nachhaltig teile. Ich glaube aber, dass das auf lange Zeit nicht funktionieren wird. Deswegen sollten wir uns auch in der Handelspolitik flexibler zeigen. Herzlichen Dank. ({4})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Eckart von Klaeden das Wort. ({0})

Eckart Klaeden (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002698, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Wir befinden uns in Zeiten großer politischer und wirtschaftlicher Umwälzungen. Die Haupttriebfeder für diese Umwälzungen ist die Globalisierung. Gerade in den letzten Jahren ist deutlich geworden, dass die Welt von morgen weniger euroatlantisch geprägt sein wird als heute. Die Konsequenz daraus ist: Wenn wir wollen, dass sich auch die zukünftige Weltordnung an den Prinzipien Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, soziale Gerechtigkeit und Achtung der Menschenrechte orientiert - wenn wir also wollen, dass wir nach unseren Prinzipien auch in einer Weltordnung leben können, die nicht mehr so stark euroatlantisch geprägt sein wird -, dann müssen wir uns stärker nach verlässlichen Partnern umsehen als bisher. Dafür bietet sich Lateinamerika wegen seiner Geschichte, seiner Werte und seines Selbstverständnisses als Teil der westlichen Welt und der Gemeinschaft der Demokratien besonders an. Es gibt keine andere Entwicklungsregion, mit der wir, was unsere Prinzipien und Werte angeht, eine so große Übereinstimmung haben wie mit Lateinamerika. Lateinamerika bringt mit seinen 36 Staaten in der internationalen Ordnung ein großes Gewicht auf die Waagschale. Da wir in diesen Tagen auch über 60 Jahre Israel diskutieren, weise ich darauf hin, dass ohne die Stimmen der lateinamerikanischen Staaten der Staat Israel mit hoher Wahrscheinlichkeit von den Vereinten Nationen nicht anerkannt worden wäre. Wir müssen unsere Partnerschaft mit Lateinamerika pflegen und ausbauen, und zwar vor allem vor dem Hintergrund - das hat der Kollege Hoyer schon angesprochen -, dass Deutschland und Europa dort zunehmend an Bedeutung zu verlieren scheinen, da mit China und anderen aufstrebenden asiatischen Staaten neue Partner bereitstehen, die zumindest aus wirtschaftlicher Sicht nicht weniger attraktiv sind als Europa. Der seit Jahren propagierten strategischen Partnerschaft müssen daher endlich konkrete und substanzielle politische Initiativen folgen. ({0}) Lateinamerika hat in den vergangenen Jahren eine tief greifende politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Veränderung erfahren. Unser Lateinamerikabild ist noch zu sehr von den 70er- und 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts geprägt. Aber während in den 70er-Jahren noch autoritäre Regimes die politische Landschaft Lateinamerikas dominiert haben, werden mittlerweile fast alle Staaten außer Kuba von demokratisch gewählten Regierungen geführt. Herr Minister, ich stimme Ihnen ausdrücklich zu, dass wir die kleinen Schritte, die Raúl Castro in Kuba unternimmt, nicht kleinreden sollten; denn dann wären sie ja nicht mehr zu erkennen. Es müssen daher noch wesentlich mehr Schritte hinzukommen, zum Beispiel die Freilassung politischer Gefangener. Gerade ist der weltberühmten Bloggerin Yoani Sánchez die Ausreise nach Spanien verweigert worden, die dort den renommierten Ortega-y-Gasset-Preis der Zeitung El País entgegennehmen sollte. Sie ist mit ihren Bloggerforen eine Hoffnung für die bürgerliche Gesellschaft, die Zivilgesellschaft und die demokratische Opposition in Kuba. Ich finde, wir alle sollten das Anliegen unterstützen, dass sie ausreisen darf und auf diese Weise ein Zeichen für das demokratische Kuba in Spanien setzen kann. ({1}) Heute wurde über die Agenturen verbreitet, dass Morales in Bolivien ein Referendum zu seiner Amtsenthebung akzeptiert. Auch Herrn Chávez sind bei seinem Referendum wegen seines autoritären und populistischen Kurses und wegen seiner offenen Sympathie für Terrorgruppen wie der FARC auch von der eigenen Bevölkerung deutliche Grenzen gesetzt worden. ({2}) - Ich weiß, dass sie mit ihnen sympathisieren und dass ihnen der Ausgang des Referendums nicht gefällt. Deswegen halte ich es für sinnvoll, das zu erwähnen. Das Fehlen etablierter und stabiler Parteiensysteme und das zunehmende Wohlstandsgefälle sind gerade für die jungen Demokratien in Lateinamerika eine besondere Gefahr. Deswegen ist es unsere Aufgabe - wir haben die Möglichkeit -, diese Transformationsprozesse weiter zu unterstützen; gleichzeitig ist aber auch zur Kenntnis zu nehmen, dass diese Prozesse schon erhebliche Erfolge zeigen. Ich habe das schon im Hinblick auf die demokratische Entwicklung festgestellt, aber es gilt auch für die wirtschaftliche Entwicklung. Das neue Lateinamerika, dem wir uns zuwenden müssen, erzielt zum Beispiel seit Jahren deutlich höhere Wachstumsraten als wir. Unternehmen dieses neuen Lateinamerikas - die sogenannten Multilatinas - sind heute auf dem Weltmarkt zu einer Herausforderung als Konkurrenten und zu Partnern im Hochtechnologiebereich geworden. Ich erinnere zum Beispiel an den brasilianischen Flugzeugbauer Embraer. Lateinamerikas Reichtum an Bodenschätzen und Energieressourcen sowie sein landwirtschaftliches Potenzial haben die Region zu einem begehrten Partner in der Weltwirtschaft werden lassen. Gerade wenn wir uns die Struktur der chinesischen Wirtschaft anschauen, stellen wir fest, dass die lateinamerikanische und die chinesische Wirtschaft außerordentlich komplementär sind. China braucht wegen seines gigantischen Wirtschaftswachstums große Rohstoffmengen, und Lateinamerika ist langfristig in der Lage, sie zu liefern. Im Gegenzug kann China nahezu alle Güter produzieren, die in Lateinamerika nachgefragt werden. Obwohl unsere Volkswirtschaften ähnlich komplementär sind, müssen wir feststellen, dass insbesondere die Agrarpolitik als ein Hindernis für eine vertiefte Kooperation zwischen der Europäischen Union und Lateinamerika erscheint. ({3}) Ich glaube, dass die aktuelle Entwicklung auf den Nahrungsmittelmärkten die Möglichkeit bietet, dieses Hindernis nach und nach zu beseitigen. Gerade das Beispiel China zeigt, dass Lateinamerika nicht auf uns wartet. In Zukunft werden wir auf Lateinamerika mehr angewiesen sein als Lateinamerika auf uns. Diese Herausforderung anzunehmen, erfordert Handeln auf drei Ebenen: erstens in Deutschland selbst, zweitens in unseren bilateralen Beziehungen zu den lateinamerikanischen Staaten und drittens in der Europäischen Union bei ihren multilateralen Bemühungen. Wir müssen also eine aktive und vor allem eine kontinuierliche Lateinamerikapolitik betreiben, die die Region wieder stärker in den Mittelpunkt unseres Interesses rückt. Entwicklungspolitik sollte sich stärker an der Stabilisierung der fragilen demokratischen Systeme und an der Überwindung defizitärer Verwaltungsstrukturen orientieren sowie für eine Verbesserung der sozioökonomischen und politischen Teilhabe aller gesellschaftlichen Gruppen sorgen, damit die demokratischen Strukturen gestärkt werden können. Auf die vielfältigen Möglichkeiten der Kooperation mit Lateinamerika auf internationaler Ebene - sei es bei der Reform der Vereinten Nationen, sei es bei der Kooperation im Klimaschutz - kann ich leider nicht mehr zu sprechen kommen. Die Stichpunkte sind Ihnen aber sicherlich bekannt. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollegin Heike Hänsel, Fraktion Die Linke. ({0})

Heike Hänsel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003763, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Herr Hoyer, Lateinamerika ist mehr als eine Marktlücke. Lateinamerika ist ein Kontinent mit Millionen von Menschen, die auf ein besseres Leben hoffen. Auch darum müsste es auf dem Gipfel in Lima in der nächsten Woche gehen. ({0}) Die politischen Rahmenbedingungen und die neuen Entwicklungen, vor deren Hintergrund dieser Gipfel stattfindet, sind entscheidend. Wir erleben, dass soziale Bewegungen in Lateinamerika es geschafft haben, den Widerstand gegen die neoliberale Globalisierung auszubauen und ihre Folgen teilweise einzudämmen. ({1}) Das sind Hoffnungsträger, die wir unterstützen müssen. Diese sozialen Bewegungen haben dazu beigetragen, dass neue Regierungen in Lateinamerika an die Macht gekommen sind. Diese versuchen teilweise, neue Ansätze im Rahmen ihrer Regierungsprogramme umzusetzen, manchmal gut, manchmal schlechter. ({2}) Die Regierungen werden von den Bewegungen kritisch begleitet. Es gibt Aufbrüche. Sie sind ein Zeichen der Hoffnung, weil sie gegen die bisherige neoliberale Globalisierung stehen. ({3}) Die Bewegungen sind breit gefächert. Es gibt Millionen Landlose und indigene Bevölkerungen, die aufstehen, sich um den Regenwaldschutz bemühen und ein Recht auf Land einfordern. Es gibt Frauenorganisationen und Kleinbauern, die sich auf den Weg machen. All das ist Lateinamerika. Diese Menschen brauchen unsere Solidarität. ({4}) Für mich sind Länder wie Venezuela, Bolivien, Ecuador, Paraguay, Brasilien, Argentinien und Guatemala Hoffnungsträger. Wir müssen sie unterstützen. Wir dürfen nicht von oben herab sagen, welche Politik sie betreiben sollen. Die entscheidende Frage ist: Wie reagiert die Europäische Union auf die aktuellen Entwicklungen in Lateinamerika? Was hat sie eigentlich anzubieten? Unterstützt sie diese Prozesse und versucht sie, diese zu befördern, oder boykottiert sie eher alternative Ansätze wie die Süd-Süd-Kooperation, die regionale Integration und die Entwicklung einer Bank des Südens als Alternative zu IWF und Weltbank? Wir sehen ganz klar, dass die Europäische Union mit ihren Wirtschafts- und Freihandelsabkommen, die sie plant, diese Ausrichtung boykottieren will. Wir erleben, dass eine politische Strategie ausgearbeitet wird - das ist in der Lissabon-Strategie festgehalten -, Europa zur größten Wirtschaftsmacht und zum größten Wirtschaftsraum der Erde zu entwickeln. Der Anspruch eines globalen Europas wird doch formuliert. Es gibt aber auch dazu eine Gegenbewegung in der Europäischen Union. Auch hier stehen viele Menschen zum Beispiel gegen den EUVertrag und diese neoliberale Politik auf. ({5}) Diese Menschen in Lateinamerika und hier in der Europäischen Union müssen sich vernetzen und gemeinsam gegen diese Politik arbeiten. Sie werden sich - das ist interessant - nächste Woche auf einem alternativen Gipfel in Lima treffen und genau diese Forderungen formulieren. Sie haben bisher dazu nicht einmal die Möglichkeit. Die peruanische Regierung verhindert, dass sie sich legal treffen können. Ich fordere hier die Bundeskanzlerin, die sich weltweit für Menschenrechte einsetzt, auf, sich auch dafür einzusetzen, dass sich die Menschen dort treffen können und auf dem Alternativgipfel in Lima friedlich demonstrieren können. ({6}) Es gibt so viele hoffnungsvolle Prozesse in Lateinamerika. Es finden Verfassungsprozesse in Ecuador und in Bolivien statt. Herr Steinmeier, es ist eine Katastrophe, dass es keine massive Unterstützung für den Verfassungsprozess und den gewählten Präsidenten von Bolivien, Evo Morales, gibt. Er braucht unsere Unterstützung. ({7}) Von den dortigen Eliten wird eine Sabotagepolitik betrieben. Ich würde von Ihnen gerne einmal eine Stellungnahme zu den Abspaltungstendenzen der Ostprovinzen in Bolivien hören. Dazu muss es doch eine Haltung der Bundesregierung geben. Hier werden zukunftsvolle Prozesse massiv boykottiert. Wir fordern eine offensive Unterstützung der bolivianischen Politik. ({8}) Es gibt viele andere hoffnungsvolle Ansätze, die wir im Rahmen der Entwicklungspolitik besprochen haben. Ich nenne als Beispiel Ecuador. Ecuador will Kompensationszahlungen dafür, dass es kein Erdöl im Nationalpark Yasuní fördert. Wir müssen Ecuador dabei unterstützen. Das ist richtige Klimaschutzpolitik, im Gegensatz zu den neuen Abkommen mit Brasilien, durch die der Anbau von Agrarprodukten für Treibstoffe noch weiter ausgebaut wird. Solche Prozesse wie in Ecuador müssen wir massiv unterstützen. Diese kommen hier viel zu wenig zur Sprache, ebenso wie das, was die Menschen an der Basis entwickeln. ({9}) Schauen Sie sich Kolumbien an. Es gibt Friedensgemeinden in Kolumbien, in denen sich Menschen mit großem Mut zusammengeschlossen haben, um inmitten von Regionen des Krieges humanitäre, gewaltfreie Zonen zu entwickeln. Sie werden massiv von Paramilitärs, von der Armee und auch von der Guerilla angegriffen. Diese Friedensgemeinden brauchen Unterstützung, weil sie Hoffnungsträger für eine friedliche Entwicklung Kolumbiens sind, ({10}) aber nicht Präsident Uribe und seine Regierung, die immer tiefer im paramilitärischen Sumpf versinkt. ({11}) Mittlerweile gibt es sogar Untersuchungen gegen den Präsidenten Uribe. Herr Steinmeier, Sie müssen sich wirklich fragen lassen, wer Ihr Kooperationspartner für mehr Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte in Lateinamerika ist. ({12}) Wir wollen eine Neuausrichtung der Kolumbienpolitik. Wir glauben, dass wir auf die zivilen friedenspolitischen Initiativen von unten setzen müssen und diese Menschen unterstützen müssen. Ich habe ein ganz konkretes Anliegen: In meinem Wahlkreis in Tübingen wurden Patenschaften für diese Friedensgemeinden übernommen. Bürgerinnen und Bürger aus Tübingen haben mir gestern Abend eine Liste mit Unterschriften mitgegeben, weil sie wissen, dass ich nach Lateinamerika fahre. Sie fordern, dass die Bundesregierung offiziell die Friedensgemeinden in Kolumbien unterstützen soll. ({13}) Diese Unterschriftenliste würde ich gerne der Kanzlerin mitgeben. Wir brauchen eine neue Politik gegenüber Kolumbien. Danke. ({14})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Jürgen Trittin, Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen.

Jürgen Trittin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003246, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, dass der Außenminister an einem Punkt sehr recht hatte, nämlich in dem, dass Lateinamerika in einer sehr positiven Entwicklung ist. Für mich ist das am deutlichsten geworden, als Frau Bachelet in Chile zur Präsidentin gewählt wurde. Sie ist eine Person, die in den 70er-Jahren noch vor dem Putsch in Deutschland Asyl beantragen musste und es bekommen hat. ({0}) - In der DDR, das zu erwähnen, ist an der Stelle wichtig. Was lehrt uns das? Das lehrt uns, dass wir in der Lateinamerikapolitik in Sachen Menschenrechte und Demokratie fest stehen müssen, aber dass wir uns vor einseitiger Parteinahme gegenüber Regimes hüten sollten, die uns scheinbar nahestehen. Das gilt etwa mit Blick auf Herrn Uribe, der nun wahrlich kein großer Bündnispartner im Bereich der Menschenrechte ist. ({1}) Im Kampf gegen den Terrorismus möchte ich den, ehrlich gesagt, nicht an meiner Seite haben. Wir müssen uns natürlich nicht nur - Herr Hoyer hat darauf hingewiesen mit dem Drogenanbau beschäftigen, sondern auch mit der Form von Drogenbekämpfungspolitik, die weite Teile der dortigen Ökosysteme zerstört. Nehmen wir ein anderes Beispiel: Da mit Evo Morales zum ersten Mal ein Vertreter der Linken und der indigenen Völker gewählt worden ist, versuchen nun bestimmte Teile der bolivianischen Bevölkerung, ein Referendum durchzuführen, das im Kern auf die Spaltung des Landes zielt. ({2}) Es verfolgt ein bisschen das Motto: Wir wollen unsere Steuern behalten. ({3}) Was würden Sie sagen, wenn in Hamburg eine Volksabstimmung darüber erfolgen würde, dass alle Steuern in Hamburg bleiben? Dann würden die Umländer, auch die Niedersachsen, lieber Kollege von Klaeden, das nicht akzeptieren. ({4}) Die Ablehnung solcher Praktiken darf allerdings umgekehrt - und das sage ich ganz deutlich - auch nicht zum Abfeiern von anderen Regimes und anderen Richtungen führen. Ich bin sehr gespannt, was aus dem Prozess folgt, den Raúl Castro begonnen hat, und wie weit und wie mutig er ihn fortführen wird. Das darf aber kein Anlass sein, zu Themen wie Menschenrechtsverletzungen, Reiseverbote und dergleichen zu schweigen. ({5}) Meine Damen und Herren, man muss auch Hugo Chávez nicht für die Inkarnation des Bösen halten - das kann man so oder so sehen -, ({6}) aber man sollte sich mit ihm auch nicht gemein machen. Ich habe etwas Lustiges gelesen. Unter der Überschrift „Zu Gast bei Hugo Chávez“ heißt es: Am 24. Februar hat der venezolanische Präsident Hugo Chávez die Abgeordnete Nele Hirsch in seiner TV-Show Aló Presidente empfangen. ({7}) Die 28-Jährige wurde in einem Airbus A 319 der Präsidentenflotte - immerhin fliegt er nicht Boeing ({8}) und im Helikopter Typ Super Puma ({9}) eingeflogen. Der TV-Auftritt war der Auftakt einer einwöchigen Delegationsreise, an der auch … Dorothée Menzner … und Paul Schäfer teilnahmen. Das Ganze stammt nicht aus der Bunten, ({10}) sondern aus der Zeitung Klar. Das ist das Organ der Linksfraktion. ({11}) Gnädige Frau, ich glaube, da haben Sie sich für Propaganda hergegeben, ({12}) und das ist das Gegenteil einer vernünftigen Partnerschaft mit Lateinamerika. Wenn wir die Lateinamerikapolitik fortentwickeln wollen, dann müssen wir dies auf der Basis gemeinsamer Interessen und gemeinsamer Werte tun. Nur auf dieser gemeinsamen Basis können wir drängende globale Probleme angehen. Die Voraussetzungen dafür sind nicht schlecht: Die Entwicklung Lateinamerikas in Richtung Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sowie das Bekenntnis zu Multilateralismus sind gute Voraussetzungen. In Lima werden wir über ein Thema reden, das auf der Tagesordnung steht, nämlich über die Frage, wie wir gemeinsam mit dem Klimawandel und der Bekämpfung von Armut umgehen. Dabei müssen wir natürlich festhalten: Diese beiden Themen gehören unmittelbar zusammen. Wir haben ein massives Interesse daran, dass die sensiblen Ökosysteme Lateinamerikas erhalten werden. Sie bieten nämlich nicht nur einen unvorstellbaren Artenreichtum, sondern sind auch für das globale Klima von zentraler Bedeutung. Sie sind allerdings einem massiven Nutzungsdruck ausgesetzt. Wenn wir diese Ökosysteme erhalten wollen, dann müssen wir uns solchen Initiativen wie dem Angebot der Regierung Ecuadors öffnen. Ecuador bietet an, auf die Ausbeutung von Ölvorräten im Yasuni-Nationalpark zu verzichten. Da Ecuador dadurch Einnahmen entgehen, bedarf es zwar keines kompletten Ausgleichs, ({13}) aber die Europäer sollten sich im Gegenzug an einem fairen und gemeinsamen Interessenausgleich beteiligen. Wir sagen also: Ihr verzichtet auf die Reichtümer, die sich daraus ergeben können. Als Ausgleich für diesen Verzicht transferieren wir als diejenigen, die mitverantwortlich für den Klimawandel sind und die Masse des Öls nachfragen, Geld an euch für eine vernünftigere und nachhaltigere Entwicklung. Dies könnte wirklich ein Musterbeispiel dafür sein, was auf der Vertragsstaatenkonferenz des Übereinkommens über die biologische Vielfalt in den nächsten Wochen in Bonn verhandelt wird. ({14}) Nehmen wir ein anderes Beispiel. Deutschland hat gerade im Bereich der Technologiezusammenarbeit zum Urwaldschutz etwas zu bieten. Das Projekt PPG7, das von Helmut Kohl und Angela Merkel begonnen wurde, von der Folgeregierung und der jetzigen Regierung fortgesetzt wurde, ist ein Musterbeispiel dafür, wie man Fragen der Nutzung und des Schutzes des Urwaldes in Brasilien zusammenbringen kann. Ebenso zählt für mich zur Partnerschaft auch, in bestimmten Punkten Klartext zu reden. Herr Hoyer, Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, dass Lateinamerika der erste Kontinent gewesen ist, der sich komplett zur nuklearfreien Zone erklärt hat. Wie passt es zu dieser Grundidee, wenn ausgerechnet der brasilianische Präsident, der Präsident eines Landes, das 80 Prozent seiner Elektrizität aus erneuerbaren Energien erzeugt, das gerade riesige Ölvorräte im Atlantik gefunden hat, das über Gasvorkommen verfügt, im Energiebereich also absolut autark ist und sogar Energie exportiert, fordert, Brasilien müsse unbedingt den nuklearen Brennstoffkreislauf von der Anreicherung bis zur Wiederaufbereitung beherrschen? Meine Damen und Herren, das hat nichts, aber auch gar nichts mit Energiepolitik zu tun, sondern hier steht der Verdacht der Proliferation im Raum. Deswegen sind wir, wie ich glaube, gut beraten, darauf zu drängen, dass das deutsch-brasilianische Atomabkommen endlich in ein Abkommen zur Zusammenarbeit auf dem Gebiet der erneuerbaren Energien und der Energieeffizienz überführt wird. ({15}) Gerade im Bereich der energetischen Zusammenarbeit liegen ja unglaubliche Chancen, zum einen für den Klimaschutz. So können wir durchaus noch etwas von Brasilien lernen: Unser Bundesumweltminister ist ja mit dem Projekt, 10 Prozent Bioethanol dem Benzin beizumischen, gescheitert; dagegen beträgt die Beimischungsrate in Brasilien heute schon 27 Prozent, und die Motoren vertragen das dort. Das scheinen die Brasilianer besser zu können als die Produzenten in Deutschland; allerdings stammen dort viele Autos von deutschen Automobilherstellern. Irgendetwas scheint da also nicht zu stimmen. Zum anderen kann man deutlich machen, dass die Erzeugung von Bioenergie und die Nutzung von erneuerbaren Energien auf der einen Seite große Risiken bergen - ich nenne den Nutzungsdruck, der zur Vernichtung von Primärwäldern führen kann -, auf der anderen Seite aber auch die Chance bieten, Armut zu überwinden. Das sieht man ja ganz deutlich am brasilianischen Biodieselprogramm. Was sollen wir also tun? Wir müssen zu einem Zertifizierungssystem kommen, das sich nicht auf Biokraftstoffe beschränkt, sondern alle Agrarprodukte umfasst, also Lebensmittel, Nahrungsmittel und Treibstoffe. ({16}) Um das bei den WTO-Verhandlungen zu erreichen, müssen wir den Mut aufbringen, eines der Haupthindernisse hierfür abzuschaffen, nämlich die marktprotektionistischen Schutzzölle, die sich Europa immer noch gönnt. ({17}) Das ist nämlich nicht fair, wie wir mit denen hier umgehen. Es müssen also soziale und ökologische Standards verankert werden, und auf der Basis dieser sozialen und ökologischen Standards muss Freihandel ermöglicht werden. So sieht mein Verständnis von Partnerschaft aus. Zum Abschluss - auch das gehört zu diesem Thema -: Wir müssen die Rolle Lateinamerikas in den globalen Systemen ernst nehmen. Ich finde, man kann nicht über Partnerschaft mit Lateinamerika sprechen und zugleich die Frage ausklammern, dass Lateinamerika bis heute im wichtigsten Gremium der Vereinten Nationen, nämlich im Sicherheitsrat, nicht repräsentiert ist. ({18}) Hier besteht akuter und dringender Nachholbedarf. Partnerschaft zum gemeinsamen Vorteil - das muss die Grundlinie unserer Lateinamerikapolitik sein. ({19})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollege Sascha Raabe, SPD-Fraktion.

Dr. Sascha Raabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lateinamerika ist ein faszinierender Kontinent, in Anbetracht der Vielfalt der Natur vielleicht der schönste Kontinent. Er steht uns auch aufgrund vieler gemeinsamer kultureller Traditionen sehr nahe. Auch in Deutschland erfreuen sich viele an der Farbenpracht und der Lebensfreude, die wir oft auch unmittelbar durch die Menschen aus Lateinamerika, die bei uns leben, erfahren. Es ist aber auch ein Kontinent mit großen Widersprüchen. Denn trotz des Reichtums und der Schönheit können nicht alle Menschen auf diesem Kontinent ohne Hunger und Armut leben, und das, obwohl viele Böden sehr fruchtbar sind, obwohl Rohstoffe vorhanden sind und obwohl viel Reichtum, auch finanzieller Reichtum, vorhanden ist, der sich allerdings in den Händen einiger weniger Menschen befindet. Genau das ist eines der Probleme: Nirgendwo sonst gibt es eine so große Ungleichverteilung zwischen Arm und Reich. Wir haben in den letzten Jahren viele Fortschritte in Richtung Demokratie gesehen. Ich sage ganz klar, dass an der Armut zu einem großen Teil auch die Industrieländer schuld sind, und zwar aufgrund des ungerechten Welthandelssystems. Das wurde schon erwähnt; ich komme später darauf zurück. Aber wahr ist auch, dass es - unabhängig von den äußeren Einflüssen und trotz Fortschritten in Richtung Demokratie - oft immer noch eine schlechte Regierungsführung, viel Korruption und eine ungenügende finanzielle Beteiligung der Eliten und Oberschichten in diesen Ländern gibt, die sich nicht genug um die armen Menschen kümmern. Vor diesem Hintergrund setzt die deutsche Entwicklungszusammenarbeit in Lateinamerika seit vielen Jahren die richtigen Schwerpunkte. Wir setzen uns für eine gute Regierungsführung ein. Wir unterstützen Länder bei Antikorruptionsmaßnahmen, bei der Einführung transparenter Ausschreibungsregeln im öffentlichen Beschaffungswesen, bei der Stärkung der Justiz- und Rechtssysteme oder auch bei einer effizienten Steuerund Haushaltspolitik. Das ist ganz wichtig. Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung hat neulich erst einen Kongress mit unseren lateinamerikanischen Partnern veranstaltet, um die Einführung von Steuersystemen zu unterstützen, durch die die Eliten in diesen Ländern durch höhere Zahlungen zu mehr Einnahmen beitragen, die für soziale Zwecke ausgegeben werden können, die zum Beispiel in Bildung oder den Aufbau sozialer Sicherungssysteme fließen können. Wir stärken viele lokale Prozesse, damit auch benachteiligte Menschen oder Menschen aus finanziell schwachen Familien auf der kommunalen Ebene in der Lage sind, Haushaltspolitik vor Ort mit zu kontrollieren, sich an der Demokratie zu beteiligen und für ihre Interessen zu streiten. Die Ergebnisse dieser Form der Entwicklungszusammenarbeit sind natürlich nicht so konkret messbar wie bei dem Bau einer Schule oder einer Trinkwasserversorgungseinrichtung. Aber die Tatsache, dass es in den letzten Jahren, vielleicht sogar im letzten Jahrzehnt, keine militärischen Putschversuche mehr gab und dass sich die Demokratie in allen Ländern - eigentlich bis auf Kuba; wir haben es gehört - durchgesetzt hat, ist auch ein Erfolg der deutschen und der internationalen Entwicklungszusammenarbeit. Auch die Tatsache, dass bei den jüngsten Wahlen in vielen lateinamerikanischen Ländern endlich die soziale Frage die dominierende Rolle gespielt hat, ist zu einem Teil darauf zurückzuführen, dass wir das dort über unsere Durchführungsorganisationen und politischen Stiftungen immer wieder zum Thema gemacht haben und dass wir Oppositionspolitikern, Menschen aus der Zivilgesellschaft, Gewerkschaftern und anderen immer wieder die Chance gegeben haben, mit unseren politischen Stiftungen Dialoge zu führen, um so auch die parlamentarische Opposition zu stärken. Ich glaube schon, dass wir dort eine sehr gute Arbeit geleistet haben. Messbare Erfolge sind an einigen Personalien erkennbar. Mittlerweile sind in einigen Regierungen prominente Führungspersönlichkeiten vertreten, die früher Mitarbeiter der GTZ oder der Friedrich-EbertStiftung waren. Ich nenne nur den Generalstaatsanwalt Kolumbiens, Iguarán, der für die GTZ einmal ein Gutachten zum Justizsystem erstellt hat und deshalb in diese Position gekommen ist. Der Präsident der Verfassunggebenden Versammlung in Ecuador, Alberto Acosta, war über zehn Jahre lang Mitarbeiter der Friedrich-EbertStiftung. Das sind Beispiele dafür, dass wir über die breitangelegte Art der Zusammenarbeit in diesen Ländern durchaus einen positiven Einfluss haben. Ich möchte an der Stelle all denen, die dazu beigetragen haben, Dank aussprechen, aber auch denjenigen, die wir im Rahmen des - ein weiterer Schwerpunkt - zivilen Friedensdienstes in Länder Lateinamerikas schicken, wo sie durch Prävention, Konfliktbewältigung und Versöhnung einen unschätzbaren Dienst leisten und dabei an ihre psychischen und physischen Grenzen gehen. Ihnen sollten wir alle ein herzliches Dankeschön aussprechen. ({0}) Beim Stichwort „ziviler Friedensdienst“ fällt mir sofort Kolumbien ein. Frau Hänsel, Kolumbien ist schwerpunktmäßig ein Partnerland der deutschen Entwicklungszusammenarbeit. Natürlich stärken wir nur die Kräfte, die für Menschenrechte eintreten. Wir wollen die Rechtsstaatlichkeit fördern und unterstützen deswegen das Justizsystem. Wir stärken natürlich auch die Friedensgemeinden. Es ist schon erstaunlich, dass ausgerechnet Sie von der Linkspartei - Herr Trittin hat eben zu Recht darauf hingewiesen - sich von Herrn Chávez hätscheln lassen und ihn im Gegenzug quasi als sozialen Friedensengel bezeichnen. Es handelt sich aber um einen Präsidenten, der die FARC direkt unterstützt. Es gibt fast erdrückende Beweise, dass Präsident Chávez der FARC 300 Millionen US-Dollar zukommen lässt und sie an Öleinnahmen Venezuelas beteiligen will. Er möchte ihr auch Waffen aus den Altbeständen der Armee liefern. Das wird von Interpol untersucht. Heute läuft die Meldung über den Ticker, dass es Anzeichen dafür gibt, dass das alles wahr ist. Es ist wirklich ein Skandal, dass Sie in Ihrem Antrag fordern, die FARC von der Terrorliste zu streichen. Da wird schon ein gewisses Muster deutlich. Die Organisation, die die meisten Morde, Entführungen und Bombenanschläge in Kolumbien verübt, ist die FARC. Aber Sie sind auf diesem Auge blind und preisen einen Präsidenten, der diese Terrororganisation unterstützt. Dies ist unglaubwürdig. Sie müssen schon Menschenrechtsverletzungen auf beiden Seiten anprangern. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Hänsel von der Fraktion Die Linke?

Dr. Sascha Raabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja. ({0})

Heike Hänsel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003763, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Danke schön, Herr Präsident. - Herr Raabe, haben auch Sie vielleicht die Berichte von US-Wissenschaftlern gelesen, die den Computer des zweiten FARCKommandierenden, der getötet worden ist, untersucht haben und die die Aussagen der kolumbianischen Regierung bisher für nicht sehr belastbar halten? Es ist sehr viel übertrieben und spekuliert worden. Bis jetzt gibt es keine Ergebnisse von Interpol, die zeigen, dass das, worauf Sie sich berufen, den Tatsachen entspricht. ({0}) Glauben Sie nicht auch, dass es in Kolumbien eine friedliche Lösung dieses Konfliktes geben muss und dass es nicht möglich ist, diese Auseinandersetzung militärisch in irgendeiner Form zu gewinnen? Wenn wir uns dafür einsetzen, dass die FARC von der Terrorliste gestrichen wird, dann tun wir dies nicht, um die FARC zu entlasten, sondern deswegen, um die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass Friedensverhandlungen und Friedensgespräche umfassend möglich werden, indem die FARC als Verhandlungspartner in der Europäischen Union auftreten kann. ({1}) Diese Perspektive müssen wir doch eröffnen. ({2}) Sie sprachen von den Friedensgemeinden. Natürlich bekommen sie Entwicklungsunterstützung. Aber wenn die kolumbianische Regierung öffentlich die Mitglieder der Friedensgemeinden und auch viele Menschenrechtsaktivisten in die Nähe von Terroristen rückt, dann wird dadurch der Erfolg dieser Arbeit gefährdet. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Frau Kollegin, Sie sollten eine Frage stellen!

Heike Hänsel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003763, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich frage: Wie stehen Sie dazu, dass Präsident Uribe ({0}) - könnte ich bitte einmal ausreden? ({1}) und viele Mitglieder der Regierung Kolumbiens Menschenrechtsaktivisten und Mitglieder der Friedensgemeinden offiziell diffamieren und sie in die Nähe von Terroristen rücken? Ist das Friedenspolitik?

Dr. Sascha Raabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Kollegin Hänsel, ich bin nicht der Pressesprecher von Herrn Uribe. Deswegen möchte ich nicht kommentieren, was Herr Uribe angeblich gesagt und was er nicht gesagt hat. Ich habe schon dargelegt - diesen Punkt haben auch Sie angesprochen -, dass wir auf eine friedliche Lösung in Kolumbien setzen. Wir unterstützen im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit seit vielen Jahren diese Prozesse; wir unterstützen auch die jetzige Regierung Kolumbiens auf diesem Weg. Natürlich ist der von der Regierung eingeschlagene Weg noch mit großen Mängeln behaftet. Aber so negativ, wie es oft geschildert wird, ist die Situation nicht. ({0}) Die Zahl der Morde und Entführungen ist zurückgegangen. Menschen können sich endlich wieder in den Großstädten und zwischen den Großstädten frei bewegen. Sie sagen, man könne den Konflikt nicht militärisch lösen. Aber einem Staat muss es erlaubt sein, Polizeikräfte einzusetzen. Genau das macht Kolumbien. Es macht keinen Sinn, mit einer menschenverachtenden Terrororganisation, die Bomben legt und die die ehemalige Präsidentschaftskandidatin Ingrid Betancourt immer noch unter menschenunwürdigen Bedingungen fast wie ein Tier gefangen hält, ({1}) zu reden. Es macht keinen Sinn, dass sich Herr Uribe - wie Sie das fordern - mit denen zum Kaffeetrinken trifft. Das sind Kriminelle. ({2}) Wir haben damals den RAF-Terroristen auch nicht Bayern als neutrale Verhandlungszone angeboten. ({3}) Sie fordern von der kolumbianischen Regierung, einer Terrororganisation ein riesiges Gebiet zur Verfügung zu stellen - über das diese Terrorgruppe dann offiziell herrscht - und dann jahrzehntelang über Frieden zu verhandeln. Ich finde es richtig, dass eine Terrororganisation als Terrororganisation behandelt wird. Aber wir prangern auch ganz entschieden alle Übergriffe des Militärs auf die Zivilbevölkerung an. Wir fordern die kolumbianische Regierung auf, besser dagegen vorzugehen. Wir halten da beide Augen auf und sind wachsam. ({4}) Frau Hänsel, eines muss ich Ihnen schon noch sagen. Was die auf diesem Computer gespeicherten Daten angeht: Gerade heute, am 9. Mai - mein Büro hat mich soeben über eine entsprechende Tickermeldung informiert -, haben US-Wissenschaftler gesagt, nach Recherchen sei die Authentizität dieser Daten eigentlich bewiesen. Es ist ja nicht so, dass das Ganze nur eine Theorie ist. In Costa Rica wurden bereits 480 000 Dollar gefunden; es wurden auch 30 Kilogramm Uran gefunden. Die entscheidenden Hinweise waren auf diesem Computer gespeicherte Daten. Mir macht das große Angst. 30 Prozent des Drogenschmuggels der FARC wird über die venezolanische Grenze abgewickelt. Warum sind sämtliche Terrorcamps der FARC denn nicht in Kolumbien, sondern an der Grenze Kolumbiens? Wer glaubt, Präsident Chávez unterstütze die FARC nicht, der täuscht sich; man muss das ganz einfach offen ansprechen, Frau Hänsel. Sie sind auf dem linken Auge blind, und das ist nicht lauter. ({5}) Was gute Regierungsführung angeht, geben wir keine Unterstützung im Rahmen einer unkonditionierten Budgethilfe. Herr Hoyer, ich möchte Ihnen noch einmal sagen - Sie haben das Beispiel Nicaragua genannt -: Wir haben aus den auch von Ihnen angesprochenen Gründen die Budgethilfe für Nicaragua mittlerweile gestoppt. ({6}) Wir werden auch in Zukunft natürlich nur denjenigen Budgethilfe geben, die die Bedingungen dafür erfüllen. Budgethilfe kann dann ein sinnvolles Instrument sein. Ich glaube, dass der Wissenschaftsaustausch, den wir über den DAAD und über kulturelle Einrichtungen durchführen, ein wichtiger Beitrag ist, Demokratie und Menschenrechte zu stärken und vor Ort für wirtschaftlichen Aufschwung zu sorgen. Leider komme ich aus Zeitgründen nicht mehr dazu, auf Folgendes ausführlich einzugehen - es wurde schon oft gesagt; Sie kennen meine Position -: Natürlich müssen wir endlich unsere Märkte für Agrarprodukte der lateinamerikanischen Länder öffnen. ({7}) Wir dürfen da keinen Protektionismus betreiben und müssen endlich unsere Exportsubventionen und unsere handelsverzerrenden Subventionen abbauen. Wir müssen im Rahmen der WTO, der Welthandesrunde, endlich zu fairen Ergebnissen kommen. Dann können wir diesen Kontinent von außen und von innen auf dem guten Weg, auf dem er schon ist, deutlich weiter nach vorne bringen. Ich bin zuversichtlich im Hinblick auf die Reise zum EU-Lateinamerika-Gipfel, die die Kanzlerin bald macht; ich werde sie begleiten können. Ich hoffe, dass die in dem Koalitionsantrag formulierten Schwerpunkte berücksichtigt werden und auch das Strategiepapier, das die SPD dazu neulich gemeinsam mit unserem Außenminister entwickelt hat. Er wird dieses Jahr wieder nach Lateinamerika reisen und dadurch zeigen, dass Lateinamerika für ihn wichtig ist. Wir sollten diesem Kontinent die nötige Aufmerksamkeit schenken. Wir brauchen über Armut in Lateinamerika hoffentlich bald nicht mehr zu reden, weil sie dann überwunden sein wird. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollege Karl Addicks, FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Karl Addicks (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003713, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank. - Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir reden heute zum zweiten Mal in dieser Legislaturperiode über die Beziehungen der EU zu Lateinamerika. Vor dem Gipfel in Lima werden jetzt wieder einmal wie damals in Wien die besonderen Beziehungen beschworen. Die Bundesregierung beteuert treuherzig, wie wichtig die Beziehungen der EU und Deutschlands zu Lateinamerika seien. Ich darf an dieser Stelle einmal fragen: Was haben Sie seit 2006 eigentlich getan, um Ihren Beteuerungen und Ihren Worten Taten folgen zu lassen? Sie haben als Zeichen Ihrer besonderen Wertschätzung für Lateinamerika vier Länder von der Liste der Partnerländer gestrichen: Costa Rica, El Salvador, Paraguay und Chile. Keine andere Region war von so vielen Streichungen betroffen. Stattdessen haben Sie freundlicherweise die Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit mit China um 10 Millionen Euro erhöht. Da frage ich mich schon: Was meinen Sie eigentlich mit „besonderen Beziehungen der EU und Deutschlands zu Lateinamerika“? Wo sind eigentlich die vielbeschworenen Konzepte, die diese Partnerschaft einmal mit Leben füllen sollten? ({0}) Ein zentrales Thema auf diesem Gipfel wird wieder die Armutsbekämpfung sein. Gestatten Sie mir in diesem Zusammenhang, zwei Länder in Lateinamerika herauszugreifen, die mir für die Behandlung durch die Bundesregierung exemplarisch erscheinen. Erstens: Bolivien. Das Land wird mit 52 Millionen Euro gefördert. Damit ist es das meistgeförderte Land der deutschen Entwicklungszusammenarbeit in Lateinamerika. Außerdem ist Bolivien am häufigsten entschuldet worden. Entschuldungen sind sicherlich ein Weg, um einem Land, das in der Sackgasse steckt, einen Neuanfang zu ermöglichen. Nur sollten die dadurch freiwerdenden Mittel tatsächlich für die Bekämpfung der Armutsursachen genutzt werden. In Hinblick darauf ist Bolivien leider ein absolutes Negativbeispiel. ({1}) Nach wie vor ist Bolivien eines der ärmsten Länder der Welt. Im Bertelsmann-Transformation-Index ist BoDr. Karl Addicks livien von Platz 49 im Jahr 2006 auf Platz 74 zurückgefallen. Ich frage Sie: Halten Sie das für ein Zeichen von wirksamer Entwicklungszusammenarbeit? Wenn die Regierung eines Landes die von uns in der Entwicklungszusammenarbeit aufgestellten Bedingungen einer Good Governance nicht erfüllt, wenn ein Land eine Entwicklung nimmt, die ganz klar undemokratisch und nicht rechtsstaatlich ist, müssen deutsche Leistungen infrage gestellt werden dürfen. ({2}) Gerade Bolivien ist hierfür ein gutes Beispiel. Die verkehrte Politik Boliviens hat mit den Verstaatlichungen der Erdöl- und Gasindustrie angefangen; ({3}) sie endet mit dem Versuch, dem Land ohne ausreichende Beteiligung der Bevölkerung eine neue Verfassung zu oktroyieren. ({4}) Man sieht die Konsequenzen: Das Land fängt an, in autonome Regionen zu zerfallen. Das ist der Erfolg der linken Politik von Herrn Morales. ({5}) Diese Entwicklungen bestätigen die in unserem Antrag geäußerten Befürchtungen in vollem Umfang. Wir haben in unserem Antrag bereits gefordert, dass die Bundesregierung ihren Einfluss geltend macht und den geplanten Verfassungsprozess entsprechend begleitet. Davon hat die Bundesregierung leider nichts umgesetzt. ({6}) Zweitens: Nicaragua. Das Land wurde heute schon mehrfach genannt. Nicaragua ist der Empfänger der zweithöchsten Leistungen der deutschen Entwicklungszusammenarbeit in Lateinamerika. Auch Nicaragua hat große Schuldenerlasse erhalten und hätte damit die Möglichkeit zu einem Neuanfang gehabt. Trotzdem ist Nicaragua seit Amtsantritt Ihres Freundes Ortega, seit 2007, in eine Abwärtsspirale sondergleichen gekommen. Die Bundesregierung hat deshalb zu Recht - mein Kollege Hoyer hat es erwähnt - die Budgethilfe für Nicaragua gestrichen. Trotzdem zahlt Deutschland über den Umweg Europa weiterhin Budgethilfe an Nicaragua. Ich frage Sie: Halten Sie das - gerade in einer Zeit, in der die Kohärenz der Entwicklungszusammenarbeit von Europa und den Nationalstaaten erörtert wird - für kohärente Politik? Welches Signal wollen Sie damit an die Regierung Ortega senden? ({7}) Die Bundesregierung muss sich dafür einsetzen, dass die EU gegenüber Nicaragua mit einer Stimme spricht. Auch die EU muss gegenüber Staaten, die gemeinsame Werte fortgesetzt unterlaufen, konsequent handeln. Dafür brauchen wir jetzt eine entschlossene Bundesregierung, die ihr Gewicht in Europa nutzt, um in den beiderseitigen Beziehungen bessere Bedingungen für die Menschen vor Ort zu erreichen. In diesem Sinne hoffen wir auf eine ehrgeizige Politik der Bundesregierung, auf eine neue Lateinamerikapolitik. Zum Schluss sollten wir alle die Führung der FARC in Kolumbien auffordern, endlich Frau Betancourt freizulassen. Es ist eine Schande, was mit dieser Frau dort gemacht wird. Ich würde mich über Applaus aus allen Fraktionen freuen. Danke sehr. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollege Eduard Lintner, CDU/ CSU-Fraktion.

Eduard Lintner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001351, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! An der heutigen Debatte finde ich besonders positiv, dass sich - ich muss hinzufügen: endlich alle Fraktionen offenbar sehr intensiv mit den Beziehungen Europas und Deutschlands zu Südamerika befasst haben. ({0}) Die große Zahl von Anträgen und die Art und Weise, wie darin Aufforderungen formuliert sind, zeigen, dass es ein gestiegenes Interesse gibt, das wir in Zukunft dynamisch nutzen sollten. Wir alle sind nämlich ein bisschen daran schuld, dass dieses Thema in der Vergangenheit nicht mit dem nötigen Gewicht versehen worden ist. Es gibt, wenn ich es richtig gesehen habe, eine erfreuliche Übereinstimmung in wichtigen Punkten. Allerdings möchte ich da die Fraktion der Linken ausnehmen, weil ihr Antrag - das war Gegenstand der Erörterung erkennbar darunter leidet, dass zentrale Aussagen zu dieser Thematik aus einem ideologischen Blickwinkel heraus getroffen werden. ({1}) - Nein, nein, Herr Kollege. - Damit verschließen Sie aber zwangsläufig - das ist gerade deutlich geworden die Augen vor der Tatsache, dass die demokratische Legitimation mancher Machthaber und ihres Handelns sehr kritisch bewertet werden muss. Bereits beim ersten Gipfeltreffen zwischen der EU und den lateinamerikanischen Staaten im Juli 1999 in Rio wurde festgelegt, dass man künftig eine strategische Partnerschaft pflegen wolle. Das ist schon vom Wort her ein ganz gewaltiges Vorhaben, wenn man sich die beiden Begriffe einmal inhaltlich vergegenwärtigt. Man muss selbstkritisch feststellen - auch das ist schon zum Ausdruck gekommen -, dass die konkrete Politik diesem hohen Anspruch in der Vergangenheit nicht gerecht geworden ist. Neue Dynamik ist deshalb in der Tat vonnöten. In diesem Zusammenhang wird immer mit Recht darauf hingewiesen, dass zwischen Europa und Lateinamerika vielfältige geschichtliche, kulturelle, wirtschaftliche oder auch gesellschaftliche Verbindungen bestehen - mehr als zu jedem anderen Kontinent, ausgenommen vielleicht Nordamerika. Natürlich gibt es schon heute eine Vielzahl von Abkommen, Institutionen und Verbindungen, die zusammengenommen bereits eine breite Palette denkbarer Kooperationsfelder abdecken. Aber es war eben mehr ein Beharren auf dem Vorhandenen und kein dynamisches Drängen nach mehr und nach vorne. So stehen zum Beispiel die wichtigen vertraglichen Regelungen mit dem Mercosur immer noch aus; die Gründe dafür sind heute bereits genannt worden. Aber hier gibt es immerhin einen Hoffnungsschimmer; denn Frau Dr. FerreroWaldner - sie ist als EU-Kommissarin für diese Dinge zuständig - hat gestern auf einem lateinamerikanischen Kongress der CDU/CSU-Fraktion gesagt, dass die EUKommission derzeit prüft, ob jetzt Fortschritte möglich sind. Es wäre in der Tat ein ermutigendes Zeichen, wenn dieses schon lange versprochene Handelsabkommen endlich zustande käme. Dies wäre ein echtes Aufbruchsignal. Ich will den Antrag mit dem Titel „Eine starke Partnerschaft - Europa und Lateinamerika/Karibik“, zu dem ich speziell sprechen möchte, jetzt nicht in seinen Einzelheiten vortragen; dies kann ja nachgelesen werden. Ich finde, dass die dort aufgezeigten Ansatzpunkte für unsere Lateinamerikapolitik sehr richtig sind. Da geht es zum Ersten natürlich um die Pflege und Weiterentwicklung der wirtschaftlichen Beziehungen. Deutschland ist daran maßgeblich beteiligt. Aber unser Anteil ist rückläufig. Es wäre wünschenswert, wenn sich künftig noch mehr kleine und mittelständische Unternehmen engagieren würden. Ich kann mir im Übrigen gut vorstellen, dass sich insbesondere das gesellschaftliche Engagement der großen Zahl der ansässigen deutschen Firmen - Südamerika ist dafür ein herausragendes Beispiel - etwa bei der beruflichen Ausbildung junger Menschen, im Kampf gegen die Armut und bei der Sicherung der Nachhaltigkeit in der Ressourcennutzung sowie beim Umweltschutz ausbauen lässt. Ein zweiter Schwerpunkt sollte der Sektor Bildung sein - von den Schulen bis zu den Universitäten und Forschungseinrichtungen. Dabei dürfen wir durchaus eigene Interessen im Blick haben. Die Globalisierung zwingt uns, die Kooperationsfähigkeit mit einzelnen Ländern und Gesellschaften gezielt zu entwickeln und zu stärken. Auch dazu enthält unser Antrag konkrete Vorschläge. Ein dritter Ansatzpunkt wäre: Die engen geschichtlichen und kulturellen Bezüge befähigen uns Europäer in besonderer Weise, den lateinamerikanischen Ländern zu helfen. Das ist jetzt nicht überheblich gemeint; aber gerade Deutschland hat reiche Erfahrungen zum Beispiel mit der Ausgestaltung und Effizienz der kommunalen Selbstverwaltung. Wir wissen um die Vorteile der Aufteilung von Zuständigkeiten gemäß den Prinzipien der Subsidiarität und des föderalen Staatsaufbaus. Wir können unsere jahrzehntelangen Erfahrungen mit einer Demokratie sowie einer sozialverträglichen Programmatik von Parteien und ihrer konstruktiven Rolle im demokratischen Staat weitergeben. Es muss den lateinamerikanischen Staaten gelingen, alle Teile der Bevölkerung am wachsenden Wohlstand und an den Bildungsmöglichkeiten des Landes zu beteiligen. Gerade auf diesem Gebiet scheinen die Eliten in vielen lateinamerikanischen Staaten bisher versagt zu haben. Anders sind die eruptiven Erfolge autoritärer Führer, die sie mit ihren populistischen Programmen haben, gar nicht zu erklären. Ein vierter Ansatzpunkt ist der multilaterale Ansatz der lateinamerikanischen Staaten in ihrer Außenpolitik. Dazu ist schon vieles ausgeführt worden, sodass ich mich darauf nicht konzentrieren muss. Es gilt, die gemeinsamen Überzeugungen bei den vielfältigen Initiativen zu nutzen. Ich kann nur hoffen, dass der heutige Tag für uns Anlass ist, die Dynamik, die sich in dieser Debatte gezeigt hat, die mit Sicherheit mit dem Besuch der Bundeskanzlerin in Zusammenhang steht, zu nutzen, und wir uns künftig öfter mit diesem wichtigen politischen Feld befassen. Vielen Dank. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollege Wolfgang Gehrcke, Fraktion Die Linke. ({0})

Wolfgang Gehrcke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003130, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich sehe auf der Besuchertribüne den Botschafter Boliviens. Ich freue mich, Exzellenz, dass Sie hier sind und die Diskussion in diesem Parlament verfolgen. ({0}) Ich finde, so viel Zeit und Höflichkeit muss sein, diesen Gruß auszusprechen. Zur Sache: Der eigentliche Hintergrund der Debatte ist doch, dass wir es in Lateinamerika mit einem sehr kräftigen politischen Wind nach links zu tun haben, und zwar in einer großen Zahl der Länder. Der Wind hat sich gedreht. Der Wind nach links ist so stark, dass er sogar die SPD erreicht und sie zu einem neuen Strategiepapier gebracht hat. ({1}) Ich habe das Strategiepapier der SPD, das viele vernünftige Punkte enthält, mit dem verglichen, was Willy Brandt zum Nord-Süd-Dialog geschrieben und geleistet hat. Da haben Sie noch großen Nachholbedarf. ({2}) Arbeiten Sie ruhig weiter. Der Wind geht nach links, und das finde ich sehr vernünftig. ({3}) - Der Wind treibt nach links. Wenn man sich die Frage stellt, warum die Linke in Lateinamerika trotz ihrer Vielfalt und Unterschiedlichkeit so viele Erfolge erreicht hat, kommt man nicht darum herum - Herr Lintner, Sie haben es mit anderen Worten gesagt -, über die Spur der Zerstörung zu sprechen, die der Neoliberalismus in Lateinamerika hinterlassen hat. Das war der Ausgangspunkt. ({4}) Ich habe jetzt leider nicht die Zeit, Ihnen im Einzelnen zu schildern, wie es in den Ländern aussieht, die sich dem neoliberalen Diktat gebeugt haben. ({5}) Ich war in einer Stadt nahe der Hauptstadt San Salvador, einer Stadt mit 100 000 Einwohnern: kein Strom, kein Wasser. Der einzige Brunnen ist privatisiert, man muss Wasser kaufen. Selbst der Friedhof ist privatisiert, sodass die Armen ihre Toten irgendwo verscharren müssen und nur die Reichen ihre Toten dort beerdigen können. ({6}) So ist das in vielen Ländern Lateinamerikas. Das ist einer der Hintergründe; da muss man Klartext sprechen. Ich hoffe, dass die Zeit zu Ende geht, in der die USA Lateinamerika als ihren Hinterhof behandeln und misshandeln konnten. Wenn man sich die Frage stellt, warum es zu autoritären Regimen, zu Diktaturen gekommen ist, kommt man zu dem Schluss, dass die Machthaber in diesen Ländern alle nicht ohne Duldung bzw. Hilfe der USA an die Macht gekommen sind. ({7}) Wenn Sie hier nicht darüber reden wollen, wenn Sie das verschweigen wollen, ist das Ihr Problem. ({8}) Herr Außenminister, ich habe sehr interessiert zur Kenntnis genommen, was Sie zu Kuba gesagt haben. Kuba bewegt und entwickelt sich. Das ist eine interessante Entwicklung. Ich habe auch zur Kenntnis genommen, dass sich die deutsche Kuba-Politik verändert, und zwar stärker, als es anderen Fraktionen in diesem Hause lieb ist. Sie wissen, dass eine Entwicklungszusammenarbeit mit Kuba heute möglich ist. Eine solche Entwicklungszusammenarbeit wäre aber leichter, wenn Sie von diesem Pult aus auch gesagt hätten, dass die USA ihren Boykott und ihre Sanktionen gegen Kuba endlich aufzuheben haben ({9}) und die Europäische Union diesbezüglich öffentlichen Druck auf die USA ausüben wird. ({10}) Wenn Sie immer die Hälfte verschweigen, kommen Sie nicht weiter. Sie wissen genauso gut wie ich, dass sich die amerikanische Politik verändern muss. Ich habe mich sehr darüber gefreut, dass sich mit Paraguay eines der letzten diktatorisch geführten Länder durch Wahlen verändert hat. Ich freue mich über den neuen Präsidenten, Ex-Bischof Lugo, der aus der Befreiungstheologie kommt. Ich bin sehr gespannt, was sich in Paraguay entwickeln wird. Ich habe ein ähnliches Gefühl wie Kollege Trittin: An der Seite von Uribe möchte ich, wenn es um Demokratisierung geht, nicht stehen. Dort stehe ich auch nicht. ({11}) - Nein, ich stehe auf einer ganz anderen Seite. Auch in Kolumbien, wo noch Bürgerkrieg herrscht, wird sich die offene Wunde durch Verhandlungen und Demokratisierung schließen. Ich sage, weil es immer wieder angesprochen wird, von diesem Platz aus ganz deutlich an die FARC gerichtet: Geiseln zu nehmen, ist keine linke Politik. ({12}) Ich bin dagegen, dass Geiseln genommen werden. Ich finde es unverantwortlich, Menschenleben und die Freiheit von Menschen als Waffe in der Politik einzusetzen. Wenn die FARC auf eine sozialistische Kritik hört, kann ich ihr nur sagen: Lasst die Geiseln in Kolumbien sofort frei. ({13}) Das ist die Entscheidung, die wir fordern. Sie wollen es nicht hören; Sie sind auf diesem Auge blind. Es wäre eine sozialistische Politik, wenn man sich in diese Richtung verändern würde. Ein letzter Gedanke - der Präsident macht mich darauf aufmerksam, dass meine Redezeit abgelaufen ist -: Ich habe mich sehr gefreut, dass viele Redner den Umstand, dass Lateinamerika eine Zone frei von Massenvernichtungswaffen ist, positiv gewürdigt haben. Herr Außenminister, wenn es nicht nur bei Worten bleiben soll, muss man sich dafür einsetzen, dass auch Europa eine atomwaffenfreie Zone wird. ({14}) Dann können wir auch auf dieser Ebene eine Partnerschaft mit Lateinamerika eingehen, und zwar glaubwürdiger und besser, als wenn wir nur über die anderen reden, uns freuen und selber nichts tun. Danke sehr. ({15})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollege Lothar Mark, SPD-Fraktion.

Lothar Mark (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003190, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Das Problem der Lateinamerikapolitik beginnt aus unserer Sicht eigentlich schon mit der Begrifflichkeit, die hier heute auch zutage kam. Wenn wir die Beziehungen zu Nordamerika betrachten, wird von den transatlantischen Beziehungen gesprochen, ohne daran zu denken, dass die Beziehungen zu Lateinamerika auch transatlantisch sind. Das wollte ich ganz besonders hervorheben; ich habe dazu bereits vor vielen Jahren eine provokative Vorlesung und ein Proseminar an der Uni in Mannheim gehalten mit dem Titel: Transatlantische Beziehungen: Europa - Lateinamerika. Es ist schon sehr viel zu den jeweiligen Themenfeldern gesagt worden. Ich will diese nicht im Einzelnen wiederholen. Ich möchte aber auf einige Schwerpunkte eingehen. Zunächst einmal ist immer wieder vom Wirtschaftswachstum in Lateinamerika gesprochen worden, das exorbitant hoch sei. Das ist richtig. Aber wenn man genau hinschaut, stellt man fest, dass dieses Wachstum nicht unbedingt mit Nachhaltigkeit, sozialen Auswirkungen und Entwicklungen für die jeweiligen Länder verbunden ist. Das kann man sehr gut an dem Beispiel Peru zeigen, das jährlich ein Wachstum zwischen 6 und 7 Prozent hat. Dies hängt aber in erster Linie mit der Ausfuhr von Kupfer als Rohstoff zusammen. Wenn wir den Handel zwischen Europa und Lateinamerika betrachten, dann können wir feststellen, dass noch unendlich viele Möglichkeiten in fast allen Bereichen bestehen. Wenn wir uns den Handel zwischen Deutschland und Lateinamerika anschauen, dann müssen wir ernüchternd feststellen, dass der Anteil nur zwischen 2,2 und 2,3 Prozent liegt; also auch hier gibt es ungeahnte Möglichkeiten für eine Ausweitung. Als Vergleichszahl nenne ich sehr gerne den Handel mit der Schweiz: Er beträgt 3,8 bzw. 3,9 Prozent. Damit wird deutlich, was sich hinter diesen Dimensionen verbirgt. Auch auf die Frage der Verteilungsgerechtigkeit und darauf, dass die Europäische Union und Deutschland hier sehr viel tun können, wurde eingegangen. Ich will das im Einzelnen nicht wiederholen. Ich will auch nicht auf die Energie- und Klimapolitik eingehen; sie wurde bereits mehrfach angesprochen. In diesem Bereich bestehen für die Bundesrepublik Deutschland wirklich interessante Kooperationsmöglichkeiten. Eine solche Kooperation wäre zum beiderseitigen Vorteil. Das Stichwort „Ernährungssicherheit“ ist schon gefallen. Von der Explosion der Lebensmittelpreise sind Lateinamerika und insbesondere Zentralamerika besonders heftig betroffen. In diesem Zusammenhang nenne ich eine Zahl - solche Dinge hört man in Deutschland sonst nicht so gern -: Nach UN-Angaben leiden in Lateinamerika 53 Millionen Menschen an Hunger, und 9 Millionen Kinder sind in Lateinamerika unterernährt. Das sollte für uns Ansporn sein, über verschiedene politische Entwicklungsprozesse erneut nachzudenken. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, die strategische Partnerschaft wurde mehrfach erwähnt, und ihre Wirksamkeit wurde bezweifelt. Es ist zutreffend, dass von Wien keine großen Impulse ausgegangen sind. Nichtsdestotrotz ist zutreffend, dass wir seit 1999 eine intensive strategische Partnerschaft mit dem gesamten lateinamerikanischen Raum und insbesondere mit Mexiko und Brasilien pflegen. Hier ist Deutschland, wie ich denke, an führender Position zu nennen. Gerade diese Bundesregierung mit Bundesaußenminister FrankWalter Steinmeier leistet im Rahmen dieser Zusammenarbeit permanent beste Arbeit. ({0}) Auf die Problematik der Sicherheitspartnerschaft hat Herr Dr. Hoyer hingewiesen; auch diesem Thema will ich mich nicht zuwenden, weil das, was dazu bisher gesagt wurde, richtig ist. Was Mercosur betrifft, mache ich deutlich: Es ist kein Ruhmesblatt für die Europäische Union, dass sie es seit 1999 nicht geschafft hat, eine Partnerschaft mit Mercosur einzugehen. Allerdings muss ich auch sagen: Das liegt nicht nur an der Europäischen Union, sondern auch an Mercosur; denn die Mitgliedstaaten des Mercosur verfolgen unterschiedliche Interessen. ({1}) Dennoch muss man den Mut finden, die Probleme anzusprechen und auch einmal über den eigenen Schatten zu springen. Die Vorteile eines solchen Abkommens wären für beide Seiten enorm. ({2}) Die Verhandlungen mit SICA und der Andengemeinschaft sind ebenfalls schon thematisiert worden; auch das will ich nicht wiederholen. Ich mache nur darauf aufmerksam: Es ist unabdingbar, dass wir mit diesen Ländern bzw. regionalen Gemeinschaften Fortschritte erzielen. Denn es ist notwendig, dass die Andengemeinschaft neue Akzente setzt und zur Kenntnis nimmt, dass die Europäische Union sie als wichtigen Partner betrachtet. Zu den Energiefragen und den kulturellen und wissenschaftlichen Kooperationen im Rahmen der auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik will ich mich nicht äußern. Ich möchte nur noch ganz kurz auf ein paar Länder eingehen; denn die Zeit schreitet sehr schnell voran. ({3}) Bolivien ist in einer schwierigen Situation und bedarf unser aller Aufmerksamkeit und - das betone ich ganz besonders - unser aller Unterstützung. Niemandem wäre gedient, wenn Bolivien auseinanderbrechen würde. Das Referendum, das gerade in Santa Cruz durchgeführt wurde, und die Referenden, die im Juni dieses Jahres noch stattfinden werden, sind widerrechtlich. Sie verstoßen gegen die Verfassung. ({4}) Deswegen möchte ich deutlich machen, dass wir die rechtmäßig gewählte Regierung unterstützen. Ich begrüße es, dass sich Evo Morales bereit erklärt hat, sich einem Referendum zu stellen. Auch wenn die Opposition dies im Senat durchgesetzt hat, muss man sagen: Immerhin ist er bereit, sich diesem Konflikt zu stellen. Mit Blick auf Venezuela will ich darauf hinweisen, dass Hugo Chávez immer wieder als die dämonisierte Person angesehen wird. ({5}) In diesem Zusammenhang könnte man über vieles diskutieren. Man muss aber zur Kenntnis nehmen, dass alle Schritte, die von ihm unternommen wurden, demokratisch abgesegnet und abgesichert waren. ({6}) Wenn es im Parlament in Venezuela keine oder fast keine Opposition gibt, ist dies nicht der Regierung anzulasten, sondern der Opposition, denn sie hat keine Kandidaten für die Wahl aufgestellt. ({7}) Es ist beispielhaft, wie die OAS und die Rio-Gruppe quasi die Lösung der in Lateinamerika bestehenden Schwierigkeiten mit Ecuador, Kolumbien und Venezuela in die Hand genommen haben, ohne dass es weiterhin große Probleme gab. Hinsichtlich der Computerfunde stehe ich allerdings im Gegensatz zu meinem Kollegen Sascha Raabe; denn der US-Geheimdienst verkündet - so war heute wieder zu lesen -, was alles in diesen Computern zu finden sei. Die OAS hat in der Vergangenheit ganz klar gesagt, dies sei nicht zutreffend. Meines Erachtens sind weder Kollege Raabe noch ich in der Lage, das zu beurteilen. ({8}) Lassen wir die Weltöffentlichkeit dies näher untersuchen, um dann zu weiteren Schritten zu kommen. Meine Zeit hier ist ablaufen, sehe ich. ({9}) Ich bedaure dies sehr, weil ich gern noch einiges zu Kuba gesagt hätte. ({10}) Das muss ich dann eben auf die nächste Debatte verschieben. Vielen Dank. ({11})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollegin Anette Hübinger, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Anette Hübinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003776, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lateinamerika muss von Deutschland, aber auch von Europa neu entdeckt werden. Lateinamerika muss wieder einen Platz im Zentrum unseres Handelns einnehmen. ({0}) In den heute zu debattierenden Anträgen wird unser Gestaltungswille für eine neue Partnerschaft mit Lateinamerika aufgezeigt. Die Welt hat sich seit dem Ende des Ost-West-Konflikts und seit Beginn der Globalisierung verändert. In vielen Ländern Lateinamerikas beobachten wir in den letzten Jahren einen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandel, der uns in Europa und in Deutschland nicht gleichgültig sein darf und kann. Deutschland muss es ein Herzensanliegen sein, gemeinsam mit unseren lateinamerikanischen Partnern eine lebendige Wertegemeinschaft zu entwickeln. Unsere gemeinsamen kulturellen Wurzeln, unsere gemeinsamen Wertevorstellungen wie Freiheit, Chancengleichheit und Verantwortung sowie unsere demokratischen Überzeugungen sind eine gute Grundlage für eine vertrauensvolle Partnerschaft. ({1}) Heute ist es trotz dieser engen Bindungen eben nicht mehr selbstverständlich, dass Deutschland und Europa für Lateinamerika unweigerlich die wichtigsten Partner sind. Deshalb müssen wir bei den Menschen in Lateinamerika für unsere Werte werben, die wirtschaftlichen Erfolg und soziale Verantwortung miteinander vereinen. Für die Pflege unserer kulturellen Nähe und für das vertiefende Verständnis füreinander brauchen wir einen zielgerichteten Austausch in den Bereichen Kultur, Bildung und Wissenschaften. Der Austausch im universitären Bereich, eine intensivere Kooperation von Forschungseinrichtungen, aber auch die Auslandsschulen in Lateinamerika sind in diesem Zusammenhang wichtige Ansätze. Sie bilden eine wichtige menschliche Brücke zwischen diesen beiden Kontinenten. Dieser Austausch bietet die Chance, dass wir auf die großen globalen Fragen wie Klimawandel und Energiesicherheit gemeinsame Antworten suchen und finden. ({2}) Die größten Herausforderungen für viele Länder in Lateinamerika sind jedoch die Bewältigung des wachsenden sozialen Ungleichgewichts und der Kampf gegen die Armut. Trotz des guten Wirtschaftswachstums der letzten Jahre leben immer noch mehr als 200 Millionen Menschen - das sind 40 Prozent der Bevölkerung von weniger als 2 Dollar pro Tag, und 80 Millionen Menschen erleiden täglich Hunger. Diese Kluft bei der Einkommensverteilung und im Wohlstandsniveau birgt gefährlichen sozialen Sprengstoff und gefährdet erzielte demokratische Transformationsgewinne. Fehlende oder schwache staatliche Institutionen geben immer wieder Raum für Menschenrechtsverletzungen, für Korruption und kriminelle Gewalt; dies führt zur steigenden Migration. Die Bekämpfung der Armut ist dabei der Schlüssel zur Demokratie. Es ist die Aufgabe der lateinamerikanischen Regierungen, diesen gewaltigen Herausforderungen konsequent zu begegnen. Die Aufgabe unserer Entwicklungszusammenarbeit ist es, sie dabei zu begleiten. Deutschland hat ein elementares Interesse daran, dass der Demokratisierungsprozess in Lateinamerika fortgesetzt und stabilisiert wird. Demokratische Wahlen führen nämlich nicht automatisch zu demokratischer Regierungsführung. Die wachsende Unzufriedenheit der Bevölkerung führt immer häufiger zu konfliktgeladenen Auseinandersetzungen. ({3}) Deshalb müssen wir unsere entwicklungspolitischen Instrumente auf die Stärkung von demokratischen Strukturen, von Good Governance und von sozialen Sicherungssystemen ausrichten. Dass die indigene Bevölkerung an diesen Prozessen teilhaben muss, erklärt sich von selbst. Unzureichende gesellschaftliche und soziale Verantwortung der wirtschaftlichen Elite - wir haben heute mehrfach davon gehört - ist in vielen Teilen Lateinamerikas ein großes Problem. Zur Lösung können und müssen wir mehr auf die erfolgreiche Arbeit unserer politischen Stiftungen zurückgreifen. Wir müssen die Eliten darin bestärken, sozialstaatlich zu denken und Verantwortung zu übernehmen; bei der Bevölkerung müssen wir ein besseres Demokratieverständnis fördern. Mit den linkspopulistischen Regierungen müssen wir einen kritischen Dialog führen, im Rahmen dessen wir für demokratische Grundprinzipien und für die Unteilbarkeit der Menschenrechte werben. ({4}) Lateinamerika birgt eine der größten biologischen Schatzkammern der Welt, die jedoch durch kurzfristige Interessen höchst gefährdet ist. Deshalb steht der Umwelt- und Ressourcenschutz einschließlich des Tropenwaldschutzes in unserer entwicklungspolitischen Zusammenarbeit an herausragender Stelle. Auch beim Gipfel in Lima in der nächsten Woche wird der Umweltschutz ein zentrales Thema sein. Die Einbeziehung der Entwicklungs- und Schwellenländer in den Umweltschutz ist von entscheidender Bedeutung: Diese Länder werden von den Folgen des Klimawandels am meisten bedroht; gerade sie können aber durch ihr künftiges Verhalten diesen Wandel positiv beeinflussen. Deutschland verfügt im Umwelt- und Ressourcenschutz über viel Know-how und ist ein gefragter Partner. Das Instrument einer Entwicklungspartnerschaft mit der Wirtschaft sollte daher mehr einbezogen werden. Ein gutes Beispiel dafür ist das Tropenwaldprogramm Brasiliens. Angesichts der weltweit steigenden Nachfrage nach Nahrungsmitteln und der Ausweitung der Herstellung von Treibstoff aus Agrarprodukten müssen wir die Förderung der ländlichen Entwicklung und der Agrarforschung in den Mittelpunkt unserer Zusammenarbeit rücken. Dazu gehören Ansätze zu einer umfassenden Landreform, der Aufbau von effizienten, mittelständischen Produktionsstrukturen, die Bereitstellung von Mikrofinanzierungen, aber auch Unterstützung beim Aufbau von Katastern und Flächennutzungsplänen. Die ländliche Entwicklung dient nicht zuletzt der Eindämmung des Drogenanbaus und hilft den Menschen, aus der nur zu oft unfreiwilligen Kriminalität herauszukommen. Der Erfolg der ländlichen Entwicklung hängt auch davon ab, ob es uns gelingt, zu einem gerechten Welthandelssystem zu kommen. Die Zusage der EU, die Agrarexportsubventionen bis 2013 schrittweise auslaufen zu lassen, ist ein Schritt dorthin. Dennoch bedarf es auf multilateraler Ebene noch erheblicher Anstrengungen, wenn die Doha-Runde zu einer erfolgreichen Entwicklungsrunde werden soll. ({5}) Mit einem Anteil von 40 Prozent ist die EU der größte entwicklungspolitische Akteur in Lateinamerika. Sie hat einen erheblichen Beitrag geleistet, innenpolitische Reformen zu unterstützen, die zu dem gegenwärtigen wirtschaftlichen Wachstum in vielen Ländern geführt haben. Wir müssen uns aber fragen, ob unser eigener Einsatz wirksam genug ist. Die eingeleiteten Reformen der europäischen Entwicklungszusammenarbeit müssen konsequenter umgesetzt werden, um durch ein besseres Miteinander die Wirksamkeit zu erhöhen. Die Menschen in den meisten Ländern Lateinamerikas stehen vor großen Herausforderungen. Wir in Deutschland und in Europa tragen für die Bewältigung dieser Probleme eine besondere Verantwortung. Mit unserer entwicklungspolitischen Zusammenarbeit wollen wir einen Beitrag dazu leisten, dass durch das wirtschaftliche Wachstum der letzten Jahre auch die soziale Gerechtigkeit stärker berücksichtigt wird und letztendlich zu einer nachhaltigen Armutsbekämpfung beigetragen werden kann. Ich meine, wir können uns glücklich schätzen, dass Lateinamerika und Deutschland über gemeinsame kulturelle Wurzeln und so viele gemeinsame Wertevorstellungen und Prägungen verfügen. Nutzen wir diese bei der Bewältigung der Probleme und globalen Herausforderungen zugunsten eines tieferen Verständnisses füreinander. Unserer Bundeskanzlerin wünsche ich in der nächsten Woche in Lima ein gutes Gelingen. Herzlichen Dank. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/9072, 16/9073, 16/9074, 16/8907 und 16/9056 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Deutsche Kolumbien-Politik auf die Stärkung ziviler Friedensinitiativen und der sozialen, demokratischen und Menschenrechte ausrichten“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/8062, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/5678 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung der Grünen angenommen. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Die Regierungsverhandlungen mit Bolivien für eine kritische Überprüfung der Entwicklungszusammenarbeit nutzen und an Bedingungen knüpfen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9114, den Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/5615 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der Fraktion der FDP angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 23 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Wieland, Silke Stokar von Neuforn, Volker Beck ({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Keine Einführung biometrischer Merkmale im Personalausweis - Drucksache 16/7749 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({1}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Wolfgang Wieland, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort. ({2})

Wolfgang Wieland (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003863, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist gerade einmal ein Jahr her, dass wir hier über den neuen biometrischen Pass debattiert haben. Unsere Pässe, die ja schon vorher maschinenlesbar und fälschungssicher waren und auf denen die biometrischen Gesichtszüge abgebildet wurden, enthalten nun auch noch die Fingerabdrücke. Der Sicherheitszuwachs war gleich null. Nicht umsonst werden jetzt die Fingerabdrücke des geschätzten Innenministers Schäuble herumgereicht. Sie wurden digital kopiert und befinden sich nun auf dem freien Markt. ({0}) Als wäre das alles nicht schon absurd und schlimm genug, soll dem Pass dieses Jahr nun auch noch der biometrische Personalausweis folgen, auf dem ebenfalls die Fingerabdrücke hinterlegt sind. Die größten Dummheiten, die mit dem Passgesetz begangen wurden, sollen nun, wie es heißt, auf Scheckkartenformat komprimiert werden. Da kann ich nur sagen: Hier bekommt der Irrsinn Methode. Das sollte nicht geschehen. ({1}) Das hat auch die SPD-Fraktion, jedenfalls der Vorsitzende des Innenausschusses, der geschätzte Kollege Edathy, gemerkt. Er ließ heute per Ticker verkünden - ich hoffe, er bleibt dabei -: Der Personalausweis ist ein Zwangsdokument. Das braucht jeder Bürger und jede Bürgerin. Wenn vorgeschrieben wird, was bisher nur für Ganoven vorgesehen war, nämlich dass Fingerabdrücke abgenommen und in das Dokument aufgenommen werden, dann wird das zur Pflichtübung für alle. Eine größere Misstrauenserklärung des Staates gegenüber seinen Bürgerinnen und Bürgern ist kaum vorstellbar. ({2}) - Schade, dass der Kollege Edathy nicht anwesend ist. Aber ich habe es mit Vergnügen gelesen. ({3}) Ich habe auch gehört, nun gebe es eine Koalitionskrise. Nächste Woche folgt dann ein Krisengipfel, und Sie, Herr Kollege Hofmann, werden ihm sicherlich alles überbringen, was hier an Kritik vorgebracht wird. ({4}) Warum sollen die biometrischen Merkmale in den Ausweis aufgenommen werden? Die internationalen Terroristen reisen sicherlich nicht mit deutschen Personalausweisen oder Reisepässen. Das hat sie seinerzeit nicht an den Anschlägen gehindert. Die Begründung der Abwehr des internationalen Terrorismus ist völlig aberwitzig. ({5}) Auch hinter Europa kann man sich diesmal nicht verstecken. Es gibt keine entsprechende Vorgabe der EU. Was sind die Gründe für Ihr Vorhaben? Wir argwöhnen, dass es um reine Exportförderung der deutschen Hightech-Sicherheitsindustrie geht. In diesem Zusammenhang ist eine kritische Bemerkung über den Kollegen Otto Schily notwendig. Er hätte das nicht nötig. Ich sage nicht, dass er mit seinen Beteiligungen an entsprechenden Unternehmen und seinem Aufsichtsratsmandat aus wirtschaftlichen Interessen handelt. Aber er war lange genug Anwalt, um zu wissen, dass man nicht nur die tatsächliche Vermischung von wirtschaftlichen Interessen und politischem Handeln vermeiden muss, sondern auch den bösen Schein, dies zu tun. ({6}) - Der Kollege Schily wird lernen, dass die Rechtsordnung für alle gilt, selbst für Otto den Großen, Frau Kollegin Piltz. Da darf ich Sie beruhigen. ({7}) Aber im Ernst: Die innere Sicherheit dient nicht dem Zweck, mit den Gebühren der Bürgerinnen und Bürger Exportförderung für deutsche Hightechfirmen zu betreiben. Lassen Sie mich noch auf die anderen Gründe eingehen, die angeführt werden. Der Bürger soll damit beim Onlinehandel agieren. Er wird geradezu aufgefordert, seine Daten in Breite im Internet zur Verfügung zu stellen. Es wäre Aufgabe der Bundesregierung, solche Datenmeere nicht entstehen zu lassen. Stattdessen füllt sie diese weiter auf und schafft auch noch einen Anreiz dafür. Schließlich - damit komme ich zur CDU/CSU-Fraktion; wir haben das nicht vergessen, Herr Kollege Binninger - wollten Sie schon bei der Einführung der Pässe eine Fingerabdruckdatei vorsehen, nach dem Motto „Wenn die Bürgerinnen und Bürger schon ihren Fingerabdruck zur Verfügung stellen müssen, dann behalten wir ihn doch gleich“. ({8}) Diese Versuchung ist beim Personalausweis noch viel größer; denn dann hätten Sie alle Fingerabdrücke. Nicht umsonst sind im Rohentwurf des Meldegesetzes zwei leere Felder im zentralen Bundesmelderegister vorgesehen. Wir argwöhnen, dass in eines der Felder ein Foto und in das andere die Fingerabdrücke aufgenommen werden sollen. Das ist die allergrößte Gefahr, vor der zu warnen ist. Im Polizeijargon wird es „Erkennungsdienstliche Behandlung“ genannt, ED-Behandlung. Der Volksmund nennt es einfach Verbrecheralbum. Wir warnen davor und fordern Sie auf: Stecken Sie gefälligst nicht die Gesamtbevölkerung ins Verbrecheralbum! Geben Sie Ihre Pläne auf! Noch ist Zeit dafür. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Clemens Binninger, CDU/CSUFraktion. ({0})

Clemens Binninger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003507, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Gestatten Sie mir, bevor ich auf den Antrag der Grünen eingehe, zwei Anmerkungen an Ihre Adresse, Herr Wieland, und an Ihre Fraktion. Ich möchte auch für die Menschen, die uns zuhören und zusehen, daran erinnern, wer vor einigen Jahren die Weichen für die Aufnahme der biometrischen Merkmale in den Pass gestellt ({0}) und diese Technik mit einer guten Entscheidung, wie ich finde, erst hoffähig gemacht hat. Rot-Grün hat die Einführung biometrischer Merkmale beschlossen, und Sie haben damals mitgemacht. Heute wollen Sie davon nichts mehr wissen. Das ist unseriös und scheinheilig. ({1}) Die zweite Anmerkung vorneweg: Wenn man Ihren Antrag liest, könnte man den Eindruck haben, als ob die größte Gefahr für den Datenschutz von unseren Sicherheitsbehörden und der Polizei ausginge. Das ist ein einigermaßen absurdes Verständnis der Arbeit unserer Sicherheitsbehörden und wird von uns in keiner Weise geteilt. ({2}) Nun zu Ihrem Antrag. Man könnte ihn mit der Überschrift überschreiben: Wir sind dagegen, egal was die Bundesregierung oder die Koalitionsfraktionen tun. Das wäre einfacher und ehrlicher gewesen. Ich will auf ein paar Punkte eingehen. Sie sagen: keine Biometrie und auf gar keinen Fall Fingerabdrücke. Was ist denn Sinn und Zweck der Biometrie? Der Reisepass bietet durch die biometrischen Merkmale Gesicht und die beiden Zeigefingerabdrücke, die im Chip integriert sind, absolute Fälschungssicherheit, weil bei einer Kontrolle die Daten auf dem Chip mit den Daten desjenigen abgeglichen werden, der das Dokument vorzeigt. Das leistet die Biometrie. Sie sorgt nicht nur für einen Qualitätsgewinn, sondern auch für einen Sicherheitsgewinn. Sie blenden mit Ihrer Behauptung, der Pass könne kaum gefälscht werden - ich bestreite gar nicht, dass es sich um ein fälschungssicheres Dokument handelt -, die Missbrauchsanfälligkeit aus. In Deutschland sind derzeit mehr als 2 Millionen Personalausweise entwendet. Sie werden bei optischen Ähnlichkeiten eingesetzt, und zwar häufig erfolgreich. Das heißt, mehr als 2 Millionen Bürger müssen derzeit damit rechnen, dass ihr Personalausweis missbräuchlich eingesetzt wird; denn bei einer flüchtigen Kontrolle kann nicht erkannt werden, dass die Person, die auf dem Foto abgebildet ist, nicht diejenige ist, die den Pass oder den Ausweis vorzeigt. ({3}) Genau an dieser Stelle erzielt die Biometrie einen entscheidenden Sicherheitsgewinn. Es wird keinen Missbrauch von Dokumenten mehr geben. Mehr als 2 Millionen gestohlene Ausweise, die sich derzeit in Umlauf befinden, werden für diejenigen, die sie gestohlen haben, wertlos sein. Auf diesen Sicherheitsgewinn können und werden wir nicht verzichten. ({4}) Über das Thema Fingerabdrücke führen Sie eine ziemlich hysterische Debatte. ({5}) - Wenn ich Ihnen zuhöre, weiß ich, was Hysterie ist, Herr Kollege Wieland, und zwar in gelebter Reinform. Die im Chip gespeicherten Fingerabdrücke sind mit einem so hohen Verschlüsselungsalgorithmus ausgestattet, dass man zukünftig mehr als zwölf Tage bräuchte, um die Daten auszulesen, und zwar in einem Abstand von 20 Zentimeter zu Pass oder Ausweis, der sich zudem nicht bewegen dürfte. Das ist faktisch unmöglich. Mehr Sicherheit geht nicht. ({6}) Wenn Sie ernsthaft Angst haben, dass der im Chip so gut gesicherte biometrische Fingerabdruck ausgelesen wird - das ist faktisch nicht möglich -, dann sage ich Ihnen: Der Fingerabdruck ist ein flüchtiges biometrisches Merkmal. ({7}) Jeder von uns, ob er will oder nicht, hinterlässt rund 500-mal am Tag Fingerabdrücke bei jeder Gelegenheit, beispielsweise an Tischen, Türgriffen und Gläsern. An dem Pult, an dem ich stehe, lassen sich möglicherweise die Fingerabdrücke aller Abgeordneten des Bundestages finden. Wer Ihren Fingerabdruck wollte, hätte leichtes Spiel und könnte ihn sich bei den eben beschriebenen Gelegenheiten besorgen. Wenn Sie ernsthaft Angst haben, dass ein gesicherter Fingerabdruck im Chip Ihres eigenen Ausweises - sonst ist er nirgendwo vorhanden ausgelesen wird, dann müssten Sie - das habe ich noch nie gesehen - jeden Tag mit Handschuhen durch die Gegend laufen; denn nur dann wären Sie glaubwürdig. Da Sie keine Handschuhe tragen, Herr Wieland, nehme ich Ihnen dieses Argument nicht ab. ({8}) Interessant ist, zu sehen, wie sehr die Bürger in unserem Land diese Technik annehmen. Herr Wieland, Sie haben darauf hingewiesen, dass die Große Koalition im November letzten Jahres die Einführung des biometrischen Reisepasses beschlossen hat. In den vergangenen sechs Monaten haben fast 1,5 Millionen Bundesbürger den neuen Pass beantragt, weil sie diesen Pass, diese Technik wollen. ({9}) Es war eine Abstimmung per Antrag. Herr Kollege Ströbele, der alte Pass hätte seine Gültigkeit behalten. Die Anzahl derer, die ohnehin einen neuen Pass gebraucht hätte, weil der alte zufällig zu dem Termin abgelaufen wäre, beträgt nur einen Bruchteil der Zahl derer, die ihn jetzt beantragt haben. Die Bürger sind gegenüber der Technik aufgeschlossen, sie erkennen im Gegensatz zu den Grünen den Sicherheitsgewinn. 1,5 Millionen biometrische Pässe sprechen eine eindeutige Sprache, und das zeigt, dass dieses Produkt erfolgreich ist. Es ist sicher, und es bringt einen Qualitätsgewinn. Deshalb werden wir auf diesem Weg vorangehen, ob Sie es wollen oder nicht. ({10}) Herr Kollege Wieland, ich würde doch bitten, an einer Stelle die Legendenbildung zu beenden: Referenzdateien, große Datenbanken, Möglichkeiten, wo man überall abgleichen kann.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege Binninger, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ströbele? ({0})

Clemens Binninger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003507, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gerne.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege, wollen Sie allen Ernstes behaupten, dass 1,5 Millionen Bürgerinnen und Bürger zu ihren Bürgerämtern gegangen sind, um endlich biometrische Merkmale in ihren Pass zu bekommen? Ist das tatsächlich Ihre Meinung? Wenn ja, worauf stützen Sie diese Meinung? Haben Sie persönlich Untersuchungen vorgenommen, und haben Sie selber von dieser Möglichkeit, endlich biometrische Merkmale in Ihren Pass zu bekommen, Gebrauch gemacht?

Clemens Binninger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003507, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nur ganz kurz: Im Diplomatenpass haben wir solche Merkmale schon mit dem Gesichtsbild. ({0}) Ich hole mir selbstverständlich einen biometrischen Pass. Woher kommt diese Zahl? Ich will es Ihnen sagen, Herr Kollege Ströbele. Die Passbehörden und auch das Bundesinnenministerium haben Erfahrungswerte, sie wissen, wann die Gültigkeit von Ausweisen abläuft und wann und in welchem Umfang neue Pässe beantragt werden müssen, weil der alte Pass abgelaufen ist. Die Zahl der Menschen, deren Pass abgelaufen ist, ist aber deutlich geringer als die Zahl derer, die einen neuen Pass beantragt haben. Diese haben einen neuen Pass beantragt, obwohl ihr alter noch gültig war, womit sie klar dokumentiert haben, dass diese Technik ein Gewinn ist, die Reisefreiheit bei höchster Sicherheit und Qualität garantiert. ({1}) Die Zahl der Personen, die einen neuen Pass beantragt haben, ist sehr viel höher als die, die nach dem Ablauf des Gültigkeitsdatums zu erwarten gewesen wäre. Das gefällt Ihnen nicht. Das ist mir klar. Sie hätten gerne mit Ihrer Hysteriedebatte die Bürger verunsichert. Es ist Ihnen aber nicht gelungen. Das müssen Sie zur Kenntnis nehmen, ob es Ihnen gefällt oder nicht. ({2}) Die Legende, wir würden eine große Datenbank anlegen, sollten Sie jetzt wirklich zu den Akten legen. ({3}) Die Diskussion darüber, welche Daten die Meldebehörden dezentral speichern und welche sie löschen, hatten wir. Ich will aber deutlich machen: Im Gesetz zum biometrischen Pass ist klar geregelt, dass es keine Datei gibt, weder eine dezentrale noch eine zentrale. ({4}) Es wird auch beim Personalausweis so sein, dass es weder eine dezentrale noch eine zentrale Datei geben wird. Ich bitte Sie, an dieser Stelle nicht weiter Legendenbildung zu betreiben. Wenn Ihnen die Argumente ausgehen, dann geben Sie es einfach zu, aber führen Sie keine Phantomdiskussionen und keine hysterischen Debatten. Das wäre ehrlicher. ({5}) Der dritte Punkt, den Sie kritisieren, leuchtet wirklich noch weniger ein als alle anderen, die Sie vortragen. Sie lehnen die elektronische Signatur ab, eine Zusatzfunktion, die wir optional im Personalausweis für den Bürger vorsehen wollen und die es dem Bürger erlauben wird, bei höchster Sicherheit nicht nur die Geschäfte, die er heute sowieso schon über Internet - Amazon, Ebay oder Bankgeschäfte - tätigt, sicherer zu tätigen, sondern auch Behördengänge von zu Hause am PC zu erledigen. Das ist ein gigantischer neuer Nutzen, den wir mit dieser Technik hätten. Sie verweigern dem Bürger diesen Nutzen, warum auch immer. Nur die elektronische Signatur einzuführen, aber auf die Biometrie zu verzichten, hieße, einen Ausweis mit neuen Funktionen auszustatten, aber an der Sicherheit zu sparen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage, diesmal von der Kollegin Stokar von den Grünen?

Clemens Binninger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003507, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Binninger, ist Ihnen bekannt, dass der Bankenverband in Deutschland die elektronische Signatur auf dem Personalausweis, so wie sie geplant ist, ablehnt und deutlich erklärt hat, dass die Technologie der RFID-Chips nicht sicher und damit ungeeignet für Bankgeschäfte sowohl am Terminal als auch beim Onlinebanking ist? Was, bitte schön, soll dann diese Koppelung, wenn schon der Bankenverband sagt, dass er mit diesem System nicht arbeiten werde?

Clemens Binninger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003507, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Stokar, möglicherweise ist Ihnen die neueste Position aus der Bankenwelt nicht bekannt. Wir haben am Dienstag oder Mittwoch dieser Woche eine Informationsveranstaltung besucht, ({0}) bei der Vertreter aus der Wirtschaft, Wissenschaft und auch von Banken anwesend waren. ({1}) Sie alle haben unisono diese Technik begrüßt. Insofern bitte ich darum, dass wir nicht immer so tun, als ob wir in Deutschland beim BKA, beim BMI und beim Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik keine Kompetenz hätten, die Datenschutz garantieren kann, und wir unsichere Produkte auf den Markt werfen würden. Das ist doch falsch. Die Position und die Erwartungshaltung sind eindeutig. Wir sollten - natürlich unter Berücksichtigung des Datenschutzes - alles tun, um diese Technik sicher - das möchte ich Ihnen gerne zugestehen - zu machen und eben auch einzusetzen. ({2}) Wenn wir auf diese Funktion verzichten würden, hieße es, sich vom E-Government zu verabschieden, hieße es, den Bürger weiterhin zu Behördengängen zu veranlassen, obwohl er seine Anliegen vielleicht auch von zu Hause aus am PC erledigen könnte. ({3}) Es ist wirklich die Kombination aus einem sicheren Dokument mit Biometrie und dem Zusatznutzen für den Bürger. Wer das dem Bürger vorenthalten will, soll es sagen. Wenn die Grünen es wollen, dann mag es ihre Position sein. Wir werden an dieser Stelle nicht mitgehen. ({4}) Für uns ist die Biometrie in Ausweisdokumenten, in Pässen ein Gewinn an Qualität, ein Gewinn an Sicherheit und ein großer Gewinn an Zusatznutzen für den Bürger. Deshalb werden wir dieses Projekt bzw. dieses Produkt vorantreiben, und zwar unabhängig davon, ob es Ihnen gefällt oder nicht. Herzlichen Dank. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollegin Gisela Piltz, FDP-Fraktion.

Gisela Piltz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003667, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Mehr Sicherheit, mehr Service, keine Probleme - das ist der Dreiklang, mit dem das BMI den elektronischen Personalausweis verkauft. Insbesondere preisen aber auch die Großkoalitionäre - wir waren eben lange genug Zeuge - die zahlreichen Vorzüge dieses neuen Projektes an. Sogar von einer kleinen Revolution, vom Ausweis fürs Internet ist die Rede. Als Opposition tun wir uns mit der Beurteilung im Moment noch ein bisschen schwer. Bis heute haben wir nicht einmal das Grundkonzept des Innenministeriums für den neuen Personalausweis zur Verfügung gestellt bekommen. ({0}) Auch unsere Berichtsanforderungen zum Stand der Entwicklung der Lesegeräte und der Software für den neuen Personalausweis sind bisher nicht übersandt worden. Damit nicht genug: Auch eine zuverlässige Kostenschätzung seitens des Innenministeriums gibt es noch nicht. Aber tolles Projekt! ({1}) Wenn dieses Projekt so toll sein soll, wie Sie immer darstellen, frage ich mich, warum Sie die Details vor der Opposition und damit vor der Öffentlichkeit verstecken. Diese Frage haben Sie heute nicht beantwortet, Herr Binninger. ({2}) Ihre Argumente für den neuen Personalausweis sind Fälschungssicherheit und die Möglichkeit der Identitätsüberprüfung. Fälschungssicher sind die alten Ausweispapiere, die wir in Deutschland haben, auch. Die Zahlen kennen Sie; ich muss sie nicht wiederholen. ({3}) Was Sie damit allerdings wollen, erreichen Sie im Moment noch gar nicht. Das erreichen Sie übrigens nicht einmal hinsichtlich der Reisepässe. Sie wissen genau, dass gerade einmal die Hälfte der deutschen Grenzübergänge mit Lesegeräten für die neuen biometrischen Reisepässe ausgestattet ist. Es gibt auch noch keine Möglichkeit, die von Ihnen so gelobte biometrische Gesichtserkennung durchzuführen, weil seitens des Innenministeriums noch nicht einmal ein Roll-out-Plan existiert, Kameras an den Grenzen zu installieren. Jetzt frage ich Sie: Wie soll das ein Mehr an Sicherheit bringen, obwohl Sie weder die Lesegeräte noch eine Idee dafür haben, wie diese bezahlt werden sollen und woher diese kommen sollen? Das hat mit Sicherheit überhaupt nichts zu tun. ({4}) Wie immer bei der Sicherheitspolitik verfahren Sie auch hier nach dem Motto „Augen zu und durch“. Die Identitätsüberprüfung, bei der es nur darum geht, ob der, der den Ausweis hat, auch der ist, für den er ausgestellt worden ist, rechtfertigt eine Aufrüstung in diesem Sinne aus unserer Sicht nicht. Denn die biometrische Gesichtserkennung und erst recht der Fingerabdruck werden in der deutschen Bevölkerung mit - es ist schon gesagt worden - erkennungsdienstlichen Behandlungen oder sogar mit der Vorstellung verbunden, dass Bürger im Gefängnis ihre Fingerabdrücke abgeben müssen. Der Bürger verbindet damit aber nicht, dass er seinen Fingerabdruck abgeben muss, damit dieser in den Personalausweis eingearbeitet wird, den er bei sich haben muss. Dann möchte ich doch noch einmal mit einer Mär aufräumen, die der Kollege Binninger hier hinsichtlich der Zahlen gebracht hat. Herr Binninger - das müssten Sie wissen -, es gibt den Reisepass mit biometrischen Merkmalen schon seit dem 1. November 2005, zunächst nur mit Gesichtserkennung, seit 1. November 2007 mit Erfassung der Fingerabdrücke. Seit 1. November 2005 sind rund 5,4 Millionen Pässe ausgegeben worden. Wenn man das auf Halbjahreszeiträume bezieht, dann kommt man zu dem Ergebnis, das jedes halbe Jahr 1 Million Pässe ausgegeben werden. Sie können mir angesichts dieser Zahlen und bei Kosten von 59 Euro pro Pass nicht erzählen, dass diese Pässe nun wirklich der Renner bei den Bürgerinnen und Bürgern wären. Wenn Sie daran glauben wollen, dann können Sie das gerne tun. Ich finde, die Fakten sprechen dagegen. ({5}) Wenn Sie im Übrigen daran glauben, dass das alles fälschungssicher sei, dann kann ich Ihnen nur raten: Sprechen Sie mit Fachleuten! Die sagen Ihnen, dass natürlich auch ein biometrisches Foto oder auch ein Fingerabdruck gefälscht werden kann. Von daher sind solche Pässe nicht wirklich fälschungssicherer. Aber es gibt Leute, die viel daran verdienen. Man muss ja die Bundesdruckerei wieder ein bisschen aufhübschen, man will die biometrische Industrie fördern. ({6}) Das alles ist in Ordnung, aber dann sagen Sie es doch und tun nicht so, als ob es Ihnen um mehr Sicherheit ginge. ({7}) Auch die Kopplung mit der elektronischen Signatur lehnen wir ab. Das hieße nämlich, dass zukünftig jeder, der im Internet mit einem solchen Personalausweis unterwegs ist, identifiziert werden kann. Das wäre ein weiterer Schritt in die Totalüberwachung. Auch der Bankenverband hat ausdrücklich gesagt - das ist schon gesagt worden; meine Gespräche mit diesem und anderen Verbänden sind sogar jüngeren Datums als Ihre; da muss ich Sie enttäuschen -, ({8}) dass die Banken selber so viel Geld investiert haben, dass sie überhaupt nicht einsehen, sich daran zu beteiligen. Das heißt, auch dieses von Ihnen genannte Argument zieht nicht mehr. Im Zusammenhang mit Ihrem Versprechen, dass sich die Bürgerinnen und Bürger dann an Bürgerportalen beteiligen könnten, verschweigen Sie den Bürgerinnen und Bürgern die Tatsache, dass das Geld kosten würde, und zwar durchaus viel Geld. Auch deshalb lehnen wir das ab. Sicherheit im Internet ist eine Sache, aber sie muss nicht auf eine derartige Weise und schon gar nicht zwangsweise staatlich verordnet werden. Meine 104-jährige Oma zum Beispiel könnte damit gar nichts mehr anfangen. Ich glaube, auch das sollten wir berücksichtigen. Wir freuen uns, dass sich die Grünen noch einmal mit diesem Thema an den Bundestag gewandt haben. Es ist schön, wenn Sie Ideen von uns aufgreifen, auch wenn dieses ein Jahr später geschieht. ({9}) Wir hoffen, dass insbesondere die CDU/CSU-Fraktion diese Debatte noch einmal zum Anlass nimmt, zu überlegen, ob man nicht erst einmal abwartet, wie das mit dem europäischen Pass, den wir ja einführen müssen, so läuft. Wir würden uns freuen, wenn wir dann danach hierüber noch einmal diskutieren könnten. Herzlichen Dank. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat der Abgeordnete Gert Winkelmeier.

Gert Winkelmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003864, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Da versucht Herr Kollege Binninger, uns die Vorteile deutlich zu machen, die biometrische Merkmale im Personalausweis bringen, und verweist dabei darauf, dass so Interneteinkäufe einfacher möglich wären und BehörGert Winkelmeier dengänge überflüssig würden. Sie wissen wie jeder andere hier in diesem Hause, dass es auch heute schon möglich ist, im Internet einzukaufen und Behördengänge elektronisch zu erledigen. ({0}) Die zentrale Frage in diesem Zusammenhang lautet doch: Was ist denn schlecht am alten Personalausweis? Hierzu muss man sagen: Aus unserer Sicht gibt es überhaupt keinen Anlass, biometrische Merkmale in den Personalausweis einzubauen. Ich möchte auf drei Punkte eingehen: Der erste Punkt betrifft den Zusammenhang zwischen Fingerabdrücken und Sicherheit. Es ist nun einmal so, dass jeder Deutsche ab dem 16. Lebensjahr per Gesetz verpflichtet ist, einen Personalausweis mit sich zu führen. Wenn nun aber bei jedem Personalausweis Fingerabdrücke hinterlegt werden sollen, heißt das, dass Millionen Deutsche sozusagen erkennungsdienstlich behandelt werden. Das darf einfach nicht sein. Experten sagen, dass dies verfassungsrechtlich höchst bedenklich ist. Ich glaube, dass dies vor dem Bundesverfassungsgericht auch keinen Bestand haben wird. Ich halte die Maßnahme, dass wir alle die Fingerabdrücke hinterlegen sollen, für moralisch verwerflich. Diese Behandlung wie von mutmaßlichen Verbrechern ist ungeheuerlich. Auf den psychologischen Faktor in diesem Zusammenhang kann ich aus Zeitgründen nicht weiter eingehen. Ein zweiter Punkt ist die Zentraldatei. Sie haben eben gesagt, Sie verzichten auf die Zentraldatei, obwohl es in Ihrer Partei Diskussionen dazu gegeben hat. Das ist aber eine Sache des Glaubens. Wir wissen doch, dass Sie, wenn sich bestimmte Dinge ändern, keinen Moment zögern werden, diese Zentraldatei zu fordern. Auch bei der SPD, die sich heute noch dagegen ausspricht, stellt sich die Frage, ob sie diese Position beibehalten wird. Vor allem finde ich verwerflich, dass Sie mit Ihren Überlegungen noch nicht einmal abwarten, bis das Bundesverfassungsgericht eine Entscheidung zum biometrischen Pass getroffen hat. Sie wissen, dass dort ein Verfahren anhängig ist. Entlarvend ist auch, dass sich der sächsische Justizminister in diesem Zusammenhang in Zeitungen zitieren lässt: Die Politik solle keinen vorauseilenden Gehorsam gegenüber dem Bundesverfassungsgericht leisten und die verfassungsrechtlichen Grenzen ausloten. Das zeigt doch, wes Geistes Kind diese Leute sind. Die größte Gefahrenquelle sehe ich allerdings in einem unbemerkten externen Auslesen der Daten durch Kriminelle, die das bewusst machen, um einen Vorteil für ihre kriminellen Aktionen zu haben. Wenn mir heute der Personalausweis gestohlen wird, dann melde ich das, und dann gibt es einen Vorgang dazu. Wenn Ihnen irgendwann einmal die Daten des Personalausweises ausgelesen werden, dann merken Sie das zunächst gar nicht, sondern erst in dem Moment, wo die Staatsanwaltschaft bei Ihnen klingelt und Sie zu den Dingen befragt, die Ihnen vorgeworfen werden. Dadurch erfolgt eine Umkehr der Beweislast: Dann muss nämlich derjenige, dem unbemerkt die Daten entwendet worden sind, erklären, dass er die ihm vorgeworfenen kriminellen Taten nicht begangen hat. Deswegen kann die Forderung in diesem Zusammenhang nur lauten: keine biometrischen Merkmale im Personalausweis. Vielen Dank. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollege Frank Hofmann, SPDFraktion.

Frank Hofmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002682, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag der Grünen „Keine Einführung biometrischer Merkmale im Personalausweis“ hat bei mir Erstaunen und Kopfschütteln ausgelöst. ({0}) So viel Humbug in so wenig Zeilen, das ist eine Riesenleistung. ({1}) Sie schreiben bereits in Satz 2: Durch die elektronische Speicherung biometrischer Merkmale in Personalausweisen droht eine Referenzdatei zu entstehen, die alle im Bundesgebiet lebenden Menschen erfasst. Diese absurde Behauptung entbehrt jeder Tatsachengrundlage, ist aber geeignet, Ängste in der Bevölkerung zu schüren. ({2}) Ein bisschen weniger Opportunismus, ein bisschen weniger Populismus - ich weiß, dass das den Grünen in der Opposition schwerfällt - und etwas mehr pragmatische Sacharbeit täten Ihnen gut. Schauen Sie doch zu Ihren grünen Parteifreunden nach Hamburg, die da gerade eine konservative Regierung gebildet haben! Da sind Sie zur Sacharbeit verpflichtet. Und was steht dort in der Koalitionsvereinbarung? Sie bekennen sich zum Beispiel ausdrücklich zur Videoüberwachung im öffentlichen Raum an Kriminalitätsschwerpunkten, ({3}) und hier in Berlin heucheln Sie vom Gespenst des Überwachungsstaates. Ich möchte Sie an das erinnern, was wir beim europäischen Reisepass beschlossen haben: keine Speicherung von Fingerabdruckdaten, weder dezentral noch zentral. Hier hat sich die SPD in den - zugegebenermaßen teilweise schwierigen - Verhandlungen in der Koalition durchgesetzt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege Hofmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Wieland?

Frank Hofmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002682, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Wieland.

Wolfgang Wieland (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003863, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Hofmann, da wir Ihrer Ansicht nach nur Unsinn in komprimierter Form produzieren, muss ich Sie Folgendes fragen: Glauben Sie wenigstens Ihrem Kollegen Edathy, dem Vorsitzenden des Innenausschusses, der heute vor dem Kernstück warnt, um das es auch uns geht, nämlich vor der zwangsweisen Einführung - beim Personalausweis geschieht dies zwangsweise eines solchen biometrischen Dokumentes für alle Bürgerinnen und Bürger? Es ist noch keine Stunde her, dass diese Meldung über den Ticker gegangen ist. Wenn Sie mir schon nicht glauben, glauben Sie wenigstens Ihrem Kollegen Edathy?

Frank Hofmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002682, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Es geht nicht um Glaubensfragen. Ich gehe Ihren Antrag Punkt für Punkt durch. Ich habe mich eben mit der Referenzdatei beschäftigt und werde auch noch auf die Frage eingehen, ob wir es nun machen oder nicht. ({0}) Ich komme, wie gesagt, noch später dazu. Zunächst will ich Ihren Antrag weiter sezieren, weil ich glaube, dass dies nach Ihrer fürchterlichen Rede dringend notwendig ist. ({1}) Ich war beim europäischen Reisepass. Wie gesagt, es gibt keine Speicherung von Fingerabdruckdaten, weder dezentral noch zentral. Hier hat sich die SPD in teilweise schwierigen Verhandlungen durchgesetzt. Wir wollen eine schnelle Identifizierung, aber kein neues Fahndungshilfsmittel. So wie der neue Reisepass in Deutschland ausgestattet ist, dient er sowohl der Sicherheit als auch der Freiheit. Das ist Sicherheitspolitik mit Augenmaß. Zudem ist sich die Koalition einig - Sie haben eben den Kollegen Clemens Binninger dazu gehört -: Die Einrichtung einer Referenzdatei ist vom Tisch. Man braucht also nicht mehr darüber zu reden. Die Angst, die die Grünen vor dem Risiko einer umfassenden staatlichen Datensammlung schüren, ist unbegründet. ({2}) Das Risiko, dass Sie, lieber Herr Kollege Wieland, vom Blitz getroffen werden, ist höher als die Wahrscheinlichkeit, dass wir einem solchen Horrorszenario zustimmen werden. ({3}) In ihrer Fingerabdruckphobie sind die Grünen wohl auch einigen Irrtümern aufgesessen. Fingerabdrücke sind keineswegs Daten, die bisher nur im Rahmen von Ermittlungen bei Straftaten erfasst werden, wie die Grünen in ihrem Antrag schreiben. Die Erhebung von Fingerabdrücken ist seit Jahrzehnten eine Standardbefugnis aufgrund der Polizeigesetze der Länder. Herr Wieland, Ihnen als Erstunterzeichner des Antrags und als kurzzeitiger Justizsenator in Berlin sollte bekannt sein, dass auch das Berliner SOG die erkennungsdienstliche Behandlung enthält. ({4}) Wie konnte solch ein schlechter Antrag über Ihren Tisch gehen? ({5}) - Nein, eben nicht. Bei der Gefahrenabwehr geht es nicht um einen Straftatverdacht. Das haben Sie völlig übersehen. Wie konnte so etwas über Ihren Tisch gehen? ({6}) Sie vermischen weiterhin Passregister und Melderegister; Herr Binninger hat es ebenfalls schon angesprochen. Das sind zwei Paar Stiefel. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Das Melderegister wird keine biometrischen Daten beinhalten. Die Fantasie ist mit Ihnen hier wohl kräftig durchgegangen. Im Übrigen ist auch uns bekannt, dass die Aufnahme biometrischer Merkmale in den Personalausweis einen Eingriff in die Rechte von Bürgerinnen und Bürgern darstellt. Deshalb werden wir hier auch ganz genau prüfen, ob diese Maßnahme überhaupt erforderlich ist. Die Bundesregierung muss nachweisen, weshalb man unter Sicherheitsaspekten einen neuen Personalausweis benötigt; denn bisher heißt es überall, wir hätten mit unserem heutigen Personalausweis ein Dokument, das zu den fälschungssichersten der Welt gehört. ({7}) - Hören Sie einmal zu! - Deshalb fällt es mir gegenwärtig unter Sicherheitsaspekten schwer, einen Mehrwert zu erkennen. ({8}) Hier hat die Bundesregierung also eine Bringschuld. Die Willensbildung in unserer Fraktion ist hierzu noch nicht abgeschlossen. Wir müssen uns zum Beispiel noch mit der Problematik des möglichen Dokumentenmissbrauchs Frank Hofmann ({9}) - sie wurde auch schon von Herrn Binninger angesprochen - beschäftigen. Wichtig sind mir aber auch die mit dem neuen Personalausweis verbundenen technischen Innovationen für unsere Bürgerinnen und Bürger. Es wurden schon der elektronische Identitätsnachweis und die elektronische Signatur angesprochen. Diese beiden zusätzlichen Funktionen halten wir für eine große Innovation. Sie können so ausgestaltet sein, dass sie nachträglich freigeschaltet oder gesperrt werden können, je nach individueller Entscheidung der Bürger. Es ist also kein Teil eines Zwangsdokumentes. Die Authentisierungsfunktion und die elektronische Signatur sind ein wichtiger Schritt hin zu mehr Sicherheit und Komfort im elektronischen Geschäftsverkehr. Gerade die zunehmende kommerzielle Nutzung des Internets erfordert es, sich auch elektronisch ausweisen zu können. Ich meine, die möglichen Risiken des neuen elektronischen Personalausweises sind durchaus beherrschbar. Der Einsatz der von den Grünen - im Antrag wie in der Rede von Herrn Wieland - dargestellten Räuberpistolen ist unwahrscheinlich. Was den neuen Reisepass - sozusagen die zweite Generation des Reisepasses, Frau Piltz - angeht, sind mir noch keine gravierenden technischen Probleme und keine Sicherheitsprobleme zu Ohren gekommen. Als ich mich bei den Fachleuten des Bundeskriminalamt informiert habe, haben sie mir gesagt - da waren die neuesten Zahlen noch nicht bekannt -: Es war schon interessant, wie viele Bürgerinnen und Bürger diesen neuen Pass haben wollten. Neben denjenigen, die - wie sicherlich auch Sie - den neuen Pass kritisieren, gibt es viele, die sagen: Wir wollen dieses neue Reisedokument haben. Es gibt also viele Bürgerinnen und Bürger, die zu dieser neuen Technologie Vertrauen gefasst haben. Ich komme zum Schluss. Trotzdem gehen wir Sozialdemokraten die konkrete Umsetzung des Vorhabens, einen elektronischen Personalausweis auszustellen, kritisch an, aber nicht populistisch. Wir bleiben auf unserem Kurs: Sicherheitspolitik mit Augenmaß. Vielen Dank. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Jan Korte, Fraktion Die Linke. ({0})

Jan Korte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003790, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Um Hysterie geht es hier wirklich nicht. Der CDU/CSU ist nämlich - das hat sie diese Woche eindrucksvoll gezeigt wirklich alles zuzutrauen. Deswegen kann einen gar nicht genug schaudern. Sicher ist, dass die SPD im Zweifel umfallen wird. Daher ist dieser Antrag richtig. ({0}) Wir wollen zur Versachlichung der Debatte beitragen; das ist unsere Art. ({1}) Zurzeit sind 62 Millionen Personalausweise im Umlauf. Wir haben die Bundesregierung in einer Kleinen Anfrage Folgendes gefragt: Wie viele Fälschungen oder Verfälschungen von deutschen Personalausweisen sind seit 2001 auf welche Art und Weise und bei welcher Gelegenheit aufgedeckt worden? Die Bundesregierung antwortete - ich zitiere -: Für den Zeitraum vom 1. Januar 2001 bis einschließlich 30. September 2007 sind insgesamt 495 Urkundendelikte … registriert. Dabei handelt es sich in 88 Fällen um Totalfälschungen sowie in 128 Fällen um Verfälschungen von deutschen Personalausweisen. ({2}) Also 495 Urkundendelikte bei 62 Millionen in Umlauf befindlichen Personalausweisen. In Ihrer Sprache würde man sagen: ein wirklich deutsches Spitzenprodukt. Es gibt überhaupt keine Handlungsnotwendigkeit für das, was Sie hier planen. ({3}) Außerdem haben wir die Bundesregierung Folgendes gefragt - das ist die entscheidende Frage; es geht ja um mehr Sicherheit, wie Sie suggerien -: Bei wie vielen der durchgeführten oder geplanten und aufgedeckten oder verhinderten vermutlichen terroristischen Anschläge seit dem Jahr 2000 spielten bei Planung und Durchführung gefälschte deutsche Personalausweise eine Rolle …? Die Antwort der Bundesregierung war kurz und knapp und ausnahmsweise klar: Der Bundesregierung sind keine derartigen Fälle bekannt. ({4}) Damit ist doch völlig deutlich geworden, worum es hier geht: Es geht hier nicht um mehr Sicherheit, sondern um Datensammelwut. Kollege Binninger, Sie haben doch selber vorgeschlagen, dass die Schaffung einer Referenzdatei das Ziel sein müsse. Dieses Ziel zu erreichen, wird mit der SPD in den nächsten drei Monaten wahrscheinlich nicht zu machen sein. Ich wiederhole: Sie haben diesen Vorschlag gemacht. Es ist in diesem Falle richtig, davor zu warnen. Ich fasse zusammen: Diese biometrischen Merkmale bringen nicht mehr, sondern weniger Sicherheit. Unsere jetzigen Standards sind absolut sicher; das sagen Sie selber. Die Debatten über einen neuen Reisepass sind noch absurder. In einer Anhörung im Innenausschuss sagten mehrere Sachverständige, die RFID-Technik bewirke mehr Unsicherheit. Viele entgegneten: Nein, so ist das nicht. Schließlich hat der BKA-Präsident - er steht nicht im Verdacht, für uns zu arbeiten - seinen Reisepass herausgeholt, den er in Alufolie eingewickelt hatte, um zu verhindern, dass seine darauf gespeicherten Daten ausgelesen werden. Das sagt doch wohl alles. Es geht hier um weniger Sicherheit. Das, was Sie machen, ist also grob fahrlässig. ({5}) Deswegen unterstützt die Linke diesen Antrag. Ich finde, man muss noch weit darüber hinausgehen: Mit Blick auf die Sicherheitsgesetze, die in den letzten zweieinhalb Jahren von der Bundesregierung, von Innenminister Schäuble, vorgestellt worden sind, brauchen wir eigentlich ein grundsätzliches Moratorium für alle Planungen im Sicherheitsbereich. ({6}) Wir müssen innehalten und wirklich einmal darüber diskutieren: Was bringt mehr Sicherheit? Ist die Verhältnismäßigkeit überhaupt noch gewahrt? Wir fordern dazu auf, nicht nur die Planungen zur Einführung biometrischer Merkmale im Personalausweis einzustellen, sondern auch innezuhalten, ein Moratorium zu verabschieden sowie grundsätzlich und kritisch, auch mit Bürgerrechtsorganisationen, über den Weg der weiteren Sicherheitspolitik in diesem Lande zu diskutieren. Schönen Dank. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/7749 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe die Zusatzpunkte 8 bis 11 auf: ZP 8 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Anpassung von Dienst- und Versorgungsbezügen im Bund 2008/2009 ({0}) - Drucksache 16/9059 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({1}) Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung Verteidigungsausschuss Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO ZP 9 Erste Beratung des von den Abgeordneten Jörg van Essen, Dr. Max Stadler, Jens Ackermann, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Achtundzwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Abgeordnetengesetzes - Drucksache 16/9054 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({2}) Innenausschuss Rechtsausschuss Haushaltsausschuss ZP 10 Erste Beratung des von den Abgeordneten Jörg van Essen, Dr. Max Stadler, Jens Ackermann, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes ({3}) - Drucksache 16/9055 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({4}) Innenausschuss Rechtsausschuss Haushaltsausschuss ZP 11 Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundesbesoldungsgesetzes - Drucksache 16/1033 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({5}) Verteidigungsausschuss Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort Kollegen Ralf Göbel, CDU/CSU-Fraktion. ({6})

Ralf Göbel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003535, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit die Große Koalition regiert, haben sich die wirtschaftlichen Rahmendaten in unserem Lande erheblich verbessert. ({0}) Der Wirtschaft geht es gut. Die Arbeitslosigkeit ist gesunken. Die Löhne und Gehälter haben sich in den vergangenen Jahren positiv entwickelt. Wir in diesem Hause haben die Beamtinnen und Beamten, die Pensionärinnen und Pensionäre des Bundes von diesen allgemeinen Einkommensentwicklungen abgekoppelt. ({1}) Damit wir über Zahlen und Fakten reden können, möchte ich Folgendes in Erinnerung rufen: Zuletzt wurden die Bezüge am 1. August 2004 angehoben: linear um 1 Prozent, bei den Versorgungsempfängern um 0,46 Prozent. Seitdem gab es lediglich Einmalzahlungen in den Jahren 2005 bis 2007 in Höhe von 300 Euro für die aktiven Beamten; die Pensionäre sind jeweils leer ausgegangen. Zweimal, nämlich 2004 und 2006, wurde das Weihnachtsgeld gekürzt; das Urlaubsgeld wurde im Jahr 2004 gänzlich gestrichen. Im Gegenzug wurde aber die Arbeitszeit der Beamtinnen und Beamten erhöht. Insgesamt gerechnet haben die Beamten seit dem Jahr 2002 einen Einkommensverlust in Höhe von circa 12 Prozent hinnehmen müssen. Sie haben damit einen eigenständigen Beitrag zur Konsolidierung des Bundeshaushalts erbracht. Deswegen begrüßen wir, die CDU/ CSU-Fraktion - ich denke, auch die SPD-Fraktion -, umso mehr die Absicht der Bundesregierung, nun den Tarifabschluss, der im öffentlichen Dienst gefunden worden ist, eins zu eins auf die Beamtinnen und Beamten sowie auf die Versorgungsempfänger zu übertragen. ({2}) Ich möchte dazu sagen: Wir, die CDU/CSU-Fraktion, haben wesentlich dazu beigetragen, dass der Tarifabschluss zeitgleich übertragen wird. Damit werden die Angestellten und die Beamtinnen und Beamten gleich behandelt. Das war uns ein wichtiges Anliegen. Damit haben wir die Zusage, die wir den Beamtinnen und Beamten gegeben haben, den Tarifabschluss zeit-, wirkungs- und inhaltsgleich zu übertragen, eingehalten. Im Einzelnen heißt das jetzt: Die Dienst- und Versorgungsbezüge werden in den Jahren 2008 und 2009 in drei Schritten angehoben. Zunächst einmal werden die Grundgehaltssätze um einen Sockelbetrag von 50 Euro ab dem 1. Januar 2008 angehoben. Auf dieser neuen Grundlage erfolgt eine lineare Erhöhung um 3,1 Prozent ebenfalls ab dem 1. Januar 2008. Am 1. Januar 2009 folgt eine weitere lineare Erhöhung um 2,8 Prozent. Im Jahr 2009 erhalten die Empfänger von Dienst- und Versorgungsbezügen - auch hier werden die Versorgungsempfänger berücksichtigt - eine ergänzende Einmalzahlung in Höhe von 225 Euro. Der Gesetzentwurf leistet einen guten Beitrag zur Stärkung des Wirtschaftsstandorts Deutschland. Wenn Sie mit Unternehmern, die sich in Deutschland angesiedelt haben, reden, werden Sie immer wieder feststellen, dass auch der zuverlässige, an Recht und Gesetz orientierte, gemeinwohlorientierte und korruptionsfreie öffentliche Dienst in Deutschland ein wesentlicher Standortfaktor ist, ({3}) der für die Ansiedlung von Unternehmen eine Rolle spielt. Ich meine, die Beamtinnen und Beamten haben es zum einen verdient, dass man dies hier einmal erwähnt, und zum anderen, dass man ihnen jetzt, nachdem ein Tarifergebnis gefunden worden ist, die notwendige Anerkennung für die Leistungen gewährt, die sie erbracht haben und zukünftig erbringen. Dies kann zu einem Motivationsschub in der Bundesverwaltung führen. Leider betrifft dies nur die Beamtinnen und Beamten des Bundes. In der Föderalismusreform haben sich die Länder abgekoppelt und eigene Besoldungshoheiten erreicht. Das führt natürlich in den öffentlichen Verwaltungen - das ist klar - zu schwierigen Situationen. Der Tarifabschluss gilt ja auch für die Angestellten in den Gemeinden. In meinem Bundesland Rheinland-Pfalz ({4}) sieht die Situation so aus, dass zum einen das Tarifergebnis komplett auf die Angestellten übertragen wird, zum anderen aber die Beamten in diesem Jahr mit einer Gehaltserhöhung von 0,5 Prozent leben müssen. Die Bundesländer sollten sich überlegen, ob sie an dieser Tradition festhalten oder ob sie nicht wieder auf die bewährte Verfahrensweise des Bundes einschwenken.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege, bevor Sie das Rednerpult verlassen, wollte ich Sie noch fragen, ob Sie eine Zwischenfrage - in diesem Fall ist es eine Nachfrage - des Kollegen

Ralf Göbel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003535, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Des Kollegen Schily? ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

- ich bitte um Entschuldigung - des Kollegen Ströbele zulassen. ({0}) Das verlängert Ihre Redezeit.

Ralf Göbel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003535, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wenn Herr Schily hier wäre, hätte ich auch ihm gern die Gelegenheit gegeben, eine Frage zu stellen. ({0})

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident, ich möchte für die Geschichte festhalten, dass ich nicht der Kollege Schily bin. Herr Kollege, meine Frage bezieht sich auf Ihren gesamten Redebeitrag. Wie können Sie erklären, dass Sie neben Ihren wohlgesetzten Worten kein Wort zu einem Thema, das zweifellos unter diesen Tagesordnungspunkt fällt, nämlich zum Thema „Diätenerhöhung für die Abgeordneten“, verloren haben? ({0}) Kann das damit zu tun haben, dass Sie selber und auch Ihre Kolleginnen und Kollegen aus den Koalitionsfraktionen ein schlechtes Gewissen haben, ({1}) was auch dadurch zum Ausdruck kommt, dass der Punkt „Diätenerhöhung“ nachträglich als Art. 13 in den Entwurf eines Bundesbesoldungs- und -versorgungsanpassungsgesetzes 2008/2009 hineingeschmuggelt worden ist, und dass Sie damit der Intention und dem Petitum des Bundesverfassungsgerichts, das dem Parlament aufgegeben hat, über die Diätenerhöhungen offen, ehrlich und im Lichte der Öffentlichkeit zu diskutieren, ({2}) nicht nachkommen wollen?

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Ströbele, da Sie nicht das Wort zu einer Regierungserklärung, sondern zu einer Zwischenfrage erhalten haben, muss ich auf die üblichen Geschäftsordnungsregelungen hinweisen. Herr Kollege Göbel, zur Beantwortung.

Ralf Göbel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003535, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Kollege Ströbele hat offensichtlich von der Fraktion der Grünen kein Rederecht bekommen und wollte jetzt noch seine Meinung in irgendeiner Weise kundtun. ({0}) Ich will Ihnen sagen: Ich habe überhaupt kein schlechtes Gewissen. Wenn Sie die Rednerliste betrachten, dann werden Sie feststellen, dass es noch einen Redner der Union gibt. Er wird den anderen Teil des Gesetzentwurfes begründen. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Ernst Burgbacher für die FDP-Fraktion. ({0})

Ernst Burgbacher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003063, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrter Herr Kollege Göbel, die Rede, die Sie gerade gehalten haben, hatte auch ich am Dienstag fast fertig. Ich finde es aber vermessen, dass Sie in der Eingangsrede keinen Ton zum Thema der Diätenerhöhung sagen. ({0}) Dem ersten Teil des Gesetzentwurfes, der die Anpassung der Bezüge der Beamten, der Richter, der Soldaten und der Versorgungsempfänger betrifft, stimmen wir ausdrücklich zu. Der Tarifabschluss ist übrigens erst nach massiver Kritik der FDP und der Gewerkschaften eins zu eins übernommen worden. Das begrüßen wir. Diesem Teil stimmen wir ausdrücklich zu. ({1}) Die Tatsache, dass gleichzeitig die Diäten der Abgeordneten erhöht werden sollen, und zwar hintenherum, sozusagen durch die kalte Küche - denn der Gesetzentwurf wurde erst Dienstagabend vorgelegt -, ist unglaublich. ({2}) Nach den vier Punkten zur Besoldungsanpassung wird ein kleiner, unscheinbarer Punkt 5 eingefügt, über den die Diäten der Abgeordneten in zwei Stufen um 491 Euro, was 6,4 Prozent entspricht, erhöht werden sollen. Diese zusätzliche Erhöhung um 6,4 Prozent ist maßlos und eine Provokation all der Bürgerinnen und Bürger, die im Augenblick versuchen, mit immer weniger netto vom Brutto über die Runden zu kommen. ({3}) Das Bild, das die „Große Diätenkoalition“ bietet, ist verheerend. Die Empörung in der Öffentlichkeit ist groß, der Vorwurf der Selbstbedienung wird lauter. Die Abgeordneten der Regierungsfraktionen sind der Realität der Menschen offenbar ein weites Stück entrückt. Sie haben offenbar vergessen, was Sie in diesem Hohen Hause im Dezember letzten Jahres beschlossen haben. In der Begründung Ihres Gesetzes steht - ich zitiere aus der Begründung -: Mit der Anhebung … wird … auch die voraussichtliche Steigerung der durchschnittlichen Erwerbseinkommen bis zur nächsten Anpassung der Abgeordnetenentschädigung frühestens im Jahre 2010 berücksichtigt. Entweder haben Sie den Leuten damals etwas vorgespielt, oder Sie spielen ihnen jetzt etwas vor. So können wir mit den Bürgerinnen und Bürger jedenfalls nicht umgehen. ({4}) Mit Ihrem Vorgehen stellen Sie ein weiteres Mal die Freiheit und Unabhängigkeit der Abgeordneten infrage. Sie regeln die Höhe der Diäten in einem Gesetz über die Besoldung der Beamten. Sie koppeln die Diäten an die Beamtenbezüge. Die FDP hat ein anderes Verständnis vom freien Abgeordneten. ({5}) Abgeordnete sind weder Beamte noch Angestellte des öffentlichen Dienstes. Wir halten es für paradox und unverantwortlich, sogar für gefährlich, dass die Gewerkschaften bei den Tarifverhandlungen mit der Bundesregierung im stillen Kämmerlein gleichzeitig die Diäten der Abgeordneten mitverhandeln. Ich lehne Herrn Bsirske als Vertreter meiner Interessen ausdrücklich ab. ({6}) Niemand in diesem Land bezweifelt, dass Abgeordnete angemessen entschädigt werden müssen. Das fordert übrigens auch das Bundesverfassungsgericht. ({7}) Für Empörung sorgen doch vor allem das vermeintliche System der Selbstbedienung und das System der Altersversorgung. Deshalb schlägt die FDP seit vielen Jahren einen anderen Weg vor - wir haben unsere Anträge hier eingebracht -: Wir wollen nicht, dass Abgeordnete selbst über die Höhe ihrer Entschädigung entscheiden. Wir schlagen vor, dass der Bundespräsident eine neutrale Kommission einberuft, die regelmäßig über die Höhe der Diäten entscheidet. Dann hätte sich der Vorwurf der Selbstbedienung ein für allemal erledigt. ({8}) Diese Kommission sollte auch Vorschläge für eine Neuregelung der Altersversorgung machen. Abgeordnete sind keine Beamten. Sie sind, wenn Sie so wollen, freie Mitarbeiter des deutschen Volkes. Sie sollten für ihre Pension selbst sorgen, wie alle anderen Freiberufler es auch tun. ({9}) Ich höre immer wieder, dass unsere Vorschläge nicht mit dem Grundgesetz vereinbar seien. Diese Kritik können wir ganz leicht entkräften. Wir haben einen Vorschlag zur Änderung des Grundgesetzes vorgelegt, und wir haben alle Forderungen des Bundesverfassungsgerichts in unseren Gesetzentwurf aufgenommen. Das geht sehr wohl, meine Damen und Herren. ({10}) Wir haben der Presse entnommen, dass einige von Ihnen ihrem Gewissen folgen und dem Antrag nicht zustimmen wollen. Ich sage Ihnen ausdrücklich: Folgen Sie Ihrem Gewissen, und stimmen Sie mit Nein. Ermöglichen Sie es, dass wir einen anderen Weg einschlagen, einen Weg, der zu einem Systemwechsel führt; denn diesen Systemwechsel braucht unser Land dringend. ({11}) Die FDP sagt nicht einfach Nein; wir bieten eine Alternative. Für diese Alternative werben wir im Parlament, aber auch bei den Bürgerinnen und Bürgern. Wir wollen einen neuen Weg beschreiten. Danke schön. ({12})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Siegmund Ehrmann, SPD-Fraktion. ({0})

Siegmund Ehrmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003521, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Um es vorab klarzustellen: Ich werde mich auf das Thema Besoldungs- und Versorgungsrecht konzentrieren. Wir haben den Beschäftigten im öffentlichen Dienst in den letzten Jahren viel hartes Brot zugemutet. Ich denke, dass es sehr angemessen ist, jetzt bei dieser Gelegenheit darzulegen, dass wir in der Lage sind, eine Trendwende einzuleiten. Thomas Oppermann wird dann die Position der SPD-Fraktion zur Frage der Diäten erläutern. Ich traue mir dies auch zu, aber ich denke, das Thema Besoldung sollte in der Debatte nicht vollkommen zurückfallen. ({0}) Die positive Wirtschaftsentwicklung ermöglicht erfreulicherweise eine deutlichere Teilhabe der Beschäftigten am wirtschaftlichen Aufschwung. Die Tarifentwicklung in den verschiedenen Branchen zeigt, dass es ordentlich vorangeht. Ich erinnere an die Abschlüsse in der Metallindustrie von plus 5,2 Prozent und in der chemischen Industrie von plus 4,4 Prozent. Die Tarifvertragspartner für den öffentlichen Dienst haben ebenfalls ein sehr gutes Ergebnis erzielt. Herr Burgbacher, es ist nun einmal so, dass die Tarifvertragspartner das ausstreiten. Leider ist im öffentlichen Sektor im Bereich der Beamtinnen und Beamten nur eingeschränkte Koalitionsfreiheit gegeben. Hier haben wir nun einen Maßstab, an dem wir uns orientieren, um die Besoldungsentwicklung nachzuzeichnen. Die SPD-Fraktion hat die Forderung erhoben, dass der Tarifabschluss eins zu eins auf Besoldung und Versorgung übertragen wird. Das geschieht durch den Gesetzentwurf, den die Koalitionspartner hier in die Debatte einbringen. Rückwirkend zum 1. Januar 2008 wird der Sockelbetrag zunächst um 50 Euro - bei den Anwärtern um 20 Euro - erhöht, sodann wird darauf eine lineare Anpassung von plus 3,1 Prozent angewandt. Der nächste Schritt zum 1. Januar 2009 sind zunächst eine Einmalzahlung im Januar in Höhe von 225 Euro und dann eine lineare Erhöhung um 2,8 Prozent. Der Rückblick muss allerdings auch gestattet sein. Ich erwähnte das harte Brot, das wir den Beschäftigten zugemutet haben, um einen deutlichen Beitrag zur Haushaltskonsolidierung zu leisten: Besoldungskürzungen in den Jahren 2004 und 2006 - Herr Göbel hat es erwähnt -, das Urlaubsgeld ist weggefallen, und das Weihnachtsgeld wurde zweimal gekürzt. Wenn wir das Besoldungsund das Versorgungsniveau von 2007 mit dem von 2002 vergleichen, dann sehen wir, dass die Besoldung um 2,5 Prozent und die Versorgung um 2,14 Prozent gekürzt wurden. Demgegenüber stehen Preisentwicklungen in diesem Zeitraum von plus 8 Prozent. Wir sind mit diesem Gesetzentwurf nunmehr in der Lage, den Tarifabschluss auf die Beamtinnen und Beamten, auf die Richter und Richterinnen sowie die Soldatinnen und Soldaten zu übertragen. Wir sind überdies in der Lage, endlich etwas zu kompensieren, was wir lange vor uns hergeschoben haben, nämlich die Angleichung der Besoldung Ost an die Besoldung West von der Besoldungsgruppe A 10 an. Bei den Versorgungsempfängern wird das entsprechend umgesetzt. Wir werden die Verabredung, die wir ins Versorgungsänderungsgesetz 2001 hineingeschrieben haben, einhalten und den Riester-Faktor bei den Versorgungsempfängern anwenden. Rundum ist das eine gute Nachricht für die Beschäftigten des Bundes. Insofern hoffe ich, dass sich die Länder ebenfalls daran orientieren. Wir werden in Kürze eine nächste große beamtenrechtliche Baustelle mit, wie ich hoffe, Erfolg abschließen und uns dem Dienstrechtsneuordnungsgesetz zuwenden. Zunächst einmal ist aber das jetzt Geplante ein Schritt, der fällig ist. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Kollegin Dagmar Enkelmann ist die nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Dagmar Enkelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000479, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Für meine Fraktion darf leider nur eine Rednerin sprechen, die vier Minuten Redezeit hat. Ich muss also in diesen vier Minuten alle Seiten dieses Gesetzentwurfes abarbeiten. „Die Zeit der Einkommenseinbußen ist vorbei.“ Diese Wertung des DGB zum vorliegenden Gesetzentwurf teilen wir ausdrücklich. Allerdings hat der DGB damit natürlich nicht die Abgeordneten des Bundestages gemeint; denn da kann von Einkommenseinbußen überhaupt keine Rede sein. ({0}) Die Linke hat die Streiks im öffentlichen Dienst ausdrücklich unterstützt. Wir freuen uns mit den Beschäftigten, und wir hoffen auf einen Erfolg bei der Tarifauseinandersetzung in Berlin. ({1}) Im vorliegenden Gesetzentwurf geht es darum, dass der Tarifabschluss des öffentlichen Dienstes auf die Beamten und Beamtinnen des Bundes übertragen werden soll. Glaubt man dem Stammtisch, dann sind Beamte auf Rosen gebettet; die Zahlen, die in dieser Diskussion eine Rolle spielen, wurden schon genannt. Dass dem nicht so ist, sieht man daran, dass sich 70 Prozent der Beamtinnen und Beamten in den unteren oder mittleren Gehaltsgruppen befinden. Seit 2004 hat es keine Anhebung der Besoldung mehr gegeben, sondern lediglich Einmalzahlungen, das Urlaubsgeld wurde gestrichen, das Weihnachtsgeld gekürzt usw. Insofern war die Anhebung der Bezüge längst überfällig. ({2}) Was ich besonders hervorheben möchte, ist, dass es endlich zu einer Anpassung der Ost- an die Westbezüge kommt. Ich denke, das ist ein gutes Beispiel für die Tarifauseinandersetzungen in anderen Branchen. Das sollte auch ein Signal für die Angleichung der Ostrenten an das Westniveau sein. ({3}) So weit, so gut. Bis zu diesem Punkt würden wir dem Gesetzentwurf zustimmen, wenn da nicht Art. 13 wäre. Mit diesem Artikel wird der Tarifabschluss im öffentlichen Dienst mal eben auf die Abgeordneten übertragen. Richtig ist, dass die Koalitionsmehrheit dieses Vorgehen im November des vergangenen Jahres beschlossen hat. Ich will aber daran erinnern: Damals wurde beschlossen, dass es sich dabei um eine Orientierung handeln soll. Es hieß nicht, dass man diesen Abschluss eins zu eins auf die Abgeordneten des Bundestages überträgt. Hier belügen Sie die Bürgerinnen und Bürger in diesem Land. ({4}) Die zweite Stufe der Diätenerhöhung, die die Große Koalition im November 2007 beschlossen hat, ist noch nicht einmal in Kraft, da wollen Sie schon wieder kräftig zuschlagen. Gestern ließen Sie sich dafür feiern, dass Sie die Renten um 1,1 Prozent erhöht haben - für den Durchschnittsrentner entspricht das einer Erhöhung um etwa 10 Euro pro Monat -, und heute wollen Sie ein Gesetz auf den Weg bringen, das zur Folge hat, dass ein Abgeordneter ab Januar 2009 pro Monat fast 600 Euro mehr bekommt. Das ist eine glatte Unverschämtheit. Das ist mit uns nicht zu machen. ({5}) Mit einer gewissen Kaltschnäuzigkeit haben Sie Proteste gegen Ihre Pläne sogar einkalkuliert. Sie meinen, bis zur nächsten Wahl sei das alles längst vergessen. Wenn Sie sich da mal nicht täuschen! Die Wut der Bürgerinnen und Bürger kann ich gut verstehen. Ich denke, Sie alle haben per Mail, per Post oder per Fax wütende Reaktionen erreicht. Die Menschen sind über das, was Sie vorhaben, zu Recht wütend. ({6}) Ich hoffe, dass Ihnen die Bürgerinnen und Bürger in den nächsten beiden Wochen, in denen Sie hoffentlich in Ihren Wahlkreisen unterwegs sind, gehörig die Meinung geigen. Noch können Sie diese Entwicklung stoppen. Wir können Ihre Pläne gemeinsam ändern. Sie müssen dem nicht zustimmen. Ich hoffe sehr auf Ihre Vernunft. Ich danke Ihnen. ({7})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun die Kollegin Silke Stokar von Neuforn für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Ver- fahren, das die Geschäftsführer der Großen Koalition gewählt haben, ist meiner Meinung nach schlicht verfas- sungswidrig. Der Kollege Ströbele hat recht: Es ist un- sere Aufgabe - dagegen verstößt auch die FDP in schö- ner Regelmäßigkeit -, hier im Parlament in einer offenen Aussprache und für die Öffentlichkeit nachvollziehbar über die Höhe der Abgeordnetenentschädigung selbst und transparent zu entscheiden. Wie, meine Damen und Herren, soll das gewährleistet werden, wenn die Abgeordneten der Opposition in der Debatte zu diesem Tagesordnungspunkt, der „Bundesbe- soldungs- und -versorgungsanpassungsgesetz 2008/2009“ lautet, nur vier Minuten Redezeit haben, sie in dieser Zeit aber a) zu ihrem Fachthema und b) zur angehängten Diätenerhöhung reden sollen? Ich sage es gleich zu Beginn: Ich erwarte, dass es in 14 Tagen, wenn wir diese Tagesordnungspunkte erneut auf dem Tisch haben werden, sowohl getrennte Abstimmungen als auch getrennte Beratungen geben wird, damit wir dem Auftrag des Bundesverfassungsgerichts auch Folge leisten können. ({0}) Deswegen - ich kann mir aus zeitlichen Gründen noch nicht einmal das Klatschen meiner eigenen Fraktion leisten - äußere ich mich zu beiden Punkten. Selbstverständlich beglückwünschen wir Verdi zu dem Tarifabschluss; das ist ein Hinweis, auf den Gewerkschaften warten. Wir begrüßen diesen Abschluss und werden zustimmen, dass diese Tarifeinigung auf die Beamtinnen und Beamten übertragen wird. Zum zweiten Punkt, der Diätenerhöhung, kündige ich bereits an, auch wenn wir heute nicht abstimmen: Meine Fraktion wird diese Diätenerhöhung ablehnen. Dies möchte ich hier durchaus sachlich begründen, weil ich meine, dass der Debatte eine sachliche Begründung besser bekommt, als wenn wir auf andere Themenfelder auswichen. Wir haben dem Verfahren der Kopplung an R 6 und an die Tarifabschlüsse beim letzten Mal zugestimmt. Im Gegensatz zur FDP kritisieren wir dieses Verfahren also nicht, denn wir halten es für vernünftig. ({1}) Überrascht war ich von der Dopplung der Diätenerhöhung; dem werden wir nicht zustimmen. Darin liegt der erste Grund für unsere Ablehnung. Sie haben vor sechs Monaten im Vorgriff auf den zu erwartenden Tarifabschluss die Diäten erhöht; nun, da der Tarifabschluss vorliegt, machen Sie das Gleiche noch einmal. Meine Damen und Herren, dieses Verfahren bedeutet Abzocke und ist instinktlos. Es passt nicht in die politische Landschaft. Man kann sich nicht innerhalb kürzester Zeit zweimal die Diäten erhöhen. ({2}) Ich komme zum zweiten Punkt unserer Ablehnung. Damals, als wir uns auf dieses Verfahren verständigten - ich halte die Orientierung an R 6 für richtig, wie es meine Fraktion hier immer mit vertreten hat -, haben wir erklärt, dass wir eine Reform der Altersversorgung wollen. Die hier von uns mit einem gesonderten Antrag geforderte Reform der Altersversorgung ist von Ihnen abgelehnt worden. Sie gehen nur den einen Schritt, die Diäten zu erhöhen - dies gleich im Doppelpack -, packen aber das große, in der Öffentlichkeit diskutierte Thema Altersversorgung nicht an. ({3}) Weil meine Redezeit bereits hier zu Ende ist, noch kurz eine Bitte: Lassen Sie uns hier in 14 Tagen in einem geordneten Verfahren, nicht mit Redebeiträgen der Opposition von zwei Minuten, darüber reden, wie wir solche Debatten um Diätenerhöhungen in Zukunft anders und transparenter führen können, vielleicht auch im Hinblick auf eine Einigung über die Instrumente. Hören Sie bitte auf - Sie machen es zum zweiten Mal -, von Ihnen heimlich verabredete Diätenerhöhungen, die die Kolleginnen und Kollegen Abgeordneten selber nicht nachvollziehen können, im Schweinsgalopp durch das Parlament zu jagen. Es geht nicht, dass Sie darüber in geheimen Zirkeln eilig befinden, das ist intransparent. So machen Sie gute Verfahren, für die es in der Bevölkerung durchaus Verständnis gibt, kaputt. Deshalb wiederhole ich: Meine Fraktion wird diese Diätenerhöhung in der vorgeschlagenen Form nicht mittragen. Danke schön. ({4})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Um sicherzustellen, dass Einwände gegen wie Argumente für die vorgeschlagenen Regelungen mit der notwendigen Deutlichkeit vorgetragen werden können, habe ich Ihnen Ihre Redezeit, wie Ihnen aufgefallen sein wird, großzügig und angemessen verlängert. ({0}) Nun hat der Kollege Norbert Röttgen für die CDU/ CSU-Fraktion das Wort.

Dr. Norbert Röttgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002765, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Im Jahre 1993 hat eine vom Bundestag eingesetzte unabhängige Kommission, der Wissenschaftler, Angehörige der Wirtschaft und der Gewerkschaften sowie Richterpersönlichkeiten angehörten, ihren Bericht und ihre Empfehlungen vorgelegt. Ich möchte zwei der Empfehlungen, die diese unabhängige Kommission vor ziemlich genau 15 Jahren vorgelegt hat, erneut zitieren: Erstens. Die Festsetzung, Überprüfung und Anpassung der angemessenen, die Unabhängigkeit sichernden Entschädigung ist Aufgabe des Gesetzgebers. Zweitens. Eine auch nur teilweise Übertragung dieser Aufgabe auf eine andere Institution ist - Art. 79 Abs. 3 Grundgesetz: Ewigkeitsgarantie, Demokratieprinzip selbst im Wege einer Verfassungsänderung ausgeschlossen. ({0}) Das waren die klaren Ergebnisse der unabhängigen Kommission, die der Bundestag eingesetzt hatte. ({1}) Darum ist es nicht ehrlich, meine Damen und Herren, jetzt eine unabhängige Kommission zu verlangen, die sagen soll, was richtig ist. ({2}) Das Bundesverfassungsgericht hat übrigens genau so judiziert; es ist die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die sich die Kommission zu eigen gemacht hat. ({3}) Was bedeuten diese Punkte für unsere heutige Debatte? Ich will es kurz zusammenfassen: Erstens. Die Kommission hat deutlich gemacht - das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung ebenfalls, und zwar wiederholt -, dass es im Kern um die verfassungsrechtliche Verantwortung geht, die wir als Gesetzgeber gegenüber der zentralen, wichtigsten Institution einer parlamentarischen Demokratie, dem Parlament, haben. Es geht um die Frage: Was ist unsere verfassungsrechtliche Verantwortung in der Gewährleistung von Angemessenheit und Unabhängigkeit? Es geht nicht um uns Einzelne, es geht um institutionelle Verantwortung, vor der wir nicht fliehen können. ({4}) Wir müssen diese Verantwortung wahrnehmen. Das ist nicht nur die Verantwortung der Regierungsfraktionen, das ist die Verantwortung des gesamten Hauses. Natürlich hat die Opposition das Recht, unsere Vorschläge zu kritisieren. ({5}) - Das ist Ihr gutes Recht. Aber Sie stehen dann auch in der Pflicht, den Bürgern zu sagen, was Sie für richtig halten. ({6}) Doch das tun Sie nicht; Sie haben nicht den Mut, den Bürgern in Euro und Cent zu sagen, was Ihre Vorstellung ist. ({7}) Zweitens. Wir alle miteinander haben nicht das Recht, uns wegzuducken, wir haben nicht das Recht, vor der Verantwortung zu fliehen, indem wir uns hinter einer Kommission verstecken, die uns diese Entscheidung abnimmt. Demokratie heißt, dass das Parlament entscheidet. ({8}) Darum ist der Vorschlag der FDP verfassungsrechtlich nicht umsetzbar. So etwas wäre auch nicht richtig. Die Diäten zu regeln, die Diäten anzupassen, setzt das Parlament zu Recht einer besonderen Begründungslast gegenüber der Öffentlichkeit aus. Das ist richtig so. Es ist notwendig, dass wir diese Last der Begründung spüren, dass wir sie tragen und versuchen, ihr gerecht zu werden. Dieser Begründungslast gerecht zu werden, ist nur auf eine Weise möglich: dadurch, dass man für die Abgeordnetenbesoldung einen Maßstab findet. Das ist ein Weg, Bezüge aufzuzeigen, die Größenordnung plausibel zu machen. Wir entwickeln einen Maßstab, an den wir uns dann auch halten. Diese unabhängige Kommission hat das getan, und wir haben mit großer Mehrheit ins Gesetz geschrieben, dass wir uns an der Besoldung von Bürgermeistern kleinerer und mittlerer Städte, an der Besoldung von Landräten kleinerer Kreise, an der Besoldung von einfachen Bundesrichtern - nicht an der von Richtern am Bundesverfassungsgericht oder an der von Vorsitzenden Richtern - orientieren wollen. Wir finden, das ist ein Maßstab, das ist eine Größenordnung, die plausibel, die begründbar ist. Diese Größenordnung mag man kritisieren; aber ich habe noch keinen besseren Vorschlag gehört, der zur Abstimmung gestellt würde. Wenn man einen solchen Maßstab, der die Funktion hat, Plausibilität, Nachvollziehbarkeit und damit Transparenz und Akzeptanz dieser Entscheidung herzustellen, gefunden hat, muss man sich an diesen Maßstab auch halten. Das ist der Gegenstand unserer Entscheidung. Der Maßstab steht im Gesetz. Wir halten ihn für richtig. Er ist gut begründet. Es ist nun ein Gebot der Glaubwürdigkeit, diesen Maßstab zur Anwendung zu bringen. Nichts anderes ist der Gegenstand unseres Gesetzesvorschlages. ({9}) Ich glaube, es ist ein vertretbarer und nicht überzogener Maßstab. Übrigens sind die Journalisten in ihrer Kritik viel sachlicher und differenzierter gewesen als die Oppositionsredner. ({10}) Das zeigt, dass Akzeptanz vorhanden ist, dass unser Bemühen, in Ausübung unserer Verantwortung für Parlament und Parlamentarismus einen Maßstab zu finden, erfolgreich war. ({11})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Dr. Norbert Röttgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002765, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Dieser Maßstab entspricht unserer Überzeugung. Das ist unsere Pflicht, der wir durch unseren Vorschlag gerecht zu werden versuchen. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Thomas Oppermann für die SPD-Fraktion. ({0})

Thomas Oppermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003820, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, wir sind uns darüber einig: Niemand sollte nur deshalb in die Politik gehen, um dort Geld zu verdienen, es darf aber auch nicht so sein, dass nur diejenigen in die Politik gehen, die sich das finanziell leisten können. ({0}) Art. 48 des Grundgesetzes ist deshalb eine demokratische Errungenschaft. Denn in ihm wird vorgeschrieben, dass die Abgeordneten Anspruch auf eine angemessene und ihre Unabhängigkeit sichernde Entschädigung haben. Die Frage, was angemessen ist, ist schon so lange streitig, wie es das Grundgesetz gibt. Sie wird auch streitig bleiben. Wir haben lange darüber diskutiert. Jetzt haben wir einen Maßstab gefunden. Mein Kollege Röttgen hat das hier im Einzelnen ausgeführt. Maßstab sind die Besoldungsgruppen R 6 und B 6. ({1}) Das ist so viel, wie Bürgermeister, Landräte, Richter an Bundesgerichten und auch Unterabteilungsleiter in Ministerien verdienen. Sie alle üben eine verantwortungsvolle Tätigkeit aus. Ich bin der Meinung, dass die Arbeit eines Abgeordneten dem nicht nachsteht. Wer Abgeordneter ist, muss enorme Anforderungen erfüllen. Er braucht ein enormes Maß an Wissen, er braucht Kompetenzen in unterschiedlichsten Bereichen, und er braucht eine hohe Einsatzbereitschaft. Ich denke, dass die Besoldung nach R 6 - Anfang 2010 werden das monatlich 8 159 Euro sein zweifellos ein guter Verdienst ist. ({2}) - Das ist selbstverständlich brutto, und man erhält nicht 13 oder 14, sondern 12 Monatsgehälter. - Das ist zwar viel weniger, als man zum Beispiel in mittleren Positionen in der Wirtschaft verdienen kann, aber das ist natürlich sehr viel mehr, als die meisten Menschen in diesem Land verdienen. Ich denke aber, dass das eine angemessene Entschädigung ist. Es ist ganz gewiss nicht zu wenig, aber es ist auch nicht zu viel. In den letzten 30 Jahren hat es aus unterschiedlichen Gründen insgesamt 13 Nullrunden bei der Aufwandsentschädigung gegeben. Das hat dazu geführt, dass die Lücke zwischen dem Maßstab R 6 und der tatsächlichen Aufwandsentschädigung immer größer geworden ist. Jetzt wird diese Lücke durch drei große Anpassungsschritte überbrückt. Dann werden wir bei R 6 sein. Wir sind der Meinung, dass das natürlich keine Einbahnstraße ist. Eine weitere Erhöhung der Aufwandsentschädigung für Abgeordnete kann es nur dann geben, wenn das Gehalt eines Bundesrichters steigt. ({3}) Wenn es jedoch keine Erhöhungen gibt, wie das in den letzten Jahren - zwischen 2002 und 2008 - gerade im öffentlichen Dienst der Fall gewesen ist, dann wird es selbstverständlich auch keine Erhöhung der Aufwandsentschädigung für die Abgeordneten geben. Das versteht sich von selbst. ({4}) Nun zum Verfahren. Mein Kollege Röttgen hat schon darauf hingewiesen. Das Bundesverfassungsgericht hat einen Fall glasklar entschieden. Der Saarländische Landtag hatte versucht, die Aufwandsentschädigung direkt an die Beamtenbesoldung zu koppeln. Das Bundesverfassungsgericht hat gesagt, das sei kein akzeptables Verfahren. Das Verfahren müsse für den Bürger durchschaubar sein, und das Ergebnis des Verfahrens müsse vor den Augen der Öffentlichkeit beschlossen werden. - Das ist nicht bequem, aber richtig. Frau Stokar, Sie sagen, das Verfahren hier sei nicht transparent. ({5}) Ich frage mich: Wo leben Sie eigentlich? Ganz Deutschland diskutiert über die Höhe der Entschädigung. ({6}) In allen Zeitungen können Sie Tabellen, Zahlen, Prozente und Begründungen finden. ({7}) - Herr Ströbele, auch der Bundestag diskutiert das gerade. Ich weiß nicht, ob Sie unsere Argumente nicht zur Kenntnis nehmen. ({8}) Herr Burgbacher, was Sie und die FDP-Fraktion vorschlagen, nämlich eine unabhängige Kommission beim Bundespräsidenten, ist in Wirklichkeit eine Scheinlösung. Selbst wenn man sie durch eine Verfassungsänderung installieren könnte ({9}) - ja -, dann könnte sie zwar sicherlich einen Vorschlag dafür machen, was eine angemessene Aufwandsentschädigung für einen Abgeordneten ist, aber weder eine Expertenkommission beim Bundespräsidenten noch der Bundespräsident selbst - dieser schon gar nicht - könnten ({10}) im Haushalt die dafür nötigen Mittel bereitstellen. Das muss immer der Haushaltsgesetzgeber machen. Insofern ist das Parlament wieder beteiligt und muss diese Entscheidung treffen. Darum kommen Sie nicht herum. ({11}) Ich finde es richtig, dass wir den Gesetzentwurf so beschließen, wie wir ihn eingebracht haben. Ich finde die Höhe der Entschädigung in dieser Form richtig. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({12})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache. Ich darf eine Bemerkung hinzufügen. Parlamente sind keine Gremien zur Vermeidung von Streit, sondern Institutionen zum Austragen von Streit und zum Herbeiführen demokratisch legitimer Entscheidungen. Das gilt für fast jeden Tagesordnungspunkt, den wir hier behandeln, bei dem einen stärker, bei dem anderen weniger. Dass es für diese gerade diskutierte Frage in besonderer Weise unvermeidlich ist, bedarf keiner Erläuterung. Ich habe nur die eine Bitte, dass wir den unvermeidlichen und notwendigen Streit über die Angemessenheit dieser oder jener Regelung nicht mit dem völlig unnötigen Streit belasten, hier würde nicht offen und transparent entschieden. ({0}) Jeder hat hier die Möglichkeit, seine Auffassungen zur Geltung zu bringen, und am Ende wird, wenn - was auch bei diesem Thema passieren könnte - nicht alle ei- ner Meinung sind, per Mehrheit entschieden, was gilt; nicht mehr und nicht weniger. Nun wird interfraktionell die Überweisung der Ge- setzentwürfe auf den Drucksachen 16/9059, 16/9054, 16/9055 und 16/1033 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu andere Vorschläge? - Dann gibt es zumindest dazu Einverneh- men. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Nun rufe ich die Tagesordnungspunkte 24 a und 24 b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Christel Happach-Kasan, Hans-Michael Goldmann, Dr. Edmund Peter Geisen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Effiziente und ökologische Energie- und Wertholzproduktion in Agroforstsystemen ermöglichen - Ökologische Vorteilswirkungen von Agroforstsystemen erforschen - Drucksache 16/8409 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({1}) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Gesine Lötzsch, Eva Bulling-Schröter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Bundeswaldgesetz ändern - Agroforstsysteme unterstützen, forstwirtschaftliche Vereinigungen stärken und Gentechnik im Wald verbieten - Drucksache 16/9075 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({2}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll für die Aussprache, für die eine halbe Stunde vorgesehen ist, die Fraktion der FDP sechs Minuten Redezeit erhalten. Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so vereinbart. Ich erteile das Wort der Kollegin Dr. Christel Happach-Kasan. ({3})

Dr. Christel Happach-Kasan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003669, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bedaure ein bisschen, dass wir heute nicht alle vollzählig sprechen werden, aber ich freue mich sehr, dass die FDP-Fraktion genauso stark vertreten ist wie die SPD-Fraktion. Das haben wir im Deutschen Bundestag nicht alle Tage. ({0}) Ich bin von vielen Kollegen angerufen worden mit der Bitte, meine Rede zu Protokoll zu geben. Der Präsident hat bereits darauf hingewiesen: Der Bundestag ist der Ort, in dem wir uns über die Fragen auseinandersetzen, die in Deutschland von Belang sind. Aus diesem Grunde spreche ich hier. Wir fordern die Bundesregierung auf, das Bundeswaldgesetz umgehend zu ändern, damit in Zukunft die Begriffe „Agroforstsysteme“ und „Wald“ klar voneinander abgegrenzt sind. Agroforstsysteme sind kein Wald. Sie sind eine besondere Form landwirtschaftlicher Nutzung. Das muss im Bundeswaldgesetz entsprechend klar formuliert werden, damit für diejenigen, die sich in diesem Bereich engagieren wollen, klare rechtliche Rahmenbedingungen gelten. Insbesondere nach Vorlage des Gutachtens des Wissenschaftlichen Beirats beim Ministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ist eine solche Gesetzesänderung überfällig. Das Gutachten hat klar herausgestellt, dass hinsichtlich der CO2-Vermeidungskosten und der Flächeneffizienz die Nutzung von Hackschnitzeln, die aus Holz aus Kurzumtriebsplantagen erzeugt wurden, die günstigsten Werte aufweist. Vor diesem Hintergrund ist meines Erachtens der Gesetzgeber gefordert, die notwendigen rechtlichen Rahmenbedingungen zu schaffen. Die Kritik des BBE - des Bundesverbandes Bio-Energie - geht ins Leere, denn sie hat den Zahlen, die das Isermeyer-Gutachten vorgelegt hat, nichts entgegenzusetzen. Für mich ist völlig unverständlich, dass Minister Seehofer nicht schon längst die Initiative ergriffen hat. Jede weitere Verzögerung verschiebt Investitionen in Deutschland und kostet die Verbraucherinnen und Verbraucher sehr viel Geld. Der Minister könnte hier ohne große Anstrengungen Pluspunkte sammeln. Ich meine, solche Pluspunkte hätte dieser Minister tatsächlich nötig. ({1}) Wir wollen in der Europäischen Union einen Anteil von 20 Prozent erneuerbarer Energien am Primärenergieverbrauch erreichen. Deutschland hat weiterhin als verbindliches Ziel eine Minderung der Treibhausgasemissionen um 40 Prozent festgelegt. Beides sind wichtige Ziele im Sinne des Klimaschutzes. Gleichzeitig wird ein erster Schritt auf dem Weg „weg von den fossilen Energieträgern“ getan. Aber im Erreichen dieser Ziele müssen wir darauf achten, dass die Energiepreise bezahlbar bleiben. Die Kosten für das Energieeinspeisegesetz werden allein von den Stromkunden getragen. Gegen die gesetzlich festgelegten Preise können sie sich nicht wehren. Das bedeutet, dass wir als Gesetzgeber, der Deutsche Bundestag, erhebliche Verantwortung dafür tragen, die gesetzlichen Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass die Ziele mit möglichst niedrigen Energiepreisen erreicht werden. ({2}) Im vergangenen Jahr hatten die erneuerbaren Energien einen Anteil von 6,7 Prozent am gesamten Primärenergieverbrauch. Wir haben fast ein Drittel des für 2020 festgelegten Ziels erreicht. Allein für den Strom zahlen die Stromkunden an zusätzlichen Kosten bereits 3,3 Milliarden Euro. Das zeigt, welch große Verantwortung wir haben, die Preise nicht weiter in die Höhe zu treiben. Wichtigster Energieträger bei den erneuerbaren Energien ist die Biomasse. Die energetische Nutzung der Biomasse hat einen Anteil an den erneuerbaren Energien von knapp 75 Prozent. Der Wissenschaftliche Beirat für Agrarpolitik hat mit seinem Gutachten Nutzung von Biomasse zur Energiegewinnung - Empfehlungen an die Politik die verschiedenen Biomasseträger und deren unterschiedliche Nutzung miteinander verglichen. Dabei wird deutlich, dass erhebliche Korrekturen am Erneuerbare-Energien-Gesetz vorgenommen werden müssen, um zu volkswirtschaftlich vertretbaren Kosten das 20-Prozent-Ziel der EU und das 40-Prozent-Ziel Deutschlands zu erreichen. Die höchsten CO2-Vermeidungskosten mit etwa 400 Euro fallen bei der Verstromung von Energiemais an. Solche Preise sind den Stromkunden nicht zumutbar und für die Volkswirtschaft nicht verkraftbar. ({3}) Die Flächeneffizienz ist bei der Verstromung von Energiemais nur halb so hoch wie bei der Nutzung von Hackschnitzeln. Das bedeutet, dass bei einer weiteren Bevorzugung von Energiemais die Konkurrenz zwischen der Nutzung von Mais als Tierfutter und der energetischen Nutzung verstärkt wird. Das Bild verschiebt sich bei der Verwertung von Reststoffen aus der Landwirtschaft und bei der Nutzung durch die Kraft-WärmeKopplung. Deutlich günstiger ist jedoch die energetische Nutzung von Hackschnitzeln aus Holz von Kurzumtriebsplantagen. Die CO2-Vermeidungskosten liegen bei der Nutzung von Hackschnitzeln unter 100 Euro pro Tonne CO2-Äquivalent. Das heißt, sie betragen weniger als ein Viertel im Vergleich zur Verstromung von Energiemais. Das Gutachten zeigt auf, dass angesichts der Vermeidungskosten pro eingesparter Tonne CO2-Äquivalent und der Vermeidungsleistung Tonne CO2-Äquivalent pro Hektar die Verwendung von Hackschnitzeln aus Kurzumtriebsplantagen die mit Abstand kostengünstigste und effizienteste Möglichkeit der Erzeugung erneuerbarer Energien auf Biomassebasis ist. Kurzumtriebsplantagen als eine Form von Agroforstsystemen eröffnen in Deutschland somit die besten Chancen zur CO2-Reduzierung zu vertretbaren Kosten. Agroforstsysteme sind nicht wirklich etwas Neues. In Europa waren sie über Jahrhunderte ein integraler Bestandteil der Agrarlandschaft. Beispiele für historische Agroforstsysteme sind die Knicklandschaft in SchleswigHolstein, Streuobstwiesen, Waldweidewirtschaften, Niederwälder in Bergbauregionen und der Korkeichenanbau in Portugal. In anderen europäischen Ländern gibt es eine Vielzahl von Pilotprojekten. In Deutschland sind es weniger als zehn. Wir hinken deutlich hinterher, auch hinsichtlich der Erforschung des ökologischen Nutzens der Agroforstsysteme. Ich bin der Meinung, dass wir endlich anfangen sollten. Wir fordern die Bundesregierung auf, endlich einen Gesetzentwurf vorzulegen und das Bundeswaldgesetz zu ändern, damit Agroforstsysteme auch in Deutschland genutzt werden können. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Kolleginnen und Kollegen Dr. Jordan, Dr. Tackmann, Dr. Botz und Frau Kollegin Behm geben ihre Reden zu Protokoll.1) Damit können wir zur Über- weisung der Vorlagen kommen. Es wird vorgeschlagen, die Vorlagen auf den Drucksachen 16/8409 und 16/9075 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist of- fenkundig der Fall. Dann sind die Überweisungen so be- schlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE 1) Anlage 2 Präsident Dr. Norbert Lammert Volkswirtschaftliche Kosten der Agro-Gentechnik ermitteln und offenlegen - Drucksache 16/7903 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ({0}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Auch hier werden die Reden der Kollegen Dr. Tackmann, Dr. Lehmer, Frau Dr. Happach-Kasan, Frau Drobinski-Weiß und Ulrike Höfken zu Protokoll gegeben.1) Die Vorlage auf Drucksache 16/7903 soll an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen. Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 26: Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainder Steenblock, Jürgen Trittin, Omid Nouripour, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Plenarsitzungen des Europäischen Parlaments gänzlich in Brüssel und Tagungen des Europäischen Rates in Straßburg abhalten - Drucksache 16/8051 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({1}) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für diese Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten soll. Bevor ich als erstem Redner dem Kollegen Rainder Steenblock für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort erteile, darf ich daran erinnern, dass wir heute den 9. Mai und damit den jährlichen Europatag haben. Unsere Verbindung und Zugehörigkeit zu Europa kommt in vielfacher Weise zum Ausdruck, auch darin, dass die Europafahne seit Jahren neben der Nationalflagge im Plenarsaal des Deutschen Bundestages aufgestellt ist. Ich habe das zum Anlass genommen, sie heute auch auf dem Dach des Reichstages zur Geltung zu bringen, was, wie ich denke, eine gewisse Logik hat und mindestens für den heutigen Tag, wenn nicht darüber hinaus, eine vernünftige Regelung sein sollte. ({2}) Nun hat der Kollege Rainder Steenblock das Wort. 1) Anlage 3

Rainder Steenblock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002806, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Präsident, Sie haben schon einen Teil der Einleitung vorweggenommen, wobei wir das mit der Fahne für eine gute Idee halten. Eine der Schwierigkeiten, die wir haben, ist, dass wir an solchen Tagen wie heute, dem Europatag, geneigt sind, große Reden über die Verdienste Europas, die es ohne Frage gibt, zu halten. Ich glaube, alle Europäer können auf das, was wir geleistet haben, auf dieses Friedensprojekt, stolz sein. Trotzdem müssen wir uns an solchen Tagen ganz besonders mit der Kritik auseinandersetzen, die es nicht immer zu Recht, aber doch immer wieder an dem europäischen Integrationsprojekt gibt. Wir müssen an diesem Tag ganz besonders dafür kämpfen und dafür arbeiten, dass wir in Deutschland das Vertrauen der Menschen in Europa und in die europäische Integration stärken. Wir müssen deutlich machen, dass Europa das Projekt ist, das wir realisieren wollen, um den Menschen in Deutschland und in Europa mehr Wohlstand, mehr Sicherheit und mehr Freiheitsrechte zu geben. Dafür steht Europa, und dafür kämpfen wir, und das heißt Arbeit. ({0}) Das heißt natürlich auch, dass wir uns all der Kritik, zum Beispiel dass in Europa nicht richtig mit dem Geld der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler umgegangen und Geld verschwendet wird, stellen müssen. Ich glaube, das Thema, das wir heute auf die Tagesordnung gesetzt haben, der Wanderzirkus des Europäischen Parlaments zwischen Brüssel und Straßburg, ist ein Punkt, an dem man ganz konkret im Interesse der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler deutlich machen kann, dass wir in eine andere Richtung wollen, weil hier viel Geld verschwendet wird, ohne dass damit auch nur der Ansatz eines Mehrwertes verbunden wäre. ({1}) Jeden Monat gehen 785 Abgeordnete des Europäischen Parlaments, die normalerweise in Brüssel sitzen, auf Reisen nach Straßburg. Dazu kommen jeden Monat 3 000 Mitarbeiter und neun Sattelzüge mit Unterlagen, die zwischen Brüssel und Straßburg hin- und hergefahren werden. Das kostet jedes Jahr 200 Millionen Euro. Das sind in einer EU-Finanzperiode fast 1,5 Milliarden Euro, die wir nur dafür ausgeben, um unsere Abgeordneten, ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und die Unterlagen zwischen Straßburg und Brüssel hin- und herzufahren. Man kann keinem Menschen vernünftigerweise erklären, warum wir das machen. Das dient nicht der Arbeitsfähigkeit der Parlamentarier. ({2}) Wir als Grüne, die wir uns der europäischen Integration verpflichtet fühlen, wissen sehr wohl um die Bedeutung Straßburgs als der Stadt, die die europäische Versöhnung symbolisiert. Dem stellen wir uns auch. Daher lautet unser Vorschlag, das nicht quantitativ, aber qualitativ auszugleichen, das heißt, in Zukunft die Sitzungen des Europäischen Rates in Straßburg abzuhalten, also neben dem Sitz des Europarates, dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und vielen anderen europäischen Einrichtungen. Diesen Charakter der Stadt Straßburg wollen wir erhalten und stärken, und die Verlegung des Europäischen Rates ist hierfür sicherlich ein vernünftiges Instrument. Wir wollen, dass die Verschwendung von Ressourcen aufhört. Es geht nicht nur um die Verschwendung von Geld, sondern - das sage ich natürlich insbesondere als Grüner - um eine Vergeudung von Ressourcen; damit greife ich die Transporte und damit verbundenen CO2Emissionen auf. Ein offizieller Bericht des EU-Parlaments enthält die Aussage - das wurde ausgerechnet -, dass durch diese Transporte 20 000 Tonnen CO2 zusätzlich emittiert werden. ({3}) - Herr Westerwelle, wenn man alle Parlamentarier des Europäischen Parlaments in ein Großraumflugzeug steckt und dieses Flugzeug jeden Tag im Jahr fünfmal um die Erde kreisen lässt, dann kommt man auf 20 000 Tonnen CO2. Ich halte es für nicht verantwortbar, dass wir einen solchen Unfug mitmachen. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, es wird Geld verschwendet und führt zu Klimaschädigung. Deshalb glaube ich, dass diese Form der Verschwendung von Steuergeldern und Ressourcen beendet werden muss. Es muss ein klares Konzept mit Richtung Kompensation geben. Wir sagen Ja zu den Franzosen und Ja zum europäischen Integrationsgedanken, aber Nein zur Verschwendung von Steuergeldern. Das schafft Vertrauen in die europäische Integration. Wir fühlen uns dieser sehr verpflichtet. Es geht hier nicht um Populismus gegen Europa. Es geht darum, dass wir mit Steuergeldern verantwortungsvoll umgehen. Vielen Dank. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Thomas Bareiß, CDU/CSU-Fraktion.

Thomas Bareiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003734, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Kollege Steenblock, ich möchte gleich zu Beginn sagen, dass heute Nachmittag kein Mensch die Fakten, die Sie sehr eindrücklich beschrieben haben, bezweifeln wird. Es ist in der Tat sehr ärgerlich, dass das Europäische Parlament de facto drei Arbeitsorte hat. Es ist sowohl ineffizient als auch - als Schwabe und als Betriebswirt möchte ich das sagen - kostenintensiv und - Sie betonten es - sehr umweltschädlich. Wir haben auch innerhalb der Fraktion gesagt, dass Sie eigentlich in vielen Punkten recht haben. Nur: Wenn man dieses und die Fakten erkennt, dann muss man auch erkennen, dass es so einfach, wie Sie es in Ihrem Antrag beschrieben haben, eben nicht geht. Insofern möchte ich die Ernsthaftigkeit Ihres Antrags ein bisschen infrage stellen. ({0}) Sie wissen nämlich selber, dass in einer Europäischen Union mit 27 Mitgliedstaaten vieles nicht so einfach zu regeln ist und vielfach Zugeständnisse und Kompromisse zu machen sind. Erwin Teufel, ein großer Europäer, hat einmal gesagt: Politik beginnt mit dem Erkennen von Realitäten. - Auch hier müssen wir die Realitäten erkennen. Bevor ich noch einige Punkte dazu ausführe, möchte ich kurz auf die Historie eingehen. Bei der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl vor mehr als 50 Jahren hat man sich für Luxemburg als Sitz entschieden. Luxemburg wurde relativ schnell zu klein. Bereits kurz darauf hat man den Europaratssaal in Straßburg für die Versammlungszusammenkünfte verwendet. Diese Struktur hat sich von 1952 bis 1958 aufgrund von Effizienzgesichtspunkten ergeben. Infolge der Gründung der EWG im Jahre 1958 kam es zu einer Ausdehnung. Man hat sich damals ganz bewusst neben Straßburg, das für die deutsch-französische Freundschaft und deutsch-französische Aussöhnung ein ganz wichtiges Symbol damals war und heute nach wie vor ist, für einen weiteren Kleinstaat in Europa entschieden, nämlich Belgien mit Brüssel. Dort hat man weitere Institutionen angesiedelt. Mit den Verträgen von Amsterdam und Nizza hat man diese Konstruktion zementiert, und Sie alle wissen, unter welchen schwierigen Bedingungen die Verträge damals ausgehandelt wurden und wie schwierig es damals für Helmut Kohl und andere war, eine sinnvolle Lösung zu finden. Dieser dreigliedrige Standort war damals leider auch ein Punkt, der mit in die Waagschale geworfen wurde. Meine Damen und Herren, Sie sehen, die heutige Aufteilung des Parlaments auf drei verschiedene Standorte ist somit das Ergebnis eines langjährigen Prozesses zwischen den Mitgliedstaaten und ist auch in den EGVerträgen zementiert. Eine Änderung dieser Situation könnte nur bei Zustimmung aller EU-Mitgliedstaaten erreicht werden, womit wir bei dem eingangs erwähnten Punkt wären, nämlich dass die Europäische Union sich als ein Staatenverbund darstellt, in welchem verschiedenste Interessen aufeinandertreffen. In diesem Fall - das müssen wir sehen - spielen ganz besondere Interessen eine Rolle. Wir müssen auch ganz klar sehen, dass unsere französischen Freunde wahrscheinlich niemals, aber erst recht nicht in den nächsten Monaten, einer Regelung zustimmen würden, die eine Änderung mit sich bringt, auch nicht, wenn es die Kompensationsleistungen erhielte, die Sie genannt haben. Dies einfach so zu behaupten, wie Sie es getan haben, zeugt von einer gewissen - mit Verlaub gesagt - Naivität. Dass Sie dies zudem ein Vierteljahr, bevor Frankreich die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt, in die Diskussion werfen, macht diesen Antrag ebenfalls ziemlich fragwürdig. Gleichwohl müssen wir sehen, dass Frankreich vor einer großen Herausforderung steht, nachdem Angela Merkel und die Bundesregierung im letzten Jahr eine hervorragende EU-Ratspräsidentschaft vorgelegt haben. So stehen sie jetzt noch mehr unter dem Druck, im nächsten halben Jahr eine erfolgreiche EU-Ratspräsidentschaft hinzulegen. Insofern glaube ich auch vor diesem Hintergrund nicht, dass wir den Druck auf Frankreich erhöhen können. Um es an dieser Stelle noch einmal ganz klar zum Ausdruck zu bringen: In der Sache sind wir uns sicherlich in vielen Punkten einig. Die Frage ist nur, wie wir das umsetzen wollen und wie wir in den nächsten Jahren damit umgehen. ({1}) Ihr Antrag eignet sich in dieser Form dazu nicht. Er ist in gewisser Weise ein Oppositionsantrag, der die realpolitische Wirklichkeit ein Stück weit außer Acht lässt. Mit der Arbeitsaufteilung des Europäischen Parlaments auf verschiedene Orte herrscht ein zugegebenermaßen nicht ganz zufriedenstellender Zustand. Aber es braucht diplomatisches Geschick und Augenmaß, um das zu ändern. Ihr Antrag weist leider dieses Augenmaß nicht auf. Insofern können wir Ihrem Antrag in der Form, wie er heute vorliegt, nicht zustimmen. Herzlichen Dank. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält der Kollege Markus Löning, FDPFraktion. ({0})

Markus Löning (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003583, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Zunächst herzlichen Dank an die Kollegen von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, dass sie die Idee unserer liberalen Kollegen aufgenommen haben. ({0}) Es war unsere liberale Kollegin Cecilia Malmström, jetzt schwedische Europaministerin, damals Mitglied der liberalen Fraktion, die diese Oneseat-Kampagne für einen einzigen Sitz des Europäischen Parlaments losgetreten hat. Zusammen mit Silvana Koch-Mehrin, Alexander Alvaro und anderen Kollegen aus dem Europäischen Parlament hat sie über 1 Million Unterschriften für die Verlegung des Sitzes des Europäischen Parlaments nach Brüssel gesammelt. Eine beeindruckende Leistung und vor allen Dingen eine beeindruckende klare Äußerung der europäischen Bürgerinnen und Bürger zum Thema Reisezirkus! Innerhalb kürzester Zeit haben über 1 Million Europäerinnen und Europäer das unterschrieben. Meine Damen und Herren, wir unterschätzen vielleicht manchmal den gesunden Menschenverstand bei den Bürgerinnen und Bürgern. Er ist aber da, und man sollte ihm bei solchen Forderungen folgen. ({1}) Dass zwei Sitze für ein Parlament offensichtlicher Unsinn sind, das braucht man niemandem zu erklären. Das versteht jedes Schulkind. Kein Bürger versteht, warum das Parlament auf Dauer diesen enormen Aufwand, der hier schon geschildert worden ist, betreibt. Es handelt sich um eine enorme Verschwendung von Zeit, von Ressourcen und von Energie, die nicht in die politische Arbeit der Kolleginnen und Kollegen und all der Mitarbeiter, die hin und her reisen müssen, fließen kann. Es ist von einer hohen politischen Symbolkraft, dass Europa nicht in der Lage ist, solch einen offensichtlichen Blödsinn abzustellen, dass wir nicht in der Lage sind, einen Zustand zu beenden, den jeder für Blödsinn hält. Deswegen ist es so wichtig, dass diese Initiative jetzt hier diskutiert wird und wir ein klares Signal setzen, dass dieser Reisezirkus aufhören muss. Sie haben in Ihrem Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, zwei Kernforderungen: zum einen einziger Sitz des Parlaments in Brüssel und zum anderen Kompensationsleistungen für Straßburg. Ich weiß nicht, ob wir als Deutscher Bundestag für Straßburg eine Kompensation diskutieren müssen. Straßburg hat eine große europäische Geschichte und spielt eine große Rolle in der europäischen Geschichte. Eine ganz herausragende Bedeutung hat Straßburg in der deutschfranzösischen Geschichte. Aber ob es richtig ist, im Zusammenhang mit der Sitzverlagerung hier eine Kompensation zu diskutieren, möchte ich in Zweifel ziehen. Ich glaube, dass Straßburg als Sitz des Europarates und des Menschenrechtsgerichtshofes auch in Zukunft ganz sicher eine herausragende europäische Sichtbarkeit haben wird und niemand die deutsch-französische und die europäische Geschichte von Straßburg jemals in Zweifel ziehen wird. Vielleicht ist in diesem Antrag der vorauseilende Kompromiss gleich mitgedacht worden; ich weiß es nicht. Ich glaube, das ist eine Sache, über die sich die Regierungschefs Gedanken machen können und gerne auch unsere Kolleginnen und Kollegen im Europäischen Parlament. Aber es ist nicht unsere Aufgabe als Deutscher Bundestag. Die zweite Forderung ist die nach einem Sitz in Brüssel. Die Einrichtung eines Sitzes in Brüssel ist ein Appell, den wir an die Regierung richten. Ich frage mich, ob der Appell nicht ein anderer sein müsste, nämlich dass ein Parlament selbstverständlich selbst über seine Organisation und seinen Sitz entscheiden können muss. ({2}) Das hat etwas mit dem Selbstverständnis eines frei gewählten Parlaments zu tun. Der Appell an die Regierungen der europäischen Staaten müsste eher dahin gehen, dass wir sagen: Gebt dem Parlament, was des ParlamenMarkus Löning tes ist! Gebt ihm das Recht, selbst über seinen Sitz zu entscheiden! Ich habe überhaupt keinen Zweifel daran, dass das Parlament sich dann - wahrscheinlich fast einstimmig - für einen Sitzungsturnus nur noch in Brüssel aussprechen wird. Es gibt eine Umfrage unter den Kolleginnen und Kollegen, die zeigt, dass sie sich schon jetzt zu 80 Prozent für Brüssel ausgesprochen haben. Mein Appell an die Bundesregierung, Herr Staatsminister, lautet also: Setzen Sie sich dafür ein, dass das Parlament selbst entscheiden kann, wo es in Zukunft sitzen möchte! Das ist eines Parlamentes würdig. Vielen Dank. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Steffen Reiche ist der nächste Redner für die SPDFraktion. ({0})

Steffen Reiche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003827, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag der Grünen von der Delegiertenkonferenz in Nürnberg - von da ist er ja übernommen - ist berechtigt; er ist klug, und er ist sinnvoll. ({0}) Trotzdem wird der Bundestag nicht zustimmen können, nicht nur, weil die Sitzfrage verbindlich geregelt ist und diese Regelung nur mit allen 27 Stimmen aufgehoben werden könnte. Sie wissen, dass Frankreich dem nicht zustimmt, zumindest zurzeit nicht. Deshalb kann man diesen Antrag hier nicht sinnvoll beschließen und umsetzen. ({1}) Es gibt drei Gründe, die deutlich schwerer wiegen als der eben genannte: Erstens. Der Vertrag von Lissabon ist im Ratifizierungsprozess. Er ist zu wichtig, als dass er konterkariert werden dürfte. Zweitens. Gerade Deutschland sollte in dieser Frage nicht vorpreschen, weil wir in einem besonders sensiblen Verhältnis zu Frankreich stehen. Sie wissen, der Motor läuft zurzeit nicht so gut, wie er schon einmal gelaufen ist. Vor der französischen Ratspräsidentschaft, wo wir einiges gemeinsam auf den Weg bringen müssten, ist das besonders heikel. Drittens. Die Entscheidung - das ist eben von der FDP zu Recht schon genannt worden - muss das Europäische Parlament treffen. Aber ich glaube - deshalb sind wir der Umsetzung Ihres berechtigten Vorschlages vielleicht näher, als mancher denkt -, mit dem Vertrag von Lissabon gibt es für die Europäische Union eine ganz neue Dynamik: mehr Rechte für das Europäische Parlament; viele Dinge, die bisher nach dem Einstimmigkeitsprinzip geregelt worden sind, gehen dann ins Mehrheitsprinzip über. Die Sitzfrage zugegebenermaßen nicht; da muss der Vertrag geändert werden, und dafür müssten alle 27 Staaten in einem entsprechenden Ratifizierungsverfahren, wie jetzt beim Vertrag von Lissabon, zustimmen. Aber mit diesem Vorschlag ist perspektivisch ein akzeptabler Weg für Frankreich aufgezeigt. Zugleich werden wir auf der Grundlage des Vertrags von Lissabon einen Europäischen Rat mit einem eigenen Präsidenten, das heißt mit einer eigenen, neuen Sichtbarkeit, haben. Ich denke, das könnte ein zusätzliches Argument für einen „eigenen“ Ort mitten in Europa sein; dieser Ort könnte zum Beispiel Straßburg sein. Die EU selber - auch das bedingt der Vertrag von Lissabon - wird Völkerrechtssubjekt. Das heißt, der Weg zu einer europäischen Republik oder - wie es Stefan Collignon genannt hat - der Weg zu einer Bundesrepublik Europa ist damit eingeschlagen worden. Ein wichtiger Aspekt hinsichtlich der Frage, wo der Sitz des Europäischen Parlaments sein soll, ist, dass der EU-Reformvertrag Volksinitiativen ermöglicht. Herr Löning hat eben zu Recht darauf hingewiesen, dass schon 1 Million Menschen unterschrieben haben. Warum sollten dann nicht auf Grundlage des Lissabonner Vertrages 1 Million Menschen eine solche europäische Volksinitiative starten? Damit können die Menschen in Europa den Sitz des Europäischen Parlaments als Thema erneut auf die Tagesordnung setzen. Ich denke, die Menschen in Europa könnten mit ihrem Votum in dieser Frage ein wichtiges Signal setzen. Die Mehrheit des Europäischen Parlaments lehnt die aktuelle Regelung hinsichtlich des Sitzes des Europäischen Parlamentes schon jetzt ab. Die Franzosen gehören leider noch nicht dazu. Würden sie sich der Mehrheit anschließen, wäre der Weg für eine neue Regelung frei. Ich wünschte, wir wären schon so weit, dass wir Ihrem Vorschlag zustimmen könnten. Aber wir sind es leider noch nicht. Wir können den Satz, den der Gründer des Staates Israel gesagt hat, auch auf Europa übertragen: Wer in Europa nicht an Wunder glaubt, der ist kein Realist. In diesem Sinne bin ich Realist; ich glaube an dieses Wunder und daran, dass wir es miteinander noch erleben werden. Vielen Dank. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Alexander Ulrich ist der nächste Redner für die Fraktion Die Linke. ({0})

Alexander Ulrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003858, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn ein Maler ein Bild über die Entfremdung der Menschen von Europa zeichnen müsste, würde er als Motiv einen Umzugskarton mit europäischen Sternen darauf wählen. Die Debatte heute zeigt, dass alle Redner erkannt haben: Es macht wenig Sinn, dass wir weiterhin und auf Dauer das Europäische Parlament in Straßburg tagen lassen. Herr Steenblock, das Problem ist, dass die Grünen immer dann, wenn die Linke im Europaausschuss des Bundestages den Vertrag von Lissabon kritisiert hat, zu dem glühendsten Verfechter dieses Vertrages wurden. ({0}) Mit Ihrer Zustimmung zu diesem Vertrag vor wenigen Wochen tragen Sie dazu bei, dass Straßburg weiterhin Sitz des Europäischen Parlamentes bleibt. Deshalb muss man sagen, dass Ihr Antrag zwar gut gemeint, aber eben populistisch ist. Denn vor 14 Tagen haben Sie sich anders entschieden. ({1}) Herr Steenblock, Sie können sich ertappt fühlen. Natürlich ist dies ein weiteres Beispiel, wie undemokratisch die Europäische Union durch die Verträge von Lissabon aufgebaut wird. Ich gebe den Vorrednern recht, die gesagt haben: Wie der Deutsche Bundestag über seinen Sitz in Berlin entschieden hat, muss das Europäische Parlament über seinen Sitz selbst entscheiden. Sie sagen aber, dass dies die Regierungen entscheiden sollen. Sie sollten sich für eine Vertragsveränderung einsetzen, damit das Europäische Parlament selbst entscheiden kann, wo sein Sitz sein soll. Ich bin mir sicher, die Mehrheit der Europaabgeordneten wird sich dafür entscheiden, dass nur noch in Brüssel getagt wird. ({2}) Es freut mich, dass die FDP sagt, die Grünen hätten einen Vorschlag von ihr aufgegriffen. Der Fraktionsvorsitzende der FDP und Bonn-Lobbyist ist jetzt leider nicht mehr anwesend. ({3}) Wir wären manchmal gut beraten, mit dem Finger nicht nur auf Europa zu zeigen. Denn auch wir in Deutschland könnten jedes Jahr etliche Millionen Euro und auch viel CO2 einsparen, wenn wir dafür sorgen würden, dass die Ministerien komplett von Bonn nach Berlin umziehen. ({4}) Wir dürfen nicht nur auf Europa schauen, sondern sollten den Franzosen ein gutes Beispiel geben. Dazu gehört, dass die Geldverschwendung im eigenen Land, die durch Bonn und Berlin als Sitz für die Ministerien verursacht wird, aufhört. ({5}) Das Parlamentsgebäude in Straßburg steht 317 Tage im Jahr leer. Es macht keinen Sinn, dafür jedes Jahr 200 Millionen Euro auszugeben. Richtig ist aber auch, dass wir diesen Zustand auf absehbare Zeit nicht verändern können. Deshalb glaube ich, dass diese Debatte richtig ist. Ich kann nicht verstehen, warum manche sagen: Wir beschäftigen uns nicht mit diesem Thema. Tatsächlich ist es so, dass nicht alle Punkte in die richtige Richtung weisen. Ich meine nicht, dass wir ein Kompensationsgeschäft brauchen. Man würde uns immer vorrechnen, welche Kosten anfallen - etwa 200 Millionen Euro oder 50 Millionen Euro -, das heißt, wie viel Geld verschleudert wird. Brüssel sollte Mittelpunkt werden. Ich bin mir sicher, das Europaparlament wird das so entscheiden. Ihr Beitrag glich in weiten Strecken einer Sonntagsrede. Wir sollten nicht nur an dieser Stelle, sondern auch an anderen Stellen über Geldverschwendung auf europäischer Ebene und über mehr Demokratie im Europäischen Parlament reden. Die Grünen tun mir ein bisschen leid, dass sie sich dagegen ausgesprochen haben, dass die Bevölkerung über den Lissabon-Vertrag abstimmt. ({6}) Hätte die Bevölkerung darüber entschieden, wäre die Ratifizierung dieses Vertrages - da bin ich mir sicher noch nicht durch. Herr Steenblock, Ihr Antrag geht in die richtige Richtung, ist aber populistisch. Vielen Dank. ({7})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Zum Schluss dieses Tagesordnungspunkts hat der Kollege Hans Peter Thul für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Hans Peter Thul (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003883, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wenn man manche Reden in diesem Haus gehört hat, dann darf man feststellen, dass der Heilige Geist vielleicht doch um zwei Tage zu spät gekommen ist. ({0}) Ich bin froh, dass wir vielleicht etwas versöhnlicher in dieses Wochenende gehen können. ({1}) Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Grundsätzlich sind alle Überlegungen, Herr Kollege, die uns zu mehr Effizienz in den Verwaltungen, zu weniger Kosten oder möglicherweise zu einer - ich sage das mit Blick auf Ihren Vorschlag - Reduzierung oder sogar Vermeidung von CO2-Emissionen führen, zu begrüßen. Selbstverständlich sehen Sie uns da auf Ihrer Seite. Alle Reden, die in diesem Haus zu diesem Thema und zu Ihrem Antrag gehalten wurden, geben Ihnen in diesem Ansatz recht. Wir haben etwas genauer hingeschaut und können Ihrem Antrag aus einigen Gründen, die ich Ihnen gleich darlegen werde, so nicht folgen. Vor wenigen Tagen ist unsere Bundeskanzlerin mit dem renommierten Karlspreis ausgezeichnet worden. Dies geschah unter anderem deshalb, weil sie mit sehr viel Geschick die Interessen der großen und kleinen Partner in der europäischen Familie vertritt. ({2}) Ich denke, Sie spenden dieser Preisverleihung Beifall. Wir dürfen also mit Fug und Recht feststellen, dass die deutsche Ratspräsidentschaft unter Führung von Angela Merkel eine der erfolgreichsten der vergangenen Jahre war. ({3}) Dennoch wirkt der Preis über den Tag hinaus, Herr Löning. Noch ist der Vertrag von Lissabon nicht von allen 27 Mitgliedstaaten ratifiziert; ({4}) aber wir sind, wie ich finde, auf einem guten Weg. In einer Vielzahl von Veranstaltungen im Lande, zuletzt in Göttingen und auch hier in Berlin, sind wir mit den Menschen im Gespräch und erklären den Geist von Lissabon. Ich darf Ihnen berichten: Wir erfahren in allen Veranstaltungen ein hohes Maß an Zustimmung. Nun komme ich zur Kritik, verehrter Kollege Steenblock. Die Verabschiedung Ihres Antrags würde für die französische Ratspräsidentschaft vor diesem Hintergrund einer Aufforderung gleichkommen, sich dafür einzusetzen, dass sich die Parlamente erneut mit einer Vertragsänderung zu beschäftigen haben. Das Ganze würde in der Zeit der Ratifizierungen stattfinden. Das allein ist schon fast ein Affront gegenüber dem französischen Nationalstaat. ({5}) Das ist eine, wie ich finde, geradezu abwegige Vorstellung. Warum sollten wir, Deutschland, während der derzeitigen Ratifizierungsbemühungen aller anderen Partner ohne Not einen solchen Nebenkriegsschauplatz eröffnen, der Frankreich, Belgien und Luxemburg unmittelbar betreffen würde? Es gibt hierfür keine rationale Erklärung. Ich möchte auf den von Ihnen errechneten, von mir nicht ganz nachvollziehbaren Effekt der CO2-Einsparungen zu sprechen kommen. Ich empfehle Ihnen: Rechnen Sie einmal nach, wie viele vermeidbare Kosten dadurch entstehen, dass in Bonn immer noch zahlreiche Ministerien der Bundesregierung sind! Missionieren Sie einmal in Ihren eigenen Reihen, etwa bei den Abgeordneten der Grünen aus Rheinland-Pfalz! Fragen Sie einmal die Bereitschaft ab, dafür einzutreten, dass sämtliche Ministerien der Bundesregierung nach Berlin umziehen! Ich glaube, Sie würden bei Ihren Bemühungen ebenfalls ein Waterloo erleben. ({6}) Wenn wir diese Sache in aller Ruhe miteinander besprechen, dann kommen wir ganz bestimmt zu dem Ergebnis: Wir sollten in dem Bemühen, Kosten zu senken und CO2-Belastungen zurückzuführen, nicht nachlassen. Ihr Antrag, meine verehrten Damen und Herren der Grünen, ({7}) ist hierfür allerdings nicht geeignet. Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende und entspannte Pfingsttage. Schönen Dank. ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf der Drucksache 16/8051 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Damit sind Sie offensichtlich einverstanden. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe nun Zusatzpunkt 12 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE Haltung der Bundesregierung zu aktuellen Vorschlägen einer steuerlichen Entlastung von kleinen und mittleren Einkommen Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält die Kollegin Barbara Höll für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon ein erstaunliches Schauspiel, das wir aktuell in Bayern geboten bekommen: ({0}) Die CSU rutscht in Umfragen unter 50 Prozent und spielt verrückt. Links wirkt eben nicht nur bei der SPD; endlich hat auch die CSU registriert, dass der Aufschwung - die Frage ist, welcher Aufschwung überhaupt bei den meisten nicht angekommen ist. Es ist längst überfällig, dass die Forderungen nach Wiedereinführung der alten Pendlerpauschale, nach Anhebung des Grundfreibetrags in der Einkommensteuer, nach der tendenziellen Begradigung des Einkommensteuertarifs und nach der Erhöhung des Kindergeldes erhoben werden. Die Bundestagsfraktion Die Linke fordert all das schon seit langem. ({1}) Wir haben zu all diesen Punkten bereits Anträge gestellt, die die CSU in schnöder Regelmäßigkeit abgelehnt hat. Bei etlichen Anträgen haben Sie nun regelrecht von uns abgeschrieben, ({2}) zum Beispiel aus unserem Antrag zur Pendlerpauschale oder zur Begradigung des Einkommensteuertarifs. Sie wissen, dass sofort eine Erhöhung des Kindergeldes auf 200 Euro erfolgen sollte. ({3}) Ganz abgesehen davon, ist die CSU selbstverständlich für die soziale Schieflage, für all die Ungerechtigkeiten, mit denen wir gegenwärtig konfrontiert sind, mitverantwortlich. Zuerst hat sie ihre Wählerinnen und Wähler wirklich abgeschreckt; jetzt will sie sie wieder einsammeln. Es ist Fakt: In Deutschland gibt es viel Armut. Zudem schrumpft die Mittelschicht dramatisch; das belegen aktuelle Studien des DIW und von McKinsey. ({4}) Es ist das Ergebnis Ihrer Politik, dass nach Berechnungen von Allianz und Dresdner Bank die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen in den vergangenen fünf Jahren 3,7 Prozent Kaufkraftverlust hinnehmen mussten; zwischen 1991 und 2007 betrug der Kaufkraftverlust sogar 6,1 Prozent. Die CSU stellt nun mit ihrem Steuerkonzept - das kann man so konstatieren - ihrer bisherigen Steuerpolitik ein Armutszeugnis aus. ({5}) Bisher zeichnete sich die Steuerpolitik der CSU dadurch aus: Die CSU hat die Mehrwertsteuererhöhung um 3 Prozentpunkte mitgetragen; sie hat die Unternehmensteuerreform mitgetragen, die durch die Senkung der Körperschaftsteuer zu einer massiven Entlastung der Unternehmen geführt hat; sie hat die Senkung des Spitzensteuersatzes mitgetragen; auch der Eiertanz bei der Erbschaftsteuer wird von der CSU mitgetragen. Ich sage: Bei näherem Hinsehen entpuppt sich vieles aus dem Steuerreformkonzept der CSU als wahlkampftaktische Mogelpackung. Zum Beispiel behauptet sie großspurig in der Presse, sie würde sich vor allem der vielen kleinen und mittleren Einkommen annehmen. ({6}) Die Entlastungsbeispiele, die bisher veröffentlicht wurden, zeigen aber, dass sie vor allem die höheren Einkommen entlasten will. Eine wirkliche Entlastung der kleinen und mittleren Einkommen erreichen Sie nur, wenn Sie den Einkommensteuertarif tatsächlich linear-progressiv gestalten. Das wollen Sie im ersten Schritt nicht tun; im zweiten Schritt wollen Sie wenig dafür tun. Wir haben es in einem Antrag vorgeschlagen. Er trägt den Titel „Einkommensteuertarif gerecht gestalten - Steuerentlastung für geringe und mittlere Einkommen umsetzen“. Sie hätten den im Mai vergangenen Jahres gestellten Antrag mittragen können. Die Progression im Einkommensteuertarif schlägt im unteren Bereich überproportional zu und trifft damit gerade die unteren und mittleren Einkommensgruppen. Deshalb sind sie stärker von der kalten Progression betroffen, die durch die Inflation verursacht wird. Gerade bei diesen Einkommen bleibt von einem Bruttozuwachs netto nicht wesentlich mehr übrig. Dafür geben Sie allerdings am Ende des Tarifverlaufs so richtig Gas: Sie lassen zwar den Spitzensteuersatz unverändert bei 42 Prozent; aber er soll erst bei 60 000 Euro statt wie bisher bei 52 151 Euro greifen. Ihre Entlastungsvorschläge wirken also umso stärker, je höher die zu versteuernden Einkommen sind. Das sind Steuergeschenke für Fußballmillionäre und Topmanager. Noch einmal kurz zur kalten Progression, zur inflationsbedingten Einkommnensenkung aufgrund des Tarifverlaufs. Sie behaupten, Ihr Steuerkonzept korrigiere das. Es ist an keiner Stelle eine Maßnahme zu finden, die tatsächlich dauerhaft wirken könnte. Die Fraktion Die Linke hat am 6. Juli 2007 einen Antrag für eine konsequente Berücksichtigung der Inflation im Steuerrecht vorgelegt. Noch ein Wort zur Gegenfinanzierung. Normalerweise wird uns vorgeworfen, wir könnten das nicht. ({7}) Herr Huber hat eine ganz klare Haltung - ich zitiere -: Das Gegenrechnen bringt doch nur Ärger, und die Entlastungen werden nicht mehr richtig gesehen. ({8}) Was soll das Ganze? Herr Huber sieht das locker, flockig. Seriöse Haushaltspolitik ist das wohl nicht. ({9}) Wenn man genau hinschaut, kündigt er allerdings an, wie vielleicht eine Gegenfinanzierung aussehen könnte. Dazu möchte ich noch einmal zitieren

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nein, das geht jetzt nicht mehr, weil nämlich unsere

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

- ich bin gleich zu Ende, Herr Präsident -: … strikte Disziplin auf der Ausgabenseite. Die CSU ist bereit, ihren politischen Beitrag zu erbringen. Wie ehrlich Sie es meinen, das merkt man jetzt, wenn man sich den Bankenskandal anschaut, den Sie in Bayern haben, ({0}) wo der Öffentlichkeit nicht die Wahrheit gesagt wurde. ({1}) Daran sind Sie beteiligt. ({2}) Ich glaube, das Verfallsdatum Ihres Steuerkonzepts kann man vorhersagen: der 29. September dieses Jahres. Danke. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin, Sie strapazieren im Augenblick nicht nur den amtierenden Präsidenten, was ja durchaus hinzunehmen wäre, sondern auch die Geschäftsordnung, die, was bei Aktuellen Stunden regelmäßig übersehen wird, dem Präsidenten den Ermessensspielraum, den alle Rednerinnen und Redner mit bemerkenswerter Souveränität immer wieder für sich in Anspruch nehmen, gar nicht einräumt. Nun hat der Kollege Eduard Oswald für die CDU/ CSU das Wort, der den Nachweis erbringen wird, dass das in fünf Minuten gehen muss. ({0})

Eduard Oswald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001663, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Echo auf die Vorschläge der Christlich-Sozialen Union zeigt: Der richtige Schritt zur rechten Zeit. ({0}) Das Thema der Steuerentlastungen für den Bürger steht auf der Tagesordnung deutscher Politik. Die CSU legt mit diesen Vorschlägen den Finger in die Wunde: In unserem Land wird zu wenig an die Mitte der Bevölkerung, an die ganz normalen Leute, die tagtäglich für ihren Lebensunterhalt arbeiten und ihre Kinder mit wenig staatlicher Hilfe großziehen, gedacht. Viele Arbeitnehmer, auch wenn sie sich freuen, dass ihr Arbeitsplatz durch die Arbeit der Großen Koalition sicherer geworden ist, spüren nicht immer, dass der wirtschaftliche Aufschwung bei ihnen im Geldbeutel ganz persönlich ankommt. Die Tarifabschlüsse der letzten Monate haben für viele Beschäftigte eine nennenswerte Erhöhung des Bruttolohns gebracht. Aber Lohnerhöhungen werden vielfach durch Preissteigerungen bei den Ausgaben des täglichen Bedarfs und vor allem bei Strom und Benzin aufgezehrt. Die CSU will: Jeder Einzelne muss wirklich von den Lohnerhöhungen profitieren. ({1}) Die Menschen brauchen mehr netto vom Brutto. Ich kann es nur bedauern, dass durch die Heftigkeit der ersten politischen Reaktionen bei manchen verloren geht, wie wichtig eine Steuerentlastung der Bürger ist. Es ist doch eine Tatsache, dass unser progressiver Steuertarif den Menschen, vor allem den Leistungsträgern der Mittelschicht, den Facharbeitern und auch den Familien, in ganz erheblichem Umfang heimlich das Geld aus der Tasche zieht und damit die wohlverdiente Kaufkraft der Bevölkerung verringert wird. Nahezu alle unabhängigen Sachverständigen kritisieren immer wieder diese geräuschlose Umverteilung zugunsten des Staates als wachstums- und leistungsschädlich. Deshalb nimmt die CSU diese kalte Progression völlig zu Recht ins Visier und schützt den Bürger vor weiteren Steuererhöhungen. ({2}) Wer das als unehrliche Politik ohne Gegenfinanzierung bezeichnet, verwechselt Ursache mit Wirkung. ({3}) Ich sage klar und unmissverständlich: Für die CSU gibt es zur weiteren Konsolidierung der öffentlichen Haushalte keine Alternative. Steuerentlastungen stehen hierzu nicht im Widerspruch. Vielmehr verhelfen sie der Strategie der Haushaltskonsolidierung zum Erfolg. Sie erhöhen das verfügbare Einkommen der Bürgerinnen und Bürger. Sie setzen Leistungs- und Arbeitsanreize und fördern damit das Wirtschaftswachstum. Alle in diesem Haus wissen: Mit überschuldeten Haushalten ist auf Dauer kein Staat zu machen. Mit Bürgerinnen und Bürgern, die kein Geld in der Tasche haben, aber auch nicht. ({4}) Nach unserer Auffassung ist das Einkommensteuerentlastungskonzept durch das stufenweise Wirksamwerden - das ist das Entscheidende; man muss hinschauen, was sofort und was in den nächsten Jahren wirksam wird mit den besonderen Belangen des Bundeshaushalts vereinbar. ({5}) Dass die CSU für eine nachhaltige Finanzpolitik steht, hat sie in Bayern bewiesen. ({6}) Bayern ist ein wunderschönes Land mit einer stabilen und guten Regierung, die Erfolge vorweisen kann. Im Vergleich mit allen anderen Bundesländern wird das deutlich. Als einziges Land hat Bayern seit 2006 einen ausgeglichenen Landeshaushalt. ({7}) - Daran ändert Ihr Schreien nichts. Die Fakten zählen. ({8}) Jetzt ist der richtige Zeitpunkt für den Einstieg in eine Einkommensteuerreform. Mit unserem Drei-StufenKonzept haben wir die Diskussion eröffnet. ({9}) Wir haben Vorschläge unterbreitet, wie eine echte Entlastung für jedermann erreicht werden kann. Jeder kann sich dem anschließen. ({10}) Herr Präsident, ich bin im vorgegebenen Zeitrahmen geblieben, um Ihrem ausdrücklichen Wunsch zu entsprechen. ({11}) Vielen herzlichen Dank. ({12})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich bin zutiefst beeindruckt und empfehle dieses leuchtende Beispiel zur Nachahmung. - Der nächste Redner ist der Kollege Dr. Hermann Otto Solms für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002190, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es war amüsant, Edi Oswalds Märchenstunde zu lauschen. ({0}) Sie war verbunden mit einem echt bayerischen Werbeblock. Das war sehr eindrucksvoll. Die bayerischen Tourismusbehörden werden Ihnen dankbar sein. Lassen Sie uns einmal auf die Aussagen zurückblicken, die im Wahlkampf vor der letzten Bundestagwahl gemacht wurden. Die CDU/CSU hat damals ein mutiges Steuerkonzept vorgeschlagen, unter der Federführung von Richard Merz - Friedrich Merz, Entschuldigung. ({1}) 12, 24 und 36 Prozent sollten die Steuersätze betragen. Man hat den Wählern vor der Bundestagwahl also Steuersenkungen versprochen. Was hat die CDU/CSU - die CSU ist übrigens immer noch Teil dieser Koalition, auch wenn man das manchmal vergisst; ({2}) sie stellt sogar zwei Bundesminister und stimmt allem immer brav zu - dann aber in der Koalition gemacht? Abschaffung der Eigenheimzulage, Abschaffung der degressiven AfA, Abschaffung der Abzugsfähigkeit der Steuerberatungskosten. Das war im Jahr 2005 und geschah mit einstimmiger Zustimmung der CSU in Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung. ({3}) Im Jahre 2006 kam dann die Erhöhung der Mehrwertsteuer, die Erhöhung der Versicherungsteuer, die Einführung einer Reichensteuer, die Absenkung der Altersgrenze beim Kindergeld und bei Kinderfreibeträgen von 27 auf 25 Jahre, die Reduzierung der Entfernungspauschale und die Halbierung des Sparerfreibetrages. All das waren Entscheidungen, die die Bürger hart getroffen haben. Hinzu kam die Neueinführung einer Steuer auf Biokraftstoffe. Zu all diesen Maßnahmen gab die CSU einstimmig ihre Zustimmung. ({4}) Im Jahr 2007 folgte die Unternehmensteuerreform. Erinnern Sie sich an die mittelstandsfeindlichen Entscheidungen bei der Hinzurechnungsregelung bei der Gewerbesteuer, die Einführung einer Zinsschranke, die Einschränkung beim Mantelkauf und die Einführung der Funktionsverlagerung. All das waren absurde Entscheidungen. Es kam aber kein Widerspruch von den Fachleuten aus Bayern. Erwin Huber war lange Zeit FinanzDr. Hermann Otto Solms minister. Er ist ein Experte, aber auch von seiner Seite kam kein Widerspruch. Die CSU hat zwar allem zugestimmt, aber jetzt beschwert sie sich. Jetzt kommt das Jahressteuergesetz 2007, mit dem die zentrale Lohnsteuerdatei und ein umfassender Datenpool mit persönlichen Daten aller Steuerpflichtigen eingeführt werden. Sie haben eine Änderung in § 42 AO - Entscheidungen stehen unter dem Vorbehalt der Zustimmung durch die Finanzverwaltung - herbeigeführt. Auch hier gilt: volle Zustimmung der CSU. Bei der aktuellen Diskussion über die Erbschaftsteuer höre ich von der CSU nichts mehr. ({5}) Sie hat dem Vorschlag widersprochen. Jetzt hört man aber nichts mehr. ({6}) Man munkelt, man wolle die Entscheidung auf die Zeit nach dem 28. September verschieben. Warum? Dann ist in Bayern Landtagswahl. Kaum droht also die Rache der Wähler, wechselt die CSU die Seite. ({7}) Jetzt ist sie wieder Steuersenkungspartei. ({8}) Meine Damen und Herren, all das, was die CSU zurzeit unter dem Stichwort „Mehr netto vom Brutto“ vorschlägt, ({9}) ist nicht ernst zu nehmen. ({10}) Ich weiß nicht, wann Sie das letzte Mal auf dem Nockherberg waren bzw. wann Sie diese Veranstaltung zuletzt im Fernsehen gesehen haben. ({11}) Dort ist der Vorsitzende der FDP, Guido Westerwelle, einmal derbleckt worden; so sagt man das in Bayern. ({12}) Es ging um das Motto „Mehr netto vom Brutto“. Derjenige, der ihn damals kopiert hat, hat dieses Prinzip regelrecht gepredigt. ({13}) Man hörte immer nur: Mehr netto vom Brutto! Dann trat ein Chor auf, der „Mehr netto vom Brutto“ gesungen hat. ({14}) Erwin Huber war damals auch anwesend. Das hat er sich wohl gemerkt und sich gesagt: Das kann ich auch. ({15}) Nun liegt das neue Steuersenkungsprogramm der CSU auf dem Tisch, und es trägt den Titel „Mehr netto vom Brutto“. ({16}) Auch Frau Merkel war nicht faul. Sie hat sich das zu Herzen genommen. ({17}) Nach einer aktuellen dpa-Meldung möchte jetzt auch sie das Prinzip „Mehr netto vom Brutto“ zum Motto ihrer Politik machen. ({18}) Im Moment diskutiert die Koalition aber immer noch über Steuererhöhungen, nämlich über die Erhöhung der Erbschaftsteuer, und nicht über Steuersenkungen. ({19}) Es ist wirklich interessant, welch eine Meinungsvielfalt plötzlich entsteht. Frau Merkel sagt: Steuersenkungen ja, aber erst nach der Wahl. Sie verhält sich also genauso wie im letzten Bundestagswahlkampf: Vor der Wahl werden Steuersenkungen versprochen, nach der Wahl werden diese Versprechen zurückgezogen. ({20}) Witzig ist auch, wie die SPD darauf reagiert. Herr Beck sagt: Wir brauchen eine Steuerreform. Herr Poß sagt: Ja, aber sie darf nichts kosten. Es darf also keine richtige Steuerreform sein. Herr Steinbrück dementiert alles und lässt heimlich eine Steuerreform vorbereiten; das ist heute auf Spiegel Online zu lesen. ({21}) Wir erleben gerade eine spannende Zeit. Bis zur Bundestagswahl haben wir noch ein Jahr vor uns, in dem wir über die Steuerpolitik diskutieren können. Wir werden sehen, wer glaubwürdig ist. Die FDP jedenfalls vertritt bereits seit 15 Jahren die Auffassung, dass eine große Steuerreform notwendig ist. Diese Politik werden wir auch nach der nächsten Bundestagswahl fortsetzen. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({22})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Florian Pronold das Wort. ({0})

Florian Pronold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003612, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt im Deutschen Bundestag immer noch überraschende Debatten. Jeder, der weiß, wie die Debattenkultur hier normalerweise ausgeprägt ist, müsste diese Debatte als besonders überraschend bewerten. Da wirft Frau Höll der CSU vor, sie habe von der Linken abgeschrieben, und die CSU widerspricht noch nicht einmal. ({0}) Dann sagt Frau Höll sogar: Wenn man sich genau anschaut, was sie abgeschrieben hat, stellt man fest: Das ist eine Mogelpackung. ({1}) Das ist richtig, allerdings in beiden Fällen: ({2}) Das trifft sowohl für die Linke als auch für die CSU zu. Beide Parteien versprechen Steuerentlastungen in einer Größenordnung, dass man denkt, Weihnachten, Ostern und Pfingsten fallen auf denselben Tag. ({3}) Das Problem ist: Diese Versprechen kann niemand einhalten. Wenn Politiker, weil bald ein Wahlkampf ansteht, plötzlich ganz andere Positionen vertreten, führt das bei den Menschen zu Politikverdrossenheit. Herr Solms, Sie haben auf das Steuerkonzept der CSU aus dem Jahre 2005 hingewiesen, an dessen Erarbeitung Erwin Huber wesentlich beteiligt war. Damals sollte es mehr netto geben, aber nur für die oberen Zehntausend. Diese Steuersenkungen sollten die kleinen Leute bezahlen. Die Vorschläge der CSU lauteten: Abschaffung der Steuerfreiheit der Zuschläge für Nacht-, Schicht- und Sonntagsarbeit, Streichung bzw. Kürzung der Pendlerpauschale usw. ({4}) - Darauf komme ich gleich zu sprechen. Ich will aber zuerst auf das Motto „Mehr netto vom Brutto“ eingehen, das die FDP für sich reklamiert ({5}) - auf dem Nockherberg, um den es eben ging, war auch ich anwesend - und nun auch die CSU, die uns jetzt eine Wandlung vom Saulus zum Paulus vortäuscht. Ich darf darauf hinweisen, dass Rot-Grün die größte Steuersenkung für die unteren und mittleren Einkommen in der Geschichte der Bundesrepublik durchgeführt hat. ({6}) Die SPD-Bundestagsfraktion hat damals eine entsprechende Information veröffentlicht. Um das einmal in Zahlen auszudrücken: Im Vergleich zu der Zeit von Schwarz-Gelb, liebe FDP, ist eine Familie mit zwei Kindern und einem Durchschnittseinkommen - mit Kindergelderhöhung - in dieser Zeit um 2 392 Euro im Jahr netto entlastet worden. ({7}) Das sind fast 5 000 DM; das ist eine ganze Menge. Das Ziel „Mehr netto vom Brutto“ ist also gegebenenfalls Rot-Grün zuzuschreiben. ({8}) Die spannende Frage in der Steuerpolitik ist, warum bei den Leuten nach deren Gefühl nichts angekommen ist. Dies ist so, weil im selben Zeitraum nicht die Löhne, aber die Belastungen gestiegen sind, weil Weihnachtsund Urlaubsgeld gekürzt worden sind und weil der Niedriglohnsektor dramatisch ausgeweitet worden ist. ({9}) Wenn man wirklich will, dass die Bezieher unterer Einkommen mehr netto haben, dann muss man dafür sorgen, dass der Niedriglohnbereich zurückgedrängt wird. Es wäre daher schön, wenn die CSU der Forderung nach einem Mindestlohn endlich uneingeschränkt zustimmen würde. ({10}) Ein sehr wichtiger Punkt ist auch die Wandlung bei der Pendlerpauschale. ({11}) Wir haben in der Koalition eine Vereinbarung getroffen, die die Kürzung der Pendlerpauschale vorsah. Die SPDBundestagsfraktion - das haben wir damals in der Debatte deutlich gemacht - wollte mit den Kollegen noch in der Debatte festlegen, diese Pauschale doch wieder ab dem ersten Kilometer gelten zu lassen. Die Kollegen durften aber nicht kommen, weil sie von der CSU zurückgepfiffen worden waren. Im November letzten Jahres, nach dem BFH-Urteil, gab es erneut den Vorschlag der SPD-Bundestagsfraktion, wieder die alte Regelung einzuführen, und zwar unterlegt mit einem seriösen Gegenfinanzierungskonzept. Was war die erste Tat des neu gewählten CSU-Vorsitzenden Erwin Huber im Koalitionsausschuss? Sie bestand darin, genau dies abzulehnen und anzuregen, doch zu warten, bis das Bundesverfassungsgericht darüber entschieden hat. Er ist ein Brandstifter, der sich jetzt als Feuerwehrmann gebärdet, ({12}) der aber kein Löschwasser dabei hat, weil er keinen Gegenfinanzierungsvorschlag macht; vielmehr hat er Sand dabei, den er den Wählerinnen und Wählern in die Augen streuen will. Das ist die Wahrheit zum Thema Pendlerpauschale. ({13}) Wenn Sie es ernst meinen, dann gibt es in der nächsten Sitzungswoche des Bayerischen Landtags eine schöne Gelegenheit, dies zu zeigen, liebe Freunde und Koalitionspartner von der CSU. Das von Erwin Huber geforderte Auslaufen der Erbschaftsteuer und die von ihm jetzt beabsichtigte Änderung hinsichtlich der Einkommensteuer machen im Haushalt des Freistaates Bayern etwa 3,5 Milliarden Euro aus. Ich bin dafür, dass man dies den Bürgerinnen und Bürgern im Wege eines Nachtragshaushalts sofort, also noch vor der Landtagswahl, zugutekommen lässt, indem man das letzte Kindergartenjahr kostenfrei stellt, indem man mehr Lehrer einstellt und indem man dafür sorgt, dass die Studiengebühren abgeschafft werden. - Nicht an ihren Worten, an ihren Taten sollt ihr sie erkennen. ({14})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die Kollegin Christine Scheel das Wort. ({0})

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, Unterfranken gehört zu Bayern. ({0}) - Was heißt hier „noch“? Wir haben einmal zum Kurfürstentum Mainz gehört; aber das ist schon lange her. Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Ich bin schon etwas überrascht, dass es der SPD-Fraktion, die im Bundestag in einer gewissen Größe vertreten ist und einen maßgeblichen Teil dieser Koalition darstellt, nicht gelingt, sich gegen eigenartige Vorschläge von Erwin Huber durchzusetzen. Man muss es sich einmal auf der Zunge zergehen lassen: Anscheinend dirigiert Erwin Huber von Bayern aus die Große Koalition so, dass all das, was er möchte, hier umgesetzt wird. Ich glaube, das hätte er gern; aber die Wirklichkeit schaut etwas anders aus. Sie lenken permanent davon ab, warum die Probleme so sind, wie sie sind. Der Kollege Otto Solms hat mehrere Punkte aufgezählt, was das Reden vor der Wahl und das Handeln nach der Wahl angeht. Ich kann nur sagen: Wer einer rot-grünen Regierung, die meiner Meinung nach viele Fehler, ({1}) aber insgesamt einen guten Job gemacht hat, vorgeworfen hat - damals vonseiten der Union -, die Steuern nicht ausreichend gesenkt zu haben, ({2}) dann aber, wenn eine Große Koalition an die Regierung kommt, nichts anderes tut, als die Steuern zu erhöhen, der macht sich in der Bevölkerung nicht glaubwürdiger, sondern trägt zur Politikverdrossenheit bei. ({3}) Wenn wir jetzt vor der Wahl - Ende September wird in Bayern ein neuer Landtag gewählt - feststellen, ({4}) dass sich die Rhetorik von Erwin Huber und zum Teil auch von Günther Beckstein kaum mehr von der Rhetorik von Herrn Gysi und Herrn Lafontaine unterscheidet, ({5}) muss ich sagen: Die Welt ist anscheinend nicht mehr ganz so einfach sortiert, wie das den Bürgern und Bürgerinnen in Bayern früher vorkommen musste. ({6}) Man muss an dieser Stelle klipp und klar benennen, wo es in den letzten Jahren politische Fehlentscheidungen gegeben hat und wer dafür verantwortlich ist. Dass sich die Steuer- und Abgabenbelastung für die kleinen und mittleren Einkommen so negativ entwickelt hat, liegt an den Entscheidungen dieser Großen Koalition. Da kann die Große Koalition nicht abtauchen; da kann sie nicht so tun, als seien andere schuld. Der Bundesfinanzminister sagt ja gerne: Das Durchschnittseinkommen liegt bei 25 000 Euro brutto, und darauf muss man nur 620 Euro Steuern zahlen. Es gehört allerdings zur Wahrheit, darauf hinzuweisen, dass er sich bei dieser Rechnung auf einen Alleinverdiener in einer Ehe bezieht. ({7}) Die Lebensrealität vieler Menschen ist hingegen die, dass man, wenn man alleinstehend ist, sein Einkommen von brutto 25 000 Euro voll versteuern muss, was eine Steuerbelastung von 3 500 Euro bedeutet. Das ist das, was die Leute so ärgert: dass Sie einem erzählen wollen, man würde kaum Steuern zahlen, man aber, wenn man seinen Lohnzettel anschaut, feststellen muss, dass einem gerade einmal die Hälfte des Einkommens bleibt, ({8}) dass jeder Euro, der hinzukommt, zur Hälfte mit Steuern und Abgaben belegt wird. Das schwächt die Leistungsmotivation in unserem Lande. Wir müssen aus diesem Grund dringend etwas gegen die kalte Progression tun. Wir müssen dringend dafür sorgen, dass die Abgabenbelastung sehr niedriger Einkommen - bei ihnen ist sie das Hauptproblem - sinkt. Die Grünen haben zu diesem Zweck ein Progressivmodell mit einer Staffelung der Sozialversicherungsbeiträge vorgeschlagen. Wir wollen damit insbesondere denjenigen, die ein kleines Einkommen haben, helfen, die gestiegenen Energiepreise zu verkraften und ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Die Große Koalition muss handeln. Es versteht draußen kein Mensch, dass Sie in einer Größenordnung von 50 Milliarden Euro die Steuern erhöht haben und 2008 trotzdem auf eine Neuverschuldung von immerhin noch 12 Milliarden Euro angewiesen sind. Das müssen Sie den Leuten einmal erklären. Die Leute fragen sich verständlicherweise, ob die in Berlin alle verrückt geworden sind. Deshalb sagen wir Grünen seit langem: Wir brauchen strukturelle Veränderungen, wir brauchen echte Haushaltskonsolidierung. Man muss sich bei den Ausgaben auf die Zukunft - auf Bildung und Forschung konzentrieren, anstatt Wohltaten mit der Gießkanne zu verteilen. Danke schön. ({9})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Olav Gutting für die Unionsfraktion. ({0})

Olav Gutting (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003544, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein klares, ein einfaches, ein transparentes Steuerrecht ist möglich, und es ist notwendig. ({0}) Das sage ich ganz unabhängig vom bayerischen Landtagswahlkampf, der anscheinend schon stattfindet. Wer behauptet, es gebe beim Steuerrecht keinen Handlungsbedarf, ist mindestens so unseriös wie derjenige, der in diesem Bereich Luftschlösser verspricht. Neben einer wünschenswerten Entlastung sollte bei der ganzen Debatte zunächst einmal eine Vereinfachung des Steuerrechts im Vordergrund stehen. ({1}) Die bisherigen Versuche, das deutsche Steuerrecht mit seinen zahlreichen Ausnahmetatbeständen und Sonderregelungen nicht nur für die Bürger, sondern auch für die Finanzverwaltung verständlich zu machen, ({2}) sind in der Vergangenheit regelmäßig gescheitert. ({3}) Das Steuerrecht wird von Jahr zu Jahr - das galt auch während Ihrer Regierungszeit - komplizierter und zunehmend intransparent. ({4}) Steuerzufriedenheit und Steuergerechtigkeit sind nur dann dauerhaft zu wahren, wenn das Steuerrecht durch Klarheit, Einfachheit und Transparenz geprägt ist. ({5}) Ich bedauere sehr, dass uns die Regierungen der letzten Jahrzehnte durch ihre Verschuldungspolitik kaum noch finanziellen und damit auch politischen Handlungsspielraum hinterlassen haben. Diese Große Koalition hat nun endlich den Weg zur Haushaltskonsolidierung eingeschlagen. Dieser Kurs muss konsequent fortgesetzt werden und hat absoluten Vorrang vor Steuersenkungen. ({6}) Das gilt auch für Steuersenkungen bei der Einkommensteuer. Es gilt eben nicht mehr nur der Satz „Die Schulden von heute sind die Steuern von morgen“; wir sind bereits im Morgen angelangt. ({7}) Die Schulden von gestern sind die Steuern von heute. Das gilt auch für die Schulden aus Ihrer Regierungszeit. ({8}) Wir können die unumgängliche Haushaltskonsolidierung nur dann erfolgreich zu Ende bringen, wenn wir einerseits die Ausgabenseite betrachten und sparsam mit dem uns anvertrauten Steuergeld umgehen und andererseits auf der Einnahmeseite keine Verluste aufkommen lassen. Machen wir uns nichts vor: Wir müssen damit rechnen, dass die Steuereinnahmen in Zukunft nicht so anwachsen werden, wie sich das einige erhofft haben. Niemand weiß, wie stark sich die Immobilienkrise in den USA und die steigenden Energiepreise auf die weltweite Konjunktur und die deutsche Wirtschaft auswirken. ({9}) Wir sollten deshalb vorsichtig damit sein, noch nicht eingenommene Steuergelder für eine große Einkommensteuerreform zu verplanen. Lassen Sie mich hier aber noch einmal klarstellen: Es geht mir um die Reihenfolge. Sie muss lauten: erst Haushaltskonsolidierung, dann die Einkommensteuerreform. ({10}) Wenn wir beim Bund bereits so weit wären wie die Bayern und die Baden-Württemberger und keine neuen Schulden, sondern einen ausgeglichenen Haushalt hätten, dann wäre jetzt die Zeit reif für eine Einkommensteuerreform. Leider haben wir dieses Ziel beim Bund noch nicht erreicht, aber wir können auch jetzt schon etwas für die Bürger mit niedrigen und mittleren Einkommen tun. Wir haben das vorgemacht, indem wir die Lohnnebenkosten bereits erheblich gesenkt haben. Diese Senkung macht sich ganz direkt im Portemonnaie der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bemerkbar. ({11}) Ein Arbeitnehmer mit einem Durchschnittseinkommen von 2 800 Euro hat durch die Beitragssenkungen dieser Großen Koalition seit 2007 am Jahresende 500 Euro mehr netto vom Brutto in der Tasche. ({12}) Das ist eine spürbare Entlastung. ({13}) Lassen Sie uns daher die Lohnnebenkosten weiter senken. Dadurch bekommen die Menschen mehr netto, werden die Arbeitskosten gesenkt und neue Arbeitsplätze geschaffen. Lassen Sie mich zusammenfassen: Ja, wir brauchen eine Reform der Einkommensteuer. ({14}) Die Missstände müssen beseitigt werden. Hierzu zählt auch das von der CSU aufgegriffene Problem der kalten Progression. ({15}) Der richtige Zeitpunkt für die Einkommensteuerreform, durch die den Menschen in Deutschland auch wieder mehr Anreize zur Leistung gegeben werden, ist in dieser Legislaturperiode zumindest noch nicht gegeben. Wir als CDU/CSU werden in den nächsten Monaten, wie verabredet, ein gemeinsames und zukunftsweisendes Konzept zur Einkommensteuerreform weiterentwickeln. Bis dorthin gilt aber: erst die Konsolidierung, dann die Reform. Beides sind wir auch und gerade der jungen Generation in diesem Land schuldig. ({16})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Die Linke hat nun der Kollege Dr. Gregor Gysi das Wort. ({0})

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Kollege Pronold, ich habe mit Interesse zur Kenntnis genommen, dass Sie glauben, dass Feiertage nie zusammenfallen können. ({0}) Wir haben dieses Jahr schon das Gegenteil erlebt: Der 1. Mai und Himmelfahrt sind zusammengefallen. ({1}) Sie haben auch festgestellt, dass Kollegin Höll behauptet habe, die CSU hätte von uns abgeschrieben und eine Mogelpackung geliefert. Sie meinten, schlau zu sein, und sagten, dann hätten wir eine Mogelpackung geschrieben. Da verwechseln Sie etwas. Sie haben überhört, dass Kollege Solms darauf hingewiesen hat, dass die CSU auch von Herrn Westerwelle abgeschrieben hat. So wurde aus unserer Packung eine Mogelpackung. ({2}) Die Kollegin Scheel hat gesagt, dass die Kollegen Beckstein und Huber jetzt reden wie Lafontaine und Gysi. ({3}) Damit tun Sie zwei von ihnen - ich lasse völlig offen, wem - Unrecht. ({4}) Eines, was die CSU in Bayern versucht, klappt nicht. Ich finde den Versuch ganz nett, betrachte ihn aber eher als Episode. In Bayern tun Sie so, als ob Sie hier zur Opposition gehörten. Aber Sie vergessen dabei immer, zu erwähnen, dass hier nichts beschlossen wurde, dem Sie nicht zugestimmt haben. Deshalb müssen die FDP und wir mit unterschiedlichen Zielen nach Bayern kommen und versuchen, die Menschen aufzuklären. Das werden wir so intensiv wie möglich tun. ({5}) In Bayern gibt es die Bayerische Landesbank, die sich weltweit ohne jede Sachkenntnis an Spekulationen beteiligt hat. Dabei sind Milliardenverluste entstanden, die jetzt die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler ausgleichen müssen. Herr Huber wirkt etwas einfältig, wenn er diese Dinge erklärt. Er meint, er sei der Mann der Zukunft. Ich kann das nicht erkennen. ({6}) Die Opposition in Bayern ist, finde ich, etwas lahm aufgestellt. Dort fehlen zwei Parteien: die FDP und die Linke. ({7}) Zumindest für die Linke hoffe ich, dass sie ins Parlament hineinkommt. ({8}) Jetzt versucht die CSU, in Bayern die Kurve zu kriegen, macht Oppositionspolitik gegenüber dem Bund, vergisst zu erwähnen, dass sie dort an der Regierung beteiligt ist und alles mitbeschlossen hat, und macht Vorschläge. Dabei haben Sie abgeschrieben, aber - wie die CSU eben ist - nicht konsequent. Dadurch haben sich ein paar Fehler eingemogelt. Trotzdem sage ich Ihnen: Links wirkt. Ernsthaft betrachtet haben Sie Themen aufgegriffen, die wir alle schon im Bundestag zur Abstimmung gestellt haben. Die CSU hat immer dagegen gestimmt, aber jetzt meinen Sie, dass man diese Themen im Wahlkampf bedienen muss. ({9}) Diese Art von Unehrlichkeit nimmt uns die Bevölkerung zunehmend übel. Wenn Sie es vorschlagen, dann realisieren Sie es auch im Bundestag! Machen Sie es nicht umgekehrt! ({10}) Fangen wir mit der Wiedereinführung der Pendlerpauschale an. Sie sollten dazusagen, dass ohne Ihre Zustimmung die Kürzung der Pendlerpauschale im Bundestag nicht beschlossen worden wäre. Sagen Sie das wenigstens selbstkritisch. ({11}) Allerdings finde ich die Haltung von CDU und SPD auch abenteuerlich, Politik auf das Bundesverfassungsgericht zu verlagern. Der Bundesfinanzhof begründet ausführlich, warum diese Maßnahme grundgesetzwidrig ist. ({12}) Statt jetzt die Initiative zu ergreifen und den Beschluss entsprechend zu ändern, wollen Sie noch zwei Jahre abwarten, bis das Bundesverfassungsgericht in der Sache entschieden hat. Politik wird aber im Bundestag gemacht. Es ist eine Notvariante, dass das Bundesverfassungsgericht darüber entscheiden muss. ({13}) Wir haben vorgeschlagen, die grundgesetzwidrige Kürzung der Pendlerpauschale zu streichen. Die CSU im Bundestag hat aber geschlossen dagegen gestimmt. Auch über das Kindergeld und die Erhöhung des Kinderfreibetrages haben wir im Bundestag abstimmen lassen. Die CSU hat dagegen gestimmt. Die Anhebung des steuerlichen Grundfreibetrags und die Abschaffung des Steuerbauches für die durchschnittlich Verdienenden sind völlig richtige Maßnahmen. Aber was haben Sie im Bundestag gemacht, als wir das gefordert haben? Sie haben dagegen gestimmt. Das alles erwähnen Sie nicht. So oft kann ich gar nicht nach Bayern kommen, um den Menschen zu erklären, gegen welche Vorhaben Sie alle gestimmt haben. ({14}) Leider sind Sie nicht konsequent. Ich erinnere an den Steuerbauch. Als SPD und Grüne den Spitzensteuersatz der Einkommensteuer gesenkt haben, haben sie den Steuerbauch gebildet. Das heißt, dass die durchschnittlich Verdienenden unverhältnismäßig mehr Steuern zahlen als die Besser- und Bestverdienenden. ({15}) - Aber Sie haben den Bauch zumindest bestätigt, statt ihn zu beseitigen. Das können Sie nicht leugnen. Sie haben mit Ihren Vorschlägen dafür gesorgt, dass Menschen, die bis zu 40 000 Euro verdienen, viel geringere Steuererleichterungen haben als diejenigen, deren Einkommen über dieser Grenze liegt. ({16}) Wir müssen endlich mehr Gerechtigkeit herstellen. Wir schlagen vor, dass diejenigen, die mehr als 80 000 Euro im Jahr verdienen, mehr zahlen müssen, aber die durchschnittlich Verdienenden entlastet werden. Das Gleiche gilt für die Abgabenpolitik. Beispiel Rentenversicherung: Solange es Beitragsbemessungsgrenzen gibt, müssen die Bezieher hoher Einkommen nicht entsprechend mehr zahlen. Deswegen müssen die Bezieher durchschnittlicher Einkommen mehr zahlen. Verstehen Sie? So wird das nichts. Wir müssen Gerechtigkeit für die durchschnittlich Verdienenden herstellen. Sie wollen, dass ich aufhöre, Herr Oswald. Ich nerve Sie. Ich verstehe Sie ausnahmsweise. Aber ich verspreche Ihnen, dass ich im September ungefähr achtmal nach Bayern komme und landauf, landab versuchen werde, die Menschen aufzuklären. Nach der Wahl werden Sie uns in Ihrem Landtag erleben. Das wird dann spannend. Danke schön. ({17})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Karl Diller.

Karl Diller (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000391

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Bundesregierung hat sich verpflichtet, einen finanzpolitischen Dreiklang in dieser Wahlperiode zu verwirklichen. Er besteht aus Sanieren, Investieren, Reformieren. Sanieren steht ganz bewusst an erster Stelle; denn nur wenn der Haushalt saniert ist, kann der Staat zukunftsfähig sein. Gerade die Menschen mit kleinen und mittleren Einkommen sind auf einen handlungsfähigen Staat angewiesen; denn sie sind darauf angewiesen, dass Länder und Kommunen ordentliche Schulen und Kindergärten sowie Universitäten auf hohem Niveau vorhalten. Dafür sind ausreichende Steuereinnahmen notwendig. ({0}) Die Bundesregierung hat viel erreicht. Wir sind auf einem guten Weg, das gesteckte Ziel, 2011 einen ausgeglichenen Bundeshaushalt vorzulegen, tatsächlich zu erreichen. Wir dürfen aber bei den Anstrengungen nicht lockerlassen. Dass wir noch lange nicht am Ziel sind, liegt daran, dass nicht immer alles so läuft, wie man es sich wünscht. Gäbe es in den Vereinigten Staaten eine Rezession, hätte das sicherlich auch Auswirkungen auf unsere Steuereinnahmen und unser Wirtschaftswachstum. Hinzu kommt - das spielt bei Ihnen, Herr Oswald, seltsamerweise nur als Fußnote eine Rolle - die Umsetzung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts zur steuerlichen Behandlung von Beiträgen zur Krankenund Pflegeversicherung. ({1}) Dieses Urteil vom Anfang dieses Jahres wird einen Einnahmeausfall für Bund, Länder und Gemeinden in Höhe von 10 Milliarden Euro jährlich verursachen. Dies zeigt, dass wir bei unseren Sparanstrengungen nicht nachlassen dürfen. Herr Oswald, wer wie Herr Huber in einer solchen Situation zusätzliche Steuersenkungen in Höhe von 28 Milliarden Euro fordert und dabei die 10 Milliarden Euro, die das Bundesverfassungsgerichtsurteil an Einnahmeausfällen verursacht, nur als Fußnote erwähnt, ohne zu sagen, wie er sich das vorstellt, der muss sich fragen lassen: Sind die 28 Milliarden Euro inklusive oder exklusive der 10 Milliarden Euro? Im letzten Fall wären es 38 Milliarden Euro. ({2}) Dann stünde sein Finanzkonzept erst recht auf ganz schwachen Füßen. So leid es mir tut, Herr Oswald, aber noch einmal ganz deutlich: Das, was hier vorgelegt wurde, läuft darauf hinaus, Steuersenkungen auf Pump zu finanzieren. ({3}) Der Hinweis von Herrn Huber auf steigende Steuereinnahmen in der Zukunft ist richtig. Die Behauptung, daraus würden neue Finanzierungsspielräume erwachsen, ist aber falsch. Denn der Blick auf die gestrige Steuerschätzung und ein Vergleich mit unserer geltenden Finanzplanung vom letzten Jahr zeigen: Die Steuermehreinnahmen, die uns auch dieses Jahr wieder prognostiziert werden, sind schon in der Finanzplanung berücksichtigt. Deswegen wird es im nächsten Jahr nur 1,1 Milliarden Euro weniger, 2010 400 Millionen Euro mehr und 2011 3,5 Milliarden Euro mehr geben. Das heißt, die Steuerschätzung bestätigt im Prinzip die Schätzung vom Mai letzten Jahres. Unser Beschluss über die Verwendung der Steuermehreinnahmen im letzten Jahr trägt nun Früchte. Wir sind im Jahr 2005 mit einem strukturellen Defizit zwischen den laufenden Ausgaben und den laufenden Einnahmen in Höhe von über 51 Milliarden Euro gestartet. Wir sind in diesem Jahr bei nur noch 22,6 Milliarden Euro, weil wir die steigenden Steuereinnahmen vor allem zur Reduzierung dieser Lücke eingesetzt haben. ({4}) Sie soll im Jahr 2011 möglichst auf null sinken. Hinzu kommt, dass wir einen großen Teil der Steuermehreinnahmen dazu verwenden, um Investitionen in die Zukunft zu finanzieren, von der Infrastruktur über die Schulen bis hin zu den Universitäten und der Kinderbetreuung. Lassen Sie mich noch einen Blick in die bayerische Finanzplanung werfen und die Frage stellen, wie es dort aussieht. ({5}) Unterstellt, dass der bayerische Finanzplan in der mittelfristigen Finanzplanung ebenfalls auf dem Jahr der Steuerschätzung 2007 beruht, dann sind alle Steuermehreinnahmen in dem Staatshaushalt eingebracht. Der Haushalt weist für jedes Jahr - Donnerwetter! Anerkennung! - einen Überschuss von 200 Millionen Euro aus. Kompliment! ({6}) Aber, Herr Oswald, allein die Realisierung Ihrer Vorstellung bezüglich der Änderung der Entfernungspauschale würde Ihr Bundesland mit 230 Millionen Euro belasten. Damit wäre der Überschuss, den Sie in die Tilgung stecken wollen, weg. Sie könnten nicht mehr tilgen, sondern Sie müssten zur Finanzierung der Neuregelung der Entfernungspauschale Kredite aufnehmen. Das ist die bayerische Situation. Wenn wir die Diskussionen in der Föderalismuskommission II mit den Vorstellungen der CDU betrachten, die eine möglichst scharfe Regelung für eine Schuldenbremse fordert, dann ist davon auszugehen, dass der CSU-Vorschlag wahrscheinlich gar nicht mehr diskutiert werden würde, weil er nicht zu realisieren wäre. ({7}) Wir haben auch zu bedenken, dass gegenüber den Ansätzen der Finanzplanung erstmals das Jahr 2012 erfasst ist. Im Jahr 2012 brauchen wir 8,5 Milliarden Euro zusätzlich als Zuschuss an die gesetzlichen Krankenversicherungen. Wir haben das Problem, dass wir die Tarifabschlüsse umsetzen müssen. Die sind nicht in der Finanzplanung enthalten. Allein beim Bund ergibt sich eine Kostenbelastung von jährlich über 1,5 Milliarden Euro. Wir haben darüber hinaus gemeinsame Zukunftsinvestitionen beschlossen. Auch die sind noch nicht in der Finanzplanung enthalten. Deswegen haben wir noch große Anstrengungen zur Sanierung unseres Haushaltes zu machen. Ich danke ausdrücklich dem Kollegen Olav Gutting für seine am 10. April für die CDU/CSU-Fraktion geäußerten Worte - ich zitiere -: Vor einer Einkommensteuerreform, die diesen Namen auch wirklich verdient und die eine runde Sache ist, müssen deshalb die Staatsfinanzen saniert werden. Unter Finanzminister Hans Eichel wurde in diesem Jahrzehnt die Lohn- und Einkommensteuer stark verringert, der Grundfreibetrag wurde stark erhöht. Der Eingangssteuersatz und der Spitzensteuersatz wurden jeweils um 11 Prozentpunkte gesenkt. Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland war der Eingangssteuersatz niedriger als diese 15 Prozent. Auch im internationalen Vergleich zeigt sich, dass Deutschland bei der Steuerbelastung nach OECD-Maßstäben mit 22 Prozent eine der geringsten Steuerquoten überhaupt hat. Erst durch die Einbeziehung der Sozialversicherungsbeiträge verschlechtert sich unsere Position. Deshalb ist eine Entlastung bei den Sozialversicherungsbeiträgen notwendiger; ({8}) denn die Sozialversicherungsbeiträge stellen gerade für Bezieher niedriger und mittlerer Einkommen eine größere Belastung dar als die Einkommensteuer. Dort muss gehandelt werden. Nun noch ein Wort zu den Linken, Herr Gysi. Finanzpolitisch völlig von der Rolle ist die Fraktion Die Linke. In der vorletzten Sitzungswoche debattierten wir hier über die Eigenmittelausstattung der EU. Ihre Sprecher forderten im Europaausschuss und hier im Plenum, dass man, damit jeder Arme in Europa von der EU 50 Euro pro Monat bekommt, die Abführung an die EU von 1 Prozentpunkt des Bruttoinlandsprodukts, in Steuern ausgedrückt, auf 3 Prozentpunkte anheben soll. Das ist in Geld eine Forderung von 48 Milliarden Euro pro Jahr. Ihre Kollegen schweigen sich darüber aus, wie das zu finanzieren ist. ({9}) Sie haben in der gleichen Sitzung beim nächsten Tagesordnungspunkt über Ihre steuerpolitische Konzeption - Frau Dr. Höll war das - gesprochen. Das würde einen weiteren Einnahmeausfall von 13 Milliarden bedeuten. Also, innerhalb einer Stunde haben Sie 48 plus 13 Milliarden Euro gefordert, ohne zu sagen, wie diese finanziert werden. ({10}) Gestern haben Sie den Vorschlag gemacht, den Rentnerinnen und Rentnern nicht 1 Prozent, sondern 4 Prozent Rentenerhöhung zu gewähren. ({11}) Das würde noch einmal 17 Milliarden Euro bedeuten. Wer 78 Milliarden Euro in nur drei Anträgen derart vorstellt, ohne den Leuten zu sagen, wie es finanziert werden soll ({12}) die Finanzierung würde eine um 10 Prozentpunkte höhere Mehrwertsteuer bedeuten, also eine Steigerung von 19 auf 29 Prozent -, ({13}) der hat überhaupt kein Recht, mit dem Finger auf die Kolleginnen und Kollegen von der CSU zu zeigen. ({14})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Otto Bernhardt für die Unionsfraktion.

Otto Bernhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003037, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die CSU hat als erste der drei Regierungsparteien eine große Einkommensteuerreform vorgelegt. Sie hat auch die größte Kompetenz dafür. Denn Bayern ({0}) ist nun einmal das Land, das als erstes einen ausgeglichenen Haushalt vorlegen konnte und inzwischen seine Schulden zurückzahlt. ({1}) Die beiden anderen Regierungsparteien werden nachziehen. Die Sozialdemokraten haben angekündigt, bereits Ende dieses Monats eine Einkommensteuerreform vorzulegen; ({2}) wir sind gespannt, was drinsteht. Wir haben angekündigt, dass wir Anfang kommenden Jahres eine Reform vorlegen. Ich sage schon an dieser Stelle: Es wird nicht sehr viele Unterschiede zum Programm der CSU geben. Denn es ist ein gutes Programm, das von der CSU vorgelegt wurde. ({3}) Die Diskussion konzentriert sich im Wesentlichen auf vier Punkte. Der eine Punkt ist der Grundfreibetrag. Ob wir die 8 000 Euro schaffen, hängt davon ab, was die Finanzen hergeben. Allerdings müssen wir beim Grundfreibetrag ein Stück nach oben. ({4}) Der zweite Punkt, der leider sehr teuer wird, ist die Abflachung des Tarifs. Allerdings ist es das Thema, das die Menschen bewegt und das letztlich zu stiller Progression führt, also dazu, dass mancher zu wenig netto im Portemonnaie hat. Der dritte Punkt ist der Eingangssteuersatz. Den Ansatz der CSU in Richtung 12 Prozent wird wahrscheinlich auch unser gemeinsames Programm enthalten, und hinsichtlich des Spitzensteuersatzes gibt es zurzeit weder bei der CSU noch bei der CDU die Diskussion, diesen zu senken. Hier geht es um eine andere Frage. ({5}) - Lesen Sie einmal das Programm der CSU und die Vorstellungen, die ich dazu für die CDU/CSU-Fraktion entwickelt habe. Hier geht es darum, den Betrag, bei dem der Spitzensteuersatz beginnt, nach oben zu schieben. Alle, die sich mit Steuerfragen beschäftigen, wissen: Als der Spitzensteuersatz in dieser Form eingeführt wurde, gab es eine viel größere Differenz zwischen dem durchschnittlichen Einkommen und dem, das dem Spitzensteuersatz unterliegt. Wir haben heute die Situation, dass hochqualifizierte Facharbeiter hier in eine ziemlich bedrohliche Nähe kommen. Das sind vier Mosaiksteine, in denen wir uns einig sind. Ich habe heute gehört, dass sie von den Linken oder von der FDP abgeschrieben sein sollen. Okay. Ist egal. Vielleicht finden wir dann eine große Mehrheit hier im Hause. Es gibt natürlich noch zwei andere Punkte, hinsichtlich deren ich mir sicher bin, dass wir die Kraft haben, sie aufzunehmen. Wir müssen allerdings auch über das Thema des Solidaritätszuschlags sprechen. ({6}) Natürlich können wir auf die 13 Milliarden Euro nicht in einem Zug verzichten. Aber dass das eine Dauereinrichtung wird, hat niemand geglaubt, und das war nicht gemeint. Ich nenne als sechsten Mosaikstein, der mir persönlich besonders am Herzen liegt: Wir müssen mittelfristig - damit kein falscher Eindruck entsteht - versuchen, die Erbschaftsteuer in die Einkommensteuer zu integrieren. Je mehr man sich mit der Erbschaftsteuer beschäftigt, desto mehr erkennt man, dass es keine gerechte einfache Erbschaftsteuer gibt. Dennoch keine Sorge: Wir werden den vorliegenden Entwurf mit den im Wesentlichen ausgehandelten und den letzten noch offenen Punkten natürlich in dieser Legislaturperiode verabschieden, aber wir dürfen auch in die nächste gucken. Ich sage sehr deutlich: Die in dieser Legislaturperiode von der Großen Koalition gemeinsam durchgeführte Unternehmensteuerreform, dieses gemeinsame Reformwerk, ist einer der Gründe für die positive Entwicklung der Wirtschaft. Wir werden in dieser Legislaturperiode auch eine vernünftige Erbschaftsteuer verabschieden. ({7}) Im Mittelpunkt der Überlegungen für die nächste Legislaturperiode steht aber mit Sicherheit eine große Einkommensteuerreform. Der Tatbestand, dass heute von 100 Euro brutto im Durchschnitt 40 Euro netto übrig bleiben, kann so nicht hingenommen werden. Natürlich weiß ich, dass dies nicht nur ein Thema der Steuerpolitik ist, sondern dass auch die Sozialabgaben daran einen wesentlichen Anteil haben. Es wird aber auf alle Fälle eine Einkommensteuerreform geben, und die CSU hat wichtige Impulse für diese notwendige Maßnahme gegeben. Danke schön. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion spricht nun die Kollegin Gabriele Frechen.

Gabriele Frechen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003529, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eigentlich müssten wir den Linken ja dankbar sein, dass sie diese Aktuelle Stunde beantragt haben. Es war doch richtig amüsant: Frau Höll wirft dem Ausschussvorsitzenden Oswald vor, dass er ihre Mogelpackung als Wahlversprechen verkauft. ({0}) Herr Dr. Solms beschwert sich, dass er nicht genannt wurde, obwohl er ja einen Beitrag zur Überschrift geleistet hat. Als Florian Pronold die Genese der Abschaffung der Entfernungspauschale darlegte, hat das ganze Haus, außer der SPD natürlich, völlig entrüstet aufgeschrien. ({1}) Frau Scheel möchte auch noch ein wenig beteiligt sein: Statt Sparen und Verzicht auf Steuersenkung sagt Frau Scheel, wir müssten mehr ausgeben und mehr investieren, also rauf mit den Schulden und runter mit den Steuern. ({2}) Das war zum Teil schon kabarettistisch. Herrn Oswald bewundere ich dafür, mit wie viel Charme er das vorgetragen hat, was die CSU wo auch immer hergeholt hat. À la bonheur! Bei Otto Bernhardt hatte ich immer Angst, er müsste anfangen zu lachen, als er das Ganze auch noch als große Einkommensteuerreform verkaufen wollte. Er hat es geschafft, seine Rede ohne Lachen über die Bühne zu bringen. ({3}) Der schönste Satz in dem Papier der CSU lautet: Die CSU lehnt Steuersenkungen auf Pump ab. - Das ist ja einhellige Meinung innerhalb der Großen Koalition. Das können wir unterstützen. ({4}) Der CDU-Haushaltsexperte, Herr Kampeter, hat dazu ganz klar gesagt, er fordere die Schwesterpartei zur Zusammenarbeit auf und erteile Entlastungen vor der Bundestagswahl im kommenden Jahr eine klare Absage. ({5}) Auch Peer Steinbrück bekennt sich zu der Aussage, keine Steuersenkung auf Pump durchzuführen. Er sagte dem Handelsblatt: Wer zum jetzigen Zeitpunkt Steuersenkungen fordert, setzt ohne rot zu werden die Politik fort, die in der Vergangenheit zu dem Schuldenberg von 1500 Mrd. Euro in Deutschland geführt hat. ({6}) Ein bisschen wundere ich mich über den Zeitpunkt. Es wird nun ausgerechnet wenige Monate vor der bayerischen Landtagswahl, in deren Vorfeld ja das Problem auf der CSU lastet, dass der neuen Doppelspitze trotz ihrer vier Füße die Schuhe des Vorgängers immer noch etwas zu groß sind, ({7}) dieses Konzept vorgelegt, das ab 2012 Steuersenkungen verspricht. Das Konzept weicht ja ein wenig vom Vorschlag der Linken zur Erhöhung des Grundfreibetrages ab. Laut Antrag der Linken sollte der Grundfreibetrag um 28 Euro pro Monat steigen, laut Konzept der CSU soll er um 28 Euro und 34 Cent steigen. Das sind natürlich ganz gravierende Unterschiede. Auf der Homepage der CSU habe ich folgende Aussagen zur Erläuterung des Konzeptes gefunden: Wesentlicher Bestandteil des Steuerkonzepts sei ein Grundfreibetrag von 8000 Euro für jedes Kind ab 2012. Für eine fünfköpfige Familie sei dann ein Jahreseinkommen von 40 000 Euro steuerfrei. Damit orientiere sich die CSU an der kinderfreundlichen Steuerpolitik Frankreichs. Diese fünfköpfige Familie bezahlt in Deutschland nach Verrechnung des Kindergelds auch heute keine Steuern. Und über die Kinderfreundlichkeit der Steuerpolitik Frankreichs sollten Sie noch einmal ein bisschen nachlesen. Die Welt hat dazu geschrieben: Gezahlt wird häufig nur, wenn die Eltern arbeiten. Die Höhe der Förderung pro Kind steigt mit der Zahl der Kinder an. Und anstatt das Kinderkriegen zu unterstützen, konzentriert sich der Staat auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Das ist hundertprozentig auch die Meinung der SPDFraktion. Deshalb werden wir auch in diese Richtung weitergehen. ({8}) Wer vorgibt, Menschen helfen zu wollen, und sich nicht zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie bekennt, der schadet nicht nur den Menschen, die heute berufstätig sein können, sondern auch denen, die irgendwann später einmal Rente haben wollen. Wer dann noch Altersarmut beklagt und sich gegen die Vereinbarkeit von Beruf und Familie und gegen Mindestlöhne ausspricht, ist ein politischer Hütchenspieler, zumindest in meinen Augen. ({9}) Ich habe noch einen letzten Satz gefunden, der mir ebenfalls sehr gut gefällt: Unser Steuerkonzept ist ohne neue Schulden solide finanzierbar. Auch dieser Satz stammt aus dem CSU-Konzept. Wir in der Großen Koalition versuchen, bis 2011 einen ausgeglichenen Haushalt hinzubekommen. Noch machen wir jedes Jahr neue Schulden, und noch sind wir von Tilgung weit entfernt. Ihr Programm - ich sage das in aller Freundschaft, Herr Oswald - kostet bis 2012 63 Milliarden Euro. Man muss nämlich 2009, 2010, 2011 und 2012 addieren; es gilt ja nicht nur für ein Jahr. ({10}) Als ob Sie das ohne neue Schulden hinbekommen könnten! Das ist wirklich eine Beleidigung für jedes bayerische Milchmädchen. ({11})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Albert Rupprecht für die Unionsfraktion. ({0})

Albert Rupprecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003620, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Einige der Reden haben sich stark mit der Vergangenheit beschäftigt. ({0}) Herr Gysi, Herr Solms, Sie wissen wie wir alle, dass wir 2002 eine vollkommen andere Situation hatten. Wir hatten im Haushalt ein strukturelles Defizit von 60 Milliarden Euro und eine Arbeitslosigkeit von 5 Millionen. Sie wissen, dass uns das gezwungen hat, Maßnahmen zu ergreifen, die wir nicht ergreifen wollten, die aber zwingend notwendig waren. Herr Gysi, wenn Sie das hören wollen - ich sage es gerne an dieser Stelle -: Es war in der Tat ein Fehler, die Pendlerpauschale abzuschaffen. Ich glaube, es gehört zur politischen Kultur, zugeben zu können, dass man einen Fehler begangen hat. ({1}) Bei der heutigen Debatte geht es aber um weit mehr als um Steuerfragen. Es geht um die erstmalig eingetretene Situation im Nachkriegsdeutschland, dass die Leistungsträger der Gesellschaft trotz Wirtschaftswachstum ärmer werden. Früher hatten die Fleißigen in der Gesellschaft - die Arbeitnehmer, die Mittelständler - das Vertrauen in unser Land, dass, wer anpackt, wer fleißig ist, auch die Möglichkeit hat, etwas aufzubauen. Das Motto in Deutschland war: Wenn ich fleißig bin, besteht die Chance, dass meine Kinder es einmal besser haben als ich. Heute erleben die Leistungsträger in Deutschland die Situation, dass die Lohnerhöhungen durch Preissteigerungen aufgezehrt werden und dass die kalte Progression den Steuerzahlern 15 Milliarden Euro jährlich aus den Taschen zieht, sodass sie unterm Strich real Einkommensverluste erleiden. Deswegen zweifeln die Menschen daran, dass Leistung sich lohnt. Dieser Vertrauensverlust ist in der Tat hochgefährlich für das Gemeinwesen als solches. ({2}) Es geht schlichtweg darum, ob es künftig noch eine ausgeprägt bürgerliche Gesellschaft und Mittelschicht gibt, ob es eine bürgerliche Basis gibt. Ohne Mittelschicht und ohne Leistungsträger wird Deutschland wirtschaftlich, kulturell, aber auch sozial Schaden leiden. Der Staat hat den Leistungsträgern in den vergangenen Jahren einen erheblichen Beitrag zur Sanierung unseres Landes abverlangt: Abbau der Arbeitslosigkeit, Abbau der Staatsverschuldung, Steigerung des Wirtschaftswachstums; ein Kraftakt, der wesentlich vom Mittelstand geschultert wurde. Jetzt geht es im nächsten Schritt in der Tat darum, dass sich der Staat selbst diszipliniert und den Bürgern wieder mehr Geld in der Tasche lässt. ({3}) Es geht darum, dass die Bürger am Aufschwung teilhaben. Mehr netto vom Brutto ist das Gebot der Stunde. Deswegen schlagen wir von der CSU ein Steuerprogramm mit einer Entlastung von 28 Milliarden Euro bei der Einkommensteuer vor. Diese Entlastung gibt den Arbeitnehmern, den Mittelständlern und den Familien mehr Spielraum. Lassen Sie mich auf zwei Punkte, die in den vergangenen Tagen und auch heute diskutiert wurden, eingehen. Erster Punkt. Herr Staatssekretär, es stellt sich natürlich die Frage, ob wir mit unserem Konzept im Jahre 2011 einen ausgeglichenen Haushalt erreichen werden. Zunächst einmal ist festzustellen, dass das Konzept drei Schritte beinhaltet. Bis 2011 vollziehen wir nicht alle drei Schritte, sondern nur die ersten beiden. Diese beiden Schritte bedeuten für den Bundeshaushalt nicht eine Belastung von 28 Milliarden Euro, sondern nur eine Belastung von 9 Milliarden Euro. Dies relativiert einiges. Zudem wird Deutschland nach den vorliegenden Wachstumsprognosen im Jahr 2012 90 bis 100 Milliarden Euro mehr Steuern einnehmen als 2008. Wir wollen, dass der Staat zumindest auf ein Drittel davon zugunsten der Steuerzahler verzichtet. Herr Staatssekretär, der Haushalt 2012 ist noch nicht verabschiedet. Jedes Jahr muss politisch diskutiert werden, wo die Schwerpunkte zu setzen sind. Es würde aber an den Nerv der Gesellschaft gehen, wenn die Leistungsträger die Reformen nicht mehr mittragen, weil sie merken, dass sie am Aufschwung nicht teilhaben. Es ist an der Zeit, zu hinterfragen, ob die Gewichtung bei den bisher getroffenen Entscheidungen verändert werden muss. Ich wiederhole: Der Haushalt des Jahres 2012 wird nicht im Jahr 2008 verabschiedet. Was hätten wir für ein parlamentarisches Albert Rupprecht ({4}) Selbstverständnis, wenn wir nicht Gewichtungen verschieben und Veränderungen vornehmen könnten? ({5}) Wir wollen, wie gesagt, dass der Staat auf ein Drittel der Mehreinnahmen zugunsten der Steuerzahler verzichtet - nicht mehr und nicht weniger. Der Staat hat dann immer noch 72 Milliarden Euro der Mehreinnahmen für zusätzliche öffentliche Ausgaben zur Verfügung. ({6}) Das ist eine gesellschaftspolitische Frage; denn es kann nicht sein, dass der Staat 100 Prozent der Mehreinnahmen an sich reißt. Wer die steuerliche Entlastung in Gänze ablehnt und der Meinung ist, dass 100 Prozent der Steuermehreinnahmen dem Staat zugute kommen müssten, akzeptiert im Umkehrschluss den Weg in den hundertprozentigen Steuerstaat. Ich bin der Ansicht, das hat mit einer freien Gesellschaft nichts zu tun; das kann nicht unser politisches Leitbild sein. Zweiter Punkt. Manche sagen, Entlastung ja, aber ausschließlich über eine Senkung der Lohnnebenkosten. Wir haben die Lohnnebenkosten in den vergangenen Jahren um 23 Milliarden Euro gesenkt. Aber auch da gibt es Grenzen. Eine Senkung der Lohnnebenkosten heißt umgekehrt auch weniger Geld für das Gesundheitswesen, Krankenhäuser, Pflegeheime und Arbeitslose. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Rupprecht, achten Sie bitte auf Ihre Redezeit.

Albert Rupprecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003620, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sie können in den sozialen Sicherungen nicht unendlich mehr sparen und den Druck weiter erhöhen. ({0}) Ich komme zum Schluss. Eine Steuerentlastung um 28 Milliarden Euro für die Bürger ist bei einem vernünftigen wirtschaftlichen Wachstum mit einem ausgeglichenen Haushalt 2011 vereinbar. Mehr netto vom Brutto ist zwingend notwendig, damit die Leistungsträger im Land motiviert anpacken und Vertrauen in unser Gemeinwesen zurückgewinnen. Herzlichen Dank. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Die Aktuelle Stunde ist beendet. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 28. Mai 2008, 13 Uhr, ein. Ich wünsche Ihnen schöne Pfingstfeiertage. Die Sitzung ist geschlossen