Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 5/8/2008

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Sitzung ist eröffnet. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alle herzlich. Bevor wir in unsere Tagesordnung eintreten, gibt es einige Hinweise und Begrüßungen: Wir alle haben in den vergangenen Tagen die entsetzlichen Bilder aus Birma gesehen. Die genaue Zahl der Opfer und das volle Ausmaß der Schäden sind uns bis heute nicht bekannt. Wir begrüßen die Hilfszusagen und die Bereitschaft vieler Organisationen, hier vor Ort zu helfen. Wir fordern dringend die staatlichen Instanzen in Birma auf, diese Hilfe zuzulassen und zu ermöglichen, die die betroffenen Menschen dringend benötigen. ({0}) Heute ist der 8. Mai. Das ist nicht irgendein Tag im Jahresverlauf. Am 8. Mai 1945 ist mit der Kapitulation des Deutschen Reiches der Zweite Weltkrieg zu Ende gegangen. Diese militärische Niederlage war Voraussetzung für die politische Befreiung nicht nur unseres Landes, sondern auch vieler unserer europäischen Nachbarländer und zugleich Voraussetzung für einen völligen Neuanfang in Europa. Deswegen begrüße ich heute Morgen besonders herzlich den Präsidenten des litauischen Parlamentes und seine Delegation. Herr Kollege Juršėnas, wir freuen uns, dass Sie gerade heute im Deutschen Bundestag zu Gast sind. ({1}) Im nächsten Jahr wird Litauen sein 1 000-jähriges Staatsjubiläum begehen. In diesem erstaunlich langen Zeitraum hat es zwischen unseren Ländern über Jahrhunderte hinweg intensive Beziehungen, insbesondere intensive kulturelle Beziehungen gegeben. Wir sind froh und dankbar, dass sich diese Beziehungen zwischen unseren Ländern als Mitglieder der Europäischen Gemeinschaft in den nächsten Jahren in ganz enger Kooperation weiterentwickeln können. ({2}) Die Kollegin Dr. Margrit Spielmann hat am 29. April ihren 65. Geburtstag gefeiert. Dazu möchte ich ihr im Namen des ganzen Hauses noch einmal herzlich gratulieren und alles Gute wünschen. ({3}) Es gibt eine interfraktionelle Vereinbarung, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern: ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Haltung der Bundesregierung zur vorgeschlagenen Einrichtung eines Nationalen Sicherheitsrates ({4}) ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren ({5}) a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbes- serung der grenzüberschreitenden Forde- rungsdurchsetzung und Zustellung - Drucksache 16/8839 - Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus Hofbauer, Dirk Fischer ({6}), Dr. HansPeter Friedrich ({7}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Heinz Paula, Uwe Beckmeyer, Sören Bartol, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Zwölf-Tage-Regelung in Europa wieder einführen - Drucksache 16/9076 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({8}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Tourismus Redetext Präsident Dr. Norbert Lammert c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Daniel Bahr ({9}), Heinz Lanfermann, Dr. Konrad Schily, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Verbesserung der Finanzsituation der Kran- kenhäuser - Drucksache 16/9057 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Harald Terpe, Birgitt Bender, Elisabeth Scharfenberg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Krankenhäuser zukunftsfähig machen - Drucksache 16/9008 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit ZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD: Wachstum und Beschäftigung als Grundlage wirtschaftlicher Sicherheit - Haltung der Bundesregierung zur Entwicklung des Arbeitsmarktes und den Wachstumsperspektiven für Deutschland ZP 4 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU und der SPD Zukunft der Bahn, Bahn der Zukunft - Die Bahnreform weiterentwickeln - Drucksache 16/9070 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({10}) Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst Friedrich ({11}), Patrick Döring, Joachim Günther ({12}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Bahnprivatisierung zügig und konsequent beschließen - Drucksache 16/8774 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({13}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried Hermann, Bettina Herlitzius, Peter Hettlich, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Zukunft des Schienenverkehrs sichern - Drucksache 16/9071 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Marina Schuster, Dr. Werner Hoyer, Jens Ackermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Die Beziehungen zu Lateinamerika und den Staaten der Karibik stärken und den EULateinamerika/Karibik-Gipfel zu einer ehrlichen Bestandsaufnahme nutzen - Drucksache 16/9056 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({14}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ZP 8 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Anpassung von Dienst- und Versorgungsbezügen im Bund 2008/2009 ({15}) - Drucksache 16/9059 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({16}) Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung Verteidigungsausschuss Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO ZP 9 Erste Beratung des von den Abgeordneten Jörg van Essen, Dr. Max Stadler, Jens Ackermann, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Achtundzwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Abgeordnetengesetzes - Drucksache 16/9054 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({17}) Innenausschuss Rechtsausschuss Haushaltsausschuss ZP10 Erste Beratung des von den Abgeordneten Jörg van Essen, Dr. Max Stadler, Jens Ackermann, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes ({18}) - Drucksache 16/9055 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({19}) Innenausschuss Rechtsausschuss Haushaltsausschuss ZP11 Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundesbesoldungsgesetzes - Drucksache 16/1033 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({20}) Verteidigungsausschuss Haushaltsausschuss Präsident Dr. Norbert Lammert ZP12 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE: Haltung der Bundesregierung zu aktuellen Vorschlägen einer steuerlichen Entlastung von kleinen und mittleren Einkommen Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden. Außerdem ist vorgesehen, den Tagesordnungspunkt 10 - Flächenerwerbsänderungsgesetz - abzusetzen und den Tagesordnungspunkt 12 - Seelotsgesetz ohne Debatte an die Ausschüsse zu überweisen. Für die Reihenfolge bedeuten diese Veränderungen, dass die Tagesordnungspunkte 6 und 7, 8 und 9, 13 und 14, 15 und 16 sowie 17 und 18 jeweils getauscht werden müssen. Ich vermute, dass Sie damit einverstanden sind. Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Wir müssen über einen Antrag auf Erweiterung der Tagesordnung entscheiden. Die Fraktionen der CDU/ CSU und der SPD haben fristgerecht beantragt, die heutige Tagesordnung um die Beratung ihres Antrages sowie der Anträge der Fraktion der FDP und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Bahnreform auf den Drucksachen 16/9070, 16/8774 und 16/9071 zu erweitern. Die Vorlagen sollen mit einer Debattenzeit von eineinviertel Stunden im Anschluss an die heutige Aktuelle Stunde beraten werden. Die Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen haben dem Aufsetzungsantrag widersprochen. Darüber ist nun zu entscheiden. Ich erteile dazu das Wort der Kollegin Dr. Dagmar Enkelmann. ({21})

Dr. Dagmar Enkelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000479, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Fraktion Die Linke widerspricht der Aufsetzung des genannten Tagesordnungspunktes auf die Tagesordnung. Es geht um die Bahnreform. Es ist guter Brauch und auch in unserer Geschäftsordnung so geregelt, dass wir die Tagesordnung in der vorangehenden Sitzungswoche im Ältestenrat einvernehmlich verabreden. Das ist in der letzten Sitzungswoche auch so geschehen. Da war von der Bahnreform keine Rede. Am Dienstag nun erfuhren wir von der Koalition, dass dieser Punkt schnell zusätzlich auf die Tagesordnung gesetzt wird. Dem haben wir widersprochen; das ist vom Präsidenten völlig korrekt gesagt worden. Nun steht es der Mehrheit der Koalition in diesem Hause frei, die Tagesordnung je nach Belieben zu verändern. Die Opposition ist hierbei leider nur ein Stück Petersilie. Aber mit der Änderung der Tagesordnung - darauf möchte ich aufmerksam machen - wird der Weg dafür frei gemacht, das Thema Bahnprivatisierung sozusagen im Affentempo durch das Parlament zu jagen. ({0}) Denn wenn wir heute tatsächlich die erste Lesung durchführen, dann wird morgen eine Sondersitzung des Verkehrsausschusses, der eine Anhörung beantragen wird, stattfinden. Die Anhörung wird es bereits am Montag der nächsten Sitzungswoche geben, am Mittwoch wird die abschließende Beratung im Verkehrsausschuss folgen und auch noch in der gleichen Sitzungswoche die abschließende Beratung im Plenum. Das heißt, wir haben keine Gelegenheit, tatsächlich ausführlich über dieses Thema zu beraten. Ich kann mich gut an die erste Stufe der Bahnreform 1993 erinnern; es gibt noch Kollegen hier im Haus, die sich ebenfalls daran erinnern können. Wir haben hier monatelang darüber beraten. Es gab mehrere Berichterstatterrunden und Gespräche mit Vertretern aus Ministerien, der Bahn usw. usf. Wir haben hier lange beraten und hatten auch in den Fraktionen lange Gelegenheit, darüber zu beraten. Diese Gelegenheit ist jetzt durch dieses Tempo nicht gegeben. Deswegen widersprechen wir der Aufsetzung auf die Tagesordnung. ({1}) Nun darf man sich, glaube ich, berechtigt fragen: Warum eigentlich diese Eile? Warum wollen Sie dieses Tempo? Haben Sie möglicherweise Sorge, dass sich der öffentliche Widerstand gegen die Bahnprivatisierung verstärkt, oder - jetzt schaue ich vor allem zu den Kolleginnen und Kollegen der SPD - hat die Fraktionsspitze Sorge, dass sich auch der Widerstand in der SPD-Fraktion verstärkt? ({2}) Denn so langsam, Kollege Struck, sickert durch, dass die Belange der Beschäftigten im Tarifvertrag nicht eindeutig geregelt sind. So langsam sickert auch durch, dass es möglicherweise nicht bei einer Privatisierung von 24,9 Prozent bleiben wird. Die Kanzlerin hat ja eindeutig gesagt, dass es für sie der Einstieg ist, dem Weiteres folgen wird. Wir wissen auch, dass es durch die Privatisierung der Kapitaltochter möglich sein wird, weitere Tochtergesellschaften zu gründen. Das heißt, der Weg für eine weitere Privatisierung der Bahn wird frei gemacht. Ich finde es interessant, dass Kollege Mehdorn ({3}) inzwischen klar gesagt hat: von wegen Geld für die Sanierung der Bahnhöfe ausgeben! Kollege Mehdorn hat auch eindeutig gesagt, er möchte weitere Logistikunternehmen in der Welt kaufen. Deswegen wollen Sie das Thema so schnell und so reibungslos wie möglich durch das Parlament bringen. Das ist mit uns nicht zu machen. Hier geht es um öffentliches Eigentum und um öffentliche Daseinsvorsorge. Dazu brauchen wir eine ausführliche Beratung. Wir sind regelrecht gezwungen, uns ausführlich damit zu beschäftigen. Das ist mit Ihrem Vorschlag nicht gegeben. Danke. ({4})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Thomas Oppermann. ({0})

Thomas Oppermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003820, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Verehrte Frau Enkelmann, Ihr Geschäftsordnungsantrag ist der durchsichtige Versuch, das Verfahren in einer Situation, in der Sie in der Sachdebatte nicht mehr durchdringen, zu kritisieren. ({0}) Die Koalition hat ein Konzept für eine Bahnreform vorgelegt, bei der ein modernes Staatsunternehmen entsteht mit einer limitierten privaten Kapitalbeteiligung in Höhe von 24,9 Prozent, bei der das private Kapital hilft, das Wachstum für die DB AG zu ermöglichen, das Eigenkapital zu stärken und neue Investitionen vorzunehmen. ({1}) Das sichert auch die 230 000 Arbeitsplätze bei der DB AG. Ich weiß nicht, warum Sie meinen, wir müssten uns so viel Zeit nehmen, um das sicherzustellen. ({2}) Es wird einen Tarifvertrag geben, der diese Arbeitsplätze bis 2023 sichert. Dies ist ein Konzept, das Hand und Fuß hat und durchdacht ist. Gegen dieses Konzept passen Ihre alten Argumente gegen die schlichte Privatisierung überhaupt nicht mehr. Deshalb kritisieren Sie das Verfahren. Das Verfahren ist aber völlig in Ordnung. ({3}) Im Ausschuss ist in dieser Woche gründlich darüber diskutiert worden. Der Ausschuss hat einstimmig - ich wiederhole: einstimmig; Ihre Leute haben nicht einmal dagegengestimmt - bei Enthaltung der Linken dafür gestimmt, eine Expertenanhörung durchzuführen. Es wird also eine Anhörung stattfinden, und dieses Thema wird sorgfältig beraten. Das ist kein „Affentempo“, wie Sie es genannt haben. Das ist auch kein ICE-Tempo. Das ist normales Regionalexpresstempo. ({4}) Der Bundestag muss gründlich diskutieren, aber er muss auch entscheiden. Das wird in diesem Monat passieren. Deshalb bitte ich Sie, den Antrag von Frau Enkelmann zurückzuweisen. Vielen Dank. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für den Aufsetzungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD? - Wer stimmt gegen den Antrag? - Dann ist der Aufsetzungsantrag mit der Mehrheit des Hauses an- genommen. Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 d auf: a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Cajus Caesar, Marie-Luise Dött, Dr. Christian Ruck, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Heinz Schmitt ({1}), Marco Bülow, Dirk Becker, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Weltnaturschutzgipfel 2008 in Bonn - Biologische Vielfalt schützen, nachhaltig und gerecht nutzen - zu dem Antrag der Abgeordneten Angelika Brunkhorst, Michael Kauch, Horst Meierhofer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Leitlinien für den internationalen Artenund Lebensraumschutz im Rahmen des Übereinkommens über die biologische Vielfalt - zu dem Antrag der Abgeordneten Renate Künast, Undine Kurth ({2}), Ulrike Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Erhalten, was uns erhält - Die UN-Konferenzen zur biologischen Sicherheit und zum Übereinkommen über die biologische Vielfalt zum Erfolg machen - zu dem Antrag der Abgeordneten Angelika Brunkhorst, Michael Kauch, Horst Meierhofer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Naturschutz praxisorientiert voranbringen Entwicklung der Wildtiere in Deutschland - zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Nationale Strategie zur biologischen Vielfalt - Drucksachen 16/8756, 16/8878, 16/8890, 16/8077, 16/7082, 16/9106 Berichterstattung: Abgeordnete Josef Göppel Heinz Schmitt ({3}) Lutz Heilmann Undine Kurth ({4}) b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({5}) zu dem Antrag der Abgeordneten Angelika Brunkhorst, Michael Kauch, Birgit Homburger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Präsident Dr. Norbert Lammert Allgemeine Grundsätze für den Naturschutz in Deutschland - Drucksachen 16/3099, 16/7278 Berichterstattung: Abgeordnete Josef Göppel Dirk Becker Lutz Heilmann Undine Kurth ({6}) c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Lutz Heilmann, Eva Bulling-Schröter, Hans-Kurt Hill, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE UN-Biodiversitätsgipfel durch Vorreiterrolle beim Schutz der biologischen Vielfalt und fai- ren Nord-Süd-Ausgleich zum Erfolg führen - Drucksache 16/9066 - d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Thilo Hoppe, Bärbel Höhn, Undine Kurth ({7}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Tropenwaldschutz braucht solide Finanzierung - Entwaldung vermeiden, Klima- und Biodiversität schützen - Drucksache 16/9065 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({8}) Finanzausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung über eine Nationale Strategie zur biologischen Vielfalt liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Kollegen Heinz Schmitt für die SPD-Fraktion. ({9})

Heinz Schmitt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002783, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es geht heute nicht nur um den Naturschutz, sondern auch um die Vielfalt des Lebens auf unserer Erde. Es ist durchaus angebracht, dass das Publikum auch nach der Geschäftsordnungsdebatte hier bleibt. Denn als Gastgeber der 9. Konferenz der Vertragsstaaten des Abkommens zur Biodiversität wird Deutschland in den nächsten Tagen und Wochen eine wichtige Rolle spielen; die Abkürzung für „Convention on Biological Diversity“ lautet übrigens CBD. Deutschland hat als Gastgeber dieses höchsten Beschlussorgans eine wichtige Rolle, weil sich die internationale Staatengemeinschaft vorgenommen hat, den rasant fortschreitenden Verlust an Biodiversität bis zum Jahre 2010 zu stoppen bzw. ihn zumindest zu bremsen. Es ist auch aus einem anderen Grunde wichtig, dass diese Konferenz mitten in Europa stattfindet: Biodiversität ist für die Zukunft der Menschheit ein so wichtiges Thema, dass es aus der Nische von Expertenrunden heraus muss. Biodiversität verdient genauso große Aufmerksamkeit wie die Gefahren, die durch den Klimawandel verursacht werden. Vom Verlust der Arten sind keineswegs nur die sogenannten Entwicklungsländer betroffen. Biologische Vielfalt ist auch für die Industriestaaten von existenzieller Bedeutung. ({0}) Der Begriff „Biodiversität“ steht zum einen für die Schönheit unserer Erde und für die Vielfalt von Tieren und Pflanzen; Sie alle haben sicherlich schon einmal den wunderschönen Film „Unsere Erde“ gesehen, in dem die Vielfalt der Tier- und Pflanzenwelt eindrucksvoll dargestellt wird. Zum anderen steht dieser Begriff für Lebensräume, in denen unterschiedlichste Lebewesen perfekt zusammenspielen. Es geht dabei um genetische Informationen, die Tiere und Pflanzen befähigen, sich an unterschiedlichste Lebensbedingungen anzupassen. Das ist eine Fähigkeit der Natur, in die wir sehr große Hoffnungen setzen, in die wir unsere Hoffnungen allerdings auch setzen müssen. Denn wir hoffen, dass es uns diese Fähigkeit der Natur vielleicht ermöglicht, Schäden, die durch Übernutzung und Zerstörung natürlicher Lebensgrundlagen entstanden sind, aufzufangen und auszugleichen. Ich spreche bewusst von „Hoffnungen“. Denn wir wissen nicht, ob und mit welchem Aufwand all das, was uns die Natur kostenlos und in ausreichendem Maße zur Verfügung stellt, ohne Weiteres ersetzbar ist. Zu diesen Dienstleistungen der Natur, wie man sie nennt, gehören zum Beispiel der Sauerstoff aus den grünen Lungen der Wälder, den wir einatmen, Nahrungsmittel, die Energie von Feldern und aus Meeren und Rohstoffe für Arzneimittel aus Pflanzen. Durch die Erhaltung der Biodiversität soll also gewährleistet werden, dass wir die Grundlagen unseres Lebens auch morgen und übermorgen noch in Anspruch nehmen können. Von der Vielfalt des Lebens erhoffen wir uns darüber hinaus Lösungen für die drängendsten Probleme der Menschheit. Wir müssen die Ernährung der Weltbevölkerung - bis zum Jahr 2050 ist ein Wachstum auf 9 Milliarden Menschen zu erwarten - sicherstellen. Wir müssen dem Klimawandel begegnen. Damit habe ich nur die größten Baustellen benannt. Es geht also darum, die biologische Vielfalt so weit wie möglich zu erhalten. Das ist für uns, für die ganze Menschheit, überlebenswichtig; das muss die Staatengemeinschaft begreifen. Daher ist dem Thema ein entsprechender Stellenwert einzuräumen. Heinz Schmitt ({1}) Als Gastgeber einer Konferenz zur biologischen Vielfalt muss man zunächst einmal die eigenen Hausaufgaben gemacht haben. Daher begrüßen wir es, dass die Bundesregierung im November letzten Jahres die Nationale Strategie zur biologischen Vielfalt beschlossen hat. Diese Strategie umfasst ambitionierte, konkrete Ziele und Maßnahmen, mit denen die biologische Vielfalt in Deutschland geschützt und gesichert werden soll. Dabei werden zeitliche Vorgaben für die Umsetzung gemacht. Damit hat Deutschland einen wichtigen Schritt für den Naturschutz und für eine nachhaltige Nutzung der Natur im eigenen Lande getan. Das war eine wichtige Voraussetzung dafür, dass Deutschland den Vorsitz der CBD-Konferenz im Mai übernehmen kann. Wir Sozialdemokraten erhoffen uns von der 9. Vertragsstaatenkonferenz, dass wir auch international deutlich vorankommen. Wir haben mit unserem Koalitionspartner den vorliegenden Antrag formuliert. Wir brauchen zum Beispiel Fortschritte - das ist Teil unseres Antrags - im Hinblick auf die Gewährleistung eines gerechten Zugangs zu genetischen Ressourcen; die Vorteile aus der Nutzung genetischer Ressourcen sind gerecht zu verteilen. In Bonn sollen Regeln für den Zugang und für den Vorteilsausgleich erarbeitet werden. Wir wollen neue Möglichkeiten der Finanzierung erschließen, um auch dadurch natürliche Lebensräume zu erhalten. Dies dient gleichermaßen dem Arten- und dem Klimaschutz. Wir brauchen mehr Schutzgebiete zu Land und zu Wasser sowie, wenn man so will, neue World Wide Webs der Biodiversität. ({2}) Insbesondere auf dem Meer, wo bisher nur 1 Prozent der Flächen geschützt ist, müssen wir noch weit mehr tun. Es gibt also in den zwei Wochen der CBD-Konferenz in Bonn einiges zu stemmen. Mir ist es wichtig, dass wir beim Thema Biodiversität den Blick nicht nur in die Ferne richten. Wir müssen auch vor der eigenen Haustür kehren. Für mich sind Energie- und Ressourceneffizienz wesentliche Bausteine bei der Erhaltung der Biodiversität. Deshalb müssen wir unsere Konsum- und Wegwerfgesellschaft stärker hinterfragen. Wir müssen aufhören, unsere Luxusprobleme auf dem Rücken und zulasten von Entwicklungsländern zu lösen. Es gibt keine Rechtfertigung dafür, dass billiges Turbofleisch und Spritschlucker auf den Straßen hierzulande zu einer Konkurrenz beim Anbau von Nahrungsmitteln führen. ({3}) Ich begrüße den in diesen Zusammenhängen behutsamen und sensiblen Umgang unseres Umweltministers. Ich wünsche der Bundesregierung, dass sie viele der anspruchsvollen Ziele während der Konferenz in Bonn erreichen wird. Wir, das Parlament, freuen uns, dass wir diese Arbeit aktiv begleiten dürfen und in der heutigen Debatte unsere Übereinstimmung hinsichtlich der Ziele deutlich machen können. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({4})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Angelika Brunkhorst ist die nächste Rednerin für die FDP-Fraktion. ({0})

Angelika Brunkhorst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003675, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Natur ist unser größter Schatz. Wir stehen unverändert in der Pflicht, die natürlichen Lebensgrundlagen der kommenden Generationen in ökologischer, ökonomischer, aber auch sozialer Hinsicht entschlossen und umsichtig zu bewahren und weiterzuentwickeln. Wir müssen unseren Kindern und Kindeskindern eine artenreiche Natur hinterlassen, so dass auch sie noch von den Ökosystemdienstleistungen der Natur profitieren können. ({0}) Daher müssen wir den Verlust an biologischer Vielfalt aufhalten. Jede verschwundene Art - Tierart oder Pflanzenart ist unwiederbringlich. Das Aussterben von Pflanzen und Tieren - das muss klar sein - kann man anders als andere Umweltzerstörungen nicht rückgängig machen. Indem wir die Biodiversität schützen, sichern wir Nutzungsoptionen für die Zukunft sowohl für die Ernährung als auch für die Gesundheit und die Produktentwicklung. Ein Beispiel: Eine Verarmung der ökologischen Facetten bei den Nutztieren und den Nutzpflanzen würde ihre potenzielle Widerstandsfähigkeit gegen Krankheitserreger und Schädlinge mindern. Im Hinblick auf die Verfügbarkeit von Heilmitteln sind pflanzliche Wirkstoffe vielleicht eines Tages wichtig, um Krankheiten, die wir heute noch nicht kennen, bekämpfen zu können. Bereits heute ist die Natur Vorbild für Hightechprodukte. Auch für die innovativen Produkte der Zukunft werden wir von der Natur viel lernen können. Veränderungen in Bezug auf die Biodiversität hat es in der Erdgeschichte immer gegeben: Es sind Arten entstanden, es sind Arten verschwunden. Dieses Entstehen und Verschwinden von Arten ist ein Teil der Natur, auch ohne dass der Mensch eingreift. Es geht nicht darum, Momentaufnahmen zu konservieren, entscheidend ist vielmehr, dass wir die Fähigkeit der Ökosysteme, sich verändernden Gegebenheiten - zum Beispiel einem sich verändernden Klima - anzupassen, erhalten. Was müssen wir tun? Wir müssen die Populationen, die genetischen Ressourcen und die Lebensräume schützen. Wir haben in dieser Hinsicht schon eine Menge getan: Es gibt die FFH-Richtlinie. Es gibt die Vogelschutzrichtlinie, die nicht immer zur Freude aller umgesetzt wird; aber es gibt sie, und wir haben da einiges erreicht. Wir müssen die Schutzgebiete nun weiter vernetzen. ({1}) Wir nehmen die Leistungen der Natur in Anspruch und dies oft als scheinbar kostenloses Gut. Wir müssen uns aber immer wieder bewusst machen, dass die ökonomische Bewertung und damit auch die soziale BedeuAngelika Brunkhorst tung der Natur gar nicht hoch genug angesetzt werden kann. Deswegen möchte ich sechs Forderungen anführen, die uns Liberalen besonders wichtig sind: Erstens. Der Schutz der Biodiversität kann nicht allein staatliche Aufgabe sein, er ist ein gesamtgesellschaftliches Anliegen, er erfordert die Anstrengungen aller gesellschaftlichen Gruppen: der Industrie, der Landund Forstwirtschaft, letztlich jedes einzelnen Bürgers. Private Initiativen sind immer willkommen; so etwas kann nur helfen. ({2}) Zweitens. Die Forschungsanstrengungen müssen verstärkt und besser koordiniert werden. Wir haben nach wie vor ein enormes Wissensdefizit, das wir durch konzertierte und international vernetzte verstärkte Forschungsaktivitäten beheben müssen. Wir müssen die Biodiversität als eigenständiges Forschungsgebiet anerkennen und dieses eigenständige Forschungsgebiet personell und materiell gut ausstatten. Ich gehe davon aus, dass wir die politischen Entscheidungen der Zukunft nur auf fundierter, belastbarer Datengrundlage treffen können. Drittens. Wir halten es für wichtig, den ökonomischen Nutzen der biologischen Vielfalt gerade für die Schwellen- und Entwicklungsländer herauszustellen, um auch ihr Interesse an der wirtschaftlichen Nutzung zu wecken. Die Vorteile, die aus der Nutzung genetischer Ressourcen resultieren, müssen natürlich angemessen honoriert werden. Beim Natur- und Artenschutz sollte deshalb mit den indigenen Völkern vor Ort zusammengearbeitet werden. ({3}) Wir sind ja dabei, ein internationales Regelwerk auf den Weg zu bringen, welches den Zugang zu genetischen Ressourcen - und damit den Genuss der Vorteile, die daraus entstehen - einerseits und einen gerechten Ausgleich für die Nutzung andererseits rechtsverbindlich und zugleich unbürokratisch regelt. Es geht um das sogenannte ABS-Regime - ABS steht für Access and Benefit Sharing -, das auf der bevorstehenden Konferenz und danach vorangebracht werden muss. Dies muss aktiv geschehen; denn natürlich ist das ABS-Regime nicht ohne Schwierigkeiten auf den Weg zu bringen. Viertens. Wir wollen das Verständnis der Menschen in unserem Land für die ökologischen Zusammenhänge verbessern. Nur wer die Umwelt kennt, nur wer weiß, was in der Natur wie funktioniert, weiß den Wert der Natur zu schätzen und wird die Natur schützen wollen. Darum ist es wichtig, die Umweltbildung zu stärken, ganz früh anzufangen, noch in den Kindergärten. Gerade die jungen Menschen müssen den Wert der Natur erleben können. Es muss attraktiv sein, sich mit diesen Themen zu befassen. Fünftens. Ein ganz dringender Handlungsbedarf besteht aus unserer Sicht im Bereich der großen Ökosysteme, also für den Schutz der Wälder und der großen Meere als der größten Reservoire der globalen Artenvielfalt. Neben vielen Teilaspekten ist uns hier insbesondere wichtig, dass die Reproduktionsmöglichkeiten der betreffenden Ökosysteme nicht überfordert werden. Wir brauchen sowohl im maritimen Bereich als auch für den Erhalt der Wälder Schutzgebiete. Diese großen Schutzgebiete müssen durch spezielle Fonds abgesichert werden. Erste Überlegungen dazu gibt es. Der ITT-Fonds in Ecuador ist ein Beispiel dafür. ({4}) Ein ganz wichtiger Punkt für mich ist, dass auch in Schutzgebieten Forschung unter Auflagen möglich sein sollte. Wissenschaftler beklagen zunehmend, dass sie ausgesperrt werden. Das darf nicht der Fall sein. Die Wissenschaftler müssen Zugang zu allen Schutzgebieten haben. ({5}) Sechstens. Für den Weg von der Biodiversitätsstrategie hin zur Umsetzung brauchen wir natürlich konkrete Arbeitsprogramme. Dabei kommt den vielen zusätzlichen Akteuren auf den verschiedenen politischen und gesellschaftlichen Ebenen natürlich eine besondere Bedeutung zu. Ich nenne die Bundesländer, die Kommunen, die Verbände, die Wirtschaft und letztlich auch die Bürger. Hier haben wir Liberale ganz besonders den Anspruch, dass ein Wettbewerb der Lösungen zugelassen wird; denn die Menschen vor Ort wissen teilweise sehr gut Bescheid und können bestimmte Leitlinien hervorragend umsetzen. ({6}) Zum Schluss noch einmal zur COP 9 in Bonn. Deutschland übernimmt bei der Konferenz den Vorsitz. Das ist eine große Verantwortung. Ich denke, insbesondere Bundesumweltminister Gabriel wird sich an den Konferenzergebnissen messen lassen müssen. Wir erwarten natürlich insbesondere Fortschritte bei den Verhandlungen über das ABS-Regime. Das habe ich schon gesagt. Ich denke, dabei müssen wir auch so korrekt sein, zu sagen: Wir müssen zwar konkrete Vereinbarungen treffen, aber sie müssen auch erfüllbar sein. ({7}) Es nützt uns nichts, utopische Ziele zu vereinbaren. Ich wünsche mir, dass das Thema Biodiversivität noch stärker kommuniziert wird und dass es sich noch stärker im Bewusstsein und in den Herzen der Menschen verankert. Uns allen wünsche ich in Bonn einen guten internationalen Erfahrungsaustausch und konkrete Vereinbarungen zum Wohle unserer Schatzkiste Natur. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({8})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun die Kollegin Katherina Reiche, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Katherina Reiche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003209, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Weltnaturschutzgipfel in Bonn muss zu einem Erfolg werden. Klimaschutz und Artenschutz gehören zusammen. Wir sind verpflichtet, diese Konferenz zu einem Erfolg zu führen, um beidem gleichermaßen gerecht zu werden. Schopenhauer hat einmal sinngemäß formuliert, dass man, wenn man der Natur die Daumenschrauben anlegt, auch hinhören muss, was die Natur sagt. Was uns die Natur sagt, ist ziemlich unmissverständlich. In den vergangenen 50 Jahren haben wir das Ökosystem schneller und weitreichender verändert als je zuvor. Dies hat zu einem beträchtlichen, ja zum Teil irreversiblen Verlust der Vielfalt des Lebens auf unserem Planeten geführt, der wiederum unser Leben maßgeblich beeinträchtigt. Manch einer wird sagen: Gut, das hat es in der Vergangenheit auch schon gegeben. - In einer Theorie wird davon ausgegangen, dass ein Meteorit auf die Erde einschlug, aufgrund dessen die Dinosaurier ausgestorben sind. Bildlich gesprochen schlägt hier ein Meteorit seit 50 Jahren permanent auf die Erde ein. Als Folge daraus hat sich das Artensterben - sehr konservativ gerechnet mindestens um den Faktor 100 gegenüber dem normalen Verlauf innerhalb der Evolution beschleunigt. Das ist dramatisch. Gegenwärtig sind wir in unserem politischen Tagesgeschäft damit beschäftigt, den Klimawandel in halbwegs verträglichen Bahnen zu lassen. Ich sagte bereits, dass der ungebremste Klimawandel und der Verlust von Artenvielfalt unmittelbar miteinander verbunden sind. Die ökologische Uhr tickt beharrlich und schnell, aber sehr leise. Ein geschlossenes, gemeinsames Handeln ist also gefragt. Wenn man sieht, wie viele Millionen Zuschauer durch Filme wie Deep Blue, Unsere Erde oder auch Die Reise der Pinguine in die Kinosäle gehen, so hat das bestimmt mit den fantastischen Bildern zu tun, vielleicht aber auch mit einer Vorahnung, ja, Furcht vieler Menschen, Zeuge eines unwiederbringlichen Verlustes von Artenvielfalt und der Schönheit unseres Planeten zu sein. Unsere Fraktion hat auch - maßgeblich durch den Kollegen Ruck - einen sehr erfolgreichen Kongress organisiert, an dem Experten aus aller Welt teilgenommen haben, die uns beispielhaft das Artensterben und den Klimawandel sowie deren Auswirkungen sehr deutlich vor Augen geführt haben. Biodiversität ist die Grundlage unseres gewohnten Lebens auf dem Blauen Planeten und eine der wichtigsten Säulen der nachhaltigen Entwicklung. Der weltweite Reichtum an Lebensformen ist unsere eigentliche Lebensgrundlage, ohne die es kein ausreichendes Trinkwasser, keine ausreichende Lebensmittelversorgung, Medizin und Kleidung gibt. Auch bei Naturkatastrophen sorgt die Artenvielfalt dafür, dass der Zyklus des Lebens nicht abbricht. Es gibt noch eine weitere Dimension. Wir diskutieren zurzeit intensiv die Folgen von Armut und Hunger. Gerade die Ärmsten der Welt sind auf Artenvielfalt angewiesen. Denn wenn die Artenvielfalt klimatisch beeinträchtigt wird und das Wasser knapper wird, dann hat das katastrophale Folgen. Allein auf unserem Nachbarkontinent Afrika könnten bis zum Jahr 2020 250 Millionen Menschen betroffen sein. Welche Migrationsbewegungen das auslösen kann, mag man sich gar nicht vorstellen. Deshalb brauchen wir - auch in bestverstandenem Eigeninteresse - eine präventive, vorausschauende Umweltdiplomatie. ({0}) Damit komme ich zur Naturschutzkonferenz in Bonn, die ab 19. Mai dieses Jahres in Bonn stattfinden wird. Sie wird maßgeblich von vier Fragen geprägt sein: Erstens. Wie können wir die biologischen Ressourcen stärker als bisher den Ländern zugutekommen lassen, aus denen sie stammen? Zweitens. Wie kann mit innovativen Ansätzen erreicht werden, dass zum Schutz der Artenvielfalt mehr Geld zur Verfügung steht? Drittens. Wie können wir das von Deutschland mitinitiierte, weltweite Netz von Schutzgebieten erweitern, und gelingt auch ein Schutz maritimer Lebensgebiete? Viertens - last but not least - haben sich die bisherigen Beschlüsse zum Schutz der Wälder als äußerst fruchtbar erwiesen. Sie müssen aber insbesondere mit Blick auf den Klimawandel dringend erweitert werden. Gerade beim Thema Wald besitzen wir in Deutschland weltweit wohl einmalige Kompetenzen. ({1}) Auf der 9. Vertragsstaatenkonferenz in Bonn muss mehr erreicht werden als in den vergangenen 16 Jahren seit dem Erdgipfel 1992 in Rio, der maßgeblich von Klaus Töpfer und Helmut Kohl mitgeprägt wurde und immer noch eine wichtige Tragsäule internationaler Umweltpolitik ist. Rio war definitiv ein Meilenstein für die Integration von Umwelt- und Entwicklungsbestrebungen. Auf diesem Weg müssen wir weiter vorangehen. Ich glaube auch, dass die Konferenz in Bonn mit die letzte Gelegenheit ist, den Beschluss der Staats- und Regierungschefs umzusetzen, der auf dem Gipfeltreffen von Johannesburg im Jahre 2002 beschlossen wurde, nämlich dem Verlust der biologischen Vielfalt bis 2010 entscheidend entgegenzutreten. Rund ein Fünftel der globalen Treibhausgasemissionen ist auf die Waldzerstörung zurückzuführen. Wenn uns beim Thema Waldschutz kein entscheidender Fortschritt gelingt, dann wird unser Blauer Planet wesentliche Teile seiner grünen Lunge einbüßen. Deutschland hat mit seiner glaubwürdigen Umweltund insbesondere Klimaschutzpolitik weltweit großes Vertrauen aufgebaut. Dieses Kapital des internationalen Vertrauens können wir nun investieren, wenn es darum geht, den Schutz der weltweiten Artenvielfalt zu verbessern. Zwar haben wir selbst mit nur circa 4 Prozent einen relativ geringen Anteil an der weltweiten Artenvielfalt, aber auch bei uns steht nicht alles zum Besten. 36 Prozent der Tierarten und 27 Prozent der Farn- und Blütenpflanzen gelten als gefährdet. Aber Deutschland ist in den vergangenen Jahren beim Artenschutz aktiv Katherina Reiche ({2}) gewesen. Mit unserer Nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt, die im November 2007 durch das Kabinett verabschiedet wurde, haben wir ein Zeichen gesetzt, über 300 konkrete Ziele benannt und über 400 Maßnahmen beschlossen. Die eigentlichen Biodiversitätsbrennpunkte mit rund 80 Prozent aller Tier- und Pflanzenarten der Erde befinden sich aber nicht hier, sondern in den Schwellen- und Entwicklungsländern Afrikas, Lateinamerikas und Asiens. Wir müssen diese Staaten beim verantwortungsbewussten Umgang mit der Natur unterstützen, damit die Zentren der biologischen Vielfalt nicht unwiderbringlich verschwinden. Ich möchte aus Sicht meiner Fraktion die Schritte benennen, die dabei wichtig sind. Wald- und Biodiversitätsschutz müssen noch stärker durch die klassischen Instrumente der Entwicklungspolitik flankiert werden. Klima- und Biodiversitätsschutz müssen besser verzahnt werden, um effiziente Maßnahmen für beide Bereiche zu identifizieren und umzusetzen. Eine konzertierte Initiative der Industriestaaten ist notwendig, um die überfällige Umsetzung der CBD-Beschlüsse im Bereich Wald und Schutzgebiete sicherzustellen. Den Emissionshandel in der Europäischen Union sollten wir ab 2013 auch für andere Zertifikate öffnen, um Möglichkeiten der Naturschutzfinanzierung zu fördern. Dies dient dem Schutz der Artenvielfalt. Finanzielle Mittel müssen effizient eingesetzt werden, um Parallelstrukturen zu verhindern. Staatliche Mittel sollten intelligent in Partnerschaften mit der Wirtschaft und dem privaten Naturschutz zum Schutz der Biodiversität investiert werden. Gleichzeitig brauchen wir eine gesamtgesellschaftliche Allianz zur Bewahrung der Artenvielfalt, der sich auch Unternehmen anschließen. Zum Abschluss möchte ich Sie herzlich bitten, gemeinsam in den kommenden Wochen alles dafür zu tun, dass die Konferenz in Bonn ein Erfolg wird. Ich wünsche der Frau Bundeskanzlerin und dem Bundesumweltminister dabei eine glückliche Hand und größtmögliches Durchsetzungsvermögen. Ich bin sicher, dass Sie, die Regierung, und alle anderen, die an diesem Prozess beteiligt sind, mit Unterstützung aus der Großen Koalition rechnen können. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Lutz Heilmann, Fraktion Die Linke. ({0})

Lutz Heilmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003766, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Deutschland, der Saubermann beim Schutz der Artenvielfalt? Diesen Eindruck möchte die Bundesregierung derzeit mit ihrer Hochglanzkampagne zur 9. Vertragsstaatenkonferenz des Übereinkommens zum Schutz der Artenvielfalt in zwei Wochen in Bonn vermitteln. Ihre nationale Strategie zum Schutz der Artenvielfalt feiern Sie jedenfalls wie das achte Weltwunder. ({0}) Eine solche Strategie vorzulegen, war aber eine der Verpflichtungen des Übereinkommens. Deutschland muss mit seiner Strategie damit Rechenschaft ablegen, wie es die Verpflichtungen des Übereinkommens in Deutschland gestalten will. Schauen wir uns die Strategie etwas genauer an. Dafür, dass mehrere Bundesregierungen 15 Jahre dafür gebraucht haben, ist das Ergebnis recht mager. Ich befürchte sogar: Ohne den Druck der in Bonn stattfindenden Vertragsstaatenkonferenz gäbe es die Strategie heute noch nicht. Liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen, ich frage Sie: Warum hat das so lange gedauert? Ich gebe durchaus zu, dass die Strategie in weiten Teilen ein prosaisches Meisterwerk ist. Aber immer wenn es ans Eingemachte und ums Konkrete geht: Fehlanzeige! Es fehlen erstens konkrete Maßnahmen, um die Ziele zügig und effektiv zu erreichen, zweitens die Verbindlichkeit der Strategie und die konkrete Überprüfbarkeit der Ziele, drittens Sanktionsmöglichkeiten zur Durchsetzung der Ziele, viertens ein Konzept für ein Biodiversitätsmonitoring und fünftens vor allem eine wirksame öffentliche Kontrolle. Deshalb fordern wir die Änderung des Umweltrechtsbehelfsgesetzes. Das dort enthaltene Drittschutzerfordernis als Klageberechtigung muss abgeschafft werden. ({1}) Nur wenn Ihnen die Naturschutzverbände auf die Finger hauen und nicht nur schauen können, werden Sie sich wirklich anstrengen. ({2}) Die Begeisterung der Naturschutzverbände über Ihre Strategie hält sich im Übrigen in Grenzen. Ich zitiere den Vorsitzenden des Bundes für Umwelt und Naturschutz Deutschland, Professor Hubert Weiger: Seit Jahrzehnten bekannte, vielfach gesetzlich bereits vorgeschriebene Ziele und Allgemeinplätze werden erneut als Vision beschrieben, die man lediglich anstrebt. Ich denke, dieser Verriss erster Güte spricht für sich. Aber Staatssekretär Müller hat die Auffassung der Bundesregierung gestern im Umweltausschuss auf den Punkt gebracht: Es sei schon ein Wert an sich, dass die Strategie existiert. Ich sage Ihnen: Es reicht uns nicht. Es reicht nicht, um beim Erhalt der biologischen Vielfalt voranzukommen, und es reicht erst recht nicht für eine verantwortungsbewusste Regierungsarbeit. ({3}) Aber selbst den Koalitionsfraktionen scheint das nicht zu reichen. Anders kann ich Ihren Entschließungsantrag, der gestern im Umweltausschuss vorlag, nicht interpretieren. Einige Zahlen: In Deutschland sind 30 Prozent von den 14 000 in der Roten Liste aufgeführten Arten in ihrem Bestand bedroht. 70 Prozent der Biotope sind gefährdet. Und was tun Sie? Ich möchte Sie an die kleine Novelle des Bundesnaturschutzgesetzes im letzten Jahr erinnern. Mit der haben Sie im Artenschutz eine Zweiklassengesellschaft geschaffen. Nach nationalem Recht geschützte Arten verdienen anscheinend einen deutlich geringeren Schutz als nach europäischem Recht geschützte Arten. Das wollen Sie nun im Zuge der großen Novelle mit der Schaffung des Umweltgesetzbuches beheben - so Ihre damalige Äußerung. Ob das Umweltgesetzbuch in dieser Wahlperiode noch das Licht der Welt erblickt, steht indes in den Sternen. Herr Minister, momentan treten dabei Ihre bayerischen Kollegen und derzeitigen Wahlkämpfer Seehofer und Glos kräftig auf die Bremse. Denen oder ihrer Lobby ist unter anderem die Eingriffsregelung ein Dorn im Auge. Gerade aber die Ausgleichsverpflichtung bei Eingriffen in die Natur hat sich in der Praxis als wirksames Mittel des Natur- und somit Artenschutzes erwiesen. Ich denke, hier wäre einmal ein Machtwort der Kanzlerin, die gerade schwatzt, erforderlich. ({4}) Ein Indikator für die Bedrohung der Artenvielfalt ist der anhaltend hohe Flächenverbrauch von 110 Hektar pro Tag. Angestrebt haben Sie einen Rückgang auf 30 Hektar pro Tag bis zum Jahr 2020. Davon sind Sie allerdings meilenweit entfernt. Konkret bedeutet das die massive Zerschneidung der Landschaft durch Straßenbau, neue Landebahnen, Industriegelände und Gewerbeund Wohngebiete auf der sogenannten grünen Wiese. Letztlich ist auch die industrielle Intensivnutzung durch Land-, Forst- und Fischereiwirtschaft für den Verlust der biologischen Vielfalt maßgeblich mitverantwortlich. ({5}) All das wird von Ihnen mit erheblichen Summen unterstützt. Wenn nur ein Bruchteil dieser Milliarden dem Naturschutz und dem Schutz der Artenvielfalt zur Verfügung gestellt würde, wären wir einen Schritt weiter. Aber was macht unser Umweltminister? Er kürzt, um die Konferenz in Bonn durchzuführen, erst einmal die Ausgaben für den Naturschutz in Deutschland. Dabei geht es auf der Konferenz auch ums Geld. 30 Milliarden Euro würde ein effektiver weltweiter Gebietsschutz bis zum Jahr 2015 kosten. Wir als Linke fordern die Bundesregierung auf, sich an der Finanzierung eines globalen Schutzgebietsnetzes in angemessenem Umfang und zügig zu beteiligen; ({6}) denn die angestrebte Schaffung eines globalen Schutzgebietsnetzes bis 2010 kommt kaum voran. Von besonderer Bedeutung ist der Schutz der letzten intakten Ur-, Mangroven- und Buchenwälder Mitteleuropas. Die müssen sofort unter Schutz gestellt werden. Wir brauchen endlich gesetzliche Regelungen, die die Einfuhr und den Handel von Urwaldhölzern aus illegalem Einschlag unter Strafe stellen. ({7}) Wir brauchen ein europäisches Buchenwaldschutz- und Aufforstungskonzept. Bis zum Jahr 2012 ist ein Schutzgebietsnetz für die Meere einzurichten. In diesen Schutzgebieten müssen die Müllentsorgung, der Abbau von Bodenschätzen, die Fischerei, die Förderung von Öl und Gas und die Entnahme von Sand und Kies ausgeschlossen werden. Herr Gabriel, ich weiß nicht, wie weit Sie mit Ihrer Freiwilligeninitiative „LifeWeb“ kommen werden. Ich frage mich aber, warum Sie den Mitgliedstaaten ein freiwilliges Engagement vorschlagen, wenn die Ausweisung der Schutzgebiete eine Verpflichtung des Übereinkommens ist. Eine Verpflichtung ist eine Verpflichtung. Da beißt die Maus keinen Faden ab. Daran ändert sich auch nichts, wenn Sie der Wirtschaft eine Freiwilligeninitiative schmackhaft machen wollen. Sie brauchen es niemandem schmackhaft zu machen. Sie müssen es fordern, weil Sie das Übereinkommen dazu verpflichtet. Mit Verlaub, Herr Minister, Ihr süffisanter Satz, dass sonst nämlich keiner käme, bedeutet, dass Sie dieser völkerrechtlich verbindlichen Zusage von 190 Staaten anscheinend keinen Wert beimessen. Die Beteiligung an der Schaffung des globalen Schutzgebietsnetzes ist kein freiwilliger Beitrag. Lassen Sie es, die Verbindlichkeit mit einer Freiwilligeninitiative inhaltlich zu unterwandern und rhetorisch aufzuweichen! ({8}) Ich komme nun zum ABS-Regime. Es geht dabei nicht um das Antiblockiersystem, das wir aus dem Auto kennen. Es geht vielmehr um einen gerechten Vorteilsausgleich. Vorteilsausgleich wofür? - Ich erkläre es kurz. Stellen Sie sich vor, irgendwo im brasilianischen Amazonasgebiet lebt eine Dorfgemeinschaft, die seit Jahrhunderten ein bestimmtes Pflanzenmittel zur Schmerzbekämpfung herstellt. Davon bekommt nun ein großer Pharmakonzern Wind und möchte das nutzen, um nach diesem Vorbild Tabletten herzustellen und dann natürlich - wir leben im Kapitalismus - gewinnbringend zu verkaufen. Bislang ist es in der Regel so, dass sich der Konzern das Rezept einfach aneignet - ich könnte auch sagen: klaut -, ohne der Dorfgemeinschaft einen Ausgleich für den aus dem Wissen gezogenen Vorteil zu geben. Dieser Vorteilsausgleich ist aber eine der Verpflichtungen des Übereinkommens zum Schutz der Artenvielfalt. Eine Regelung, wie der Vorteilsausgleich erfolgen soll, besteht noch nicht. Die Schaffung ist das Ziel der bevorstehenden Vertragsstaatenkonferenz. Wie soll das nun aussehen? Ganz einfach zusammengefasst kann man sagen: informieren, fragen, Vertrag schließen, zahlen. Wenn die Dorfgemeinschaft ihr Wissen nicht verkaufen will, ist eben Ebbe mit Geldverdienen. Wer sich dann das Wissen unrechtmäßig beschafft und verwendet, muss bestraft werden. Wir fordern die Bundesregierung auf, in den Verhandlungen der Vertragsstaatenkonferenz und während des zweijährigen Konferenzvorsitzes alles daran zu setzen, dass ein solch rechtlich verbindlicher Vorteilsausgleich geschaffen wird. ({9}) Dorfgemeinschaften - in Fachkreisen auch indigene und lokale Gemeinschaften genannt - sind dabei an den Verhandlungen voll zu beteiligen. Ihnen muss darüber hinaus das Recht gewährt werden, eine Patentierung auszuschließen sowie die Weitergabe an Dritte zu beschränken. ({10}) Die Länder und deren indigene und lokale Gemeinschaften, die eine hohe biologische Vielfalt zu bieten haben, sollen eben nicht verpflichtet werden, uns ihre Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Wir fordern in diesem Zusammenhang, insbesondere die Rolle sowie die Arbeit der Frauen bei der Nutzung und Verarbeitung von genetischen Ressourcen und der Anwendung von traditionellem Wissen zu achten und zu respektieren und dass ihnen für ihre Arbeit ein ordentlicher Lohn gezahlt wird. ({11}) Das vermisse ich selbst bei den Grünen, aber da vermisst man mittlerweile ja so einiges. Ein paar Gedanken zum Thema Agrotreibstoffe. Dabei kommt nach einer kräftigen Panne von Minister Gabriel jetzt die Losung, man möge die Diskussion doch bitte wieder auf den Boden der Tatsachen zurückholen. Weltweit würden ja nur 2 Prozent der landwirtschaftlichen Flächen für Agrosprit genutzt. Hauptursache für Abholzungen sei eher der Futtermittelanbau, also der große Fleischkonsum. Ich finde diese Argumentation recht platt. Natürlich gibt es eine Vielzahl anderer landwirtschaftlicher Nutzungen als den Anbau von Energiepflanzen. Die Nachfrage nach Nahrungs- und Futtermitteln wächst momentan weltweit, weil die Zahl der Menschen weiter wächst und weil viele Menschen zum Glück mehr, aber auch fleischlastiger essen. Gleichzeitig sinkt die Anbaufläche. Wer ein wenig von Marktmechanismen versteht, ({12}) der weiß, dass das Ganze zu steigenden Nahrungsmittelpreisen führen muss. Genau das geschieht derzeit. Genau in dieser Situation wollen die Industriestaaten noch zusätzlich zu den ganzen Problemen tropischen Agrosprit für ihre Autoarmada. „Bravo!“, kann ich da nur sagen. Da senden wir über die Rohstoffbörsen tolle Nachrichten in den Süden: Baut nicht mehr Bohnen und Reis, sondern Zuckerrohr und Soja an! Holzt eure letzten Wälder ab für Ethanol und Agrodiesel! Vertreibt die Kleinbauern! Warum das alles? - Weil sich unser Umweltminister nicht mit der Autoindustrie anlegen will. Da ist es vielleicht kein Zufall, dass er der EU-Kommission vorwirft, einen Wettbewerbskrieg gegen die deutschen Hersteller anzuzetteln. Denen wollten Sie mit dem Agrosprit ja einen Gefallen tun, damit diese weiter spritschluckende Kleinpanzer verkaufen können.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege, denken Sie bitte an die Zeit.

Lutz Heilmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003766, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Einen Gedanken noch. - Herr Gabriel, was sind Sie: Auto- oder Umweltminister? Machen Sie endlich Ihre Arbeit! Ich komme zum Schluss. ({0}) Deutschland muss noch viel tun, um Saubermann des Schutzes der Artenvielfalt zu werden. Dazu gehören erstens eine wirksame Strategie zum Schutz der Artenvielfalt, zweitens ein wirksamer Beitrag zur Schaffung eines globalen Schutzgebietsnetzes und drittens ein Starkmachen für einen gerechten Vorteilsausgleich für die Nutzung von Wissen und Natur. ({1}) Erreichen können wir das, indem Sie sich einen Ruck geben und dem Antrag meiner Fraktion zustimmen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche einen schönen Tag. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächste Rednerin ist die Kollegin Renate Künast, Bündnis 90/Die Grünen.

Renate Künast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003576, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach der bisherigen Debatte kann man sagen: Bei kaum einem Thema wird so viel wie beim Naturschutz geheuchelt. ({0}) Schauen wir uns die Debatte um das Umweltgesetzbuch an: Seit Jahrzehnten geführt - nichts passiert. Sicherung des nationalen Naturerbes - nichts passiert. Verabschiedung eines Waldgesetzes und wirtschaftspolitische Reformen, durch die der Wald geschützt werden soll nichts passiert. Novellierung des Jagdgesetzes - nichts passiert. Immer wieder wird auf die Agrarreform in Brüssel verwiesen, ({1}) auch gerade wieder. Herr Heilmann - speziell an Sie gerichtet -, unter uns gibt es noch Kollegen, die dem Braunkohletagebau durchaus positiv gegenüberstehen. Da kann man heutzutage nur sagen: Das ist Heuchelei bezüglich Naturschutz. ({2}) Das ist der Eindruck, den die bisherigen Reden bei mir erweckt haben. ({3}) - Wenn aus der SPD jemand „Elbvertiefung“ ruft, sage ich: Naumann. Vergessen Sie das nicht! Die Zwischenrufe müssen schon aus der richtigen Fraktion kommen, Herr Kollege Kelber. ({4}) Die Erhaltung der biologischen Vielfalt ist die Grundlage für unser Überleben. Es geht dabei nicht nur darum, hier ein paar Sonntagsreden zu halten und zu sagen - was materiell nicht falsch ist -: Die Kinder sollen sich der Natur wieder nähern und sich mit ihr identifizieren können. ({5}) Aber es geht nicht nur darum, dass die Kinder der Natur näherkommen; vielmehr handelt es sich um Hardcorepolitik und nicht um ein Schönwetterthema. Dazu habe ich wenig gehört. ({6}) Man muss beim Thema „globale Gerechtigkeit“ anfangen. Ich verweise auf die Folgen des Zyklons in Birma, etwa auf die vielen Todesfälle. Wir müssen dafür sorgen, dass die Industriestaaten nicht so, wie sie es jetzt tun, über dem Limit leben. Fakt ist doch: Wir hier verbrauchen mehr, als uns zusteht, und zwar auf Kosten der Entwicklungsländer. Das muss man ändern, und das wird ein hartes Geschäft. ({7}) Man muss verhindern, dass multinationale Konzerne die Kontrolle über Saatgut und genetische Ressourcen haben und dadurch zum Beispiel die Ureinwohner vieler Regionen kalt enteignen. Schutz und Erhalt der biologischen Vielfalt müssen wirklich oberste Priorität haben, und zwar in allen Politikbereichen. So gern ich auch immer wieder einmal den Umweltminister kritisiere, so sage ich hier: Man kann im Zweifelsfalle alle am Kabinettstisch, also alle auf der Regierungsbank, ansprechen. Es ist wirklich eine Querschnittsaufgabe. Die Zeit drängt. Wir tragen als Gastgeber der Weltkonferenz nächste Woche Verantwortung. Daher sollte man wirklich Vorreiter sein und nicht nur Vorgaukler. Es geht darum, die nächste Stufe zu erreichen. Wir haben gesagt: Bis 2010 soll der Verlust der biologischen Vielfalt gestoppt werden. Das entspricht einer EU-Vorgabe. Für uns heißt das: Bis 2010 sollen 20 Prozent unserer Fläche zu Schutzgebieten erklärt werden. Wir sind von der Erreichung dieser Ziele meilenweit entfernt. Immer noch gibt es Menschen - auch Vertreter hiesiger Parteien -, die vor Ort dagegen kämpfen, dass eine Fläche zu einem Schutzgebiet erklärt wird. ({8}) - „Ja, natürlich!“ Zu Recht kommt von der FDP dieser Zwischenruf. Ich meinte auch und gerade die FDP. Man hat gesagt: 20 Prozent der Fläche sollen Schutzgebiete sein. Das war zum Beispiel im Hinblick auf den Schutz der Artenvielfalt und den Klimaschutz eine gute Idee. Man darf nicht immer die kurzfristigen wirtschaftlichen Interessen über die langfristigen Interessen des Naturerhalts, also des Erhalts unserer Lebensgrundlagen, stellen. ({9}) Es ist schön, warme Worte oder in schönen Bildern zu sprechen; aber dann müssen dem Ganzen auch Taten folgen. Ich muss ein paar Punkte aufzählen, bei denen es uns nicht reicht, was die Bundesregierung tut. Nehmen wir die Biokraftstoffkrise, die für die Bundesregierung eine Pleite bedeutet hat. ({10}) - Dass Sie als Partei Die Linke darüber reden: Guten Morgen! Schön, dass auch Sie langsam auf diesem Themenfeld angekommen sind. Ich wünsche Ihnen eine gute Entwicklung. ({11}) Sie vertreten doch eher noch das Motto „Freie Fahrt für freie Bürger“. ({12}) Die Biokraftstoffpleite ist ein weltweites Problem. Diese Pleite hat etwas mit der Aktion zu tun, die diese Bundesregierung durchgeführt hat. Ihr Beimischungszwang war ein Fehler. Dadurch haben Sie den nachhaltigen Pflanzenanbau der heimischen Bauern kaputtgemacht. Viele Betriebe darben daher. Für eine Veränderung beim Umgang mit Importen gibt es nur zwei Möglichkeiten: entweder gar keinen mehr zuzulassen oder eine wirksame Zertifizierung zu verankern, die auch umgesetzt wird. In Bezug auf Brasilien sage ich ganz klar, Herr Gabriel: Denen darf man jetzt keinen Glauben schenken, sonst schieben die das wirklich auf die lange Bank. Es muss nun vielmehr ein hartes Regime verankert werden, das auch wirklich funktioniert. Seit Jahren behauptet die brasilianische Seite, es werde kein Urwald für diese Produkte gerodet. Das stimmt, aber um den Ausbau der Zuckerrohranbaugebiete zu ermöglichen, muss die Rinderhaltung weichen. Am Ende wird nun für die Rinderhaltung der Urwald gerodet. So machen sie es. Es ist also eine wirksame Zertifizierung nötig. Ein anderes Kabinettsmitglied, Herr Seehofer, setzt immer noch auf Monokulturen, auf Gentechnik und auf Chemie statt Vielfalt auf dem Teller. Auch diese Fragen hängen ja mit dem Naturschutz und der Bewahrung von Artenvielfalt zusammen. Deshalb reicht es nicht, hier warme Worte zu sprechen, sondern man muss konkret die Vorschläge der Europäischen Kommission zur nächsten Stufe der Agrarreform unterstützen. Dabei geht es nämlich um die Bewahrung von Artenvielfalt und Klimaschutz. Um das zu ermöglichen, sollen die Direktzahlungen an andere Bereiche etwas gekürzt werden und das so eingesparte Geld umgeschichtet werden. ({13}) Wer wirklich Naturschutz will, muss nach Brüssel gehen und Frau Fischer Boel sagen: Wir unterstützen Ihr Reformvorhaben. - Da das nicht geschieht, stelle ich fest, dass hier viel geheuchelt wurde. Machen Sie endlich eine Politik, ({14}) bei der Schutz der biologischen Vielfalt und Armutsbekämpfung miteinander verbunden werden. Frau Wieczorek-Zeul, es war ein Fehler, dass Sie vor vielen Jahren die Fördermittel für die Entwicklung des ländlichen Raumes immer weiter zurückgeschraubt haben. Geben wir der Welthandelsrunde einen Schub und treten wir dafür ein, dass Naturschutz und Artenerhalt auch dort endlich eine Rolle spielen! Verhindern wir, dass in Bonn am Ende die Saatgutkonzerne durch eine Patentierung genetischer Ressourcen, also eine Art Biopiraterie, die Weltbevölkerung und hier insbesondere die Armen und Hungernden im wahrsten Sinne des Wortes enteignen! Meine Damen und Herren, es reicht nicht, Donnerstag früh warme Worte zu sprechen. Naturschutz, Erhalt der Artenvielfalt stellen für uns eine existenzielle Frage dar.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin.

Renate Künast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003576, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Um diese zu bewältigen, sind knallharte Politik und Mut erforderlich. Sonst wird daraus nichts. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile nun das Wort dem Bundesminister Sigmar Gabriel. ({0})

Sigmar Gabriel (Minister:in)

Politiker ID: 11003755

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Heilmann, es war eine beeindruckende Rede, die Sie gehalten haben. ({0}) Sie wäre allerdings zum Beispiel beim Thema „Biokraftstoffe aus Brasilien“ glaubwürdiger gewesen, wenn Sie sich wie die anderen Kollegen auf unserer Reise das Gebiet und die Anlagen angeschaut hätten, als zu der Zeit etwas anderes zu machen. ({1}) Ich weiß nicht, ob Sie beim Vortrag der Chefin von Greenpeace Brasilien zum Thema Zuckerrohr zugehört haben oder ob Sie zu dem Zeitpunkt auch woanders waren, aber bei diesem Vortrag hätten Sie erfahren können - das ist auch an die Adresse von Frau Künast gerichtet -, dass Greenpeace Brasilien sagt, die derzeitige Zuckerrohrproduktion in Brasilien stellt kein ökologisches Problem dar und sorgt auch nicht für eine Verschiebung von Rinderzucht und Sojaanbau auf Regenwaldflächen, aber für die Zukunft - insofern hat die Kollegin Künast natürlich absolut recht - besteht ohne ein Verfahren, mit dem die Produktion wirklich auf Nachhaltigkeit kontrolliert werden kann, die Gefahr, dass der Ausbau der Zuckerrohrproduktion nicht auf den 6 Millionen Hektar, die in Brasilien brachgelegen haben, stattfindet, sondern auf andere Flächen ausweicht. Eine der Voraussetzungen dafür, damit das nicht geschieht, ist, dass es nicht teurer ist, Brachflächen in Brasilien für den Zuckerrohranbau zu revitalisieren und zu nutzen als Regenwald- oder Savannenflächen. Wir stehen hier also vor der Frage, wie wir einem anderen Land helfen können, seine wirtschaftlichen Potenziale zu nutzen. Dagegen bringt es überhaupt nichts, Herr Kollege Heilmann - Frau Künast hat das nicht getan, deswegen will ich sie hierfür nicht in Anspruch nehmen -, diesen Ländern zu sagen: Wir wollen die Produkte, die ihr produziert, nicht. Wir lassen sie nicht in unser Land; denn ihr seid die bösen Buben der internationalen Umweltpolitik. - Sie nehmen ein solches Verhalten nämlich nicht als Mahnruf engagierter Umweltschützer wahr, sondern sie nehmen es so wahr, als ob da ihre alten Kolonialherren sprechen würden, die verhindern wollen, dass es bei ihnen wirtschaftliche Entwicklung gibt, die sie in wirtschaftlicher Armut halten wollen und deshalb neuerlich eine Schutzpolitik für Landwirtschaftsprodukte machen, um sie herauszuhalten. ({2}) Eine solche Haltung hätte Auswirkungen auf alle internationalen Umweltverhandlungen. Wenn sich dieser Eindruck bei Brasilien und anderen Ländern verfestigt, werden wir bei den Klimaschutzverhandlungen eine böse Überraschung erleben, weil diese Länder glauben werden, dass wir sie nirgendwo hochkommen lassen wollen. Gleichzeitig haben die Kollegin Künast und alle diejenigen recht, die sagen: Es kann nicht sein, dass wir alles mitmachen und Versprechungen trauen. Natürlich hat Brasilien eine gute Gesetzgebung. Natürlich wäre es gut, wenn Brasilien jetzt Zonierungen machte. Ich möchte allerdings darauf hinweisen: Wenn auf einer Fläche wie dem Bundesstaat Pará in Brasilien, der dreimal so groß wie Deutschland ist, für die Überprüfung 176 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit zwei Autos, zwei Schiffen und einem Hubschrauber bereitstehen, dann wird man vermutlich nicht weit kommen. Wir werden aber auch in einem solchen Fall nicht anders können, als mit ihnen über die Frage zu verhandeln, wie wir ihnen dabei helfen können. Das ist der Grund, warum ich dankbar dafür bin, dass die deutsche Bundeskanzlerin bei ihrem Besuch in Brasilien exakt über die Frage reden will: Welche Nachhaltigkeitskriterien stellen wir auf und wie überprüfen wir sie? Aber auch: Wie können wir denen, die es machen, anbieten, dass ihre Produkte auf dem deutschen und dem europäischen Markt verkauft werden können? Wer das nicht macht, sendet das Signal: Wir wollen euch in Armut halten. - Mit solchen Reden wie Ihrer, Herr Heilmann, zerstören Sie die Vertrauensgrundlage, die wir auf der Konferenz über biologische Vielfalt benötigen. Sie werden dann niemanden finden, der bereit ist, mit uns über die tatsächlich existierenden Probleme sachgerecht zu reden. ({3}) 1992 ist die Konvention über biologische Vielfalt auf den Weg gebracht worden, mit der das Ziel verfolgt wird, bis zum Jahre 2010 das weltweite Artensterben wenigstens deutlich zu bremsen. Die Wahrheit ist: Davon sind wir weit entfernt. Wenn mich jemand fragt, ob ich - ich glaube, auch das war Herr Heilmann - den Unterschriften von 190 Staaten traue - Sie haben gesagt: Das steht doch drin; diese Länder sind verpflichtet, Schutzgebiete auszuweisen -, dann antworte ich: Ja, aber ich habe zur Kenntnis zu nehmen, dass nach 16 Jahren die Konvention über biologische Vielfalt an einem Scheideweg steht. Entweder es gelingt uns jetzt, bis zum Jahre 2010 endlich substanzielle Fortschritte zu erreichen, oder wir beweisen der Weltbevölkerung, dass es eben nichts wert ist, wenn 190 Staaten etwas unterschreiben und dann 16 oder 18 Jahre lang nichts passiert. In der Tat ist vieles von dem, was in der Konvention steht, nicht mit Leben erfüllt worden. Wenn Sie den klugen Spruch machen, in der Konvention stehe doch, dass diese Länder verpflichtet sind, Schutzgebiete auszuweisen, dann müssen Sie ihnen erklären, dass Sie sagen: Wir beschließen international ein Gesetz, in dem wir bestimmen, welcher Teil eures Landes unter Schutz gestellt wird; unterschreibt mal unten links. - Dass diese Vorstellungen zum Rucksack Ihrer Partei gehören, will ich gerne zugeben. ({4}) Mit dieser Vorstellung kommen Sie nicht an die Menschen heran. Sie müssen ihnen Angebote machen, sodass sich diejenigen, die bereit sind, Geld mitzubringen, um Schutzgebiete zu finanzieren, mit denen treffen können, die bereit sind, Schutzgebiete auszuweisen, dafür aber Hilfe brauchen. Das nennt man in der Tat „freiwillig“. Wenn Sie das nicht machen, sondern mit rechtsverbindlichen Abkommen arbeiten wollen, um diese Länder dazu zu zwingen, werden Sie scheitern in Bonn. Unsere Aufgabe ist es, sie endlich nach vorne zu bringen. Wir können als Bundesregierung nicht ausschließen, dass die Konferenz wieder scheitert. Wir haben sie in dem Bewusstsein, dass Fortschritte scheitern können, angenommen. Aber wir wollen sie zum Erfolg bringen, wir wollen Fortschritte machen; denn wir haben ein hundert- bis tausendfach schnelleres Aussterben der Arten auf der Welt, als die natürliche Aussterbensrate beträgt. Wenn wir nichts machen, wird es im Jahre 2050 keine kommerzielle Fischerei mehr auf der Erde geben. Stellen Sie sich vor, was das für die Ernährung der Weltbevölkerung bedeutet! Ein paar Milliarden Menschen sind ausschließlich auf Fische angewiesen, um die Proteine zu bekommen, die sie zum Überleben brauchen. Es gibt eine Riesenanzahl von Beispielen dafür, dass wir wirklich über das Überleben von Milliarden von Menschen reden. Wir reden nicht darüber, dass die Industriestaaten ein bisschen abgeben müssen, um Umweltschutz im Sinne eines Nischenthemas zu betreiben, wie das manchmal auch in unserem Lande behandelt wird. Vielmehr reden wir über das nackte Überleben von Milliarden von Menschen auf unserem Planeten. Es gibt 6 273 Reissorten. Vor einigen Jahren hat ein Virus fast die gesamte Reisernte in Indien und Indonesien vernichtet. Dann hat man nach einem Reis gesucht, der dagegen immun ist. Unter den 6 273 Reissorten hat man eine einzige gefunden, die resistent war. Das hat verhindert, dass die Reisbestände der Welt zerstört wurden und die Menschen an Hunger gestorben wären. Stellen Sie sich einmal vor, wir hätten durch die Entwicklung der Industrienationen ausgerechnet diese Reissorte zerstört! Welch eine Menschheitskatastrophe! Wenn wir über biologische Vielfalt reden, dann reden wir, wie das ein Amerikaner einmal gesagt hat, über das Betriebshandbuch der Erde. Darin steht, wie die Erde funktioniert. Wir reißen jeden Tag eine Seite heraus. Das Ergebnis wird sein, dass, wenn das irgendjemand braucht und da hineinschaut, genau die Seite fehlt, die zum Überleben einer wachsenden Weltbevölkerung in wachsenden Industriestaaten gebraucht wird. Das ist Artenverlust. ({5}) Das ist nicht irgendein Randthema. Wir reden über das Wachstum der Weltbevölkerung von 6 Milliarden auf über 9 Milliarden Menschen. Wir reden über die Frage, wie die Erde dann noch funktionieren soll. Da werden wir uns in der Tat ändern müssen. Aber wir werden vor allen Dingen auch beachten müssen, dass es dabei nicht allein um Naturschutz geht, sondern auch um nachhaltige Nutzung. Wir werden Wachstum und wirtschaftlichen Wohlstand mit Artenvielfalt und Naturschutz zusammenbringen müssen. ({6}) Das ist übrigens das, was die Entwicklungsländer von uns erwarten. Wir werden einen wirtschaftlichen Interessenausgleich herbeiführen müssen. Wir haben in der internationalen Politik gelernt, dass man Sicherheit nur gemeinsam erreichen kann. Das gilt auch in der Frage des Erhalts der natürlichen Lebensgrundlagen, um das Überleben der Menschheit zu sichern. Das können wir nur gemeinsam. Das bedeutet, wir müssen auch bereit sein, einen Interessenausgleich zu organisieren. Wer Tropenschutz will, muss auch bereit sein, Geld dafür auf den Tisch zu legen. Übrigens wird Deutschland 2008 210 Millionen Euro pro Jahr dafür ausgeben. Die NGOs in Brasilien haben uns gesagt, sie seien noch heute dankbar dafür, dass es das PPG-7-Programm gegeben habe, damals von der Bundesregierung unter Helmut Kohl auf den Weg gebracht. Allerdings seien sie der Meinung, dass man den Namen ändern müsse: Es müsse PPG-1-Programm heißen, weil Deutschland das einzige Land sei, das seine Zusagen erfüllt habe. ({7}) Auch das gehört dazu. Das heißt, wir wollen dort auch darüber verhandeln, wie wir den Interessenausgleich besser hinbekommen, welche marktwirtschaftlichen Instrumente wir nutzen können. Ein Ergebnis der G-8-Präsidentschaft Deutschlands ist, dass wir gemeinsam mit der Europäischen Kommission für die biologische Vielfalt eine Bewertung erstellen wollen, wie sie Nicholas Stern für den Klimawandel vorgenommen hat. Wir wollen erstens endlich erreichen, dass man nicht mehr so tun kann, als koste die Vernichtung von Arten nichts. Aber wir wollen zweitens auch marktwirtschaftliche Instrumente entwickeln, sodass man am Schutz der Natur mehr Geld verdienen kann als an ihrer Zerstörung. Das ist ein entscheidendes Argument. Ich weiß, dass man etwas für den Naturschutz tun muss, wenn man etwas für seine eigenen Kinder übrig hat oder wenn man Respekt vor der Schöpfung Gottes hat. Aber ich weiß auch, dass diese Einstellung in vielen Ländern dieser Erde nicht hilft, weil sie bitterarm sind. Wenn sie Geld nur dadurch verdienen können, dass sie den Regenwald abholzen, dann werden sie das tun. Also brauchen wir marktwirtschaftliche Instrumente, die auf den Schutz ausgerichtet sind. Die gibt es bisher nur im CO2-Sektor, jedenfalls wenn das erreicht wird, was gestern von den Koalitionsfraktionen im Umweltausschuss beschlossen wurde, nämlich eine 100-prozentige Auktionierung in Europa. Wer einen Wald hat, der kann sich dann darauf verlassen, dass auf der Grundlage des nächsten Klimaschutzabkommens dafür, dass er den Wald erhält, auch Geld fließt. Aber das reicht nicht aus. Das hilft weder im Meeresschutz noch in vielen anderen Bereichen. Wir brauchen marktwirtschaftliche Instrumente, um den Völkern der Erde eine Chance zu geben, beim Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen auch ihre eigenen Lebensgrundlagen neu zu schaffen. ({8}) Dazu zählt das berühmte ABS, Access and Benefit Sharing. Die Entwicklungsländer bezeichnen es zu Recht als Biopiraterie, wenn Industrienationen sich im Regenwald genetischer Ressourcen unerlaubt bedienen, daraus Medikamente machen, aber keinen Cent zurückzahlen. Wir brauchen im Sinne des Access and Benefit Sharing eine Ausgleichszahlung. Da geht es übrigens gar nicht um viel Geld. Es geht darum, dass die Entwicklungsländer endlich mit uns auf Augenhöhe sein wollen, dass wir ihnen nicht immer sagen, was sie mit dem Regenwald zu machen haben, damit wir hinterher davon profitieren können. Aus der pazifischen Eibe beispielsweise machen wir ein Medikament zur Krebsbehandlung. Außerdem gibt es eine Fledermaus in Südamerika, die, wie in den Dracula-Filmen, nur Blut trinkt. Weil sich, wenn das gerinnt, schlecht fliegen lässt, hat sie ein Enzym entwickelt, das wir zur Produktion von Medikamenten zur Schlaganfallbehandlung nutzen. Diese Länder wollen, dass sie etwas zurückbekommen. Darüber reden wir. Europa ist übrigens bislang die einzige Region der Welt, die bereit ist, das zu machen. Wir müssen auch andere - vor allen Dingen Japan, Australien, Kanada und die Vereinigten Staaten - davon überzeugen, mitzumachen. Europa zeigt hier seinen Mehrwert. Es ist die einzige Region der Welt, die mehr tut, als die Summe ihrer Einzelinteressen ausmacht. Man kann wirklich sagen: Wir haben eine grüne EU - eine „green union“ - in dieser Frage. Wir hoffen, dass wir in diesem Bereich deutlich vorankommen. 2010 muss es dieses Abkommen geben. Wir wollen dafür die Voraussetzungen in Bonn schaffen. Wir müssen dabei fair mit denen umgehen, die auf uns zukommen. Richtig ist aber auch, dass wir nicht so tun dürfen, als gebe es nur in anderen Teilen der Erde Aufgaben im Natur- und Artenschutz. Keine Sorge: Die Koalition wird ein Umweltgesetzbuch vorlegen. ({9}) Wir werden das so umsetzen, dass all diejenigen, die öffentlich erklären, wir würden Standards absenken, unrecht behalten werden. Wir wollen dafür sorgen, dass es für die Menschen in Deutschland verständlich ist. Wir wollen keine bürokratischen Regelungen einführen; wir wollen nicht, dass beispielsweise die Gewässerrechte für das Oberharzer Wasserregal - das liegt in meiner Heimatregion -, die aus dem Jahre 1200 stammen, im Umweltgesetzbuch neu formuliert werden. Das muss ich schon aus regionalpolitischen Gründen ablehnen. ({10}) - Ja, das wäre respektlos. Vielen Dank für den Hinweis. Wir haben durchaus eine Reihe von Erfolgen. Frau Künast, Sie haben das Thema Schutzgebiete aufgeführt und gesagt, wir seien meilenweit von 20 Prozent entfernt. Deutschland liegt bei 14 Prozent. Das ist nicht so schlecht und ist nicht „meilenweit“ entfernt. Wir müssen sicherlich mehr tun. Aber wir haben schon die Natura2000-Richtlinie in Deutschland umgesetzt, die FFH-Gebiete sind gemeldet. Bis auf wenige Ausnahmen gilt das auch für die Vogelschutzgebiete; auch das kriegen wir hin. Die Gewässerbelastungen sind zurückgegangen. In der Elbe und im Rhein finden Sie praktisch all die Fische wieder, die es vor der Industrialisierung dort gab. ({11}) - Ja, das ist ein Erfolg. Einer der großen Erfolge dieser Koalition ist, dass wir es geschafft haben, dass 125 000 Hektar wertvolle Naturflächen in das Nationale Naturerbe aufgenommen werden, 100 000 Hektar in der ersten Tranche in diesem Jahr. Frau Kollegin Künast, 46 000 Hektar werden in der kommenden Woche in die Deutsche Bundesstiftung Umwelt eingebracht. Man kann also nicht behaupten, da täte sich nichts. ({12}) - Ich kann ja nichts dafür, dass wir besser sind, als Sie vermutet haben. ({13}) Aber Sie müssen schon gestatten, dass ich das einmal anspreche. ({14}) - Frau Kollegin, Sie wissen -

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Gabriel, bevor Sie jetzt der Versuchung nachgeben, in einen Spontandialog einzutreten, möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, dass Sie die Redezeit Ihrer Fraktionskollegen verfrühstücken.

Sigmar Gabriel (Minister:in)

Politiker ID: 11003755

Herr Präsident Lammert, Sie scheinen mich gut zu kennen. Mit diesem Hinweis erleichtern Sie mir das Leben in meiner Fraktion. Vielen Dank dafür. ({0}) - Ich bin in diesem Punkt gefahrenbewusst. Herzlichen Dank für das Engagement in der Sache. Bei allem Streit wollen wir gute Gastgeber sein. Ich lade Sie alle herzlich ein, an der Konferenz teilzunehmen. Es nehmen Vertreter aus rund 200 Staaten, 5 000 Expertinnen und Experten, Vertreter von NGOs und von indigenen Völkern teil. Wir sollten diese so herzlich begrüßen, wie sich das für ein gastfreundliches Land wie Deutschland gehört. Herzlichen Dank, dass Sie dabei mitmachen wollen! ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Der großzügigen Einladung des Umweltministers, möglichst alle sollten an dieser Konferenz teilnehmen, will ich nur den dezenten Hinweis hinzufügen, dass gleichzeitig Plenarsitzungen im Deutschen Bundestag stattfinden und dass ich die Präsenzpflicht nicht aufheben kann. ({0}) Für eine Erklärung zur Aussprache nach § 30 unserer Geschäftsordnung erhält der Kollege Heilmann das Wort.

Lutz Heilmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003766, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Der Minister hat mir unterstellt, dass ich aus nichtigen Gründen an Veranstaltungen im Zusammenhang mit der Brasilienreise nicht teilgenommen habe. Das möchte ich zurückweisen. Es gab triftige Gründe dafür. Am Freitag beispielsweise war ich wie Sie krank. ({0}) Deswegen finde ich Ihre Anschuldigungen ein bisschen deplatziert. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das nehmen wir so zur Kenntnis. Nächste Rednerin in der Debatte ist die Kollegin Dr. Christel Happach-Kasan für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Christel Happach-Kasan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003669, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte Umweltminister Gabriel herzlich danken für seinen Beitrag; denn er hat meines Erachtens die Debatte wieder in die Mitte des Raumes gestellt und wirklich auf den Punkt gebracht. Es geht darum, die Natur zu schützen und sie verantwortlich zu nutzen. ({0}) Dafür haben wir, so meine ich, auf unserer BrasilienReise gute Beispiele gefunden. ({1}) Kollegin Künast, ich bedanke mich bei Ihnen dafür, dass Sie Ihr 20-Prozent-Ziel im Hinblick auf den Ökolandbau nicht noch einmal erwähnt haben. ({2}) Auch Sie haben wohl deutlich gemerkt, dass Sie mit diesem Ziel absolut danebenliegen. Denn angesichts der jetzigen Ernährungssituation weltweit können, sollten und dürfen wir dieses Ziel nicht umsetzen; um es ganz deutlich zu sagen. ({3}) - Ich habe die Studie gelesen, Herr Kollege Kelber, und ich muss Ihnen sagen: Lesen Sie doch auch einmal zwischen den Zeilen! Dann werden Sie feststellen, dass wir ohne Ökolandbau weiterkommen können. Wir sollten uns darauf konzentrieren, die Natur nachhaltig zu nutzen, und nicht darauf, Ideologien hinterherzulaufen. Ich glaube, das ist ganz wichtig. ({4}) Kollege Heilmann, die Kritik des Ministers war durchaus berechtigt. Ein weiterer Punkt. Liebe Kollegin Künast, es macht keinen Sinn, mit Miesmacherei über den Naturschutz zu sprechen; denn unsere Natur ist schön. Ich finde es toll, dass wir die Vertragsstaatenkonferenz im Mai abhalten und damit alle sehen können: Die Natur wirbt für sich selbst. Ihre Schönheit fällt jedem ins Auge. Deswegen sind wir bei all denjenigen Menschen in Deutschland, denen der Schutz der Natur und der Schutz der Artenvielfalt ein Herzensanliegen sind. Sie haben den Naturschutz in Deutschland vorangebracht. Sie haben die Grundlage dafür gelegt, dass wir in Deutschland im Naturschutz erfolgreich sind. Wir sind - das wissen Sie - ein dichtbesiedeltes Land. Dennoch hat der vormalige Präsident des Bundesamtes für Naturschutz festgestellt, dass der Wandel des Artenspektrums in Deutschland nicht dramatisch ist. ({5}) - Frau Künast, hören Sie jetzt einfach einmal zu! Das macht das Ganze etwas einfacher. - Es ist uns gelungen, den Wandel des Artenspektrums aufzuhalten. Wir haben enorme Erfolge in Deutschland erzielt. Diese Erfolge sind für uns Verpflichtung, anderen Menschen dabei zu helfen, im Naturschutz voranzukommen. ({6}) Das gilt insbesondere für das Land Brasilien, von dem wir die Artenschutzkonferenz übernehmen. Wir haben auf einer meines Erachtens hervorragend organisierten Ministerreise erfahren, welche großen Anstrengungen dieses Land unternimmt - beispielsweise in der Satellitenüberwachung des Regenwaldes, beispielsweise durch eine vorbildliche Gesetzgebung. Wir müssen sehen: Wir können den Regenwald nur schützen, wenn wir Schutzgebiete ausweisen, wenn wir den rechtlichen Status klären und wenn wir eine umfassende Landesaufnahme etablieren, damit die Regierung von jeder Fläche weiß, wem sie gehört und wer gegebenenfalls verantwortlich gemacht werden muss, wenn es zu Abholzungen kommt. Ich möchte einen Punkt ansprechen, von dem ich meine, dass wir in Deutschland noch nicht so weit sind, wie wir sein sollten. Ich bin der Meinung, international sind wir erst dann glaubwürdig, wenn wir unsere eigenen Hausaufgaben machen. Ziel jeglicher Biodiversitätsstrategie ist es, die Vielfalt genetischer Informationen zu erhalten. Wir müssen aber zur Kenntnis nehmen, dass es in Deutschland einzelne Pflanzenarten gibt, die nur noch auf einzelnen Quadratmetern vorkommen. Es ist nicht sicher, ob sie mit einem konsequenten Biotopschutz zu erhalten sind. Wir müssen den Erhalt dieser Arten in Saatgutgenbanken oder in botanischen Gärten sicherstellen. Wir brauchen den Ex-situ-Schutz dieser Arten - das ist zwingend -, um ihr Aussterben nicht zu riskieren. ({7}) Der Ex-situ-Schutz ist Voraussetzung dafür, diese Arten zu einem späteren Zeitpunkt wieder einbürgern zu können. Aus dieser Erkenntnis heraus wurde in Den Haag 2002 beschlossen, 60 Prozent der gefährdeten Arten in botanischen Gärten oder in Saatgutgenbanken zu schützen, um so den Erhalt der genetischen Informationen sicherzustellen. Der Minister hat sehr plastisch gezeigt, wie wichtig genetische Informationen für uns sind. 10 Prozent dieser Arten sollen in Wiederausbringungsprogramme einbezogen werden. Von diesen Zielen, die wir selbst beschlossen haben, ist Deutschland weit entfernt. Es gibt keine nationale Saatgutgenbank für Wildpflanzen und wenige regionale Saatgutgenbanken wie die Loki-Schmidt-Genbank. Ich bin im Übrigen ein bisschen von der SPDFraktion enttäuscht, dass sie sich nicht etwas mehr für eine solche, den Namen der Gattin des bedeutenden Staatsmannes Helmut Schmidt tragenden Genbank engagiert. ({8}) Das enttäuscht mich tief. Das ist eine menschliche Enttäuschung, die Sie vielleicht nicht nachvollziehen können. ({9})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.

Dr. Christel Happach-Kasan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003669, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das Bundesamt für Naturschutz kümmert sich um vieles, jedoch nicht um den Artenschutz bei besonders gefährdeten Wildpflanzen. Es hat erklärt, dass es Saatgutgenbanken für Wildpflanzen ablehnt. Ich halte dies für eine fachlich falsche Entscheidung. Ich bitte die Regierung, noch einmal zu überlegen, ob sie das Ziel, das sie 2002 selbst formuliert hat, nicht doch verfolgen und sich mit der Sicherung von Wildpflanzen in Saatgutgenbanken oder in botanischen Gärten stärker befassen sollte, damit wir unserer Verpflichtung nachkommen können.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin, bitte.

Dr. Christel Happach-Kasan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003669, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich komme sofort zum Schluss. - So könnten wir im Bereich des Naturschutzes weiterhin vorbildlich sein. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Christian Ruck ist der nächste Redner für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Christian Ruck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001893, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Auf dem Weltnaturschutzgipfel in Bonn steht viel auf dem Spiel. Es geht um die Fragen, in welcher Welt wir zukünftig leben wollen und in welchem Zustand wir diese Welt unseren Kindern und Enkeln übergeben wollen. Ausgeplündert, leergefischt und abgeholzt oder eine bunte und vielfältige Natur, die Leben spendet? Es geht um die Frage, ob es uns gelingt, unserer Verantwortung für die Schöpfung gerecht zu werden. Meine Vorredner, unter anderem Herr Gabriel, haben schon darauf hingewiesen, dass rund 80 Prozent dieser Schöpfung in Entwicklungs- und Schwellenländern wie Indien, Indonesien, Kongo, Bolivien oder Peru liegen. Viele dieser Länder sind oft instabil und haben eine schwache Verwaltung und Justiz. Dort herrscht noch immer der Wilde Westen - Korruption und anderes -, aber auch Armut. Das sind Länder, die nichts zu verschenken haben, zum Beispiel, wenn unter den biodiversitätsreichsten Gebieten Erdöl liegt. Deshalb ist die Frage, wie die Industrieländer mit den Entwicklungsländern umgehen, die Schlüsselfrage, wenn es um die Bewahrung der Artenvielfalt geht. Mehr als das: Diese Entwicklungsländer haben mit ihrem Wald einen wichtigen Hebel für den Klimaschutz in der Hand; auch das wurde schon gesagt. Mindestens 20 Prozent der Treibhausgasemissionen stecken im Tropenwald. Daher muss er erhalten bleiben. Es ist ganz entscheidend, dass wir auf dem Gipfel in Bonn gemeinsam mit den Entwicklungs- und Schwellenländern eine faire Lösung finden und wir selbst mit gutem Beispiel vorangehen. Was heißt in diesem Zusammenhang „fair“? Natürlich dürfen wir die Entwicklungsund Schwellenländer nicht aus ihrer Verantwortung entlassen. Es geht schließlich auch um ihre Lebensgrundlagen vor Ort: Wasserhaushalt, regionales Klima usw. Wir müssen ihnen aber helfen, das zu schützen, was auch für uns wichtig ist. Diese Wälder sind so etwas wie ein internationales öffentliches Gut, das unter Druck steht, weil die internationalen, überregionalen Effekte nicht marktgerecht entlohnt und honoriert werden. ({0}) Wir müssen den Entwicklungsländern ein Angebot machen. Wir müssen ihnen helfen, ihre Ressourcen - besser als bisher - naturverträglich zu nutzen. Von dem ABS-Komplex war schon die Rede. Diese Länder müssen in die Lage versetzt werden - mit unserer Technologie und mit finanziellem Beistand -, wieder Reparaturbetrieb zu sein. Das gilt für Flächen, die halb verwüstet oder verwüstet sind, die man der Nutzung aber wieder zuführen könnte. Im Sinne einer langfristigen, marktkonformen Klimaschutzstrategie wäre es optimal, den Wald in den Emissionshandel einzubeziehen. Aber da stecken wir in zähen Verhandlungen. Es sind noch viele Fragen offen. Wir müssen auch die Ergebnisse des einen oder anderen Pilotprojektes, das wir mitfinanzieren, abwarten. Wir haben nicht mehr genug Zeit, um ein perfektes internationales Regime auf die Beine zu stellen. Wir müssen konkret handeln. Wir müssen auf dieser Weltkonferenz zeigen, dass wir konkret handeln wollen. Auch hier gebe ich den Vorrednern recht, die sagen: Wir müssen schon jetzt zum Beispiel die Verbindung zwischen Klimaschutz und dem Schutz der Artenvielfalt herstellen. Wir müssen schon jetzt einen entsprechenden Teil der international und national geschaffenen Klimaschutzmittel für den Waldschutz in den Entwicklungsländern heranziehen, zum Beispiel für das Netz des Lebens. Wir müssen - das haben wir auch zwischen den Koalitionspartnern so verhandelt - den Anteil für Waldschutz, Klimaschutz und den Schutz der Artenvielfalt in der Entwicklungszusammenarbeit erhöhen. Das PPG7Projekt ist schon angesprochen worden. Es gibt in unserer Entwicklungszusammenarbeit traditionell einige hervorragende Projekte, die Mut machen und zeigen, dass es geht, wenn man einen langen Atem hat. ({1}) Gerade in Brasilien beim Küstenregenwald und an anderen Stellen zeigt sich, dass man Fortschritte machen kann, wenn man an der Sache bleibt. Wir müssen auch vor Augen haben - darüber haben wir neulich in der Debatte zur Weltnahrungsmittelkrise diskutiert -, dass es darum geht, dass wir zusammen mit Entwicklungsländern und Schwellenländern auf eine bessere Landnutzung, ein besseres Landmanagement vor Ort hinwirken, das zum Beispiel zwischen Agrarflächen und Flächen für die regenerative Erzeugung unterscheidet und den Schutz der natürlichen Vielfalt beachtet. Das ist ganz entscheidend. Wir können von diesen Ländern den politischen Willen, sich erstens unterstützen zu lassen und zweitens die nötigen rechtlichen und politischen Grundlagen zu schaffen, einfordern. ({2}) Wir dürfen auch politisch ehrgeizige Länder wie Brasilien nicht aus der Pflicht lassen, auch nicht unter dem Stichwort, dass wir Ökoimperialismus betreiben würden. Wir sollten da jegliche Arroganz vermeiden, aber wir sollten auch darauf hinweisen, dass Länder wie Brasilien und China inzwischen eine ganz andere Verantwortung in der Welt haben als früher. ({3}) Schließlich haben wir in der letzten Zeit Modelle entwickelt, wie wir die Wirtschaft in Public-Private-Partnership-Projekten besser einbeziehen können. Ich appelliere vor allem an die großen Wirtschaftsunternehmen, die mit internationaler Landpolitik zu tun haben, sich stärker als bisher an solchen Modellen zu beteiligen und hier mehr Verantwortung zu übernehmen. Wir müssen natürlich auch mit gutem Beispiel im eigenen Land vorangehen; das ist richtig. Frau Künast, Ihre Rede war vor allen Dingen an Herrn Trittin gerichtet, der sich in die hinteren Sitzreihen verzogen hat. ({4}) Das war bezeichnend. Ich danke ausdrücklich dem Haushaltsausschuss, der in der letzten Sitzungswoche durch seinen Beschluss - er ist Ihnen offensichtlich entgangen - die Geldmittel für Natura 2000 freigegeben hat. Ich möchte mich auch ausdrücklich bei der Bundeskanzlerin für ihre klare Positionierung im Vorfeld dieses Weltnaturschutzgipfels und auch auf unserem Kongress bedanken. ({5}) Ich wünsche ihr - das steht ja in der guten Tradition der Union bei diesem Thema -, dem Verhandlungsteam und auch Ihnen, Herr Gabriel, viel Beharrlichkeit, Verhandlungsgeschick und Erfolg. Wir alle brauchen diesen Erfolg. ({6})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nun erhält das Wort die Kollegin Undine Kurth für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Undine Kurth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003579, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielen Dank. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Herr Minister! Liebe Gäste auf den Rängen! Wenn man uns hier so hört, dann stellt man fest, dass wir eigentlich alle einer Meinung sind. Biodiversitätsschutz ist notwendig, wichtig und dringend. Herr Minister, Sie haben gestern eine Ihrer Pressemitteilungen überschrieben mit dem Satz: „Wir können uns eine Verschwendung der Natur nicht mehr leisten“. Das stimmt voll und ganz. Auch die Formulierung, wir löschen mit unserem Verhalten die Festplatte der Natur, ist ein wunderbares Bild, das das Problem auf den Punkt bringt. Wenn das so ist, dann müssen die Fragen erlaubt sein: Machen wir genug, machen wir überhaupt das Richtige, und, wenn ja, wann machen wir eigentlich etwas? Es muss doch möglich sein, darüber zu diskutieren. Es reicht nicht aus, die Situation zu beschreiben. Es ist sicherlich richtig, dass die Natur wunderschön ist. Das hat aber weder den Sibirischen Tiger noch die Feldlerche davor bewahrt, vom Aussterben bedroht zu sein. Bei diesem Thema geht es um einen unwiderruflichen Verlust. Was weg ist, ist weg. Deshalb ist es richtig, darüber nachzudenken, inwiefern wir unser Verhalten ändern müssen. ({0}) Über den Schutz der Biodiversität muss endlich auf höchster Ebene verhandelt werden. Die Erhaltung der Biodiversität muss zur Chefsache erklärt werden. Ansonsten wird dieses Thema in den verschiedenen Ressorts und in den Ländern unter die Räder geraten. Herr Gabriel, Sie sagten, die Nationale Biodiversitätsstrategie sei die deutsche Antwort auf die Konvention zum Schutz der biologischen Vielfalt. In dieser Strategie steht in der Tat sehr viel Richtiges, und in ihr sind viele gute Ziele beschrieben. Wenn es aber darum geht, wie Sie diese Ziele erreichen wollen, dann sind die Formulierungen in der Biodiversitätsstrategie ausgesprochen zurückhaltend. Sie müssen sich mit der Frage beschäftigen, welche Instrumente Sie anwenden wollen, um diese Ziele zu erreichen, und welche Sanktionsmaßnahmen es geben soll. Schließlich setzen wir auch die Straßenverkehrs-Ordnung nicht nur mit Appellen durch. Wenn uns etwas am Herzen liegt, dann müssen wir uns auch Gedanken darüber machen, wie wir es erreichen wollen. ({1}) Es reicht nicht aus, Baustellenschilder aufzubauen, wenn hinter diesen Schildern nichts geschieht. Deshalb fordern wir ein verbindliches Arbeitsprogramm zur Umsetzung dieser Strategie. Wenn wir unser 2010-Ziel wirklich erreichen wollen, dann müssen alle Visionen, die in der Strategie beschrieben sind, in den nächsten drei Jahren umgesetzt werden; das entspricht etwa 60 Visionen pro Jahr. Hier ist also noch einiges zu tun. Daher müssen Sie das Tempo erhöhen. Undine Kurth ({2}) Unser Entschließungsantrag stellt eine Unterstützung der Biodiversitätsstrategie dar. Wir fordern zusätzliche Sektorstrategien; denn es muss klar sein, wie die unterschiedlichen Ressorts an der Umsetzung der Biodiversitätsstrategie mitwirken. Außerdem setzen wir uns dafür ein, dass die Förderprogramme der Bundesregierung daraufhin überprüft werden, ob sie dazu beitragen, dass das 2010-Ziel erreicht wird. Es kann doch nicht sein, dass durch eine Förderung im Bau- und Verkehrsressort das genaue Gegenteil dessen erreicht wird, was Sie im Rahmen der Biodiversitätsstrategie anstreben. Ich möchte zwei Beispiele nennen, die deutlich machen, dass Ihr Reden und Handeln nicht zusammenpassen. Erstens. Es ist bekannt, welch hohe Anforderungen wir an andere Länder stellen. Der Berggorilla, der Orang-Utan, das Zebra, der Waldelefant, sie alle sollen geschützt werden; das ist auch richtig. In diesem Zusammenhang möchte ich das Stichwort „Wildwegeplan“ erwähnen. Wir wissen, dass die Hauptursachen für den Rückgang der Artenvielfalt in unserem Land die Flächennutzung, der Flächenverbrauch und die Flächenzerschneidung durch Verkehrsprojekte sind. Das soll nicht heißen, dass wir in Zukunft keine Straßen mehr bauen oder dass Straßen zurückgebaut werden sollten. Wir müssen uns aber mit der Frage auseinandersetzen: Wie können wir der Flächenzerschneidung begegnen und dafür sorgen, dass Arten wieder wandern können und Populationen die Möglichkeit haben, sich mit anderen Populationen auszutauschen? Der NABU hat hierzu ein hervorragendes Konzept vorgelegt, das der BUND um einen Wildkatzenplan ergänzt hat. Es wird deutlich, dass man die Zerschneidung der Landschaft im Rahmen des Bundesverkehrswegeplanes verringern kann, wenn man die richtigen Maßnahmen einleitet. Wir haben diese Konzepte aufgegriffen und einen entsprechenden Antrag formuliert. Das Ergebnis lautet: abgelehnt. Soll das heißen, dass die anderen Länder die Biodiversität schützen sollen und dass wir die Gelegenheiten, die wir haben, nicht ergreifen? Zweitens: zum Tropenwaldschutz. In Brasilien wurde uns deutlich vor Augen geführt, dass Klima- und Biodiversitätsschutz zusammengehören. Deshalb haben wir einen Antrag zum Tropenwaldschutz vorgelegt, in dem wir fordern, dass ein Sofortfinanzierungsprogramm aufgelegt wird. Auch wenn wir für die Ergebnisse im Rahmen unserer G-8-Präsidentschaft gelobt worden sind, ist festzustellen: 210 Millionen Euro reichen nicht aus; das wissen wir. Es muss mehr Geld her. Deutschland sollte dem Beispiel Norwegens folgen. Dort werden pro Jahr 500 Millionen Euro für den Tropenwaldschutz zur Verfügung gestellt. Das sollten auch wir ab dem nächsten Jahr tun. Denn Sie haben zu Recht gesagt, dass wir die anderen Länder mit diesem Problem nicht alleinlassen dürfen. In Anbetracht dieser zwei Beispiele stellt sich die Frage: Reden Sie nur über dieses Thema und stellen Sie lediglich fest, dass es hier ein Problem gibt, oder handeln Sie auch? Denn Handeln ist dringend erforderlich. ({3}) Wir wollen uns als Gastgeberin natürlich darum bemühen, dass die beiden Konferenzen nein Erfolg werden. Herr Minister, deshalb ist es besonders wichtig, dass man nicht nur von einer umfassenden Biodiversitätspolitik redet, sondern auch zeigt, dass man sie umsetzt. Dabei sollte das ganze Kabinett einbezogen werden; denn Sie haben völlig recht: Wir können uns eine Verschwendung der Natur nicht mehr leisten. Sie sollten endlich entsprechend handeln. ({4})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin Groneberg hat nun das Wort für die SPD-Fraktion. ({0})

Gabriele Groneberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003540, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute Morgen ist bereits deutlich gemacht worden, dass Deutschland eine hohe Verantwortung für einen erfolgreichen Abschluss der 9. Vertragsstaatenkonferenz der Konvention über die biologische Vielfalt trägt. Der Erfolg dieser internationalen Konferenz wird von zwei Faktoren abhängen: zum einen davon, inwieweit wir Möglichkeiten eines angemessenen Umgangs mit den natürlichen Ressourcen weltweit finden, zum anderen, wie wir insbesondere die Entwicklungsländer in die Lage versetzen, zum Erhalt der Biodiversität beizutragen. Deshalb ist es außerordentlich wichtig, in den nächsten zwei Jahren, in denen Deutschland den Vorsitz der Vertragsstaatenkonferenz innehat, zu einem internationalen Regime zu finden, das rechtsverbindliche Regelungen mit klar definierten Anreizen und Sanktionen festlegt. ({0}) Unzweifelhaft ist, dass die Weichenstellungen, die wir jetzt vornehmen, maßgeblichen Einfluss auf die Lebensgrundlagen aller Menschen auf der Welt haben werden. Wir wissen, dass sich fast 90 Prozent der genetischen und biologischen Vielfalt in den Entwicklungsländern wiederfindet, dass also der Erhalt der Biodiversität - darüber ist heute Morgen schon gesprochen worden nicht nur für uns, sondern auch für die dort lebenden Menschen von existenzieller Wichtigkeit ist. Eine große Vielfalt von verschiedenen Anbausorten und Nutztierarten trägt zur Ernährungssicherheit in diesen Ländern bei. Ich fand das vorhin von Umweltminister Sigmar Gabriel genannte Beispiel einer Reissorte äußerst beeindruckend; ich wusste davon noch nicht. Die nachhaltige Nutzung der Biodiversität nutzt letzten Endes der Ernährungssicherheit und der Armutsbekämpfung. Im Umkehrschluss heißt dies, dass ein Verlust von Biodiversität zur Verschärfung der Armutssituation in den Entwicklungsländern beiträgt. Auch dazu hat Sigmar Gabriel eine Menge gesagt; ich fand seine Rede wirklich beeindruckend. Derzeit verschwinden jährlich Waldflächen in einer Größe von rund 15 Millionen Hektar - das ist ein Drittel der Fläche der Bundesrepublik - von der Erde. Das ist für uns alle ein Problem; denn die unangepassten Landnutzungsformen tragen stärker zum Klimawandel bei - man beachte! - als die weltweiten Verkehrsemissionen. Darauf möchte ich, weil vorhin über den Straßenbau geredet worden ist, deutlich hinweisen. Was tun wir jetzt, und was haben wir in der letzten Zeit gemacht? Ich möchte mich an dieser Stelle mit einem konkreten Beispiel, das ich für vorbildlich halte, beschäftigen. Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit berücksichtigt in ihren Programmen schon seit längerem die Gesamtzusammenhänge der Biodiversität. Projekte zum Schutz und zur nachhaltigen Bewirtschaftung vor allen Dingen der Wälder wurden schon lange gefördert. Deutschland unterstützt unter anderem die COMIFAC, die Waldkommission Zentralafrikas. In dieser Kommission haben sich zehn Regierungen der Anrainerstaaten des Kongobeckens und 20 internationale Entwicklungs- und Umweltorganisationen zusammengefunden, um sich darum zu kümmern, grenzübergreifend - ich betone: grenzüberschreitend - eine nachhaltige Waldbewirtschaftung zu erreichen. Angesichts der ganzen Konflikte und Krisen in Afrika kann man sagen, dass es sich bei dieser Zusammenarbeit um ein besonderes Beispiel handelt. 10 Prozent der Wälder in dieser Region sind von der Kommission unter Schutz gestellt worden; das entspricht einer Fläche von 18 Millionen Hektar. Die Kommission beobachtet die Einhaltung der Vorschriften und organisiert die Umsetzung vor Ort. Drei Viertel der Wälder dürfen unter Auflagen bewirtschaftet und genutzt werden. Dabei ist wichtig, dass eine Zertifizierung - eine Legalitätsprüfung -, die Voraussetzung für den Export von Holzprodukten ist, erreicht werden soll. Die Kommission überprüft die Erfüllung dieser Vorgabe. Wichtig ist auch, dass die Bevölkerung hierbei Gewinner ist, weil sie an der Nutzung der Wälder beteiligt wird: Die erwirtschafteten Gelder werden für die lokale Entwicklung - für Schulen, Gesundheitsvorsorge, Wasserversorgung und dergleichen - eingesetzt. Ich finde, dass es solche Beispiele öfter geben sollte. ({1}) Wir wissen, dass wir bei dieser Konferenz eine hohe Verantwortung tragen. Wir wollen mit den Entwicklungsländern auf Augenhöhe über die biologische Vielfalt reden. Ich wünsche - ich denke, Sie sicherlich auch - dieser Konferenz allen erdenklichen Erfolg. Wir brauchen ihn. Danke schön. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Caesar für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Cajus Julius Caesar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003064, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen! Kollegen! Die Natur schützen und den zukünftigen Generationen ein gesundes Lebensumfeld übergeben, das bedeutet, Verantwortung zu übernehmen. Wir hier im Deutschen Bundestag haben aus meiner Sicht besondere Verantwortung zu übernehmen. Ich glaube, dass wir bei der bevorstehenden CBDKonferenz insbesondere durch unsere Bundeskanzlerin gut vertreten sind. Sie hat schon, als es um die Erreichung der Klimaschutzziele ging, gezeigt, dass sie überzeugen kann. Ich bin ganz sicher, dass ihr das auch bei der CBD-Konferenz gelingen wird. ({0}) Deutschland hat 11,1 Millionen Hektar Wald. Jedes Jahr gehen weltweit 12 bis 13 Millionen Hektar Wald verloren - also mehr, als Deutschland insgesamt Wald hat -, die Hälfte davon für immer. Kahlschlagen, Torf freilegen, abbrennen, allenfalls noch für einen kurzen Zeitraum nutzen, dann kommen Steppe, Verfelsung, Bodenabschwemmung, der Verlust auf Dauer - das ist das Bild, das wir uns vor Augen halten müssen. Wir müssen handeln. Die CBD-Konferenz, die vom 19. bis 30. Mai in Bonn stattfinden wird, gibt uns die riesige Chance, umzukehren, den richtigen Weg einzuschlagen. Dazu gehört, dass wir uns Alternativen überlegen. Wir müssen das Life Web, das Netz des Lebens, tatsächlich entwickeln. Das bedeutet Schutzgebiete, das bedeutet Kernzonen, das bedeutet aber auch nachhaltige Bewirtschaftung. Es ist sehr wichtig, dass wir die vor Ort lebenden Menschen einbeziehen, dass wir sie nicht in ihrer Armut im Stich lassen und die Ressourcen für uns verwenden. Die Menschen vor Ort müssen teilhaben; es muss einen gerechten Vorteilsausgleich geben. ({1}) Wir müssen ihre Produkte abnehmen; da gebe ich Umweltminister Gabriel ausdrücklich recht. Deutschland hat eine besondere Verantwortung für die Arbeitsplätze vor Ort. Wir dürfen die Kapazitäten der dortigen Holzindustrie nicht schädigen oder sie gar kaputtmachen; das würde Armut vor Ort bedeuten. Wir müssen allerdings auf nachhaltige Bewirtschaftung und Nutzung drängen. Das ist möglich, auch durch privatwirtschaftliche Modelle. ({2}) Ein gutes Beispiel ist das Naturwaldbewirtschaftungsprogramm Brasiliens. Bei Precious Woods Pará wird auf 76 000 Hektar - zukünftig auf bis zu 150 000 Hektar unter Einbeziehung anerkannter Zertifizierungssysteme nachhaltige Forstwirtschaft betrieben. Das zeigt, dass eine umweltverträgliche Nutzung möglich ist, dass die Menschen vor Ort den Wald bewirtschaften und damit Einnahmen haben können und gleichzeitig der Wald er16820 halten und auf Dauer die Nachhaltigkeit nach Sorte und Menge gewährleistet werden kann. ({3}) Der Urwald ist zugegebenermaßen - ich glaube, das ist ein Bewusstseinsproblem - weit weg. Wie kann man sich sonst erklären, dass wir in Deutschland darüber diskutieren, welche finanziellen Ressourcen wir für das Erneuerbare-Energien-Gesetz, für das Erneuerbare-Energien-Wärmegesetz und viele andere Dinge einsetzen wollen, während zu vermerken ist, dass 20 Prozent der weltweiten CO2-Emissionen durch Urwaldvernichtung entstehen? Hier gilt es zu handeln. Urwaldschutz ist nämlich eine der effizientesten und kostengünstigsten Methoden, das Klima zu schützen. Es ist wichtig, dass wir auf EU-Ebene sowie auf internationaler Ebene unsere Partner einbeziehen. Wir müssen im CBD-Prozess für die Landnutzung, für die Schutzgebiete, für die nachhaltige Bewirtschaftung spätestens bis 2010, für den Meeresschutz spätestens bis 2012 zu klaren rechtlichen Rahmenbedingungen kommen. ({4}) Deutschland hat gerade im Holzsektor eine besondere Verantwortung; denn wir sind weltweit der drittgrößte Holzimporteur. Wir importieren 100 Millionen Kubikmeter Holz pro Jahr. Deshalb müssen wir uns bei unseren Partnern in Europa dafür einsetzen, das FLEGT-System endlich mit Leben zu erfüllen. Wir, die Union, wollen eine Dokumentation der erhaltenswerten Gebiete. Ich glaube, es ist richtig, dass die Länder, in denen es Tropen- bzw. Urwälder gibt, uns die Gebiete benennen, die sie als erhaltenswert ansehen. Wir müssen uns hier finanziell engagieren. Die Finanzierung darf nicht allein durch den Bundeshaushalt erfolgen; wir müssen die Wirtschaft mit einbeziehen. Es gibt entsprechende Modelle; ich habe sie eben genannt. Gleichzeitig müssen wir bei den Vereinbarungen darauf achten, dass eine Kontrolle möglich ist. Durch technische Möglichkeiten - etwa durch GPS, die Satellitenüberwachung ist die Grundlage dafür gelegt. Schon bald kann man auch aufgrund gentechnischer Untersuchung sagen, woher der Baum kommt, den man im Hamburger Hafen vorfindet und der bei uns verbaut werden soll. Das müssen wir einbeziehen, Herr Umweltminister. Ich glaube, dann kommen wir voran. Es ist wichtig, dass wir dagegen angehen, dass uns um die 6 Millionen Hektar Wald jährlich verloren gehen. Es muss Wiederaufforstungsprogramme geben. Bei devastierten Gebieten sollte man auch an die Versorgung der Holzindustrie denken; ansonsten geht an anderer Stelle Urwald verloren. Hier haben wir die Möglichkeit, einen Ausgleich zu schaffen. Beim Zugang zu genetischen Ressourcen müssen wir einen gerechten Vorteilsausgleich sichern. Wir müssen uns auch um den Meeresschutz und die Küstenökosysteme kümmern. Hier gibt es einen erheblichen Nachholbedarf. Ebenso wichtig ist es, Umweltbildungsmaßnahmen zu ergreifen, hier in Deutschland, in Europa, aber auch bei den Menschen vor Ort, um zu zeigen, wie wichtig der Wald ist. Wir müssen uns die Frage stellen, ob wir jetzt etwas tun wollen. Wenn wir diese Frage bejahen, dann gilt es, zu handeln und bei der CBD die richtigen Pflöcke einzuschlagen. Ich bedanke mich. ({5})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Dr. Sascha Raabe für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Sascha Raabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben heute schon oft gehört, dass der Großteil der Biodiversität in den Entwicklungsländern vorkommt. Ich möchte das an einem Beispiel verdeutlichen: An einem einzigen Baum im Amazonasregenwald in Ecuador - im sogenannten ITT-Gebiet - leben mehr Käferarten als in ganz Europa zusammen. Wir reden heute - Bundesumweltminister Gabriel hat das schon angesprochen - über Gebiete, die uns nicht gehören. Wir werden daher durch diese globale Aufgabe in die Verantwortung gestellt, den Ländern, in denen Armut und Hunger die Hauptprobleme sind, finanziell die Möglichkeit zu geben, sich zu entwickeln, auch wenn sie ihre Wälder nicht nutzen. Wir in Europa sollten ein bisschen selbstkritisch in die eigene Vergangenheit schauen. Früher, als die Länder, in denen wir leben, noch nicht industrialisiert waren, haben wir unsere Wälder großflächig abgeholzt und Flächen verbraucht. Das tun wir zum Teil heute noch. Deswegen müssen wir diesen Ländern die Möglichkeit geben, sich entsprechend zu entwickeln, ohne die Fehler zu machen, wie wir sie gemacht haben. Die neue Regierung in Ecuador hat erkannt, dass auch sie eine Verantwortung für unsere Natur hat. In diesem Zusammenhang möchte ich daran erinnern, dass in den Regenwäldern nicht nur Käfer und andere exotische Tiere leben, sondern auch viele indigene Völker. Auch für diese Völker müssen wir sorgen und die Wälder und Lebensräume erhalten. Die Regierung Ecuadors ist bereit, ihren Beitrag dazu zu leisten. Aber ausgerechnet in dem Gebiet, das die weltweit größte Biodiversität aufweist, liegt auch das größte Erdölvorkommen Ecuadors. Die Regierung hat sich bereit erklärt, auf die Hälfte der Einnahmen aus der möglichen Erdölförderung zu verzichten, wenn die internationale Gemeinschaft die andere Hälfte finanziell kompensiert. Dafür verpflichtet sie sich, dieses Geld in lokale, ökologisch nachhaltige Projekte, die der Bevölkerung vor Ort zugute kommen, und in Armutsbekämpfung zu investieren. Die Regierung ist auf diese Mittel angewiesen, um die Probleme lösen zu können. Die Bundesregierung ist einen Schritt vorangegangen und hat Geld zur Verfügung gestellt, damit Möglichkeiten der Umsetzung geprüft werden können. Ich appelDr. Sascha Raabe liere an dieser Stelle an das Hohe Haus: Lassen Sie uns diesen Vorschlag unterstützen und den Regenwald retten, damit dort sowohl die Biodiversität als auch die indigenen Völker geschützt werden können. ({0}) Ein anderes Beispiel, das deutlich macht, wie Umwelt und Entwicklung zusammengehören und welche Wechselwirkungen sich daraus ergeben, ist Indonesien. Dort gibt es die größten noch verbleibenden Regenwaldflächen, deren Entwaldung - vor allem für die Palmölproduktion - in einem dramatischen Tempo vorangeht. Heute wurden schon mehrfach die Biokraftstoffe angesprochen. Zur aktuellen Problematik ist anzuführen, dass in Indonesien 80 Prozent der Palmölproduktion in der Kosmetikindustrie verbraucht werden. Mancher Dame hier ist vielleicht gar nicht bewusst, dass in ihrer Gesichtscreme ein halber Tropenwaldbaum verarbeitet wurde. Aber das gilt - um dem Gender-Aspekt gerecht zu werden - auch für Männer. ({1}) Die Biokraftstoffe verschärfen die Problematik zusätzlich. Neben der Vernichtung der Regenwälder geht es auch um das Problem der Nahrungsmittelkonkurrenz; denn zum Teil werden keine Nahrungsmittelpflanzen mehr angebaut, um die Flächen für den Anbau von Planzen zu nutzen, die für die Herstellung von Biokraftstoffen verwendet werden können. Das verschärft die derzeitige Nahrungsmittelkrise weiter. Deswegen wollen wir neben den ökologischen Kriterien nur Importe aus nachhaltigem Anbau zulassen, der nicht zulasten der Nahrungsmittelproduktion geht und bei dem die ILO-Kernarbeitsnorm eingehalten wird. Auch darauf müssen wir achten. Ich stimme Sigmar Gabriel ausdrücklich darin zu, dass das für Entwicklungsländer eine echte Chance sein kann. In Brasilien gibt es in der Tat positive Nutzungsmöglichkeiten. Aber wir müssen strikt auf die Zertifizierung und entsprechende Nachweise achten und eine Beweislastumkehr anstreben, sodass uns gegenüber der Nachweis erbracht wird, dass ökologische und soziale Kriterien eingehalten werden. Ich glaube, damit können wir Umwelt und Entwicklung zusammenbringen. In dem Sinne wünsche ich der Konferenz in Bonn viel Erfolg. ({2})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Josef Göppel für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Josef Göppel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003537, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der bisherigen Debatte wurden die internationalen Aspekte in Hinblick auf die Artenschutzkonferenz ausgiebig dargestellt. Ich möchte auf den Beitrag eingehen, den wir selber und die Europäer insgesamt leisten müssen. Deutschland hat auf internationaler Ebene unbestreitbar mehr finanzielle Beiträge geleistet als die meisten anderen Länder. Wir sind maßgeblich am Weltbankfonds beteiligt, der etwa 3 Milliarden Euro umfasst und in den die Erlöse aus dem Emissionshandel nach dem Beschluss der Klimakonferenz auf Bali einfließen sollen. Wir stellen zusätzlich für den internationalen Waldschutz für besonders dringliche und akute Projekte 40 Millionen Euro bereit, die über das Bundesumweltministerium sowie unsere nationalen Institutionen wie die GTZ und die NGOs eingesetzt werden sollen. ({0}) Wir sind in den Augen der Entwicklungsländer aber vor allem dadurch glaubwürdig, dass Europa ein Netz von natürlichen Lebensräumen, Natura 2000, geschaffen hat. Für unser Land macht das gut 10 Prozent aus. Wenn wir von Entwicklungsländern und armen Ländern verlangen, große Waldschutzgebiete auszuweisen, dann müssen wir selber vorangehen. Das hat Europa gemacht. Es ist kein Zufall, dass 1992 das Europäische Parlament den Beschluss gefasst hat, das Natura-2000-Netz einzurichten, also in dem Jahr, in dem in Rio de Janeiro die 1. Vertragsstaatenkonferenz des Übereinkommens über die biologische Vielfalt stattgefunden hat. Das Natura2000-Netz bedarf nun einer eigenständigen Finanzierung im Rahmen des europäischen Haushalts; denn es handelt sich hier um eine Daueraufgabe. Es ist nicht sach- und systemgerecht, hierfür der Landwirtschaft Geld wegzunehmen. Es handelt sich vielmehr um eine eigenständige Aufgabe der gesamten Gesellschaft. ({1}) Wir müssen in Deutschland noch eine Reihe von Aufgaben erfüllen. Wenn man sieht, dass 36 Prozent der Tierarten, die bei uns heimisch sind, gefährdet sind, dann ist ganz klar, wo wir ansetzen müssen. Ich teile deshalb die Idee, bei den Infrastrukturmaßnahmen, bei Straßen- und Schienennetzen, in unserem Land daran zu denken, dass wildlebende Tiere diese für die Menschen gedachten Strukturen überwinden müssen, wenn sie in der Zivilisation überleben sollen.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Göppel, möchten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Happach-Kasan zulassen?

Josef Göppel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003537, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gerne.

Dr. Christel Happach-Kasan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003669, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Lieber Kollege Göppel, ich finde es sehr gut, dass Sie auf die Problematik der gefährdeten Wildtierarten in Deutschland hinweisen und verlangen, Maßnahmen sowohl in der Verkehrspolitik als auch in der Infrastrukturpolitik zum besseren Schutz dieser Tiere zu ergreifen. Wir wissen, dass beispielsweise mehr als die Hälfte des Rehwildbestandes auf der Straße verendet, also nicht durch die Jagd getötet wird. Ich frage Sie vor diesem Hintergrund, mit welcher Begründung die CDU/CSU-Fraktion gemeinsam mit der SPD-Fraktion gestern im Agrarausschuss den von meiner Fraktion unter Federführung der Kollegin Brunkhorst erarbeiteten Antrag, der genau das, was Sie hier beschreiben, zum Ziel hat, abgelehnt hat.

Josef Göppel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003537, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich denke, dass wir uns in der weiteren Diskussion annähern werden. Über die Ziele sind wir uns einig. Wir, die Menschen, müssen bei der Errichtung zivilisatorischer Einrichtungen zunehmend an die Geschöpfe denken, die mit uns leben. Es ist gutes Recht der Opposition, einen solchen Antrag mit konkreten und terminbezogenen Geldsummen einzubringen. Aber Sie verstehen sicherlich, dass eine Regierungskoalition eine etwas vorsichtigere Haltung einnehmen muss. ({0}) Das war der einzige Grund, warum wir nicht sofort zugestimmt haben. Wir werden aber über diese Sache sicherlich weiter positiv diskutieren. Ich möchte noch einen anderen Gesichtspunkt erwähnen. Wir haben zurzeit einen besonders starken Rückgang der Zahl der Tierarten in den Ackerlagen zu beklagen. Ich nenne den Kiebitz und die Feldlerche als Beispiele. Wir brauchen deshalb freiwillige Förderangebote an die Landwirte im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“. Wer sich in der Zivilisation ein Herz für die Natur bewahrt hat und über einen Feldweg geht und eine aufsteigende, jubilierende Lerche erlebt, der kann - besser als in vielen Bundestagsreden - verspüren, wie wertvoll die Schöpfung für uns ist. Das Ganze muss aber mit etwas Geld unterlegt werden. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus- ses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit auf Drucksache 16/9106. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung in Kenntnis der Unter- richtung der Bundesregierung auf Drucksache 16/7082 über die „Nationale Strategie zur biologischen Vielfalt“ die Annahme des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 16/8756 mit dem Titel „Weltnaturschutzgipfel 2008 in Bonn - Biologische Viel- falt schützen, nachhaltig und gerecht nutzen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt da- gegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit Mehrheit angenommen. Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/8878 mit dem Titel „Leitlinien für den internationalen Arten- und Lebensraumschutz im Rahmen des Übereinkommens über die biologische Vielfalt“. Wer stimmt für diese Be- schlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer ent- hält sich? - Diese Beschlussempfehlung ist ebenfalls mit großer Mehrheit gegen die Stimmen der FDP-Fraktion angenommen. Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9106 die Ab- lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü- nen auf Drucksache 16/8890 mit dem Titel „Erhalten, was uns erhält - Die UN-Konferenzen zur biologischen Sicherheit und zum Übereinkommen über die biologi- sche Vielfalt zum Erfolg machen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Auch diese Beschlussempfehlung ist mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen angenommen. Unter Nr. 4 seiner Beschlussempfehlung wird die Ab- lehnung des Antrags der FDP-Fraktion auf Druck- sache 16/8077 mit dem Titel „Naturschutz praxisorien- tiert voranbringen - Entwicklung der Wildtiere in Deutschland“ empfohlen. Wer stimmt für diese Be- schlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer ent- hält sich? - Auch diese Beschlussempfehlung ist mit Mehrheit angenommen. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 5 sei- ner Beschlussempfehlung, eine Entschließung anzuneh- men. Wer stimmt dieser Beschlussempfehlung zu? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Diese Beschluss- empfehlung ist bei Stimmenthaltung der Fraktion Bünd- nis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke angenom- men.1) Wir kommen nun zur Abstimmung über den Entschlie- ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/9116. Wer stimmt für diesen Entschlie- ßungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Entschließungsantrag ist mit Mehrheit abgelehnt. Zum Tagesordnungspunkt 3 b gibt es eine Beschluss- empfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zum Antrag der FDP-Fraktion mit dem Titel „Allgemeine Grundsätze für den Naturschutz in Deutschland“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be- schlussempfehlung auf Drucksache 16/7278, diesen An- trag der FDP-Fraktion abzulehnen. Wer stimmt dieser Beschlussempfehlung zu? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist angenom- men. Schließlich geht es unter dem Tagesordnungs- punkt 3 c um die Abstimmung über einen Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/9066 mit dem Ti- tel „UN-Biodiversitätsgipfel durch Vorreiterrolle beim Schutz der biologischen Vielfalt und fairen Nord-Süd- Ausgleich zum Erfolg führen“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Antrag ist mehrheitlich abgelehnt. 1) Anlage 2 Präsident Dr. Norbert Lammert Interfraktionell wird unter Tagesordnungspunkt 3 d die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/9065 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offenkundig der Fall. Dann ist die Überweisung so be- schlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus Ernst, Hüseyin-Kenan Aydin, Dr. Lothar Bisky, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Förderung der Altersteilzeit durch die Bundesagentur für Arbeit fortführen - Drucksache 16/9067 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Haushaltsausschuss b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({1}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Volker Schneider ({2}), Klaus Ernst, Hüseyin-Kenan Aydin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Altersteilzeit fortentwickeln - zu dem Antrag der Abgeordneten Volker Schneider ({3}), Klaus Ernst, Hüseyin-Kenan Aydin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Rente mit 67 - Berichtspflicht zum Arbeitsmarkt nicht verwässern - Bestandsprüfungsklausel konkretisieren - Drucksachen 16/4552, 16/4553, 16/6749 Berichterstattung: Abgeordneter Peter Weiß ({4}) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Damit sind offenkundig alle einverstanden. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Volker Schneider für die Fraktion Die Linke das Wort. ({5})

Volker Schneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003843, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor einiger Zeit traf ich nach vielen Jahren einen Klassenkameraden aus meiner Volksschulzeit, den ich schon eine Ewigkeit nicht mehr gesehen hatte. Zuerst habe ich ihn nicht erkannt; denn er sah deutlich älter aus als ich, obwohl wir nur einige Monate auseinander sind. Er erzählte mir, dass er als Werkzeugmacher bei einem Zuliefererbetrieb des saarländischen Bergbaus arbeite. Das sei ein Knochenjob. Es seien nun einmal große Maschinen, und er habe insbesondere bei Wartungsarbeiten schwere Teile zu heben. Die vorzeitige Alterung meines Schulkameraden kam also nicht von nichts. Er erzählte weiter, dass ihm die Arbeit zunehmend schwerer falle. Überschichten gehe er aus dem Weg. Früher habe er diese wegen des Geldes gerne gemacht, heute steckten sie ihm tagelang in den Knochen. Neuerdings frage er sich bei jedem Geburtstag, wie lange er das noch durchhalten könne. Es sei für ihn schlicht unvorstellbar, dass er noch mit 60 dieser schweren Arbeit nachgehen könne. Und jetzt hätten die Spinner in Berlin auch noch die Rente mit 67 eingeführt. Dann müsste er noch sieben Monate länger arbeiten oder sich die Rente noch mehr kürzen lassen. ({0}) - Herr Grotthaus, ich habe dagegen gestimmt. Ich sage Ihnen eines: Dieser Mann ist alles andere als ein Einzelfall. ({1}) Auf dem Bau schaffen es die Beschäftigten im Schnitt nicht bis zum 60. Lebensjahr. Und es sind auch nicht die körperlich schwer belastenden Arbeiten allein, die es den Menschen unmöglich machen, bis zum 65., geschweige denn bis zum 67. Lebensjahr einer Vollzeiterwerbstätigkeit nachzugehen. In meinem Beruf - ich bin Sozialarbeiter - leiden viele ältere Kolleginnen und Kollegen in psychisch hoch belastenden Arbeitsfeldern - etwa in der stationären Psychiatrie - unter dem Burn-out-Syndrom. Es nützt niemandem - auch nicht deren Klientel -, wenn sich diese Kolleginnen und Kollegen irgendwie noch in die Rente schleppen. ({2}) Ja, es gibt auch Menschen, die völlig problemlos über das 65. und selbst über das 67. Lebensjahr hinaus arbeiten können; ein Blick in die Reihen dieses Hauses genügt. ({3}) Deshalb sagen wir Linke, dass angesichts der Vielfalt der Arbeitswelt, dass angesichts völlig unterschiedlicher körperlicher und/oder seelischer Belastungen eine starre Altersgrenze zunehmend weniger den Lebensleistungen älterer Arbeitnehmer gerecht wird. ({4}) Wir wollen, dass Arbeitnehmer eine Chance haben, möglichst gesund aus dem Berufsleben auszuscheiden. ({5}) Was wir dringend brauchen, sind flexible Übergänge in den Ruhestand. Darin sind wir uns hier im Hause wohl alle - mit Ausnahme der CDU/CSU-Fraktion - einig. Nur über das Wie wird trefflich gestritten. Aber während noch über die Konstruktion neuer Brücken gestritten wird, werden die alten schon abgerissen. Die Benutzung des Notausgangs Erwerbsminderungsrente hat bereits Rot-Grün drastisch eingeschränkt. Der Volker Schneider ({6}) Zugang in diese Rentenform ist um mehr als ein Drittel zurückgegangen. Jetzt soll auch noch die Altersteilzeit auslaufen. „Arbeiten bis zum Umfallen!“ ist jetzt wohl die Devise. Vergessen wir nicht, dass es der Sozialdemokrat Müntefering war, der gegen alle Widerstände nicht nur die Rente mit 67 durchgepowert hat, ({7}) sondern auch gleichzeitig das Ende der Altersteilzeitförderung verbrochen hat. Also, auf der einen Seite heißt es nun länger arbeiten, auf der anderen Seite werden die Ausstiegsmöglichkeiten zugestellt. Wer vorzeitig aus dem Berufsleben ausscheiden will, muss deftige Abschläge in Kauf nehmen. Was anderes als eine brutale Rentenkürzung für körperlich und/oder seelisch Ausgebrannte ist denn ein solches Vorgehen? ({8}) Ist das noch sozial, liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD? Dass Übergänge vom Erwerbsleben in die Rente sozial zu gestalten sind, darauf haben wir Linke mit einer Reihe von Anträgen hingewiesen. Auch wenn Sie diese reflexartig abgelehnt haben, stellen wir als Linke heute fest, dass es sich lohnt, den Finger immer wieder in die Wunde zu legen. Irgendwann merkt selbst die SPD, was für einen Schwachsinn sie verzapft. ({9}) Das Präsidium der SPD hat am 5. Mai ein Papier für die Weiterentwicklung der Altersteilzeit und Teilrente beraten. Das ist zwar eine Schmalspurvariante der bisherigen Regelung, aber immerhin besser als gar nichts. Wenn sich die SPD in dieser Frage jetzt bewegt, dann geschieht dies nur, weil wir sie in Bewegung gebracht haben. ({10}) Die Linke sorgt dafür, dass eine Kernforderung der Gewerkschaften im parlamentarischen Raum eine Stimme erhalten hat. Dem können Sie sich nicht entziehen, und deshalb macht nur eine starke Linke Deutschland sozialer. ({11}) Große Koalition heißt in der Frage der Altersteilzeit einmal mehr großer Ärger. Selbst die Schmalspurvariante der SPD lehnt die CDU/CSU entschieden ab. Die auslaufende Regelung habe nicht den erhofften Erfolg gehabt, sondern faktisch zur Frühverrentung beigetragen, so der Kollege Brauksiepe am Dienstag. Das ist eine erstaunliche Bewertung. Welchen Sinn hat denn die Altersteilzeit? Doch wohl den, dass Menschen früher in Rente gehen können, und zwar so, dass dies nicht mit einem finanziellen Absturz verbunden ist. Was wäre denn Ihre Alternative, Herr Brauksiepe: dass man als Arbeitnehmerin oder Arbeitnehmer auch noch selbst dafür bezahlt, dass man sein Leben lang so hart geschuftet hat, dass man es einfach nicht mehr packt? Allein im letzten Jahr bekamen fast 105 000 junge Menschen einen Arbeitsplatz, der zuvor durch Altersteilzeit frei gemacht worden ist. Was, Herr Brauksiepe, bieten Sie diesen jungen Menschen zukünftig als Alternative: die Arbeitslosigkeit, einen 1-Euro-Job, Midi- oder Minijob, Leiharbeit, eine Teilzeit- oder befristete Beschäftigung? Oder aus welchen sonstigen prekären Beschäftigungen besteht Ihr fantastischer Aufschwung? Für uns Linke jedenfalls ist die Altersteilzeitförderung gelebte Solidarität zwischen den Generationen. ({12}) Ältere Beschäftigte können aus dem Arbeitsleben zu ordentlichen Konditionen ausscheiden, jüngere kommen in den Arbeitsprozess hinein. Wenn die Altersteilzeitförderung abgeschafft wird bzw., wie geplant, ausläuft, kommt es zu einem massiven Anstieg der Jugendarbeitslosigkeit und zu mehr Altersarmut. Sagen Sie dann nicht, das hätten Sie vorher nicht gewusst! Noch ein paar Worte zur SPD und ihren Vorschlägen. Wir sind gespannt, wann sie uns einen entsprechenden Antrag vorlegt. Dass Sie im Herbst dieses Jahres ein Gesamtkonzept „Altersgerechtes Arbeiten - Zukunftssichere Rente“ vorlegen wollen, dürfte zumindest für die Altersteilzeit etwas spät sein. 2009 läuft die Förderung aus; deshalb wurden entsprechende Tarifverträge von der IG Metall vorsorglich gekündigt. Die SPD will, dass ab 2010 Altersteilzeit für alle Neuanträge erst ab dem 57. Lebensjahr möglich ist. Damit werde bei der Altersteilzeit angeblich die Anhebung der Regelaltersgrenze um zwei Jahre nachvollzogen. Wieso dann aber schon 2010? Die Rente mit 67 ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal gestartet. Vollständig umgesetzt wird sie erst 2029 sein. ({13}) Dass für die Wiederbesetzung der Stellen nur Ausbildungsabsolventen, nicht aber andere junge Arbeitslose infrage kommen sollen, ist nur schwer nachzuvollziehen. Nicht zu akzeptieren sind Überlegungen, statt einer Wiederbesetzung der Stellen auch die Schaffung eines Ausbildungsplatzes als Ausgleich gelten lassen zu wollen. Das zeigt aber, dass Sie trotz aller Ihrer Schaufensterreden genau wissen, wie es auf dem Ausbildungsmarkt aussieht. ({14}) Aber die Altersteilzeit ist nicht das Instrument, um Ihr Versagen zu kaschieren, junge Menschen in genügend großer Zahl und frühzeitig in Ausbildung zu bringen. ({15}) Nicht mehr spaßig sind Ihre Vorschläge zum Teilrentenbezug; denn dieser soll unmöglich sein, wenn im späteren Verlauf eine Abhängigkeit von der Grundsicherung im Alter verursacht wird. Das ist nun wirklich fast nicht mehr zu glauben. Sie tun alles dafür, dass es den Volker Schneider ({16}) Menschen Jahr für Jahr schwerer fallen wird, noch eine vernünftige Rente zu erhalten. ({17}) Sie senken das Rentenniveau und muten den Leuten zunehmend Beschäftigung in prekären Arbeitsverhältnissen zu. Wenn sie in ihrem Leben jede noch so üble und noch so schlecht bezahlte Arbeit angenommen haben bzw. annehmen mussten, dann verweigern Sie ihnen auch noch den flexiblen Übergang in die Rente. Das heißt doch wohl: Wer hat, dem wird gegeben; wer nichts hat, muss sehen, wo er bleibt. ({18}) Es gibt also noch vieles zu diskutieren; aber die Altersteilzeit verlangt heute eine Lösung. Deshalb fordert die Linke die Bundesregierung auf, jetzt die Förderung der Bundesagentur für Arbeit von Leistungen nach dem Altersteilzeitgesetz fortzuführen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({19})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Dr. Ralf Brauksiepe das Wort. ({0})

Dr. Ralf Brauksiepe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Große Koalition hat in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart, Anreize zur Frühverrentung abzubauen, um Impulse für mehr Beschäftigung von älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zu geben. Ich sage auch heute: Das ist genau der richtige Weg, der schon erhebliche Erfolge auf dem Arbeitsmarkt erzielt hat. ({0}) Wir haben eine sehr positive Entwicklung bei der Beschäftigung Älterer zu verzeichnen. Die Beschäftigungsquote für über 55-Jährige lag im zweiten Quartal des Jahres 2007 in Deutschland bei 52 Prozent. Sie hat sich gegenüber dem Jahr 2000 um mehr als 10 Prozentpunkte erhöht. Wir haben schon jetzt das Lissabon-Ziel der Europäischen Union, eine Beschäftigungsquote von über 50 Prozent für Ältere im Jahr 2010 zu erzielen, übertroffen. Zwei Drittel des Beschäftigungsaufschwungs in Deutschland gehen auf Ältere zurück. Von dem Anstieg der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse hat die Altersgruppe der über 55-Jährigen mit einem Plus von fast 7 Prozent profitiert, also weit überdurchschnittlich. Das zeigt: Die Älteren werden in diesem Land nicht nur gebraucht, sondern auch eingestellt; sie kommen verstärkt in Beschäftigung. Das hat etwas damit zu tun, dass wir Frühverrentungsanreize abgebaut haben. Das hat auch etwas damit zu tun, dass wir einen Mentalitätswandel eingeleitet haben, dass wir Signale gegeben haben: Die Älteren gehören nicht zum alten Eisen; sie werden gebraucht. Wir haben Erfolge bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit Älterer, auf die wir stolz sind. ({1}) Nun sagt niemand von uns, dass in der Vergangenheit alles, was in punkto Altersteilzeit und Frühverrentung gemacht worden ist, falsch gewesen wäre. Man muss sich auch dazu bekennen, dass man zu unterschiedlichen Zeiten angesichts unterschiedlicher Rahmenbedingungen unterschiedliche Prioritäten setzt. ({2}) Die Geschichte der Frühverrentung geht ja bis auf das Vorruhestandsgesetz aus dem Jahre 1984 zurück. Das war eine Zeit, als Sie von der Linken noch für ganz andere Zustände hier in Deutschland Verantwortung hatten. ({3}) Da hatten wir mit unserer Politik diese Förderung schon eingeführt. Sie ist über viele Jahrzehnte - jetzt schon fast 25 Jahre - immer befristet weiter verlängert worden. Sie ist zum letzten Mal im Jahr 2000 von Rot-Grün mit der Maßgabe verlängert worden, dass die Dauer der Befristung von der Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt abhängig gemacht wird. Liebe Kolleginnen und Kollegen, welche Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt muss denn noch eintreten, dass man ein solches Instrument endlich auslaufen lassen kann? Reden wir doch unsere Erfolge auf dem Arbeitsmarkt nicht schlecht. Unsere Bilanz mit über 1 Million zusätzlicher Arbeitsplätze zeigt: Wir haben Erfolge auf dem Arbeitsmarkt. Nach der Maßgabe des rot-grünen Gesetzentwurfs muss die Altersteilzeit mit BA-Förderung damit auslaufen. ({4}) Reden wir unsere eigenen Erfolge also nicht schlecht. Jetzt sage ich Ihnen, Herr Schneider, was wir unter Frühverrentung verstehen, damit Sie die Unterschiede zwischen Frühverrentung und Altersteilzeit begreifen. Ich habe schon deutlich gesagt: Man muss zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Prioritäten setzen. Als 1984 das Vorruhestandsgesetz eingeführt wurde, da drängten gerade die geburtenstarken Jahrgänge auf den Ausbildungsmarkt. Ich bin Jahrgang 1967. Ich stamme aus einem dieser Jahrgänge, um die es damals ging. Man stand vor der Frage, was man in dieser akuten Situation tun kann. Das war 1984 die Situation. Seitdem hat sich, wie jeder weiß, in Bezug auf die Geburtenraten und erfreulicherweise auch in Bezug auf die Lebenserwartung viel geändert. Die damals beschlossene Förderung ist überwiegend von den Großbetrieben genutzt worden, sie ist aber von den kleinen mitbezahlt worden. Damals war das eine richtige Idee. Auch die Idee, die Norbert Blüm damals hatte, nämlich gleitende Übergänge zu ermöglichen, war richtig und sympathisch. Es ging nämlich eigentlich genau darum, dass man den Älteren ermöglicht, schrittweise aus dem Arbeitsleben auszusteigen, also im Laufe der Zeit weniger zu arbeiten, aber zugleich ihre Erfahrungen und ihr Wissen im Betrieb an die Jüngeren weiterzugeben. Das verstand man unter gleitenden Übergängen. Die Menschen haben sich aber zu über 90 Prozent für das Blockmodell entschieden: drei Jahre voll arbeiten und drei Jahre gar nicht. ({5}) Das ist aber nichts anderes als Frühverrentung, und hier liegt ein Unterschied zu unseren Vorstellungen. Wir wollten gleitende Übergänge ermöglichen, aber in der Regel wurde Frühverrentung praktiziert. Das kann sich diese Gesellschaft nun nicht mehr leisten. Hier liegt der Unterschied in unseren Betrachtungsweisen. ({6}) Ich sage es noch einmal: 1984 ging es darum, die geburtenstarke Jahrgänge in die Arbeitswelt einzubringen. Wenn diese Förderung im Jahre 2015 ausläuft, hat es sie 32 Jahre lang gegeben. 32 Jahre sind eine lange Zeit. 32 Jahre lang gab es eine gute Begründung dafür. Heute fördern wir den Berufseinstieg von jungen Menschen, deren Eltern sich noch gar nicht kannten, als diese Regelungen eingeführt wurden, um die damaligen geburtenstarken Jahrgänge in Beschäftigung zu bringen. 32 Jahre sind gut begründet, und das Ende dieser Förderung im Jahr 2015 ist ebenfalls gut begründet, liebe Kolleginnen und Kollegen. Auch die von Rot-Grün eingesetzte Rürup-Kommission hat im Jahre 2003 völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass das Blockmodell, wie es in der Regel praktiziert wird, der notwendigen Bewusstseinsbildung bei den Menschen, dass sie länger arbeiten müssen, im Weg steht. Deswegen ist es auch richtig, wenn wir aus solchen Ratschlägen die richtigen Konsequenzen ziehen. Die Große Koalition hat die Weichen für die Förderung der Teilhabe Älterer richtig gestellt, insbesondere mit der Initiative „50 plus“. Es kann doch nicht sein, dass wir propagieren, dass es sich lohnt, dass sich auch über 50-Jährige weiterbilden, und die Frühverrentung in Sonntagsreden ablehnen, gleichzeitig aber akzeptieren, dass es in den Großbetrieben zum guten Ton gehört, dass über 50-Jährige möglichst schnell die Betriebe verlassen. Sprechen Sie einmal mit denjenigen, deren Berufsgruppen betroffen sind. Es sind doch nicht die kleinen mittelständischen Dachdeckerunternehmen, die die Möglichkeiten zur Frühverrentung nutzen, es sind doch die Großunternehmen, wo diese generalstabsmäßig organisiert werden. Wir akzeptieren nicht, dass diejenigen, die generalstabsmäßig die Älteren aus den Betrieben herausdrängen, uns erzählen, eine Rente mit 67 sei unsinnig, da es in den Betrieben ja gar keine Älteren gebe. Dieses lassen wir uns nicht von denen vorhalten, die selbst dafür sorgen, dass die Älteren aus den Betrieben herausgedrängt werden. Damit muss Schluss sein, liebe Kolleginnen und Kollegen. ({7}) Die Große Koalition hat sich bei den Beratungen über den Entwurf eines Gesetzes zur Rente mit 67 intensiv mit allen Rentenarten beschäftigt und sehr genau geprüft, wo es notwendig ist, bei den Rentenarten Ausnahmen von einer allgemeinen Verlängerung um zwei Jahre zu machen. Wir haben Ausnahmen bei den Erwerbsminderungsrenten gemacht, und zwar aus guten Gründen. Der Grundsatz muss sein: Wer nicht mehr arbeiten kann, der wird von der Solidargemeinschaft aufgefangen. Aber diejenigen, die nicht mehr arbeiten können, können nur von denen aufgefangen werden, die arbeiten können und denen wir eine längere Lebensarbeitszeit abverlangen müssen. Daher ist diese Regelung - Manna fällt schließlich nicht vom Himmel - anders nicht zu finanzieren. ({8}) Wir haben eine besondere Ausnahmeregelung für Menschen mit 45 Versicherungsjahren geschaffen. Für sie haben wir eine eigene Rente für besonders langjährig Versicherte eingeführt. Wir haben darüber hinaus Ausnahmen geschaffen und einen zusätzlichen breiten Korridor für einige Berufsgruppen mit langen Versicherungszeiten von mindestens 35 Jahren eingeführt. Das haben Klaus Brandner und ich, die wir damals für die Fraktionen diese Gespräche geführt haben, gemeinsam gemacht und auch die Ergebnisse gemeinsam erarbeitet. Wir haben gemeinsam festgestellt: Die Rente wegen Altersteilzeit muss auslaufen. Das macht aber nur dann Sinn, wenn auch die BA-Förderung, die für 100 000 Menschen, um die es geht, jedes Jahr rund 1,5 Milliarden Euro aufwenden muss, ausläuft. Ich habe immer klipp und klar gesagt - das erkläre ich auch heute wieder für unsere Fraktion -: Wir sind immer für neue Argumente offen. Aber wer etwas anderes will, der muss neue Argumente gegenüber dem Stadium bringen, als wir diese sinnvollen Beschlüsse für die Rente mit 67 beschlossen haben. ({9}) Dass ein Fristablauf wie der für die Förderung von Neufällen in der Altersteilzeit Ende 2009 näher rückt oder dass ein Bundestagswahltermin näher rückt, sind für uns keine neuen Argumente. ({10}) Wir haben den Entwurf eines Gesetzes zur Rente mit 67 aus guten Gründen so gemacht, wie er ist. Daran halten wir fest. ({11}) Dabei ist völlig klar: Wir sind nicht gegen das Instrument der Altersteilzeit als solches. Deswegen ist im Jahressteuergesetz 2007 ausdrücklich festgelegt worden, dass es das Instrument der Altersteilzeit nicht nur weiterhin geben wird, sondern dass es auch durch die Steuerund Sozialabgabenfreiheit für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber weiter gefördert wird. Wir unternehmen erhebliche Anstrengungen, um junge Menschen in Ausbildung und Beschäftigung zu bringen. Jeder weiß, dass ein Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Ausbildungsbonus in den parlamentarischen Beratungen ist. Wir werden das in den nächsten Wochen und Monaten abschließen. Wir fördern also über die Steuer- und Sozialabgabenfreiheit auch über 2009 hinaus die Altersteilzeit. Wir unterstützen darüber hinaus nach Kräften die jungen Menschen bei ihrer Integration in das duale Ausbildungssystem. In dem Alterssicherungsbericht des Bundesarbeitsministeriums wird festgestellt: Nur bei 30 bis 40 Prozent der Altersteilzeitfälle wird die Förderung der Bundesagentur für Arbeit in Anspruch genommen. Der neue Chemietarifvertrag zeigt neue Wege auf. Ich weiß, dass in dem Ingolstädter Wahlkreis von Ernährungsminister Horst Seehofer entsprechende Regelungen getroffen wurden. Auch einige Automobilunternehmen in Deutschland denken hier weiter. Wir sind offen dafür, auch Langzeitarbeitskonten verstärkt zu schützen. Das Bundesarbeitsministerium arbeitet an einem entsprechenden Gesetzentwurf. Wir sind sehr zuversichtlich, hier zu einer guten Lösung zu kommen. Ich spreche hier auch vor dem Hintergrund von fast einem Vierteljahrhundert einer immer wieder begrenzt verlängerten Förderung der Altersteilzeit. Ich kann die Begünstigten mit ihren Argumenten verstehen, dass man doch noch einmal für eine begrenzte Zeit etwas tun sollte. Aber ich sage klipp und klar: Aus der Sicht der Begünstigten wird es niemals einen geeigneten Zeitpunkt geben, auf das Geld anderer Leute zu verzichten. ({12})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Brauksiepe, bitte kommen Sie zum Schluss.

Dr. Ralf Brauksiepe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir müssen auch die mehr als 27 Millionen und jeden Monat an Zahl zunehmenden Menschen mit ihren Beiträgen zur Arbeitslosenversicherung im Blick haben. Wir halten in dieser Frage Kurs. Wir stehen zu den getroffenen Verabredungen auch bei Gegenwind. Herzlichen Dank. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Dr. Heinrich Kolb für die FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Schneider, mit der Altersteilzeit ist es so ähnlich wie mit dem Kommunismus: Es klingt theoretisch gut, funktioniert praktisch aber nicht und nützt den Menschen auch nicht wirklich, im Gegenteil. ({0}) Vielleicht ist ja, Herr Schneider, diese Ähnlichkeit der Grund, warum die Linke - jedenfalls nach der geltenden Gesetzes- und Antragslage - als letzte verbliebene Fraktion im Deutschen Bundestag der Altersteilzeit weiter anhängt und heute sogar versucht, der mit einem Auslaufdatum versehenen Regelung neues Leben einzuhauchen. Dieses Vorhaben, Herr Schneider und liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, sollten Sie ebenso wie die kommunistische Ideologie besser beerdigen. ({1}) Wir wissen heute: Die Frühverrentung per Altersteilzeit war ein teurer Irrweg. ({2}) - Der Kommunismus auch; das will ich gerne ergänzen. ({3}) Der Spiegel schreibt in seiner aktuellen Ausgabe - ich zitiere -: Was besonders belasteten Arbeitnehmern den Ausstieg erleichtern sollte, entwickelte sich zu einem finanziellen Sprengsatz für die Sozialkassen und zu einem Instrument, die „Generation 50 plus“ flächendeckend aus dem Erwerbsleben zu kicken. ({4}) Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen. Ich erwähne, dass die FDP-Bundestagsfraktion die Erste war, die sich den Fehler eingestanden und auf die Abschaffung der Altersteilzeit gedrängt hat. ({5}) - Ja, Herr Fuchs, wir haben das damals mit beschlossen. Aber man muss aus seinen Fehlern lernen. Die anderen Fraktionen sind erst später zögerlich, aber am Ende ebenfalls auf diesen Kurs eingeschwenkt. Nach geltender Rechtslage wird es nach dem 1. Januar 2010 keine neue Förderung der Altersteilzeit auf Kosten der Beitragszahler mehr geben. Ich füge hinzu: Und das ist auch gut so. ({6}) Durch die Altersteilzeit sind nämlich die älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer regelrecht aus den Betrieben herausgedrängt worden, und zwar flächendeckend. Zu dem ursprünglich angedachten Koppelgeschäft - Förderung des Ausscheidens älterer, damit Platz für die Einstellung jüngerer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer geschaffen wird - ist es doch in den allerwenigsten Fällen gekommen. Zugegeben: Viele Menschen haben die Frühverrentung bzw. die Altersteilzeit bewusst als einen sicheren Hafen in Zeiten schwieriger Arbeitsmarktverhältnisse begriffen und sich gerne auf das sprichwörtlich sichere Altenteil drängen lassen, allerdings ohne Aussicht auf Rückkehr, auch nicht in Zeiten besserer Konjunktur. Raus ist raus. Frank Weise, der Chef der Bundesagentur für Arbeit - Anstaltsleiter, würde mein Kollege Niebel sagen -, wird dazu im Spiegel mit dem Satz zitiert: Versuchen Sie mal, einen Daimler-Ingenieur aus der Altersteilzeit zu holen. Der lacht Sie doch aus. Recht hat er; leider, sage ich dazu. ({7}) Mit hohem Aufwand von rund 1,5 Milliarden Euro pro Jahr werden mit der Altersteilzeitregelung erfahrene Leistungsträger aus dem Wirtschaftsprozess herausgekauft - ein volkswirtschaftlich vollkommen unsinniges Geschäft. Deswegen ist es an der Zeit, die Dinge neu zu denken. Die FDP-Bundestagsfraktion hat daher den Vorschlag eines flexiblen Renteneintritts ab dem 60. Lebensjahr bei Wegfall aller Zuverdienstgrenzen vorgelegt und jetzt auch im Deutschen Bundestag eingebracht. ({8}) Der FDP-Vorschlag ist zukunftsweisend. ({9}) - Frau Präsidentin, der Kollege Straubinger möchte eine Zwischenfrage stellen. - Bitte.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Genau darauf wollte ich Sie gerade aufmerksam machen; aber wenn Sie sie zulassen wollen, bitte.

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Kolb, Sie haben richtigerweise ausgeführt, dass die Frühverrentungsmaßnahmen volkswirtschaftlicher Unsinn sind. Jetzt kommen Sie mit der Teilrente. Ist nicht auch das volkswirtschaftlicher Unsinn?

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das ist kein volkswirtschaftlicher Unsinn, im Gegenteil. Die Erfahrungen - das will ich an dieser Stelle gerne sagen - etwa in Dänemark oder Schweden zeigen: Wenn die Menschen die Möglichkeit haben, frei zu entscheiden, also wenn sie nicht mehr arbeiten müssen, aber noch arbeiten können, dann steigt in der Tat die Beschäftigungsquote Älterer. In Dänemark sind 61 Prozent, in Schweden 69 Prozent aller 55- bis 65-Jährigen erwerbstätig, nicht weil sie arbeiten müssen, sondern gerade weil sie das Angebot haben, mit 60 in Rente zu gehen, dieses aber nicht nutzen müssen. Sie arbeiten so lange, wie sie es selbst für richtig halten. ({0}) - Die bleiben doch dabei, Kollege Brauksiepe. Sie scheiden eben nicht aus, sondern bleiben länger, aber in Teilzeit; sie arbeiten noch die Hälfte der ursprünglichen Arbeitszeit. Das ist doch das, worum es geht. Die FDP schlägt vor, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer unter Berücksichtigung der erworbenen Anwartschaften in der Rentenversicherung und aus privater gesetzlicher Vorsorge, Grundsicherungsfreiheit vorausgesetzt, frei entscheiden können sollen, ob und in welchem Umfang sie nach dem 60. Lebensjahr noch erwerbstätig bleiben wollen. Wir brauchen diesen Paradigmenwechsel: Nicht mehr ein möglichst frühes Ausscheiden aus dem Arbeitsprozess, sondern eine möglichst lange Teilhabe am Erwerbsleben muss zum neuen Leitbild in unserer Gesellschaft werden. ({1}) Arbeit ist nämlich nicht nur eine Last. Herr Schneider, diesen Eindruck vermitteln Sie manchmal. Arbeit hat auch etwas mit dem Selbstwertgefühl von Menschen und mit dem Gefühl, noch dazuzugehören und gebraucht zu werden, zu tun. Wir wollen, dass mit dem Bezug einer Voll- bzw. Teilrente auch alle Zuverdienstgrenzen entfallen. Wir glauben, dass mit diesem Wegfall ein hohes Erwerbsinteresse der älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer begründet wird. Ich sage Ihnen voraus: Die möglichst lange Beteiligung der Älteren am Erwerbsleben wird schon in wenigen Jahren volkswirtschaftliche Räson sein, nämlich dann, wenn ab dem Jahr 2012 die geburtenstarken Jahrgänge aus dem Erwerbsleben ausscheiden und vergleichsweise geburtenschwache Jahrgänge nachrücken. Auf die Erfolge in Skandinavien und in England habe ich schon hingewiesen. Ich will aber noch einmal betonen: Nicht das Gefühl, noch arbeiten zu müssen, sondern das Gefühl, arbeiten zu können, führt am Ende dazu, dass trotz des Angebotes, in Rente zu gehen, die Menschen länger in Arbeit bleiben. Ich freue mich - das will ich hier sehr deutlich sagen -, dass das FDP-Modell nach der anfänglich unvermeidlichen Trotzreaktion der anderen Parteien nach dem Motto „Was nicht von uns ist, kann nicht gut sein“ jetzt zunehmend auf Zustimmung stößt. Ich freue mich, Herr Schaaf, dass in den Papieren, die es im Moment aus der SPD gibt, unsere Gedanken reflektiert werden. Ich freue mich auch, dass beispielsweise Herr Laumann in Nordrhein-Westfalen wesentliche Elemente unseres Konzeptes eines flexiblen Übergangs übernommen hat. ({2}) Auch bei den Tarifpartnern stoßen unsere Vorschläge auf große Zustimmung. ({3}) Lassen Sie uns also nicht den Modellen von gestern nachhängen, sondern gemeinsam überlegen, wie der FDP-Vorschlag im breiten Konsens in das Bundesgesetzblatt aufgenommen werden kann. Wenn das der Ertrag der heutigen Debatte ist, Herr Schneider, hätte sich das Ganze am Ende doch gelohnt. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort für die SPD-Fraktion hat die Kollegin Elke Ferner. ({0})

Elke Ferner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000535, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Wenn man Herrn Schneider zuhört, kann man fast den Eindruck bekommen, die Linke macht Politik nach dem Motto „Im Himmel ist Jahrmarkt“, egal wie und von wem es bezahlt werden muss. ({0}) Ich möchte daran erinnern, dass der Beschluss des Parteipräsidiums der SPD vom vergangenen Montag nichts Neues enthält. Er basiert in allen Punkten auf dem, was von einer Arbeitsgruppe, die der Kollege Ludwig Stiegler und ich im letzten Jahr geleitet haben und deren Ergebnisse dem Hamburger Parteitag vorgelegt wurden, vorgeschlagen wurde. Wer sich die Mühe gemacht hätte, diesen Bericht zu lesen, hätte feststellen können, dass keine neue Erkenntnis, initiiert durch die Linkspartei oder andere Parteien, aufgenommen worden ist; denn die Willensbildung in der SPD findet immer noch in der SPD und nicht in anderen Parteien statt. ({1}) Ein weiterer Punkt, den man in dieser Debatte hervorheben muss, ist, dass sich die Beschäftigungsquote der älteren Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen - darauf hat der Kollege Brauksiepe eben hingewiesen - deutlich verbessert hat. ({2}) Ich muss aber sagen, dass ich mich in der Summe mit einem Anteil von 52 Prozent, mit dem die Lissabon-Strategie gerade so erfüllt wird, nicht zufrieden gebe. Wir brauchen eine entsprechende Quote durchgängig in allen Altersgruppen. Da ist noch einiges zu tun. In dieser Debatte, in der wir über Anträge zur Altersteilzeit sprechen, muss man das Thema komplexer behandeln, als es in Teilen angelegt worden ist. Es kann nicht vorrangig das Ziel sein, Menschen frühzeitig in Rente zu schicken. ({3}) Das Ziel muss vielmehr sein, Menschen, solange es geht, im Erwerbsprozess halten zu können. Das geht aber nicht, indem man sozusagen hinten ansetzt. Man muss ein ganzes Erwerbsleben lang dafür sorgen, dass die Arbeitsbedingungen human, alterns- und altersgerecht sind und dass vor allen Dingen keine Dequalifizierung im Laufe des Erwerbsprozesses stattfindet. Das ist bei uns in Deutschland leider noch der Fall. ({4}) - Stellen Sie Zwischenfragen, Frau Kollegin, und schreien Sie nicht so durch die Gegend! ({5}) Bei der betrieblichen Weiterbildung, aber auch bei der notwendigen außerbetrieblichen Weiterbildung haben wir noch viel zu tun. Wenn ich mir anschaue, wie wenig Menschen über 50 bzw. 55 Jahre überhaupt noch an betrieblicher Weiterbildung partizipieren können - im Übrigen können Frauen in deutlich geringerem Umfang an betrieblicher Weiterbildung partizipieren -, so muss ich feststellen, dass hier noch einiges zu tun ist. Dequalifizierung kann sich unsere Wirtschaft gerade vor dem Hintergrund einer älter werdenden Gesellschaft nicht leisten. Ein weiteres Thema, das in diesem Zusammenhang natürlich zu berücksichtigen ist, ist die Tatsache, dass es selbst bei allgemein sehr humanen Arbeitsbedingungen und Besserqualifizierung in Zukunft - heute im Übrigen auch - immer Menschen geben wird, die unter sehr schweren Bedingungen arbeiten müssen - ob das im Baugewerbe, im Bergbauzulieferbereich, im Stahlbereich oder in der Automobilindustrie ist. Ich nenne aber ausdrücklich beispielsweise auch die Krankenschwestern in den Krankenhäusern und die Altenpflegerinnen in den Pflegeheimen im Wechseldienst, die teilweise unter körperlich und psychisch sehr anstrengenden Belastungen ihre Arbeit verrichten müssen und die heute die Regelarbeitsgrenze von 65 Jahren nicht gesund oder kaum gesund erreichen können. Auch darauf brauchen wir Antworten. Ich glaube aber nicht, dass die frühere Frühverrentungspraxis die richtige Antwort darauf ist. Die frühere Frühverrentungspraxis, an der im Übrigen auch Sie, Herr Kolb, bzw. damals Ihre Partei in Regierungsverantwortung beteiligt waren, ({6}) hat in erster Linie dazu geführt, dass sich große Betriebe ihren Personalabbau über öffentliche Systeme mitfinanzieren lassen konnten und die kleineren Betriebe, obwohl sie dies mitbezahlt haben, mit ihren Problemen alleingelassen wurden. ({7}) Dies hat leider zu einer Mentalität geführt, die bewirkt hat, dass in vielen Betrieben kaum Beschäftigte über 50 Jahre zu finden sind. Das ist leider ein Ergebnis der Frühverrentungspraxis der 70er- und insbesondere der 80er-Jahre. Ich glaube nicht, dass das ein Zukunftsmodell sein kann. Bei dem Punkt, der jetzt zur Diskussion steht, bei der Frage der Altersteilzeit, sollte man, Herr Kollege Schneider, ein Stück weit ehrlich sein. Sie haben eben wider besseres Wissen behauptet, dass die Altersteilzeit ausläuft; das kann man ja im Protokoll nachlesen. Die Altersteilzeit läuft aber nicht aus. ({8}) Altersteilzeit ist nach wie vor auch nach dem 31. Dezember 2009 möglich. Sie wird auch gefördert zwar nicht über die BA, aber über die Steuer- und Sozialversicherungsfreiheit der Aufstockungsbeträge. Die Frage, über die wir jetzt zu diskutieren haben, ist, ob auch die BA-geförderte Altersteilzeit zwangsläufig, wie es im Moment Gesetzeslage ist, auslaufen muss oder ob es, Herr Brauksiepe, nicht auch gute Gründe gibt, vielleicht doch eine zumindest eingeschränkte Weiterförderung durch die BA bei Inanspruchnahme von Altersteilzeit zu gewährleisten. Ich nenne Ihnen einen guten Grund. Dazu können Sie sagen, er sei Ihnen nicht gut genug. Es geht hier nicht um Wahltermine oder sonst irgendetwas, sondern darum, beispielsweise dafür zu sorgen, dass junge Menschen, junge Männer und Frauen, die ihre Ausbildung in einem staatlich anerkannten Ausbildungsberuf erfolgreich absolviert haben, in Beschäftigung kommen können. Wir alle kennen doch die Situation der jüngeren Generation, die nach der Ausbildung in unbezahlten Praktika, mit befristeten Verträgen usw. mehr schlecht als recht über die Runden kommen muss. Ich finde, dass es ein durchaus gutes Argument ist, noch einmal darüber nachzudenken, ob man die durch die BA geförderte Altersteilzeit nicht auch in Zukunft gewährleisten kann. Wir bauen über diese Regelung Brücken für die Jungen in das Erwerbsleben, und wir bieten den Älteren, die aus welchen Gründen auch immer nicht mehr vollschichtig oder nicht mehr so lange arbeiten wollen oder können, eine flexiblere Brücke vom Erwerbsleben in die Altersphase. ({9}) Die Teilrente, die auch von Herrn Schneider kritisiert worden ist, halte ich für durchaus diskussionswürdig. Wir schlagen vor, bereits ab dem 60. Lebensjahr einen Teilrentenbezug zu ermöglichen, wenn der Teilrentenbezug nachher nicht zur Bedürftigkeit führt. Sie haben nur die Hälfte dessen genannt, was in dem Beschluss steht. Sie haben nicht gesagt, dass die Arbeitgeber verpflichtet werden sollen, die Beträge aufzustocken, die aufgrund des Abschlages bei einer Teilrente in Kauf genommen werden müssen. So soll verhindert werden, dass bei einem normalen Rentenbezug im Alter die Grundsicherung in Anspruch genommen werden muss. Das Teilzeitbeschäftigungsverhältnis muss natürlich sozialversicherungspflichtig sein, weil von Teilrente - das wissen wir alle niemand leben kann und durch das Fortbestehen der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung Rentenansprüche erworben werden. Wir glauben, dass man mit diesen Maßnahmen und der Anhebung bzw. Aufhebung der Zuverdienstgrenze einen flexibleren Übergang in die Altersrente als bisher ermöglichen kann. Das Thema Insolvenzsicherung der Lebensarbeitszeitkonten gehört auch in diesen Zusammenhang. Man muss auch über Instrumente wie Zusatzbeiträge nachdenken können. Ich glaube, dass es dafür in diesem Haus durchaus Mehrheiten gibt. Abschließend möchte ich sagen, dass wir auch für diejenigen nach einer Lösung suchen, die zwar nicht so stark eingeschränkt sind, dass sie eine Teil- oder Vollerwerbsminderungsrente beziehen können, aber trotzdem nur noch leichte Tätigkeiten ausüben können. Es darf nicht sein, dass das Arbeitsmarktrisiko bei diesen Menschen voll hängen bleibt. ({10}) Auch dazu werden wir im Herbst Vorschläge machen, und zwar nicht nach dem Motto „Im Himmel ist Jahrmarkt“, sondern nach dem Motto „Was ist realisierbar und finanzierbar?“. Schönen Dank. ({11})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die Kollegin Brigitte Pothmer das Wort.

Brigitte Pothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003823, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frühverrentungsregelungen sind allzu oft von Unternehmen missbraucht worden, um auf Kosten der Solidargemeinschaft personelle Strukturanpassungen vorzunehmen. Während man sich so bequem älterer Arbeitnehmer entledigt hat, ist die Einstellung junger Arbeitnehmer nur unzureichend vorgenommen worden. ({0}) Diese bahnbrechende Erkenntnis stammt nicht von mir, sondern von den Kolleginnen und Kollegen der SPD-Fraktion. Dieser kluge Ausspruch wurde im Ausschuss für Arbeit und Soziales getätigt. Deswegen ist diese Erkenntnis noch lange nicht falsch. Doch leider interessiert die Sozialdemokraten heute auch das kluge Geschwätz von gestern nicht. Liebe Frau Ferner, was haben Sie eigentlich für eine Rede gehalten? Sie haben deutlich gemacht, dass Frühverrentungsregelungen missbraucht worden sind; dabei haben Sie die Weiterführung dieser Regelung erst jüngst beschlossen. Sie haben alle Erkenntnisse über Bord geworfen. ({1}) Das ist nur eine leicht modifizierte Fassung der alten Regelung. ({2}) Liebe Frau Ferner, selbst wenn Sie hier behaupten, die Beschlüsse der Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten entstünden autonom in Ihren Köpfen, so lässt sich doch nicht übersehen, dass diese Kursänderung dem Vorwahlkampf geschuldet ist. ({3}) Diese Kursänderung ist ein Versuch, der Rentendebatte von Rüttgers etwas entgegenzusetzen. ({4}) Das ist der Versuch, soziales Profil zu zeigen. Ich kann Ihnen nur sagen: Wenn Sie sich von jedem, von wirklich jedem durch die Gegend hetzen lassen, dann werden Sie ziemlich schnell aus der Puste sein. ({5}) Dass die Linke mit dem hier vorliegenden Antrag alles beim Alten lassen will, macht keinen großen Unterschied. Beide, Linke und Sozialdemokraten, haben eine Entscheidung gegen alle vorliegenden Fakten getroffen. Dass diese Entscheidung etwas mit sozialer Gerechtigkeit zu tun hat, bestreite ich. Das werde ich nachweisen. Alle Erfahrungen zeigen unzweideutig: Erstens. Die Altersteilzeit ist keine Teilzeit, wie es in der Begründung Ihres Antrages steht, Herr Schneider, und sie ist auch kein gleitender Übergang in die Rente, sondern ein Vorruhestandsmodell. In der Zeit zwischen 1996 und 2005 ist dieses Modell zu 90 Prozent als Blockmodell genutzt worden. Dieser Trend hat sich bis 2007 verstärkt. Inzwischen sind es 94 Prozent, die das nicht als gleitenden Übergang, sondern als Blockmodell nutzen. Damit wird das Ziel des Altersteilzeitgesetzes, einen fließenden Übergang aus dem Erwerbsleben zu schaffen, offensichtlich verfehlt. ({6}) Zweitens. Die Altersteilzeit wurde überwiegend zum Personalabbau genutzt. Lieber Herr Schneider, das kann Ihnen doch eigentlich nicht recht sein. Die Deutsche Rentenversicherung schätzt, dass sich etwa drei- bis fünfmal mehr Arbeitnehmer in der Altersteilzeit befinden als im Bestand der BA. Das heißt mit anderen Worten: Seit den 90er-Jahren sind rund 431 000 Altersteilzeitstellen wiederbesetzt worden. Gleichzeitig sind ungefähr 1,3 bis 2,5 Millionen Arbeitsplätze mithilfe von Steuermitteln ({7}) und Beitragsmitteln abgebaut worden. Wollen Sie das mit Ihrem Antrag weiterführen, Herr Schneider? Drittens. Von der Altersteilzeit profitieren nun wahrlich nicht die Geringverdiener. In Anspruch genommen wird die Altersteilzeit von relativ gut verdienenden Beschäftigten männlichen Geschlechts. Nach Angaben der Rentenversicherung haben die Arbeitsteilzeitler im Durchschnitt höhere Entgelte erzielt, gehen früher in Rente und beziehen trotzdem höhere Renten als die Vergleichsgruppen. Ist das Ihre Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit? Unserer Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit entspricht das nicht. ({8}) Wir finden es falsch, dass auch mit den Beitragsmitteln, den Steuermitteln derjenigen, die sich diese Altersteilzeit nicht leisten können, die Altersteilzeit derer mitfinanziert wird, die mehr Geld in der Tasche haben. Das entspricht wahrlich nicht dem, was wir als gerecht empfinden. 1,38 Milliarden Euro von diesen Beitragsmitteln hat die Bundesagentur für Arbeit allein im letzten Jahr dafür ausgegeben. Ich finde, diese Beitragsgelder bräuchten wir an anderer Stelle, insbesondere für die Qualifizierung derjenigen, die geringe Einkommen haben, weil sie gering qualifiziert sind. Mit der Meinung bin ich nicht alleine. Auch Herr Alt vom Vorstand der BA sagt, dass sie ihre Aufgabe nicht darin sehen, Leute frühzeitig aus dem Erwerbsleben herauszukaufen, sondern dass sie der Auffassung sind, dass ihre Aufgabe darin besteht, den Menschen die Chance zu geben, den Renteneinstieg im Alter von 67 zu erreichen. ({9}) Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, der Arbeitgeberverband Gesamtmetall und der Zentralverband des Deutschen Handwerks sehen das genauso. Wenn also selbst diejenigen, die von diesen Beschlüssen profitieren würden, sagen, diese Beschlüsse seien falsch und gehen in die falsche Richtung, ({10}) dann sollten aus meiner Sicht die Sozialdemokraten noch einmal darüber nachdenken und ihre Beschlussfassung korrigieren. ({11}) Ich will nicht den Eindruck erwecken, als würde ich es Beschäftigten nicht gönnen, frühzeitig und gleitend aus dem Erwerbsleben auszusteigen. Aber ich finde tatsächlich, dass es die vornehmste Aufgabe der Tarifparteien ist, genau dafür flexible und vielfältige Regelungen zu finden. ({12}) Herr Schaaf, Sie haben, wie ich finde, den Linken im Ausschuss sehr eindrücklich erklärt, dass Sie es inzwischen als einen Fehler ansehen, dass Sie seinerzeit als Betriebsrat für einen frühzeitigen Ausstieg gekämpft haben, dass Sie es als richtiger und als notwendig ansehen, sich darauf zu konzentrieren, die Arbeitswelt zu humanisieren und bessere Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten herbeizuführen, damit sie nicht aus Krankheitsgründen oder weil sie ausgebrannt sind frühzeitig aus dem Erwerbsleben ausscheiden müssen. Das ist die Aufgabe. Sie besteht nicht darin, Beschlüsse zu fassen, die diese Frühverrentungspraxis weiterführen. ({13}) Was wir brauchen, ist eine Debatte darüber, wie wir die notwendige längere Lebensarbeitzeit mit neuen Ideen gestalten können, nicht mit alten Rezepten.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Pothmer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schaaf?

Brigitte Pothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003823, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja. ({0})

Brigitte Pothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003823, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja. Das haben wir abgesprochen. ({0})

Anton Schaaf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003623, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Kollegin Pothmer, Sie haben dargestellt, was ich im Ausschuss gesagt habe. Damit haben Sie selbstverständlich völlig recht.

Brigitte Pothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003823, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sie auch.

Anton Schaaf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003623, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sie sollten aber auch den Kontext berücksichtigen - die Kollegin Elke Ferner hat ihn eben sehr deutlich beschrieben -: Natürlich muss es oberste Priorität haben, dass die Menschen so lange wie möglich gesund in Arbeit bleiben können. ({0}) Es wird aber immer Menschen geben, die das aus verschiedensten Gründen nicht schaffen. ({1}) Da Sie eben ausdrücklich gesagt haben, dass Sie das Instrument der durch die BA geförderten Altersteilzeit abschaffen wollen - das haben Sie auch begründet -, möchte ich Sie fragen: Würden Sie mir recht geben, dass die nicht geförderte Altersteilzeit über 2009 hinaus bestehen bleibt? Können wir, weil dieses Instrument aus Ihrer Sicht ja völlig falsch ist, in absehbarer Zeit einen Antrag der Grünen erwarten, in dem Sie fordern, die nicht geförderte Altersteilzeit abzuschaffen? Auf diese Fragen hätte ich gerne konkrete Antworten. Ich hätte auch auf folgende Fragen gerne konkrete Antworten: Was machen wir mit den Menschen, die vorzeitig kaputt sind und nicht mehr arbeiten können? Wie können wir dafür sorgen, dass sie aus dem Arbeitsleben gleiten können? Wie können wir hier einen vernünftigen Übergang gewährleisten? Wie können wir die Potenziale Älterer nutzen, die nicht mehr so leistungsfähig sind, wenn nicht über Instrumentarien wie die Altersteilzeit?

Brigitte Pothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003823, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

In dem Beschluss, den Sie gefasst haben, haben Sie zum Ausdruck gebracht, dass Sie die durch die BA geförderte Altersteilzeit, die 2009 auslaufen soll, nicht im Jahre 2009 auslaufen lassen, ({0}) sondern weitere sechs Jahre fortführen wollen. Das steht im Mittelpunkt meiner Kritik. Jetzt steht nicht zur Debatte, dass es weiterhin möglich sein soll, Altersteilzeitmodelle, die zwischen den Tarifpartnern vereinbart werden, steuer- und abgabenfrei zu stellen. ({1}) Auch wenn das derzeit nicht zur Debatte steht, sollten wir über dieses Thema noch einmal reden, Herr Schaaf. Im Übrigen sehe auch ich die Notwendigkeit, genau das zu tun, was Sie im Ausschuss, wie ich finde, eindrucksvoll erklärt haben. - Danke schön. ({2}) Es gibt immer mehr Studien, in denen der Arbeitskräftebedarf bis ins Jahr 2020 projiziert wird. In diesen Studien wird eines ganz deutlich: Wir laufen auf einen riesengroßen Fachkräftemangel zu, und zwar auch dann, wenn tatsächlich alle Beschäftigten bis zu ihrem 67. Lebensjahr arbeiten. Daher sollten wir nicht das tun, was Sie beschlossen haben: dass die Älteren den Jüngeren Platz machen sollen. Wir brauchen Jüngere und Ältere, Frauen und Männer. ({3}) Wir müssen alle für den Arbeitsmarkt mobilisieren. Dafür brauchen wir mehr Ausbildung und Qualifizierung. Dafür brauchen wir gesunde und gute Arbeitsbedingungen. Dafür brauchen wir flexible Arbeitszeitmodelle, bei denen Ein- und Ausstiege, zum Beispiel aufgrund von Kinderbetreuung, der Pflege Älterer oder gesundheitlicher Schwierigkeiten, möglich sind. Was wir aber nicht gebrauchen können, ist ein Herauskaufen der Älteren. ({4}) Wir haben noch eine Menge zu tun. Eines jedenfalls ist sicher: Die ollen Kamellen der Linken und der Sozialdemokraten zum Thema Altersteilzeit werden uns nicht weiterhelfen. Ich danke Ihnen. ({5})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die Unionsfraktion hat nun die Kollegin Gitta Connemann das Wort. ({0})

Gitta Connemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003514, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Herr Kollege Schneider, Ihre Debattenbeiträge erinnern mich zunehmend an Märchenstunden nach dem Motto: Es war einmal eine Fraktion im Deutschen Bundestag. Sie war zwar sehr klein, dafür aber sehr links. Sie nahm für sich in Anspruch, Anwalt der Kleinen zu sein. - Wir wissen aber: Es gibt keine Märchen, jedenfalls nicht im Deutschen Bundestag. Hier gibt es allenfalls Märchenerzähler wie Sie, Herr Kollege Schneider. ({0}) Sie fordern, die Förderung der Altersteilzeit durch die Bundesagentur für Arbeit nach 2009 fortzuführen, finanziert durch Arbeitslosenversicherungsbeiträge. Ihre Begründung dafür ist im Wesentlichen: Erstens. Die Altersteilzeit habe dazu beigetragen, dass Beschäftigte den Ruhestand gesund erreichen. Zweitens. Sie habe für eine ausgewogene Beschäftigungsstruktur gesorgt. - Das sind Märchen. Die Altersteilzeit ist im Grunde genommen eine gute Idee gewesen, übrigens von Union und FDP im Jahre 1996. Sie sollte älteren Mitarbeitern einen gleitenden, frühzeitigen Übergang in den Ruhestand ermöglichen. Damit wollte man sich von der Praxis verabschieden, dass bis zum letzten Tag Vollzeit gearbeitet wird und es dann von hundert auf null geht; denn solche harten Schnitte sind - das ist unbestritten - gesundheitlich riskant. Zusätzliche Anreize sollten dafür sorgen, dass die freigewordenen Arbeitsplätze wieder besetzt werden. Aus dieser Idee wurde jedoch keine praktische Wirklichkeit. Der gleitende Ausstieg blieb die große Ausnahme; das sogenannte Blockmodell wurde Standard. Kollegin Pothmer hat bereits darauf hingewiesen, dass inzwischen mehr als 90 Prozent aller Altersteilzeitverhältnisse im Rahmen des sogenannten Blockmodells vereinbart werden. Dabei wird zwar die Gesamtarbeitszeit halbiert; aber die Beschäftigten arbeiten eben bis zum letzten Tag voll. Der harte Schnitt - mit allen damit verbundenen gesundheitlichen Risiken - wird nur vorverlegt, aber nicht verhindert. So viel zum Märchen Nummer eins. Aus der neuen Teilzeit ist wieder die alte Frührente geworden. Davon profitiert übrigens eine Gruppe nicht: die Arbeitnehmer in kleinen und mittelständischen Unternehmen. ({1}) Zum einen ist das Verfahren für kleine und mittlere Betriebe nämlich zu kompliziert, zum anderen fehlt diesen Betrieben der finanzielle Spielraum, um die gesetzlichen Leistungen aufzupolstern, was gerade bei kleineren Einkommen in der Regel notwendig ist. Das können nur die großen Unternehmen leisten. Herr Kollege Schneider, es geht also gerade nicht um den Dachdecker, der in einem kleinen Betrieb arbeitet, sondern - es wurde bereits erwähnt - um den Ingenieur, der beispielsweise bei einer großen Automobilfirma arbeitet. Wenn Sie, meine Damen und Herren von der Linken, von einer gut angenommenen betrieblichen Praxis sprechen, dann meinen Sie ausschließlich die Praxis der Großunternehmen. ({2}) Diese haben das Instrument systematisch genutzt, um ihre Belegschaften zu reduzieren und zu verjüngen, bezahlt mit den Beiträgen aller Arbeitnehmer und Arbeitgeber. ({3}) Ich konnte das in meiner Heimatstadt Leer im Falle der Telekom sehr plastisch erleben. Der Präsident des Zentralverbands des Deutschen Handwerks, Otto Kentzler, beschreibt es im Handelsblatt wie folgt: Die geförderte Altersteilzeit helfe „vor allem großbetrieblichen Arbeitgebern“ dabei, „in großer Zahl Arbeitsplätze abzubauen“. Die sozialen Kosten dafür würden „weitgehend auf die Allgemeinheit … abgewälzt“. Die Daten geben ihm recht. ({4}) Laut IAB steigt das betriebliche Engagement in Sachen Altersteilzeit mit der Betriebsgröße und erreicht schließlich nahezu „flächendeckende Ausmaße“. Der Anteil der Betriebe, die Altersteilzeit anbieten, liegt bei Betrieben bis zu 20 Beschäftigten bei kaum 2 Prozent; bei Betrieben mit 1 000 Beschäftigten liegt sie bei 70 Prozent und mehr. Sie, meine Damen und Herren von der Linken, wollen also einmal mehr eine Umverteilung, aber von unten nach oben. Die in der Regel nicht so hoch bezahlten Mitarbeiter in den kleinen Unternehmen finanzieren über ihre Beiträge zur Arbeitslosenversicherung den goldenen Vorruhestand in den Großbetrieben der Industrie, ({5}) und zwar mit enormen Summen. Allein die Aufstockungsbeiträge, die die Bundesagentur für Arbeit im letzten Jahr für Altersteilzeit aufbringen musste, beliefen sich auf 1,4 Milliarden Euro, mit steigender Tendenz. Meine Damen und Herren von der Linken, mit Ihrem „Weiter so!“ möchten Sie erreichen, dass die Kleinen weiter für die Großen bezahlen. Das ist mit der Union nicht zu machen. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Connemann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schneider?

Gitta Connemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003514, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Immer gerne.

Volker Schneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003843, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Danke schön, Frau Kollegin Connemann. Es wurde mehrfach behauptet, unsere Devise sei: Weiter so! Deshalb frage ich Sie: Ist Ihnen nicht bekannt, dass wir, was die Beschäftigungssituation Älterer anbelangt, im letzten Jahr einen ausführlichen Antrag gestellt haben, in dem wir eine Vielfalt von Instrumenten vorgeschlagen haben, Volker Schneider ({0}) die eingesetzt werden könnten, um die Beschäftigungssituation Älterer zu verbessern, und dass schon in diesem Antrag stand, dass man für den Fall, dass man die Leute nicht in Beschäftigung halten kann oder sie aus gesundheitlichen Gründen nicht in Beschäftigung bleiben können, sehen muss, welche Instrumente man zur Verfügung hat? Können Sie zweitens bestätigen, dass ich eben ausdrücklich darauf hingewiesen habe, dass es uns lieber ist, wenn die Leute Beschäftigung haben und nicht in Altersteilzeit gehen? Doch wenn Beschäftigung zurzeit nicht zu haben ist, ist es doch wünschenswert, dass man Brücken wie die Altersteilzeit nicht abreißt, bevor man neue Brücken gebaut hat. Vor diesem Hintergrund verlangen wir, dass das Instrument der Altersteilzeit wenigstens so lange weiter zur Verfügung steht, bis man zu einer besseren Lösung kommt. ({1})

Gitta Connemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003514, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Schneider, Sie lenken ab. Es ist in der Tat so, dass die Fraktion Die Linke - das ist eine Eigenart der Fraktion Die Linke - im Dauertakt Anträge aufgelegt hat mit denselben Zielen. ({0}) Der Antrag, von dem Sie gesprochen haben, wird einer der 646 Anträge gewesen sein, die Sie allein im letzten Jahr gestellt haben. Es geht in diesem Fall allerdings darum - darauf sind Sie in keiner Weise eingegangen -, dass Sie mit dem hier vorliegenden Antrag - über diesen debattieren wir - fordern, dass nach wie vor die Bundesagentur für Arbeit aus Beiträgen zur Arbeitslosenversicherung, die von über 27 Millionen Erwerbstätigen in Deutschland erbracht werden, von Arbeitnehmern und Arbeitgebern, egal welchen Einkommensniveaus, den Vorruhestand einiger weniger finanziert. Das nenne ich Umverteilung von unten nach oben. Das geht zulasten der kleinen Arbeitnehmer. Deshalb nenne ich das, was Sie in Ihrem Antrag fordern, sozial ungerecht. ({1}) Dafür wird es mit uns, der Union, ab 2010 keine Gelder der Bundesagentur für Arbeit mehr geben. Wir lehnen Ihre Forderung nach einer Verlängerung der Altersteilzeit aber nicht nur ab, weil sie finanziell ungerecht wäre, sondern auch, weil es uns im Wesentlichen um den Stellenwert der älteren Mitarbeiter geht. Die älteren Mitarbeiter waren es doch, die ihren Arbeitsplatz räumen mussten. Deshalb hat übrigens auch unser früherer Minister Franz Müntefering vehement gegen eine Verlängerung der Altersteilzeit gekämpft. Er hielt die Altersteilzeit für ein - ich zitiere ihn - unkontrollierbares Instrument, das die Beschäftigungschancen der Senioren mindert. ({2}) - Er hat in der Tat recht. Denn entgegen der Behauptung der Linken hat die Altersteilzeit gerade nicht zu einer ausgewogenen Beschäftigungsstruktur geführt; das ist Märchen Nummer zwei. Vielmehr hat sie den Jugendwahn gestützt. Gerade die großen Betriebe haben die Altersteilzeit genutzt, um sich älterer Arbeitnehmer systematisch zu entledigen. ({3}) Wir konnten das an der Beschäftigungsquote Älterer sehen, die dramatisch zurückgegangen ist. Deswegen hat die Große Koalition dem Jugendwahn den Kampf angesagt und im Koalitionsvertrag vereinbart, Anreize zur Frühverrentung zu beseitigen. Ich sage für die Union: Wir stehen zu unserem Wort. ({4}) Wir brauchen die Erfahrung der älteren Arbeitnehmer dringender denn je, auch vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels. Im Übrigen wäre es widersprüchlich, die gesetzliche Altersgrenze von 65 auf 67 Jahre heraufzusetzen und zugleich ein Modell zu fördern, das dazu beiträgt, dass Menschen - ohne körperlichen Grund - früher aus dem Arbeitsleben ausscheiden. Wir wissen, dass nicht jeder in der Lage sein wird, diese Altersgrenze in seinem ursprünglichen Beruf zu erreichen. Das gilt insbesondere für die körperlich belasteten Arbeitnehmer. Wir brauchen flexible Lösungen, die wir bereits angeboten haben und an denen wir gemeinsam arbeiten. Hier sind aber insbesondere die Tarifvertragsparteien gefordert. Anstatt dass Mitarbeiter früher in Rente geschickt werden, braucht es eine demografiebewusste Personalpolitik.

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Connemann, kommen Sie bitte zum Schluss.

Gitta Connemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003514, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wir brauchen eine Steigerung der Lernfähigkeit im Alter durch kontinuierliche Weiterbildung. Es muss möglich werden, auf einen weniger belastenden Arbeitsplatz zu wechseln. Wir brauchen Lebensarbeitszeitkonten und vieles mehr. Die Altersteilzeit ist insoweit nicht dafür geeignet. Alles andere ist ein Märchen, und über Märchen hat Voltaire einmal gesagt, Herr Kollege Schneider: Ich liebe die Märchen der Philosophen, ich lache über die der Kinder, aber ich hasse die der Heuchler. Recht hatte er. Deshalb lehnen wir Ihren Antrag ab. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die FDP-Fraktion spricht nun der Kollege Jörg Rohde. ({0})

Jörg Rohde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003831, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Mein Kollege Kolb hat Ihnen bereits messerscharf dargelegt, ({0}) warum die Altersteilzeit ein Irrweg war und wie im Gegensatz dazu eine beschäftigungsfördernde und rentensteigernde Politik aussieht. Ich brauche hier auch nicht die Argumente gegen die Rente mit 67 zu wiederholen. Ich möchte aber kurz auf Sie, Frau Ferner, eingehen. Sie haben richtigerweise darauf hingewiesen, dass in den 80er-Jahren viele Betriebe das Instrument der Altersteilzeit genutzt haben, um ältere Arbeitnehmer aus dem Erwerbsleben zu komplimentieren. Es ist auch richtig, dass die FDP der Altersteilzeitregelung damals zugestimmt hat. Ich möchte hier aber ergänzen, dass wir alle damals die Hoffnung hatten, dass die frei werdenden Arbeitsplätze von jungen Arbeitnehmern besetzt würden. Das ist leider nicht eingetroffen. ({1}) Nur circa einer von sieben Arbeitsplätzen wurde wieder besetzt. Frau Kollegin Connemann hat das Wort Jugendwahn ausgesprochen. Dieser trat aber eben nur eingeschränkt ein, weil die jungen Arbeitnehmer nicht zum Zuge kamen. Es wurden nur Arbeitsplätze abgebaut. ({2}) Diese Entwicklung hatten wir nicht gewollt. Deswegen möchte ich wiederholen, dass die FDP als erste Fraktion im Deutschen Bundestag diesen Irrtum eingesehen und Korrekturen angemahnt hat. Diese Regelung läuft zu Recht aus. ({3})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollege Rohde, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schaaf? ({0})

Jörg Rohde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003831, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr gerne.

Anton Schaaf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003623, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nicht in dieser Debatte. Aber das ist nicht der entscheidende Punkt. Deswegen gibt es ja das Instrument, eine Frage stellen zu dürfen, wenn man sich angesprochen fühlt. Herr Rohde, würden Sie mir recht geben, dass es einen doch deutlichen und massiven Unterschied zwischen der alten Vorruhestandsregelung nach Blüm’scher Art und der Altersteilzeit gibt? Sie haben hier gerade alles durcheinandergeworfen und gesagt, die Betriebe hätten das genutzt, um Ältere herauszudrängen. In der Tat wurden beim Vorruhestand Ältere aus den Prozessen herausgedrängt. Bei der Altersteilzeit fanden ganz andere Prozesse statt. ({0}) Würden Sie konstatieren, dass Sie mit der Einschätzung, die Sie gerade formuliert haben, dass nämlich die Altersteilzeit im Wesentlichen schuld daran ist, dass die Älteren herausgedrängt worden sind, fehlgehen? ({1})

Jörg Rohde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003831, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Schaaf, es ist sicherlich richtig, dass Altersteilzeit und Vorruhestand unterschiedliche Begriffe sind. ({0}) In gewisser Weise werden wir in der Diskussion aber immer wieder damit konfrontiert, dass die Begriffe vermischt werden. Die FDP hat der einen Regelung am Anfang zugestimmt. Jetzt kritisieren wir eben die Wirkung, dass ältere Arbeitnehmer aus dem Erwerbsleben gedrängt werden - egal mit welcher Regelung. ({1}) Deswegen dürfen Regelungen - egal wie das System heißt -, die dem Ziel dienen, dass Großbetriebe Älteren den goldenen Handschlag geben und sie aus dem Erwerbsleben herausdrängen können, nicht unterstützt werden. ({2}) Nun möchte ich die Gelegenheit nutzen, einmal etwas tiefer in die angebliche Renten- bzw. Arbeitsmarktpolitik der Linken einzutauchen. In der Begründung zum Antrag „Förderung der Altersteilzeit durch die Bundesagentur für Arbeit fortführen“ schreiben Sie von den Linken wörtlich: Sie - die Altersteilzeit ist gleichzeitig eine Beschäftigungsbrücke, die jungen und erwerbslosen Menschen den Einstieg ins Arbeitsleben ermöglicht. ({3}) Wir haben eben schon gemeinsam festgehalten - wenn auch mit unterschiedlichen Begriffen -, dass das Ziel nicht in dem Umfang erreicht wird, wie es notwendig wäre. Denken Sie doch einmal darüber nach, was Sie sagen! Die Alten sollen abtreten und Platz für die Jungen machen. Sie von der Fraktion Die Linke wollen Alte gegen Junge ausspielen. Da machen wir nicht mit. ({4}) Bei diesem eiskalten Rausschmiss der älteren Arbeitnehmer aus dem Erwerbsleben sprechen Sie im Folgenden immer wieder verharmlosend von einer „sozialen Abfederung von Übergängen vom Erwerbsleben in die Rente“. Diese Politik empfinde ich als beschämend. ({5}) Ich fordere Sie von den Linken auf: Hören Sie mit dieser Politik des Gegeneinanders in unserer Gesellschaft - Jung gegen Alt, Arm gegen Reich, Ost gegen West - auf! Das ist kein tragfähiges Politikkonzept, sondern nichts anderes als eine Spaltung der Gesellschaft. ({6}) Allen Ernstes und völlig unverblümt bekennt sich die Linke klipp und klar dazu, Arbeitsmarktpolitik mit den Mitteln der Rentenpolitik zu betreiben. Denn Sie, meine verehrten Damen und Herren von den Linken, erliegen immer wieder dem Irrtum, dass die aktuellen Probleme am Arbeitsmarkt mit der Fortführung der Altersteilzeit zu lösen wären. Glauben Sie allen Ernstes, dass ein früherer Renteneintritt über Teilzeitlösungen das Problem fehlender Arbeitsplätze löst? Das Gegenteil ist der Fall. Sie bringen die älteren Arbeitnehmer um große Teile ihres Einkommens und ihrer späteren Rente. Sie erschweren älteren Arbeitslosen den Wiedereintritt in den Arbeitsmarkt, und Sie vergrößern das Risiko von Altersarmut. Verstehen Sie das unter Solidarität? ({7}) Arbeitsplätze für Junge schafft man nicht, indem man die Alten rausschmeißt, sondern indem man die Steuern und Sozialabgaben senkt, Investitionen der Unternehmen erleichtert und Arbeit in Deutschland wieder wettbewerbsfähig macht. ({8}) Aber das Ziel der Schaffung neuer Arbeitsplätze haben Sie von den Linken längst aufgegeben. Sie beschränken sich darauf, die in zu geringem Umfang vorhandene Arbeit auf die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land zu verteilen. Wenn das nicht reicht, dann reduzieren Sie einfach die Zahl der Erwerbstätigen, zum Beispiel über die Altersteilzeit. ({9}) Das ist Planwirtschaft am Arbeitsmarkt. Dieser Zug ist aber schon längst abgefahren, und zwar vor 18 Jahren. Vielen Dank. ({10})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat die Kollegin Andrea Nahles für die SPD-Fraktion. ({0})

Andrea Nahles (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003196, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Fraktion ist erfreut und stolz darauf - auch weil wir das Arbeitsministerium in den letzten zehn Jahren mitgeprägt haben -, dass die Erwerbsbeteiligung Älterer in den letzten zehn Jahren immerhin von 38 Prozent auf 52 Prozent gestiegen ist. Diese Politik wollen wir fortsetzen. ({0}) Im Übrigen steht nicht die Rente mit 67 zur Debatte. Diesen Beschluss haben wir gemeinsam gefasst, und dazu stehen wir. ({1}) Aber wir müssen auch Wahrheiten akzeptieren, die es in der Realität unseres Arbeitslebens gibt. Eine Realität in unserem Arbeitsleben ist eine zunehmende Arbeitsverdichtung. Die Krankenkassen haben vor wenigen Tagen ihren neuesten Bericht über den Krankenstand veröffentlicht. Mittlerweile sind psychische Belastungen in die Rubrik der fünf häufigsten Krankheiten aufgerückt. Eine weitere Wahrheit ist, dass die realen Arbeitszeiten in den letzten Jahren fortlaufend verlängert worden sind. Insofern muss man sich fragen, was diese Tatsachen im Einzelfall bedeuten. Es werden nämlich nicht alle Krankenschwestern, Busfahrer und Dachdecker in Vollzeit bis zum 67. Lebensjahr durchhalten können. ({2}) Es stünde jedem in diesem Hause gut zu Gesicht, sich darüber Gedanken zu machen, wie man eine Antwort auf diese Frage finden kann, ohne das grundsätzliche Ziel, Ältere länger im Erwerbsleben zu halten, infrage zu stellen. Darum geht es bei unseren Vorschlägen. ({3}) Wir müssen mit einigen Vorurteilen aufräumen wie dem, dass Altersteilzeit nur etwas für Großbetriebe ist. Ich wundere mich, Frau Connemann, dass Sie die IABStudie nur auszugsweise zitiert haben. Sie besagt nämlich, dass es nahezu hälftig mittelständische Betriebe sind, die Altersteilzeit in Anspruch nehmen. ({4}) Da Sie den Kopf schütteln, will ich das anhand konkreter Zahlen verdeutlichen: In Großbetrieben mit über 500 Beschäftigten wird die Altersteilzeit von 45 Prozent der dazu berechtigten Beschäftigten genutzt; in mittelständischen Betrieben sind es 41 Prozent. Die einzigen, bei denen der Anteil niedriger ist, sind die Kleinstbetriebe. ({5}) - Ja, aber Sie können nicht behaupten, dass Altersteilzeit nur ein Instrument für Großbetriebe ist. Das ist nicht wahr. Das muss an dieser Stelle klipp und klar gesagt werden. ({6}) Der Kollege Brauksiepe wollte neue Argumente hören. Lassen Sie uns den Blick auf die Schulabgängerquote richten. Seit Jahren wird behauptet, dass die Schulabgängerquote sinkt. Die Wahrheit ist, dass insbesondere in Westdeutschland - in Ostdeutschland verhält es sich etwas anders - die Schulabgängerquote bis 2015 auf dem derzeitigen Stand bleiben wird, und zwar bei eher steigender Tendenz. Angesichts dessen stellt sich natürlich die Frage, wie wir Brücken zwischen Jung und Alt in den Betrieben bauen können. Ich sage Ihnen offen: Eine Förderung der Altersteilzeit kommt für mich nur infrage, wenn sie einen gesamtgesellschaftlichen Nutzen bringt. ({7}) Eine Förderung kommt für mich nicht infrage, wenn nur vereinzelt Betriebe davon profitieren. Wenn aber junge Leute in Zukunft - das geht über das Jahr 2015 hinaus weiterhin Probleme beim Berufseinstieg haben, dann ist es legitim, es darauf zu begrenzen. Das halbiert übrigens die Anzahl der Altersteilzeitfälle, wenn wir das tun. Wir begrenzen es auf die Brücke zwischen Jung und Alt. Nur bei Übernahme von Auszubildenden bzw. Ausgebildeten in den Betrieb ist eine Förderung legitim. Genau das ist unser Vorschlag. Den kann ich guten Gewissens begründen. ({8})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Kollegin Nahles, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Pothmer?

Andrea Nahles (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003196, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gerne.

Brigitte Pothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003823, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Kollegin Nahles, wie wollen Sie verhindern, dass Betriebe diese Förderung auch dann in Anspruch nehmen, wenn sie ohnehin beschlossen haben, einen fertig Ausgebildeten zu übernehmen und ältere Beschäftigte abzubauen? Wie wollen Sie solche Mitnahmeeffekte, die aufgrund der derzeitigen Regelung massenhaft auftreten, in Zukunft verhindern?

Andrea Nahles (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003196, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Pothmer, das ist eine gute Frage. ({0}) Ein ähnliches Phänomen gab es bei der jetzt geltenden Altersteilzeit, weswegen sie als Instrument teilweise diskreditiert wurde. Das betrifft insbesondere die Abgänge aus Arbeitslosengeld und Arbeitslosigkeit. Wir wollen aber keine Förderung, wenn Arbeitslose übernommen werden. Dies war nämlich der Hauptpunkt, bei dem Missbrauch betrieben wurde oder zumindest Schummeleien passiert sind. Wir können das bei den jungen Leuten noch präziser fassen, wenn wir das Kriterium der Übernahme beispielsweise rückwirkend an die Ausbildungs- und Übernahmequoten in den letzten drei, vier Jahren koppeln. Ein solches Verfahren haben wir an anderen Stellen effektiv eingesetzt. ({1}) Ich gebe Ihnen gerne recht: Das ist ein wichtiger Punkt, wenn das Instrument der Altersteilzeit in unserem Sinne genutzt werden soll. Wir gehen dieses Thema noch aus einem anderen Grund an. Ich weiß nicht, wie es Ihnen in Ihren Bürgersprechstunden geht, aber ich habe den Eindruck, dass wir die Menschen motivieren müssen. Wenn es um die Lebensarbeitszeit geht, wollen die meisten im Trott der 80er- und 90er-Jahre weitermachen. Mit unserer Beschlusslage motivieren wir die Menschen; das ist richtig. Aber wer von Ihnen hatte nicht schon jemanden in der Bürgersprechstunde sitzen, der sich regelrecht kaputtgearbeitet hat, um es klar zu sagen. Die Erwerbsminderungsrente ist aufgrund der zahlreichen Zugänge mittlerweile ein Nadelöhr geworden. Hier kann ich nur meiner Kollegin Elke Ferner zustimmen. Wir müssen darüber nachdenken, wie wir solchen Menschen einen humanen und flexiblen Ausstieg aus dem Erwerbsleben ermöglichen können. Mich treibt so etwas um. Ich frage mich, was Sie solchen Menschen in Ihrer Bürgersprechstunde sagen. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. ({2}) Herr Kolb, die von uns vorgeschlagene Teilrente unterscheidet sich deutlich von der, die Sie vorschlagen. Die FDP macht eine Teilrente für Besserverdienende. ({3}) Denjenigen, die die von Ihnen vorgeschlagene Teilrente in Anspruch nehmen können, ist es egal, ob sie Abschläge von bis zu 18 Prozent hinnehmen müssen oder nicht. Das ist eine individuelle Lösung, eine Flexibilisierung. ({4}) - Nein, ich werde jetzt keine Zwischenfrage zulassen; denn ich möchte an dieser Stelle den Unterschied deutlich machen. Nach unserem Modell vereinbart der Arbeitnehmer mit seinem Arbeitgeber eine Arbeitszeitverkürzung. Aber die Abschläge vom 60. bis zum 62. Lebensjahr werden von den Arbeitgebern kollektiv abgesichert. Das bedeutet einen Abschlag von maximal 7,2 Prozent. Hier haben die Tarifpartner noch Gestaltungsspielraum, das nach unten zu drücken. So können sich auch Menschen mit niedrigen Einkommen und Renten unsere Teilrente leisten. Das ist der große Unterschied zu dem Modell, das die FDP vorgeschlagen hat, Herr Kolb. ({5}) Wir brauchen angesichts der demografischen Entwicklung eine Veränderung, was den Verbleib der Menschen im Erwerbsleben angeht. Sie müssen länger im Erwerbsleben verbleiben, als das in den 80er- und 90erJahren der Fall war. Wir müssen aber Übergänge für Härtefälle schaffen, weil es in einzelnen Betrieben besondere Belastungen für die arbeitenden Menschen gibt. Altersteilzeit sollte gefördert und verlängert werden, wenn dafür junge Menschen eingestellt werden - das ist ein hartes Kriterium -, und die Teilrente ab 60 sollte ermöglicht werden, wobei diese von den Tarifpartnern ausgestaltet werden kann. Das halte ich für einen fairen Kompromiss, der unsere grundsätzliche Politik nicht infrage stellt, sondern ihr in der Bevölkerung endlich Akzeptanz verschafft. Machen wir uns hier doch nichts vor! Wenn wir nicht einen flexiblen und humanen Übergang schaffen, dann werden wir die Bevölkerung in ihrer großen Mehrheit nicht auf den Weg in eine längere Lebensarbeitszeit mitnehmen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({6})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Zu einer Kurzintervention hat nun der Kollege Kolb das Wort. ({0})

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin Nahles, wir sollten alle wissen, dass eine Zwischenfrage und die Antwort darauf weniger Zeit kostet als die Kurzintervention und die Replik. Antworten werden Sie mir ohnehin; ({0}) insofern verstehe ich nicht, dass Sie meine Zwischenfrage nicht gleich zugelassen haben. Ich will Folgendes sagen, Frau Nahles: Sie haben den Eindruck erweckt, wir würden einen flexiblen Übergang nur für Rentner mit höheren Renten schaffen. ({1}) Das ist ausdrücklich falsch. Voraussetzung für unsere flexible Rente ist die Grundsicherungsfreiheit. Da reden wir über eine Rente nach Abschlägen von etwa 660 Euro. Unsere Prüfung findet außerdem für die Bedarfsgemeinschaft statt. Das heißt, auch in Haushalten werden Ehepartner zusammen betrachtet, was die Grundsicherungsfreiheit anbelangt. Das führt im Ergebnis dazu, dass 90 Prozent aller Versicherten die Chance haben, mit dem FDP-Modell einen flexiblen Übergang zu erreichen. ({2}) Das muss hier einmal deutlich gesagt werden. ({3}) Außerdem lässt sich Ihr Ansinnen, so finde ich, mit unserem Vorschlag sehr gut kombinieren. Auch wir haben natürlich die Menschen im Auge, die sich, wie Herr Schneider gesagt hat, mit 60 Jahren kaputtgearbeitet haben, weil sie einen körperlich anstrengenden Beruf haben. Dann muss man den Vorschlag, den wir gemacht haben, durch tarifvertragliche Regelungen ergänzen, zum Beispiel indem Fonds in Branchen geschaffen werden, wenn regelmäßig zu erwarten ist, dass Arbeitnehmer in diesen Branchen eine vorgezogene Rente in Anspruch nehmen müssen. Lassen Sie uns doch nicht künstlich Differenzen aufbauen, sondern lassen Sie uns schauen, wie wir Brücken bauen können, die wir gemeinsam begehen können. Unser Vorschlag ist zielführend, er erreicht die Masse der Versicherten in Deutschland, und Sie sollten einfach überlegen, wie wir das gemeinsam hinbekommen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({4})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Sie haben das Wort.

Andrea Nahles (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003196, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bei Ihren letzten Sätzen, Herr Kolb, ampelte es schon ein bisschen. Das nehme ich natürlich mit Freude zur Kenntnis. Das Problem, das wir momentan an dieser Stelle haben, Herr Kolb, sind die Grünen. Die haben hier überhaupt keinen Vorschlag gemacht, wie sie den flexiblen Übergang in die Rente organisieren wollen. ({0}) Mir ist jedenfalls heute keiner zu Ohren gekommen. Wir müssen daran vielleicht noch ein bisschen arbeiten. In der Sache will ich Ihnen, Herr Kolb, aber ganz klar sagen, dass zwar potenziell 90 Prozent der Leute nach Ihrem Modell die Rente in Anspruch nehmen könnten, aber diese 90 Prozent sich das nicht leisten können, und zwar wegen der Abschläge. Genau darum geht es. Vielleicht können wir den Unterschied zwischen uns im Laufe der nächsten Jahre noch abbauen. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Der Kollege Dr. Michael Fuchs hat nun für die Unionsfraktion das Wort. ({0})

Dr. Michael Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003531, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Als ich eben Herrn Schneider zugehört habe, habe ich mir gedacht: Bei dem einen oder anderen in diesem Parlament wäre es doch ganz gut, wenn er relativ rechtzeitig in Altersteilzeit gehen und nicht so lange im Parlament bleiben würde. ({0}) Was wir in der Großen Koalition wollen, ist eine deutliche Verbesserung der Beschäftigungschancen älterer Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen. Ich halte das für notwendig, und auf diesem Weg sind wir ein gutes Stück weitergekommen; denn wir brauchen diese Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Zukunft. Machen wir uns doch nichts vor: Den Azubiberg, den wir eine ganze Zeit lang zu bewältigen hatten, wird es in Bälde nicht mehr geben. Spätestens im Jahre 2012 - das sage ich den Unternehmen voraus - werden sie den roten Teppich ausrollen müssen, um überhaupt einen Auszubildenden zu bekommen. ({1}) Für diesen Bereich, Herr Schneider, brauchen wir die Altersteilzeit ganz sicherlich nicht mehr. ({2}) Ich möchte, dass die Menschen, die über Erfahrung verfügen und mitten im Leben stehen - heute steht jemand mit 60 oder 65 mitten im Leben, denn seine Lebenserwartung liegt bei über 80 Jahren -, weiter im Berufsleben bleiben. ({3}) Liebe Kollegin Nahles, das wird für den überwiegenden Teil auch notwendig sein, weil wir gerade aufgrund der demografischen Entwicklung diese Menschen brauchen. Selbstverständlich gibt es welche, die es nicht mehr schaffen; auch diese hatte ich bereits in meiner Sprechstunde. Ich glaube allerdings nicht, dass man diesen Menschen empfehlen sollte, in Altersteilzeit zu gehen. Das funktioniert bei der Zielgruppe, die Sie angesprochen haben, mit Sicherheit nicht. ({4}) Die demografische Entwicklung ist so, wie sie ist. Machen wir uns nichts vor: Wir alle werden älter. Das ist gut so. Wir haben pro Jahr 30 Tage mehr Lebenserwartung. Das heißt, innerhalb von zehn Jahren steigt unsere Lebenserwartung um beinahe ein Jahr an. Dementsprechend haben wir richtig reagiert, als wir die Rente mit 67 beschlossen haben. Es gab überhaupt keine Alternative dazu. Gott sei Dank hat die Große Koalition das so gemacht. Ich möchte es noch einmal auf den Punkt bringen. Fakt ist: Es werden nicht mehr Auszubildende eingestellt. Das funktioniert nicht. Ich habe eben schon gesagt, dass sich dieses Problem anderweitig lösen wird. Fakt ist auch: Es werden Stellen mithilfe staatlicher Subventionen abgebaut, und zwar im Wesentlichen, Frau Kollegin Nahles, in den größeren Unternehmen. 98 Prozent der Unternehmen in Deutschland haben unter 20 Mitarbeiter. In diesen Unternehmen findet es gar nicht statt. ({5}) Ich habe mir - ich habe hier ja noch gewisse Beziehungen - die Zahlen für den Groß- und Außenhandel in Nordrhein-Westfalen geben lassen; diese Unternehmen liegen in der Größenordnung zwischen 20 und 100 Mitarbeitern. Wissen Sie, wie viele der 90 000 Mitarbeiter in Altersteilzeit gegangen sind? Es gab einen einzigen Fall im Groß- und Außenhandel in Nordrhein-Westfalen. Das zeigt, es wird in ganz anderen Bereichen angewandt. Daraufhin habe ich bei der Bundesagentur für Arbeit nachgefragt, welche Branchen es denn sind, in denen am allermeisten die Altersteilzeit in Anspruch genommen wird. An erster Stelle - man höre und staune - steht der öffentliche Dienst. ({6}) Öffentliche Verwaltungen und Sozialversicherungen nehmen ihn an erster Stelle in Anspruch. 15 Prozent der 105 000 in Altersteilzeit Befindlichen sind aus dem öffentlichen Dienst. ({7}) An zweiter Stelle steht das Gesundheits-, Veterinärund Sozialwesen. Auch hier können Sie wieder davon ausgehen, dass diese Bereiche in großen Teilen zum öffentlichen Dienst gehören. An dritter Stelle steht das Kreditgewerbe - das sind wahrscheinlich die Sparkassen -, und dann kommen erst der Maschinenbausektor und die Automobilhersteller. Das sind die großen Bereiche, die bereits 50 Prozent der gesamten Altersteilzeit abdecken. Das heißt, im Wesentlichen ist es eine Subventionierung der kleinen Betriebe zugunsten der Großen und des öffentlichen Dienstes obendrein. ({8}) Das haben wir erkannt, und deshalb sind wir richtigerweise zu dem Schluss gekommen, dass es so nicht weitergehen kann. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir geben in diesem Bereich immerhin 1,5 Milliarden Euro aus. Das sind 0,2 Beitragspunkte in der Arbeitslosenversicherung, die uns eigentlich zur Verfügung stünden. Genau hier müssen wir ansetzen. ({9}) Wir wollen, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer netto mehr in der Tasche haben. Das geht nicht über die Umverteilerei. Ich weiß: Sobald Sie von den Linken irgendwo Geld sehen, kommen Sie sofort auf die Idee - davon kann man ausgehen -, dass es umverteilt werden muss. Sie wollen Masse, um sie umzuverteilen. Das ist doch Ihr Ziel. Etwas anderes tun Sie doch nicht. ({10}) Deswegen bin ich dafür, dass wir die geltende Regelung so schnell wie möglich auslaufen lassen, damit wir das Geld denjenigen, die es aufbringen, nämlich den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sowie den Unternehmen, zurückgeben können. Das ist unser Job, das ist unsere Aufgabe. ({11}) Ich hoffe, dass es uns - wiederum so bald wie möglich - gelingt, die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung weiter zu senken. Denn die Spanne zwischen dem Netto der Arbeitnehmer und den Kosten, die in den Löhnen enthalten sind, ist immer noch zu groß. ({12}) Jeder Altersteilzeitfall wird mit 32 000 Euro aus der Kasse der Bundesagentur für Arbeit subventioniert. Das zeigt, wie gefährlich es ist und dass hier erhebliche Gelder verschwendet werden, die wir besser denjenigen geben sollten, die sie aufbringen müssen. ({13}) Deswegen sollten wir auch darauf achten, dass wir alles tun, um ältere Arbeitnehmer durch Qualifizierungsmaßnahmen oder Anreize im Arbeitsbereich in den Betrieben zu halten. Es macht keinen Sinn, zu glauben, dass wir das Problem lösen können, indem wir die älteren Arbeitnehmer aus den Betrieben herausnehmen. Das funktioniert nicht. Auch die Großindustrie darf dieses Instrument nicht mehr anwenden. Es ist eben - das wissen wir alle - missbräuchlich verwendet worden, ({14}) und deswegen sollten wir seine Verwendung jetzt auslaufen lassen. Auf die bisher praktizierte Weise kann man den demografischen Wandel nicht gestalten. Das können wir nur mit anderen, vernünftigen Instrumenten. Wir müssen über viele Dinge nachdenken. Da wird Kreativität notwendig sein. Was der Kollege Kolb eben gesagt hat, ist nicht falsch. ({15}) Es gibt eine ganze Reihe von Personen, die durchaus in der Lage sind, unter Inkaufnahme von Abschlägen früher in Rente zu gehen. Die Höhe der Rente muss aber über der Höhe der Grundsicherung liegen; denn sonst wird das Ganze wiederum zum Fall für den Staat. Das wollen wir sicherlich nicht. Die Kollegin Connemann hat in ihrer sehr schönen Rede eben Voltaire zitiert. Mir ist ebenfalls ein Zitat von Voltaire eingefallen. Er hat in seiner unnachahmlichen Art einmal über die Deutschen gesagt: „Am Grunde eines Problems sitzt immer ein Deutscher“. Ich glaube, bei uns im Parlament ist das anders: Am Grunde eines Problems sitzt immer ein Linker. ({16})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Wolfgang Grotthaus das Wort. ({0})

Wolfgang Grotthaus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003137, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn man als Letzter in einer Diskussion an der Reihe ist, dann gibt es viel zu sagen. Herr Fuchs, Ihr zuletzt genanntes Zitat finde ich prima. Es bedeutet nämlich, dass sich Linke - dazu zählt sich auch die SPD ({0}) mit den gesellschaftlichen Problemen immer noch viel intensiver auseinandersetzen, als Sie es in Ihrer Rede getan haben. ({1}) Daher könnte ich jetzt mit Ihnen einen Streit anfangen. Aber Ihre Ausführungen stehen heute nicht zur Abstimmung; zur Abstimmung stehen vielmehr die Anträge der Linken. Ich will den Linken gleich mit auf den Weg geben: Wir werden diese Anträge natürlich ablehnen, so wie wir es auch im Ausschuss getan haben. Wir werden festhalten, dass Sie mit diesen Anträgen inhaltlich zu kurz springen. Hier geht es nur um den Erhalt dessen, was bisher gilt - mit einigen wenigen Verbesserungen. Eine dieser Verbesserungen - zumindest aus Ihrer Sicht - will ich Ihnen benennen; Herr Schneider, Sie haben das in Ihren Ausführungen dargestellt. Sie sagen zum Beispiel: Wenn jemand 40 Jahre lang gearbeitet hat, dann muss er ohne Abschläge in die Rente gehen können. Ich gehöre einem Jahrgang an, der mit 16 in die Ausbildung gegangen ist. Kollegen von mir sind mit 14 in die Ausbildung gegangen. Nach Ihren Vorstellungen müssten sie mit 54 ohne Abschläge in Rente gehen und elf Jahre zusätzliche Rentenzeit bekommen können. Das wäre für den, der davon betroffen ist, toll. Sie machen aber keine Vorschläge, wie das zu finanzieren ist. Ich warte nur darauf, dass Sie irgendwann vorschlagen: von der Hochschule gleich in die Rente. ({2}) Diesen Vorschlag würden wir natürlich auch ablehnen. In unserem System wird die Rente nämlich von Menschen finanziert, die im Arbeitsleben stehen. Genau diesen Punkt betonen Sie hier immer wieder, Herr Schneider. Sie sagen: Wir, die Linken, haben die besten Ideen, und ihr, die Regierungskoalition, habt diese Ideen nun umzusetzen und euch obendrein Gedanken darüber zu machen, wie diese Umsetzung zu finanzieren ist. So ist Ihre Aufgabenverteilung. Wir werden Ihnen jedes Mal, wenn es um dieses Thema geht, den Spiegel vorhalten. Auf Ihre Vorschläge werden wir nicht eingehen. Wir sagen: Mit Ihren Anträgen springen Sie zu kurz. Aus meiner Sicht stellt sich die Frage: Wann stoßen Menschen an ihre psychischen und physischen Grenzen, und wie lassen sich diese Grenzen im Interesse der Menschen ausdehnen? Wie ist es möglich, dass der eine oder andere nicht so schnell unter dem Burn-out-Syndrom, das Sie genannt haben, leidet? Wie ist es möglich, dass man Arbeitsplätze schafft, die den Körper nicht so stark belasten, wie sie es heute tun? Altersteilzeit ist eine Maßnahme, um Betroffenen gerecht zu werden. Das gilt zum Beispiel für den oft zitierten Dachdecker. Das ist Fakt. Auch der Fliesenleger kann seinem Job mit 60 Jahren im Wesentlichen nicht mehr nachgehen. Er hat die Chance, in die Altersteilzeit zu gehen - wenn wir sie denn erhalten. Aber wie sieht es mit der sowohl physisch als auch psychisch kaputten 45-jährigen Frau aus, die in der Krankenpflege tätig ist? Welches Angebot machen Sie dieser Frau? Sie kann nicht in Altersteilzeit gehen! Deswegen muss man sich fragen: Ist Altersteilzeit das einzige richtige Mittel, oder sollten nicht noch mehr Möglichkeiten in Betracht gezogen werden? Ich denke da an einen Dreiklang aus Altersteilzeit - in welchen Formen auch immer, ob Teilrente oder Langzeitarbeitskonten -, aus lebenslangem Lernen zum Beispiel in Form der betrieblichen Ausbildung und aus Prävention. All das gehört dazu; das muss angesprochen werden, auch wenn Ihnen das jetzt nicht gefällt. ({3}) Diesen Dreiklang muss es also geben. Lebenslanges Lernen statt Aussortierung lautet eine Devise. Nach dem heutigen System wird die eben genannte 45-Jährige ja aussortiert; sie wird ausgemustert, weil sie keine Chance mehr hat. Deswegen müssen wir in die Köpfe der Menschen hineinbringen, dass lebenslanges Lernen notwendig ist, und dieses muss auch von den Betrieben gefördert werden. Ich habe erleben müssen, wie technische Zeichner, die 55 Jahre alt waren, vom Arbeitgeber unter Druck gesetzt worden sind, doch bitte aus dem Betrieb auszuscheiden, weil sie das computergestützte Zeichnen nicht beherrschten. Stattdessen sind dann aber keine Auszubildenden, sondern 35-Jährige eingestellt worden. Genau das wollen wir aber nicht. Weiterhin ist es auch richtig, dass wir Prävention viel stärker in das Bewusstsein der Menschen bringen. Prävention heißt zum Beispiel, den Menschen mit Unterstützung der Gewerkschaften deutlich zu machen, dass jede Überstunde in jungen Jahren eine Gesundheitsgefährdung mit sich bringen kann, die man im Alter zu spüren bekommt. Diesen Punkt müssen wir jetzt noch ein bisschen weiterspinnen - daran sehen Sie die Bandbreite der Themen, über die wir hier reden -: Wer macht denn Überstunden? Es sind meistens diejenigen, die im Niedriglohnbereich arbeiten. ({4}) Sie müssen geradezu Überstunden machen, um überhaupt einigermaßen ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können. Deswegen müssen wir in diesem Zusammenhang auch über Mindestlöhne bzw. gerechte Löhne diskutieren. Das Themenspektrum muss also sehr stark ausgeweitet werden und darf sich nicht ausschließlich auf den Inhalt Ihrer Anträge konzentrieren. Wir können Ihnen versichern: Ja, wir haben Ideen. Diese Ideen werden wir in Antragsform gießen. Die entsprechenden Anträge werden im Herbst dieses Jahres vorgelegt werden. Darin wird es auch um altersgerechte Arbeitsplätze, um altersbezogenes Personalmanagement, um intelligente Schichtenpläne und um vieles mehr gehen. Hier sind aber auch die Tarifvertragsparteien gefordert. Die wissen nämlich am besten, was notwendig ist, damit in den Betrieben altersgerechte Arbeitsplätze eingerichtet werden können. Die wissen, in welcher Form Prävention betrieben werden muss. All das wird aber - das sage ich hier sehr deutlich nicht reichen, weil es immer mehr Menschen geben wird, die körperlich nicht mehr können. Denen müssen wir über entsprechende Regelungen zur Altersteilzeit die Chance geben, aus dem Berufsleben ausscheiden zu können. Deswegen muss es Altersteilzeit auch weiterhin geben. ({5}) Die SPD hat hierzu in einem Diskussionspapier Vorschläge unterbreitet. Es ist toll, dass die anderen Fraktionen unsere Vorschläge aufgegriffen haben und in der heutigen Debatte darüber mehr diskutiert worden ist als über die Anträge der Linken. Ihnen, Herr Schneider, möchte ich eines mit auf den Weg geben, wenn Sie Ihren nächsten Antrag formulieren: Im Zusammenhang mit Langzeitarbeitskonten muss nicht nur über den Insolvenzschutz diskutiert werden, sondern auch über die Vererbbarkeit. Es kann ja nicht sein, dass dann, wenn einer, der ein volles Langzeitarbeitskonto hat, verstirbt - das soll ja im Leben schon einmal vorkommen -, dieses irgendjemandem zugute kommt, aber nicht der Witwe oder dem Witwer. Hier ist Kapital angesammelt worden. Deswegen müssen wir auch über die Vererbbarkeit reden. Wir müssen auch darüber reden, ob ein solches Langzeitarbeitskonto im Nachhinein mit Sozialversicherungsbeiträgen belastet werden darf, was sich ja auf die Rente auswirken würde. ({6}) - Das ist toll, Herr Schneider. Deswegen habe ich Ihnen das ja mit auf den Weg gegeben. Sie werden dies bestimmt aufgreifen, in nächster Zeit in den Bundestag einbringen und uns bei der Gelegenheit vorhalten, dass wir es doch wieder ablehnen. Wenn es kurzfristig eingebracht wird, werden wir es ablehnen müssen, weil wir die Diskussion darüber noch nicht zu Ende geführt haben. Abschließend ist festzuhalten: Unsere Zielsetzung ist nicht, möglichst viele Ältere aus dem Arbeitsleben zu entlassen, sondern ist, ihnen größtmögliche Chancen zu eröffnen, damit sie ihren Beruf weiterhin ausüben können. Das ist uns in den zurückliegenden Jahren immer besser gelungen. Die entsprechenden Zahlen sind hier schon genannt worden. All das hat nicht nur etwas mit dem Wirtschaftsaufschwung zu tun, sondern auch mit den Maßnahmen, die die Bundesregierung unter sozialdemokratischer Führung eingeleitet hat. Ich erinnere zum Beispiel an die Initiative „50 plus“ oder an Instrumente zur Reintegration von Menschen mit besonderen Vermittlungshemmnissen. Wir verschließen also nicht die Augen davor, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in besonders belastenden Berufen die Chance auf einen gleitenden Übergang vom Erwerbsleben in den Ruhestand eröffnet werden muss. Wir sagen aber gleichzeitig: Wir müssen versuchen, diese Belastungen weitestgehend zu minimieren, damit die Menschen auch noch nach dem Ausscheiden aus dem Arbeitsleben gesund sind. Es gilt also zu vermeiden, dass Menschen krank aus dem Arbeitsleben ausscheiden. Von daher müssen wir vorne an der Kette ansetzen: Gesundheit erhalten und die Möglichkeit schaffen, lange im Berufsleben zu bleiben, und dort, wo das nicht möglich ist, gleitende Übergänge zu schaffen. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/9067 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus- ses für Arbeit und Soziales auf Drucksache 16/6749. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfeh- lung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/4552 mit dem Titel „Altersteilzeit fortentwickeln“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- lung? - Wer stimmt dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion, der FDP-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen. Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/4553 mit dem Titel „Rente mit 67 - Berichtspflicht zum Ar- beitsmarkt nicht verwässern - Bestandsprüfungsklausel konkretisieren“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- lung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unions- fraktion, der SPD-Fraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 27 a bis 27 e und 12 sowie die Zusatzpunkte 2 a bis 2 d auf: 27 a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Heimkehrerstiftungsaufhebungsgesetzes - Drucksache 16/9058 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({0}) Rechtsausschuss Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 24. September 2005 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Vereinigten Arabischen Emirate über die Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich - Drucksache 16/9039 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({1}) Auswärtiger Ausschuss Rechtsausschuss c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bevölkerungsstatistikgesetzes - Drucksachen 16/9040, 16/9079 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({2}) Rechtsausschuss d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin Andreae, Dr. Thea Dückert, Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vergaberecht reformieren - Rechtssicherheit schaffen - Eckpunkte für die Reform des Vergaberechts - Drucksache 16/8810 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({3}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Vizepräsidentin Petra Pau Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Haushaltsausschuss e) Beratung der Unterrichtung durch die Delegation der Bundesrepublik Deutschland in der Ostseeparlamentarierkonferenz 16. Jahrestagung der Ostseeparlamentarierkonferenz vom 27. bis 28. August 2007 in Berlin - Drucksache 16/7809 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({4}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus 12 Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Seelotsgesetzes - Drucksache 16/9037 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ZP 2 a)Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbes- serung der grenzüberschreitenden Forde- rungsdurchsetzung und Zustellung - Drucksache 16/8839 - Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus Hofbauer, Dirk Fischer ({5}), Dr. HansPeter Friedrich ({6}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Heinz Paula, Uwe Beckmeyer, Sören Bartol, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Zwölf-Tage-Regelung in Europa wieder einführen - Drucksache 16/9076 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({7}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Tourismus c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Daniel Bahr ({8}), Heinz Lanfermann, Dr. Konrad Schily, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Verbesserung der Finanzsituation der Kran- kenhäuser - Drucksache 16/9057 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Harald Terpe, Birgitt Bender, Elisabeth Scharfenberg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Krankenhäuser zukunftsfähig machen - Drucksache 16/9008 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 28 a bis 28 l auf. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 28 a: Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ - Drucksache 16/8870 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({9}) - Drucksache 16/9109 Berichterstattung: Abgeordnete Stephan Mayer ({10}) Dr. Max Stadler Silke Stokar von Neuforn Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9109, den interfraktionellen Gesetzentwurf auf Drucksache 16/8870 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gibt es Gegenstimmen? - Gibt es Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Ich bitte diejenigen, die den Gesetzentwurf ablehnen wollen, sich zu erheben. - Gibt es jemanden, der sich enthalten möchte? - Dann ist der Gesetzentwurf auch in dritter Beratung einstimmig angenommen. Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 28 b: - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Conterganstiftungsgesetzes - Drucksache 16/8743 16844 Vizepräsidentin Petra Pau - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Conterganstiftungsgesetzes - Drucksache 16/8653 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({11}) - Drucksache 16/9025 Berichterstattung: Abgeordnete Antje Blumenthal Marlene Rupprecht ({12}) Ina Lenke Elke Reinke Britta Haßelmann - Bericht des Haushaltsausschusses ({13}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 16/9026 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Ole Schröder Petra Hinz ({14}) Otto Fricke Anna Lührmann Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Ju- gend empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9025, den Gesetzentwurf der Fraktio- nen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/ 8743 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, dem Gesetzent- wurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegen- probe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzent- wurf ist damit auch in dritter Beratung einstimmig ange- nommen. Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa- che 16/9025 empfiehlt der Ausschuss, den Gesetzent- wurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/8653 zur Änderung des Conterganstiftungsgesetzes für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Die Gegenprobe! - Wer möchte sich enthalten? - Die Beschlussempfehlung ist damit einstimmig angenom- men.1) Tagesordnungspunkt 28 c: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({15}) zu dem Antrag der Abgeordneten Mechthild Dyckmans, Hans-Michael Goldmann, Jens Ackermann, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion der FDP 1) Anlage 3 Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlamentes und des Rates über den Schutz der Verbraucher im Hinblick auf bestimmte Aspekte von Teilzeitnutzungsrechten, langfristigen Urlaubsprodukten sowie des Wiederverkaufs und Tausches derselben - Drucksachen 16/8187, 16/9115 Berichterstattung: Abgeordnete Marco Wanderwitz Dirk Manzewski Wolfgang Nešković Hans-Christian Ströbele Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9115, den Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/8187 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Die Gegenprobe! - Wer möchte sich enthalten? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der SPD-Fraktion bei Gegenstimmen der FDP-Fraktion und der Fraktion Die Linke sowie Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Tagesordnungspunkt 28 d: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({16}) Sammelübersicht 398 zu Petitionen - Drucksache 16/8894 Wer stimmt für diese Sammelübersicht? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 398 ist damit angenommen. Tagesordnungspunkt 28 e: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({17}) Sammelübersicht 399 zu Petitionen - Drucksache 16/8895 Wer stimmt dafür? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 399 ist damit ebenfalls angenommen. Tagesordnungspunkt 28 f: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({18}) Sammelübersicht 400 zu Petitionen - Drucksache 16/8896 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 400 ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion und der FDPFraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.

Not found (Mitglied des Präsidiums)

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({0}) Sammelübersicht 401 zu Petitionen - Drucksache 16/8897 Wer stimmt dafür? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 401 ist damit angenommen. Tagesordnungspunkt 28 h: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({1}) Sammelübersicht 402 zu Petitionen - Drucksache 16/8898 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 402 ist damit gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 28 i: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({2}) Sammelübersicht 403 zu Petitionen - Drucksache 16/8899 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 403 ist damit gegen die Stimmen der FDP-Fraktion angenommen. Tagesordnungspunkt 28 j: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({3}) Sammelübersicht 404 zu Petitionen - Drucksache 16/8900 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Das ist nicht der Fall. Die Sammelübersicht 404 ist damit gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Tagesordnungspunkt 28 k: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({4}) Sammelübersicht 405 zu Petitionen - Drucksache 16/8901 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 405 ist damit gegen die Stimmen der FDP-Fraktion und der Fraktion Die Linke angenommen. Tagesordnungspunkt 28 l: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({5}) Sammelübersicht 406 zu Petitionen - Drucksache 16/8902 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 406 ist gegen die Stimmen der FDP-Fraktion, der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Ich rufe den Zusatzpunkt 3 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD Wachstum und Beschäftigung als Grundlage wirtschaftlicher Sicherheit - Haltung der Bundesregierung zur Entwicklung des Arbeitsmarktes und zu den Wachstumsperspektiven für Deutschland Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Klaus Brandner. ({6})

Klaus Brandner (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003053

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die letzten Jahre zeigen eindrucksvoll: Wir haben mit unserer Politik erfolgreich dafür gesorgt, dass sich Wachstum viel schneller und nachhaltiger in Beschäftigung umsetzt. Ein hoher Beschäftigungsstand bedeutet nicht nur wirtschaftliche Sicherheit, sondern legt auch die Grundlage für zukunftsfähige, sichere Sozialsysteme und für einen verbesserten sozialen Zusammenhalt. Das sieht man auch in Europa so. Deswegen steht in der Lissabon-Strategie unter anderem: Wachstum ist kein Selbstzweck, sondern eine Voraussetzung für die Wahrung und Vermehrung des Wohlstands in Europa und somit für den Erhalt und die Verbesserung unserer Sozialmodelle. Aber auch der Umkehrschluss stimmt: Deutschland ist wirtschaftlich stark, nicht obwohl, sondern weil wir Sozialstaat sind; denn der Sozialstaat bietet die Grundlage für Wachstum und sozialen Frieden. ({0}) Erwirtschaftet wird unser Wachstum von den vielen Menschen, die Tag für Tag hart arbeiten, von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, von Unternehmerinnen und Unternehmern. Sie sind das Rückgrat unseres gesellschaftlichen Wohlstands. Aber Arbeit ist weit mehr als nur ein Weg, um Einkommen zu erzielen. Arbeit ist der Schlüssel für gesellschaftliche Teilhabe überhaupt. Deswegen sind die folgenden Zahlen so wichtig, weit über wirtschaftliche Überlegungen hinaus. Die Zahl der Erwerbstätigen steigt kontinuierlich. Sie wird erstmals im Jahresdurchschnitt über der Marke von 40 Millionen liegen. Ursache ist vor allem die erfreulich starke Zunahme der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung. Es ist uns erstmals gelungen, über 27 Millionen Menschen in sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung zu haben. Deswegen ist es nicht richtig, wenn manche behaupten, die guten Nachrichten vom Arbeitsmarkt seien vor allem auf mehr geringfügige Beschäftigung zurückzuführen. Das Gegenteil ist richtig: Die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung ist in den letzten 12 Monaten mit 2,5 Prozent deutlich stärker gewachsen als die geringfügige Beschäftigung mit nur 1,7 Prozent. Die zweite gute Entwicklung: Die Zahl der Arbeitslosen sinkt weiter. Im April 2008 gab es 1,6 Millionen Arbeitslose weniger als vor drei Jahren. Das entspricht fast der Einwohnerzahl einer Stadt wie Hamburg. Im letzten Jahr konnten wir uns über den mit Abstand stärksten Rückgang der Arbeitslosigkeit in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland freuen. Diese gute Entwicklung geht weiter. Für dieses Jahr erwarten wir einen weiteren Rückgang um gut 500 000 auf dann knapp 3,3 Millionen Arbeitslose. Damit werden wir die niedrigste Arbeitslosenzahl seit 15 Jahren erreichen. Mehr Beschäftigung bedeutet zugleich mehr Einnahmen für alle Zweige der Sozialversicherung. Das kann man in Zahlen fassen: 100 000 Beschäftigte mehr bedeuten rund 1 Milliarde Euro Mehreinnahmen bei der Sozialversicherung. All das führt dazu, dass wir Handlungsspielräume gewinnen. In diesem Zusammenhang möchte ich an folgende Punkte erinnern. Diese Handlungsspielräume geben uns die Möglichkeit, ein hohes Leistungsniveau zu erhalten. Außerdem können Maßnahmen, mit denen auf neue Herausforderungen reagiert werden muss, finanziert werden. Die neuen Handlungsspielräume haben zudem die Absenkung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung von 6,5 Prozent Ende 2006 auf heute 3,3 Prozent ermöglicht. Für den Haushalt der Bundesagentur für Arbeit kann man schon heute prognostizieren: Ein Defizit von knapp 5 Milliarden Euro, wie wir es noch im Haushaltsplan 2008 unterstellt haben, wird es nicht geben. All diese Entwicklungen belegen nachdrücklich, dass die Strukturreformen am Arbeitsmarkt erfolgreich sind. Wir arbeiten ehrgeizig weiter, indem wir die Vermittlung ständig verbessern, die Weiterbildung vorantreiben und mithelfen, dass es mehr und gute Arbeit gibt. Dabei haben wir heute Vollbeschäftigung als realistisches Ziel vor Augen. Zugegebenermaßen: Noch müssen wir dazu das Fernlicht einschalten; aber wir nähern uns diesem in der Vergangenheit oft als nicht mehr erreichbar bezeichneten Ziel mit beachtlichem Tempo. Erfolgreiche Arbeitsmarktpolitik ist das Ergebnis erfolgreichen Handelns in einer Vielzahl von Politikbereichen. Besonders gefordert sind dabei natürlich die Sozial-, die Wirtschafts- und die Finanzpolitik des Bundes. Gewiss ist: Wir bleiben ehrgeizig, steuern weiter auf diesem Kurs und werden so dazu beitragen, dass die Arbeitslosigkeit in unserem Land weiter kontinuierlich abgebaut wird. Herzlichen Dank. ({1})

Petra Pau (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11003206

Das Wort hat der Kollege Martin Zeil für die FDPFraktion. ({0})

Martin Zeil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003868, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Angesichts des Titels der Aktuellen Stunde war zu erwarten, dass wir eine kleine Selbstbeweihräucherungsstunde der Regierung erleben. Aber ich glaube, wir müssen tiefer gehen; denn allein mit politischen Spielchen gehen wir an der Lebenswirklichkeit vieler Menschen vorbei. ({0}) Zum Glück haben wir dank der guten Aufstellung unserer Unternehmen vor allem im Mittelstand wieder mehr Arbeitsplätze. Niemand freut sich über jeden zusätzlichen Arbeitsplatz mehr als wir Freien Demokraten. ({1}) - Sie können sich ja noch mehr freuen, Frau Kollegin. Angesichts dunkler Wolken der internationalen Finanzkrise und des vorausgesagten Wachstumsrückgangs immerhin von 2,5 Prozent in 2007 auf etwa 1,4 Prozent in 2009 dürfen wir es aber nicht bei einem oberflächlichen Schulterklopfen der Politik belassen, schon deshalb nicht, weil die Politik gerade dieser Regierung sehr wenig zu dem positiven Zwischenstand beigetragen, ihn durch falsche Weichenstellungen sogar behindert hat. ({2}) Wir müssen schon genauer hinsehen: Was sind denn das für Arbeitsplätze? In vielen Unternehmen werden Zeitarbeiter eingesetzt - mit steigender Tendenz. ({3}) Dies zeigt uns zweierlei: Zum einen sehen viele Arbeitgeber große Unsicherheiten in der konjunkturellen Entwicklung. Zum anderen ist unser Arbeitsmarkt nach wie vor durch zu starre Eintrittsbarrieren behindert. ({4}) Da die Koalition auf diesem Gebiet reformunfähig ist, ({5}) trägt sie die Verantwortung für den Anstieg der Zahl der Leiharbeitsverhältnisse. Wie abgehoben viele Politiker reden, zeigen die aktuellen Studien über das Schrumpfen der sogenannten Mittelschichten in Deutschland. Wir haben bereits vor einem Jahr gefordert, dass die Politik die Mitte unserer Gesellschaft nicht vergessen darf. Das sind diejenigen Menschen, die täglich aufstehen, ihre Kinder zur Schule bringen und dann zur Arbeit gehen. Das sind Menschen mit durchschnittlichen Gehältern wie der 37-jährige Bauleiter mit 4 400 Euro im Monat, der davon 2 000 Euro Steuern und Abgaben zahlt. Es sind diejenigen Menschen, die weder Transferleistungen in Anspruch nehmen noch in Steueroasen flüchten, die mit ihrer Hände Arbeit ihren Lebensunterhalt selbst finanzieren. Diese Menschen fühlen sich ausgenommen und bestraft. ({6}) Vor acht Jahren gehörten noch 62 Prozent der Deutschen zur Mittelschicht. Heute sind es nur 54 Prozent. Bis zum Jahre 2020 wird weniger als die Hälfte der Bevölkerung ein Einkommen auf Durchschnittsniveau erzielen. Das sind 10 Millionen Menschen weniger als noch Anfang der 90er-Jahre. Die Politik der schwarz-roten Regierung - massive Steuererhöhungen, staatliche Preistreiberei auf vielen Gebieten, zum Beispiel im Energiebereich - hat diese Entwicklung noch verschärft. ({7}) Von den versprochenen Beitragssatzsenkungen sind per saldo nur Erhöhungen übrig geblieben. Das ist der Grund, warum die Menschen vergeblich darauf warten, dass der Aufschwung auch bei ihnen ankommt. Es reicht nicht, dass die CSU als kleinster Teil der Koalition die Spendierlederhosen anzieht und der staunenden Bevölkerung ein Steuersenkungstheater vorspielt; es ist die gleiche Union, Herr Kauder, die in dieser Legislaturperiode voller Inbrunst insgesamt 19 Steuererhöhungen mitbeschlossen hat. ({8}) Herr Kauder, wer theoretisch für Steuersenkungen eintritt, praktisch aber die Steuern am laufenden Band erhöht, ist ungefähr so glaubwürdig wie der Brandstifter, der nach der Feuerwehr ruft. Diese Art von gespaltenem Bewusstsein kennen wir ja zur Genüge. Auch beim Gesundheitsfonds werden in Bayern Forderungen aufgestellt, die nicht zu dem passen, was in Berlin beschlossen wurde. Das Schlimme ist: Die Zeche zahlt der Bürger mit steigenden Beiträgen und schlechteren Leistungen. ({9}) Wir haben Ihnen mehrfach Gelegenheit gegeben, im Deutschen Bundestag endlich ein einfacheres und gerechteres Steuersystem mit niedrigeren Steuersätzen einzuführen. Sie hätten unserem Gesetzentwurf nur zustimmen müssen. Die Normalverdiener - das ist die von Ihnen vergessene Mitte - rufen zu Recht nach einer Entlastung. Auch die Wirtschaftsinstitute haben kürzlich gesagt, dass die Regierung angesichts der guten Entwicklung endlich die Steuern senken sollte. ({10}) Aber: Das Verwirrspiel geht ja bereits weiter: Die Koalition hat eine absolut mittelstandsfeindliche Erbschaftsteuerreform verabredet. In dieser Woche hören wir im Rahmen des Knowhow-Transfers die Wirtschaftsjunioren an. Ein junger Mann hat uns sehr eindrücklich geschildert, wie sich diese Reform auf sein Familienunternehmen auswirken würde. Ich kann nur hoffen, dass der Know-how-Transfer bei der Koalition ankommt. ({11})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, ich möchte Sie auf Ihre Redezeit hinweisen.

Martin Zeil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003868, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Auch im letzten Jahr haben wieder 150 000 zumeist gut ausgebildete und kreative Menschen unser Land verlassen, weil sie sich hier eingeengt fühlen und hier keine Perspektive für sich sehen. Diese Alarmzeichen müssen wir erkennen. Diesen Trend müssen wir umkehren. Statt sich selbst zu loben, sollte die Koalition endlich ihre Hausaufgaben machen. ({0})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist für die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Gerald Weiß. ({0})

Gerald Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003256, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Kollege Zeil, diese Kassandrarufe kann man nicht mehr hören. Wir haben 1,6 Millionen Arbeitslose weniger als vor zwei Jahren, wir haben 1 Million sozialversicherungspflichtig Beschäftigte mehr als vor zwei Jahren, wir haben robustes Wachstum im dritten Jahr, und auch das vierte Jahr wird trotz der Probleme auf dem internationalen Immobilienmarkt stabil sein. ({0}) Wir haben eine gute, gesunde volkswirtschaftliche Entwicklung, aber Sie üben sich in Kassandrarufen. Das bringt uns nicht weiter. Mit diesen Kassandrarufen helfen Sie uns nicht weiter. ({1}) Sie können jetzt sagen, das sei ein internes, von regierungsnaher Seite ausgestelltes Zeugnis. - Zugegeben. Ich will Ihnen aber auch drei Stimmen aus dem Ausland vorhalten: Erstens. Das renommierte World Economic Forum hat in seinem jüngsten Report festgestellt: Deutschland ist eine der fünf wettbewerbsfähigsten Volkswirtschaften der Welt. Zweitens. Deutschland ist der attraktivste Investitionsstandort in Europa. Das hat eine international durchgeführte Befragung von Führungskräften von Ernst & Young ergeben. Gerald Weiß ({2}) Drittens. Die Auslandspresse schreibt - der eine schreibt es vom anderen ab -: Deutschland erlebt sein zweites Wirtschaftswunder. Wenn Sie uns schon nicht glauben wollen, sollten Sie diesen internationalen Stimmen glauben. Wir sind nicht am Ziel; das kann keiner behaupten. Was stabiles Wachstum, mehr Arbeit und mehr Sicherheit anbetrifft, sind wir zwar nicht am Ziel, aber wir sind in Deutschland auf einem guten Weg. Das ist unbestreitbar. ({3}) Die Politik der Regierung unter dem Leitmotiv „Sanieren, Reformieren, Investieren“ ({4}) ist erfolgreich. Wenn Sie behaupten - das Bild wollen Sie ja zeichnen -, der Aufschwung sei wie Manna vom Himmel gefallen, dann darf man in aller Bescheidenheit sagen: Natürlich haben die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die Unternehmer, die Selbstständigen und die fleißigen und innovativen Manager alle dazu beigetragen. Zum Teil sind auch beachtliche Opfer gebracht worden. Aber ohne bessere wirtschaftspolitische Rahmenbedingungen in Deutschland und ohne bestimmte strategische Entscheidungen der Großen Koalition ({5}) - ich will Ihnen jetzt gerade ein bisschen entgegenkommen, Frau Pothmer - und teilweise auch - nach Irrungen und Wirrungen - der Vorgängerregierung gäbe es diesen stabilen Aufschwung in Deutschland nicht. Er trägt jetzt Früchte. ({6}) Herr Zeil, er ist nicht vom Himmel gefallen, ({7}) vielmehr hat die Große Koalition ein 25-MilliardenEuro-Programm gestartet und beim Wachstum klugerweise kein Strohfeuer entfacht, sondern an Wachstumstreibern angesetzt. Wir geben jetzt beispielsweise 6 Milliarden Euro mehr für Spitzenforschung in Deutschland aus. Das setzt an einem entscheidenden Wachstumstreiber an und wird uns strategisch helfen, dieses Land weiter voranzubringen und zu stabilisieren. Sie haben eben von den steigenden Abgaben, den zunehmenden Sozialabgaben gesprochen. Haben Sie denn nicht bemerkt, dass wir den Arbeitslosenversicherungsbeitrag in zwölf Monaten von 6,5 auf 3,3 Prozent praktisch fast halbiert haben? Ist das an Ihnen vorbeigegangen? ({8}) Ich folge den Aussagen meines Kollegen Fuchs und sage: Die positive Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt - wir haben für die Bundesagentur für Arbeit 18 Milliarden Euro als Rücklage auf der hohen Kante liegen rechtfertigt unsere Hoffnung. Sie gibt uns aber auch auf, den Arbeitslosenversicherungsbeitrag in einem weiteren Schritt noch einmal abzusenken und bessere Rahmenbedingungen zu setzen. ({9}) Letztes Beispiel - meine Redezeit ist abgelaufen -: Die Nettoneuverschuldung wurde von uns von nahezu 40 Milliarden Euro auf jetzt 13 Milliarden Euro reduziert. Das ist nicht die Endstation Sehnsucht, wir müssen diesen Weg weitergehen. Auch das ist nicht vom Himmel gefallen, sondern eine Frucht beachtlicher Anstrengungen. Das heißt, diese Koalition, diese Regierung hat sich mit großem und nachhaltigem Erfolg für dieses Land eingesetzt. Die Früchte sind sichtbar. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({10})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist nun der Kollege Herbert Schui für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Herbert Schui (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003844, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zu einer nüchternen Bestandsaufnahme sind die Redebeiträge der Koalition bislang nicht gekommen. ({0}) Stattdessen gab es einiges Eigenlob auch für vergangene Schandtaten, zum Beispiel für die Agenda 2010 und Hartz IV. Was eigentlich macht die Beschäftigungspolitik seit der deutschen Vereinigung und davor aus, gleichgültig ob Kohl, Schröder oder Merkel regieren? Ich nenne einige Zahlen: Der Bedarf an Arbeitsstunden sinkt stetig. 1991 haben die Arbeitnehmer rund 52 Milliarden Arbeitsstunden geleistet. Im Jahr 2007 waren es noch knapp 47 Milliarden; das heißt 8 Prozent weniger. Die Anzahl der Arbeitnehmer ist dagegen von 1991 bis 2007 um 0,5 Prozent - und auch nicht mehr - gestiegen. Wie erklärt sich der in etwa gleichbleibende Beschäftigungsstand? Das ist ganz einfach: Sie haben mit Ihrer Politik bewirkt, dass die einzelnen Arbeitnehmer je Woche weniger Stunden arbeiten, nämlich 28,4 Stunden je Woche im rechnerischen Durchschnitt im Jahr 1991 und 26 Stunden je Woche im rechnerischen Durchschnitt im Jahr 2007. Das ist ein Rückgang um 8,5 Prozent. Weil die durchschnittliche Wochenarbeitszeit pro Arbeitnehmer um ein halbes Prozent mehr gesunken ist als die Anzahl der geleisteten Arbeitsstunden, ist es im Saldo zu einer Zunahme der Beschäftigung um 0,5 Prozent gekommen. Das ist die ganze Mystik Ihres Beschäftigungsaufschwungs. ({1}) Das ist doch eine stramme Leistung. Da sollten Sie mit Eigenlob nicht sparen. ({2}) Das ist aber noch nicht die ganze Geschichte: In Preisen von 2007 beträgt der preisbereinigte Nettolohn im Jahr 1991 12,69 Euro, im Jahr 2007 sind es 13,03 Euro, für den gesamten Zeitraum von 1991 bis 2007 also 34 Cent pro Stunde mehr. In den vergangenen 16 Jahren ist die Arbeitsproduktivität je Stunde aber um 34 Prozent gestiegen. Damit hätte der Stundenlohn selbst bei unveränderter Verteilung des Volkseinkommens auf Lohn und Profit in den letzten 16 Jahren auf 17 Euro steigen müssen. Das entspricht nicht 34 Cent mehr, sondern 4,31 Euro. Was folgt daraus? Ihre Beschäftigungspolitik hatte zur Folge, dass Arbeitszeit und Wochenlohn in den letzten 16 Jahren gesunken sind. Daher musste die Armutsquote steigen. Näheres lesen wir wahrscheinlich im Armutsbericht, den die Regierung wohl nach dieser Feierstunde veröffentlichen wird. Wie sieht Ihr Konzept aus? Der Bedarf an Arbeitsstunden sinkt. Die Gesetzgebung schafft miserabel entlohnte Teilzeitarbeitsplätze; da und dort sind sie sogar sozialversicherungspflichtig. Indem die Vollzeitbeschäftigung und damit die Einkommen reduziert werden, wird das Niveau der Beschäftigung gehalten. Die Gesetzgebung sorgt für mehr Wettbewerbsdruck auf dem Arbeitsmarkt. So kommt es dazu, dass die Gruppe der sogenannten arbeitenden Armen, der working poor, wächst, und zwar auch bei Vollzeitbeschäftigung. In Ihren Debattenbeiträgen lassen Sie die Wirklichkeit nicht zu Wort kommen. Sie rechnen uns etwas für die Jahre 2005 bis 2007 vor, dann hoffen Sie auf die Zukunft und machen das Fernlicht an. Weil die Beschäftigung in diesen beiden Jahren, in den Jahren 2005 und 2007, um 800 000 Personen gestiegen ist, findet sich die Regierung und besonders die Kanzlerin toll. Von Armut dagegen reden Sie nicht. Was aber sagen Sie dazu, dass die Beschäftigung in den Jahren 1998 bis 2000 um 1,253 Millionen gestiegen ist, nachdem sie zuvor gesunken war? Das war vor Hartz IV. Wie erklären Sie, dass die Beschäftigung seit der Vereinigung Deutschlands um 190 000 Personen gestiegen ist? Wie erklären Sie Ihre Arbeitslosenstatistik? Bedenken Sie, dass das Arbeitspotenzial nicht mehr in dem Ausmaß zunimmt, wie es früher der Fall war. Bedenken Sie auch, dass die stille Reserve zunimmt. ({3}) Das alles sind Entwicklungen, die nicht Folge Ihrer Politik sind. Es muss eine ernsthafte Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik her. Beschließen wir endlich einen gesetzlichen Mindestlohn, mehr Rechte für die Beschäftigten und mehr Mitbestimmung. ({4}) Stärken wir durch unsere Gesetzgebung die Gewerkschaften, damit sie in den Tarifkonflikten höhere Löhne und Arbeitszeitverkürzungen bei vollem Lohnausgleich durchsetzen können. Schaffen wir die Voraussetzungen für mehr Beschäftigung im öffentlichen Dienst, finanziert durch höhere Gewinnsteuern und höhere Unternehmensteuern. Vielen Dank. ({5})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nun hat der Kollege Rolf Stöckel für die SPD-Fraktion das Wort.

Rolf Stöckel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003240, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Schui, Sie haben Entwicklungen beschrieben, die wahrscheinlich noch prekärer wären, wenn wir Sozialdemokraten nicht die Maßnahmen eingeleitet hätten, die wir vor knapp zehn Jahren eingeleitet haben. Wir haben die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit in den Mittelpunkt gerückt. Es ging uns darum, den Reformstau in unserem Land zu überwinden, neue Fundamente für wirtschaftliches Wachstum zu legen und die Sicherheit unserer Sozialsysteme langfristig neu zu begründen. Das verlangte manch schmerzhafte Entscheidung, nicht nur für die Betroffenen, sondern auch für unsere Partei, die vor Probleme gestellt war, die sie lieber nicht gehabt hätte. Gerade deswegen können wir heute mit Stolz sagen, dass wir die Wende zum Besseren geschafft haben, sowohl in der Vorgängerregierung als auch jetzt in der Großen Koalition. Staatssekretär Brandner hat die Zahlen genannt. Wir sehen sogar gute Chancen, in diesem Jahr zum ersten Mal im vereinten Deutschland beim prozentualen Wirtschaftswachstum eine Zwei vor dem Komma zu erreichen. Weil so viele Menschen wie noch nie sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind, haben sich die Sozialkassen wieder auf ein solides Maß gefüllt. Im Jahr 2011 wollen wir - Kollege Weiß hat darauf hingewiesen einen ausgeglichenen Bundeshaushalt vorlegen; das wurde in der alten Bundesrepublik zuletzt 1969 erreicht. Gestärkt durch die Erfolge sagen wir jetzt: Wir wollen die Arbeitslosigkeit nicht nur bekämpfen, sondern besiegen. Unser Ziel für das nächste Jahrzehnt ist Vollbeschäftigung in Deutschland bei guten Löhnen und fairen Arbeitsbedingungen. Wir wollen, dass jeder Mensch in unserem Land nicht nur gute Aussichten hat, Arbeit zu finden, sondern auch die realistische Chance auf einen sozialen Aufstieg erhält. Wir sind überzeugt, dass wir diese Ziele erreichen können, und zwar mit einer Politik, die entschlossen auf Innovation und Wachstum setzt, die Chancen der Globalisierung konsequent nutzt und im Binnenmarkt neue Dienstleistungen fördert. Wenn immer mehr Menschen bewusst gesund leben und älter werden, werden in Zukunft Gesundheitsdienstleistungen und die Inklusion behinderter und pflegebedürftiger Menschen noch stärker gefragt sein. Wir wollen eine starke Industrie und innovative mittelständische Unternehmen. Wir richten den Blick aber auch auf die Beschäftigungspotenziale in der Kreativwirtschaft, die inzwischen eine ähnliche Wertschöpfung wie etwa die Chemiebranche erzielt. Es geht nicht nur um ökonomische Chancen; zugleich müssen wir uns der Verantwortung für die ökologischen Folgen des bevorstehenden, geschichtlich einmaligen Wachstumsprozesses stellen. Damit wir unseren Planeten Erde nicht überfordern, brauchen wir so rasch wie möglich moderne, umweltfreundliche Produkte zu bezahlbaren Preisen; wir sollten einen wesentlichen Anteil an ihrer Entwicklung und Herstellung haben. Umweltfreundliche Energien, Maschinen, die mit weniger Energie auskommen, Produkte aus neuen Materialien statt aus teuren Rohstoffen bergen unsere größten Zukunftschancen auf zusätzliche, sichere Arbeitsplätze. Die Ausgrenzung von alleinerziehenden Frauen, älteren Arbeitnehmern, Migranten und behinderten Menschen sowie die fehlenden Bildungschancen von Kindern aus benachteiligten Familien stellen heute in Deutschland die größten Risiken für eine stabile wirtschaftliche Entwicklung dar und sind die wichtigste Ursache dafür, dass Armutsrisiken steigen und sich die Einkommensschere weiter öffnet. Im Übrigen ist jeder Arbeitsplatz, der neu entsteht, nicht nur ein Gewinn für den Menschen, der der Arbeitslosigkeit entkommt; er führt zu sinkenden Beiträgen zur Sozialversicherung für alle Arbeitnehmer. Die Politik für mehr Beschäftigung verschafft den Leistungsträgern unserer Gesellschaft, denen wir Sozialdemokraten uns besonders verpflichtet fühlen, Vorteile: der Krankenpflegerin, dem Facharbeiter, dem Angestellten und dem verantwortlich handelnden Unternehmer. Für Sozialdemokraten - es bleibt dabei - steht der Mensch im Mittelpunkt der Wirtschaft. Darum ist der Grundsatz „gute Arbeit“ der Kompass unserer Politik. ({0}) Was bedeutet das? Wer eine Vollzeitbeschäftigung hat, muss von dem Lohn dieser Arbeit leben können. Darum kämpfen wir mit den Gewerkschaften für branchenspezifische Mindestlöhne und für einen gesetzlichen Mindestlohn. ({1}) „Gute Arbeit“ bedeutet aber auch: Leiharbeit darf nicht für Lohndumping oder Tarifflucht missbraucht werden, sondern nur der Bewältigung von Auftragsspitzen dienen und eine Brücke in den regulären Arbeitsmarkt sein. „Gute Arbeit“ heißt auch, strukturelle Lohnunterschiede zwischen Frauen und Männern zu überwinden, mehr prekäre Jobs in reguläre Arbeitsverhältnisse zu überführen, die Mitbestimmung in den Betrieben zu erhalten sowie die Weiterbildung und Qualifizierung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zu fördern. Wer das Ziel der Teilhabe aller an Wohlstand und Wachstum ernst nimmt, muss sich an erster Stelle zur gewerkschaftlichen Organisation und Mitbestimmung bekennen. Die Flucht aus den Tarifverträgen ist ein Fluch und der Grund für neue Armutsrisiken. Gute Arbeit liegt nicht nur im eigenen Interesse langfristig und weitsichtig planender Unternehmen. Darum stellen wir Sozialdemokraten uns der Verantwortung, die Voraussetzungen für gute Arbeit zu schaffen, etwa mit neuen Modellen für längere Erwerbstätigkeit und gleitende Übergänge vom Erwerbsleben in die Rente. Unser Grundsatz lautet: Wer länger arbeitet, muss davon im Alter profitieren. Wir zäumen das Pferd aber nicht, wie es Jürgen Rüttgers aus durchsichtigen Gründen tut, von hinten auf. Leider fehlt mir die Zeit, über das Menschenbild, das hinter diesen falschen, sozialpopulistischen Parolen steht, zu reden. Wir können im Jahre 2008 feststellen: Deutschland geht die Arbeit nicht aus. Der technische Wandel verlangt von den aktiven Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern allerdings mehr Bereitschaft zu Weiterbildung und Qualifizierung. Da sind die Tarifpartner gefordert. Wir sagen: Deutschland hat eine bessere Zukunft, als viele glauben. Mit einer klaren Politik können wir die Chancen nutzen. Vertrauen wir wieder auf unsere Kraft! Wir Sozialdemokraten sind bereit für eine Politik, die die Massenarbeitslosigkeit besiegt und Sicherheit für die Menschen und inneren Frieden in unserem Land schafft. Herzlichen Dank. ({2})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die Kollegin Brigitte Pothmer das Wort.

Brigitte Pothmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003823, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist interessant, wie sich die Zeiten ändern: 1976 war die Zahl von 1,2 Millionen Arbeitslosen Anlass für düstere Prognosen im Hinblick auf Wirtschaft und Gesellschaft. Im Jahr 2008 wird die Zahl von 3,4 Millionen Arbeitslosen quasi als Vorabend der Vollbeschäftigung gefeiert. Ich habe den Eindruck, dass die langanhaltende Massenarbeitslosigkeit zu einer starken Relativierung der Wahrnehmung der gesellschaftlichen Probleme geführt hat. ({0}) Damit will ich - das betone ich - die Reduzierung der Arbeitslosigkeit in den letzten Jahren wirklich nicht kleinreden. Mehr Menschen haben wieder Arbeit, das ist insbesondere für die Betroffenen ein Erfolg. ({1}) Ich will nicht behaupten, dass Vollbeschäftigung unmöglich ist. Dass Vollbeschäftigung möglich ist, haben unsere europäischen Nachbarn, zum Beispiel die Dänen, gezeigt. Vollbeschäftigung fällt jedoch nicht wie Manna vom Himmel, Herr Weiß, Vollbeschäftigung erreicht man nur durch konsequente und harte Arbeit an Reformen. ({2}) Genau dies haben die Dänen getan. Das Gleiche hat die rot-grüne Regierung getan; ihre Arbeit ist es, die jetzt zunehmend Erfolge zeitigt. ({3}) Ich will unmissverständlich sagen - auch wenn Ihnen das vielleicht nicht gefällt, Herr Weiß -: Die Entspannung auf dem Arbeitsmarkt ist das Ergebnis unserer Reformpolitik, und sie ist das Ergebnis der guten Konjunktur. Die CDU/CSU ist in dieser Hinsicht nur Trittbrettfahrer; ein anderes Zeugnis kann ich Ihnen leider nicht ausstellen. ({4}) Im Gegenteil: Ich muss Ihnen vorwerfen, dass Sie die gegenwärtige Phase wirklich guter Konjunktur nicht nutzen, um weitere dringend notwendige Reformen voranzubringen. ({5}) Ich sage Ihnen: Die nächste Abschwächung der Konjunktur kommt. Dann wird sich rächen, dass Sie sich darauf in keiner Weise vorbereitet haben. Die Anfänge der nächsten Konjunkturabschwächung sehen wir schon jetzt: Die Zahl der offenen Stellen stagniert, und der Arbeitsmarkt ist nach wie vor tief gespalten. Daran hat dieser Konjunkturaufschwung leider nichts geändert. ({6}) Im Gegenteil: Deutschland hat den größten Niedriglohnsektor in ganz Europa. ({7}) Innerhalb dieses Niedriglohnsektors haben wir die größte Zahl an Arbeitsplätzen, für die Löhne unter 5 Euro gezahlt werden. Diese deutsche Besonderheit lässt sich auf einen zentralen Fehler zurückführen: dass es in Deutschland keinen Mindestlohn gibt. Trotz dieser dramatischen Entwicklung blockiert die CDU/CSU einen Mindestlohn. ({8}) - Natürlich ist das so, und das muss Ihnen peinlich sein, Herr Weiß! Sie müssen mit Ihren Jungs über den Mindestlohn reden! So geht es doch nicht weiter. ({9}) Ich weiß nicht, ob jemand von Ihnen auf den Maidemonstrationen war. Mir sind da häufig Plakate begegnet, auf denen stand: Habe Arbeit, brauche Geld. ({10}) Besser lässt sich kaum zusammenfassen, was viele Beschäftigte heute bewegt: Armut trotz Arbeit, das ist die hässliche Seite des vielbeschworenen konjunkturellen Aufschwungs. Das hat sehr wenig mit „guter Arbeit“ zu tun, Herr Stöckel. ({11}) Zum ersten Mal haben wir die Situation, dass zwar die Wirtschaft wächst, aber das Einkommen der Beschäftigten nicht. Über diese Besonderheit des konjunkturellen Aufschwungs müssen wir reden. Die Reallöhne werden auch in diesem Jahr trotz in Teilen guter Lohnabschlüsse weiter sinken, nämlich noch einmal um 1,2 Prozent. Es zeigt sich hier ganz deutlich, dass das Versprechen von Frau Merkel - Wohlstand für alle - wirklich ein hohles Versprechen ist. Ich sage abschließend noch einmal: Wir brauchen den Mindestlohn dringend, und zwar nicht nur, weil er ökonomisch und sozial notwendig ist. ({12}) Wir brauchen ihn auch deshalb dringend, weil wir nicht zusehen können, wie die gesellschaftliche Spaltung immer größer wird. Jetzt noch einmal ein Wort an die lieben Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU-Fraktion: Ich finde, da selbst die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung davon spricht, dass wir auf dem Weg in eine neue Klassengesellschaft sind, sollten auch bei Ihnen einmal die Alarmglocken klingeln. ({13}) Sie sollten dafür sorgen, dass der Aufschwung auch bei denen ankommt, die am wenigsten Geld haben. Ansonsten ist der soziale Zusammenhalt in dieser Gesellschaft wirklich tief gefährdet. Ich danke Ihnen. ({14})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Bartholomäus Kalb für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Bartholomäus Kalb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Staatssekretär Brandner und Kollege Weiß haben ja schon dargestellt, welchen Beitrag die Große Koalition dazu geleistet hat, Wachstum auszulösen und mehr Beschäftigung zu sichern. Diese Aktuelle Stunde steht ja auch unter der Überschrift, wie wir langfristige Perspektiven entwickeln können, um Wachstum, Beschäftigung und Wohlstand zu sichern. In einer McKinsey-Studie wird darauf hingewiesen, dass wir in den nächsten Jahren vor ganz anderen Herausforderungen stehen werden. Dabei geht es um die Verfügbarkeit von qualifizierten Mitarbeitern in Deutschland. Bereits im letzten Jahr ist eine Delegation des Deutschen Bundestages von einer amerikanischen Führungspersönlichkeit mit der Bemerkung begrüßt worden: Das größte Problem aller westlichen Industrienationen wird in den nächsten Jahren sein, noch ausreichend qualifizierte Mitarbeiter zu haben. - Wir stehen also vor völlig neuen Herausforderungen. ({0}) Ich füge hinzu: Die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands wird in der Zukunft nicht mehr so sehr von der Steuerlast der Unternehmen als von der Steuer- und Abgabenlast des Erwerbstätigen bzw. des Arbeitnehmers beeinflusst werden. Das wird die neue Herausforderung für uns sein. ({1}) Die Bedingungen für die Menschen haben sich grundlegend geändert. Für junge Menschen ist die Sprache heute keine Barriere mehr. Nationalstaatliche Grenzen gibt es praktisch nicht mehr. Kollege Zeil, ich glaube, Sie haben darauf hingewiesen: Die Tendenz zur Abwanderung aus unserem Land - insbesondere von hochqualifizierten Menschen - können wir uns nicht leisten. Das stellt uns vor völlig neue Herausforderungen. ({2}) Der frühere Bundesarbeitsminister Müntefering hat zur Begründung der Rentenrechtsänderung zu Recht darauf hingewiesen, dass sich die Zahl der Erwerbsfähigen - nicht der Erwerbstätigen - von derzeit rund 45 Millionen in wenigen Jahren auf 37 Millionen reduzieren wird. Das heißt, der Wohlstand in unserem Land muss von immer weniger Menschen erarbeitet und erwirtschaftet werden. Das muss Konsequenzen haben. ({3}) Eine Konsequenz ist, wie bereits dargestellt, dass wir unseren Wohlstand eben nicht mehr durch die Kreditfinanzierung, die Staatsverschuldung bewahren und finanzieren können. Eine andere Konsequenz ist, dass wir zu ausgeglichenen Haushalten kommen müssen, wie wir das auch fest eingeplant und verabredet haben. Natürlich muss das auch Konsequenzen im Bereich des Rentenrechts bzw. der Alterssicherung haben. Auch dort sind wesentliche Schritte eingeleitet worden. Eine weitere Konsequenz ist natürlich, dass das Thema „qualifizierte Bildung und Ausbildung“ mittlerweile in den Mittelpunkt der gesamten gesellschaftlichen Diskussion getreten ist. ({4}) Das gilt insbesondere für die Länder, die dafür auch ganz überwiegend zuständig sind. Kollege Weiß hat darauf hingewiesen: Wir haben durch die Senkung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung bereits erste Maßnahmen zur Senkung der Abgabenbelastung und der Lohnnebenkosten getroffen. Wir werden langfristig auch unser Steuersystem entsprechend umstellen müssen - das geht nicht von einem Tag auf den anderen -, damit sich die Menschen angeregt fühlen, die in ihnen schlummernden Leistungsreserven, ihre Mobilität und Flexibilität zu wecken, statt sich ständig demotiviert zu fragen, ob es sich lohnt, von einer gering bezahlten Beschäftigung in ein reguläres Beschäftigungsverhältnis zu wechseln oder an Aufstiegsund Qualifizierungsmaßnahmen teilzunehmen. Dabei spielt die Frage der Schwellen und der Grenzbelastung, die wir in unserem Steuersystem kennen, eine entscheidende Rolle. Vor diesem Hintergrund ist das von dem CSU-Vorsitzenden Erwin Huber vorgelegte Konzept als richtig zu betrachten. Der Parteivorsitzende der SPD hat angekündigt, dass die SPD ebenfalls ein Steuerkonzept vorlegen will. Das wird sicherlich auch unsere Schwesterpartei, die CDU, tun. Denn wir müssen uns diesen Fragen stellen. Es gibt keine Lösungen, die in einem Schritt erreichbar sind. Dabei handelt es sich um eine langfristige Aufgabe. Es werden mehr Schritte und weiter gehende Maßnahmen notwendig sein als die, die im Steuerkonzept der CSU enthalten sind. Wir werden diese Aufgabe unverzüglich in Angriff nehmen müssen, wenn bei der Haushaltskonsolidierung weitere Schritte zur Senkung der Steuern und Abgabenlast möglich sind. Diesen Spagat müssen wir hinbekommen. ({5})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächste Rednerin ist die Kollegin Edelgard Bulmahn für die SPD-Fraktion. ({0})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000305, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Herren und Damen! Demokratie lebt von dem Versprechen auf Teilhabe: Teilhabe an Bildung, am kulturellen Leben, an Arbeit und am Wohlstand. Dieses Versprechen einzulösen, ist die wichtigste politische Aufgabe. ({0}) Wenn es uns nicht gelingt, dieses Versprechen einzulösen, dann - das wissen wir - verliert jede Demokratie ihr Fundament. Deshalb hat sich diese Koalition vorgenommen, drei Ziele zu erreichen, nämlich erstens die Einnahmesituation zu verbessern, zweitens die Verschuldung zu verringern und drittens in die wichtigen Zukunftsaufgaben zu investieren. ({1}) Dass diese Entscheidung richtig war, zeigt die Tatsache, dass sich die Wirtschaft trotz der internationalen Finanzkrise und der damit verbundenen Schwierigkeiten in einer stabilen und guten Verfassung befindet. Die Zahl der Arbeitslosen ist so stark gesunken wie seit 15 Jahren nicht mehr. Wir haben 1,6 Millionen Arbeitslose weniger. Das sind Menschen, die wieder am Arbeitsprozess teilhaben können. Die kleinen und mittleren Unternehmen erweisen sich als stabiles Rückgrat unserer Wirtschaft. Auch die großen Unternehmen sind so gut aufgestellt, dass sie sich international behaupten können. Wir erwarten in diesem Jahr ein reales Wachstum des Bruttoinlandsprodukts von 1,7 Prozent. Aber ich will nicht verschweigen, dass das gesamtwirtschaftliche Wachstum immer noch zu sehr auf einem Bein steht. Es ist gut, dass wir 2007 zum fünften Mal in Folge Exportweltmeister waren. Das zeigt die Leistungsfähigkeit und Stärke der deutschen Wirtschaft. Weniger gut ist, dass der Binnenmarkt und die Binnenmarktnachfrage nicht so stark sind, wie sie sein müssten. Es ist entscheidend, dass wir stabil auf beiden Beinen stehen. Wir müssen deshalb unsere Anstrengungen, die Arbeitslosigkeit zu verringern, und vor allen Dingen zu erreichen, dass jeder von seiner Arbeit auch leben kann, fortsetzen. Wir dürfen nicht auf halbem Wege stehen bleiben. ({2}) Deshalb sage ich ausdrücklich, dass die von uns vereinbarte branchenbezogene Einführung des Mindestlohns, wenn die Tarifvertragsparteien dies wollen, ein richtiger erster Schritt ist. Aber wir dürfen nicht dabei stehen bleiben. Wir brauchen einen Mindestlohn, damit wir ein zweites starkes Bein haben - eine starke Binnennachfrage. An die Adresse von Herrn Zeil und Herrn Schui: Wirtschaftliches Wachstum, Verringerung der Arbeitslosigkeit und Armutsbekämpfung erreicht man nicht durch Kassandrarufe, genauso wenig wie durch Steuergeschenke. ({3}) Herr Zeil, die wichtigste Aufgabe, die wir zu bewältigen haben, besteht darin, Kindern und Jugendlichen eine exzellente Ausbildung zu ermöglichen und sicherzustellen, dass jeder eine gute Bildung und Ausbildung erhält. Nur weil vielleicht gerade Landtagswahlen anstehen, sollte man nicht landauf, landab populistisch Steuergeschenke versprechen und sich einen Dreck darum kümmern, woher das notwendige Geld für die Finanzierung der Bildung kommt. Letzteres fällt schließlich nicht vom Himmel. ({4}) Die Lehrerinnen und Lehrer müssen gut bezahlt werden. Die Schulen müssen gut ausgestattet werden. Es muss Freude machen, in eine Schule zu gehen. Wir müssten schon jetzt jedes Jahr zusätzlich 12,3 Milliarden Euro für die Bildung ausgeben, wenn wir so gut sein wollten wie die skandinavischen Länder. Das zeigt die Dimension der Aufgabe. Meine Damen und Herren von der Linken, wo waren Sie vor etwa acht bzw. zehn Jahren, als die rot-grüne Bundesregierung und ich als Bildungsministerin das Ganztagsschulprogramm gestartet haben, damit die Bildung der Kinder in unserem Land endlich genauso gut wird wie zum Beispiel in Finnland und Südkorea? Damals habe ich von Ihnen nicht viel gehört. ({5}) Es ist leicht, sich hier hinzustellen und zu sagen: „Hätten wir mal …“ Als es darauf ankam, hätte ich mir gewünscht, dass Sie gesagt hätten: Gut und richtig, dass Sie das machen! - Was haben Sie in den Landesregierungen, an denen Sie beteiligt sind, zur Verbesserung der schulischen und der frühkindlichen Bildung getan? Endlich verbessern wir die frühkindliche Bildung; das ist mehr als überfällig. Das ist auch keine neue Erkenntnis. Das wissen wir bereits seit 20 Jahren. Jeder, der nun so tut, als ob er dies nicht gewusst hätte, sagt etwas Falsches. ({6}) Herr Zeil, auch für eine starke Forschung und Entwicklung brauchen wir Steuermittel, genauso wie für die Bildung. Wir sind deshalb so leistungsfähig, und unsere Wirtschaft wächst deshalb, weil wir so gut in Forschung und Entwicklung sind. Aber auch hier fällt das Geld nicht vom Himmel. Das schafft man nicht in ein, zwei Jahren. Hier muss man langfristig und kontinuierlich klare Schwerpunkte setzen. Es ist zwingend notwendig, dass wir, die Bundesregierung, das fortsetzen. Aber genauso wichtig ist es, dass die Bundesländer ihre Hausaufgaben erfüllen. Aber auch die Wirtschaft muss ihre Hausaufgaben erfüllen. Sonst werden wir unser 3-Prozent-Ziel deutlich verfehlen. ({7})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Frau Kollegin, achten Sie bitte auf Ihre Redezeit.

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000305, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wir müssen eine gute Ausbildung und Qualifikation, das heißt ein leistungsfähiges Bildungssystem, eine starke Forschung und Entwicklung sowie eine leistungsfähige Infrastruktur mit Steuermitteln finanzieren, weil es sonst kein wirtschaftliches Wachstum geben wird. Deshalb darf man nicht leichtfertig Steuergeschenke versprechen. Wirtschaftliches Wachstum ist die Voraussetzung dafür, dass wir diese Aufgaben erfüllen können und damit die Arbeitslosigkeit verringern können. Ich möchte mit einem Satz von Ferdinand Lassalle, dem Gründer meiner Partei, schließen.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Aber nur ganz kurz, Frau Kollegin; denn Sie haben Ihre Redezeit schon weit überschritten. ({0})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000305, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ferdinand Lassalle hat gesagt: „Politik ist, immer zu sagen, was ist.“ Das habe ich getan. Vielen Dank. ({0})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun das Wort der Kollege Wolfgang Meckelburg. ({0})

Wolfgang Meckelburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001452, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich finde, die heutige Aktuelle Stunde zum Thema „Wachstum und Beschäftigung als Grundlage wirtschaftlicher Sicherheit“ ist notwendig; denn ich glaube, dass in der öffentlichen Diskussion in den letzten Monaten der Eindruck entstanden ist, als ginge es in Deutschland ständig bergab, als gäbe es hier nur Altersarmut und Kinderarmut, nur negative Themen. ({0}) Große Schuld daran tragen Sie von der Fraktion Die Linke. Das Weltbild, das Sie, Herr Schui, gerade hier vorgestellt haben, ist ziemlich weit von der Realität entfernt. Das ist eine Statistik nach dem Motto: Wenn ein Fußballspieler einmal auf den linken und einmal auf den rechten Pfosten schießt, dann hat er im Schnitt ein Tor geschossen. - So geht es natürlich nicht. ({1}) Deswegen nehme ich mir heraus, das Bild ein wenig zurechtzurücken. Herr Schui, wir sollten bei der Politik, die wir machen, vom Normalfall ausgehen. Nach unserem Verständnis besteht der Normalfall darin, dass man Arbeit hat und mit dem Einkommen, das man mit der Arbeit erwirtschaftet, sich selbst und eine Familie ernähren kann. Das ist unser Ziel. Bei Ihnen kann ich das Ziel überhaupt nicht erkennen. Sie sind ständig dabei, Ansatzpunkte zu suchen, wie man durch Kleinigkeiten sogenannte soziale Gerechtigkeit herstellen kann. ({2}) Sie sagen aber niemandem, woher Sie das Geld nehmen wollen und wie all das finanziert werden soll. ({3}) Das ist das Problem bei Ihrem Weltbild. ({4}) - Ich werde Sie nicht überbeanspruchen. Bei fünf Minuten Redezeit werde ich nicht die ganze Zeit auf Sie verwenden. - Ich will genau das tun, woran es mangelt, nämlich - wenn es sein muss, zum zehnten Mal - die Daten nennen und klar sagen, was hier in Deutschland passiert ist. Wir haben inzwischen - das ist der Stand vom April 2008 - 3,4 Millionen Arbeitslose. Der Höchststand im Wahljahr 2005 lag bei über 5 Millionen Arbeitslosen. Heute sind es 1,6 Millionen Arbeitslose weniger. ({5}) Jahr für Jahr, Stück für Stück wurde die Arbeitslosigkeit abgebaut. Wer hätte das zu Beginn dieser Legislaturperiode erwartet. Das ist ein Erfolg. Wir sind inzwischen so weit, dass wir nicht nur die Menschen, die Arbeitslosengeld I beziehen, wieder in Arbeit bringen, sondern auch die Langzeitarbeitslosen. Das ist schwieriger als bei denen, die Arbeitslosengeld I beziehen, aber auch da passiert etwas. Es muss Ziel unserer Politik sein, Menschen in Arbeit zu bringen und nicht darüber nachzudenken, wie man noch hier und da einen Cent ausgeben kann, damit sich die Leute wohlfühlen. Das ist Politik. Ihr Verständnis, Herr Schui, ist ein völlig anderes. ({6}) Bei den offenen Stellen haben wir eine positive Entwicklung. Was ich bei keiner Debatte verschweigen werde, ist die Entwicklung bei der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung. Wir haben in den letzten Jahren unter RotGrün 65 Monate lang einen Rückgang der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung erleben müssen. Unser Plakat lautete damals: Jeden Tag 1 000 weniger. - Die Trendwende hat im vorletzten Jahr angefangen. Die Entwicklung der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung ist jetzt positiv. Auch in den letzten drei Monaten ist die Zahl gestiegen. Wir haben jetzt 27,1 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigte. Das sind 663 000 mehr als vor einem Jahr, 1,3 Millionen mehr als vor zwei Jahren. ({7}) Das ist genau die Arbeit, die wir brauchen, weil die Beschäftigten die Sozialsysteme und die Steuern bezahlen. Es handelt sich um diejenigen, deren Geld Sie ständig ausgeben wollen. Das ist der Unterschied. ({8}) - Ich bin dabei, die Erfolge dieser Bundesregierung hervorzuheben. Die lasse ich mir durch Ihre Zwischenrufe nicht kaputtmachen. ({9}) Wir haben 1,3 Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen. Nehmen Sie das zur Kenntnis, Herr Schneider. Sie jedenfalls haben dazu keinen Beitrag geleistet. ({10}) Im Gegenteil: Die Vergangenheit, die Ihre Partei zu verantworten hat, hat dazu geführt, dass wir größere Schwierigkeiten zu bewältigen haben. ({11}) Die Entwicklung wird so weitergehen. Wenn man das Frühjahrsgutachten der Wirtschaftsinstitute liest und hört, was Professor Rürup sagt, kann man optimistisch sein. Herr Rürup erwartet zum Jahresende 2008 weniger als 3 Millionen Arbeitslose und im Jahresschnitt 2008 rund 3,47 Millionen Arbeitslose. Das wäre eine Quote von 8,0 Prozent. Wir liegen jetzt schon bei 8,1 Prozent und sind bei über 12 Prozent gestartet. An der Zahl kann man erkennen, was sich wirklich verändert hat. Das ist die Grundlage. Das ist wichtig für uns, weil es sonst keine Steuerzahler gibt und niemand in die Sozialversicherungen einzahlt. Wir brauchen Menschen, die arbeiten. Dieser Trend wird weitergehen. Ich bin sicher, dass die Wirtschaftsweisen recht haben, dass wir in diesem und im nächsten Jahr weiterkommen werden und im Schnitt des Jahres 2009 eine Arbeitslosenzahl haben werden, die unter 3 Millionen liegen wird. Das ist ein Erfolg, und den lassen wir uns von Ihnen nicht zerreden. Allein dafür lohnt es sich, diese Aktuelle Stunde durchzuführen. ({12})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächste Rednerin ist die Kollegin Gabriele LösekrugMöller für die SPD-Fraktion. ({0})

Gabriele Lösekrug-Möller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003482, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es sind von meinen Vorrednerinnen und Vorrednern schon sehr viele richtige Zahlen genannt worden, die beschreiben, wie gut die wirtschaftliche Entwicklung und die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt sind und wie sehr das eine mit dem anderen zusammenhängt. Wenn ich sage, dass es richtig ist, in dieser Aktuellen Stunde das, was sich positiv entwickelt hat, in den Vordergrund zu stellen, verehrter Herr Kollege Schui, dann wissen Sie, dass ich nicht von Ihren Zahlen spreche. Ihre politische Mathematik beginnt mit dem Ergebnis. Sie wollen auf Ihre Weise politisch argumentieren können und fangen an, Ihre politische Mathematik vom Ergebnis her aufzubauen, sodass am Ende zum Beispiel eine IG Metall, die eine 35-Stunden-Woche gefordert und über Jahre eingelöst hat, locker eingerechnet wird. Diesen Kollateralschaden nehmen Sie hin; mehr will ich zu Ihren Zahlen gar nicht sagen. ({0}) Die Zahlen, über die wir heute reden, sind ein Beleg dafür, dass die politischen Entscheidungen der letzten Jahre eine günstige wirtschaftliche Entwicklung befördert und damit zweifellos auch den Arbeitsmarkt beflügelt haben. Dennoch dürfen wir nicht darauf vertrauen, dass der Arbeitsmarkt nunmehr wie ein Perpetuum mobile, einmal angestoßen, von selbst läuft. Ich hoffe, wir alle wissen, dass die Sache mit dem Perpetuum mobile bisher noch nie geklappt hat, und ich befürchte, auch in Sachen Arbeitsmarkt funktioniert es nicht. Wir stehen politisch gesehen noch in der Schuld der vielen Menschen, die zwar arbeiten möchten, aber keine Arbeit finden. Auch das gehört dazu, wenn wir die Wahrheit beschreiben. ({1}) Deshalb sagt die SPD-Bundestagsfraktion, dass gute Arbeit her muss, und damit müssen wir im Parlament beginnen. Ich stehe hier sehr selbstbewusst und sage: Genau das liefern wir. In den Feldern Sozial- und Arbeitsmarktpolitik müssen wir bei Leiharbeit und Mindestlohn noch gute Arbeit leisten. Das sind wir denjenigen schuldig, die im Moment zu Recht nicht zufrieden sind. Wir müssen hinsichtlich Weiterbildung und lebenslangen Lernens mehr leisten. Das sollte im Übrigen auch eine Herausforderung für Mandatsträger sein. In den Zeitungen der letzten Tage wird der Fachkräftemangel beklagt. Ja, das ist eine große Sorge, die wir haben. Mich wundert allerdings, dass er erst jetzt beklagt wird, obwohl viele Unternehmen Vorsorge hätten treffen können, indem sie rechtzeitig mehr ausgebildet hätten. Auch das ist ein Teil der Wahrheit. ({2}) Unser Ziel ist ohne Frage die Vollbeschäftigung. Denn wir wollen nicht hinnehmen, dass die Zukunft des Arbeitsmarktes von Fachkräftemangel einerseits und von hoher Arbeitslosigkeit andererseits geprägt ist. Das müssen wir mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln bekämpfen. Denn für uns gilt, dass es gute Arbeit für alle geben muss. Das beginnt bei Berufseinsteigern, geht über kluge Angebote für alle Übergänge in der Erwerbsbiografie - wir wissen, dass es davon immer mehr geben wird - und reicht bis hin zur besseren Absicherung gesundheitlicher Risiken. Ich möchte noch etwas zu den Erwerbstätigen sagen. Laut einer Untersuchung von INQA sind 72 Prozent der abhängig Beschäftigten stolz auf ihre Arbeit. Entsprechend hochwertig sind die Arbeitsergebnisse. Wir reden über diese Menschen und über ihre Arbeit, die wesentlich zu dem Erfolg, den wir heute zu Recht formulieren, beigetragen haben. Deshalb müssen sie meiner Meinung nach in den Mittelpunkt einer solchen Aktuellen Stunde gehoben werden. In unserem Haus bewegt sich eine Kategorie, die nicht hierher gehört: Es sind die Unken. Sie alle wissen, wie sich Unken äußern. Schon in Brehms Tierleben kann man lesen, dass Unken zwar häufig, aber einfach und bescheiden rufen. Das gilt auch für die „politische Unke“. Ihre Rufe hörten wir auch in dieser Aktuellen Stunde. ({3}) Das Plenum des Deutschen Bundestages ist allerdings nicht der natürliche Lebensraum von Unken, gleich ob sie Rot- oder Gelbbauchunken sind; diese leben übrigens wirklich in Mitteleuropa. Hier gehören sie nicht her. ({4}) Das Plenum des Deutschen Bundestages muss der Mittelpunkt einer ehrlichen Beschreibung der Tatsachen sein; da hat Ferdinand Lassalle recht. Insofern kann man zu Recht erwarten, dass von uns und von diesem Pult konstruktive Lösungen für das, was besser werden muss, geliefert werden. Wir liefern. Wir stehen für gute Arbeit. Danke schön. ({5})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Für die Bundesregierung hat nun das Wort der Parlamentarische Staatssekretär Hartmut Schauerte.

Hartmut Schauerte (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002770

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Von 2001 bis 2005, also vier Jahre lang, herrschte Stagnation. Wie war die Lage? Die Arbeitslosigkeit stieg, die Staatsverschuldung stieg, kein Wachstum; es herrschte überall große Verunsicherung. Heute ist die Lage anders: Die Arbeitslosigkeit sinkt, die Staatsverschuldung liegt bei null. ({0}) - Ja. Ich kann auch noch ein paar andere Zahlen nennen, Frau Pothmer. - Es herrscht relative Zuversicht. Die Zahl der Arbeitsplätze wächst. Nachdem die Ausbildungsplatzsituation unerträglich schlecht geworden war, wurden im Jahr 2007 626 000 Ausbildungsverträge abgeschlossen. Für 2008 erwarten wir einen weiteren Zuwachs von 11 Prozent. Wir können also zu sehr vielen Bereichen sagen: Die Dinge haben sich gewendet und entwickeln sich sehr positiv. ({1}) Das darf man doch nicht leugnen. Man sollte allerdings einen Fehler nicht machen, nämlich zu sagen: Für das alles ist die Politik verantwortlich. Wer realistisch ist, sagt - diese Auffassung vertreten ich und auch Fachleute, die Schätzungen vorgenommen haben -: Etwa zwei Drittel dieser Entwicklung sind das Ergebnis einer wiedergewonnenen, neuen Wettbewerbsfähigkeit unserer Industrie, unserer Unternehmen. Dem liegen der Fleiß und die Intelligenz der Unternehmer und ihrer Mitarbeiter zugrunde. Etwa ein Drittel dieser Entwicklung ist konkretem politischen Einfluss geschuldet. Die Politik hätte mehr kaputt machen können. Das ist meiner Meinung nach eine realistische Analyse dessen, was passiert ist. Dazu gehört auch, dass wir in der europäischen Einigung weitergekommen sind. Das ist für Deutschland ein Segen; denn wir verdienen heute nirgendwo so viel Geld wie auf den mittel- und osteuropäischen Märkten. Die EU-Osterweiterung war ein großer Schub, den wir als Deutsche genutzt haben. Wir sind also wirklich besser geworden. ({2}) Ich will auf eine Frage eingehen, die in diesen Zusammenhang gehört: Wollen wir den Menschen Zuversicht oder Angst vermitteln, wenn wir Politik machen? ({3}) - Ja, die haben wir erhöht, lieber Herr Kollege Koppelin, weil wir auch das Ziel verfolgen, die Staatsverschuldung auf null zu senken und damit die Gesellschaft von der Angst vor der ewigen Nettoneuverschuldung zu befreien. Das ist an sich ein wichtiges Ziel. Wir bewegen uns hier nicht auf einer Einbahnstraße, sondern wir arbeiten mit einer Vielzahl von Instrumenten. Dazu gehört auch die Mehrwertsteuer. Übrigens haben wir die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung von 6,5 Prozent auf 3,3 Prozent gesenkt. Das hat für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie die Unternehmen eine Entlastung von 25 Milliarden Euro gebracht. Wir haben sehr unterschiedliche Instrumente zur Erreichung dieses Ziels eingesetzt. Ich möchte auf einen sehr interessanten Punkt hinweisen. Die Eigenkapitallage der mittelständischen Unternehmen in Deutschland ist ein Zeichen von Zukunftsfestigkeit oder von Gefährdung. Ein Großteil der Arbeitsplätze ist von dieser Eigenkapitallage abhängig. 2004 lag die Eigenkapitalquote von Unternehmen mit einem Umsatz von 0 bis 50 Millionen Euro bei 7,7 Prozent. Heute liegt die Eigenkapitalquote dieser Unternehmen bei 15 Prozent. Die Quote hat sich also in drei Jahren rund verdoppelt. Die Eigenkapitalsituation von Unternehmen mit einem Umsatz von mehr als 50 Millionen Euro hat sich ebenfalls verbessert: Deren Eigenkapitalquote ist von 25 Prozent auf 28 Prozent gestiegen. Ich verweise auf das, was wir für die Steigerung der Zahl der Arbeitsplätze und damit für die Sicherung aller anderen Arbeitsplätze erreicht haben. Man muss sich einmal Folgendes klarmachen: 2004/2005 gab es täglich 1 000 Arbeitslose mehr. Damals hatten 70 bis 80 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer massive Angst um ihren Arbeitsplatz. Das war eine brennende Sorge. Heute gibt es jeden Tag 1 000 Arbeitsplätze mehr. Wir können heute sagen, dass weit über die Hälfte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer keine konkrete Sorge mehr um ihren Arbeitsplatz hat. Auch das ist ein enormer Erfolg, den man gar nicht hoch genug einschätzen kann. ({4}) Die gewachsene Zuversicht bezüglich des Erhalts der Arbeitsplätze und die gewachsene Zuversicht bezüglich der Eigenkapitalentwicklung - sie ist ein Merkmal für die Zukunftsfähigkeit von mittelständischen UnternehParl. Staatssekretär Hartmut Schauerte men - sind sehr positive und sehr wichtige Entwicklungen, die man auch benennen soll. Wenn ich mich einmal in Europa umsehe, komme ich zu dem Fazit: Deutschland ist im Vergleich zu den anderen großen europäischen Wirtschaftsnationen - England, Frankreich, Italien und Spanien - der wettbewerbsfähigste, interessanteste und zukunftssicherste Standort. Dänemark ist ein interessanter Sonderfall. Dort liegt die Staatsquote aber auch bei über 57 Prozent. Bei uns ist Gott sei Dank die Staatsquote von 45 auf 43 Prozent gesunken. Deswegen kann man Dänemark nicht mit Deutschland vergleichen. ({5}) Wir können auch Norwegen und die Schweiz nicht als Vergleichsmaßstab heranziehen; denn die einen leben vom Öl und die anderen vom Geld der Welt. Wir dagegen müssen unseren Wohlstand selber erarbeiten. Aber vor diesem Hintergrund sind wir verdammt gut aufgestellt. Nun zum Thema Mindestlohn, sehr geehrte Frau Pothmer: Ich habe wirklich gestutzt, als Sie uns vorwarfen, wir seien reformunfähig und legten eine Verweigerungshaltung an den Tag und behaupteten, die Voraussetzung dafür, dass Deutschland zukunftsfest werde, sei die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns. ({6}) Da staunen alle Fachleute dieser Welt. ({7}) Die Einführung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns löst nicht die Probleme, er würde die Probleme vergrößern. Deswegen können und werden wir ihn nicht akzeptieren. ({8}) Jetzt stehen wir vor der Frage, wie wir unseren Kurs fortsetzen. Die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands findet ja vor dem Hintergrund schwersten Beschusses statt: Es gibt die Ölpreiskrise, es gibt die Finanzmarktkrise, und es gibt einen immer schwächer werdenden Dollar. ({9}) Jedes dieser Probleme alleine hätte vor Jahr und Tag die deutsche Volkswirtschaft ins Wanken gebracht. Heute sagen uns die Professoren und Sachverständigen: Die deutsche Volkswirtschaft ist so wettbewerbsfähig aufgestellt, dass die allergrößten Chancen bestehen, dass sie relativ ungefährdet und relativ stabil diese drohende Situation bewältigt. ({10}) Das ist doch eine wunderbare Bestätigung, dass wir auf richtigem Kurs sind. ({11}) Nun stellt sich noch die Frage, was wir in Zukunft tun müssen, um die Motivation unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu verbessern. Die Steuerpolitik ist ein Mittel. Dabei stehen wir vor der entscheidenden Frage, wie den Menschen mit 30 000 bis 60 000 Euro Jahreseinkommen wieder eine Perspektive eröffnet werden kann. Denen wird ja heute bei jeder Gehaltssteigerung ein überproportional hoher Teil weggenommen. Hierfür eine Lösung zu finden, ist die Aufgabe, die vor uns liegt und mit der wir uns zuallererst beschäftigen müssen. Von dieser Fragestellung sind ja 30 bis 40 Millionen Menschen in Deutschland betroffen. Wir sollten nicht ausschließlich Diskussionen über die Ränder der Gesellschaft führen, sondern müssen auch in ihre Mitte hineingehen und uns fragen, wie wir hier für eine Entlastung sorgen können. Ich will einmal eine Zahl nennen: Wenn ein Facharbeiter, der derzeit 30 000 Euro im Jahr verdient - das ist ja wirklich nicht üppig, aber eine sehr häufig vorkommende Größenordnung -, 100 Euro Lohnerhöhung bekommt, dann bleiben ihm von diesen 100 Euro 43 Euro. ({12}) Das empfindet er als ungerecht. Diese Situation können auch wir nicht akzeptieren. ({13}) Sobald wir etwas Freiheit zum Handeln haben, ({14}) müssen wir an den entsprechenden Stellschrauben drehen. Wir dürfen das nicht herauszögern, sondern müssen, sobald wir etwas Freiheit zum Drehen an der Steuerschraube haben, an dieser Stelle etwas tun. Die derzeitige Situation wirkt nämlich demotivierend und gefährdet die Wettbewerbsfähigkeit. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die motiviert sind - lassen Sie mich das zum Schluss sagen -, bieten ja die beste Garantie für hohe Ergebnisse und Wettbewerbsfähigkeit. Mit den staatlichen Rahmenbedingungen, die mittlerweile für die Mitte der Gesellschaft gelten, machen wir deren Motivation kaputt. Das müssen wir ändern. Daraus erwächst neue Zukunftsfestigkeit, neue Motivation, neues Wirtschaftswachstum, neuer Schwung. Zugleich müssen wir gute Bildungs- und Technologiepolitik machen. Die entsprechenden Positionen bauen wir ja aus. Wir tun mehr für Forschung und Technologie, Frau Pothmer, als Rot-Grün in all den sieben Jahren getan hat. ({15}) An keiner Stelle haben wir unsere Haushaltsansätze trotz aller Sparzwänge so deutlich angehoben wie in diesem Bereich. Wir wissen also schon, wohin wir müssen. Wir befinden uns auf einem guten Kurs. Deutschland ist stabiler geworden. Im internationalen Wettbewerb können wir hervorragend bestehen. Deshalb werden wir die bisherige Politiklinie fortführen. Bei dieser Aktuellen Stunde ging es ja - so habe ich das jedenfalls verstanden - um eine Beschauung der Lage unterwegs. So lassen Sie mich festhalten: Wenn wir Ängste schüren, werden wir keine Höchstleistungen erzielen. Das wird uns nur gelingen, wenn wir mit Zuversicht an die Dinge herangehen. Ich meine, die Bundesregierung hat Deutschland gut aufgestellt. Helfen Sie uns als Parlamentarier dabei, dass das so bleibt. Wir sind immer gespannt auf gute und neue Ideen. Anregungen, die wirklich etwas bringen, werden gerne aufgenommen, Frau Pothmer. Herzlichen Dank. ({16})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächste Rednerin ist die Kollegin Doris Barnett für die SPD-Fraktion. ({0})

Doris Barnett (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002621, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Das Wetterhoch entspricht den Aussichten der Wirtschaft und des Arbeitsmarktes. Wir können mit einer robusten Wirtschaft strahlen, und die Zunahme von sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätzen sorgt für immer größer werdendes Wachstum und für mehr Wohlstand in unserem Land. Auch wenn Letzterer noch nicht bis in den letzten Winkel vorgedrungen ist, so kann ich doch festhalten, dass sich die Reformen von Bundeskanzler Schröder jetzt auszahlen. Die Agenda 2010 war der Schlüssel, den wir umdrehen mussten, um endlich wieder die Maschine zu starten. ({0}) Ja, es mussten harte Entscheidungen getroffen werden, und die Anstrengungen wurden nicht immer von Applaus begleitet. Heute wissen wir, dass wir den richtigen Weg eingeschlagen haben; denn die Erfolge geben uns recht. Die Arbeitslosigkeit - Staatssekretär Brandner nannte die Zahlen - ist erheblich zurückgegangen. Immer mehr Menschen, die bisher allein auf staatliche Leistungen angewiesen waren, können nun ihren Lebensunterhalt selbst verdienen. Ihnen müssen wir bei den Abgaben helfen; denn es ist nicht die Steuerlast, die sie drückt. Die wachsende Zahl von Beschäftigten entlastet die Volkswirtschaft und schafft größeren Spielraum für notwendige Investitionen. Investitionen in Bildung, Wissenschaft und Forschung - das sind die am besten angelegten Gelder, weil sie in den wahren Rohstoff der Zukunft investiert werden: in die Menschen. ({1}) Nur mit ihnen kann Deutschland weiterhin die Wirtschaftslokomotive in Europa bleiben, aber dann brauchen wir auch alle Talente. Ich lasse es nicht gelten, dass Intelligenz nach sozialen Milieus verteilt sein soll. ({2}) Deshalb ist Bildung von Anfang an, also bei den Kleinsten beginnend, die einzige Alternative, die wir haben. ({3}) Ich freue mich, dass die Einsicht bezüglich Ganztagsschulen, ja sogar integrierter Gesamtschulen, also der Geheimwaffe Finnlands, in unserem Land immer mehr um sich greift. Qualifizierte Arbeitskräfte werden dringend gebraucht, aber die schütteln wir nicht von den Bäumen. Wir als Staat tun sehr wohl das Unsere. Auch die Unternehmen kommen immer mehr zu der Einsicht, dass Ausbildung kein Luxus ist, sondern eine Investition in die eigene Zukunftsfähigkeit. Das haben wir, die Mitglieder des Unterausschusses Regionale Wirtschaftspolitik, in der letzten Woche in einer ehemals strukturschwachen Region unseres Landes, in der Ems-Dollart-Region, erfahren können. Ich nenne hier als Beispiel die Meyer-Werft in Papenburg, die die Traumschiffe für internationale Touristikunternehmen baut. ({4}) Die Auftragsbücher sind gut gefüllt, und das Unternehmen ist auf Jahre hinaus auf hochqualifizierte Kräfte angewiesen. Die Ausbildungsquote liegt bei über 11 Prozent. Das kommt nicht von ungefähr. Frühzeitig hat die Firmenleitung erkannt, wie schnell es hier zu einem Mangel an Fachkräften kommt, den es im Norden bereits gibt. Aber durch die hohe Zahl an Auszubildenden ist die Werft jetzt auf der sicheren Seite. Die ganze Region beweist, wie man mit eigenen Stärken Wachstum und Arbeitsplätze schafft. Das wirkt sich sogar grenzüberschreitend auf die holländischen Gemeinden aus, mit deren Unternehmen zusammengearbeitet wird. ({5}) Beide Partner profitieren voneinander. So konnte im Arbeitsmarktbezirk Leer die Arbeitslosigkeit signifikant gesenkt werden. Sie liegt jetzt bei etwas über 4 Prozent. Das ist fast Vollbeschäftigung in einer Region, die bislang als das Armenhaus Deutschlands galt. In vielen Regionen unseres Landes macht sich der Aufschwung bemerkbar. Wir dürfen uns jetzt aber nicht ausruhen, denn er soll schließlich das ganze Land erfassen. Auch muss er robust bleiben. Deshalb ist es jetzt so wichtig, dass wir für unsere Unternehmen, insbesondere die mittelständischen, Auffanglinien einziehen. Eine ganz wichtige davon ist das Entsendegesetz. Wenn die europäische Dienstleistungsrichtlinie voll greift, brauchen wir in unserem Lande faire Wettbewerbsbedingungen für unsere Unternehmen, sonst sind nicht nur die ArDoris Barnett beitsplätze in Gefahr. Nein, ganzen Wirtschaftsbereichen kann dann das Aus drohen. Es wundert mich deshalb auch nicht, dass sich ganze Branchen bei Minister Scholz gemeldet haben und Aufnahme in das Entsendegesetz anstreben. ({6}) Für sie ist demnach der Mindestlohn keine Bedrohung. Im Gegenteil: Er ist ein Schutz. ({7}) Das sehen wir etwas anders als der Kollege Schauerte. Wir wollen gute Europäer sein. Wir wollen als Lokomotive weiterhin kräftig für wirtschaftliches Wachstum sorgen. Dafür brauchen wir faire Arbeitsbedingungen für die Menschen, die mit ihrer guten Arbeit dieses Wachstum produzieren. Vielen Dank. ({8})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege Laurenz Meyer für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Laurenz Meyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003592, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In den letzten Tagen und Wochen gab es zwei Anstöße, die diese Debatte wesentlich befruchtet haben. Zum einen war das die McKinsey-Studie über die Zukunft Deutschlands, übrigens mit der aufschreckenden Botschaft, die Mittelschichten seien in Aufruhr und ihr Standard würde sinken. Zum anderen waren es die Vorschläge der CSU zur Steuerpolitik. Beides hat endlich zu einer Diskussionslage geführt, in der wir uns mit denen beschäftigen, die unsere Wirtschaft wirklich tragen: diejenigen, die keine Transferleistungen, kein BAföG, kein Wohngeld, mehr bekommen, die Facharbeiter, die Angestellten, die Handwerker. ({0}) Sie tragen unsere Wirtschaft und stellen unsere Zukunft dar. ({1}) Deswegen möchte ich zum Schluss dieser Debatte aus meiner Sicht ein paar zusammenfassende Bemerkungen machen: Erster Punkt. Wir werden in Deutschland keine Zukunft haben, wenn wir nicht ein klares Bekenntnis zum Industriestandort Deutschland ablegen. Die Industriearbeitsplätze sind die Voraussetzung für hochqualifizierte Dienstleistungsarbeitsplätze. Ich entdecke zu viel Industriefeindlichkeit und zu viel Ängstlichkeit, wenn es um neue Technologien in unserem Land geht. Dagegen müssen wir angehen. ({2}) Wir müssen auch ein klares Bekenntnis zu den Industrien ablegen, die uns bisher getragen haben und die Hochtechnologien darstellen: Stahl, NE-Metalle, Fahrzeuge, Chemie. Ebenfalls dazu gehören die Kohlekraftwerke neuerer Art, die die alten ersetzen können und einen zusätzlichen technischen Standard bringen. Diese hochqualifizierten Industriearbeitsplätze, diese Hightech-Arbeitsplätze sind die Voraussetzung für die Entwicklung von unternehmensnahen, handwerksnahen oder, womit wir uns jetzt beschäftigen, haushaltsnahen Dienstleistungen. Denken Sie auch an die Entwicklung der Kulturwirtschaft. Der neu gewachsene Dienstleistungsbereich der Kulturwirtschaft in Deutschland bietet inzwischen mehr Arbeitsplätze als die gesamte Automobilindustrie bei uns. ({3}) Denken Sie ferner an den Bereich der Gesundheitswirtschaft. ({4}) Hier bestehen Chancen, die wir nutzen müssen. ({5}) Mir fehlt ein klares Bekenntnis zu diesen Bereichen. Wir haben da keine offensive Haltung. Ich glaube, das ist das Entscheidende, was wir auch aus der Steuerdiskussion, aus der Diskussion um die Mittelschichten mitnehmen müssen. Es klang übrigens eben bei Frau Barnett an: Wir brauchen Menschen, die wirklich motiviert sind, die mit Lebenslust, Engagement und Zukunftsoptimismus an die Arbeit gehen, sowohl im Unternehmerbereich wie im Arbeitnehmerbereich. Davon lebt unser Land und nicht von der pessimistischen, kleinkarierten Grundhaltung, die aus vielen Diskussionen, leider Gottes auf mehreren Seiten, herauszuhören ist. ({6}) Das muss ich auch angesichts der kleinkarierten Kritikasterei sagen, die Sie zum Teil zurzeit hier vortragen. ({7}) Deswegen lassen Sie uns über Zukunftsfelder diskutieren, die weit über das hinausgehen, was heute hier - Mindestlohn und Ähnliches - immer wieder gekommen ist. Es geht um die Fragen: Wie können wir Unternehmen aus Universitäten heraus gründen, aus Universitäten, die ihre Innovationen umsetzen können? Wie können wir die Finanzierung sicherstellen? Warum tun wir uns so schwer, zum Beispiel mit Venture-Capital Bedingungen zu schaffen, die international wettbewerbsfähig sind? ({8}) Zweiter Punkt. Auch die Bildungsfrage ist von Bedeutung. Da müssen viele Schützengräben übersprungen Laurenz Meyer ({9}) werden, übrigens auch bei uns. In der Bildungsfrage geht es darum: Wie können wir bei dem Riesenbedarf an Facharbeitern und Akademikern, den wir haben, bildungsferne Schichten in der Zukunft in die Lage versetzen, dass aus ihnen unsere zukünftigen Eliten kommen? Bei diesen Fragen müssen viele von uns - auf allen Seiten des Hauses übrigens, auch bei uns - ihre Vorstellungen überprüfen und zu neuen Ansichten kommen. Denn das sind die Kernfragen: Bildung, Zukunftssicherung durch Bildung. Dazu brauchen wir Kinder in unserem Land. Deshalb muss dafür gesorgt werden, dass auch in den Mittelschichten wieder mehr Kinder geboren werden, dass die jungen Frauen Beruf und Familie unter einen Hut bekommen können. Solche Fragen werden in diesem Zusammenhang eine entscheidende Rolle spielen. ({10}) Deswegen ist es so wichtig, dass wir uns mit den betreffenden Grundsatzfragen beschäftigen. Ein dritter Punkt in diesem Zusammenhang ist unsere Infrastruktur. Auf welche Art und Weise zum Teil über die noch vorhandene gute Infrastruktur bei uns geredet wird - sei es im Verkehrsbereich, sei es im Bereich der Telekommunikation oder der Energie -, ist für mich wirklich erschreckend. ({11}) Wir müssen hier die Weichen für die Zukunft stellen und dürfen nicht mit dem großen Füllhorn übers Land gehen, weil wir uns anschließend wundern würden, was dabei herauskäme. Dass wir beispielsweise im Bereich der alternativen Energien die Weichen für die Zukunft stellen müssen, ist doch völlig klar. Aber wir müssen dies, bitte schön, so effizient wie möglich tun. ({12}) - Herr Kuhn, lassen Sie uns doch gemeinsam darüber sprechen. Mich erschreckt, dass die Gefahr besteht, dass die technisch schlechtesten Fotovoltaikanlagen in Deutschland landen, weil sie aufgrund unseres Fördersystems hier noch untergebracht werden können. Bei uns müssten die besten Fotovoltaikanlagen produziert und installiert werden und nicht die, die man woanders auf dem Weltmarkt nicht mehr unterbringen kann. ({13})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.

Laurenz Meyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003592, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Bitte in dem Zusammenhang ist: Lassen Sie uns über diese Grundsatzfragen, die für Deutschland langfristig wichtig sind, intensiver sprechen und nicht nur anlässlich solcher Aktueller Stunden! Lassen Sie uns aus den Schützengräben herauskommen und manche kleinkarierte Diskussion, wie ich sie auch heute in dieser Debatte erlebt habe, beenden! ({0})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Damit ist die Aktuelle Stunde beendet. Ich rufe die Zusatzpunkte 4 bis 6 auf: ZP 4 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ CSU und der SPD Zukunft der Bahn, Bahn der Zukunft - Die Bahnreform weiterentwickeln - Drucksache 16/9070 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0}) Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst Friedrich ({1}), Patrick Döring, Joachim Günther ({2}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Bahnprivatisierung zügig und konsequent beschließen - Drucksache 16/8774 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({3}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried Hermann, Bettina Herlitzius, Peter Hettlich, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Zukunft des Schienenverkehrs sichern - Drucksache 16/9071 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Klaas Hübner das Wort für die SPDFraktion. ({4})

Klaas Hübner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003559, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kluge Politik ist es, auf neue Herausforderungen neue Antworten zu finden und nicht immer das Heil in alten Rezepten zu suchen. Das ist nicht immer einfach. Viele haben gerade uns Sozialdemokraten nicht zugetraut, in der schwierigen Frage der Bahnreform zu einer Lösung zu kommen. ({0}) Wir sind nicht nur zu einer Lösung gekommen, wir sind sogar zu einer guten sozialdemokratischen Lösung gekommen, und das bei der schwierigsten Frage, die wir in dieser Legislatur zu bewältigen haben. Wir können deshalb heute im Deutschen Bundestag mit einem gewissen Stolz sagen: Wir haben ein Modell entwickelt, das der Koalitionspartner mitträgt. Wir haben damit gezeigt: Die SPD ist regierungsfähig und regierungswillig, und diese Koalition hat Gestaltungskraft. ({1}) Wir haben vor 14 Jahren mit der Bahnreform den Grundstein für eine moderne Deutsche Bahn AG gelegt und den Güter- und Personennahverkehr für den Wettbewerb geöffnet. Dieser Wettbewerb funktioniert. Die Deutsche Bahn ist mit der Zeit von einer Beamtenbundesbahn zu einem vorbildlichen, hochmodernen und konkurrenzfähigen Verkehrsanbieter geworden. Nun stehen wir aber vor neuen Herausforderungen. Das Schienennetz stößt erkennbar an Kapazitätsgrenzen. Die Lärmbelastungen wachsen mit zunehmendem Schienenverkehr. Die europäischen Verkehrsmärkte öffnen sich und bringen damit auch neue Chancen und Risiken. Auf diese neuen Herausforderungen brauchen wir auch neue Antworten. Seit der Deutsche Bundestag im November 2006 die Leitlinien für die Weiterentwicklung der Bahnreform beschlossen hat, haben wir uns intensiv mit verschiedensten Modellen beschäftigt. Wir haben - das gebe ich zu dafür reichlich Zeit gebraucht. Aber es wäre blanker Populismus, zu sagen, dass man auf solch komplexe Sachverhalte immer einfache und kurze Antworten finden kann. Nach langen Diskussionen haben wir in der Großen Koalition gemeinsam eine gute Antwort gefunden. Es geht um die Zukunft der für viele Menschen notwendigen und für die Verkehrspolitik nicht zu ersetzenden Bahnen. Gerade bei so sensiblen, politisch hochbrisanten und komplexen Themen ist es richtig, Punkte zweimal zu bedenken und auch Überlegungen zu verwerfen, wenn sie sich als falsch erwiesen haben. Beschäftigte, Kunden und Steuerzahler haben den berechtigten Anspruch an uns, an die Politik, dass wir uns ausreichend Zeit nehmen - das haben wir getan -, um die unterschiedlichen Interessen aller Beteiligten sorgfältig zu gewichten und auch zu berücksichtigen. Wir haben uns bei all diesen Überlegungen immer von folgenden Zielen leiten lassen: Erstens. Wir wollen mehr Verkehr auf die Schiene bringen. Zweitens. Wir wollen ein in Europa auch künftig wettbewerbsfähiges Unternehmen Deutsche Bahn AG. ({2}) Drittens. Wir wollen, dass die 230 000 Beschäftigten der Deutschen Bahn einen sicheren Arbeitsplatz bei einer auskömmlichen Bezahlung haben. ({3}) Wir wollen all das erreichen, ohne den Bundeshaushalt zusätzlich zu belasten. ({4}) Mit dem vorliegenden Antrag skizzieren wir ein Modell für die DB AG, das zukunftsweisend ist. Zum Ersten stellen wir klar: Im Bereich der Infrastruktur ändern wir nichts. Wir stellen damit sicher, dass die Infrastruktur - sprich: die Bahnhöfe, die Schienen und die Energieversorgung - zu 100 Prozent in Bundeseinfluss bleiben. Das ist eine aus allen Reihen dieses Hauses oft geäußerte Forderung. Der sind wir nachgekommen; das ist auch richtig so. Zum Zweiten werden wir an den Verkehrsbetrieben Investoren bis zu 24,9 Prozent beteiligen. Diese Grenze von 24,9 Prozent ist für uns Sozialdemokraten nicht verhandelbar. ({5}) Das ist deswegen wichtig, weil wir damit sicherstellen, dass die Festlegung der Aufsichtsratsmandate und damit der Einfluss auf die Unternehmenspolitik der DB AG auf jeden Fall allein beim Bund bleiben; denn dadurch, dass ein Investor keine Schachtelbeteiligung haben kann, kann es keinen verbrieften Anspruch geben, dort mit einzusteigen. Damit stellen wir den Einfluss des Bundes vollständig sicher und haben trotzdem die Möglichkeit, privates Geld zu generieren, um unsere Ziele, die uns im Bereich des deutschen Schienenverkehrs wichtig sind, umzusetzen. ({6}) Wir haben es mit diesem Modell zum Dritten geschafft, den integrierten Konzern zu erhalten und damit - das ist uns sehr wichtig - den konzerninternen Arbeitsmarkt zu sichern. ({7}) Aufgrund dieses Modells ist es gelungen, gemeinsam mit der DB AG und den Gewerkschaften einen Beschäftigungssicherungsvertrag festzuklopfen, der bis zum Jahre 2023 reicht, also für 15 Jahre gilt. ({8}) Man kann ja viel lamentieren. Aber dann, wenn es darauf ankommt, für die Beschäftigten wirklich etwas zu tun - Beschäftigungssicherung ist etwas Handfestes -, ist man bei den Sozialdemokraten an der richtigen Adresse. ({9}) Wir werden neue Mittel generieren können. Wir haben festgelegt, dass die Einnahmen zu einem Drittel dem Bundeshaushalt zugeführt und zu zwei Dritteln in Deutschland investiert werden: ein Drittel direkt durch die DB AG, ein Drittel durch uns. Wir wollen damit vor allen Dingen Engpässe und Langsamfahrstellen beseitigen, was gerade im Hinblick auf die Seehafenhinterlandanbindungen extrem wichtig ist. Wir haben in den nächsten Jahren ein hohes Logistikaufkommen zu gewärtigen, das wir auch abtransportieren müssen. Dort müssen wir dringend investieren. Jetzt bekommen wir die notwendigen Mittel dafür. Wir wollen die Bahnhöfe und die Haltepunkte attraktiver machen. Wir wollen Lokomotiven und Wagen erneuern, und wir wollen vor allen Dingen den Schienenlärm gezielt bekämpfen. ({10}) Das ist eine Forderung, die oft gestellt worden ist, und zwar nicht nur die Rheinschiene betreffend. Es gibt in Deutschland mehr Verkehr und auch mehr Logistik; dies wollen wir auch. Aber wir wollen dem so gerecht werden, dass die Bürgerinnen und Bürger auch leben können. Darum müssen wir den Lärm an der Quelle bekämpfen. Das können wir jetzt mit den neu gewonnenen Mitteln. ({11}) Den vorgeschlagenen Maßnahmenkatalog können wahrscheinlich Sie alle unterschreiben. Aber es stellt sich ja auch die Frage, wie wir das seriös finanzieren. Seriös finanzierbar ist dies eben nicht, indem wir die Mittel einfach aus dem Bundeshaushalt nehmen oder, wie es die Linke will, die Neuverschuldung ins Exorbitante steigen lassen. Es ist keine generationengerechte, nachhaltige Politik, einfach die Lasten auf die kommenden Generationen zu verschieben. Nein, klug ist es, die Aufgaben, die wir heute haben, auch heute zu finanzieren. Durch die Teilprivatisierung ist es uns möglich, das Geld einzunehmen, das wir brauchen, um die verkehrspolitischen Ziele, die wir haben, umzusetzen. Wir werden mit der neuen Struktur der Deutschen Bahn auf sehr schwierigem Terrain erfolgreich sein. Wir machen das Unternehmen fit für die Zukunft. Wir werden die DB AG finanziell stärken. Wir werden sie organisatorisch neu aufstellen, und die DB AG wird die Möglichkeit haben, demnächst auch im europäischen Wettbewerb zu reüssieren. Wir werden uns in den nächsten Wochen Zeit nehmen, den vorliegenden Antrag zu beraten. Wir werden eine Expertenanhörung durchführen - ich glaube, am Montag der kommenden Sitzungswoche - und dann abschließend Ende Mai darüber debattieren. Ich bin mir sehr sicher, dass wir hier ein Modell vorgelegt haben, das viele Gewinner hat. Gewinner werden die Kunden sein, weil sie eine attraktivere Bahn haben werden. ({12}) Gewinner werden alle Bürgerinnen und Bürger sein, weil wir den Bundeshaushalt an dieser Stelle entlasten. ({13}) Gewinner wird die Wirtschaft sein, weil der Logistikstandort Deutschland deutlich gestärkt wird. ({14}) Gewinner werden auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sein, weil wir dafür gesorgt haben, einen Beschäftigungssicherungsvertrag für 15 Jahre zu schließen. 15 Jahre keine betriebsbedingten Kündigungen bei der Deutschen Bahn AG, das ist konkrete sozialdemokratische Politik. Dazu stehen wir. Vielen Dank. ({15})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist für die FDP-Fraktion der Kollege Horst Friedrich. ({0})

Horst Friedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000593, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin tief beeindruckt von den Ausführungen des Kollegen Hübner, frage mich aber, ob man darüber lachen oder weinen soll. ({0}) Das Schlimme ist: Wahrscheinlich glaubt er sogar, was er gesagt hat. Das ist ja das eigentliche Problem. Das Ganze fing mit der Bahnreform 1994 an. Jetzt legt uns die Große Koalition gnädigerweise - wie hat Herr Hübner es gesagt? - in einem seriösen Verfahren einen Antrag zur Beratung vor. Der staunenden Öffentlichkeit sage ich: Wir haben den Antrag gestern erhalten. Heute findet die erste Lesung statt. Am Montag findet eine Anhörung statt. ({1}) Eine solche Expertenanhörung kann man selbstverständlich innerhalb von eineinhalb Tagen vollständig auswerten, damit der Antrag in der gleichen Woche in zweiter und dritter Lesung beschlossen werden kann. - Das bezeichnet die Große Koalition als seriöse Bearbeitung eiHorst Friedrich ({2}) nes Vorschlages. Das mag glauben, wer will. Für uns ist das: eine Lösung im Schweinsgalopp finden. Dementsprechend wird wahrscheinlich das endgültige Ergebnis aussehen. ({3}) Wir reden in dieser Legislaturperiode mittlerweile über die dritte Variante zur Fortführung der Bahnreform. Die Große Koalition hat sich nach der Diskussion über den integrierten Börsengang der Deutschen Bahn AG mit Netz und der Diskussion über das Eigentumssicherungsmodell von Herrn Tiefensee - mit einem kurzen Abstecher zur Volksaktie, die Herr Tiefensee, als er nach Hamburg fuhr, noch abgelehnt hat, hinterher aber regelrecht erfunden haben will - jetzt auf ein neues Modell geeinigt, das angeblich die Lösung aller Probleme ist. Darauf komme ich später zu sprechen. Es ist schon erstaunlich, dass mittlerweile offensichtlich auch die Kollegen von der Union Opfer der Propagandainitiative der Deutschen Bahn wurden. Liebe Kollegen von der Union, wenn ich das richtig lese, steht im dritten Absatz des Antrages: Dank der Bahnreform ist es in den vergangenen Jahren gelungen, mehr Verkehr auf die Schiene zu bringen … und die Belastungen der öffentlichen Hand zu verringern. Wenn man das mit den verkehrspolitischen Leitlinien zur Kapitalprivatisierung der Deutschen Bahn der CDU/ CSU-Bundestagsfraktion vergleicht, stellt man fest, dass es dort völlig anders klingt. Dort steht nämlich: Bis heute wurden die beiden Ziele der Bahnreform, nämlich mehr Verkehr auf die Schiene und nachhaltige Entlastung des Haushaltes, nicht erreicht. Seit 1994 konnten nicht mehr Verkehrsanteile auf die Schiene gezogen werden. Darüber hinaus führte das bestehende Modell nicht zu einer nennenswerten Entlastung des Bundeshaushaltes; denn das System Schiene kostete den Bund einschließlich der Regionalisierungsmittel im Jahr 1994 rund 18,9 Milliarden Euro und 2004 18,7 Milliarden Euro. - Die Quelle ist relativ unverdächtig - Verkehr in Zahlen; Verfasser ist das Bundesministerium für Verkehr -, es sei denn, dass man den eigenen Zahlen nicht mehr glaubt. Dass die Union in diesem Antrag genau das bestätigt, muss schon überraschen. ({4}) Nicht überraschend ist hingegen, dass die SPD das mitträgt. Der Sprecher der SPD - das ist ja in der Öffentlichkeit zitierfähig - hat nach einer Vergabe im Nahverkehr einen Brief an seine eigene Verwaltung in Bremen geschrieben, der zufälligerweise bis aufs Komma mit einem Brief identisch war, den die Deutsche Bahn geschrieben hat. ({5}) Das kann man zur Kenntnis nehmen oder nicht. Auf jeden Fall überrascht ein solches Verhalten seitens der SPD nicht; das der Union überrascht mich schon ein bisschen. ({6}) Sie legen Wert auf die Aussage, dass mit diesem Gesetz mehr Wettbewerb im Bereich Schiene geschaffen wird. Was beschließen Sie aber? Sie legen in Ihrem Antrag vor, dass die Eisenbahninfrastrukturunternehmen dauerhaft und vollständig bei der DB AG verbleiben sollen. Das ist die Situation, die wir jetzt haben. Wenn ich mich aber richtig erinnere, sind die Mitbewerber der Bahn auf der Schiene beim Eisenbahn-Bundesamt und bei der Netzagentur vorstellig geworden; einige Kollegen sind ja Mitglied im Beirat. Jeder erzählt mir, der Wettbewerb könne noch besser funktionieren, wenn das Schienennetz neutralisiert werde und es eine echte Lösung gebe, und zwar 100 Prozent Verantwortung für das Schienennetz direkt durch den Staat und nicht indirekt durch die Beteiligung an der Deutschen Bahn AG. ({7}) Die Union bezeichnet das wiederum als Reverstaatlichung. Wissen Sie, Kollege Friedrich, Ihr Zwischenruf gibt mir Gelegenheit, auf noch einen Punkt einzugehen. Ich gehe davon aus, dass Kollege Gysi das Projekt Neuseeland hier ansprechen wird; er hat es schon in einem Zwischenruf genannt. In Neuseeland hat man genau das gemacht, was wir verhindern wollen. Man hat das Schiennetz und das Unternehmen an die Börse gebracht und privatisiert. Das wollen Sie in Ihrem Herzen immer noch; denn Sie kämpfen immer noch für den integrierten Börsengang des Unternehmens Deutsche Bahn AG. Sie kämpfen nicht für den Verkehrsträger Schiene. Sie sind ein Ministerium für die Deutsche Bahn AG. Das ist das eigentliche Problem. ({8}) - Ja, man kann das als Unfug bezeichnen. Man kann auch zur Kenntnis nehmen und lesen, was hier alles beschlossen wird. Am Rande möchte ich Herrn Hansen erwähnen, der Mitglied der Verhandlungskommission der Bahn bei der Bahnreform war, stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender ist und einer nicht unbedeutenden Gewerkschaft in der Bahn angehört. ({9}) - Ja, gut, deswegen war er ja in der Verhandlungskommission und ist auch als Sachverständiger für die SPD in der Anhörung benannt. ({10}) Horst Friedrich ({11}) Ausgerechnet Herr Hansen hat heute schon erklärt, dass er als Gewerkschaftsvorsitzender zurücktritt. Wie man aus gewöhnlich gut unterrichteten Kreisen hört, wird er Arbeitsdirektor der DB AG. ({12}) Frau Suckale wird dann sozusagen upgegradet in die Transportabteilung ({13}) Dazu muss ich sagen: Das kann man als ganz normal bezeichnen. Man kann auch sagen: Genau das scheint ein Kernpunkt des Gesetzes zu sein, das Sie uns jetzt vorlegen. ({14}) Sie selbst weichen jetzt von Ihrem eigenen Antrag vom November 2006 ab, in dem Sie die Bundesregierung aufgefordert haben, ein Privatisierungsgesetz vorzulegen. Das ist ein Antrag, und Sie schreiben, dass kein Gesetz nötig ist. Sie schreiben in Ihrem eigenen Antrag er wurde mehrheitlich beschlossen -, dass es durch eine gleichzeitig vorzulegende Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung begleitet werden muss. Ich habe den Kollegen Dirk Fischer noch im Ohr, der mir hoch und heilig zugesagt hat: Die Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung muss sich, bevor sie Gesetz wird, erst einmal in der Praxis über ein Jahr oder länger bewähren, damit wir überhaupt prüfen können, ob das alles funktioniert. Wie kann ich denn eine Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung vorlegen, wenn wir nicht einmal einen Netzzustandsbericht haben? ({15}) Wie kann ich etwas bezüglich der Qualität beschließen, wenn ich noch nicht einmal weiß, was ich kaufe? Das alles wird jetzt mit einem krampfhaften Versuch zugedeckt. Es wird gesagt: Um Himmels willen, wir haben nicht mehr genügend Geld, jetzt muss uns der Teilbörsengang retten. Damit sendet man keine Signale aus, die Investoren beflügeln. Frau Nahles ist zitierfähig mit der Aussage: Kohle ja, Mitbestimmung nein. - Das reizt natürlich jeden Investor, sein Geld bei der Deutschen Bahn abzuliefern. Wenn Sie sich an den Beginn der Diskussion erinnern: Wir hatten beim integrierten Börsengang, also mit Schienennetz, eine Erlöserwartung in Höhe von 8 Milliarden Euro. Jetzt soll die Privatisierung von 24,9 Prozent der Transporteinrichtungen einen Erlös von 8 Milliarden Euro einbringen, wenn ich Herrn Tiefensee glauben darf. Selbst wenn das eintreffen sollte, was ja momentan hochspekulativ ist, bleiben für die Deutsche Bahn im günstigsten Fall ungefähr 3 Milliarden Euro für Neuinvestitionen übrig. Es gibt aber einen Wunschkatalog, der ungefähr das Zehnfache umfasst. ({16}) - Das ist bei dieser Lösung gar nicht möglich, ({17}) weil wahrscheinlich der Steuerzahler die garantierte Rendite zahlen muss. Hier sind wir uns völlig einig, Herr Gysi. ({18}) Da der Kollege Klaas Hübner gesagt hat, es sei verbindlich festgelegt, dass diese 3 Milliarden Euro in Deutschland ausgegeben werden müssen, möchte ich einmal vorlesen, was hier steht: Der Bund erwartet, dass die der Bahn zur Verfügung gestellten Mittel für nationale Innovationen und Investitionen der Bahn verwandt werden. - Donnerwetter! Ich kenne Hartmut Mehdorn und weiß: Das wird ihn bis ins innerste Mark erschüttern. ({19}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Großen Koalition, dass Sie versuchen, uns das, was Sie hier vorlegen, ({20}) als die Lösung der Probleme der Deutschen Bahn oder gar als gelungene Fortsetzung der Bahnreform von 1994 zu verkaufen, grenzt schon fast an Frechheit. Wir werden die Ergebnisse der Anhörung mit Geduld auswerten und uns auch die Begleitgesetze genau ansehen. Dann werden wir entscheiden, ob wir diesem Werk das zukommen lassen, was es eigentlich verdient hat: die Versenkung in den Orkus. ({21})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Hans-Peter Friedrich für die CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Dr. Hans Peter Friedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003124, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Weichen für die nächste Stufe der Bahnreform, die Teilprivatisierung, werden gestellt. Die Große Koalition hat einen Kompromiss gefunden, bei dem sich die Union durchgesetzt hat ({0}) - hören Sie mir doch erst einmal zu -, was die Struktur der Privatisierung angeht, und bei dem sich die SPD durchgesetzt hat, was den Umfang der Privatisierung anbetrifft. Dr. Hans-Peter Friedrich ({1}) ({2}) Insgesamt ist dieser Kompromiss gut. Wie sieht die Struktur der Privatisierung aus? Das Wichtigste ist - das ist schon angesprochen worden -, dass wir die Infrastruktur, also die Schienen, die Bahnhöfe und die Energieversorgung, nicht privatisieren. ({3}) Sie bleibt zu 100 Prozent im Eigentum der DB AG. ({4}) Das ist eine sehr wichtige Entscheidung. Noch vor zwei Jahren hat Bahnchef Mehdorn von einem integrierten Börsengang - Betrieb und Infrastruktur - gesprochen; ({5}) unterstützt wurde er damals übrigens von Herrn Steinbrück und Herrn Tiefensee. Es war wichtig, dass wir in den letzten zwei Jahren miteinander gerungen haben und letztlich zu der Entscheidung gelangt sind: Das kommt nicht infrage. ({6}) Damit in Deutschland keine neuseeländischen Verhältnisse Realität werden, lieber Kollege Friedrich, haben wir verhindert, dass auch nur ein Meter Schiene in die Hand von Privaten gelangt. ({7}) Was wird privatisiert? Was diese Frage betrifft, wäre ich sehr dankbar, wenn man in den Äußerungen, die in der Öffentlichkeit gemacht werden, bei der Wahrheit bliebe. Die Betriebsgesellschaften der Bahn, mit denen sie Logistik betreibt - das tut sie übrigens weltweit, nicht nur in Deutschland -, werden in einem Paket zu einer Holding zusammengeschnürt. Von dieser Holding werden 24,9 Prozent privatisiert. Warum machen wir das? ({8}) Ein Aspekt ist, dass auf diesem Wege eine Schienenoffensive finanziert wird. Das ist aber nicht der einzige wichtige Aspekt. Schauen wir uns das Paket an! Was ist darin enthalten? Erstens. In den letzten Jahren hat der Bahnvorstand, von der Öffentlichkeit unbemerkt, viele Unternehmen weltweit aufgekauft. Die Bahn - viele wissen das nicht ist heute der größte Stückgutlieferant in Kalifornien ({9}) und betreibt Güterverkehr in Holland und Personenverkehr in England. ({10}) Meine sehr verehrten Damen und Herren von der Linken, erklären Sie dem deutschen Steuerzahler doch bitte einmal, warum es seine Aufgabe sein soll, all dies zu finanzieren. Wenn Sie unter den deutschen Steuerzahlern eine Umfrage durchführen würden, kämen Sie zu dem Ergebnis, dass sie sagen: All die Firmen, die weltweit zusammengekauft wurden, müssen privatisiert werden. ({11}) Genau das tun wir. ({12}) Zweitens. In diesem Paket ist auch das Unternehmen Schenker enthalten; viele von Ihnen kennen es. Schenker transportiert Güter, aber nicht auf der Schiene, sondern auf der Straße. ({13}) In jedem Landkreis in Deutschland gibt es Fuhrunternehmen. Die meisten von ihnen sind kleine Mittelständler, die fünf, sechs oder sieben Lkw haben und jeden Tag gemeinsam mit ihren Mitarbeitern um ihre Existenz kämpfen müssen. ({14}) Jetzt erklären Sie von der Linken bitte, warum es eine Staatsaufgabe sein soll, auf deutschen Autobahnen Güter zu befördern, wie es das zum Staatskonzern gehörende Unternehmen Schenker tut! Damit werden die Arbeitsplätze der Menschen in den Privatbetrieben von Staats wegen gefährdet. ({15}) Wie gesagt: In einer entsprechenden Umfrage würde die Mehrheit der Menschen in Deutschland sagen, dass der Güterverkehr auf der Straße privatisiert werden muss. Das tun wir, jedenfalls zu 24,9 Prozent. ({16}) Drittens. Enthalten ist auch der Güterverkehr auf der Schiene, Railion. Die Wahrheit ist: Es ist nicht so viel Güterverkehr auf die Schiene verlagert worden, wie wir es uns erhofft haben; aber der Güterverkehr auf der Schiene hat deutlich zugenommen. Das ist nicht unbedingt das Verdienst der Deutschen Bahn AG, sondern das Verdienst vieler Wettbewerber, Hunderter kleiner Unternehmen, die heute Güter auf der Schiene befördern. Wir wollen, dass dieser Wettbewerb gefestigt und gekräftigt Dr. Hans-Peter Friedrich ({17}) wird. Deswegen wollen wir DB Railion in den privaten Wettbewerb entlassen. Aus diesem Grund ist Railion in dem Paket enthalten, dessen Privatisierung ansteht. Viertens: der Personennahverkehr. Ich bitte Sie, auch bei diesem Thema bei der Wahrheit zu bleiben. Für die Frage, ob ein Zug von Bonn nach Euskirchen, von Berlin nach Brandenburg an der Havel oder von Hof nach Bad Steben fährt, ist ausschließlich das Land zuständig; es bekommt Geld vom Bund und bestellt diese Züge. Dafür ist nicht die DB AG oder die DB Regio zuständig, sondern das Land. Das wird so bleiben, weil Nahverkehr Daseinsvorsorge ist. Heute ist dank Ausschreibungen eine Vielzahl von Unternehmen auf unseren Bahnhöfen vertreten: Man sieht inzwischen nicht nur die roten Züge der DB Regio, sondern auch Züge in vielen anderen Farben. Wenn Sie sich die Bahnhöfe in Deutschland anschauen, dann stellen Sie fest: Viele kleine Privatbahnen betreiben Wettbewerb, versuchen, im Kampf um die Kunden im Nahverkehr besseren Service oder bessere Preise zu bieten, um so Geld zu verdienen. Letzten Endes profitieren aber der Verkehrsträger Schiene und damit diejenigen, die den Nahverkehr in Anspruch nehmen - die Bürgerinnen und Bürger -, von diesem Wettbewerb. Wenn es gelingt, dass eine Privatbahn, weil sie günstigere Kostenstrukturen hat, auf einer Strecke für den gleichen Preis elf statt zehn Züge pro Tag anbieten kann, dann profitieren davon die Menschen im Land. Deswegen soll dieser Bereich privatisiert werden. Was ist noch in diesem Paket enthalten? Der Personenfernverkehr. Bereits heute bietet die Deutsche Bahn AG Personenfernverkehr nur auf den Strecken an, auf denen es sich rechnet, also betriebswirtschaftlich sinnvoll ist. ({18}) Das ist die Konsequenz der Bahnreform, die vor 14 Jahren vollzogen wurde. Wir haben damals gesagt: Wir müssen den Schienenverkehr wirtschaftlich gestalten. Das wurde erreicht: Die Deutsche Bahn AG fährt schon heute, vor der Privatisierung, nur auf Strecken, die sich wirtschaftlich betreiben lassen. In der Zukunft wird sich der europäische Eisenbahnmarkt öffnen; demnächst wird es auch im Fernverkehr Wettbewerb geben. Die Franzosen sind entschlossen, künftig selbst Zugverbindungen von Paris über Deutschland nach Warschau sowie Fernverkehrsverbindungen in Deutschland anzubieten. Auch in diesem Bereich muss Wettbewerb hergestellt werden. Begreifen Sie von der Linken endlich einmal, dass Wettbewerb auch im Hinblick auf die Schaffung von Arbeitsplätzen etwas Gutes ist; denn nur, wer sich in den Wettbewerb begibt, bleibt wettbewerbsfähig. ({19}) Es gibt, was das Verhältnis von Bund und Deutscher Bahn AG in der Vergangenheit anbelangt, einiges zu beklagen, und zwar auch, Kollege Friedrich, einiges aus den letzten vier Jahren der schwarz-gelben Regierung. ({20}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, in den sieben Jahren der rot-grünen Koalition haben Sie übrigens zugeschaut, als ein braver Verkehrsminister Bodewig, der der Bahn nicht genehm war, gestürzt wurde; Sie haben keinen Widerstand geleistet. Ich sage Ihnen: Wir werden die Bahn an die Kandare nehmen. ({21}) Mit der Privatisierung, die wir vornehmen wollen, werden die Voraussetzungen dafür geschaffen. ({22}) Wir werden eine Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung abschließen, in der wir der Bahn klipp und klar sagen: Geld für Instandsetzungen gibt es nur im Gegenzug für Netzqualität, gibt es nur, wenn Qualitätskriterien erfüllt werden, die wir zusammen mit den Ländern vorgeben, und wenn die Bahn bereit ist, dafür zu sorgen, dass die Regionalnetze in der Fläche, bei denen es darum geht, den Wirtschaftsstandort Deutschland in seiner Gesamtheit zu erschließen, in Ordnung gebracht und in Ordnung gehalten werden. ({23}) Wir werden die DB in dieser Frage an die kurze Leine nehmen. Lassen Sie mich etwas zum Umfang der Privatisierung sagen. Die Sozialdemokraten haben sich auf 24,9 Prozent festgelegt. ({24}) Ich gebe zu, dass ich 30 Prozent für richtig gehalten hätte. Mit 30 Prozent hätte es die Chance gegeben, dass die Deutsche Bahn AG in den DAX aufgenommen wird, ({25}) und ein DAX-Unternehmen hat in der Regel einen höheren Preis als ein Nicht-DAX-Unternehmen. Herr Steinbrück muss mit der SPD-Fraktion ausmachen, warum er hier auf Geld verzichtet. Das, was wir beschlossen haben, ist wenigstens ein Schritt in die richtige Richtung, ein Einstieg. ({26}) Ich sage für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion aber auch: Wir wollen über diese Privatisierung hinaus nicht auf Biegen und Brechen eine weitere Privatisierung. ({27}) Wir schauen uns jetzt in Ruhe an, was sich entwickelt. Wir werden das eine oder andere korrigieren. ({28}) Dr. Hans-Peter Friedrich ({29}) Kommende Bundestage werden entscheiden, ob es weitere Privatisierungsschritte gibt, ({30}) vielleicht sogar unter Beifall der Gewerkschaften. Es drängt uns überhaupt nichts. Entscheidend ist, dass wir den Einstieg in die Privatisierung haben und dass Infrastruktur - sie gehört zur Daseinsvorsorge und ist somit Staatsaufgabe - und Betriebsgesellschaften - dort kann und muss der Wettbewerb stattfinden - getrennt behandelt werden. Ich denke, dass wir mit dieser Lösung einen großen Schritt in Richtung Zukunft, in Richtung einer Stärkung des Verkehrsträgers Schiene machen, für die Menschen in diesem Land und für den Wirtschaftsstandort Deutschland. Ich freue mich auf die Beratungen, die in den nächsten Wochen anstehen, und darauf, dass wir die Dinge bald umsetzen können. Vielen Dank. ({31})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Für die Fraktion Die Linke hat nun der Kollege Dr. Gregor Gysi das Wort. ({0})

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin kein Bahnexperte, ich bin Generalist. ({0}) So etwas kennen Sie anscheinend nicht. Vor 170 Jahren ist in Deutschland damit begonnen worden, das Eisenbahnnetz aufzubauen. Was Sie jetzt machen, ist klar: Sie beginnen, die Bevölkerung diesbezüglich zu enteignen. Das ist verheerend. ({1}) 1993 hat der Bundestag über die organisatorische Privatisierung gesprochen. Wissen Sie, welche Parteien, als damals die Gesetze verabschiedet wurden, versprochen haben, dass der Bund zu 100 Prozent Eigentümer bleiben wird, für immer und ewig? Die Union, die SPD und die Grünen. Union und SPD haben wieder einmal ein Versprechen gebrochen; das ist die Wahrheit. ({2}) Ich finde es gut, dass unser Kollege von der CDU/ CSU klar gesagt hat, dass diese Privatisierung der Bahn lediglich ein Beginn ist. Sie öffnen eine Tür, und dann wird die Enteignung immer weiter fortschreiten. ({3}) 1993 haben Sie - es ist interessant, daran zu erinnern drei Dinge versprochen: Die Bahn wird für die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler billiger werden. Die Bahn wird ein kundennahes Serviceunternehmen. Die Schiene wird ihren Anteil am Verkehrsmarkt erhöhen. - Nichts davon ist eingetroffen. Dagmar Enkelmann sprach am 2. Dezember 1993 für uns und sagte: Eine private AG muß - das können wir hier relativ nüchtern feststellen - auf Gedeih und Verderb gewinnorientiert arbeiten. Der Profit ist das Maß aller Dinge. Da muß das Gemeinwohl zwangsläufig auf der Strecke bleiben. ({4}) Ausdünnungen und Stillegungen sind die Folge. Hatte Sie recht oder nicht? Es gab Ausdünnungen, es gab Stilllegungen; genau so ist es gekommen. ({5}) Der Schienenverkehr kostet die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler heute mehr als 1994; das hat die FDP schon gesagt. Die Deutsche Bahn AG startete am 1. Januar 1994 - nicht vergessen! - schuldenfrei. Heute hat sie Schulden in Höhe von 21,5 Milliarden Euro, und ihr Eigenkapital ist fast aufgezehrt. ({6}) Die Deutsche Bahn AG ist weniger kundennah als die alte Bundesbahn; denn die Belegschaft wurde im Vergleich zu 1994 halbiert und 500 Bahnhöfe und Tausende Schalter sind geschlossen worden. Die Verkehrsleistung der Bahn beim Schienenverkehr lag 2005 unter derjenigen von 1993. Das heißt, der Anteil ist deutlich gesunken. ({7}) Nun kann man sich ja einmal ansehen, welche Erfahrungen andere Länder gemacht haben, die die Bahn privatisiert haben. Die privaten Eisenbahnen in den USA sind fast verschwunden. ({8}) In Großbritannien führte die Bahnprivatisierung zu schweren Unfällen, woraus entsprechende Konsequenzen gezogen worden sind. In Neuseeland wird die Bahn gerade zurückgekauft. ({9}) Ich bitte Sie: Als die Bahn in Neuseeland verkauft wurde, erbrachte das einen Erlös von 202 Millionen Euro; jetzt wird sie für 336 Millionen Euro zurückgekauft. Dort wurde also ein tolles Geschäft für die Bürgerinnen und Bürger organisiert. ({10}) Der neuseeländische Finanzminister - das ist kein Linker, meine Damen und Herren von der Union -, erklärte wörtlich: Der Verkauf der staatlichen Bahn zu Beginn der 90er-Jahre und der danach folgende Niedergang des Vermögens war eine schmerzliche Lektion für Neuseeland. - Nun wollen Sie diese Lektion auch für Deutschland. Das ist die Wahrheit. ({11}) Die Bahn gehört zur öffentlichen Daseinsvorsorge. Sie muss in öffentlichem Eigentum stehen, weil es um ökologische und soziale Ziele geht; darüber müssen wir uns verständigen. Gibt es ein Grundrecht auf Mobilität oder nicht? Ich habe einmal von einer Sozialhilfeempfängerin ein Schreiben bekommen, in dem stand: Es ist nett, dass du eine Kundgebung organisierst, aber ich kann nicht hinfahren, weil ich mir das nicht leisten kann. - Verstehen Sie das? Man muss schon wissen, ob man Sozialtickets will oder nicht. ({12}) Zur Ökologie sage ich Ihnen auch etwas: Wenn wir die Gütertransporte von der Straße auf die Schiene verlagern wollen, dann müssen wir günstige Angebote machen und das subventionieren. ({13}) Ein Privater wird das nicht subventionieren. Dann bleiben die ökologischen Probleme bestehen. Das ist der eigentliche Skandal. ({14}) Wir brauchen die Bahn in öffentlichem Eigentum, damit wir öffentlich darüber streiten und entscheiden können, meinetwegen auch mit unterschiedlichen Konzepten. Privatisierung bedeutet doch immer, dass man die Politik aus der Verantwortung entlässt. Wenn Sie eines Tages alles verkauft haben, dann haben die Kanzlerin und auch ich diesbezüglich nichts mehr zu entscheiden. Um Ihnen das ganz klar zu sagen: Das halte ich für eine sehr ungünstige Gemeinsamkeit, ({15}) weil dann die Wahl zwischen uns beiden in dieser Hinsicht für die Bevölkerung keinen Sinn mehr macht. Außerdem sind Sie bereit, das Grundgesetz wieder zu verletzen; das muss man einmal ganz klar sagen. Durch Art. 87 e Grundgesetz wird eine Entscheidung des Bundestages in Form eines Gesetzes verlangt. Sie sagen aber, dass Sie das ohne Gesetz machen. Gestern hat Ihnen das Bundesverfassungsgericht wieder bestätigt, dass das Grundgesetz verletzt worden ist. Hier passiert das Gleiche. Die SPD verletzt auch ihren eigenen Parteitagsbeschluss, was laut Grundgesetz aber erlaubt ist. Das Grundgesetz zu verletzen, ist laut Grundgesetz aber nicht erlaubt. Daran muss ich Sie erinnern. ({16}) Nun wird immer gesagt, dass wir dadurch frisches Geld bekommen. Ich bin ja sehr für frisches Geld. ({17}) - Ja, natürlich. Hören Sie einmal zu! - Ich weiß, dass die Bahn Geld braucht. ({18}) - Nun warten Sie doch einmal eine Sekunde. - Heute wurde gesagt, ein Drittel solle dann für Investitionen an die Bahn gehen. Machen wir uns das doch einmal klar: Jemand kauft knapp ein Viertel der Bahn und zahlt dafür einen Kaufpreis. Ein Drittel bekommt er wieder zurück. Da er dann Eigentümer ist, hat er ja etwas von dem Drittel, das zurückfließt. Das kann man also schon einmal herausrechnen. ({19}) Die Bahn wird ja auch künftig noch durch den Bund subventioniert; das können Sie nicht leugnen. Knapp ein Viertel davon bekommt immer der private Eigentümer. Verstehen Sie? ({20}) Der private Eigentümer ist natürlich furchtbar edel. Er will nur Geld geben. Ich sage Ihnen aber: Er will auch noch etwas anderes, nämlich in kürzester Frist mehr Geld heraushaben. Das bezahlen entweder die Kundinnen und Kunden oder die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler. Das ist die Wahrheit. ({21}) Egal was die SPD jetzt heilig verspricht: Die Privatisierung wird fortgesetzt werden. Das ist die eigentliche Katastrophe. Außerdem wird die Profitorientierung deutlich zunehmen. Kommen Sie mir jetzt nicht damit, dass das ja nur ein kleiner Anteil von 24,9 Prozent ist. Der Multimilliardär Frederiksen besitzt nur 12 Prozent der Anteile von TUI, entscheidet aber trotzdem, was verkauft wird und wie hoch die Rendite zu sein hat. Sie können mir glauben: Die anderen schaffen mit 24,9 Prozent noch deutlich mehr. ({22}) Die privaten Investoren haben ein Motiv, ihr Geld zur Verfügung zu stellen: Sie wollen mehr Geld herausbekommen. ({23}) Dieses Geld wird gezahlt werden müssen. Das ist die eigentliche Tragik. Es hat mich immer sehr gewundert, dass Transnet auch für die Privatisierung war. Der DGB hat sich sehr darüber geärgert. Heute habe ich erfahren, dass der Vorsitzende der Gewerkschaft, Norbert Hansen, Arbeitsdirektor bei der Deutschen Bahn AG wird. Er bekommt dieselbe Funktion, die Hartz bei VW hatte, bei der Deutschen Bahn AG. Dort verdient er mehr. Er hat die Seiten gewechselt und wird künftig dem Vorstand angehören. Den Rest müssen wir uns denken. ({24}) Die Schienen behalten Sie noch. Ich kenne doch Ihre Schrittchenpolitik; sie ist nicht neu. Man muss erst die Tür öffnen - so fängt es an -, und dann geht die Entwicklung weiter. Die privaten Investoren werden tolle Argumente finden, warum noch mehr verkauft werden muss. Erst erwerben sie 30 Prozent der Anteile; dann werden es 40 Prozent, und so geht die Entwicklung weiter. ({25}) - Ich bitte Sie, darüber nachzudenken. In der Politik gibt es Wahlen. Es gibt Gründe dafür, dass die Bevölkerung den Deutschen Bundestag wählen darf, aber nicht den Vorstand der Deutschen Bahn. Insofern ist die Frage, was der Vorstand entscheiden darf und was wir entscheiden dürfen, entscheidend für die Demokratie. ({26}) Wenn Sie immer mehr Privatisierungen vornehmen, dann entlassen Sie immer mehr Bereiche aus der Verantwortung der Politik und machen diesbezüglich die Demokratie bedeutungsloser. Die Linken kämpfen für mehr Bedeutung der Demokratie. Die Privatiseure hingegen wollen sie abbauen. Das ist die Wahrheit. ({27}) Wenn denn alles ökologisch und sozial unvertretbar wird und Unfälle passieren wie in Großbritannien, dann wird die Regierung eines Tages alles viel teurer zurückkaufen müssen. ({28}) Deshalb ist das, was Sie heute einleiten - eine die Bevölkerung teuer zu stehen kommende Enteignung -, ein Skandal. Danke. ({29})

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000825

Nächster Redner ist der Kollege Winfried Hermann für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Winfried Hermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003147, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Was die Große Koalition heute zur Privatisierung der Bahn vorlegt, ist nach all dem, was wir über viele Jahre mit Expertenrat, Modellüberlegungen und komplizierten Aufrechnungen diskutiert haben, beschämend. Die zurückgezogenen Gesetzentwürfe dazu haben mehrere hundert Seiten umfasst. Angesichts dessen ist diese Resolution als Grundlage der Privatisierung eine Sauerei. ({0}) Es klingt harmlos: Private Investoren werden nur mit 24,9 Prozent beteiligt, und das auch nur an der Hälfte der Bahn. Es geht also sozusagen um eine Achtelprivatisierung oder um eine Privatisierung light. ({1}) Sie ist scheinbar nicht besonders schlimm, aber wir glauben, dass sie schwerwiegende und fatale Konsequenzen für die Kunden und den Schienenverkehr im ländlichen Raum und den neuen Bundesländern hat. Das werden Sie noch merken. Wenn Sie die Ziele der Bahnreform, die übrigens in diversen Anträgen dieser Koalition - nicht irgendeiner anderen Koalition oder auf irgendwelchen Parteitagen 2006 im Bundestag nochmals bestätigt wurden, und die Versprechen mit dem vergleichen, was heute vorliegt, dann werden Sie feststellen, dass das nichts mehr miteinander zu tun hat. ({2}) Es ist nicht mehr die Rede von mehr Schienenverkehr. Sie weisen nicht nach, wie das funktionieren soll. Es ist auch nicht mehr die Rede von mehr Wettbewerb. Was ist stattdessen vorgesehen? In der ganzen Modelldebatte ist einzig und allein ein Modell übrig geblieben, das sich immer wieder in Varianten durchgesetzt hat, nämlich der integrierte Konzernbörsengang. Man hat den Eindruck, es geht nur darum, den DB-Konzern als integrierten Konzern zu erhalten. Das ist Ihre Variante einer verkürzten Bahnreform. ({3}) Aber, Kolleginnen und Kollegen auch von der CDU/ CSU, dieses Modell ist ein Etikettenschwindel, weil es weder eine wirkliche Privatisierung bedeutet - es ist übrigens auch nicht marktwirtschaftlich - noch das öffentliche Eigentum sichert. Es sichert auch nicht die Einflussnahme der Politik, wie die SPD es aufgrund Ihres Parteitagsbeschlusses in Form von Volksaktien zu tun vorgibt. Es ist ein Etikettenschwindel, weil Sie nicht wirklich das Eigentum des Bundes schützen und Markt und Wettbewerb nicht wirklich zulassen. ({4}) Ihr Entwurf sieht keine Neuordnung des Schienenverkehrs, sondern einen Umbau des DB-Konzerns vor. Ursprünglich hieß es, dass man die öffentlichen Aufgaben klar von den unternehmerischen trenne. Fehlanzeige! ({5}) Der CSU-Kollege Friedrich hat wortreich gefragt, warum der deutsche Steuerzahler den Verkehr und den Transport in Kalifornien organisieren und finanzieren solle. Aber, Kollege Friedrich, 75 Prozent des zukünftigen Holding-Transportunternehmens sind in staatlicher Hand. Genau das, was Sie beklagen, wird fortgesetzt. ({6}) Sie tun nichts für den Wettbewerb und stärken den Monopolisten. ({7}) Sie sorgen nicht für mehr Transparenz, sondern wollen ein intransparentes Holdingmodell umsetzen. Am meisten ärgert mich als Parlamentarier, dass Sie nach all den gescheiterten gesetzlichen Verfahren auf eine gesetzliche Grundlage gleich ganz verzichten. Übrigens wurde vor zwei Jahren im Bundestag beschlossen, dass die Bundesregierung zur Privatisierung einen Gesetzentwurf mit entsprechenden Eckpunkten vorlegen soll. Aber all das scheint vergessen zu sein. ({8}) Sie haben zwar einen Gesetzentwurf vorgelegt, sind aber mit sich selbst gescheitert. Ich komme nun auf die Genossen zu sprechen, die mutig gesagt haben: Wir werden verhindern, dass mehr als 24,9 Prozent privatisiert werden. Was ist denn Ihre Resolution wert? Jede Regierung wird zukünftig nach Kassenlage und Mehrheit Aktien verkaufen. Dagegen haben Sie nichts in der Hand. Ihnen bleiben dann nur noch Ihre mutigen Sprüche. ({9}) Was diese und Ihr auf einem Sonderparteitag geäußerter Wunsch nach einer Volksaktie wert sind, wissen wir heute. Keiner von den großen Genossen ist mehr da, nicht einmal der Kollege Scheer. Schade! Sie haben gekämpft und verloren. Nun halten alle das Maul. ({10}) Sie privatisieren, obwohl Sie vor anderthalb Jahren in Ihrer Vorlage geschrieben haben: Es kann erst losgehen, wenn entsprechende Rahmenbedingungen geschaffen wurden. Wir brauchen einen Netzzustandsbericht. Seit ewigen Zeiten warten wir nun darauf. Bislang liegt er nicht vor. Des Weiteren haben Sie eine Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung gefordert. Aber auch diese liegt nicht vor. Sie fordern zudem in Ihrem Antrag einen Beteiligungsvertrag. Auch dieser liegt nicht vor. Sie reden von Regulierung des Wettbewerbs. Aber es gibt keine Anreize für eine Regulierung. Sie lassen alles weg, was dringend notwendig ist, wenn man eine Privatisierung angeht. Trotzdem schreiten Sie mutig voran. Ich halte das für politisch dumm und gefährlich. Es wird die Möglichkeiten der Politik zukünftig drastisch mindern. Hier gebe ich dem Kollegen Gysi vollkommen recht. ({11}) Nun sagen manche Genossen, es handele sich nur um 24,9 Prozent, und es gebe keine wirkliche Renditeorientierung. Aber das ist der Einstieg. Es ist doch eine naive Vorstellung, dass ein Kapitalgeber in ein Unternehmen investiert und - das sind sozialdemokratische Fantasien Maßnahmen zur Verschönerung von Bahnhöfen und zur Verbesserung des Lärmschutzes finanziert. Das ist doch Witz pur. ({12}) Natürlich lässt sich mit Ihrer Resolution nicht das Aktienrecht aushebeln. Selbstverständlich wird jeder Aktionär, der 5 oder 10 Prozent der Aktien besitzt, auf eine Rendite drängen. Sie können noch so schön sozialdemokratisch daherreden, aber das, was Sie sich wünschen, wird nicht in Erfüllung gehen. Es handelt sich allenfalls um die Vorstellung von Sozialdemokraten, wie Kapitalismus funktionieren könnte, müsste oder sollte. Es handelt sich tatsächlich um den Einstieg in eine renditeorientierte Bahn. ({13}) Nun zum Verkaufserlös. Viele von Ihnen haben schon Milliardeneinnahmen versprochen. Hier möchte ich Ihnen Folgendes vorrechnen: Kollege Friedrich und Kollege Beckmeyer, aber auch Herr Tiefensee haben immer wieder gesagt, man erwarte einen Erlös in Höhe von 8 Milliarden bis 12 Milliarden Euro. Interessanterweise hat man auch beim ersten Modell genauso viel erwartet. Damals wollte man die Hälfte verkaufen. Nun will man mit einem Achtel genauso viel erlösen. Das ist doch Volksverdummung. ({14}) - Ein Viertel von der Hälfte ist ein Achtel. Zu dem Ergebnis kommen auch Sie, wenn Sie rechnen können. Das kann man leicht nachvollziehen. Sie tun so, als könnte man mit einem Achtel genauso viel erlösen. Gehen wir einmal von 3 Milliarden Euro aus. 1 Milliarde Euro bekommt Herr Mehdorn, um weltweit einzukaufen. 1 Milliarde Euro bekommt Herr Steinbrück zur Konsolidierung des Haushalts. Dann bleibt noch 1 Milliarde Euro beispielsweise für die Verschönerung von Bahnhöfen übrig. Mit diesem Betrag können Sie vielleicht gerade einmal die Mehrkosten eines Großprojekts wie Stuttgart 21 oder der Strecke Nürnberg-Erfurt decken. Wenn Sie Glück haben, können Sie auch das Dach des Berliner Hauptbahnhofs verlängern. Aber mehr ist damit nicht drin. ({15}) Noch ein Wort zum Holdingmodell. Die CDU/CSU ist stolz, dass sie das Staatseigentum in Form des Holdingmodells gerettet hat. ({16}) Formal haben Sie recht. Aber es ist ein merkwürdiges, widersprüchliches Konstrukt. Es wird in Zukunft Herr Mehdorn mit seinem Knappen Hansen das Staatsunternehmen als unser Treuhänder führen. Wir alle glauben daran. Ein Teil wirtschaftet gemeinwirtschaftlich im Sinne des Grundgesetzes ({17}) und sichert die Infrastruktur. Das wird vom Steuerzahler finanziert. Im anderen Teil des Konzerns wird renditeorientiert gearbeitet. Mehdorn hält das alles schön auseinander, das eine für die Allgemeinheit und das andere für die Rendite. Das ist doch eher eine neue Art von Selbstbedienungsladen für die Aktionäre. Das wird nie und nimmer funktionieren. ({18}) Man muss doch wirklich an Märchen glauben, wenn man glaubt, dass dieses Holdingmodell irgendwie funktionieren kann. Noch ein Wort zum Wettbewerb. Wie soll eigentlich Wettbewerb funktionieren, wenn zukünftig der Hauptmonopolist von heute als Unternehmen, an dem der Staat Anteile in Höhe von 75 Prozent hat, mit vielen kleinen Unternehmen konkurriert? Das ist doch kein fairer Wettbewerb. Das ist staatsmonopolistischer Kapitalismus in neuer Form. Es wundert mich, dass Sie von der CDU/CSU das mitmachen und ausgerechnet die Linke das kritisieren und darauf hinweisen muss, dass das so nicht funktioniert. ({19}) Ich komme zum Schluss und fasse zusammen. Diese Art von Teilprivatisierung wird nicht den Bahnkunden nutzen, und sie wird nicht dem Schienenverkehr nutzen. Es wird vor allem im ländlichen Raum zu einer Ausdünnung kommen, weil sich der Schienenverkehr dort nicht rechnet. Die Teilprivatisierung hat jede Menge Nachteile. Die Politik hat kein Mitspracherecht mehr. Das ist ein Beitrag zur Entparlamentarisierung der Schienenpolitik, weil wir nicht an Gesetzgebungsverfahren beteiligt sind und weil alles, was in Zukunft geschieht, eine reine Organisationsfrage der DB AG ist. Wenn überhaupt, dann gibt es nur eine indirekte Mitsprachemöglichkeit für die Regierung, von der wir aber wissen, dass sie selten mitspricht, sondern nur das tut, was die Bahn will. Das wird fortgesetzt. All dies zusammen bringt uns zu der ganz klaren Meinung: Diese Art von Bahnprivatisierung kann man nur ablehnen. ({20})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Bundesminister Wolfgang Tiefensee. ({0})

Wolfgang Tiefensee (Minister:in)

Politiker ID: 11004176

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Antrag „Zukunft der Bahn, Bahn der Zukunft - Die Bahnreform weiterentwickeln“ schlägt eine hervorragende Lösung zur Teilprivatisierung der Deutschen Bahn vor, und das aus sachlichen Gründen. ({0}) Denn all die Ziele, die wir uns gesetzt haben, werden mit dieser sehr guten Lösung erreicht. Weiterhin wird in dieser Debatte heute deutlich, dass dieser Antrag und damit diese Lösung auf eine erstaunliche Allianz der Ablehnung stoßen. Schon allein das muss uns zufrieden machen. ({1}) Auf der einen Seite gibt es die Haltung, dass der Konzern zerschlagen werden muss; auf der anderen Seite wird als Lösung vorgeschlagen, alles möglichst so zu belassen, wie es ist. Ich denke, dass wir einen sehr guten Weg gefunden haben, unsere Deutsche Bahn für Deutschland und für den europäischen und internationalen Markt stark zu machen. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Koppelin?

Wolfgang Tiefensee (Minister:in)

Politiker ID: 11004176

Sehr gern.

Dr. h. c. Jürgen Koppelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001180, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Minister, wäre es nicht für den Ablauf der Debatte besser gewesen, wenn Sie gleich zu Beginn das Wort ergriffen hätten, damit auch die Oppositionsparteien zu Ihrer Rede hätten Stellung nehmen können? ({0}) Stattdessen reden Sie jetzt nach den Oppositionsparteien, und danach sprechen nur noch Vertreter der Regierungskoalition. Wäre es nicht vom Stil her besser gewesen, wenn Sie der Meinung sind, dass Ihre Argumente stichhaltig sind, dass die drei Oppositionsparteien Gelegenheit gehabt hätten, auf Ihre Rede zu antworten? Sie sprechen aber jetzt, nachdem die Redezeit der Opposition vorbei ist. Ich persönlich halte das für einen schlechten Stil. ({1})

Wolfgang Tiefensee (Minister:in)

Politiker ID: 11004176

Sehr verehrter Herr Abgeordneter, ich denke, Sie haben Gelegenheit gehabt, zum Beispiel auf den Wortbeitrag von Herrn Hübner zu reagieren, der in ähnlicher Weise unser Modell vorgestellt hat. ({0}) Ich denke, dass das eine gute Lösung ist. Ich bitte Sie dennoch, meinen Argumenten zu folgen, auch wenn Sie nicht noch einmal reagieren können. ({1}) Der Minister hat bei allen vorangegangenen Debatten immer am Anfang gesprochen. Ich denke, dass es bei der Einbringung eines Antrags des Bundestags legitim ist, dass der Bundestag zuerst das Wort hat. Darauf legen Sie Wert. ({2}) Jetzt möchte ich etwas zu den Vorwürfen sagen, um dann kurz zur Lösung selbst zu kommen. Herr Gysi, ich darf Sie persönlich ansprechen. Sie haben in entwaffnender Offenheit den Satz geäußert: Ich bin kein Bahnexperte. ({3}) Sie sind aber offensichtlich ein Experte in der Frage der Enteignung, und da - Herr Gysi, das muss ich Ihnen sagen - treffen Sie bei mir einen sehr wunden Punkt. Sie sind offensichtlich auch ein Experte darin, wie man die Infrastruktur in Ordnung hält. Auch diesbezüglich treffen Sie bei mir aufgrund meiner Erfahrungen einen sehr wunden Punkt. Sie sind offensichtlich auch ein Experte darin, wie man der Bevölkerung ({4}) mit Schwarzmalerei, die man Wahrheit nennt, obwohl sie völlig realitätsfern ist, den Mut nimmt. Auch hier treffen Sie bei mir einen sehr wunden Punkt. ({5}) Ich lasse mir von einem Vertreter der Linken, der für eine Regierungszeit von vor 1990 steht - 1976 ist enteignet und das private Engagement kaputt gemacht worden ({6}) nicht sagen, wie man die Infrastruktur in Ordnung hält, zumal wir die Schäden jetzt mit Milliardenbeträgen beseitigen müssen. ({7}) Ich lasse mir nicht von jemandem, der nach eigenem Bekunden nichts von der Bahn versteht, erzählen, dass er die Bedürfnisse der Bevölkerung genau kennt und dass er deshalb schwarzmalen muss. ({8}) Das ist für mich indiskutabel, und ich halte es für keinen guten politischen Stil. Ich möchte Ihnen in zwei Punkten in der Sache widersprechen. Dies betrifft erstens die Frage, ob sich die Bahn positiv entwickelt hat. Wissen Sie eigentlich noch, wie hoch die Verschuldung der Bahn 1993/94 war? ({9}) Wissen Sie vor allem auch, sehr verehrter Herr Gysi, was die Verschuldung in den darauffolgenden Jahren bis zum Ende der 90er-Jahre mit sich gebracht hätte? Es wäre zum Konkurs der Deutschen Bundesbahn gekommen, wenn wir nicht zuletzt auch mit der Bahnreform 1993/94 einen Riegel vorgeschoben hätten. ({10}) Zweitens. Ich möchte Ihnen widersprechen, was die Stilllegung von Strecken anbetrifft. Sagen Sie der Bevölkerung, wann, wo und wie viele Strecken stillgelegt bzw. entwidmet worden sind. ({11}) Warum sagen Sie nicht, dass die Hauptstreckenstill- legungen vor 1994 stattgefunden haben? Warum sagen Sie nicht, dass sie im Osten stattgefunden haben? Warum sagen Sie nicht, dass sie stattgefunden haben, weil wir a) völlig unwirtschaftliche Flächen und Strecken hatten und weil sich b) auch die Verkehrsmittel - Stichwort „Erdgasbus“ - und das persönliche Mobilitätsverhalten verändert haben? Wir können mit einem solchen Ansatz, der nicht auf Wirtschaftlichkeit zielt, sondern lediglich den Bankautomaten bedienen will, keine Bahnreform machen. ({12})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Claus von der Fraktion Die Linke?

Wolfgang Tiefensee (Minister:in)

Politiker ID: 11004176

Sehr gerne.

Roland Claus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003065, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Minister, Sie sind soeben auf die Bahn in der Fläche zu sprechen gekommen. Deshalb möchte ich Sie fragen: Wie bewerten Sie die Wahrung der Interessen der Länder und Kommunen im Privatisierungsprozess der Bahn, und zwar angesichts der Tatsache, dass das Land Sachsen-Anhalt gestern einen eigenen Gesetzentwurf im Bundesrat vorgelegt hat, der ausdrücklich die Sicherung der Landesinteressen zum Gegenstand hat? Es ist hier allgemein bekannt, dass dort die gleiche Regierungskonstellation aus SPD und CDU tätig ist.

Wolfgang Tiefensee (Minister:in)

Politiker ID: 11004176

Vielen Dank, Herr Claus, für die Frage. - Die Länder haben genauso wie der Bund ein berechtigtes Interesse daran, dass sowohl die Regionalnetze als auch die Fernund Mischnetze in ordentlichem Zustand und gut vertaktet sind. Wir diskutieren mit den Landesverkehrsministern im Rahmen der Verkehrsministerkonferenzen in den letzten Monaten ausführlich darüber, wo in dieser Zielrichtung Deckungsgleichheit besteht und wo nicht. Sie wissen, dass die Länder pro Jahr 6,7 Milliarden Euro - diese Summe wird ab nächstem Jahr um 1,5 Prozent erhöht - an Regionalisierungsmitteln bekommen. Sie wissen, dass wir für die Instandhaltung des Netzes jährlich 2,5 Milliarden Euro aufwenden. Das machen wir nicht, weil wir gegen die Länder, sondern weil wir mit den Ländern Verkehrspolitik machen. Ich möchte nicht verhehlen, dass dieses oder jenes Land gerne etwas mehr Regionalisierungsmittel hätte ({0}) und diesbezüglich etwas mehr Mitsprache einfordert; das steht allerdings auf einem anderen Blatt. Ich habe in einem Schreiben, ausgehend auch von der Länderverkehrsministerkonferenz in der vorletzten Woche in Brüssel, Herrn Daehre, der sich in seiner Eigenschaft als Vorsitzender dieser Länderverkehrsministerkonferenz äußert, zugesichert, dass das umgesetzt wird, was in einer Arbeitsgruppe vereinbart wurde. Dabei geht es um die Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung. Des Weiteren ist die Frage des Netzzustands- und -entwicklungsberichts zu besprechen, und gemeinsam wollen wir zu einer konsensualen Lösung kommen. Ich habe ihm den Antrag, den wir heute in erster Lesung behandeln, zur Kenntnis gegeben, der beinhaltet, dass die Beteiligung der Länder ausdrücklich durch Sie, meine Damen und Herren, verankert sein wird. Es gibt also keinen Dissens darüber, dass es einen Beschluss der Verkehrsminister gibt, der sich darauf bezieht, dass es noch mehr Mitsprache geben soll. Eine andere Lösung beim Fernverkehr - Sie kennen den Gesetzentwurf - anzustreben, nämlich die Regelung, dass der Bund zu guter Letzt auch noch die Fernverkehre bestellt und bezahlt, das steht auf einem anderen Blatt. Das müssen wir fachlich ausdiskutieren. Ich garantiere dafür - das habe ich dem Minister schriftlich mitgeteilt, und ich sage es hier in aller Öffentlichkeit -: Es wird eine kooperative, gründliche Einbeziehung der Länder in diesen Prozess geben, weil wir die gleichen Interessen verfolgen. ({1}) Jetzt möchte ich mich gern den Argumenten zuwenden, die von der anderen Seite gekommen sind. Wenn Sie diese Lösung ablehnen, weil sie auf dem Fundament des integrierten Konzerns steht, dann nehme ich Ihre Ablehnung zur Kenntnis und respektiere sie. Ihrer Vorstellung liegt ein völlig anderer Pfad zugrunde als der, den wir einschlagen wollen. Es stimmt nicht, dass wir das Verhältnis Schiene/Straße in den letzten Jahren nicht haben nachhaltig verändern können. Wir haben 40 Prozent Zuwachs beim Güterverkehr; wir haben einen Zuwachs beim Modal Split. ({2}) Sie wissen, dass ein Aufwuchs der Güterverkehrsmenge um 1 Prozentpunkt ein großer Erfolg ist. Sie wissen, dass unser Staat schon allein dadurch entlastet ist - ich verweise auf meine vorigen Ausführungen -, dass wir verhindert haben, dass der Deutschen Bundesbahn ein Konkurs drohte. ({3}) Ich bitte, das auch Ihrer Klientel deutlich zu machen. Meine sehr verehrten Kollegen von der FDP, wir werden mit diesem integrierten Konzern die Aufgaben der nächsten 15 Jahre wesentlich besser erledigen als mit einem zerschlagenen Konzern. Sie wollen der Bevölkerung weismachen, dass eine Bahn, die sich in den nächsten ein oder zwei Jahren mit sich selbst und ihrer Zerlegung beschäftigt, effizienter, besser, wettbewerbsfähiger und kundenorientierter sei. Das kann nicht die Lösung sein. ({4}) Ich nehme sehr gern zur Kenntnis, dass Sie eine andere Lösung anstreben. Wir verfolgen in dieser Regierungskoalition den integrierten Konzern - 100 Prozent Netz beim Bund -, ({5}) und wir verfolgen keine Zerschlagung der Güterverkehrs-, Personalverkehrs- und Logistikbranche. Ich möchte daran erinnern: Diese Zerschlagung ist von Anfang an Ihr Ziel gewesen. Dieses Ziel haben wir von Anfang an nicht verfolgt. ({6}) Die Motive Ihres Widerspruchs sind erkennbar. ({7}) Herr Hermann, jetzt möchte ich auf Ihre Argumente eingehen. Sie haben sehr wortreich von „Etikettenschwindel“ gesprochen und behauptet, alles das, was vorliegen müsse, liege nicht vor. Ich versichere Ihnen: Wir werden sehr schnell einen Beteiligungsvertrag vorlegen. Im Antrag steht nämlich, dass er vorgelegt werden muss. ({8}) Der Beteiligungsvertrag ist die Grundlage für die weiteren Schritte. Dieser Vertrag wird im Laufe der nächsten Tage vorliegen. Die Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung ist ein ganz entscheidendes Element dafür, dass wir die Fläche bedienen, dass die Qualität erhalten bleibt. ({9}) Die Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung wird in den nächsten Wochen - noch vor der Sommerpause vorgelegt. ({10}) Sie wird mit den Ländern abgestimmt sein. Der Netzzustands- und -entwicklungsbericht wird in den nächsten Wochen - ebenfalls noch vor der Sommerpause - vorgelegt. ({11}) Wir werden in der Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung völlig neue Elemente verankern. Dort wird die Frage beantwortet: Wie können wir das Regionalnetz in seinem Qualitätsparameter und die hohe Qualität des Fernnetzes erhalten? Wir werden Pönalen einführen. Es wird Standards für die Bahnhöfe geben. ({12}) Es wird die Möglichkeit geben, dass wir nicht nur die Verwendung von Geldern, sondern auch die Erfüllung der damit verbundenen Aufgaben - die Erreichung einer hohen Qualität - kontrollieren. Wir werden also eine ganz neue Art und Weise der Finanzierung der Bahn durch den Bund schaffen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Menzner von der Fraktion Die Linke, und gestatten Sie danach eine Zwischenfrage des Kollegen Hermann von den Grünen?

Wolfgang Tiefensee (Minister:in)

Politiker ID: 11004176

Sehr gern.

Dorothee Menzner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003808, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Minister, ich höre, wir können jetzt mit einer Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung und einem Netzzustandsbericht rechnen. Das wird mir, seit ich Mitglied des Bundestages bin, immer wieder erzählt. Sie haben jetzt auch einen Zeitraum genannt. Ich möchte, dass Sie mir ein konkretes Datum nennen, bis zu dem wir die beiden Papiere vorliegen haben, oder wenigstens hören, ob wir sie vor der Abstimmung und dem Beschluss übernächste Woche haben werden. ({0})

Wolfgang Tiefensee (Minister:in)

Politiker ID: 11004176

Vielen Dank, Frau Menzner. - Der Bericht zum Netzzustand, der Netzzustands- und -entwicklungsbericht, sowie die Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung werden parallel verhandelt und sind nicht Grundlage dessen, was wir heute hier zu diskutieren haben. ({0}) Beides läuft parallel. Der Netzzustandsbericht gibt Auskunft über das Netz, meine sehr verehrten Damen und Herren von der Linken. ({1}) Ich bitte Sie, den Antrag zu lesen; denn darin steht, dass das Netz - damit sind die Gleise, die Bahnhöfe, die Energie- und die Telekommunikationsleitungen gemeint zu 100 Prozent im Eigentum des Bundes bleibt. ({2}) Niemand kauft da die Katze im Sack bzw. im Netz, vielmehr bleibt die Infrastruktur beim Bund. Wir sorgen nun erstmals dafür - ich kann nichts dafür, dass es länger gedauert hat, dass es sich nämlich nun schon über zehn Jahre hinzieht; wir haben uns in dieser Legislaturperiode intensiv darum bemüht - ({3}) - Dazu komme ich gleich, eine Sekunde. ({4}) - Sie haben nicht so viel Zeit, die Frage zu diskutieren? Das tut mir leid. - Die Sorge um den Netzzustand bleibt also eine Aufgabe des Bundes und der DB AG, die wir vertraglich neu regeln werden. Vor der Sommerpause, wie aus dem Ihnen vorliegenden Plan ersichtlich, werden wir beide Dokumente vorlegen. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Jetzt noch der Kollege Hermann.

Winfried Hermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003147, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Minister, Sie haben soeben gehört, dass uns schon vielmals versprochen wurde, dass demnächst oder bald oder in den nächsten Tagen der Netzzustandsbericht bzw. die Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung vorgelegt würden. Können Sie uns denn erklären, warum das so lange dauert, warum die Vorlage immer wieder verschoben werden musste, und warum es so schwierig ist, an Daten eines Unternehmens heranzukommen, das heute noch zu 100 Prozent dem Bund gehört?

Wolfgang Tiefensee (Minister:in)

Politiker ID: 11004176

Vielen Dank für die Frage, Herr Hermann. Das kann ich Ihnen erklären. - Es ist ja ganz einfach, das Wort „Netzzustands- und -entwicklungsbericht“ auszusprechen; so gerät die Katze ganz schnell ins Netz. Viel schwieriger ist es aber, Qualitätsparameter zu eruieren, die auf 250 Meter Streckenlänge genau die Qualität des Netzes und deren Entwicklungsmöglichkeiten beschreiben, und zwar im Hinblick auf die planfestgestellten Größen. Das sind, wie Sie wissen, die Stundenkilometer, die maximal auf einer Strecke gefahren werden dürfen, und die geometrischen Parameter. Wir haben uns die Aufgabe gestellt, nicht irgendeinen Bericht zu erstellen, wo Streckenstücke von 10 Kilometern Länge gemäß ihrem Zustand mit den Qualitätsparametern rot, rot-gelb, gelb, gelb-grün oder grün versehen werden, sondern in diesem Bericht die Qualität von Streckenstücken von 250 Metern Länge zu definieren, um später mit der Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung auch für die Einhaltung der vereinbarten Qualitätsparameter sorgen zu können. Das ist eine immense Aufgabe. Hierbei handelt es sich nicht um irgendein Gewurschtel oder ein Zeichnen mit dem Filzstift. Das beauftragte Institut hat die Strecken befahren, um so einen Bericht über den tatsächlichen Zustand und nicht über den gefühlten Zustand des Netzes abgeben zu können. Genau das ist aber nicht so einfach. Sie können mir glauben, Herr Hermann, ich hätte lieber vorgestern als heute diesen Bericht vorgelegt. Wir werden ihn aber vorlegen. Ich bin sicher, Sie werden damit zufrieden sein. ({0}) So viel zu den Berichten und den anderen Punkten, die angesprochen worden sind. Meine sehr verehrten Damen und Herren, das, was wir vorlegen, stellt keine Enteignung dar. ({1}) Es handelt sich nicht um eine Zerschlagung und auch nicht um einen Etikettenschwindel, ({2}) weil wir wie kein zweites Land - das meine ich wirklich sehr ernsthaft - die Deutsche Bahn AG auch in Relation zu ihren Wettbewerbern in den anderen EU-Mitgliedstaaten und ihren Wettbewerbern auf dem Logistikmarkt im internationalen Maßstab ({3}) fitmachen wollen, ohne unendlich weitere und zusätzliche Steuergelder aufwenden zu müssen und ohne uns in den nächsten 10 bis 15 Jahren mit dem Auseinanderdividieren eines hochkomplexen Systems beschäftigen zu müssen. ({4}) Wir wollen privates Kapital für uns nutzbar machen, damit Steuerzahler und Private dafür sorgen, dass dieses Mobilitäts- und Logistikunternehmen für die Zukunft gut aufgestellt ist. Herr Friedrich, weil Sie jetzt zum siebten Mal dazwischenrufen, darf ich noch einmal ganz klar sagen: Die Deutsche Bahn AG hat im November 2005 einen völlig anderen Vorschlag vorgelegt. Ich will es nicht hinnehmen, dass der Bundestag bzw. die Bundesregierung ständig als ein Anhängsel, als ein Gehilfe der Deutschen Bahn denunziert werden, sondern ich möchte, dass Sie die Fakten zur Kenntnis nehmen, dass das, was der Bundestag und die Bundesregierung wollen, umgesetzt wird. Das unterscheidet sich - lesen Sie es bitte nach; Sie sind schon länger mit der Sache beschäftigt als ich ({5}) fundamental von dem, was wir hier vorlegen. Unser Konzept beinhaltet eine eigene tragfähige und zukunftsorientierte Lösung, die das Prädikat „Sehr gut“ verdient und nicht das der Enteignung, der Zerschlagung und schon gar nicht des Etikettenschwindels. ({6}) Ich lege Wert darauf, dass Sie zustimmen und dass Sie damit der Bahn die Zukunft eröffnen. Vielen Dank. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollege Dirk Fischer, CDU/CSUFraktion.

Dirk Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000549, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! In einem effizienten Gesamtverkehrssystem werden moderne und leistungsfähige Bahnen dringend gebraucht. Deutschland braucht daher eine effiziente Schieneninfrastruktur und starke Unternehmen, ganz besonders eine erfolgreiche DB AG. Nach 15 Jahren Bahnreform hat sich dieses Unternehmen immer mehr zu einem modernen, leistungsfähigen und serviceorientierten Unternehmen entwickelt. Die DB AG von heute ist nicht mehr die Behördenbahn von gestern. Dies ist zum Vorteil der Fahrgäste und Kunden. Kundenorientierung steht heute eindeutig im Vordergrund. Das muss verstärkt werden. Hier müssen wir einen Trend zur Kenntnis nehmen und diesen fördern. Wir müssen auch dazu beitragen, dass wir die Mitarbeiter bei der Veränderung ihrer Einstellung unterstützen. Deswegen ist manchmal ein gutes Wort der Anregung notwendig. Die Bahn muss sich - das ist eine starke Herausforderung dieser Jahre - auf eine Europäisierung des Eisenbahnverkehrs einstellen. Schon seit Januar 2007 wurde der gesamte Schienengüterverkehr in der Europäischen Union liberalisiert. Das heißt, es kann jetzt wechselseitig grenzüberschreitend gefahren werden. ({0}) Ab 2010 erfolgt die Marktöffnung im grenzüberschreitenden Schienenpersonenfernverkehr. Die Eigenkapitalbasis und Investitionskraft der DB AG müssen gestärkt werden, damit sie sich der zunehmenden Konkurrenz im europäischen Schienenverkehr erfolgreich stellen kann. Angesichts der Beträge, mit denen die SNCF aus Frankreich versucht, in die Märkte anderer Staaten einzudringen, um sich auch dort zu positionieren, wäre es sicherlich ein schwerer Fehler, wenn wir dem in Deutschland tatenlos zuschauen würden. ({1}) Deswegen - das sollte fraktionsübergreifend unser Anliegen sein - braucht die DB AG den Zugang zum Kapitalmarkt. Die Teilprivatisierung der Deutschen Bahn ist nach meiner Überzeugung dafür der richtige Weg. Sie verschafft dem Unternehmen frisches Kapital, um in Deutschland investieren und in Europa konkurrenzfähig bleiben zu können. ({2}) Es ist nach meiner Meinung gut, dass das Eigentumssicherungsmodell endgültig vom Tisch ist. ({3}) Dieses Modell war mit zu vielen haushaltspolitischen und juristischen Risiken verbunden. Mit dem jetzt vorgelegten Holdingmodell wird nach Auffassung meiner Fraktion ein Schritt in die richtige Richtung gemacht. ({4}) Ich fand es eindrucksvoll, wie sich insbesondere die Kollegen der FDP und der Grünen sehr tapfer bemüht haben, heute die Rolle der Opposition wahrzunehmen, obwohl eigentlich auch sie diese Denkrichtung verfolgen. ({5}) Wir haben uns immer dafür engagiert - das war ein gemeinsames Vorgehen -, dass die Infrastruktur, das heißt das Schienennetz, die Bahnhöfe und die Energieversorgung, beim Staat bleibt, weil dies nun einmal die Lebensader einer wettbewerbsorientierten Volkswirtschaft ist. ({6}) Das entspricht der grundgesetzlichen und finanziellen Infrastrukturverantwortung des Staates, der er sich gar Dirk Fischer ({7}) nicht entziehen kann. Das ist auch bei den Bundesfernstraßen und Bundeswasserstraßen so geregelt. ({8}) Dass nur die Verkehrs- und Logistikgesellschaften teilweise privatisiert werden, ist völlig richtig und, wie ich denke, auch dringend notwendig. Ich nenne nur ein Beispiel: Der Bund muss wahrlich nicht auf Dauer Volleigentümer des größten deutschen und europäischen Lkw-Unternehmens bleiben. ({9}) Dies ist nach meiner Auffassung weder ordnungspolitisch noch wirtschaftspolitisch sinnvoll, weil der Bund dann ständig in Konkurrenz zu Privatunternehmen stehen würde, die nicht den Vorteil einer faktisch staatlich garantierten Insolvenzfreiheit besitzen. Gerne wäre natürlich meine Fraktion - dazu waren wir bereit - weiter als 24,9 Prozent gegangen. Aber jeder weiß, was Kompromisse so mit sich bringen. Ich denke, mehr wäre aus wirtschaftlichen Gründen sinnvoller gewesen; denn beim Erlös der Teilprivatisierung wird nun sicher mit Abschlägen gerechnet werden müssen. Deshalb können aus meiner Sicht die 24,9 Prozent lediglich ein erster Schritt sein. Es ist aber, wie ich finde, sehr richtig, schrittweise vorzugehen. Das haben wir seinerzeit bei der Privatisierung der Lufthansa nicht anders gemacht. Das war ein Weg von 15 Jahren, bis das Aktienkapital von 85,4 Prozent nicht mehr in öffentlicher Hand war. Auch damals bestanden am Anfang viele Urängste der Personalvertretung und der Mitarbeiter. Aber durch eine vernünftige Entwicklung des Unternehmens, durch die Liberalisierung des Marktes, übrigens auch durch die Entwicklung der Börsenkurse - für den Finanzminister ist es ja immer sehr spannend, wenn sie im Laufe der Jahre steigen - sowie durch das Mitnehmen der Mitarbeiterschaft des Unternehmens in positivem Sinne war von den Ängsten am Ende des Prozesses, 1997, als der Bund die restlichen Aktien verkauft hat, nichts mehr zu hören. Deswegen sollten wir auch in diesem Fall schrittweise und vernünftig vorgehen und genau die logischen Schritte vollziehen, die ich eben angesprochen habe. Der Bund zieht sich durch die Teilprivatisierung nicht aus der Daseinsvorsorge zurück. Er investiert jährlich rund 3,6 Milliarden Euro in die Instandhaltung und den Ausbau des Schienennetzes. Wir als Verkehrspolitiker wünschen uns mehr. Gleichzeitig verzichtete der Bund bisher trotz der Unternehmensgewinne der DB AG immer auf die Ausschüttung einer Dividende. Auch die gesamten Trassenentgelte, ({10}) quasi die Schienenmaut, jährlich etwa 4,3 Milliarden Euro - das ist 1 Milliarde Euro mehr als bei der LkwMaut -, bleiben Jahr für Jahr im Unternehmen. ({11}) Das zeigt, dass wir in diesem Bereich große Verantwortung gezeigt haben. Damit ermöglicht der Bund der DB AG und ihren Mitbewerbern einen eigenwirtschaftlichen Fernverkehr. Im Nahverkehr gilt das Bestellerprinzip. Dort bestellen die Länder mit den vom Bund zur Verfügung gestellten Regionalisierungsmitteln von rund 7 Milliarden Euro pro Jahr Zugleistungen bei der DB Regio oder auch bei anderen Wettbewerbern, die nach Ausschreibung und Vergabe zum Zuge kommen. Die Länder entscheiden also, welche Strecken bedient werden, und niemand anders, auch nicht DB Regio. Wer das nicht begreift, hat die ganze Bahnreform offenbar nicht begriffen. An diesem Prinzip wird auch weiterhin festgehalten. Niemand anders definiert die Daseinsvorsorge als die Länder, unterstützt von Mitteln aus dem Bundeshaushalt, nicht die Carrier. ({12}) Die DB Regio muss sich daher auch in Zukunft anstrengen, um bei den ausgeschriebenen Strecken den Zuschlag zu bekommen. ({13}) Im Übrigen ist sie sinnvollerweise dabei, sich stärker im europäischen Markt, in Drittstaaten, zu positionieren. Das heißt, eine Europäisierung ist klar erkennbar. Die Eisenbahninfrastrukturgesellschaften bleiben weiterhin der DB AG Holding untergeordnet. Da an der Holding keine Investoren beteiligt werden, bleibt die Infrastruktur wie bisher im 100-prozentigen mittelbaren Eigentum des Bundes. Kein einziger privater Investor erhält damit Zugriff auf die Infrastruktur. Der konzerninterne Arbeitsmarkt bleibt erhalten. Das ist wichtig für die Arbeitsplatzsicherheit der rund 230 000 Beschäftigten. Wir wollen die Anliegen der Arbeitnehmer ernst nehmen. Dies sind wir den Arbeitnehmern schuldig, da sie über Jahre hinweg den erheblichen Produktivitätsfortschritt des Unternehmens mit drastischem Stellenabbau überhaupt erst ermöglicht haben. ({14}) Die Mitarbeiterzahl betrug 1994 355 000 und 2008 229 000. Ohne diese Entwicklung wäre die Produktivität des Unternehmens nicht in die für ein Wirtschaftsunternehmen notwendige Dimension vorgestoßen. Deswegen haben wir gegenüber den Mitarbeitern eine gewisse Verpflichtung. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass Privatisierungen in einem erheblichen Umfang zur Schaffung und Sicherung von Arbeitsplätzen beitragen können. Bestes Beispiel ist wiederum die Lufthansa. Aus dem defizitären Unternehmen, das damals Subventionen brauchte, ist heute ein solides und prosperierendes Unternehmen geworden. Allein seit 2004 hat die Lufthansa insgesamt 15 000 neue Arbeitsplätze geschaffen. Eine ähnliche Entwicklung wünsche ich mir bei der DB AG und kann Dirk Fischer ({15}) sie mir auch sehr gut vorstellen, wenn wir in der richtigen Richtung weiterhandeln. Ich komme zum Schluss. Die Teilprivatisierung kommt den Bahnkunden zugute, entlastet die Steuerzahler, stärkt das Eigenkapital des Unternehmens und schafft die Voraussetzungen für ein Innovations- und Investitionsprogramm, mit dem Kapazitätsengpässe beseitigt werden können. Außerdem trägt die Teilprivatisierung zur Intensivierung von Lärmschutz, zur Sanierung von Bahnhöfen und auch zur Entschuldung des Bundeshaushaltes bei. Das ist völlig in Ordnung, weil die Schulden des Bundes unter anderem durch die Investitionen in den Schienenverkehr entstanden sind. Daher muss ein Teil des Geldes zurückfließen. Dies ist insgesamt ein guter Weg, den wir unterstützen sollten. Nun muss es darum gehen, in einem zügigen und sachgerechten Verfahren die dringenden Entscheidungen im Deutschen Bundestag zu treffen. Daran wollen wir engagiert mitwirken. ({16})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Uwe Beckmeyer, SPD-Fraktion. ({0})

Uwe Beckmeyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003498, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Seitens der Oppositionsfraktionen ist hier einiges behauptet worden, das in dieser Debatte noch richtiggestellt werden muss. Ich möchte mit unserem Antrag, den wir beschließen wollen, beginnen und seinen Inhalt verdeutlichen; denn ich habe den Eindruck, dass er bei Ihnen als Zerrbild angekommen ist. ({0}) - Herr Hermann, halten Sie es aus! Ich habe Ihre Rede ebenfalls ausgehalten. ({1}) Die Mehrheit in Deutschland und insbesondere die großen Parteien wollen den integrierten Konzern DB AG erhalten. Das heißt, 100 Prozent der DB AG werden auch in Zukunft im Eigentum der Bundesrepublik Deutschland sein. Das hat zur Konsequenz, dass wir als Eigentümer für das Gesamtunternehmen die Verantwortung tragen. Es verändert sich also nichts. Das Netz, der Energiebereich und die Bahnhöfe werden auch in Zukunft zu 100 Prozent im Eigentum der Bundesrepublik Deutschland bleiben. Ich sage deutlich: Auch daran ändert sich nichts. ({2}) - Herr Friedrich, sind Sie fertig? - Gut. Ich fahre mit meinen Ausführungen fort. Das bedeutet, es verändert sich auf diesem Felde nichts. All diejenigen, die vorher beklagt haben, dass es in diesem Bereich Enteignungen geben wird und dass damit hohe Milliardenbeträge Privaten in den Rachen geworfen werden, haben unrecht. Dann bleiben noch die Unternehmensteile Verkehrsunternehmen und Logistik, die zum Teil zur Privatisierung anstehen. Wenn man genau hinschaut, dann sieht man, dass 75,1 Prozent auch von diesen Unternehmen, also mehr als Dreiviertel, im Besitz der DB AG und damit des Bundes bleiben. ({3}) Das Risiko, dass Dritte auf den Aufsichtsrat in irgendeiner Form Einfluss nehmen können, geht gegen null. Das hat zur Konsequenz, dass auch alle aktienpolitischen Instrumente, die wir brauchen, um Infrastrukturinvestitionen durchzuführen und Bahnpolitik durchzusetzen, voll und ganz in der Hand des Bundes und der DB AG bleiben. ({4}) Das hat zum Ergebnis, dass all Ihre Schwarzmalerei, die Sie in den Raum stellen, falsch ist. Es geht darum, dass wir mit einer Beteiligung privaten Kapitals in Höhe von 24,9 Prozent einen Börsengang des Verkehrsunternehmens organisieren wollen, um auf diese Art und Weise privates Kapital für Verkehrsleistungen, für Investitionen in die Infrastruktur, in die Strecken und Bahnhöfe, und zu einem Teil für den Bundeshaushalt zu mobilisieren. Darum geht es zurzeit. Die Vorteile, die damit verbunden sind, sind so überwältigend gut und groß, dass man nur sagen kann: Diese Vorteile übersteigen alle Restbefürchtungen, die es möglicherweise gibt. Was steht in dem vorliegenden Antrag? Darin steht, mit welcher Zielrichtung wir die Einnahmen verwenden wollen. Diese Einnahmen sollen unter anderem zur Eigenkapitalstärkung der DB AG verwendet werden, die dies notwendig hat. Wenn man sich den Geschäftsbericht und die schmale Eigenkapitalbasis der DB AG, ({5}) verglichen mit den Schulden, die sie in den letzten 18 Jahren für Investitionen gemacht hat, anschaut, dann, so denke ich, ist das vernünftig; denn damit werden die Finanzkraft und die Eigenkapitalausstattung eines Unternehmens, das zu 100 Prozent der Bundesrepublik Deutschland gehört, gestärkt. Es ist gut so, dass wir das tun. ({6}) Der Finanzminister wird ein Drittel der Einnahmen für seinen Haushalt bekommen. Vorhin ist gesagt worden, wir finanzierten die DB AG ständig aus dem Haushalt, zum Beispiel 2,5 Milliarden Euro für die Infrastruktur - Dirk Fischer hat auf die restlichen Größen aufmerksam gemacht -, 7 Milliarden Euro für die Regionalverkehre, womit die Länder ihren Regionalverkehr bestellen können. An dieser Stelle muss man deutlich sagen: Wir haben auch eine Verpflichtung dem Haushalt gegenüber. In Bezug auf das letzte Drittel wird ausdrücklich ausgeführt, wofür wir es verwenden wollen: für Infrastrukturinvestitionen in das Netz, für Investitionen in den Lärmschutz und für Investitionen in deutsche Bahnhöfe. Es gibt 5 400 Bahnhöfe, und die sehen alle nicht so aus wie der Hauptbahnhof in Berlin. Hier besteht teilweise ein hoher Investitionsbedarf. Es ist richtig, dass wir hier etwas tun; denn die Bahn muss ihr Gesicht gegenüber dem Kunden in Zukunft verbessern. ({7}) Insofern ist es ein richtiger Weg, den wir hier beschreiten. Er ist konsequent. Es besteht die Chance, dass wir ihn kontrollieren können. Kollege Hermann hat vorhin von einer Entparlamentarisierung der Bahndebatte gesprochen. Das ist eine völlig falsche Wahrnehmung. Das Gegenteil tritt ein. Wir werden mit der vorgesehenen Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung zum ersten Mal ein Instrument haben, mit dem wir die Investitionen, die wir mit unserem Geld finanzieren wollen, tatsächlich kontrollieren können, ({8}) und zwar aufgrund eines Netzzustandsberichtes und nicht auf der Basis dessen, was vielleicht irgendwelche Techniker aufschreiben. Dieser Bericht kann von den Parlamentariern gelesen und verstanden werden, weil er nachvollziehbar ist. Dieser Netzzustandsbericht versetzt uns in die Lage, den Netzzustand und die Netzentwicklung zu steuern. ({9}) Das ist unsere Aufgabe. Daran wird zurzeit gearbeitet. Wir werden ihn, wie es der Minister ausgedrückt hat, im ersten Halbjahr dieses Jahres bekommen. ({10}) Ich denke, das ist wichtig. Zu Herrn Gysi. Herr Gysi, Sie sind zwar kein Bahnfachmann. Aber ich fand Ihre Rede noch schlechter als die von Lafontaine beim letzten Mal. Es war eine sogenannte Elendstheoretikerrede, bzw. sie war geprägt von, wie ich neulich im Cicero gelesen habe, sozialistischen Utopieleichen im Programmkeller. In diese Kategorie fällt Ihre Rede zu dieser Frage. ({11}) Dazu kann man nur sagen: Populismus, der einzig auf Emotionen setzt und sich links gibt, aber rechts endet, ist nicht unsere Sache. ({12}) Insofern denke ich, die Politik und die Perspektive Ihrer Partei werden bald nicht mehr links sein. Vielmehr werden Sie irgendwann auf der anderen Seite sitzen. Das ist das Ergebnis dessen, was Sie tun. ({13}) Ich möchte an dieser Stelle noch etwas zu der Personalie Hansen sagen. Hansen ist keine Personalie, die man einfach so abtut, wie Sie es getan haben. Wenn Sie sich die deutsche Mitbestimmungslandschaft anschauen, dann stellen Sie fest, dass es durchaus üblich ist, dass Gewerkschaftsfunktionäre auch in Arbeitsdirektorenpositionen sitzen. Das ist ein Element der betrieblichen Mitbestimmung. Ich bitte Sie, das nicht zu diskreditieren, auch nicht im Hinblick auf die Person Hansen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Beckmeyer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Döring?

Uwe Beckmeyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003498, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Döring, bitte.

Patrick Döring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003748, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Beckmeyer, herzlichen Dank. - Sind Sie mit mir der Meinung, dass es durchaus interessant ist, wenn um 12.36 Uhr die Meldung über den Ticker lief, dass die Stelle eines Arbeitsdirektors geschaffen werden soll und der Bewerber für diese Stelle schon jetzt von seiner derzeitigen Position zurücktritt und damit seine Bewerbung öffentlich macht? Vorstände werden nach dem deutschen Aktiengesetz eigentlich vom Aufsichtsrat berufen. Dieser Aufsichtsrat, der zu 100 Prozent durch vom Bund bestellte Vertreter besetzt ist, hat heute, wenn ich das richtig sehe, nicht getagt. ({0}) Sind Sie nicht auch der Meinung, dass dieser Vorgang durchaus interessant ist, wenn man weiß, dass hier um 14 Uhr eine Debatte zu diesem Thema beginnen soll? Vielleicht können Sie mir eine weitere Frage beantworten: Wie viele Mitglieder der Arbeitsgruppe der SPD werden als Zeichen der Dankbarkeit in Zukunft ebenfalls Dienst bei der Bahn tun? ({1})

Uwe Beckmeyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003498, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Döring, an dieser Stelle will ich gar nichts dazu sagen, weil ich gar nichts dazu sagen kann. Ich bin nicht Aufsichtsratsmitglied. Ich bin weder bei der Bahn noch in anderen Bereichen dafür verantwortlich. Das ist eine Entwicklung, die ich gar nicht kenne. Gegenüber Pressevertretern, die mich gestern dazu befragt haben, habe ich auch nichts sagen können. Mich hat keiner gefragt. Die sozialdemokratische Fraktion hat damit nichts zu tun. Es gibt Gremien, die davon betroffen sind. ({0}) Es gibt einen Aufsichtsratsvorsitzenden und entsprechende Gremien. Das ist deren Entscheidung. Diese Entscheidung hinterfrage ich momentan nicht. Ich habe lediglich gegenüber Herrn Gysi zum Ausdruck bringen wollen - ich glaube, das ist auch gelungen -, dass man in diesem Umstand insofern nichts Spektakuläres erblicken kann, als Gewerkschaftsleute im Rahmen der paritätischen Mitbestimmung schon heute in deutschen Unternehmen mitarbeiten. Ich kenne viele davon und kann sagen, dass sie einen sehr guten Job machen; auch das muss einmal deutlich gesagt werden. ({1}) Ich habe an dieser Stelle noch etwas hinzuzufügen. Vorhin ist zum Ausdruck gebracht worden, dass wir eine Bahnreform durchführen, die unparlamentarisch ist, die am Ende zu einer Enteignung führen wird, die dazu führen wird, dass Monopolisten etwas zugeschustert wird oder das sogenannte böse Kapital Zugang zu dem bekommt, was wir „unsere Bahn“ nennen. Am Ende des Tages werden wir eine Deutsche Bahn haben, die über eine bessere Eigenkapitalbasis verfügt. Wir werden ein Netz in Deutschland haben, das durch zusätzliche Investitionen besser wird, wodurch logistische Transportleistungen noch effizienter durchgeführt werden können. Wir werden auf bestimmten Streckenabschnitten endlich die Investitionen bekommen, die absolut notwendig sind. Letztendlich werden wir in Sachen Wettbewerb etwas hinzufügen, was von einigen in diesem Hause bisher vermisst wurde. Insofern meine ich: Schwarzmalerei taugt nichts. Am Ende werden wir ein vorzeigbares unternehmerisches Ergebnis haben. Das Ergebnis als solches zählt: mehr Eigenkapital, bessere Schieneninfrastruktur, bessere Bahnhöfe und mehr Lärmschutz an deutschen Schienen. Die Infrastruktureinrichtung Deutsche Bahn, die schon jetzt zu den besten der Welt gehört, wird am Ende noch effizienter, noch kundenfreundlicher und damit logistisch noch interessanter als in der Vergangenheit sein. Herzlichen Dank. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort nun Kollegen Enak Ferlemann, CDU/CSU-Fraktion.

Enak Ferlemann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003525, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor etwa einem halben Jahr habe ich von der gleichen Stelle aus zum Thema Bahnreform gesprochen. Damals ist ein Gesetzentwurf in den Deutschen Bundestag eingebracht worden. Ich habe unter anderem ausgeführt, dass wir alle möglichen Modelle und Varianten noch einmal in die Diskussion einbeziehen werden. Der Vorschlag stammte von der Regierung bzw. vom Ministerium. Wir haben damals gesagt: Die Parlamentarier werden letztlich entscheiden; denn die Bahn ist eine Parlamentsbahn und keine Regierungsbahn. ({0}) - Ja, sehen Sie einmal. Heute stehe ich sehr erfreut hier, weil wir einen guten Tag für Deutschland haben, nicht nur, weil draußen wunderschönes Wetter ist, ({1}) sondern auch, weil wir eine sehr vernünftige Bahnreform bekommen. Es ist ein sehr gutes Modell. Das sage ich nicht nur deshalb, weil wir an dem Modell hart gearbeitet haben, sondern auch in der Funktion als Vorsitzender des Unterausschusses Eisenbahninfrastruktur. Es gab bei der Diskussion viele Irrungen und Wirrungen - das ist hier von einigen Rednern angesprochen worden -, aber es gab immer Kolleginnen und Kollegen, die eine klare ordnungspolitische Orientierung gehalten haben. Ich möchte als Erstes sagen: Ich bin meiner Fraktion außerordentlich dankbar, ({2}) insbesondere den Verkehrspolitikern, dass sie immer diese Linie gehalten haben, auch wenn es manchmal hart umstritten war. Ich bin der Bundeskanzlerin und dem Bundesfinanzminister sehr dankbar dafür, ({3}) dass auch sie letztlich diese ordnungspolitische Linie gehalten haben. Ich darf an dieser Stelle auch den Kollegen Klaas Hübner besonders erwähnen, für den es mit dem ordnungspolitischen Ansatz vielleicht nicht immer einfach war, hier für Mehrheiten zu sorgen. Aber es ist eine gute Bahnreform dabei herausgekommen. Wir haben zwei wesentliche Essentials, die denjenigen wichtig sind, die ein solches Modell wie das, das jetzt umgesetzt wird, möchten: eine klare Trennung von Netz und Betrieb sowie einen staatlichen Teil und einen teilprivatisierten Teil. ({4}) Ich will Ihnen eines sagen: Ich finde auch den integrierten Konzern gut. Denn der integrierte Konzern sorgt dafür, dass wir im Übergang zu einer solchen Trennung keine Schwächen im europäischen Wettbewerb zeigen, sondern einen sehr gut aufgestellten Konzern haben, der die Bahn betreiben kann. ({5}) Ich glaube, es gibt orientiert an dem Modell von 1994 sehr viele Gewinner der Bahnreform; aber es gibt auch Verlierer. Einer sitzt dort vorne: Herr Gysi. Er hat überhaupt nicht begriffen, worum es geht. ({6}) Er hat gesagt, dass er von Bahnpolitik nichts versteht. Das hat er hier bewiesen; das kann man nicht anders sagen. Aber dass es mit der Mathematik bei Ihnen auch nicht klappt, habe ich vorher nicht gewusst. Kollege Hermann, Ihre Rechnung müssen Sie mir noch einmal vormachen: Die Hälfte von der Hälfte ist ein Achtel vom Ganzen. ({7}) So etwas haben wir überhaupt nicht vorgesehen. Ich weiß gar nicht, wie Sie auf solche Zahlen kommen. ({8}) Wenn wir unseren Antrag beraten, werden wir in Ruhe klären können, was es mit Ihrer eigentümlichen Mathematik auf sich hat. Die Bahnreform hat viele Gewinner. Sie sorgt dafür, dass die DB Kapital für das Wachstum bekommt. Sie sorgt dafür, dass das Schienennetz ausgebaut werden kann; die Seehhafenhinterlandanbindungen sind erwähnt worden. Die Nutzer bekommen einen diskriminierungsfreien Wettbewerb. Hier wird im Übrigen die Bundesnetzagentur ihre erfolgreiche Arbeit fortführen können. Der Bundeshaushalt bekommt für die Konsolidierung einen Teil der Erlöse der Privatisierung. Wir bekommen eine Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung, durch die wir Steuerungselemente erhalten, die wir als Parlamentarier so noch nie hatten. Die Bundesländer haben eine klare Haltung zur Infrastrukturverantwortung des Bundes. Die Kunden bekommen durch mehr Wettbewerb mehr Leistung für das gleiche Geld, bessere und neue Angebote im Regional- und Fernverkehr sowie im Güterverkehr. Dass auch der Transnet-Chef seit heute zu einem großen Gewinner der Bahnreform zählt, wussten wir vorher so nicht. Ich halte den Zeitpunkt der Ankündigung in der Tat für geschmacklos; da gebe ich Kollegen Döring recht. ({9}) Das ist außerordentlich unsensibel. So sollte man mit einem Parlament nicht umgehen. Das wird im Aufsichtsrat sicherlich für große Diskussionen sorgen. ({10}) Was steht in den nächsten Wochen und Monaten an? Die Teilprivatisierung müssen wir durch einen Bundestagsbeschluss in 14 Tagen absichern. Wir brauchen die Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung, Herr Minister, um die Rechte, die wir haben wollen, festzuschreiben. Der Netzzustandsbericht ist angesprochen worden. Wir müssen die Regulierung weiter ausbauen; Kollege Hermann, da sind wir gleicher Meinung. Die Anreizregulierung für die Netzbetriebe muss kommen; hier wartet noch ein großes Stück Arbeit auf uns. Wir müssen sehen, wo die Erlöse aus der Kapitalprivatisierung bleiben. Ich möchte gerne einen Nachweis für die Verwendung der Mittel haben, die für die Infrastruktur ausgegeben werden, damit wir nachher nicht erleben, dass die Mittel nicht so verwendet worden sind, wie wir es wollten. Diese Maßnahmen werden wir in den nächsten Wochen und Monaten umsetzen müssen. Ich stelle fest: Die Bahnreform wird ein sehr großer Erfolg. Wir sollten gemeinsam an der Umsetzung dieser Reform für ein zukunftssicheres, umweltfreundliches und kundenfreundliches Eisenbahnsystem in Deutschland arbeiten. Herzlichen Dank. ({11})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/9070, 16/8774 und 16/9071 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- schlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b auf: a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Rentenanpassung - Drucksache 16/8744 - Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({0}) - Drucksache 16/9100 Berichterstattung Abgeordneter Anton Schaaf - Bericht des Haushaltsausschusses ({1}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 16/9108 - Berichterstattung: Abgeordnete Hans-Joachim Fuchtel Waltraud Lehn Dr. Claudia Winterstein Dr. Gesine Lötzsch Alexander Bonde Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker Schneider ({2}), Klaus Ernst, Dr. Lothar Bisky, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Rente um vier Prozent erhöhen - Dämpfungsfaktoren abschaffen - Drucksache 16/9068 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({3}) Finanzausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss Zu dem Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Damit eröffne ich die Aussprache und erteile dem Parlamentarischen Staatssekretär Klaus Brandner das Wort. ({4})

Klaus Brandner (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11003053

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich mute Ihnen heute etwas Goethe zu. ({0}) Denn ich habe den Eindruck, es tut gut, diese Debatte mit ein wenig Geist zu bereichern. Goethe formulierte in seinen „Maximen und Reflexionen“ den goldenen Satz: Alle Gesetze sind Versuche, sich den Absichten der moralischen Weltordnung im Welt- und Lebenslaufe zu nähern. Ich will jetzt keine höhere Moralität bemühen. Was den vorliegenden Gesetzentwurf angeht, möchte ich allerdings für uns in Anspruch nehmen, dass wir uns anstrengen, das Richtige zu tun, und dabei auch die Realität und den Lauf von Welt und Leben berücksichtigen. ({1}) - Ja, wir sind stets bemüht. Wir sind dabei aber auch erfolgreich. Das unterscheidet uns vielleicht voneinander. ({2}) Genau das ist es, was wir mit dem Rentenanpassungsgesetz 2008 machen. Wir sind nicht stur und ignorieren nicht, dass sich die Dinge ändern und dass neue Gesichtspunkte hinzukommen, die zu berücksichtigen sind; das haben wir auch getan, als wir die Rentenreform angepackt haben. Jetzt haben wir dafür gesorgt, dass unser Alterssicherungssystem zukunftsfest ist und dass es belastbar und finanzierbar bleibt. ({3}) Viele internationale Experten würdigen unsere Reform als nachhaltig und zukunftsweisend; ich glaube, das wurde auch in der Anhörung eindruckvoll unterstrichen. Wir nehmen aber auch die Realität zur Kenntnis. Eine gute Entwicklung bei Wachstum und Beschäftigung beeinflusst die zukünftige Entwicklung der Rentenkassen positiv. Die Dividende dieses Reformerfolgs bleibt vielen Menschen aber noch vorenthalten. Darum handeln wir, wie Bundesarbeits- und -sozialminister Olaf Scholz gesagt hat, prinzipienfest, nicht aber als Prinzipienreiter. Wir setzen unsere solidarische und nachhaltige Rentenpolitik mit der Rentenanpassung 2008 fort, indem wir dafür sorgen, dass der Aufschwung auch die Rentnerinnen und Rentner erreicht. Eine Erhöhung der Renten um 1,1 Prozent ist zwar kein großer Sprung, aber ein verantwortbarer Schritt. Diese Erhöhung ist vor dem Hintergrund dreier Nullrunden und einer nur kleinen Erhöhung im vergangenen Jahr ein klares Signal. Gleichzeitig halten wir an dem Ziel fest, zu gewährleisten, dass der Beitragssatz zur gesetzlichen Rentenversicherung bis 2020 die Marke von 20 Prozent nicht übersteigen wird. Wir nebeln aber keinen Rauch auf und werfen auch keine Windmaschinen an, wie es andere tun, zum Beispiel einige Landesarbeits- und -sozialminister und sogar ein Ministerpräsident, die beim Thema Rente auf große Aufregung setzen, am Ende aber ohne etwas Handfestes dastehen werden. ({4}) - Wer sich diesen Schuh anzieht, der muss ihn sich auch ausgesucht haben; das ist doch völlig klar. Man stellt manchmal Schuhe hin. Wenn sie genutzt werden, weiß man, wer zu wem gehört. Schönen Dank für diesen Hinweis! Zurück zum Thema. Der vorliegende Gesetzentwurf ist handwerklich sauber und, wie ich finde, klar nachvollziehbar. Bei der Anpassung der Renten, die über mehrere Jahre verteilt durchgeführt wird, haben wir auch die zusätzliche Altersvorsorge berücksichtigt, die wir allen jüngeren Beitragszahlern ausdrücklich nahelegen. Das steht noch viermal an, und dann ist dieser Faktor erledigt. Jetzt verschieben wir das um zwei Jahre und ermöglichen damit eine Rentenerhöhung um 1,1 Prozent. Die beiden ausgesetzten Stufen der Riester-Treppe werden wir in den Jahren 2012 und 2013 nachholen. ({5}) Dadurch werden die Beitragssatzziele erreicht, und die Rentenfinanzen bleiben stabil. Ich möchte ehrlich und gerne allen, die jetzt noch nicht überzeugt sind, zugestehen, dass sie ebenfalls nach einer goldenen Regel von Goethe handeln, die da lautet: Man sollte wirklich nicht alles mit sich selbst verarbeiten, sondern manchmal eine kleine Beschwerde führen, damit man so freundlich zurechtgewiesen und … aufgeklärt würde. Ich gehe also gerne auf einige Beschwerden - oder nennen wir es Gegenargumente - ein, die in den vergangenen Wochen vorgebracht wurden. Da ist zum einen die Frage, warum trotz des deutlichen Aufschwungs die Rentenanhebung hinter der Preissteigerung zurückbleibt. Natürlich liegt das vordergründig schlichtweg daran, dass bei der Rentenentwicklung grundsätzlich kein Inflationsausgleich garantiert ist; denn die Rente ist eine Lohnersatzleistung, die direkt an die Entwicklung der Löhne gekoppelt ist. Die Renten können daher nicht stärker als die Löhne steigen. Das wäre ungerecht; die Beitragszahler würden klar benachteiligt. Zum anderen beobachten wir eine lang bekannte Reihenfolge: Bei jedem Aufschwung steigt zunächst die Zahl der Beschäftigten, erst danach steigen die Löhne. Was die Beschäftigung angeht, verzeichnen wir große Erfolge. Das hat zu einer deutlich größeren Zahl von Beitragszahlern geführt. ({6}) - Sie wollen doch wohl nicht die Zahlen infrage stellen. ({7}) - Die Zahlen muss man kennen. Exakt. Man muss sie nicht nur lesen, sondern auch bewerten können und verstehen, dass die Beschäftigung - das ist heute dargestellt worden - erheblich steigt, ({8}) und zwar nicht nur im Bereich geringfügiger Beschäftigungen, sondern auch im Bereich der voll sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung. ({9}) Die jüngsten Tarifabschlüsse geben uns Grund zur Annahme, dass es in den kommenden Jahren größere Rentenanhebungen geben wird. Die Daten, die bis jetzt bekannt sind, können uns durchweg optimistisch stimmen. Darum ist es genau der richtige Schritt, jetzt die Riester-Treppe auszusetzen. Bei einer weiterhin positiven Beschäftigungs- und Lohnentwicklung werden in den kommenden Jahren weitere Anhebungen folgen. Wenn wir 2012 und 2013 die Riester-Treppe nachholen, werden wir aufgrund anderer Faktoren, die dann wirken - zum Beispiel eine zu erwartende Absenkung des Beitragssatzes -, trotz der Dämpfungswirkung höhere Renten erreichen. Die andere große Frage ist die nach der Finanzierung. Zunächst zwei klare Antworten: Ja, es stimmt, dass es die Verschiebung bei der Riester-Treppe nicht zum Nulltarif gibt. Die Tarife, also die Beiträge, werden aber - anders als manche vollmundig behauptet haben nicht erhöht. ({10}) - Da ist ein großer Unterschied. Es wurde immer so dargestellt, als käme es zu einer riesigen Beitragssatzerhöhung. - Nein, richtig ist, dass die Beitragssatzsenkung geringfügig verschoben wird. Ich glaube, das ist im Interesse der Rentnerinnen und Rentner sowie der Beschäftigten in diesem Land. Die Rentenversicherung wird nicht dauerhaft belastet, weil wir nicht aussetzen, sondern nur verschieben. Wir produzieren keine Defizite, und trotzdem kann es in der nächsten Dekade zu deutlichen Beitragssatzsenkungen kommen. Ja, auch das stimmt: Der Bundeshaushalt wird sowohl durch den Bundeszuschuss zur Rentenversicherung als auch durch andere Sozialleistungen wie zum Beispiel die Arbeitslosengeld-II-Leistungen belastet. Wir nehmen kurzfristige Mehrausgaben bewusst in Kauf, weil die gute wirtschaftliche Entwicklung Spielräume schafft, die wir nutzen wollen, und weil dadurch Kaufkraft auch bei denen entsteht, die es bitter nötig haben, nämlich den Empfängern von Grundsicherung und Sozialgeld. Unsere Binnenkonjunktur kann diese zusätzliche Kaufkraft gut gebrauchen; denn sie kann den weiteren Aufschwung tragen. Wir werden die Finanzierung im Bundeshaushalt innerhalb des bisher geplanten Rahmens sicherstellen; dabei schafft die gute Entwicklung Raum. Alles in allem möchte ich zusammenfassen: Wir handeln prinzipientreu und mit offenen Augen für die Welt und das wirkliche Leben. Es handelt sich also im Goethe’schen Sinne um ein gutes Gesetz. Zum Schluss möchte ich sagen, dass wir ein wesentliches Ziel nicht aus den Augen verlieren dürfen: Am Ende müssen wir dafür sorgen, dass sich die Löhne in diesem Land besser entwickeln; denn gute und faire Löhne sind der beste Garant für ordentliche Renten. ({11}) Deshalb wird es in vielen Fällen notwendig sein, dass wir als Gesetzgeber eingreifen und mit dafür sorgen, dass faire Löhne die beste Grundlage für eine gute soziale Sicherung in diesem Land darstellen. Herzlichen Dank. ({12})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollege Heinrich Kolb für die FDPFraktion. ({0})

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Kollege Brauksiepe hat heute Morgen in der Debatte über die Verlängerung der Altersteilzeit erklärt, die Union treffe ihre Entscheidungen nicht mit Blick auf Wahltermine. ({0}) Dazu ist zweierlei zu sagen: Erstens. Es ist zu hoffen, dass die Union zu ihrer Ablehnung einer erneuten Verlängerung der Altersteilzeit steht. ({1}) Zweitens. Es ist zu hoffen, dass diese Bemerkung mit Blick auf die aufgehübschte Rentenanpassung nicht gilt. Auch nach den Beratungen im Ausschuss bleibt es dabei: Die mit dem Gesetz zur Rentenanpassung 2008 erfolgende Manipulation an der Rentenformel ist rein wahltaktisch bedingt. ({2}) Die Koalition hat im Vorwahljahr Bauchschmerzen, mit der sich aus der Rentenformel ergebenden Erhöhung von 0,46 Prozent vor die Rentner zu treten. Vielleicht hatten einige auch schon das zu Beginn der Woche bekannt gewordene Projekt einer neuerlichen Diätenerhöhung vor Augen, als sie bei der Höhe der Rentenanpassung Handlungsbedarf entdeckten. Dass das Ganze der Koalition nach der vernichtenden Kritik von Presse und Wissenschaft eher peinlich ist, zeigt sich daran, dass über den Entwurf eines Gesetzes zur Rentenanpassung 2008 nur eine Dreiviertelstunde und am Nachmittag debattiert wird. Es hätte uns gut angestanden, wenn wir uns dafür mehr Zeit genommen hätten. ({3}) Wir kritisieren die Koalition, weil sie mit ihrem Gesetzentwurf ohne Not die in der gesetzlichen Rentenversicherung durch die Reformen der Vergangenheit erreichte Nachhaltigkeit infrage stellt. ({4}) Man kann es auch so sagen: Mit dem Gesetz zur Rentenanpassung 2008 löst die Koalition ein Problem, das es ohne das gesetzgeberische Handeln ihrer Regierung nicht gegeben hätte. ({5}) Das ist doch in der Anhörung gesagt worden - Frau Schewe-Gerigk, Sie werden mir zustimmen -: Wenn die Regierung die Rentenbeiträge für ALG-II-Empfänger nicht gesenkt hätte, wenn die Regierung nicht ohne Not den Rentenbeitrag erhöht hätte, wäre bereits nach der bestehenden Rentenformel rein rechnerisch eine Erhöhung von etwa 0,9 Prozent herausgekommen. ({6}) Sie lösen also ein Problem, das es ohne Ihr Tun nicht gegeben hätte. Die Entlastung ist, was den Weg angeht, nicht ohne Alternativen. Es gibt andere Möglichkeiten, die Rentner zu entlasten; man muss nicht zwingend an der Rentenformel, die auf Langfristigkeit, Verlässlichkeit angelegt ist, herumbasteln. Herr Präsident, der Kollege Niebel möchte eine Zwischenfrage stellen. ({7}) - Das ist unvorbereitet.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich freue mich immer über gutes Zusammenspiel in einer Fraktion. Herr Kollege, Sie haben die Gelegenheit zur Zwischenfrage. ({0})

Dr. h. c. Dirk Niebel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003198, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Der Kollege Kolb und ich gehören einer Fraktion an, die durchaus wissbegierig, lernfähig und lernwillig ist. Deswegen hat mich die Rede des Kollegen Kolb zu einer Frage animiert. Der Kollege Kolb hat im Zusammenhang mit der Rentenformel den Gesichtspunkt der Nachhaltigkeit angesprochen. Ich würde gern wissen: Wenn die Koalition jetzt aus tagespolitischen Gründen von der Rentenformel abgeht und bei der Rentenerhöhung würfelt, damit es mehr wird für die Rentner - zwar nur wenig mehr, 6 Euro im Durchschnitt -, kann denn die Koalition mit Sicherheit ausschließen, dass, wenn das nächste Mal gewürfelt wird, die Rente außerhalb der Formel gesenkt wird? ({0})

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Dazu will ich erstens sagen: Diese Frage ist nicht vorbereitet; sie ist ohne Netz und doppelten Boden. ({0}) Zweitens will ich sagen: Fragen von Kollegen aus der eigenen Fraktion sind immer die gefährlichsten. Drittens will ich dazu sagen: Ich weiß nicht, welche Zahlen sich noch auf dem Würfel befinden. Aber natürlich ist richtig: Jetzt kommt bei diesem Spiel - ein Glücksspiel aus Sicht der Rentner - eine Erhöhung heraus. Doch wenn man Manipulationen Tür und Tor öffDr. Heinrich L. Kolb net, kann es eines Tages ohne Weiteres zu einer Absenkung der Renten kommen. Das ist genau das Problem. ({1}) Herr Präsident, auch der Kollege Weiß möchte eine nicht abgesprochene Zwischenfrage stellen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich bin ja beruhigt, dass Sie das so betonen; sonst könnte ich meinen Posten gleich verlassen, und Sie regeln das dann untereinander. ({0}) Herr Kollege Weiß, ergreifen Sie das Wort.

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Kolb, bevor Sie sich in weiteren Rechenbeispielen à la Niebel vergaloppieren, ({0}) möchte ich Sie fragen: Erinnere ich mich richtig, dass Sie in mehreren Plenardebatten des Deutschen Bundestages und in mehreren Ausschusssitzungen immer wieder gerügt haben, dass es im Jahr 2006 einzig und allein durch die noch von der rot-grünen Koalition beschlossene Vorfälligkeit der Sozialversicherungsbeiträge, also durch das Einkassieren von insgesamt 13 Monatseinnahmen für die Rentenversicherung als einen Zweig der Sozialversicherung -, möglich war, dass die Ausgaben der Rentenversicherung durch die Einnahmen gedeckt wurden?

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich weiß, worauf Sie hinauswollen. Sie können sich kürzer fassen.

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Konsequenterweise - Sie kritisieren die Vorfälligkeit immer wieder - hat die FDP also bereits zum 1. Januar 2006 eine Erhöhung des Rentenversicherungsbeitrages für notwendig erachtet. Ist das richtig?

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das ist vollkommen falsch. ({0}) - Das ist vollkommen falsch. Das habe ich Ihnen damals auch schon erklärt. ({1}) Sie müssen einfach die sozialpolitischen Verschiebebahnhöfe betrachten, für die Sie verantwortlich sind. Im letzten Jahr wurde der Rentenversicherungsbeitrag für die Empfänger von ALG II halbiert. In der Rentenkasse fehlten plötzlich 2 Milliarden Euro, die vorher da waren. Das hat übrigens auch die Konsequenz, dass die Empfänger von ALG II für ein Jahr der Langzeitarbeitslosigkeit deutlich niedrigere Rentenansprüche erwerben, nämlich nur noch halb so hohe. Solche Verschiebebahnhöfe haben Sie zuhauf. Ich behaupte sogar, dass Sie mittlerweile wie bei einem Hütchenspieler ein bisschen den Überblick verloren haben, weil Sie die Dinge immer dort hinschieben, wo sich gerade das Geld befindet. ({2}) Tatsache ist, dass die jetzige Situation der Rentenversicherung, die Sie offensichtlich zu allerlei Großzügigkeit verleitet, dem Vorziehen der Fälligkeit der Sozialversicherungsbeiträge geschuldet ist. Das ist so. Herr Weiß, Sie machen einen Denkfehler. Wenn aus unserer Sicht eine Erhöhung notwendig gewesen wäre, dann müsste das Geld heute weg sein. Das Geld ist aber noch da. ({3}) Ich versuche ja immer wieder, Ihnen das zu erklären. 2006 hatte die Rentenkasse einen Bestand von etwa 1,2 Milliarden Euro. Das war die sogenannte Nachhaltigkeitsrücklage. Jetzt sind es etwas über 11 Milliarden Euro. Das Aufkommen aus dem Vorziehen der Fälligkeit der Sozialversicherungsbeiträge beträgt etwa 10 Milliarden Euro. Ich habe immer versucht, Ihnen und auch dem Kollegen Brauksiepe das zu erklären. Angenommen, ich gebe Ihnen heute einen 500-Euro-Schein - mittlerweile wissen wir, dass es keine 1000-Euro-Scheine gibt -, Sie stecken ihn in Ihr Portemonnaie, vereinnahmen weiterhin Ihre Bezüge bzw. Ihr Gehalt und tätigen Ihre Ausgaben für Miete usw. Wenn der 500-Euro-Schein am Ende immer noch da ist, dann ist das der Beweis dafür, dass Sie mit Ihrem Geld ausgekommen sind. Die 10 Milliarden Euro sind nach wie vor in der Nachhaltigkeitsrücklage. Das heißt, auf dieses Vorziehen hätte verzichtet werden können. Ich bringe es noch einmal auf den Punkt: Eine Beitragserhöhung wäre nicht die notwendige Konsequenz aus dem Verzicht auf das Vorziehen der Fälligkeit gewesen. ({4}) Ist das eine hinreichende Antwort auf Ihre Frage? Ich bedanke mich und fahre gerne fort. ({5}) Ich bin der Meinung: Wer die gewünschte Entlastung mit der Konjunktur begründet, der muss das Rentengeschenk auch aus Steuermitteln und nicht aus Beitragsmitteln bezahlen; denn es sind die Steuerquellen, die sprudeln, Herr Weiß. Der Bund profitiert von der konjunkturellen Entwicklung, indem seine Einnahmen um 110 Milliarden Euro steigen. Wenn man das Vorziehen der Fälligkeit herausrechnet, dann erkennt man, dass die Überschüsse der Rentenkasse die in Aussicht gestellte Rentenerhöhung nur bedingt hergeben. Wichtig ist, dass die Entlastung nur vorübergehend ist. Professor Bomsdorf hat das so gesagt: Bestellt wird jetzt, gezahlt wird später. ({6}) Die Bundesregierung leiht den Rentnern bis zum Wahltag etwas Geld, das nicht ihr, sondern den Beitragszahlern gehört. Danach zieht sie es wieder ein. So steht es ja auch schon im Gesetz. Das ist - darauf haben die Sachverständigen in der Anhörung ausdrücklich hingewiesen - sozusagen die unverzichtbare Geschäftsgrundlage. Von den Rentenversicherungsträgern ist sehr deutlich gesagt worden: Erfolgt die Nachholung nicht, dann ist der Zielkorridor gemäß dem RV-Nachhaltigkeitsgesetz mit Sicherheit nicht mehr einzuhalten. Es besteht auch die Gefahr, dass die geplante Entlastung ungewollt zu hoch ausfällt - nicht in diesem, aber im nächsten Jahr. Nach 1,1 Prozent zum 1. Juli 2008 könnte die Erhöhung im nächsten Jahr angesichts der Tarifvereinbarungen nämlich bei 3,5 Prozent und höher liegen. Das wäre eine große Belastung der Rentenkasse, die mit einem sich abschwächenden Aufschwung zusammentreffen würde. Dadurch könnte die Kalkulation der Bundesregierung hinsichtlich der weiteren Entwicklung der Rentenfinanzen erheblich durcheinandergewirbelt werden. Was bleibt? Die Große Koalition hat - das werfe ich Ihnen vor - in dem Zweig der sozialen Sicherung, der bislang am besten auf die demografische Herausforderung vorbereitet war, ohne Not große Fragezeichen hinter gesichert erscheinende rentenpolitische Entscheidungen der letzten Jahre gesetzt. Wer schon in einem Vorwahljahr unaufgefordert Nachgiebigkeit zeigt, Herr Weiß, wird sicherlich damit rechnen müssen, in einem Wahljahr mit 14 bis 16 Wahlen - darunter die Bundestagswahl und die Wahl zum Europaparlament - hinsichtlich seiner Standfestigkeit getestet zu werden. Darin liegt der eigentliche große rentenpolitische Schaden, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union und der SPD. Herr Staatssekretär, Sie haben Goethe wahrscheinlich deswegen zitiert, ({7}) weil ich in der ersten Beratung den Zauberlehrling bemüht hatte: „Die ich rief, die Geister, werd ich nun nicht los.“ Sie liefern mit Ihrem heutigen Vorhaben eine wunderbare Vorlage für die Linke, die folgerichtig - aber, wie nicht anders zu erwarten, ohne jeden Finanzierungsvorschlag - die von Ihnen vorgesehene Rentenerhöhung um 1,1 Prozent mit der Forderung nach 4 Prozent mehr problemlos toppt. An dieser Stelle vermisse ich die Führung der Bundeskanzlerin. Es genügt nicht, als Regierungschefin die Manipulation der Rentenformel damit zu kommentieren, dass das kein ordnungspolitisches Meisterstück sei. Eine derart lasche Intervention ruft geradezu Nachahmungstäter auf den Plan. ({8}) Jürgen Rüttgers mit seiner Forderung nach der Sockelrente ist die logische Fortsetzung dieser Entwicklung. Auch hier ist es der Bundeskanzlerin nicht gelungen, das Feuer auszutreten. Der Brand schwelt weiter und wird zu gegebener Zeit wieder neu entflammen. Zu groß ist die Neigung in der Koalition - auch in der CDU/ CSU -, mit einer Politik des „Allen wohl und niemand weh“ auf die Zielgerade zur nächsten Bundestagswahl einzuschwenken. Fazit: Es geht in der Union und leider auch in der SPD - im Hinblick auf das, was Herr Riester an Vorarbeit geleistet hat - derzeit drunter und drüber. Tagespolitik regiert da, wo langfristige Verlässlichkeit gefragt wäre. Eine klare Linie ist nicht zu erkennen. Das ist das Fazit der Beratungen des Gesetzentwurfs zur Rentenanpassung. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Peter Weiß, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Nach der Rede des Kollegen Kolb ist eines deutlich geworden: Sie verstehen es meisterhaft, sich Jahr für Jahr rentenpolitisch zu drehen und genau das Gegenteil von dem zu behaupten, was Sie im letzten Jahr erklärt haben. ({0}) Lassen Sie mich das verdeutlichen. Herr Kolb hat vor einem Jahr festgestellt, es sei unanständig, 13 Monatsbeiträge zu vereinnahmen; man vertusche damit die Notwendigkeit einer Erhöhung des Rentenversicherungsbeitrags. ({1}) Im nächsten Jahr, nachdem der Rentenversicherungsbeitrag erhöht und damit seine eigentliche Forderung erfüllt worden ist, stellt derselbe Herr Kolb fest, das sei verkehrt und hätte nicht gemacht werden dürfen. Er vertritt jedes Jahr das Gegenteil vom Vorjahr. ({2}) Er ist mittlerweile in diesem Parlament die rentenpolitische Unzuverlässigkeit in Person.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege Weiß, gestatten Sie eine Zwischenfrage des angesprochenen Kollegen Kolb?

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, selbstverständlich. ({0})

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Weiß, stimmen Sie mir zu, dass Sie mit Ihrer Aussage nur dann recht hätten, wenn das Geld aus dem Vorziehen der Fälligkeit der Sozialversicherungsbeiträge benötigt worden wäre, um die laufenden Ausgaben der Rentenversicherung zu decken? Tatsächlich ist doch auf wundersame Weise die Nachhaltigkeitsrücklage im Jahr des Vorziehens der Fälligkeit der Sozialversicherungsbeiträge um genau den Betrag angewachsen, den der 13. Monatsbeitrag erbracht hat. Ist damit nicht hinreichend bewiesen, dass man auf das Vorziehen der Fälligkeit hätte verzichten können? ({0})

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrter Herr Kollege Kolb, man sollte die Gesetzeslage kennen. Das Gesetz besagt nämlich Folgendes: In der Rentenkasse ist eine Nachhaltigkeitsrücklage von mindestens 0,2 Monatsausgaben vorgeschrieben. Der Beitragssatz zur Rentenversicherung bleibt so lange auf dem von uns festgelegten Niveau, bis eine Nachhaltigkeitsrücklage von 1,5 Monatsausgaben erreicht wird. Dann sinkt der Rentenversicherungsbeitrag. Diese Regelung ist vernünftig, weil die Rentnerinnen und Rentner in unserem Land sicher sein wollen, dass die Rentenversicherung jeden Monat tatsächlich in der Lage ist, aus ihren Einnahmen die Renten auszuzahlen, und dass die Rente nicht auf Pump ausgezahlt werden muss. ({0}) Herr Kollege Kolb, diese Sicherheit war nach Aussage aller Fachexperten damals nur mit einer Erhöhung des Rentenversicherungsbeitrags zu gewährleisten. Das gilt bis zum heutigen Tag. ({1}) - Entschuldigung, Herr Kolb, Sie haben gerade gesagt: Manipulation an der Rentenformel, pfui! ({2}) Sie schlagen offensichtlich vor, den Rentenversicherungsbeitrag zu senken, bevor 1,5 Monatsausgaben als Rücklage erwirtschaftet sind. ({3}) Nicht wir, sondern Sie wollen an der Rentenformel herumfummeln. Das ist der Punkt. Wir bleiben bei dem, was im Gesetz steht. Das ist die Wahrheit. ({4}) Was wir heute beschließen, bedeutet keine Manipulation an der Rentenformel. Es handelt sich vielmehr um eine politisch korrekte und notwendige Antwort auf folgende Situation: Ließen wir das, was gesetzlich vorgesehen ist, wirken, käme es am 1. Juli dieses Jahres zu einer Rentenanpassung von nur 0,46 Prozent ({5}) - nein, ich habe es gerade erklärt -, und das, obwohl es in Deutschland Gott sei Dank einen wirtschaftlichen Aufschwung gibt, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wieder Lohnzuwächse zu verzeichnen haben und wir wieder anständige Rücklagen in unserer Rentenversicherung haben, weil wir das, was Herr Kolb vorschlägt, nicht gemacht haben. Deswegen haben wir uns politisch entschlossen, ein Element der Rentenformel nicht aufzuheben oder zu manipulieren, sondern seine Wirkung um zwei Jahre auszusetzen, damit die Rentnerinnen und Rentner zum 1. Juli 2008 eine Rentenerhöhung von 1,1 Prozent bekommen. Das finde ich okay. Das ist sauber gemacht. Es ist sachlich voll und ganz gerechtfertigt. ({6}) Das, was die Oppositionsfraktionen vortragen und zum Teil in Anträgen als Alternativen vorschlagen, ist schlichtweg unsolide. Die einen wollen - das ist der Vorschlag von Herrn Kolb - einmalig Schecks an die Rentnerinnen und Rentner verteilen. Die anderen wollen die Rentenformel ganz abschaffen und die Rente nach Willkür beschließen. Wiederum andere wollen vertuschen, was sie selbst beschlossen haben, als sie an der Regierung waren. Für all diese angeblichen Alternativen gilt: Sie sind höchst unsolide und damit auch höchst unsozial. Der Präsident der Deutschen Rentenversicherung hat in der Anhörung klipp und klar erklärt: Der von der Koalition eingebrachte Entwurf eines Gesetzes zur Rentenanpassung 2008 ist systematisch, also rentenpolitisch, voll und ganz in Ordnung. Er hat im Hinblick auf die angeblichen Alternativen festgestellt, dass der Gesetzentwurf der Regierung einen gangbareren Weg darstellt als andere Konzepte. Wir haben also die höchste Anerkennung und Auszeichnung vom Präsidenten der Deutschen Rentenversicherung ausgesprochen bekommen. Er weiß, wie es um die Rente bestellt ist, und hält unseren Weg für richtig. ({7}) Beachtlich war auch, dass auf Vorschlag von Bündnis 90/Die Grünen Frau Dr. Monika Queisser von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung an der Anhörung zu dem Gesetzentwurf teilgenommen hat. Sie hat es als einzigartig, ja sogar als spektakulär bezeichnet, dass wir in Deutschland durch die Rentenreform Peter Weiß ({8}) ({9}) unser Alterssicherungssystem sowohl an die demografische Entwicklung als auch an die Situation auf dem Arbeitsmarkt angepasst haben. Sie hat zudem vorgetragen, dass Rentnerarmut in Deutschland im internationalen Vergleich extrem selten ist. Ich muss bei all der ständig vorgetragenen Kritik sagen: Es ist beachtlich, welch hervorragendes Zeugnis eine internationale Expertin der deutschen Alterssicherungspolitik am Montag ausgestellt hat. Ich finde, darauf können wir miteinander stolz sein. ({10}) Ich finde, es ist kein Geschenk, das wir den Rentnerinnen und Rentnern machen. Die Erhöhung von 1,1 Prozent ist in Wahrheit kein riesiger Betrag. Es handelt sich vielmehr um eine angemessene Erhöhung der Rente für eine Generation von Rentnerinnen und Rentnern, die dieses Land mit aufgebaut haben, die lange in die Rentenkasse eingezahlt haben, damit das System stabil gehalten haben und die jetzt am Lebensabend darauf bauen, dass sie von dieser Rente einigermaßen angemessen leben können. Deswegen gibt es keine Alternative zu unserem Vorschlag, aus 0,46 Prozent wenigstens 1,1 Prozent zu machen. Es ist übrigens - wie ich glaube, von Herrn Kolb - in der Ausschusssitzung angemerkt worden, dass es früher in diesem Parlament üblich war, dass man wichtige rentenpolitische Vorhaben, insbesondere auch die Rentenanpassung, ({11}) in großer Einigkeit zwischen Regierungsfraktionen und Oppositionsfraktionen beschlossen hat. ({12}) Es geht hier nämlich nicht um eine Regierungs- oder eine Oppositionsrente, sondern es geht um eine Rente für alle Rentnerinnen und Rentner in Deutschland. Ich hätte mir eigentlich gewünscht, dass bei einem solch kleinen Schritt, den Rentnerinnen und Rentnern wenigstens eine Rentenanpassung von 1,1 Prozent zum 1. Juli 2008 zu ermöglichen, möglichst alle Fraktionen und alle Kolleginnen und Kollegen des Deutschen Bundestags zustimmen. ({13}) Mit viel Optimismus und Energie haben Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und Unternehmer in den letzten Jahren wesentlich dazu beigetragen, dass es in Deutschland wieder aufwärtsgeht, dass wir Wirtschaftswachstum haben, dass die Zahl der Arbeitslosen sinkt, dass Menschen neu in Arbeit kommen und somit neu Sozialversicherungsbeiträge, auch in die Rentenversicherung, einzahlen können. Wir wollen, dass die Rentnerinnen und Rentner an diesem Aufschwung teilhaben. ({14}) Deshalb: Ja zur Rentenanpassung 2008. Vielen Dank. ({15})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Oskar Lafontaine, Fraktion Die Linke. ({0})

Oskar Lafontaine (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002715, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Vorredner und auch der Parlamentarische Staatssekretär, der hier für die Bundesregierung gesprochen hat, erweckten den Eindruck, als müssten wir jetzt vor Dankbarkeit erstarren, weil die Koalition die Rentnerinnen und Rentner nun doch am Aufschwung beteiligt, wie Sie das formuliert haben. Ich bin sicher: Wenn jetzt Rentnerinnen und Rentner am Fernsehen zuhören, werden sie vor Dankbarkeit auf die Knie gehen, weil sie wirklich nicht mehr wissen, wie sie ihr Glück angesichts der Großzügigkeit dieser Großen Koalition fassen sollen. Dennoch will es mir scheinen, dass Sie ein schlechtes Gewissen haben, dass Sie heute eine Große Koalition des schlechten Gewissens sind; denn so richtig kam die Begeisterung, die Sie angesichts der Großzügigkeit einer Erhöhung von 1,1 Prozent verbreiten wollten, nicht herüber. ({0}) Nun haben der Vorredner Herr Weiß und der Parlamentarische Staatssekretär, aber auch Mitglieder der Bundesregierung gesagt, man wolle durch diese Maßnahme die Rentnerinnen und Rentner am Aufschwung beteiligen. Da müssen wir die Frage stellen, was eigentlich der Aufschwung ist. Wenn man jemanden an etwas beteiligen will, dann muss man wissen, woran. Nach klassischer Definition ist ein Aufschwung ein reales Wachstum der Wirtschaft. Einen Aufschwung haben wir also dann, wenn wir einen realen Zuwachs des Reichtums der gesamten Volkswirtschaft haben. Würde man also jemanden am Aufschwung beteiligen wollen, dann müsste es zu einem realen Einkommens- bzw. Kaufkraftzuwachs kommen. Sie aber machen genau das Gegenteil. Was Sie hier machen, ist entweder Zynismus oder Dummheit - ich weiß nicht, welche Variante ich jetzt nehmen soll. ({1}) Sie wissen offensichtlich nicht, wovon Sie reden. Wie kann man angesichts eines erneuten Kaufkraftverlustes für die Rentnerinnen und Rentner von einer Beteiligung am Aufschwung reden? Da muss man nicht einmal die simpelsten wirtschaftlichen Zusammenhänge kennen. ({2}) Aufschwung heißt nun einmal realer Zuwachs des Sozialproduktes. Sie muten den Rentnerinnen und Rentnern noch einmal einen Kaufkraftverlust zu. Das ist Zynismus oder Dummheit; ich wiederhole es. Ich fürchte, ich kann zur Variante Zynismus angesichts der Debatte in diesem Hohen Hause nicht mehr greifen. Es ist nicht zu fassen. ({3}) Die Rentnerinnen und Rentner haben in den letzten Jahren einen Kaufkraftverlust von 8,5 Prozent hinnehmen müssen, ({4}) und Sie muten den Rentnerinnen und Rentnern einen erneuten Kaufkraftverlust zu. Das ist die Realität. Meine Fraktion ist nicht bereit, den Rentnerinnen und Rentnern nach all den Jahren einen erneuten Kaufkraftverlust zuzumuten. Wir lehnen daher diese Unverschämtheit, die Sie hier vorlegen, ab. Das sage ich in aller Klarheit. ({5}) - Da lachen Sie auch noch. ({6}) Diejenigen, die uns jetzt zuhören, denken auch daran, wie wir - das sage ich als Bundestagsabgeordneter - uns unser Einkommen in den nächsten beiden Jahren erhöhen; selbstverständlich denken sie daran. ({7}) Ich muss Ihnen sagen: Angesichts der Tatsache, dass sich die Erhöhungen der Diäten auf 16 Prozent summieren, ist das, was Sie der Rentnergeneration zumuten, eine bodenlose Unverschämtheit. Das sage ich in aller Klarheit.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege Lafontaine, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Meckelburg?

Oskar Lafontaine (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002715, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Dass Sie sich überhaupt noch trauen, sich hier hinzustellen und zu sagen, wir wollen die Rentnerinnen und Rentner am Aufschwung beteiligen, ist meiner Auffassung nach nicht mehr nachvollziehbar. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Darf ich noch mal fragen: Der Kollege Meckelburg möchte eine Zwischenfrage stellen. - Bitte schön.

Wolfgang Meckelburg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001452, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Lafontaine, ich möchte es in großer Ruhe machen, obwohl mich die Art und Weise, wie Sie es hier vortragen, sehr erregt. Haben Sie eine Ahnung davon, wie unser deutsches Rentensystem funktioniert? Es ist so, dass die Rentenentwicklung der Lohnentwicklung des Vorjahres folgt. Das, was Sie hier mit Wirtschaftswachstum, allgemeinem Wachstum, Kaufkraftausgleich vermanschen, hat mit diesem System nichts zu tun. Wissen Sie, dass in der Anhörung auf Nachfrage geantwortet wurde, dass über die letzten 25 Jahre die Rentner mehr davon profitiert haben, dass die Rentenentwicklung an die Lohnentwicklung und nicht an den Inflationsausgleich gekoppelt war? Ich habe den Eindruck, dass Sie ziemlich viel vermanschen und Populismus betreiben, um die Leute zunächst zu verunsichern und sich anschließend selber als Retter darzustellen. Deswegen habe ich diese Zwischenfrage gestellt. Sie können sie beantworten oder nicht. Ich wollte es einfach loswerden. ({0})

Oskar Lafontaine (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002715, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Vielen Dank für diese Zwischenfrage. Sie zeigt wieder, dass Sie nicht verstanden haben, was Sie als Rentenreform hier in den letzten Jahren vorgenommen haben. Sie haben nämlich durch die Dämpfungsfaktoren genau das Gegenteil von dem erreicht, was Sie jetzt sagen. Sie haben die Renten von den Löhnen abgekoppelt. Sie wissen überhaupt nicht mehr, was Sie machen. ({0}) Wenn einfache Tatbestände schlicht nicht bekannt sind oder ignoriert werden, macht es doch keinen Sinn, hier eine Sachdebatte ernsthaft führen zu wollen. ({1}) Was wir hier feststellen, ist, dass sich schlicht und einfach immer wieder Abgeordnete zu Wort melden und als Rentenexperten ausgeben, obwohl sie offensichtlich überhaupt nicht wissen, was sie angerichtet haben. ({2}) Sie haben die Renten von der Lohnentwicklung abgekoppelt. ({3}) Nun möchte ich Ihnen sagen, wie sich das in Zahlen darstellt. Es geht nämlich nicht nur um die Renten, die jetzt ausgezahlt werden. Vielmehr geht es um die Rentenentwicklung der nächsten Jahre. Es liegen bereits seit einiger Zeit Zahlen auf dem Tisch, die jeder von Ihnen lesen kann. Die Zahlen sagen Folgendes aus: Jemand, der heute 1 000 Euro in Deutschland verdient ich sage das für die Zuschauerinnen und Zuschauer vor den Fernsehern, weil es bei Ihnen keinen Sinn mehr macht -, hat eine Rentenerwartung von 400 Euro. Jemand, der 1 000 Euro in OECD-Ländern verdient, hat eine Rentenerwartung von 730 Euro. Und da stellen Sie sich hin und wagen es, dies auch noch zu rechtfertigen. Es wäre zu wünschen, dass Sie einmal mit ähnlichen Kürzungen konfrontiert werden, damit Sie wissen, wovon überhaupt die Rede ist, wenn wir über Renten in Deutschland diskutieren. ({4}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, Sie werden diese Rentenformel nicht durchhalten. ({5}) Ich sage noch einmal: Sie werden die Dämpfungsfaktoren aus der Rentenformel herausnehmen müssen. Das wird kein einmaliger Akt gewesen sein. Es ist überhaupt keine andere Möglichkeit mehr gegeben. Ich zitiere Herrn Laumann - ich wünschte mir, Sie würden wenigstens von ihm Lehren annehmen -, der gesagt hat, dass diese Rentenformel so keinen Bestand haben könne. ({6}) Er hat gesagt, dass wir den Niedriglohnsektor „total unterschätzt haben“. Wir werden in Zukunft 8 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die jetzt noch aktiv sind, haben, die mit solchen Armutsrenten konfrontiert sein werden. ({7}) Deshalb fasse ich hier zusammen: Sie sitzen ratlos da und haben ein schlechtes Gewissen. Sie haben die Rentenformel zerstört. Sie haben Altersarmut programmiert. Was Sie den Rentnerinnen und Rentnern heute zumuten, ist eine bodenlose Unverschämtheit. Wir lehnen eine solche Vorgehensweise ab. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollegin Irmingard ScheweGerigk, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Irmingard Schewe-Gerigk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zweifellos, es stimmt: Es gibt viele Rentnerinnen und Rentner, die durch die Politik der Bundesregierung an den Rand ihrer Existenz gebracht wurden, nämlich die mit den kleinen Renten. ({0}) - Der jetzigen. Die Ursachen liegen auf der Hand: die Mehrwertsteuererhöhung, die Erhöhung der Pflegeversicherungsbeiträge, die überzogene Erhöhung der Beiträge zur Rentenversicherung, die Halbierung der Beiträge für Langzeitarbeitslose und die Förderung von Betriebsrenten zulasten der heutigen Rentnerinnen und Rentner. Jetzt stehen Sie, meine Damen und Herren von der Großen Koalition, vor dem Scherbenhaufen Ihrer Politik; aber statt zu kitten, zerschlagen Sie neues Porzellan. Sie versprechen den Rentnern und Rentnerinnen nämlich Wahlgeschenke, die vergiftet sind; denn sie müssen diese Wahlgeschenke in den Jahren 2012 und 2013 selbst bezahlen. Bestellt wird heute, bezahlt wird später; der Kollege Kolb hat es gerade schon gesagt. Aber auch die künftigen Rentnergenerationen müssen diese Suppe auslöffeln; denn die wirklich Leidtragenden der Politik, die Sie hier betreiben, sind die heute 50- bis 60-Jährigen. Über 11 Milliarden Euro kostet Ihr Vorhaben bis zum Jahre 2030. Wenn Sie, Herr Weiß, sagen, das seien kleine Summen, dann verstehe ich die Welt nicht mehr. ({1}) Die junge Generation ist zu Recht in Sorge, dass die Rentenpolitik zukünftig von Wahlterminen abhängig gemacht wird. Das ist keine verlässliche Politik, das ist Politik nach Gutsherrenart. Zwar haben Sie im Ausschuss versprochen, dies sei ein einmaliger Eingriff in die Rentenformel; aber glauben Sie das wirklich selbst? Wenn das Wahljahr 2013 ansteht und der Rentenwert 20 Cent niedriger als der heutige ist - dies wurde in der Sachverständigenanhörung gesagt -, glauben Sie, dass Sie dann nichts machen werden? Ich glaube das nicht! Für wie blöd halten Sie eigentlich die Leute? ({2}) Da wir gerade bei den Wahlen sind: Jeder sieht, dass die Situation im Jahre 2008 wirklich problematisch ist. Warum Sie aber zusätzlich schon jetzt die Renten für das Jahr 2009 erhöhen, obwohl Ihnen alle Experten sagen, dass die Rentensteigerung 2009 sehr viel höher sein wird, das ist doch mehr als durchsichtig. Herr Kollege Brandner, wenn Sie in Ihrer Rede mit Bezug auf die Aussetzung der Riester-Treppe dreimal Goethe zitieren, dann spricht das für sich. Auch wir sehen Handlungsbedarf, gerade bei Menschen mit kleinem Einkommen. Ich finde, diese Menschen dürfen für die Versäumnisse dieser Bundesregierung nicht bestraft werden. Denn es stimmt: Wer ein kleines Einkommen hat, hat große Schwierigkeiten, die anstehenden Erhöhungen des Beitrags zur Pflegeversicherung, die Kostensteigerungen bei den Lebensmitteln, den Energiepreisen und den Gütern des täglichen Bedarfs zu verkraften. Deshalb haben wir Ihnen einen EntIrmingard Schewe-Gerigk schließungsantrag vorgelegt, in dem Akzente gesetzt werden, die deutlich anders sind als die der Bundesregierung. Es wird bei denjenigen angesetzt, die besonders schutzbedürftig sind. ({3}) Sie hingegen heben kleine und große Renten gleichermaßen an. Erstens. Wir fordern die Bundesregierung auf, die Grundsicherung im Alter endlich auf 420 Euro anzuheben; denn der heutige Regelsatz deckt schon lange nicht mehr das soziokulturelle Existenzminimum. Darauf haben Sozialexperten und Wohlfahrtsverbände mehrfach hingewiesen. ({4}) Zweitens. Wir wollen, dass die Halbierung des Rentenversicherungsbeitrags für Langzeitarbeitslose so schnell wie möglich zurückgenommen wird. 2,19 Euro Rente im Monat nach einem Jahr Arbeitslosigkeit, das ist ein Hohn. Diese unsoziale Entscheidung hat die Große Koalition bereits im Koalitionsvertrag festgelegt und bis heute nicht zurückgenommen - trotz guter Konjunktur und sprudelnder Steuereinnahmen. Drittens. Wir wollen nicht, dass die Rentner und Rentnerinnen durch die sozialabgaben- und steuerfreie Förderung der Betriebsrenten benachteiligt werden. Dieses Instrument ist als Anreiz für den Abschluss von mehr Betriebsrenten eingeführt worden. Dass dadurch jetzt automatisch die Renten gekürzt werden, das war nie das Ziel. Deshalb fordern wir, dass dieser Kürzungsmechanismus bei der Festlegung des aktuellen Rentenwerts herausgerechnet wird, wie Sie es im Übrigen auch bei den 1-Euro-Jobs gemacht haben. Wir fordern Sie auf, hier ebenso vorzugehen. Was können die Rentnerinnen und Rentner dafür, dass wir Betriebsrenten besonders fördern? Das ist ja gerade so, als würden Sie den einen etwas wegnehmen und es den anderen geben und denen, die am wenigsten haben, am meisten wegnehmen. Die Bundeskanzlerin hat Anfang April zugegeben, die Rentenerhöhung sei ordnungspolitisch keine Meisterleistung. Wäre sie selbstkritischer gewesen, dann hätte sie eingestehen müssen: Die Probleme der niedrigen Rentenanpassung sind hausgemacht und die unmittelbare Folge von politischen Fehlentscheidungen dieser Großen Koalition. ({5}) Statt die Ursachen zu beseitigen, hat sich die Kanzlerin für eine Politik entschieden, deren Verantwortung mit dem Bundestagswahltermin endet. Ihnen, meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, ist es offenkundig egal, dass die Versicherten 2011 und 2012 auf Beitragssenkungen vergeblich warten müssen. Es macht Ihnen offensichtlich auch nichts aus, dass die Rentnerinnen und Rentner in den Jahren 2012 und 2013 Ihre vermeintlichen Geschenke wieder zurückgeben müssen und dann erst recht keine Rentenerhöhungen erwarten können. Das ist keine nachhaltige Politik. Das ist Wählerverdummung. Deshalb lehnen wir Ihren Gesetzentwurf ab. Ein letzter Satz, Herr Präsident: Zum Antrag der Linken, der ja gestern erst eingegangen ist, muss man ja auch noch etwas sagen. Die Erhöhung der Rente um 4 Prozent und die Abschaffung aller Dämpfungsfaktoren würde 17 Milliarden Euro kosten. Das ist gerade so, als würden wir hier im Bundestag den Beschluss fassen, dass die demografische Entwicklung nicht stattfindet; wir die Nachhaltigkeit im Rentensystem, die uns die OECD bescheinigt hat, nicht benötigten, also ein Beschluss von uns ausreichte, um dafür zu sorgen, dass all das auch so eintritt. ({6}) Ich finde, das ist unglaubwürdig. Deshalb lehnen wir Ihre Vorschläge ab. ({7}) Vielen Dank. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Anton Schaaf, SPD-Fraktion. ({0})

Anton Schaaf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003623, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die außerordentlich gekünstelte Aufregung des Kollegen Lafontaine, ({0}) der sich um seine Altersvorsorge mit Sicherheit keine Sorgen machen muss, war schon mehr als erstaunlich. ({1}) Die Art und Weise, wie da Kolleginnen und Kollegen als ahnungslos oder Ähnliches diffamiert wurden, ist bemerkenswert und besonders stillos. ({2}) Zur Frage der Ahnungslosigkeit sage ich gerne noch etwas, indem ich die Vorschläge, die Sie in letzter Zeit gemacht haben, in Bezug zum Rentenversicherungssystem setze, wie es sich entwickelt hat. Ich halte es da mit der Kollegin Kipping, die in der Frage völlig zutreffend beschrieben hat, wie Sie zum Rentenversicherungssystem stehen: Sie gab zu, dass Sie schlicht kein rentenpolitisches Konzept haben. Sie bringen zwar jede Menge Einzelanträge, haben aber überhaupt keine Ahnung, was diese kumuliert bewirken würden. Auf diese Weise versuchen Sie, die Menschen im Land zu verunsichern. Nichts anderes betreiben Sie die ganze Zeit. Schauen wir uns einmal an, welche rentenpolitischen Forderungen seitens der Linken gestellt werden. Frau Irmingard Schewe-Gerigk hat diese ja gerade kurz angesprochen. Es geht ja nicht nur um die Erhöhung um 4 Prozent, die da gefordert wird; es geht ja nicht nur um die Dämpfungsfaktoren, die zurückgenommen werden sollen; es geht ja nicht nur um die Angleichung der Ostrenten an das Westniveau, die da gefordert wird; es geht nicht nur um die Einzelinteressen bestimmter Berufsgruppen, die da bedient werden sollen; es geht ja nicht nur darum, die Rente mit 67 und die damit zusammenhängenden Faktoren wieder zurückzunehmen. Nein, wenn man sich das alles anschaut, kann ich dazu nur sagen: Da findet ein rentenpolitischer Blindflug statt, der uns mit Sicherheit nicht voranbringt, ({3}) sondern im Gegenteil unser Rentensystem, das wir haben und das sich bewährt hat, mit Sicherheit in Gänze und grundlegend infrage stellt. Ich warne Sie davor, diesen Weg zu gehen. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Kollege Schaaf, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Anton Schaaf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003623, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, der Kollege Schneider wird gleich noch Gegenstand meiner Ausführungen sein. Vielleicht können Sie sich danach noch einmal melden, Herr Schneider. Dann wird es nämlich spannend. Im Ausschuss haben wir gestern die Anhörung ausgewertet. An dem Verhalten der Linken dabei kann man schön klarmachen, wie die Linke operiert. Das war nämlich wirklich hochinteressant. Die Linke hat immer eine einzige Stelle aus der OECD-Studie zur Altersvorsorge zitiert. Das Zitat stimmt sogar, Herr Schneider; das will ich gar nicht infrage stellen. Es steht an einer Stelle, wo es um die drohende Altersarmut von Soloselbstständigen etc. geht. Die Linke hat aber diese Stelle aus der OECDStudie immer separat und isoliert zitiert. Eine in zentraler Funktion an der OECD-Studie beteiligte Person war nun in der Anhörung, Frau Dr. Queisser. Ich fand es hervorragend, was sie sagte, und danke den Grünen noch einmal für die Einladung dieser Sachverständigen. Diese Sachverständige bescheinigt uns, dass die rentenpolitischen Veränderungen und Reformen, die insbesondere Rot-Grün durchgeführt hat, zukunftsweisend und zukunftsgerichtet sind und wir damit gut aufgestellt sind. Die Frage der drohenden Altersarmut von Soloselbstständigen sei an der Stelle noch einmal ausgeklammert. ({0}) Ich habe dabei immer angemerkt, dass die OECD den Bereich der privaten und der betrieblichen Altersvorsorge gar nicht mitberücksichtigt hat. Der Kollege Schneider geht nun hin und greift immer die negativen Punkte dieser OECD-Studie heraus. Dort aber, wo die gleiche Autorin sagt, da habt ihr in Deutschland recht, beschimpft er diese Autorin als neoliberal. ({1}) So, meine Damen und Herren von der LINKEN, ist Ihre Vorgehensweise. Herr Lafontaine, auch Sie haben das gerade so gemacht. Ich sage Ihnen, was das ist - ich beziehe mich auf die Literaten -: Es ist eine Form von Don Quichotte auf der klapprigen Rosinante. Sie malen sich Ihre Welt selber und machen sich zum Helden. ({2}) Hier kämpft Don Quichotte aber nicht gegen Windmühlen. Man muss es so sagen: Oskar Lafontaine ist nicht auf einer klapprigen Rosinante, sondern auf einem fehlenden Rentenkonzept unterwegs. ({3}) Er bekämpft keine Windmühlen, sondern den drohenden Neoliberalismus. Sie malen sich die Welt, wie Sie sie haben wollen, und so argumentieren Sie hier auch. Es ist schon ziemlich erstaunlich, dass Sie anderen vorwerfen, sie hätten keine Ahnung von der Rentenpolitik und der -systematik. An Ihrer Stelle würde ich noch einmal in Ihrer Rede nachlesen; denn aus meiner Sicht hatte das, was Sie gesagt haben, mit Ahnung nicht viel zu tun. ({4}) Wir tun für die Rentnerinnen und Rentner jetzt mit Sicherheit nichts Herausragendes; das ist völlig klar. Eine Rentenerhöhung um 1,1 Prozent wird niemanden dazu verleiten, eine der Parteien der Großen Koalition im nächsten Jahr zu wählen. Es ist Unfug, so etwas zu unterstellen. Ich sage: Diese Rentenerhöhung ist das, was jetzt machbar ist, da die Rentner drei Jahre lang keine bzw. nur eine ganz kleine Rentenerhöhung bekommen haben. Wir haben politisch entschieden, dass wir diesen Zustand in diesem und im nächsten Jahr so nicht beibehalten wollen. Hier spielte ein Dämpfungsfaktor eine wichtige Rolle. Damit Ihnen das klar wird, Frau ScheweGerigk: Es handelt sich um einen Dämpfungsfaktor, der nicht dauerhaft - er ist kein Nachhaltigkeitsfaktor -, sondern zeitlich begrenzt ist. Er wird auch nicht gänzlich abgeschafft, sondern nur verschoben. Es macht aus zwei Gründen durchaus Sinn, so vorzugehen - das möchte ich an dieser Stelle deutlich machen -: Erstens. Die Riester-Treppe ist ein Stück weit der Gegenpart zur Riester-Förderung. Diese wurde auf Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ausgerichtet, die privat vorsorgen wollen; sie werden entsprechend gefördert. Wir sind aber noch lange nicht bei der Zahl von 30 Millionen angekommen, die wir uns gewünscht haben und die auch möglich wäre. Wir liegen bei 10 Millionen. Wir können daher einen Teil der Summe, die wir dafür veranschlagt haben, zurückgeben. Zweitens. In diesem Jahr fand eine Anhebung des Rentenversicherungsbeitragssatzes auf 19,9 Prozent statt; dieser Punkt ist mir sehr wichtig. In der Tat hätte man darüber diskutieren können. Die Daten, die uns damals vorlagen, haben diese 19,9 Prozent vorgegeben. Aus heutiger Sicht hätten wahrscheinlich auch 19,7 Prozent gereicht, aus damaliger Sicht aber nicht. Diese Anhebung des Rentenversicherungsbeitragssatzes wirkt sich bei Anpassungen für die Renterinnen und Rentner negativ aus. ({5}) Wenn wir die ausgesetzten Stufen der Riester-Treppe in den Jahren 2012 und 2013 nachholen, kommt es jedoch zu Senkungen des Beitragssatzes zur Rentenversicherung, die sich für die Rentnerinnen und Rentner positiv auswirken. Es gibt also inhaltliche Gründe dafür, dies dann zu tun, wenn es sich für die Rentnerinnen und Rentner positiver auswirkt als heute. ({6}) Herr Kolb, eines möchte ich zum Schluss im Hinblick auf Wahltermine und Wahlgeschenke sagen: Wenn man Gutes tun kann - natürlich stellt sich die Frage, ob es ausreichend gut ist; dass man alles auch anders bewerten kann, ist mir klar -, muss man keine Rücksicht darauf nehmen, dass irgendwann in nächster Zeit Wahlen stattfinden. Wenn man für die Menschen Gutes tun kann, wenn man ihnen Möglichkeiten eröffnen und im Interesse der Menschen etwas weitergeben kann, dann sollte man dies unabhängig von Wahlterminen tun. Wir machen das in diesem und im nächsten Jahr. Lassen Sie uns weiterhin eine so konsistente und zukunftssichere Rentenpolitik betreiben, wie wir es bisher gemacht haben. Die Dämpfungsfaktoren wirken, und zwar auf Dauer. Sie werden nun an einer Stelle für zwei Jahre ausgesetzt. Das ist begründbar, und das ist richtig. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Schneider von der Linksfraktion.

Volker Schneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003843, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Lieber Kollege Schaaf, damit Sie nicht immer etwas anderes wiederholen müssen: Meine Fraktion hat bereits im Frühjahr letzten Jahres ein Rentenkonzept beschlossen. Es ist vor zwei Monaten von unserem Parteivorstand noch einmal überarbeitet und erweitert worden. Die Behauptung, wir hätten kein Rentenkonzept, ist also schlicht falsch. Zweiter Punkt. Wenn Sie sagen, wir würden das Rentensystem zerschießen, sage ich Ihnen: Die Einzigen, die hier ein System zerschossen haben, sind Sie, nämlich indem Sie die Altersvorsorge privatisiert haben. ({0}) Das hat dazu geführt, dass wir in Zukunft bei höheren Beiträgen, die wir in beide Systeme einzahlen, weniger herausbekommen. Das ist nachrechenbar und überprüfbar. Ich kann Ihnen die aktuellen Zahlen sagen: Hätten wir die gesetzliche Rentenversicherung so weitergeführt, wie sie war, läge der Beitragssatz bei 21,4 Prozent. Das ist eine Zahl aus der Anhörung. Bei Ihnen geht es um mindestens die fast 10 Prozent Rentenversicherung plus 3 Prozent Riester, wenn ich den durchschnittlichen Förderungsbetrag abziehe. Dritter und letzter Punkt. Schon fast eine Unverschämtheit ist Ihr Hinweis auf die OECD-Studie. Ich sage das hier noch einmal. Wenn ich auf die Tribüne hochblicke, sehe ich dort viele junge Leute sitzen, die sicherlich einmal Renten bekommen wollen. In der OECD-Studie steht, dass zukünftig Menschen - die junge Generation von heute -, die 1 000 Euro brutto verdient haben, eine Bruttorente von 400 Euro bekommen werden, ({1}) und das bei einem Durchschnitt von 730 Euro in der OECD. Das heißt, in einem der wirtschaftlich stärksten Länder der OECD wird der schlechteste Betrag überhaupt ausbezahlt. ({2}) Das hat man auch für andere Gruppen ausgerechnet. Das sind Fakten, die in der Studie stehen. Jedes Mal stehen wir im letzten Drittel. Das ist für mich ein Skandal. Wenn Frau Queisser an der Stelle auf die Idee kommt, das auch noch loben zu wollen, dann ist das für mich nichts anderes als wirtschaftsliberales Gedankengut. Diesen Vorwurf habe ich immer vertreten, und davon habe ich nichts zurückzunehmen. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Schaaf, Sie haben Gelegenheit zur Reaktion.

Anton Schaaf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003623, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich habe im Zusammenhang mit der OECD-Studie beschrieben, wie beliebig Sie in Ihrer Argumentationsweise sind. Mal nutzen Sie das eine, mal das andere. Von der Qualität des Vortrages her war das nichts anderes als das, was der Herr Kollege Lafontaine vorher gemacht hat. Die OECD-Studie - Frau Dr. Queisser hat es klipp und klar gesagt - macht deutlich, dass wir uns auf den richtigen Weg gemacht haben. Sie haben ja durchaus recht, was die Bewertung angeht, was man in ungefähr 30 Jahren bei einem Bruttoverdienst von 1 000 Euro an Rente bekommen wird. Aber außer Acht gelassen hat diese OECD-Studie die enormen Anstrengungen, die wir unternommen haben, was die private und die betriebliche Vorsorge angeht. Wenn man diese Beträge dazurechnet, dann - das sagt auch die OECD-Studie klipp und klar - kommen wir auf das Niveau, das in Europa üblich ist. Von daher kann ich nur sagen: Wenn Sie etwas aus solchen Studien und Ähnlichem vortragen, dann tragen Sie das in Gänze vor und nicht selektiv, nicht wie Sie es gerade politisch brauchen können, um Menschen zu verunsichern. Wir haben uns da auf den richtigen Weg gemacht; da gibt es nichts zurückzunehmen. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Das Wort hat nun Kollege Max Straubinger, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Max Straubinger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002812, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, die heutige zweite und dritte Lesung zeigt sehr deutlich: Die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen sind sich ihrer sozialen Verantwortung bewusst und werden ihr gerecht. Sie haben deshalb die Rentenanpassung so erhöht, dass die Rentnerinnen und Rentner am Aufschwung teilnehmen können. Wenn das heute vielfältigst in Zweifel gezogen worden ist, so muss man auch die Maßstäbe darlegen: 1,4 Prozent durchschnittliche Lohnsteigerung im vergangenen Jahr bedeuten 1,1 Prozent Rentensteigerung ab dem 1. Juli dieses Jahres. Ich glaube, hier stimmt auch die Verhältnismäßigkeit. Man kann deutlich erkennen: Das Rentensystem folgt letztendlich auch der Entwicklung der Löhne. Das ist gut so, wie wir heute bereits feststellen konnten; denn über 25 Jahre hinweg haben sich die Löhne besser entwickelt als die Preissteigerungsraten. ({0}) Wichtig ist aber nicht nur, die Rentnerinnen und Rentner am wirtschaftlichen Aufschwung teilhaben zu lassen, sondern auch, das Ziel der Beitragssatzstabilität nicht aus dem Auge zu verlieren. Der Vorschlag, den wir heute in zweiter und dritter Lesung beraten, wurde auch in den Anhörungen bestätigt. Er sieht eine Beitragssatzstabilität von 20 Prozent bis zum Jahr 2020 und von 22 Prozent bis zum Jahr 2030 vor. Damit soll nicht nur Leistungsgerechtigkeit, sondern auch Beitragsgerechtigkeit gewährleistet werden, besonders für die betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Das Rentenkonzept, das es angeblich bei der Linken gibt, würde dazu führen, dass die Beitragszahler mit bis zu 28 Prozent belastet würden. ({1}) Angesichts der derzeitigen Höhe der Beiträge zur Krankenversicherung, zur Arbeitslosenversicherung, zur Pflegeversicherung und der Höhe der Steuerbelastung wäre dies eine ungeheure Belastung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben aber ein Recht darauf, netto mehr ausbezahlt zu bekommen. Meine Partei hat bereits das Konzept einer Steuerreform erarbeitet, mit dem die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die Leistungsträger in unserem Land entlastet werden. Die Linken wollen aber genau das Gegenteil. ({2}) Bei den Anhörungen hat sich gezeigt - auch das ist eine wichtige Botschaft für die Rentnerinnen und Rentner in Deutschland -, dass wir ein stabiles Rentensystem haben. Es ist weiterhin gewährleistet, dass sich die Renten wie die Löhne entwickeln. Vor allem können sich die Rentnerinnen und Rentner auf unser Rentensystem ob der guten wirtschaftlichen Entwicklung in den vergangenen Jahren, die es dank der Politik der Bundesregierung gab, verlassen. Die Arbeitslosenzahl wurde um 1,7 Millionen gesenkt. Es gibt 1,1 Millionen mehr sozialversicherungspflichtig Beschäftigte und damit Beitragszahler als beim Amtsantritt dieser Bundesregierung. Darüber hinaus wurde die Rücklage der Rentenversicherung auf knapp 12 Milliarden Euro erhöht. Im Jahr 2005 war noch ein Vorziehen des Bundeszuschusses notwendig, um die Renten im Dezember des betreffenden Jahres planmäßig auszahlen zu können. Die Bundesregierung hat erfolgreich die Wende in der Rentenpolitik geschafft. Es ist meines Erachtens sehr wichtig, darauf hinzuweisen. Herr Kollege Kolb, natürlich ist es entscheidend, notwendige Veränderungen immer wieder vorzunehmen. Ich bitte ausdrücklich darum, nicht immer von Manipulationen und vom Würfeln zu sprechen, ({3}) weil dies unserer Rentenpolitik - auch die in der Vergangenheit - in keiner Weise gerecht wird. In den letzten Jahren mussten einige notwendige Veränderungen im Rentensystem durchgeführt werden. Man muss sehen, dass man in der Rentenpolitik aufgrund neuer Gegebenheiten immer wieder Veränderungen herbeiführen muss. Unsere Rentenpolitik, die auf Dauer angelegt ist, sichert die Renten in Deutschland. Es bleibt dabei auch bei der Leistungsorientierung in der Rente. ({4}) Heute wurde bereits in vielfältiger Weise auf Anträge eingegangen. Besonders bemerkenswert ist das Vorgehen der Linken, immer mehr zu fordern, aber nie darzustellen, was dies an Belastungen für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bedeutet. ({5}) Der Kollege Lafontaine ist mir heute fast so vorgekommen wie der ehemalige Staatsratsvorsitzende Erich Honecker, ({6}) der zum 40-jährigen Bestehen des SED-Staates den Rentnerinnen und Rentnern in Ostdeutschland 330 Ostmark an Mindestrente zugesichert hat. Das ist sozusagen die Rentenpolitik der Linken, vormals PDS und SED. Dieser Tradition sind Sie heute noch verhaftet und wollen dementsprechend Rentenpolitik gestalten. Dies lehnen wir ab. ({7}) Ein weiterer Punkt. Kollege Lafontaine hat vieles vermengt. Er hat gefordert, dass sich das Wachstum der Volkswirtschaft in der Rente niederschlagen muss. Dieser Zuwachs zeigt sich in der Förderung der RiesterRente, Herr Kollege Lafontaine. Die Riester-Rente wird im Falle von Geringverdienern mit bis zu 80 Prozent gefördert. Das ist eine Leistung unserer Volkswirtschaft und der Steuerzahler in unserem Land. Diese Förderung ist ein Anreiz für die jungen Menschen, für das Alter zusätzlich vorzusorgen. ({8}) Es zeigt sich sehr deutlich: Wir haben mit dem heutigen Rentenanpassungsgesetz die bewährte Rentenpolitik der Vergangenheit fortgeführt. Ich bitte deshalb um Zustimmung. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Rentenanpassung 2008. Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9100, den Ge- setzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/8744 anzunehmen. Ich bitte diejeni- gen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen bei - wenn ich es richtig gese- hen habe - einigen Enthaltungen aus der CDU/CSU- Fraktion angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Dazu liegen schriftliche Erklä- rungen nach § 31 unserer Geschäftsordnung von 18 Kollegen vor1). Ich bitte nun diejenigen, die dem Ge- setzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer 1) Anlagen 4 und 5 stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der Fraktionen der FDP, der Linken und der Grünen bei einer Gegenstimme aus der CDU/ CSU-Fraktion und einer Enthaltung aus der CDU/CSUFraktion angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/9107. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke abgelehnt. Tagesordnungspunkt 5 b. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/9068 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 7 auf: Beratung des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({0}) gemäß § 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung - zu dem von den Abgeordneten Jens Ackermann, Dr. Karl Addicks, Christian Ahrendt und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Betäubungsmittelgesetzes und anderer Vorschriften - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Harald Terpe, Birgitt Bender, Elisabeth Scharfenberg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gesetzliche Voraussetzungen für heroingestützte Behandlung Schwerstabhängiger schaffen - zu dem Antrag der Abgeordneten Monika Knoche, Ulla Jelpke, Frank Spieth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Heroinmodell in die Regelversorgung überführen und Therapiefreiheit der Ärztinnen und Ärzte schützen - zu dem Antrag der Abgeordneten Detlef Parr, Daniel Bahr ({1}), Heinz Lanfermann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Kontrollierte Heroinabgabe in die Regelversorgung aufnehmen - Drucksachen 16/4696, 16/2075, 16/2503, 16/3840, 16/8886 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Martina Bunge Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Damit eröffne ich die Aussprache und erteile Kollegen Harald Terpe, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.

Dr. Harald Terpe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003854, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist empörend, was man beim Thema Heroinbehandlung in letzter Zeit erleben musste. Teile der Union blockieren nicht nur die Gesetzentwürfe der Opposition im Ausschuss. Sogar den vergleichbaren Gesetzentwurf aus dem Bundesrat blockieren sie aus rein ideologischer Borniertheit. Worum geht es? Es gibt eine Gruppe von Menschen in unserer Gesellschaft, die an einer schweren Erkrankung leiden. Sie sind heroinabhängig. Vielen dieser Menschen kann mittlerweile durch die Substitution mit Methadon verhältnismäßig erfolgreich geholfen werden. Es gibt aber das Problem, dass ein kleiner Teil der schwer Heroinabhängigen mit diesem Therapieangebot nicht mehr zu erreichen ist. Sie geraten immer stärker in den Teufelskreis aus Sucht, Krankheit, Kriminalität und Verelendung. Ihnen könnte eine zeitweilige therapeutische Heroingabe unter strengen Auflagen helfen, sich aus dem Drogenelend zu befreien. Das belegen sowohl internationale Erfahrungen als auch besonders eine in Deutschland durchgeführte und von der Bundesregierung finanzierte Arzneimittelstudie nebst Begleitforschung. Die Rede ist vom sogenannten Modellprojekt zur heroingestützten Behandlung Opiatabhängiger. Die überwiegende Mehrheit der Abgeordneten dieses Hauses - Abgeordnete aus der Opposition und der SPD und übrigens auch Abgeordnete aus der Unionsfraktion -, der Bundesrat, die Mehrheit der Ministerpräsidenten, sämtliche Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker der beteiligten Städte, die meisten Verbände und Experten sowie die Gewerkschaft der Polizei befürworten nach den Ergebnissen des Modellversuches und ihren eigenen positiven Erfahrungen die Einführung der Heroinbehandlung für schwer Opiatabhängige. Es geht nicht um die Legalisierung von Heroin, Herr Kollege Spahn. Es geht schlichtweg darum, einer kleinen Gruppe schwerstopiatabhängiger Menschen gesetzlich geregelt eine letzte Chance zu geben, damit sie wieder eine Wohnung und einen Job suchen, ihr soziales Leben stabilisieren sowie ihre oft zahlreichen Krankheiten und Infektionen behandeln können. So kommen sie aus ihrem Elend raus. Wenn diese Tür versperrt wird, führt der Weg zurück in die Drogenszene. Dann tragen Sie von der Union die Verantwortung für die Zukunft dieser Menschen. Welche Zukunft das ist, kann man im aktuellen Bericht der Drogenbeauftragten der Bundesregierung, Frau Bätzing, nachlesen: Die Zahl der Drogentoten - lange auf einem hohen Niveau - steigt wieder an. Herr Spahn hat die Fortsetzung des jetzigen Modellprojekts einmal als guten Kompromiss bezeichnet. Das ist blanke Heuchelei angesichts der Tatsache, dass sich der Bund aus der Finanzierung zurückzieht. Wir wissen nicht nur, dass die Kommunen mit dem Problem der Schwerstabhängigen finanziell alleingelassen werden, sondern auch, dass die Union mit ihrer Blockadehaltung das Ziel verfolgt, die Sache so lange auszusitzen, bis niemand mehr danach fragt. Die Leidtragenden sind die Schwerstopiatabhängigen. Mit Ausnahme der Vertreter der Spitzenverbände der Krankenkassen haben in der Anhörung alle darauf hingewiesen, dass die gesundheitsökonomischen und volkswirtschaftlichen Auswirkungen der Herointherapie positiv zu bewerten sind. Dennoch ziehen Sie von der Union durchs Land und behaupten das Gegenteil. Albert Schweitzer hat einmal gesagt: Humanität besteht darin, dass niemals ein Mensch einem Zweck geopfert wird. Sie opfern diese Menschen ihren ausschließlich ideologisch motivierten Vorbehalten. Das ist inhuman. ({0}) Blockade von Oppositionsanträgen ist in diesem Haus Sitte, aber ich bitte Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, trotzdem eindringlich darum, den Gesetzentwurf des Bundesrates nicht länger zu blockieren. Sie tun das nicht für mich, die Opposition oder den Bundesrat. Sie tun das für Menschen, die sonst keine Chance im Leben mehr haben. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich gebe das Wort der Kollegin Maria Eichhorn, CDU/CSU-Fraktion.

Maria Eichhorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000449, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In Deutschland leben zurzeit schätzungsweise 140 000 Opiatabhängige. Die meisten von ihnen konsumieren Heroin. Diese Menschen können sich aus ihrer Sucht nicht mehr selbst befreien. Sie sind auf unsere Hilfe angewiesen. Herr Terpe, Sie sprachen gerade von Blockade. Bei der Behandlung dieser Problematik geht es aber nicht um Blockade. Es gibt schlicht und einfach unterschiedliche Meinungen zu diesem Thema. Ich denke, in einer Demokratie muss es möglich sein, unterschiedliche Meinungen zu äußern und auszuhalten. Ziel aller Behandlungsmaßnahmen muss es sein, möglichst viele der Abhängigen in das bestehende Behandlungssystem zu integrieren, um ihren Gesundheitszustand zu stabilisieren und sie langfristig von ihrer Sucht zu befreien. Stabilisierung und Abstinenz sind zwei Seiten derselben Medaille, nicht nur für die CDU/ CSU-Bundestagsfraktion, sondern auch für viele Fachleute, und oberste Maxime jeder Substitutionsbehandlung. ({0}) Das gilt auch für die Behandlung mit Methadon, von der in Deutschland 62 000 Patienten profitieren. Diese Ausstiegsorientierung spielt bei der Diamorphinsubstitution jedoch keine Rolle. Der 1998 von der rot-grünen Bundesregierung vereinbarte Modellversuch hatte die Aufgabe, die Wirkung der Heroin- bzw. Methadonbehandlung zu vergleichen, jedoch nur im Hinblick auf die Verbesserung des Gesundheitszustands und den Rückgang des illegalen Drogenkonsums. Die Ergebnisse des Modellprojektes lassen nach unserer Meinung keinen sicheren Schluss auf die Überlegenheit der Heroinsubstitution zu. Dieser Ansicht sind übrigens nicht nur wir, sondern auch viele Fachleute. ({1}) Unsere wichtigsten Kritikpunkte lauten: In der Gruppe der Heroinpatienten ergab sich bei 80 Prozent eine Verbesserung des Gesundheitszustandes, in der Methadongruppe bei 74 Prozent. Das ist zwar statistisch signifikant, aber dieser Unterschied beruht nach Meinung vieler Fachleute auf der unterschiedlichen Erwartungshaltung. So traten bei vielen Heroinpatienten bereits vor Studienbeginn nur aufgrund der Erwartung der Behandlung Verbesserungen des Gesundheitszustandes auf. Besorgniserregend sind die Ergebnisse der Studie im Hinblick auf das Auftreten medizinischer Komplikationen, die übrigens bei der Anhörung bestätigt wurden. Von Atemdepression waren 23 Heroinpatienten betroffen, jedoch nur ein Methadonpatient. Krampfanfälle traten bei 63 Heroinpatienten auf, aber nur bei einem Methadonpatienten. Schwere allergische Reaktionen betrafen 7 Heroinpatienten, jedoch keinen Methadonpatienten. Hier handelt es sich nicht mehr um nur statistisch signifikante Unterschiede. Die Heroinbehandlung birgt weitaus größere gesundheitliche Risiken als die Behandlung mit Methadon. Wenn die Rede davon ist, dass wir Menschenleben retten wollen, dann dürfen wir diese Zahlen nicht aus den Augen verlieren. Der Rückgang des illegalen Drogenkonsums war bei den Patienten, die Heroin bekamen, zwangsläufig höher als bei den Methadonpatienten. Bei rund einem Drittel der Heroinpatienten änderte sich das Konsumverhalten trotz Heroinvergabe nicht. ({2}) Es wurden weiterhin illegale Drogen wie Kokain, aber auch Heroin konsumiert. Von einem Erfolg der Behandlung kann in diesem Punkt nicht gesprochen werden. ({3}) Begleitende Spezialstudien untersuchten unter anderem gesundheitsökonomische Effekte und die Kriminalitätsentwicklung. Es ging um die Kostenersparnisse der Heroinbehandlung in den Bereichen Delinquenz, Anklagen vor Gericht und volkswirtschaftlicher Produktivitätsgewinn. Positive Entwicklungen in diesen Bereichen werden immer als großer Erfolg dargestellt. Sie sind allerdings nicht verwunderlich. Denn wer Heroin legal bekommt, muss es nicht mehr illegal beschaffen. Zwangsläufig sinkt dann die Kriminalitätsrate. Dem gegenüber stehen die hohen Behandlungskosten der Heroinsubstitution. Für die Heroinpatienten wurden pro Patient und Jahr 18 060 Euro ausgegeben. Das ist dreimal mehr als für die Methadonsubstitutierten mit 6 147 Euro. ({4}) In Zeiten knapper Kassen können wir unseren Mitbürgern nicht zumuten, die Kosten für ein zusätzliches Behandlungssystem aufzubringen, dessen Nutzen nicht erwiesen ist. ({5}) Ohne feste Orientierung auf den Ausstieg ist die Behandlungsdauer zudem völlig offen. Die Ergebnisse des Modellprojektes sind für uns alles andere als überzeugend. ({6}) Es gibt viele medizinische, sozialpolitische und sicherheitspolitische Aspekte, die ungeklärt sind. Deswegen hat sich unsere Fraktion mehrheitlich gegen eine Überführung der heroingestützten Behandlung in die Regelversorgung ausgesprochen. Stattdessen sollte die Heroinbehandlung im Rahmen eines neuen Modellvorhabens mit dem Ziel weitergeführt werden, neue Erkenntnisse zu erlangen und die angesprochenen offenen Fragen zu klären. Dazu zählt beispielsweise die Frage der Abstinenzorientierung. Denn nur 8 Prozent der Patienten konnten im Rahmen des Modellversuchs in eine Abstinenztherapie überführt werden. ({7}) Damit ist auch noch nicht geklärt, ob diese erfolgreich war. Es wird ja immer gesagt, es seien nur ganz wenige Patienten betroffen. Wer an der Anhörung teilgenommen hat, der hat gehört, dass die Fachleute von bis zu 80 000 Betroffenen sprachen. Ich frage Sie: Ist das eine geringe Zahl von Patienten? Es geht also nicht um eine kleine Gruppe von Patienten, wie Herr Terpe gesagt hat, sondern es könnte sich um eine große Zahl von Betroffenen handeln. Meine Damen und Herren, die Heroinbehandlung ist nicht ohne Alternative. ({8}) Viele Sachverständige vertreten die Auffassung, dass Umfang und Ausmaß der psychosozialen Betreuung für den Behandlungserfolg entscheidend sind. ({9}) Durch eine Intensivierung und Verbreiterung der psychosozialen Betreuung bei der Methadonsubstitution wären, so sagen die Fachleute, ähnlich gute Ergebnisse wie im Modellvorhaben mit Heroin zu erreichen. In Anbetracht dessen stellt sich die Frage, wie man die vorhandenen Mittel so einsetzt, dass möglichst vielen Menschen geholfen werden kann; denn darum geht es letztlich. ({10}) In der Schweiz werden zwei Drittel der Opiatabhängigen durch die Methadonsubstitution erreicht, in Deutschland wird nur die Hälfte dieser Gruppe erreicht. Dies zeigt, dass die Methadonbehandlung in der Bundesrepublik ausbaufähig ist. Da Sie, Herr Terpe, die zunehmende Zahl der Drogentoten angesprochen haben, möchte ich Sie darauf hinweisen: Sie sollten auch sagen, dass im Suchtbericht der Bundesregierung ganz eindeutig steht, dass die Ursache dafür nicht geklärt ist. Es ist lediglich davon die Rede, dass die Zahl der Drogentoten zugenommen hat, mehr nicht. Die Ursache für diese Entwicklung muss geklärt werden; das ist richtig. Sie können aber nicht behaupten, dass diese Entwicklung auf die fehlende Heroinsubstitution zurückzuführen sei. Die Opposition hat vielfach betont, dass, was die von ihr vorgelegten Anträge angeht, besondere Eile geboten sei und dass die Weiterbehandlung der Patienten nur durch eine gesetzliche Überführung in die Regelversorgung sichergestellt werden könne. Davon kann keine Rede sein. Dies bestätigt auch ein Schreiben der Parlamentarischen Staatssekretärin im Bundesgesundheitsministerium, Frau Caspers-Merck. Darin heißt es, dass die Versorgung der bisherigen Heroinpatienten durch die Finanzierung der Städte gesichert ist. ({11}) Der Anteil der Bundesförderung ist mit 10 Prozent, gemessen an den gesamten Behandlungskosten, ohnehin gering. ({12}) Die Patienten werden seit Ende des Modellprojekts auf Basis einer Ausnahmeerlaubnis weiter mit Diamorphin versorgt. Karlsruhe, Köln und Frankfurt haben zudem Genehmigungen für die Aufnahme neuer Patienten bekommen; das wissen Sie. ({13}) Ihre Behandlung ist also trotz unterschiedlicher Ansichten in diesem Hause sichergestellt. Die Diamorphinbehandlung kann in den bestehenden Ambulanzen auch ohne Gesetzesänderung fortgeführt werden. Für die Patienten ändert sich nichts. Jeder, der Hilfe braucht, wird sie auch in Zukunft erhalten. ({14})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Für die FDP-Fraktion gebe ich das Wort dem Kollegen Detlef Parr. ({0})

Detlef Parr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001676, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Verschieben, vertagen und auf Zeit setzen, das, Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen, prägt seit dem Sommer 2006, also seit fast zwei Jahren, diese parlamentarische Debatte. Fast zwei Jahre lässt die Bundesregierung Schwerstabhängige im Stich, lässt sie engagierte Städte und Gemeinden allein, betreibt sie eine Sucht- und Drogenpolitik von vorgestern ({0}) und verfolgt sie eine Ideologie zulasten notleidender Menschen. Das ist ein beschämendes Schauspiel. ({1}) Zwischen der praktischen Politik vor Ort und der Politik zweifelhafter Prinzipien unter dieser Glaskuppel liegen Welten. Es ist traurig, dass wir sogar die Geschäftsordnung bemühen mussten, um heute hier im Plenum überhaupt eine öffentliche Debatte über dieses Thema führen zu können. Meine Damen und Herren, die Ergebnisse des Modellversuchs verlangen mehr als einen faulen Kompromiss aus Fristverlängerungen und Ausnahmeregelungen. In den Metropolen Hamburg und München endet die Erlaubnis zur Weiterbehandlung der im Modellversuch befindlichen Patientinnen und Patienten in gut sieben Wochen. Die Bundesförderung ist bereits seit zwei Monaten ausgelaufen. Das ist ein unhaltbarer Zustand. ({2}) Dazu heißt es im soeben vorgelegten Sucht- und Drogenbericht der Bundesregierung lapidar - Zitat -: Die Dokumentation und das Monitoring der diamorphingestützten Behandlung in Deutschland sollen jedoch weiterhin durch den Bund gefördert werden, damit im Sinne der Qualitätssicherung eine Verlaufskontrolle der Behandlung erfolgt, die Durchführungsstandards und Behandlungseffekte einschließt. Wie großzügig! Das ist alles, was die CDU/CSU noch zulässt: die seelenlose Verwaltung eines Projekts anstelle einer berechenbaren Hilfe für alle Schwerstabhängigen auf einer sicheren Rechtsgrundlage. ({3}) Man muss dies vor dem Hintergrund betrachten, dass bei einer Anhörung vor acht Monaten von den beteiligten Städten Hamburg, München, Frankfurt, Köln, Hannover, Bonn und Karlsruhe eindrucksvoll belegt wurde, welch segensreiche Wirkung die diamorphingestützte Behandlung bei schwer Opiatabhängigen entfaltet, bei einer kleinen Gruppe von Menschen, bei denen eine herkömmliche Substitutionsbehandlung nicht erfolgreich verläuft, die von anderen Maßnahmen der Suchtbehandlung gar nicht mehr erreicht wird, bei einer Gruppe von Langzeitabhängigen, deren Alter über zehn Jahre höher als das des durchschnittlichen Drogenabhängigen in Deutschland ist, von Schwerstbetroffenen, für die es oft nur noch ums nackte Überleben geht. Erst vor drei Tagen - Harald Terpe hat darauf hingewiesen - stellte die Bundesregierung in einer Presseerklärung fest, dass es bei Heroinkonsumenten im Jahr 2007 leider eine Trendwende gegeben hat: Die Zahl der Drogentoten ist im Jahr 2007 im Vergleich zum Vorjahr um 7,6 Prozent gestiegen; es verstarben 1 394 Menschen an den Folgen des Konsums illegaler Drogen; 2006 waren es noch 1 296 Menschen. Es ist richtig, Frau Eichhorn: Eine klare Ursache für diese Entwicklung kann noch nicht benannt werden, weil die Auswertungsergebnisse noch nicht vorliegen. Eine mögliche Ursache - hören Sie jetzt genau zu! - könnte die veränderte Altersstruktur bei den Abhängigen sein, die inzwischen älter geworden sind und bei denen der körperliche Verfall voranschreitet. Aber auch die private und berufliche Perspektivlosigkeit von Heroinabhängigen können drogenbedingte Todesfälle begünstigen. Wie können uns in diesem Hause eigentlich solche Schicksale kaltlassen? ({4}) Es wirkt fast zynisch, wenn im Sucht- und Drogenbericht, der auch von der Union als Regierungspartner getragen wird, von vier Säulen die Rede ist, von denen eine die Überlebenshilfe ist. Ist es nicht Überlebenshilfe, wenn bei den Probanden die Zahl der regelmäßig arbeitenden um 11 Prozent auf 27 Prozent steigt, wenn die Beschaffungskriminalität sinkt, wenn der Zwang zur Prostitution abnimmt und wenn die Delinquenzrate innerhalb eines Jahres von etwa 70 Prozent auf 27 Prozent zurückgeht? Das hat auch der Bundesrat so gesehen und mit deutlicher Mehrheit eine entsprechende Initiative in den Bundestag eingebracht. Wir haben gemeinsam mit den Grünen und den Linken einen Gesetzentwurf erarbeitet, der auch von vielen Mitgliedern der SPD-Fraktion ({5}) und von Teilen der Union inhaltlich unterstützt wird. Es gibt also eine Mehrheit in diesem Hause, die die notwendige Gesetzesänderung will. ({6}) Es ist unseren Besuchern auf der Tribüne und der Öffentlichkeit nicht zu erklären, dass Koalitionsdisziplin mehr wert sein soll als eine Bundestagsmehrheit. Das ist verkehrte Demokratie. ({7}) Da es hier um Überlebensschicksale geht, empfinde ich die Entscheidung als Gewissensentscheidung. Deshalb appelliere ich an die Union: Geben Sie die Abstimmung frei. Die Betroffenen und ihr Umfeld werden es uns danken. Ich danke Ihnen fürs Zuhören. ({8})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Sabine Bätzing. ({0}) Sabine Bätzing, Drogenbeauftragte der Bundesregierung: Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte die Aussprache für eine sachliche, nüchterne und faktenorientierte Information zur Diamorphinbehandlung nutzen. ({1}) - Das ist richtig. - Dank des beachtlichen finanziellen Engagements von sieben Städten, vier Ländern und des Bundes findet in Deutschland eine Diamorphinbehandlung statt, die als weltweit anerkannte Arzneimittelstudie begonnen wurde. ({2}) Die Ergebnisse sind inzwischen in international renommierten Fachzeitschriften publiziert worden. Mit diesen Veröffentlichungen wurden die Ergebnisse in die international grundlegende Datenbank für evidenzbasierte Studien aufgenommen. Damit sind meiner Meinung nach alle Zweifel an der wissenschaftlichen Qualität der Studie ausgeräumt. ({3}) Über was reden wir hier eigentlich? Wir sprechen hier über eine medizinisch fundierte Behandlungsform für Schwerstopiatabhängige. Diese Menschen sind nicht irgendwie in den Teufelskreis der Abhängigkeit geraten, diese Menschen sind in ihrer Kindheit und Jugend stark vernachlässigt, schwer misshandelt oder sogar sexuell missbraucht worden. Drogen sind für diese Menschen ein Mittel, um diese quälenden Erlebnisse und Erinnerungen ertragen zu können. Es kostet diese Menschen immense Kraft, ihre seelischen und körperlichen Schmerzen zu überwinden und ein abstinentes Leben zu führen. Sabine Bätzing, Drogenbeauftragte der Bundesregierung Umso erstaunlicher sind die Ergebnisse der Diamorphinbehandlung: 12,6 Prozent der Patienten, die ihre Behandlung regulär beendeten, begannen entweder mit einer Abstinenztherapie oder schafften es ohne weitere Hilfe, abstinent zu leben. Fast 13 Prozent Abstinenzquote, und das, obwohl sich die Experten einig sind, dass Schwerstopiatabhängigkeit eine chronische Krankheit ist. Manche Kollegen glauben, dass sich die nachgewiesenen signifikanten Unterschiede zwischen Methadonund Diamorphinsubstitution ausgleichen würden, wenn man die bisherige Substitution ausbaute. Davor möchte ich warnen. Wer das glaubt, vergleicht Äpfel mit Birnen; denn Diamorphin erhalten nur die Menschen, die mit der bisherigen Substitution nicht fachgerecht behandelt werden konnten. ({4}) Der unionsdominierte Bundesrat hat aus den Erfolgen der Diamorphinbehandlung die richtige Schlussfolgerung gezogen und mit der überwältigenden Mehrheit von 13 Ländern einen Gesetzentwurf zur diamorphingestützten Behandlung beschlossen. In ihrer Stellungnahme zu diesem Gesetzentwurf geht die Bundesregierung davon aus, dass unter anderem der Grundsatz der Ausstiegsorientierung noch geklärt werden muss. Kolleginnen und Kollegen, ich bin der Auffassung, dass sich mit den von mir genannten neuen Zahlen auch diese Klärung eigentlich erledigt hat. ({5}) Ausstieg und Abstinenz sind anscheinend auch bei schwerer Opiatabhängigkeit möglich, wenn auch nicht die Regel. Deswegen fragen wir uns: Konnte die Diamorphinbehandlung den Zustand derjenigen Patienten, die erwartungsgemäß in der Behandlung geblieben sind, verbessern? Ja, die Diamorphinbehandlung war und ist erfolgreich. So ging zum Beispiel das riskante Konsumverhalten, wie das gemeinsame Benutzen von Spritzbesteck bezeichnet wird, quasi auf null zurück. Der gesundheitliche und psychische Zustand der Patienten hat sich zu Beginn der Behandlung deutlich verbessert und stabilisiert. Auch ihre soziale Situation ist deutlich besser geworden: Der Anteil der arbeitsfähigen Patienten, die Arbeit fanden, stieg von 29 Prozent auf 68 Prozent. Die Verwicklung in illegale Geschäfte sank von über 67 Prozent zu Beginn der Studie auf nun 7 Prozent. Mein Fazit lautet: Die Diamorphinbehandlung ist erfolgreich bei den Schwerstopiatabhängigen, denen mit den bisherigen Therapien nicht ausreichend geholfen werden konnte. ({6}) Kolleginnen und Kollegen, noch erhalten die Betroffenen in den sieben Städten ihr Diamorphin; aber die Kostenbelastung für die Kommunen ist enorm. Was passiert, wenn die Behandlung aus finanziellen Gründen eingestellt werden muss? Wer übernimmt dann die Verantwortung für das Schicksal der Patientinnen und Patienten? Gerade wir Parlamentarier müssen vorbeugend handeln. Konkret heißt das, über den guten Gesetzentwurf des Bundesrates zu beraten und ihn zu verabschieden, damit eine Regelversorgung mit Diamorphin ermöglicht wird. In der Stellungnahme der Bundesregierung sind weitere offene Fragen aufgeführt. Ich appelliere deswegen an die Kolleginnen und Kollegen vor allem der CDU/ CSU-Fraktion, im Rahmen der parlamentarischen Beratung die noch offenen Fragen gemeinsam konstruktiv zu klären, damit wir den betroffenen Schwerstabhängigen endlich eine wirksame Überlebenshilfe bieten können. Die Diamorphinbehandlung ist nämlich - das hören wir aus den Reihen der CDU, vor allen Dingen aber aus den Reihen der Kirchen - ein zutiefst christliches Projekt, weil sie Leben retten kann. Danke schön. ({7})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich gebe das Wort der Kollegin Monika Knoche, Fraktion Die Linke.

Monika Knoche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002701, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Ich muss schon sagen, Frau Kollegin: Es ist nahezu beispiellos, mit welcher Chuzpe Sie sich hier für die CDU/CSU gegen jede Wahrhaftigkeit in der Argumentation verweigern, schwerkranken Menschen die notwendige medizinische Hilfe zu gewähren. Ich finde das beispiellos und auch skrupellos. ({0}) Angesichts der Tatsache, dass es kein arzneimittelrechtliches und kein medizinethisches Argument gibt, das auf Ihrer Seite steht, kann ich nur sagen: Es sind Ihre ideologischen Scheuklappen, von denen Sie sich leiten lassen und die zum Ergebnis haben, dass einem Teil der heroinabhängigen Menschen das Recht abgesprochen wird, nach dem neuesten Stand der Wissenschaft und ärztlichen Kunst therapiert zu werden. Das sind die Fakten, über die wir sprechen. ({1})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin Knoche, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Spahn?

Monika Knoche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002701, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Nein, Herrn Spahn gebe ich jetzt bewusst keine Gelegenheit. ({0}) Es geht um nichts anderes als darum, Diamorphin als ein neues Medikament zuzulassen, damit Abhängigen, denen anders nicht geholfen werden kann, eine wirksame Therapie zuteil wird. Selten - das muss ich betonen - gab es eine so intensive, über fast zehn Jahre währende fachliche Beratung über eine Gesetzesänderung in diesem Haus. Es wurde extra eine wissenschaftliche Studie durchgeführt, um dieses neue Medikament zu prüfen und mit dem Vorhandenen zu vergleichen. Das Ergebnis liegt vor: Diamorphin hilft nachweislich auf allen gesundheits- und sozial relevanten Gebieten. Es hilft diesen Menschen, ein Leben in Würde und frei von Kriminalität zu führen. Das müssen wir ganz hoch respektieren. Haben Sie Respekt vor diesen Menschen und vor der großen Leistung, die sie individuell erbringen! Manche finden sogar den Weg in die Abstinenz. Wie können Sie darüber hinweggehen? ({1}) Ich frage: Sind Sie bereit, zu akzeptieren, dass viele dieser schwerkranken Menschen einen vermeidbaren frühzeitigen Tod sterben, wenn diese Therapie nicht etabliert wird? Uns als Politikerinnen und Politiker steht diese Entscheidung über Lebensperspektiven anderer nicht zu. Es steht uns auch nicht zu, mit Kostenargumenten dagegenzuhalten. Jedes individuelle Leben ist es wert, geschützt zu werden. Das sollten Sie als Christdemokraten doch wissen. ({2}) Dieser Gesetzentwurf wird von der Bundesärztekammer, von den Suchtexperten, von den Bundesländern und von den Städten und Gemeinden getragen. Ich weiß, worüber ich rede. Ich habe das Projekt in Karlsruhe mit initiiert. Sie gehen hier sogar gegen den Rat Ihrer eigenen Oberbürgermeisterin vor und verweigern, dass das Parlament endlich eine Entscheidung treffen kann. Um was geht es? Sie betreiben eine Obstruktionspolitik im Gesundheitsausschuss und verweigern sich, sodass wir nach der Expertenanhörung keinen Beschluss fassen konnten, um hier im Deutschen Bundestag ein Gesetz zu erlassen. Gemeinsam mit der FDP und den Grünen haben wir Linken hier einen Gesetzentwurf vorgelegt, der deckungsgleich mit den Interessen des Bundesrates ist. Die SPD spricht mit großer Überzeugung davon, dass sie dieses Projekt durchführen will. Es gibt keinen Koalitionsvertrag, durch den irgendjemand daran gehindert wird, nach bestem Wissen und Gewissen zu entscheiden. Es gibt auch keine Koalitionsvereinbarung, wonach dieses Projekt verhindert werden soll. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ich sage das ganz ehrlich: Springen Sie an dieser Stelle und nabeln Sie sich von der CDU/CSU ab! Gehen Sie diesen Schritt mit uns gemeinsam! Die betroffenen Menschen und ihre Angehörigen, die die große Hoffnung in uns setzen, dass wir in der Politik endlich die Ideologie und Parteibücher beiseiteschieben und das tun, was für diese kranken Menschen notwendig ist, werden es Ihnen danken. Danke schön. ({3})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort zu einer Kurzintervention gebe ich dem Kollegen Spahn. ({0})

Jens Spahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003638, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Knoche, weil Sie mir nicht die Gelegenheit gegeben haben, eine Zwischenfrage zu stellen, beginne ich mit einer Frage. Wenn Sie schon behaupten, hier sei nicht wahrhaftig gesprochen worden, dann wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie mir genau belegen könnten, welche Daten der Kollegin Eichhorn nicht wahr sind. Wenn Sie eine solche Behauptung aufstellen, dann müssen Sie auch sagen können, welche Angaben nicht wahr waren. Es ist nicht redlich, einfach eine derartige Behauptung in den Raum zu stellen. Des Weiteren - das gilt auch für andere Kollegen bringen Sie immer wieder den Vorwurf der Ideologie vor. Auch wenn man in der Sache zu einer anderen Bewertung kommt als Sie und Nachfragen an die bereits aufgezeigten Ergebnisse dieser Studie hat - etwa was die Abstinenzorientierung, die Zahlen usw. angeht -, sollten Sie sich auf eine sachliche Diskussion einlassen, statt den Vorwurf der Ideologie wie einen Hammer einzusetzen. Ich würde Ihre Aufregung verstehen, wenn es derzeit in Deutschland keine Alternativbehandlung Heroinsüchtiger gäbe. Es gibt aber die Alternative der Methadonbehandlung. ({0}) Deswegen sollten Sie nicht so tun, als gäbe es keine Alternative zu dem, was Sie fordern. ({1}) Was die Methadonbehandlung angeht, wäre vielleicht zu prüfen, ob es nicht einer besseren psychosozialen Betreuung bedarf, weil die Länder und insbesondere die Kommunen in letzter Zeit vieles in diesem Bereich zurückgefahren haben. Bei einer ähnlichen Tagesstruktur wie bei der Heroinbehandlung, bei der man dreimal am Tag eine entsprechende Stelle aufsuchen muss, gäbe es sicherlich andere Ergebnisse. Wenn es Ihnen ein so großes Anliegen ist, Frau Kollegin Bätzing, dann stelle ich mir die Frage, warum Sie sich nicht bereit erklären, unseren Weg mitzugehen, wenn wir das Angebot machen, das auch von den Städten, von denen schon mehrfach die Rede war, begrüßt und aufgegriffen wurde, nämlich die Studie fortzusetzen und gemeinsam Möglichkeiten zu suchen, wie Bundesmittel zur Verfügung gestellt werden können, um die offenen Fragen zur Abstinenzorientierung, zum Beikonsum etc. zu prüfen und sowohl den Städten als auch den Menschen zu helfen und - das ist das Entscheidende neue Erkenntnisse zu gewinnen. Diesem Weg, der auch in Ihrem Interesse sein müsste, verweigern Sie sich aber. ({2})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin Knoche.

Monika Knoche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002701, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Darauf kann ich Ihnen in aller Ruhe antworten. Da ich selber Mitglied der damaligen Regierungsfraktion war, die dieses Modellprojekt ins Leben gerufen hat, bin ich sehr gut über die Kriterien für dieses Projekt informiert. Ich bin auch eine engagierte Vertreterin der psychosozialen Betreuung, die aber - das müssen Sie zur Kenntnis nehmen - bei der Methadon- und der Heroinsubstitution in gleicher Weise ausgeprägt ist. ({0}) Hier kann man keine Differenzen ausmachen. Heute geht es im Grunde um eine arzneimittelrechtliche Frage, ({1}) wie sie sich auch bei Diabetespräparaten, Psychopharmaka oder anderen Präparaten stellt. Die Frage ist, ob Heroin bei einem bestimmten erkrankten Personenkreis besser geeignet ist, Therapieerfolge zu erzielen, als das vergleichbare Präparat Methadon. Dieser Nachweis wurde in der Studie geführt. Keine der von Ihnen, Frau Eichhorn, vorgebrachten Äußerungen betrifft die Wissenschaftlichkeit dieser Studie oder zieht die Studie in Zweifel. ({2}) Wir als Gesetzgeber müssen die Voraussetzung schaffen, dass das BfArM dieses Medikament zulassen kann, da das Betäubungsmittelgesetz Heroin nicht als Medikament zulässt. Die Ärzte werden dadurch Therapiefreiheit erhalten, um zu entscheiden, welche Substitution oder Abstinenztherapie für welche Patientinnen und Patienten geeignet ist. Es ist eine rein medizinische, arzneimittelrechtliche Frage, die es zu entscheiden gilt. Es hat nichts damit zu tun, ob ich einer Abstinenzorientierung oder einer Substitutionsorientierung zugetan bin. Es geht um eine ganz andere Frage. Das scheint Ihnen nicht klar zu sein. ({3})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist Dr. Margrit Spielmann, SPDFraktion. ({0})

Dr. Margrit Spielmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003238, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich hoffe sehr, dass die Diskussion, die wir heute angeschoben haben - eigentlich haben wir das schon seit zwei Jahren mit Ihnen in den Ausschüssen oder Arbeitsgruppen vor -, dazu führt, dass wir auch in Zukunft sachlich, konstruktiv und ergebnisorientiert miteinander umgehen. Mir und auch meiner Fraktion ist es völlig unverständlich, dass Sie die eindeutigen Ergebnisse - sie wurden von Frau Bätzing vorgetragen - nicht wahrhaben wollen und immer noch Diskussionsbedarf anmelden. Alle mit dem Thema „diamorphingestützte Substitutionstherapie“ befassten Gruppen - seien es Ärzte, Sozialarbeiter oder Betroffene - fordern die weitere Vergabe an Schwerstabhängige. Alle sind davon überzeugt, dass sich mit dieser Therapieform nachweislich die besten Ergebnisse erzielen lassen. Die unionsregierten Länder Hamburg, Hessen, Niedersachsen und NordrheinWestfalen fordern die Diamorphinabgabe. Unionsbürgermeister aus Hamburg, Frankfurt und Karlsruhe, die Modellprojekte in ihren Städten haben, sind längst vom Erfolg überzeugt. Ich frage Sie, Frau Eichhorn: Warum sind Sie es nicht? ({0}) Betroffene und ihre Angehörigen werfen Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, zu Recht vor, Entscheidungen vor dem Hintergrund ideologischer Überzeugungen - das wurde schon gesagt - zu fällen und damit - so meine ich - vor gesellschaftlichen Realitäten und persönlichen Schicksalen die Augen zu verschließen. Ich frage Sie: Kann man eigentlich die Realität in unserem Land wirklich so ignorieren? Ich denke, dass wir uns das gar nicht leisten können. ({1}) Deshalb unterstützt die SPD-Bundestagsfraktion als logische Konsequenz aus den Ergebnissen des Modellprojektes den Gesetzentwurf des Bundesrates. Damit liegt ein Konzept für einen gangbaren Weg vor. Der Gesetzentwurf beruht im Wesentlichen auf den Ergebnissen einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe, an der auch die CDU/ CSU beteiligt war. ({2}) Dieser Gesetzentwurf enthält Regelungen, die den rechtlichen Rahmen für die Überführung der diamorphingestützten Therapie Schwerstopiatabhängiger in die Regelversorgung bilden. Ich fasse zusammen: Wir fordern, dass Diamorphin als verschreibungsfähiges Betäubungsmittel eingestuft wird und damit eine ausreichende Regelung geschaffen wird, gemäß der Diamorphin zur Behandlung verwendet werden kann. Wir fordern, dass das Betäubungsmittelgesetz, die Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung und das Arzneimittelgesetz entsprechend ergänzt und geändert werden, Frau Knoche. Wir fordern, dass die Diamorphinsubstitution nur bei Schwerstopiatabhängigen Anwendung findet, die von anderen Therapieformen nicht erreicht werden können. Diamorphin soll unter strengen Auflagen und ärztlicher Kontrolle vergeben werden. Wir wollen, dass am gesetzlich festgelegten Ziel jeder Substitutionsbehandlung, nämlich an der Wiederherstellung der Betäubungsmittelabstinenz sowie der Besserung und Stabilisierung des Gesundheitszustandes, festgehalten wird. Das soll ohne Einschränkung auch für die diamorphingestützte Substitutionsbehandlung Schwerstopiatabhängiger gelten. ({3})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 6: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Jugendschutzgesetzes - Drucksache 16/8546 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0}) - Drucksache 16/9024 Berichterstattung: Abgeordnete Antje Blumenthal Miriam Gruß Elke Reinke Hierzu liegt uns jeweils ein Entschließungsantrag der Fraktion der FDP und von Bündnis 90/Die Grünen vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Antje Blumenthal, CDU/CSU-Fraktion. ({1})

Antje Blumenthal (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003480, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Schau hin, was Deine Kinder sehen!“ heißt es in einer Kampagne, die vom Bundesfamilienministerium gemeinsam mit ARD und ZDF -

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin Blumenthal, einen Augenblick, bitte. Ich bitte die FDP-Fraktion, ihre Gespräche anderweitig fortzusetzen.

Antje Blumenthal (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003480, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Vielleicht sollte ich lieber sagen: Hört hin! Ich beginne noch einmal. „Schau hin, was Deine Kinder sehen“ heißt es in einer Kampagne, die vom Bundesfamilienministerium gemeinsam mit ARD und ZDF ins Leben gerufen worden ist. Schau hin, was deine Kinder am Rechner und an der Konsole spielen! Das möchte ich den Eltern zurufen; denn es ist die Pflicht und das Recht der Eltern, den Medienkonsum ihrer Kinder zu begleiten und zu kontrollieren. Weil sich Medien und speziell die elektronischen aber extrem schnell verändern, brauchen Eltern dabei Unterstützung. Denn während wohl die meisten, wahrscheinlich auch die meisten hier im Hause, noch die Regeln für „Cowboy und Indianer“ und „Mensch ärgere dich nicht“ kennen, werden die wenigsten Eltern wissen, wer Niko Bellic, Joanna Dark oder Alex Mercer sind, geschweige denn, welch düstere Aufträge diese drei zu erledigen haben. ({0}) - Auch wenn Sie es wissen, so erkläre ich es doch den übrigen Kollegen. - All denjenigen, die sich im tagtäglichen Leben nicht mit den Handlungssträngen von gewalttätigen Actionspielen oder Shootern beschäftigen, sei gesagt: Alle drei sind schwerbewaffnete Hauptcharaktere in aktuellen Videospielen. Wir stehen also vor einem Dilemma. Es gibt Spiele, die für Kinder und Jugendliche wegen ihrer Härte und ihrer brutalen Darstellung gänzlich ungeeignet sind, und wir haben Eltern und Erzieher, die sich leider allzu selten mit den Medien, die ihre Kinder konsumieren möchten, auskennen. ({1}) Allen Menschen, die Kinder erziehen und sich um deren Entwicklung sorgen, kann ich deshalb nur zurufen: Schaut hin! Schaut hin, was ihr den Kindern kauft, und schaut hin, womit sich eure Kinder vielleicht schon heute zu Hause beschäftigen! Denn in allererster Linie liegt es an den Eltern, abzuschätzen, welche Medieninhalte ihre Kinder sehen und welche Spiele sie konsumieren dürfen. Aber - und hier kommt die Politik ins Spiel Eltern brauchen Unterstützung bei ihrer Erziehungsaufgabe; denn auf den ersten Blick ist nicht zu erkennen, ob ein Film oder ein Spiel für ein bestimmtes Alter freigegeben ist. Bisher haben wir zwar die Alterskennzeichnungen; sie sind jedoch so klein und oftmals so versteckt, dass wir den Eltern das Hinsehen unnötig schwer machen. Mit der heutigen Änderung im Gesetz machen wir Jugendschutz sichtbar, ({2}) weil wir die Größe der Alterskennzeichnung verdoppeln und weil wir die Altersfreigabe nun verpflichtend vorne auf dem Cover platziert haben; denn schließlich muss die Altersangabe auf Filmen und auf Spielen für alle sichtbar und erkennbar sein, um Kinder und Jugendliche zu schützen. Genauso wichtig wie das Sichtbarmachen von Altersangaben ist aber noch ein Zweites: Wir müssen gefährliche Inhalte für Kinder unsichtbar machen. Genau das tun wir mit den Klarstellungen der Indizierungskriterien. ({3}) Für die Indizierung kraft Gesetzes fügen wir „Darstellungen selbstzweckhafter Gewalt ..., die das Geschehen beherrschen“ hinzu. Auch die Liste der jugendgefährdenden Medien der Bundesprüfstelle erhält mit der Gesetzesänderung klarere Richtlinien. Beides dient einem Zweck: Medien, sowohl PC- als auch Videospiele und Filme, deren gewalthaltiger Inhalt für Kinder nicht geeignet ist, werden für sie nahezu unsichtbar. Denn was heißt es eigentlich, wenn ein Medium auf dem Index steht, ganz gleich ob es kraft Gesetzes indiziert oder von der Bundesprüfstelle auf diese Liste gesetzt wurde? Es heißt, dass das Spiel und der Film nicht ausgestellt, nicht beworben und vor allem nicht für Kinder und Jugendliche frei zugänglich gemacht werden dürfen. Indizierte Medien werden damit für Kinder unsichtbar. Aber, wenn wir von Sichtbarkeit reden, dürfen wir unsere Augen nicht davor verschließen, dass Eltern bei der Erziehung ihrer Kinder zu medienkompetenten Menschen von den verschiedensten Stellen behindert werden. Wir müssen unseren Blick auf die unterschiedlichen Akteure und Einrichtungen richten, die Einfluss auf die Medienkompetenz und auf den Medienkonsum unserer Jüngsten haben können. Was ist mit der Verkäuferin, die versehentlich oder aber fahrlässig das Alter eines jugendlichen Spiele- oder Filmkäufers nicht überprüft? Was ist mit den Großeltern, die ihrem minderjährigen Enkel seinen heißersehnten Shooter schenken? Was ist mit dem Versandhandel im In- und Ausland? Schlimmer noch: Was ist mit den nicht jugendfreien Filmen und Spielen, die sich die Kinder schon heute illegal aus dem Netz ziehen können? ({4}) Mir fallen viele solcher Szenarien und damit verbundene Fragen ein, die noch nicht gelöst sind. Mir schießen diverse Möglichkeiten durch den Kopf, wie Kinder und Jugendliche an nicht altersgerechte Medien herankommen können. Ich weiß auch, dass es hier nicht reicht, die Eltern aufzufordern, hinzusehen, und ein Gesetz zu erlassen. ({5}) Verstehen Sie mich nicht falsch: Das Gesetz ist ein wichtiger Rahmen. Aber um mit unseren Kindern und Jugendlichen medientechnisch Schritt zu halten, bedarf es der Anstrengung von mehr als nur uns Bundespolitikern oder den Eltern. Wir brauchen den Handel, wir brauchen die Länder, und wir brauchen jeden einzelnen verantwortlichen Bürger. An den Handel möchte ich appellieren, die Vertriebsstrukturen und Warenauslagen kinderfreundlich und dem Jugendschutz entsprechend aufzubauen. Im Handel gibt es bereits gute Ansätze. In einigen Fachgeschäften ist es beispielsweise üblich, Trägermedien ohne Jugendfreigabe mit roten Plastikhüllen einzufassen, sodass jede Mitarbeiterin und jeder Mitarbeiter an der Kasse gleich erkennen kann: Das darf ich einem unter 18-Jährigen nicht verkaufen. Eine weitere Möglichkeit des Handels, die Mitarbeiter zu unterstützen, sind optische und akustische Warnsignale an Kassen, die bei den Strichcodes jugendbeeinträchtigender Medien ein Signal geben und zur Überprüfung des Ausweises auffordern. Und noch etwas: In vielen Elektronikmärkten stehen die zum Teil grausamen und pornografischen Cover in den Regalen runter bis auf 70 Zentimeter, also in Kinderaugenhöhe, meine Damen und Herren. Gehen Sie einmal durch die verschiedenen Elektronikmärkte. Sie werden sehr erstaunt sein, was sich dort alles ansehen lässt. Dabei wäre es eigentlich einfach für die Händler, solche Medien nur auf den obersten Regalböden aufzubauen. Das ist zwar nur eine kleine, aber unter Jugendschutzaspekten hilfreiche Maßnahme. ({6}) Ich habe es bereits kurz erwähnt: Der Jugendschutz im Onlinebereich, also im Internet, wird mit der vorliegenden Gesetzesänderung noch nicht berührt. Gerade aber das Internet bietet Einfallstüren, um den Jugendschutz zu umgehen, was die anstehende Überarbeitung - darin sind wir uns hier im Hause alle einig - dringend erforderlich macht. ({7}) Das Internet bietet nämlich Kindern und Jugendlichen zahlreiche Möglichkeiten, an nicht altersgerechte bzw. nicht freigegebene Medien illegal heranzukommen und zu spielen. Hier besteht also noch erheblicher Handlungsbedarf, bei dem die Bundesländer unabdingbar sind. Denn der Jugendmedienschutz-Staatsvertrag, der die Onlinemedien regelt, steht unter dem Vorbehalt der Länder. Damit komme ich jetzt zu den beiden Entschließungsanträgen der Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und FDP. Meine Damen und Herren, die von Ihnen angesprochenen Punkte sind bereits Thema in den laufenden Bund-Länder-Gesprächen. Des Weiteren sind die einzelnen Länder bereits dabei, zum Beispiel bei den Bußgeldsätzen transparente Regelungen festzusetzen. Also, meine Damen und Herren von der Opposition, achten Sie zunächst auf die von der Verfassung vorgegebene Aufgabenverteilung und warten Sie bitte die Ergebnisse der laufenden Bund-Länder-Gespräche ab. ({8}) Ich denke, diesbezüglich sind wir auf einem guten Weg. Gerade mit dem heute vorliegenden Gesetzentwurf werden die am runden Tisch vereinbarten bundesgesetzlichen Maßnahmen umgesetzt. Ich bitte Sie deshalb um Zustimmung zum vorliegenden Gesetzentwurf. Wir werden die beiden Entschließungsanträge aus den von mir genannten Gründen ablehnen. Vielen Dank. ({9})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich gebe das Wort dem Kollegen Christoph Waitz, FDP-Fraktion. ({0})

Christoph Waitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003859, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Gesetzesinitiative der Bundesregierung zur Novelle des Jugendschutzgesetzes ist sicher gut gemeint. Leider fasst die Initiative die eigentlichen Probleme nicht an, und da ist es auch nicht verwunderlich, dass wir in Ihrem Gesetzespapier keine Lösungsvorschläge für die eigentlichen Probleme finden konnten. ({0}) Frau von der Leyen ist heute leider nicht anwesend, ({1}) aber wir haben es schon in der ersten Lesung gesagt: Ihr Gesetzentwurf ignoriert die aktuellen Empfehlungen des Hans-Bredow-Instituts. ({2}) Dabei hat das Institut im Auftrag ihres Ministeriums den aktuellen Jugendschutz auf Schwachstellen hin abgeklopft. Das Hans-Bredow-Institut hat viele Verbesserungsvorschläge gemacht, die jetzt der Gefahr unterliegen, ins Leere zu laufen. ({3}) Ihr Gesetzentwurf, Frau Bundesministerin, ist unzureichend, und wir bedauern das. Eltern, Kinder und Jugendliche in unserem Land hätten es verdient, dass wir uns gemeinsam mehr Zeit für eine sorgfältige Prüfung der Probleme genommen hätten. Mit Ihrem Zeitmanagement haben Sie die Chance verpasst, den Jugendmedienschutz noch in der 16. Wahlperiode effektiv zu reformieren. ({4}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir Liberale sind der Meinung, dass ein effektiver Jugendschutz - auch Jugendmedienschutz - in den Familien und Schulen anfangen muss. Ohne diese Basis können alle weiteren begleitenden Maßnahmen keine Wirkung haben. Aber in Deutschland wird nur in jedem vierten Haushalt mit Kindern zum Beispiel eine Filtersoftware zum Schutz der Kinder eingesetzt. Lediglich 17 Prozent aller Eltern in Deutschland kontrollieren das Surfverhalten ihrer Kinder. Kinder und Jugendliche spielen zu einem großen Teil unbeaufsichtigt am Computer. Aber das ist nicht nur ein Problem der Aufsicht und der Kontrolle; es hängt auch damit zusammen, dass viele Eltern gar nicht mehr verstehen, was ihre Kinder am Computer machen. ({5}) Viele interessieren sich auch gar nicht mehr dafür. Da müssen wir ansetzen. ({6}) Die Alterskennzeichnung der Unabhängigen Selbstkontrolle gibt Hinweise, welche Spiele für unsere Kinder und Jugendlichen geeignet sind. Aber auch eine größere und eine eindeutigere Kennzeichnung auf der Verpackung scheitert, wenn mehr und mehr Kinder ihre Spiele direkt aus dem Internet herunterladen. Frau Blumenthal, da war ich in Ihrer Analyse sehr nah bei Ihnen. Leider Gottes werden im Gesetzentwurf der Bundesregierung nicht die nötigen Konsequenzen gezogen. ({7}) Wir müssen die Frage beantworten, wie wir im Hinblick auf das Internet zu einer Jugendschutzprüfung und einer altersgerechten Freigabe kommen. Wir brauchen die Novellierung des Jugendmedienschutz-Staatsvertrages der Länder, und das besser heute als morgen. Da sind unsere Positionen nah beieinander. Kinder müssen von klein auf lernen, wie sie mit den neuen Medien umgehen sollten. Wir brauchen die Stärkung der pädagogischen Medienarbeit. Wir brauchen verpflichtende Lehrerfortbildungen und Aufklärungsarbeit für die Eltern an den Schulen. Im April hat die Konferenz der Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder die dringende Notwendigkeit der Förderung der Medienkompetenz von Kindern und Jugendlichen eingefordert. Für die Datenschützer stehen dabei die Datensicherheit und der Schutz der Privatsphäre im Vordergrund. Die Komplexität der Gefahren moderner Mediennutzung macht deutlich, dass starre Verbotsgesetze die vielleicht schlechteste aller Lösungen darstellen und dass wir besonders Prävention und Aufklärung zu Schwerpunkten in unserer Arbeit machen müssen. Gerade die renommierte Harvard-Universität hat eine große Studie zu den Auswirkungen von Computer- und Videospielen auf Kinder und Jugendliche erstellt. Diese Studie kommt zu dem erstaunlichen Ergebnis, dass Kinder, die nicht spielen, mehr Probleme im Elternhaus oder in der Schule haben als diejenigen, die spielen. Nichtspielen von Computerspielen bedeutet in den Augen dieser Forscher sogar ein Zeichen fehlender Sozialkompetenz. Computerspiele könnten also auch positive Effekte haben. Das ist ein Ergebnis, über das wir noch diskutieren müssen. Bündnis 90/Die Grünen haben in ihrem Antrag den Vorschlag gemacht, europaweit einheitliche Jugendschutzregelungen zu schaffen. Wir glauben, dass eine europäische Regelung des Jugendschutzes die Gefahr in sich birgt, dass wir - wie in so vielen Fällen - zu einem europäischen Minimalkonsens kommen. Damit ist gerade dem deutschen Jugendmedienschutz nicht geholfen. Solange die Server in der Karibik oder in Asien stehen, hat die Europäische Union leider keinen Einfluss auf die zur Verfügung gestellten Inhalte. ({8}) Wir können dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen nicht in allen Punkten zustimmen und werden uns daher bedauerlicherweise enthalten müssen, Herr Gehring. Der von der Bundesregierung eingebrachte Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Jugendschutzgesetzes wird von der FDP-Fraktion abgelehnt. ({9})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Jürgen Kucharczyk, SPD-Fraktion. ({0})

Jürgen Kucharczyk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003794, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jugendschutz bedeutet nicht, die Welt vor Kindern und Jugendlichen zu schützen. Jugendschutz bedeutet, Kinder und Jugendliche vor negativen Einflüssen und Auswirkungen aus der Welt der Erwachsenen zu schützen. Das Wohl der Kinder und jungen Menschen hat Vorrang. Im Fokus steht nicht, welche marktwirtschaftlichen Gesichtspunkte und Anteile sich am besten über Kinder und Jugendliche generieren lassen. Wir als Gesetzgeber sind in der Pflicht, die Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, dass ein gutes Aufwachsen möglich ist. Aus der Wissenschaft und der Medizin liegen uns Erkenntnisse vor, dass Kinder im Alter von null bis acht Jahren ihre aufnahmefähigste Phase des Lernens, der Kreativität und der Talentförderung haben. Es ist erschreckend, dass Untersuchungsergebnisse bestätigen, dass Kinder und Jugendliche am Tag drei bis fünf Stunden TV, Videos, Computer, Spielkonsolen oder Gameboys nutzen. Die Zeit, die sie mittlerweile mit Handys verbringen, ist da noch gar nicht hinzugerechnet. „Bildung von Anfang an“ ist die Erkenntnis, die sich mittlerweile in allen Fraktionen verfestigt hat. Unsere Zukunft ist unmittelbar abhängig von unserem Knowhow hier in Europa. Die Informationstechnologien spielen dabei natürlich eine große Rolle. Computertechnik gehört deshalb heute zur Basisqualifikation junger Menschen. Generationenübergreifend ist es in unser aller Interesse, für Spielregeln und Rahmenbedingungen zu sorgen, damit Kinder und junge Menschen sich unter gleichen Chancen und Möglichkeiten entwickeln können. Die freiwilligen Selbstkontrollinstrumente der FSK und USK funktionieren, jedoch noch nicht gut genug, dass ein gesetzliches Handeln überflüssig würde. Deshalb ist es notwendig, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass im Medienbereich für DVDs, Videos, Filme und Computerspiele einheitliche, klar erkennbare und sichtbare Alterskennzeichnungen durchgängig vorhanden sind, Szenen und Darstellungen in Computerspielen von selbstzweckhafter Gewalt reduziert und vom Markt entfernt werden, der Verbotskatalog für schwer jugendgefährdende Trägermedien, die kraft Gesetz indiziert sind, im Hinblick auf Gewaltdarstellungen erweitert und somit eine Indizierung auch noch nach der Alterskennzeichnung möglich wird. Mit der heutigen Novellierung erheben wir nicht den Anspruch auf Vollkommenheit im Schutzbereich von Kindern und Jugendlichen. Im Bereich Online haben wir die Herausforderungen erst noch zu bestehen. Gerade die Gefahren von Onlinesucht sind, wie wir zuletzt in einer öffentlichen Anhörung erfahren haben, noch nicht ausreichend wissenschaftlich untersucht. Da müssen wir ansetzen. Wichtig ist uns in der Koalition, dafür zu sorgen, dass nach den jetzigen, vorliegenden Erkenntnissen aus sozialwissenschaftlichen Studien die notwendigen und politisch möglichen Fortschreibungen im Jugendschutzgesetz praktisch, nachvollziehbar und zeitnah erfolgen. Eltern, Großeltern, Lehrer und Pädagogen müssen auf den ersten Blick erkennen können, was in der Medienlandschaft für die Kinder richtig, gut und von Nutzen ist. Prävention im Sinne der Kinder und Jugendlichen ist die richtige zukunftsorientierte Antwort. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die beiden Entschließungsanträge, die uns heute vorliegen, beinhalten zwar eine ganze Menge, was originär zum Themenbereich Online gehört, haben aber in der Regel mit dem Gesetzesentwurf, der heute vorliegt, nichts zu tun. ({1}) Diese Fragen stellen Herausforderungen dar, denen wir uns in den nächsten Wochen und Monaten stellen müssen. Insofern bitte ich Sie, dem Koalitionsantrag zuzustimmen. Danke schön. ({2})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Lothar Bisky, Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Lothar Bisky (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003739, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir befinden uns in einem kulturellen Umbruchprozess, der vor allem durch die fortschreitende Digitalisierung nahezu aller Lebensbereiche gekennzeichnet ist. Digitale Spiele sind heute zu normalen Produkten der Alltagskultur geworden. Am meisten verbreitet sind die sogenannten Ballerspiele; manche nennen sie auch Killerspiele. Wir müssen - das ist meine Position - den Herausforderungen des digitalen Zeitalters vor allem kulturell begegnen. ({0}) Erwachsene, aber vor allem Kinder und Jugendliche müssen Medienkompetenz erwerben. Darum geht es. Medienkompetenz ist die Schlüsselkategorie. Eine moderne Mediensozialisation kommt ohne einen kritischen Verstand und ohne die Fähigkeit, Realität und Fiktion zu unterscheiden, nicht aus. Das sind unabdingbare Voraussetzungen. Daher tritt die Linke dafür ein, Medienkompetenz so früh wie möglich entwickeln zu helfen und entsprechende Maßnahmen Kindergärten, Horten und Schulen institutionell verpflichtend vorzugeben. ({1}) Medienkompetenz von Kindern und Jugendlichen muss gefördert werden. Sie brauchen eine Schulung in Sachen Medienkompetenz, sonst sind sie für die Zukunft in einer digitalen Welt nicht gut gerüstet. Meine Damen und Herren, der vorliegende Gesetzentwurf zur Änderung des Jugendschutzgesetzes beinhaltet kein Totalverbot mit Strafandrohung für Hersteller, Verbreiter und Nutzerinnen und Nutzer von solchen Spielen. Gut so; denn solche Verbote bringen nichts. Der Gesetzentwurf bleibt jedoch im Kern unzureichend. Das zeigt sich besonders in der Neufassung des § 18. Wenn künftig nun auch solche Medien in die Liste jugendgefährdender Medien aufzunehmen sind, die, wie es im Gesetzentwurf heißt, Gewalthandlungen wie Mord- und Metzelszenen selbstzweckhaft und detailliert darstellen, werden die Gerichte sehr viel zu tun bekommen. ({2}) Von diesem rechtsunsicheren Passus sind nämlich nicht nur Computerspiele betroffen, sondern ebenso Spielfilme und auch so mancher Antikriegsfilm. ({3}) Nein, mit Verboten kommt man hier nicht weiter. Auch die Indexierung von Medien, die „Selbstjustiz als einzig bewährtes Mittel zur Durchsetzung der vermeintlichen Gerechtigkeit“ nahelegen, ist aus meiner Sicht falsch. Selbstjustiz ist zu Recht strafbewehrt. Aber sollte diese Formulierung Gesetzeskraft erlangen, so würde demnächst mancher Film etwa mit Charles Bronson auf dem Index stehen. Nun kann ich mir gut vorstellen, dass manche von Ihnen den Film „Ein Mann sieht rot“ verbieten wollen. Ich möchte dies nicht. ({4}) Meine Damen und Herren, der oft behauptete wissenschaftliche Nachweis eines Zusammenhangs von virtuellem Spiel und realer Gewalt ist nichts anderes als ein Mythos. ({5}) Gewalt und Amokläufe an Schulen entstehen nicht allein durch den Konsum von gewalthaltigen Computerspielen. Ein sehr komplexes Bedingungsgefüge aus sozialen, psychologischen und familiären Komponenten muss als Ursache betrachtet werden. Aus Zeitgründen kann ich sie hier im Einzelnen nicht aufführen. Ich komme zum Schluss. Der vorliegende Gesetzentwurf ist ein untauglicher Versuch, diesen neueren sozialen Bedingungen in der gebotenen Komplexität zu begegnen. Er trägt nicht dazu bei, die kulturellen Herausforderungen des digitalen Zeitalters zu gestalten. Die Linke lehnt eine prohibitive Politik im Umgang mit gewalthaltigen Computerspielen ab. Darum lehnen wir auch diesen Gesetzentwurf ab. Ich bedanke mich. ({6})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Für Bündnis 90/Die Grünen gebe ich dem Kollegen Kai Gehring das Wort.

Kai Gehring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003756, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Jugendschutzgesetz sollte Prävention, Erziehung und Selbstverantwortung durch klare und konsistente Regelungen unterstützen. Jede Novelle muss sich daran messen lassen, ob sie tatsächlich zu einem effektiveren Jugendschutz beiträgt. Viel zu prüfen gibt es aber bei dieser Mininovelle wahrlich nicht: Die vorgeschlagene Vergrößerung der Alterskennzeichnungen auf Trägermedien ist ein Tropfen auf dem heißen Stein, und die neuen Gewaltdefinitionen für Computerspiele sind unnötig und unklar und bringen mehr Rechtsunsicherheit. ({0}) Anstatt endlich die Empfehlungen der gelungenen Evaluation des Hans-Bredow-Instituts und des runden Tisches zum Jugendschutz umzusetzen, verweisen Sie auf mögliche weitere Novellen und damit vermutlich auf den Sankt-Nimmerleins-Tag. Warum regeln Sie in dieser Novelle nicht auch, wie Alterskennzeichnungen verständlicher und klarer werden, anstatt sie einfach nur zu vergrößern? Warum schaffen Sie unklare Rechtsbegriffe wie „selbstzweckhafte Gewalt“, anstatt die offensichtlichen Defizite zwischen Selbstkontrolle und Bundesprüfstelle zu beseitigen? ({1}) Ihr Vorgehen gaukelt nur Aktivität vor. ({2}) Offensichtlich wollen Sie verschleiern, dass sich die Große Koalition beim Jugendschutz in einer populistischen Sackgasse befindet. Aus Bayern kommen völlig überzogene Verbotsforderungen bei sogenannten Killerspielen. Auf der anderen Seite will NRW seine florierende Computerspielindustrie schützen. Daraus stricken Sie nun unwirksame gesetzliche Regelungen, die niemandem nützen. ({3}) Beim Thema Alkohol fordert die Unionsfraktion in dieser Woche im Bundestag wie zuvor bereits die Ministerin von der Leyen ein absolutes Alkoholabgabeverbot an bzw. Alkoholverbot für alle unter 18-Jährigen. Eine solche Forderung ist aus meiner Sicht weltfremd. ({4}) Es ist zweifellos erschreckend, dass laut Drogenbericht im Jahr 2006 rund 20 000 Kinder und Jugendliche mit Alkoholvergiftungen ins Krankenhaus eingeliefert worden sind. Hiergegen brauchen wir dringend umfassende Präventionsstrategien, die früh ansetzen müssen: Im Elternhaus, in den Schulen und in den Jugendeinrichtungen muss zusammen mit vielen Kooperationspartnern eine ganze Menge passieren. Mit Ihrem Vorschlag würde der Alkoholkonsum jedoch lediglich mit noch weniger sozialer Kontrolle ins Private verlagert. Ebensolche Verdrängungseffekte bringen innerstädtische Alkoholverbotszonen. Großbritannien und die USA sind bereits mit einer solchen Verbotspolitik gescheitert. Wieso sollten wir anderswo gescheiterte Ansätze importieren? ({5}) Nein, wir müssen Kontroll- und Vollzugsdefizite im Jugendschutz beheben. Diese packen Sie aber mit Ihrer Novelle definitiv nicht an, ({6}) und das, obwohl Sie dafür zweieinhalb Jahre Zeit gehabt hätten, auch für die Bund-Länder-Gespräche, die dafür notwendig sind. Wo bleiben Initiativen für spürbare und abschreckende Mindestbußgelder für Jugendschutzverstöße? Wo sind Verpflichtungen des Handels zu Kassensystemen mit akustischen Signalen, sobald ein jugendschutzrelevantes Produkt über die Ladentheke geht? Wo sind Vorstöße für mehr Kontrollen vor Ort? Das müsste heute hier beantwortet werden; denn diese Maßnahmen wären wirksam. Das fehlt in Ihrer Novelle. Deshalb springen Sie beim Jugendschutz zu kurz. Dagegen hat die Evaluation vom Hans-Bredow-Institut nicht nur die Wirksamkeit der rot-grünen Jugendschutzreform bestätigt, sondern auch die Anpassung an neue technische Entwicklungen vorgeschlagen - Entwicklungen, die Sie völlig verschlafen; darauf ist bereits hingewiesen worden. Es darf nicht sein, dass Onlinespiele künftig weiterhin überhaupt nicht geprüft werden. Wir schlagen auch vor, dass das Suchtpotenzial von Computerspielen in die Altersfreigabe mit einbezogen wird. Ebenso wollen wir, dass Zeitverzögerungen bei der Indizierung von Telemedien, von Hass- und Gewaltaufrufen nicht mehr hingenommen werden. Deshalb müssen die Kooperationsstrukturen ganz klar besser werden. ({7}) Nicht zuletzt geht es natürlich darum, das Wissen von Lehrkräften und Eltern sowie die Kompetenz der Jugendlichen selbst zu steigern. Was wir definitiv nicht brauchen - auch das klang Anfang der Woche wieder an -, ist eine neue Testkäuferdebatte. Damit haben Sie schon einmal Schiffbruch erlitten. Sie hätten jetzt aber sehr wohl gesetzlich regeln können, den Einsatz von Kindern als Testkäufer und damit als Lückenbüßer für mangelnde staatliche Kontrollen auszuschließen. Das wäre aus ethischen, pädagogischen und entwicklungspsychologischen Gründen geboten gewesen. Für eine solche klare Regelung hatten Sie an der Stelle nicht den Mut.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, Sie müssen jetzt zum Ende kommen.

Kai Gehring (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003756, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Das komme ich jetzt auch mit einem letzten Satz. Wenn Sie nur einen Teil der Energie, die Sie auf das Vorlegen von solchen Scheinlösungen wie heute hier im Bundestag verwenden, in die Verbesserung des Jugendschutzes in Praxis und Vollzug fließen lassen würden, dann wäre für den Jugendschutz heute in der Tat eine ganze Menge bewegt worden. Was Sie uns aber anbieten, ist eine Schmalspurpolitik. Deshalb können wir Ihrem Gesetzentwurf nicht zustimmen. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Kerstin Griese, SPD-Fraktion. ({0})

Kerstin Griese (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003440, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Gehring, wir haben unsere ganze Energie auf breiter Spur eingesetzt, um den Jugendschutz ein Stück voranzubringen. Natürlich wird man das immer weiter tun müssen. Das ist der Sache immanent: Der Jugendmedienschutz entwickelt sich immer weiter, weil sich auch die Medien immer weiter entwickeln. Aus diesem Grund brauchen wir hier neue Regelungen, und deshalb ist es richtig, dass wir heute einen ersten Schritt machen. Wir sollten zur Kenntnis nehmen, dass wir 2003 mit unserem - übrigens damals gemeinsam beschlossenen Kerstin Griese Jugendschutzgesetz zum ersten Mal in Angriff genommen haben, den Bereich der Computerspiele zu regeln. ({0}) Das gab es vorher nicht. Das war ein wichtiger Schritt. Jetzt gibt es eine Evaluation, übrigens erst seit ein paar Monaten, die wir gut durcharbeiten und deren Ergebnisse wir umsetzen werden. Wenn Sie sich damit beschäftigen, wissen Sie, dass ein großer Teil dieses Bereichs Ländersache ist, sodass wir gemeinsam mit den Ländern an weiteren Verbesserungen arbeiten werden. ({1}) Wirksamer Jugendmedienschutz muss gleichermaßen auf drei Säulen beruhen: erstens auf der Stärkung der Medienkompetenz von Kindern und Jugendlichen - übrigens auch von Eltern -, zweitens auf der gezielten Aufklärung und drittens auf einem System sinnvoller Altersbeschränkungen. Denn damit können wir deutlich machen, welche Werte und welche Grenzen in unserer Gesellschaft gültig sind. Ich sage es noch einmal: Wir werden hier mit Sicherheit immer wieder über den Jugendmedienschutz sprechen, weil sich die Technik weiterentwickelt, weil es eine stetige Veränderung gibt. Das wird auch in der Evaluation deutlich. Das HansBredow-Institut hat in dieser Evaluation festgestellt, dass sich allein durch die technologische Entwicklung die Grafiken so verändert haben, dass die Darstellung von Gewalt heute realitätsnäher und detailgetreuer möglich ist als vor einigen Jahren. Der andere Grund für die Weiterentwicklung ist die Medienkonvergenz, das heißt die Übertragbarkeit der Inhalte von einem Medium auf ein anderes. Ich bin sehr dafür, dass wir die Diskussion über gewalthaltige Spiele sachlich und ohne populistische Zwischentöne führen. Denn selbstverständlich sind nicht alle Konsumenten von sogenannten Killerspielen, mit denen ja meistens die Ego-Shooter gemeint sind, gewalttätig. Tatsache ist aber auch, dass es inzwischen nur noch wenige Lobbyisten gibt, die behaupten, dass brutale Spiele und Gewalt überhaupt nichts miteinander zu tun hätten. Wenn Sie sich mit diesem Thema beschäftigen, dann wissen Sie, dass sich die Wissenschaft durchaus schwertut, direkte Zusammenhänge herzustellen: Was haben gewalttätige Spiele mit Aggressionen aufseiten der Nutzer zu tun? Es ist tatsächlich noch ungeklärt, wie sich Gewaltdarstellungen auf das reale Verhalten von Spielern auswirken. Es ist aber auch klar, dass es einen Zusammenhang zwischen dem häufigen Konsum von gewalthaltigen Computerspielen und einer Abnahme von Empathie, von Einfühlungsvermögen, und von sozialen Verhaltensweisen gibt. Das hat die Evaluation deutlich gezeigt. Deshalb müssen wir handeln. ({2}) Es gibt Studien, die deutlich zeigen, dass Spiele ein solches Verhalten verstärken, wenn Jugendliche von vornherein große Probleme haben und ohnehin zu gewalttätigem Handeln neigen. Trotzdem sage ich ganz deutlich: Es ist reiner Populismus, ein Verbot solcher Spiele zu fordern; denn erstens setzt unser Rechtssystem Verboten aus guten Gründen hohe Hürden, und zweitens würde uns ein Verbot in der falschen Sicherheit wiegen, wir hätten das Problem im Griff, obwohl das nicht der Fall ist. Es gibt allerdings einen Zusammenhang - auch das zeigen neueste Forschungen - zwischen einem sehr intensiven Computerspielkonsum und schlechten Schulleistungen. Das heißt, die Jugendlichen, die in eine zweite Welt, in ein „second life“, also in ein anderes Leben, abtauchen, können gar nicht mehr den Bezug zum realen Leben herstellen. Diese Entwicklung ist übrigens auch dann zu beobachten, wenn man den ganzen Tag vor dem Fernseher sitzt. Wenn emotionale Erlebnisse während des Computerspielens die realen Erlebnisse wie beispielsweise Lernerfolge in der Schule in den Schatten stellen, dann kann man in der Tat eine Art Medienverwahrlosung feststellen. Eine solche Medienverwahrlosung werden wir nicht allein mit Jugendschutzregelungen nachhaltig eindämmen können. Da braucht es viele andere Maßnahmen beispielsweise im Bereich der Ganztagsschulen. Dazu gehört auch, dass man sich um die Jugendlichen und Kinder kümmert. ({3}) Ich sage noch einmal: Zum Jugendschutz gehört auch, dass die Gesellschaft mehr Verantwortung für Kinder und Jugendliche übernimmt. ({4}) 2003 haben wir das positive Rating für Computerspiele eingeführt. Es muss eine Kennzeichnung geben, ab welchem Alter Spiele geeignet sind. Wir haben zum ersten Mal die Regelung eingeführt, dass die USK, die Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle, entsprechende Label vergibt. Ich will allen Beteiligten ausdrücklich für ihre Arbeit danken. In diesen Dank einbeziehen möchte ich auch und gerade die Spieletester, die sich diese Spiele ansehen, durchspielen und sich durch eine Flut von Spielen kämpfen. Natürlich sind die Eltern gefordert, danach zu handeln. Genauso wie bei der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft hat sich auch hier gezeigt, dass sich eine freiwillige Selbstkontrolle bewährt. Die Defizite liegen in der Tat im Vollzug; das will ich noch einmal ausdrücklich sagen. Die Evaluation hat ergeben, dass drei Viertel aller Jugendlichen sagen, sie hätten Zugang zu nicht altersgemäßen Spielen. 18 Prozent der Jugendlichen haben angegeben, ihre Eltern hätten ihnen diese Spiele, die für ihr Alter noch nicht geeignet sind, gegeben. Es geht also sehr stark darum, Eltern im Umgang mit Medien kompetenter zu machen. ({5}) Mit dieser Gesetzesänderung wollen wir die maßgeblichen Kriterien herausstellen. Die USK hat diesbezüglich gute Arbeit geleistet. Aber sie ist natürlich auch nicht unfehlbar. Wir müssen darauf hinwirken, dass bei besonders realistischen, grausamen und reißerischen Darstellungen selbstzweckhafter Gewalt diese Medien indiziert werden. Das ist deshalb wichtig, weil damit ein Werbeverbot verbunden ist, welches bewirkt, dass der Umsatz sinkt. Das ist auch gut so. Wir werden Medien, die Gewalthandlungen wie Mord- und Metzelszenen selbstzweckhaft und detailliert darstellen, automatisch auf die Liste der jugendgefährdenden Medien setzen. Auch das ist richtig. Denn auch hier hat die Evaluation gezeigt: Wenn Gewalttaten in solchen Spielen als belohntes Leistungshandeln dargestellt werden, ist dies besonders schwerwiegend und gefährlich. Zum Schluss will ich noch auf einen wichtigen Punkt hinweisen. Wir müssen alle Anstrengungen unternehmen, die Medienkompetenz von Kindern und Jugendlichen sowie von ihren Eltern, von Erzieherinnen und Erziehern, von Lehrerinnen und Lehrern zu stärken. Wir brauchen eine Kultur der Anerkennung, die Kinder kompetent begleitet.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, Sie haben gesagt, Sie kämen zum Schluss.

Kerstin Griese (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003440, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Dann tue ich das. Ich will noch ausdrücklich sagen, dass Computerspiele nicht per se dumm machen. Es gibt auch sehr viele pädagogisch wertvolle Spiele. Aber wir müssen die Augen offenhalten, wenn Kinder und Jugendliche in Parallelwelten abtauchen. Deshalb brauchen wir einen positiven Jugendschutz, der junge Menschen vor Bildungsarmut, vor Perspektivlosigkeit und vor Langeweile bewahrt. Vielen Dank. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Jugendschutzgesetzes. Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9024, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/8546 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der Opposition angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit auch in dritter Beratung mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der Opposition angenommen. Wir kommen nun zur Abstimmung über die Entschließungsanträge. Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/9117? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Fraktionen der SPD und der CDU/CSU bei Enthaltung der Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke gegen die Stimmen der Fraktion der FDP abgelehnt. Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/9118? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Auch dieser Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der Fraktionen Die Linke und der FDP abgelehnt. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({0}) - zu dem Antrag der Abgeordneten HansJoachim Otto ({1}), Christoph Waitz, Christian Ahrendt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Notwendige Verbesserungen am Telemediengesetz jetzt angehen - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Lothar Bisky, Ulla Lötzer, Dr. Petra Sitte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Telemediengesetz verbessern - Datenschutz und Verbraucherrechte stärken - zu dem Antrag der Abgeordneten Grietje Bettin, Bärbel Höhn, Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Fehlende Verbraucherschutzregeln und Rechtsunsicherheiten im Telemediengesetz beseitigen - Drucksachen 16/5613, 16/6772, 16/6394, 16/8099 Berichterstattung: Abgeordneter Martin Dörmann Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Dr. Martina Krogmann, CDU/CSU-Fraktion. ({2})

Dr. Martina Krogmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003163, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das Telemediengesetz setzt den Rahmen für die wirtschaftliche Betätigung im Internet und ist damit das zentrale Gesetz für die Internetwirtschaft in Deutschland. Im vergangenen Jahr haben wir mit dem Telemediengesetz unsere Medienordnung grundlegend reformiert. Die FDP hat damals zugestimmt. ({0}) Wir haben den Mediendienste-Staatsvertrag, das Teledienstegesetz und das Teledienstedatenschutzgesetz zu einem einzigen Gesetz, zum Telemediengesetz, zusammengefasst und damit den Rechtsrahmen nicht nur vereinfacht, sondern auch vereinheitlicht und den Grundstein für den Boom der Internetwirtschaft in Deutschland gelegt, wie wir ihn im vergangenen Jahr erlebt haben. ({1}) Wir haben das Gesetz verabschiedet - ich erinnere mich noch genau -, obwohl uns allen damals bewusst war, dass wir wichtige Bereiche außen vor gelassen haben. ({2}) Wir haben es dennoch getan, weil damals eine Novellierung der E-Commerce-Richtlinie im Raum stand - auch Sie, Herr Otto, werden sich erinnern -, ({3}) die genau diese Lücken schließen sollte, die wir außen vor gelassen haben. ({4}) Man hat dann auf EU-Ebene davon Abstand genommen. Seitdem ist klar, dass von EU-Ebene nichts kommt und wir das Telemediengesetz nicht zweimal ändern müssen. Das Wirtschaftsministerium ({5}) arbeitet mit Hochdruck - das ist wahrscheinlich der Grund, warum noch keiner hier ist ({6}) an der Überarbeitung des Telemediengesetzes. ({7}) Es wird Zeit - da sind wir uns, glaube ich, einig -, dass das Telemediengesetz überarbeitet wird, um die Lücken zu schließen, die wir damals bewusst offengelassen haben. ({8}) - PGF-Dienst hat mein Kollege Manfred Grund. Ich kann Ihnen diese Frage jetzt nicht beantworten, Frau Kumpf. Aber ich habe ja eben gesagt, dass das Wirtschaftsministerium mit Hochdruck arbeitet. Ich denke, vor lauter Arbeit haben sie die Uhrzeit vergessen. Ich bin sicher, die werden gleich kommen. ({9}) Worum geht es uns bei der Überarbeitung des TMG? Der wichtigste Bereich sind aus meiner Sicht die Haftungsregeln und die Verantwortlichkeiten im Internet ({10}) für Inhalte - das ist wichtig -, die von Dritten eingestellt werden. Das betrifft Internetunternehmen, die Daten transportieren, also die Internetserviceprovider. Das betrifft Forenbetreiber, Internetauktionshäuser, Suchmaschinenbetreiber oder Betreiber von Hyperlinks. ({11}) Anhand eines Beispiels aus der sogenannten Offlinewelt, also aus der realen Welt, will ich verdeutlichen, worum es geht: Niemand von uns käme doch auf die Idee, dass die Deutsche Post AG für den Inhalt der Pakete, die sie von A nach B bringt, verantwortlich ist. Deshalb verlangt auch keiner, dass die Deutsche Post AG den Inhalt der Pakete vorher kontrolliert. Wir alle würden sogar sagen: Das wäre völlig absurd. Im Internet ist das aber nicht so klar, obwohl ein Internetserviceprovider eigentlich nichts anderes macht als die Deutsche Post AG. Er transportiert Pakete, allerdings Datenpakete, von A nach B. Hier ist aber nicht klar geregelt, welche Kontrollfunktionen er ausüben muss und welche Verantwortung er hat. ({12}) - Herr Otto, entspannen Sie sich. ({13}) - Ich bin in tiefer Sorge um Ihre Gesundheit, wenn Sie so aufgeregt auf der Oppositionsbank sitzen. - Wir sind uns alle einig, dass die Zeit drängt und wir schnell ein Gesetz brauchen; denn die Lücken, die wir damals bewusst im Gesetz gelassen haben, führen inzwischen zu Rechtsunsicherheit. Ursächlich ist unter anderem die Tatsache, dass sich eine Rechtsprechung etabliert hat, ({14}) die widersprüchlich und für die Unternehmen daher schwer zu kalkulieren ist. Es herrscht also Rechtsunsicherheit. Ich will auch dafür ein Beispiel bringen: die berühmten Rolex-Urteile. Es ging darum, dass jemand gefälschte Rolex-Uhren über ein Internetauktionshaus angeboten hat. ({15}) - Das war nicht Ebay, sondern Ricardo. - Die Frage war, wie das Auktionshaus damit umgehen soll. Es ist selbstverständlich, dass das Auktionshaus dieses Angebot löschen muss, sobald es davon erfährt, dass gefälschte Rolex-Uhren auf seiner Plattform angeboten werden. Die Rechtsprechung fordert aber auch, dass die Auktionshäuser die Angebote vor Einstellung ins Internet prüfen. Die Urteile lassen allerdings offen, wer was in welchem Umfang nach welchen Kriterien prüfen soll. Es herrscht also völlige Rechtsunsicherheit. Soll jeder Artikel vorher geprüft werden? Ist das zumutbar, und was heißt in diesem Zusammenhang überhaupt „zumutbare Prüfung“? Ich glaube, dass diese Beispiele deutlich machen, worum es geht: Wir brauchen schnell klare, präzise und nachvollziehbare Bestimmungen für Verantwortlichkeiten bei Inhalten, die Dritte eingestellt haben. Aus unserer Sicht muss bei der Überarbeitung des Telemediengesetzes das Prinzip gelten - diesbezüglich stimmen wir mit den Anträgen der Grünen und der FDP überein -, dass die Anbieter nicht mit unerfüllbaren, unpraktikablen und unverhältnismäßigen Verantwortungsregelungen belastet werden dürfen. Dieser Grundsatz muss unserer Ansicht nach für die vier unterschiedlichen Bereiche der Internetwirtschaft gelten: für die Internetserviceprovider, die Hostprovider, also die Auktionshäuser und Forenbetreiber, für die Betreiber von Suchmaschinen und für all diejenigen, die mit Links auf andere Homepages verweisen, also für den Bereich der Hyperlinks. Bei den Serviceprovidern muss es bei der Regelung bleiben, dass sie die Daten, die sie verschicken, vorher nicht kontrollieren müssen. Wir werden sicherstellen, dass es auch bei den Hostprovidern keine generellen Vorabprüfungen gibt. Gleiches wird für die Betreiber von Suchmaschinen gelten. Aus meiner Sicht wäre es völlig absurd, wenn Inhaber von Homepages die Seiten, auf die sie mit Links verweisen, was wahrscheinlich jeder von uns tut, ständig kontrollieren müssten. Das wäre überzogen. Wir werden eine gesetzliche Regelung finden, die praktikabel ist, und so endlich auch bei den Hyperlinks für Rechtssicherheit sorgen. ({16}) Ich freue mich, dass wir uns im Grundsatz mit der FDP und den Grünen einig sind. ({17}) Überzogen sind allerdings die Forderungen der Linken und der Grünen zum Datenschutz, insbesondere zum uneingeschränkten Koppelungsverbot. Worum geht es hierbei? Koppelung heißt, dass ich mich, wenn ich beispielsweise einen kostenlosen Dienst nutze, damit einverstanden erkläre, Werbemails zu bekommen. Wenn man diese Koppelung verbietet, bedeutet das im Umkehrschluss, dass wir im Netz bald keine kostenlose Angebote, keine Gratisdienste mehr haben werden. Ich muss den Grünen und auch den Linken sagen: Die Gratiskultur im Internet hat es vor zehn Jahren gegeben; aber sie ist jetzt vorbei. Es gibt dort Geschäftsmodelle, die sich rechnen müssen. Kein Unternehmen stellt etwas kostenlos ins Netz, wenn es nicht etwas dafür bekommt. Ein weiterer Punkt. Wir haben in Deutschland glücklicherweise das Prinzip der Vertragsfreiheit. Es wird also niemand gezwungen, diese Dienste zu nutzen und damit persönliche Daten preiszugeben. Man kann sich aussuchen, ob man einen kostenlosen Dienst nutzen möchte - dann weiß man, dass man dazu verpflichtet ist - oder eben nicht. Ansonsten nutze ich einen anderen Dienst, weiß aber, dass ich gegebenenfalls dafür zahlen muss. Das ist das Prinzip der Marktwirtschaft, das im Internet Einzug gehalten hat. Man mag es bedauern, dass es nicht mehr das „free Internet for all“ gibt, aber das ist die Realität, und damit müssen wir uns auseinandersetzen. Ich sehe natürlich, dass wir hinsichtlich der Preisgabe der persönlichen Daten ein Problem haben. Gerade die Debatte vorhin zum Jugendschutz hat dies deutlich gemacht. Wir müssen uns genauso klarmachen, dass dies nur ein kleiner Bereich ist, in dem es um persönliche Daten geht. Ich sehe hier vielmehr die Gefahr im Bereich der Social Networking Platforms, also zum Beispiel StudiVZ, MySpace oder inzwischen auch SchülerVZ, wo Personen und vor allem immer mehr Jugendliche völlig unbekümmert persönliche Fotos, Daten, Hobbys, Beziehungen und alles Mögliche ins Internet stellen, weil sie vielleicht gar nicht wissen, welches Schindluder mit ihren persönlichen Daten getrieben werden kann.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin Krogmann.

Dr. Martina Krogmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003163, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme gleich zum Schluss, Frau Präsidentin. Deshalb, denke ich, ist es wichtig, hier nicht auf generelle Verbote zu setzen, sondern darauf, die Medienkompetenz zu stärken, gleichzeitig aber durch die Vertragsfreiheit dem mündigen Bürger die Wahl zu lassen, was er möchte und was nicht. Dafür werden wir uns als Union und auch als Große Koalition einsetzen. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin Krogmann, das wäre ein wunderbares Schlusswort. Sie haben Ihre Redezeit endlos überzogen. Sie müssen jetzt zum Schluss kommen.

Dr. Martina Krogmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003163, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin, ich komme jetzt gerne zum Schluss. ({0}) Dies ist einer der Punkte, warum wir die Anträge der Oppositionsfraktionen ablehnen. Wir freuen uns aber auf eine konstruktive Debatte und ein konstruktives Zusammenarbeiten bei der Überarbeitung des Telemediengesetzes. Herzlichen Dank. ({1})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich gebe das Wort dem Kollegen Hans-Joachim Otto, FDP-Fraktion. ({0})

Hans Joachim Otto (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001666, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Liebe Frau Kollegin Dr. Krogmann, ich habe Ihnen mit großer Begeisterung zugehört. Ich habe lange nach Gründen gesucht, warum Sie, nachdem Sie praktisch alles richtig gesagt haben, unserem Antrag nicht zustimmen. Wir waren uns einig. Wir haben das Telemediengesetz im vergangenen Jahr gemeinsam verabschiedet. Wir waren und sind uns einig, dass Änderungen dringend erforderlich sind. Sie haben die Änderungen in hervorragender Weise geschildert. Wenn jetzt von der Bundesregierung keine Änderungen vorgelegt werden, dann wird in dieser Legislaturperiode nichts mehr passieren, und die Konsequenzen sind katastrophal. Auch darüber sind wir uns einig. Ihre Rede war super, nur der Schluss war schlecht, als Sie sagten, dass Sie unserem Antrag nicht zustimmen. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, alles, was Kollegin Krogmann eben gesagt hat, wissen wir schon seit der Anhörung im Wirtschaftsausschuss im Dezember 2006. Damals ist gesagt worden, es sei unbedingt notwendig, das Gesetz schnell zu verabschieden. Wir haben uns dazu hinreißen lassen, die Zustimmung dazu zu erteilen, haben aber gesagt, dass Änderungen notwendig sind. Sie haben uns öffentlich zugesagt, dass Änderungsvorschläge zeitnah und umgehend eingebracht werden. Das ist leider nicht passiert. Öffnen wir die Augen! Die Konsequenz aus dieser Säumigkeit des Gesetzgebers ist, dass die gesamte Informations- und Telekommunikationsbranche einem erheblichen Maß an Rechtsunsicherheit ausgesetzt ist. Das belegen zahlreiche Urteile - eines hat Frau Krogmann eben erwähnt -, die gegensätzlicher nicht sein können. Ich möchte Ihnen ein weiteres Beispiel nennen - es ist ja nicht überraschend, dass eine Dame die Rolex-Entscheidung anführt -: ({1}) Die Tatsache, dass in die Zukunft gerichtete Überwachungspflichten von Meinungsforen und artverwandten Plattformen nicht grundsätzlich ausgeschlossen wurden, führt zu der absurden Situation, dass einige Betreiber ihre Kommentarfunktion gleich ganz abschalten mussten. Vielleicht erinnern Sie sich an das absurde Urteil zum Niggemeier-Blog. Mir ist bewusst, dass das Thema Überwachung bei Ihnen momentan hoch im Kurs steht. Allerdings frage ich mich und Sie: Wie soll zum Beispiel ein Onlineportal wie www.heise.de gewährleisten, dass die circa 200 000 Kommentare, die dort pro Monat abgegeben werden - gerade sie machen ja den Reiz eines solchen Portals aus -, vorab kontrolliert werden, ganz abgesehen davon, dass dies eine weitere nicht hinnehmbare Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit bedeuten würde? ({2}) Hier ist eine Klarstellung dringend erforderlich. Ganz grundsätzlich müssen auch die sogenannten Haftungsprivilegierungen präzisiert werden. Nach wie vor sollten wir an dem Grundsatz festhalten - Sie haben ihn angesprochen -, dass die Verantwortung nach dem Verursacherprinzip zugeordnet wird. Betreiber von Onlineplattformen dürfen nicht in die Zwickmühle geraten, auf der einen Seite potenzieller Mitstörer und auf der anderen Seite Vertragsverletzer zu sein. Schließlich ist auch problematisch, dass Plattformbetreiber gleichzeitig in die Rolle des Anklägers und des Richters gedrängt werden, da sie erwägen müssen, ob im Einzelfall eine Rechtsverletzung vorliegt. Neben diesen vordringlichen Punkten werden in unserem Antrag weitere Probleme angesprochen, die endlich gelöst werden müssen: Begrifflichkeiten und Abgrenzungen müssen präzisiert werden. Die Regelungen zur Bestandsdatennutzung müssen auf das Niveau gehoben werden, das auch im nichtelektronischen Geschäftsverkehr üblich ist. Die Bekämpfung von Spam muss mit hoher Priorität fortgesetzt werden, ohne jedoch - das sage ich ausdrücklich in Richtung der Linkspartei und der Grünen - der Verlockung symbolischer Gesetzesverschärfungen zu erliegen. ({3}) Meine Damen und Herren, ich möchte Sie alle daran erinnern, dass Bund und Länder die dringend notwendige Restrukturierung der Medienaufsicht vor sich herschieben, ohne auch nur ansatzweise Reformwillen zu offenbaren. Dabei ist uns allen bewusst, dass Deutschland die zerklüftetste und unüberschaubarste Aufsichtsund Regulierungslandschaft der Welt aufweist und dass dies zu erheblichen Wettbewerbsnachteilen und Entwicklungshemmnissen führt. ({4}) Ich appelliere daher mit Nachdruck an Sie, gemeinsam mit den Ländern eine Vereinheitlichung und Vereinfachung anzugehen. Das britische OFCOM könnte uns dabei als praktikables Vorbild dienen. Damit Frau Präsidentin nicht auch mich ermahnen muss, komme ich zu meinem Schlusswort. Es ist schon zu viel Zeit vergangen, in der der Standort Deutschland und die Informationsgesellschaft und -industrie in diesem Land gehemmt wurden. Deshalb bitte ich Sie, liebe Hans-Joachim Otto ({5}) Frau Kollegin Krogmann - bitte leihen Sie mir Ihr geschätztes Ohr -, um Ihre Zustimmung zu unserem Antrag. Herzlichen Dank. ({6})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Klaus Barthel, SPDFraktion. ({0})

Klaus Barthel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002622, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die vorliegenden Anträge, mit denen wir uns heute beschäftigen, wurden zwischen dem 20. September und 25. Oktober 2007 an die Ausschüsse überwiesen und am 23. Januar 2008 im Wirtschaftsausschuss behandelt. Sie wurden dem Plenum gegen die Stimmen der jeweiligen Antragsteller zur Ablehnung empfohlen. ({0}) Dass die Behandlung dieser Anträge heute offensichtlich auf Betreiben der jeweiligen Antragsteller auf die Tagesordnung gesetzt wurde, kann ich von der Sache her allerdings nicht verstehen. Denn damit zwingen Sie uns im Grunde genommen, sie heute abzulehnen. ({1}) Herr Otto, wir alle wissen, dass es sich bei diesem Thema um eine komplizierte Rechtsmaterie handelt und dass es im Bereich der elektronischen Kommunikation ständig neue Entwicklungen, neue Geschäftsmodelle und neue Missbrauchstatbestände gibt, auf die wir uns einstellen müssen. Wir wissen alle, warum wir damals gemeinsam Änderungs- und Ergänzungsbedarf beim Telemediengesetz gesehen haben und noch immer sehen. Wir mussten dieses Gesetz seinerzeit, im Januar 2007 - Sie haben es erwähnt -, unter Termindruck verabschieden, damit es zeitgleich mit dem neuen Rundfunkstaatsvertrag der Länder am 1. März 2007 in Kraft treten konnte. Damit wurden das frühere Teledienstegesetz und der Mediendienste-Staatsvertrag zusammengeführt. Bestimmte Fragen, die angesprochen worden sind, beispielsweise die Fragen der Anbieterhaftung, der Spambekämpfung und des Telemediendatenschutzes, konnten wir damals nicht mehr vollständig klären. Wir alle wissen auch, dass die vorgetragenen Änderungswünsche teilweise durchaus erwägenswert, teilweise aber auch strittig sind; Sie werden das noch hören. Wenn man sich die drei vorliegenden Anträge anschaut, dann merkt man, dass sie völlig unterschiedlich und gegensätzlich sind. Deswegen kann man hier nicht einfach sagen: Wir setzen alles um. Zum einen geht es um die Fragen der Definition und Abgrenzung von Telemedien, Telekommunikation und Rundfunk. Hier sehen wir keinen Handlungsbedarf. Mit Rundfunkstaatsvertrag und Telemediengesetz gelten jetzt einheitliche Bestimmungen für alle neuen Dienste: Das Telemediengesetz regelt die wirtschaftlichen Anforderungen, der Rundfunkstaatsvertrag die inhaltlichen Aspekte der neuen Dienste. Dieser neue gemeinsame Rechtsrahmen für die Telemedien ist gegenüber dem früheren Zustand eine Vereinfachung und die Grundlage für ein übergreifendes, einheitliches Datenschutzkonzept. Außerdem haben wir sichergestellt, dass dieser Rahmen jetzt unabhängig von Übertragungswegen und Technologien offen für weitere Entwicklungen ist und der Konvergenz Rechnung trägt. Anders, als die FDP behauptet, gibt es keine Doppelregulierung. Auch die von der FDP, den Linken und den Grünen geforderte positive Definition von Telemedien halten wir für problematisch, weil sie zu neuen Abgrenzungsproblemen, zum Beispiel im Hinblick auf die E-Commerce-Richtlinie der EU und den Rundfunk, führen würde. ({2}) Die neue Flexibilität, die wir geschaffen haben, wäre mit einem Federstrich wieder dahin, ohne dass es einen Nutzen bringen würde. ({3}) Auch bei den Informationspflichten sehen wir wenig Änderungsbedarf. Unter Berücksichtigung der E-Commerce-Richtlinie sind die notwendigen Eingrenzungen, zum Beispiel des Begriffs der Geschäftsmäßigkeit, längst vollzogen worden. Auch hier können wir der FDP nicht folgen. Dagegen halten wir die Forderung der Linken, eine eindeutige Regelung zu finden, ob im Rahmen der Informationspflichten die Telefon- oder Faxnummer des Verantwortlichen anzugeben ist, für erwägenswert. Wir sollten allerdings berücksichtigen, dass der BGH diese Frage schon dem Europäischen Gerichtshof zur Entscheidung vorgelegt hat. Wir sollten einfach abwarten, welche Entscheidung in dem entsprechenden Verfahren getroffen wird. In Übereinstimmung mit den Antragstellern sehen wir bei den Fragen der Verantwortung und Haftung der Diensteanbieter Handlungsbedarf. Ich nenne dazu drei Punkte: Erstens: Haftung für Inhalte des Internetauftritts eines Diensteanbieters. Die Störerhaftung ist in der Tat unzureichend geregelt. Die Rechtsprechung beurteilt die Unterlassungsansprüche nach allgemeinen Grundsätzen. Daher werden die Unterlassungsansprüche in einem bestimmten Fall auf kerngleiche Rechtsverletzungen ausgedehnt. Aber was kerngleich ist, bleibt etwas unklar. Daraus ergibt sich vor allem für kleine Diensteanbieter ein Risiko. Zweitens: Suchmaschinen. Prinzip einer Suchmaschine ist, dass alle einschlägigen Seiten regelmäßig auf zentralen Servern zwischengespeichert werden, damit jemand, der oder die nach entsprechenden Begriffen sucht, eine gefundene Seite in Sekunden abrufen kann. Eine vom ursprünglichen Anbieter bereits gelöschte Seite bleibt dort weiterhin erhalten und kann noch nach Wochen über die Suchmaschine eingesehen werden. Eine Löschungspflicht würde die etablierten Anbieter dieser Welt wie Google technisch und wirtschaftlich hoch belasten. Das könnte in der Tat das Aus für ein halbwegs kostenloses Internet bedeuten, zumindest was einige der Komfortfunktionen anbelangt, die sich bei den Usern großer Beliebtheit erfreuen. Drittens: elektronischer Verweis bzw. Link, der auf eine andere Seite hinweist, die rechtswidrige Inhalte hat. Nehmen wir an, jemand weist auf die Seite einer politischen Vereinigung hin, die zu einem späteren Zeitpunkt volksverhetzende Inhalte einstellt, oder nehmen wir an, jemand baut einen Link zu einer Seite mit Kinderpornografie in seinen Internetauftritt ein. Sind beide Fälle gleich zu behandeln? Das ist bislang nicht oder nur unzureichend geregelt. Wir stehen hier vor der Abwägung, ob wir dem Schutz der persönlichen und politischen Rechte oder aber den etablierten oder möglichen Geschäftsmodellen von Diensteanbietern Vorrang geben wollen. Wir würden immer sagen: Die Persönlichkeitsrechte, die Verbraucherrechte, die Urheberrechte dürfen nicht vor der Gewalt der Masse und vor Geschäftsinteressen kapitulieren; das Internet darf kein rechtsfreier Raum sein. Gleichzeitig wissen wir, dass das Internet eine weltweite Veranstaltung ist und wir mit nationalen Verboten nicht weit kommen. ({4}) Man läuft Gefahr - das ist uns bewusst -, deutsche Anbieter kaputtzumachen, ohne dass sich in der Sache etwas ändert. Deswegen müssen wir an dieser Stelle die internationale Entwicklung des Rechts im Auge behalten. Es gilt zum Beispiel, abzuschätzen und zu berücksichtigen, welche Auswirkungen der neue europäische Rechtsrahmen für die Telekommunikation haben könnte. Dieser Rechtsrahmen befindet sich zurzeit in Überarbeitung, gerade was die Verbrauer- und Nutzerrechte betrifft. Wir stehen zum Beispiel vor der Frage, ob wir es zulassen, dass das Internet wegen unseriöser Praktiken eine verzerrte Alltagswahrnehmung produziert. Wenn man „Klaus Barthel“ als Suchbegriff bei Google eingibt, erhält man in 0,19 Sekunden 44 800 Treffer. ({5}) - Moment! Das ist ganz bescheiden. - „Merkel“ ergibt in derselben Zeit 14,7 Millionen Treffer. Sucht man nach „Beleidigungen“ und „Merkel“, erhält man immerhin noch 87 000 Treffer. Ich meine, es kann nicht sein, dass die Bundeskanzlerin gegen in Zeitungen oder Büchern gedruckte Beleidigungen jederzeit gerichtlich vorgehen kann, Beleidigungen im World Wide Web hingegen hilflos gegenübersteht. Wir wollen trotzdem keine generelle Vorabzensur der Angebote im Internet. Das Telemediengesetz hat sich im ersten Jahr seines Bestehens im Großen und Ganzen bewährt, Herr Otto, auch wenn Sie hier Katastrophenszenarien an die Wand malen. Einige der Änderungsvorschläge aus den drei Anträgen haben sich durch geltendes Recht und die Praxis bereits erledigt.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Barthel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Otto?

Klaus Barthel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002622, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte, Herr Otto.

Hans Joachim Otto (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001666, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Lieber Herr Kollege Barthel, ich möchte keine Untergangsszenarien an die Wand malen, wie Sie es mir gerade unterstellt haben, sondern Ihnen schlicht und einfach die Frage stellen: Können Sie angesichts der vielen Schwierigkeiten und Probleme, die Sie uns geschildert haben, der deutschen Internetwirtschaft in Aussicht stellen, dass die auch von Ihnen für dringend notwendig erachtete Überarbeitung des Telemediengesetzes noch in dieser Legislaturperiode verabschiedet wird?

Klaus Barthel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002622, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Otto, das können wir; darauf wäre ich zum Schluss meiner Ausführungen gekommen. ({0}) Ich war noch bei Ihren Gedanken, dabei, wo wir keinen Handlungsbedarf sehen. Spamming beispielsweise konnte durch wirksamere Filter, aber auch durch die Androhung von Bußgeld zurückgedrängt werden. Die Rechtsprechung schafft auch an anderer Stelle immer mehr Klarheit. So hat zum Beispiel der Bundesgerichtshof in seinem Urteil vom 10. April 2008 in Sachen Haftung von Ebay bei „Namensklau“ im Internet eine weise Entscheidung getroffen: Er hat die Haftung von Internetauktionshäusern bejaht, sie aber begrenzt. Ich kann das jetzt aus zeitlichen Gründen nicht näher erläutern. ({1}) Das eine oder andere erübrigt sich also durch die laufende Rechtsprechung. Ich habe aber auch gesagt - Frau Krogmann hat das ebenfalls deutlich gemacht -, dass wir in Teilbereichen Änderungsbedarf sehen. Dieser Änderungsbedarf wird zurzeit - das dürfte allgemein bekannt sein - zwischen den Ressorts der Bundesregierung abgestimmt. Wir als Koalitionsfraktionen drängen darauf, dass diese Änderungen auf den Tisch kommen. Unsere Zusage steht - lassen Sie mich das zum Schluss noch einmal deutlich machen -: Die Oppositionsfraktionen werden in die Beratungen einbezogen, bevor der Kabinettsentwurf fertiggestellt wird. Insofern war es sicherlich verdienstvoll und hilfreich, dass Sie - FDP, Linke und Grüne - Ihre Änderungswünsche vorgelegt haben. Einiges, aber nicht alles werden wir sicherlich berücksichtigen können. Vor dem Hintergrund dessen, was Frau Krogmann und ich vorgetragen haben, werden Sie verstehen, dass wir heute Ihre Anträge ablehnen müssen, damit wir gemeinsam zu einem vernünftigen Ergebnis kommen. Das wird sicherlich noch in diesem Jahr sein. Der Zeitdruck ist uns durchaus klar. ({2})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Lothar Bisky, Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Lothar Bisky (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003739, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In einer Frage sind wir uns einig: Das bestehende Telemediengesetz vom vergangenen Jahr ist in wesentlichen Teilen für die Praxis ungeeignet. Das ist kein Wunder; denn es war bereits bei seiner Verabschiedung veraltet. Auch wir Linken halten es für richtig und notwendig, die Regelungen aus dem früheren Teledienstegesetz und dem Mediendienste-Staatsvertrag zusammenzuführen. Mit dem geltenden Telemediengesetz ist das allerdings misslungen. Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, Sie haben es versäumt, den Begriff „Telemedien“ im Gesetz eindeutig zu verankern und ihn mit den bestehenden EU-Richtlinien abzugleichen. Viel schwerer aber wiegt, dass Sie Tausende Betreiber und Betreiberinnen von Webseiten, Blogs, Foren und anderen Onlinediensten bei der Frage der Haftung alleinlassen. Sie haben es verpasst, die bestehenden Regelungen klarer und verständlicher zu formulieren und die Intention, die mit den Regelungen verfolgt wird, zu verdeutlichen. Nie war die Rechtsunsicherheit im Internet größer. Das bisherige Telemediengesetz ist hinsichtlich der Rechtssicherheit das Papier nicht wert, auf dem es geschrieben steht. Hier muss dringend nachgebessert werden. Machen Sie klar, wer wann, für was und warum haften soll; denn jemand, der ein Angebot im Netz bereitstellt, darf keinen unkalkulierbaren Haftungsrisiken ausgesetzt sein. Rechtssicherheit brauchen alle. Was wir nicht brauchen, sind präventive Überwachungspflichten. Auch der Datenschutz kommt im Telemediengesetz zu kurz. Die Linksfraktion fordert ein Recht auf Anonymität im Internet. Die meisten Menschen bewegen sich auch im normalen Leben, also außerhalb des Internets, häufig anonym in ihrer Umwelt. Noch ist das so, und ich hoffe, dass dies auch noch lange so bleiben wird. Wir alle wissen: Gerade im Internet ist der Datenschutz besonders wichtig. Darum muss er auch im Netz gelten. Ich will Ihnen ein Beispiel nennen: Manch einen Internetdienst dürfen Sie nur dann nutzen, wenn Sie gleichzeitig der Zusendung von Werbung zustimmen. Damit werden Sie quasi genötigt, Ihre persönlichen Daten unfreiwillig preiszugeben. Das mögen Sie anders sehen. Ich halte das für grundfalsch. Darum plädiere ich dafür, diese Zwangskoppelung zu untersagen bzw. zu verbieten. Auch die neu eingeführte Regelung hinsichtlich der Auskunft über Bestandsdaten ist uns viel zu weitgehend. Streichen Sie die Nachrichtendienste und die Polizeibehörden der Länder aus dem Kreis der Auskunftsberechtigten; denn so, wie es jetzt ist, ist es mit dem Datenschutz im Internet nicht weit her. Dass Private bei der Verletzung von Rechten des geistigen Eigentums mit Sicherheitsbehörden gleichgestellt werden, ist nicht nachzuvollziehen. Die Regelungen der Strafprozessordnung reichen hier völlig aus. Ich komme zum Schluss. Geben Sie sich einen Ruck! Novellieren Sie das Telemediengesetz zugunsten der Nutzerinnen und Nutzer, und stärken Sie den Verbraucherschutz und den Datenschutz! Ich danke Ihnen. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Nicole Maisch, Bündnis 90/Die Grünen.

Nicole Maisch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003884, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Telemediengesetz ist noch nicht sehr alt, aber leider schon jetzt veraltet. Darüber besteht hier im Haus Einigkeit. Uns wurde die Neuordnung der Medienlandschaft verkauft. Das Versprechen wurde leider nicht gehalten. ({0}) Wir sind der Ansicht, dass die Bundesregierung wichtige Meinungen von Experten ignoriert hat, die gesagt haben, dass das Gesetz weder den Anforderungen an einen bürgerfreundlichen und einheitlichen Datenschutz noch den Anforderungen an einen modernen Verbraucherschutz im digitalen Raum gerecht wird. ({1}) Ich habe auch gewisse Zweifel, ob der Boom der Internetwirtschaft nur auf dieses Gesetz zurückzuführen ist. Ich glaube, er hält schon etwas länger an, als dieses Gesetz in Kraft ist; er wurde nicht ausschließlich dadurch gefördert. Wir Grüne bemängeln, dass in diesem Gesetz eine Definition dessen fehlt, was ein Telemedium eigentlich ist. Was ist zum Beispiel mit Spiegel Online, die Texte und Videoclips im Internet anbieten? Ist ein Text Presse oder Telemedium? Sind Videoclips Rundfunk? Es fehlt auch eine Definition dessen, wer für die Aufsicht dieser Medien zuständig ist. Wer ist für den Jugendschutz zuständig? Muss ein Anbieter den Inhalt seiner Videos von den Landesmedienanstalten oder von der Kommission für Jugendmedienschutz kontrollieren lassen? Das inteNicole Maisch ressiert nicht nur große kommerzielle Anbieter, sondern auch viele private Blogger und Forenanbieter. Die müssen wissen, welches Recht für sie gilt und welche Verantwortung sie für ihr Angebot übernehmen müssen. Wir Grüne kritisieren insbesondere, dass die Bundesregierung die Welt des Internets ohne den Blick auf die Nutzerinnen und Nutzer gestaltet hat. Sie verkennt, dass Bürgerrechte, zum Beispiel beim Datenschutz, selbstverständlich auch im digitalen Raum gelten müssen. ({2}) Wir Grüne kritisieren, dass die Bundesregierung es verpasst hat, einen einheitlichen Datenschutz für Rundfunk, Telekommunikation und Telemedien zu schaffen. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an das Koppelungsverbot, das verhindert, dass die Nutzung von Internetdiensten an die Herausgabe persönlicher Daten gebunden ist. Das StudiVZ, das in diesem Kontext genannt wurde, ist, glaube ich, ein gutes Beispiel. Die Kollegin Krogmann hat kritisiert, dass Menschen im Internet ihre persönlichen Daten freigeben. Ich stimme mit Ihnen darin überein, dass man das nicht regulieren kann. Gegen Naivität und Dummheit helfen nun einmal keine Gesetze. Man kann aber regulieren, dass die Anbieter dieser Foren die Menschen, die sie nutzen wollen, dazu zwingen, ihnen eine große Anzahl persönlicher Daten als Voraussetzung dafür zu überlassen, dass man an solchen Angeboten teilnehmen kann. Das meinen wir mit Koppelungsverbot, und wir glauben, dass dringend Handlungsbedarf besteht. ({3}) Was den Datenschutz betrifft, gibt es also keinen Fortschritt. Stattdessen hat das Gesetz den Zugriff auf persönliche Daten sogar noch erweitert. Bestandsdaten dürfen unbegrenzt für die Gefahrenabwehr im Bereich der polizeilichen Vorbeugung und zur Durchsetzung der Rechte am geistigen Eigentum herausgegeben werden. Darin sehen wir Grünen eine Zweckentfremdung personenbezogener Daten. Wir glauben, dass Sie damit zu weit gegangen sind. Auch was den digitalen Verbraucherschutz angeht, glauben wir, dass dieses Gesetz dringend überarbeitungswürdig ist. Wir möchten, dass Verbraucherinnen und Verbraucher effektiver vor Spams geschützt werden. Wir glauben nicht, dass die Vorschläge der FDP, eine freiwillige Selbstkontrolle der Wirtschaft einzuführen, weiterführen. Wir wollen eine klare und einheitliche Kennzeichnung von Werbemails, damit Verbraucherinnen und Verbraucher nicht so leicht in die Irre geführt werden können. Wir wollen außerdem klare Bußgeld- und Verbotsregelungen für Spams und Werbemails. ({4}) Die Verfolgung von Spammern und Werbemailabsendern möchten wir bei der Bundesnetzagentur ansiedeln; denn Spam nervt nicht nur, sondern verursacht auch einen immensen volkswirtschaftlichen Schaden. Herr Barthel hat gesagt, er müsse sich die Zustimmung zu den Anträgen - also auch zu dem Antrag der Grünen - verkneifen, weil die Zeit dafür noch nicht gekommen ist. Tun Sie sich keinen Zwang an: Man kann auch jetzt schon zustimmen. ({5})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zu der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie auf Drucksache 16/8099. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/5613 mit dem Titel „Notwendige Verbesserungen am Telemediengesetz jetzt angehen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit mit den Stimmen der Fraktion Die Linke, SPD, Bündnis 90/Die Grünen und CDU/CSU bei Gegenstimmen der FDP angenommen. Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/6772 mit dem Titel „Telemediengesetz verbessern - Datenschutz und Verbraucherrechte stärken“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU und FDP bei Gegenstimmen von Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke angenommen. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/6394 mit dem Titel „Fehlende Verbraucherschutzregeln und Rechtsunsicherheiten im Telemediengesetz beseitigen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU und FDP bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({0}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Laurenz Meyer ({1}), Peter Bleser, Julia Klöckner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Elvira Drobinski-Weiß, Dr. Rainer Wend, Ingrid Arndt-Brauer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Sicheres Spielzeug für unsere Kinder - zu dem Antrag der Abgeordneten Nicole Maisch, Ulrike Höfken, Cornelia Behm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner EU-Spielzeugrichtlinie modernisieren und Verbraucherschutz ausbauen - Drucksachen 16/8496, 16/7837, 16/8977 Berichterstattung: Abgeordnete Doris Barnett Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Julia Klöckner, CDU/CSU-Fraktion.

Julia Klöckner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003566, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein Grund für die heutige Debatte sind die Erfahrungen aus dem vergangenen Sommer, als die Schlagzeilen einander jagten. Unsicheres Spielzeug wurde vom Markt zurückgerufen. Betroffen waren 20 Millionen Spielzeuge zum Beispiel von Mattel, einem Markenhersteller. Selbst bei solchen Herstellern kann man nicht davon ausgehen, dass die Produkte sicher und ungefährlich sind. Noch schlimmer waren die Schlagzeilen, dass Kinder erstickt sind, dass Vergiftungsgefahren bestehen und dass sich Eltern, die meistens damit befasst sind, ihre kleinen Kinder von gefährlichen Gegenständen wie Scheren fernzuhalten, Sorgen machten. Darüber, dass von harmlos erscheinenden Spielzeugen Gefahren ausgehen, sollten wir nicht nur diskutieren. Vielmehr sollten wir auch die Konsequenzen ziehen. Eines ist für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ganz klar: Es darf keine Kompromisse geben, wenn es um die Sicherheit und die Gesundheit unserer Kinder geht. Alle Produkte, die bei uns auf den Markt kommen und die Verbraucherinnen und Verbraucher hier erwerben können, müssen sicher sein. Es gibt keine Entschuldigung dafür, dass Spielzeug giftige und gefährliche Stoffe enthält und dass letztlich unsere Kinder in Europa gefährdet werden. ({0}) Ein anderer Grund für die heutige Debatte ist die anstehende Spielzeugrichtiglinie, über die auf europäischer Ebene verhandelt wird. Ich möchte mich ganz herzlich bei meiner Kollegin Frau Drobinski-Weiß bedanken. Wir beide haben damals zusammen mit der Wirtschaftsarbeitsgruppe den Antrag auf den Weg gebracht, der heute vorliegt. Wir haben ihn zwar im vergangenen Jahr erarbeitet. Aber er ist aktueller denn je. Mich hat sehr erstaunt, dass mit der vorgelegten Spielzeugrichtlinie, die Sicherheit bringen soll, nicht das umgesetzt wird, was der zuständige EU-Kommissar Verheugen in allen Reden sagt. Das heißt, dass krebserregende und erbgutschädigende Stoffe auch in Zukunft in Kinderspielzeugen zu finden sein werden, wenn die Richtlinie in der jetzigen Form umgesetzt wird. Vor allen Dingen werden Grenzwerte dann flexibler gehandhabt. Das heißt, dass man gegenüber krebserregenden Stoffen etwas toleranter sein wird. Ein weiterer Punkt, der uns besonders auf den Nägeln brennt, ist, dass das GS-Zeichen, das auf nationaler Ebene für geprüfte Sicherheit steht und ein hervorragendes Kennzeichen aus Deutschland ist, verboten werden soll. Was mich in der Tat sehr irritiert, ist die Rede von Herrn Verheugen, der am 28. Februar sagte, für Spielzeug gelte das europäische Chemikalienrecht REACH. Hier muss ich den EU-Kommissar leider verbessern. Das stimmt so nicht. Dieses Recht gilt nicht unmittelbar für Spielzeug. Des Weiteren sagte er, dass die Substanzen, die krebserregend oder fortpflanzungsschädlich seien, verboten werden. Aber auch hier muss ich den EU-Kommissar korrigieren. Das stimmt nicht. Es werden nur andere Grenzwerte eingeführt. Dann sagte er, dass bestimmte Duftstoffe verboten werden. Auch das stimmt nicht. Es werden wiederum nur andere Grenzwerte eingeführt. Hier gibt es eine Kluft. Wir von der CDU/CSU-Fraktion erwarten, dass der zuständige EUKommissar in Brüssel das von seinen Beamten umsetzen lässt, was er richtigerweise in seinen Reden sagt. Ich halte es schon für mehr als sportlich, die Stellungnahmen des Europäischen Parlaments und die ganze Debatte zu torpedieren. Schauen Sie sich einmal im Internet die Umfrage an, die die Kommission zurzeit über die Zukunft des GS-Zeichens durchführt. Die Fragen sind alles andere als wissenschaftlich und offen gestaltet. Fast Woche für Woche wird die Umfrage umformuliert. Ein letzter Satz: Ich freue mich sehr, dass die Verbraucherzentrale Bundesverband hier in Deutschland unsere Position unterstützt. Wir unterstützen uns gegenseitig. Mich irritiert aber, dass die europäische Verbraucherschutzorganisation zu keiner Meinung kommt. Das verstehe ich nicht unter einem Sprachrohr der Verbraucher. Ich höre von dort überhaupt keine klare Meinung zum GS-Zeichen. Das GS-Zeichen unterstützt nicht nur unsere Wirtschaft, sondern es schützt auch unsere Verbraucherinnen und Verbraucher. Verbraucherverbände fordern immer von der Politik, dass sie auf europäischer Ebene eine Meinung entwickelt. Das erwarten wir auch von den Verbraucherverbänden. Denn mit uns gibt es keine Kompromisse. Die Union steht für Sicherheit bei den Produkten und auch für Spaß beim Spielen. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Hans-Michael Goldmann von der FDP-Fraktion. ({0})

Hans Michael Goldmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003133, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich zunächst einmal, dass wir überhaupt zu diesem Thema sprechen. Ich war eben bass erstaunt, als ich angerufen und mir mitgeteilt wurde, es solle nicht geredet werden. Ich finde, die Kinder und der Anlass sollten es uns wirklich wert sein, diese Zeit heute Abend, wenn es auch ein bisschen spät ist, für unser wichtiges Anliegen zu verwenden. Ich finde es auch gut, dass unsere kinder- und jugendpolitische Sprecherin, Frau Gruß, extra hergekommen ist, um uns in dieser Frage zu unterstützen. ({0}) Die Kinderkommission war sich in dieser Frage einig. Dazu werden wir im Zusammenhang mit dem GS-Zeichen noch kommen. Es wäre auch ganz gut, wenn wir uns einig werden; aber wir sind uns ja ziemlich einig. Die FDP wird dem Antrag der CDU/CSU und der SPD zustimmen. ({1}) Liebe Freunde, wir müssen schon einmal hinschauen. Es muss jedem ein Schauer den Rücken hinunterlaufen, wenn er feststellt - die Zahlen sind jetzt von dem RAPEX-Schnellwarnsystem veröffentlicht worden -, dass es 1 605 Produktwarnungen im Jahr 2007 gegeben hat, also 53 Prozent mehr als im letzten Jahr. In 400 Fällen handelte es sich um Spielwaren. Das betrifft also genau den Problembereich, den Julia Klöckner eben angesprochen hat. Da geht es um Gifte und krebserregende Substanzen im Spielzeug. Man muss ganz klar sagen, dass das Sicherheitsniveau auf der europäischen Ebene weit hinter dem zurückbleibt, was wir uns wünschen. ({2}) Es ist richtig, was hier angesprochen worden ist, nämlich dass man sich von allen Seiten ein bisschen mehr Schlagkraft wünschen würde. Wir wissen, dass Grenzwerte bei Spielzeug einfach nicht ausreichen. Deswegen bitte ich darum, dass diejenigen, die an der Regierung beteiligt sind, SPD und CDU/CSU, auch auf unseren Minister und den geschätzten, immer anwesenden Staatssekretär Herrn Müller einwirken, damit sie in Brüssel - ich sage das einmal etwas locker - auf den Putz hauen; denn das, was in Brüssel passiert, ist ein tolles Ding. ({3}) - Da bin ich nicht so ganz sicher. Es gibt ein super Zeichen in Deutschland, das GSZeichen. Die europäische Ebene wird sich möglicherweise nur auf das CE-Zeichen einigen. Das heißt nicht, dass das GS-Zeichen vom Markt ist. Aber das heißt, dass im europäischen Wettbewerb nur das CE-Zeichen gilt. Dieses CE-Zeichen hat nun einmal klare Mängel gegenüber dem GS-Zeichen. Deswegen sollten wir uns gemeinsam dafür einsetzen, dass das qualifizierte GS-Zeichen zum Tragen kommt; denn im großen Unterschied zum europäischen CE-Zeichen wird die Übereinstimmung von Baumustern mit den später in den Handel gebrachten Produkten überprüft. Das ist der entscheidende Punkt. Es wird also nicht nur ein Baumuster irgendwann einmal vorgestellt, sondern es wird permanent überprüft, ob das Produkt, das auf dem Markt ist, mit dem Baumuster im Einklang ist. Das ist eine wirklich gute Sache. Deswegen noch einmal der Appell an das Ministerium, Herr Staatssekretär, sich um diesen Bereich energisch zu kümmern. Das Verbraucherinformationsgesetz ist schön und gut, aber ein Verbraucherinformationsgesetz, das mit relativ hohen Kosten auch für diejenigen verbunden ist, die Bittsteller sind, ist nicht so gut. Aber in dieser Frage kann man durch engagierten Einsatz auf europäischer Ebene möglicherweise wirklich noch etwas erreichen; aber es wird allerhöchste Zeit. Das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz - möglicherweise auch das Wirtschaftsministerium - ist in dieser Frage nicht besonders aktiv. Denn die Information über Produktmängel ist dringend verbesserungsbedürftig. Es gibt auch die Idee - die Idee gibt es schon länger -, ein Institut in Neuruppin einzurichten, das sich in besonderer Weise mit Produktsicherheit beschäftigt. Da kann ich nur sagen: Kommt in die Pötte, damit der Verbraucher endlich die Informationen erhält, die er braucht, um seine Entscheidung so zu treffen, dass die Kinder, die mit diesem Spielzeug so umgehen, wie man eben mit Spielzeug umgeht - Kinder stecken sich Spielzeug auch einmal in den Mund und spielen mit den Händen -, beim Spielen sicher sind. ({4}) Ich sage Ihnen, liebe Freunde, die Aktivitäten auf europäischer Ebene können Sie vergessen. Wir hatten heute Morgen ein Gespräch mit dem TÜV Deutschland, und ich hatte heute Mittag auch ein Gespräch mit Herrn Billen von der Verbraucherzentrale. Die Information seitens der europäischen Ebene ist eine einzige Katastrophe. Wenn Sie an Informationen kommen wollen und den Link endlich gefunden haben, dann müssen Sie folgenden Link eingeben. ({5}) Das kann man jetzt schlecht sehen; das gebe ich zu. Aber Sie sehen, dass es viel ist. Das müssen Sie alles eingeben, um an Informationen zu kommen: http://ec.europa.eu/ yourvoice/ipm/forms/dispatch?form=SAFETYMARK3 &lang=de. - Dann sind Sie immer noch in einem Bereich, in dem Sie im Grunde genommen kaum Informationen bekommen. ({6}) Lassen Sie uns gemeinsam dafür arbeiten, damit das, was heute beschlossen wird, auf europäischer Ebene Schlagkraft hat. Liebe Freunde von der Großen Koalition, schauen Sie sich Ihren Antrag noch einmal an. Ich meine, er enthält eine Verdächtigkeit. Ich glaube, dass wir zu schnell das GS-Zeichen für ein europäisches CE-Zeichen preisgeben. Lassen Sie uns gemeinsam dafür arbeiten, dass es auf europäischer Ebene hoffentlich zur GS-Qualität kommt. Herzlichen Dank. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Elvira Drobinski-Weiß von der SPD-Fraktion. ({0})

Elvira Drobinski-Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003705, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Falls Sie gleich ein paar Zahlen noch einmal hören, macht das, so denke ich, gar nichts. Dann bleibt es besser hängen. Vor drei Wochen hat die EU-Kommission den RAPEX-Jahresbericht für 2007 vorgelegt, der die Zahlen des europäischen Schnellwarnsystems für gefährliche Konsumgüter enthält. Der Kollege Goldmann hat es bereits gesagt: Um über 50 Prozent ist die Anzahl dieser Fälle angestiegen. Um genau zu sein, Herr Goldmann: Es waren 417 Meldungen, die vor allen Dingen gefährliches Spielzeug betrafen. Das heißt, es war pro Tag mehr als ein Fall. „Ein Spielzeug gibt zuerst Genuss durch seine Erscheinung und dann Heiterkeit durch seinen Gebrauch“, heißt es bei Jean Paul in der Erziehlehre. Heutzutage müsste es wohl eher heißen: Ein Spielzeug gibt zuerst Genuss durch seine Erscheinung und dann Vergiftungs-, Erstickungs- und Verletzungsgefahr durch seinen Gebrauch. Mit ein paar Beispielen will ich das illustrieren. Seit der letzten Lesung zu diesem Gesetzentwurf Mitte März sind täglich neue gefährliche Produkte aufgetaucht; ich möchte sie aneinanderreihen: Verschiedene Spielzeugwaffen mit Laser, Hersteller unbekannt, Warnung: Erblindungsgefahr durch zu starken Laser; Schaukelpferd, Hersteller unbekannt, Warnung: Schaukelpferd kann sich mit Kind überschlagen; ferngesteuerter Helikopter, Hersteller: AEOLUS, Warnung: Gefahr durch Stromschläge; Plastikdinosaurier, Hersteller unbekannt, Warnung: enthält nicht zugelassene, krebserregende chemische Substanzen. Beim Spielhandy von Super Hero können sich die Kinder Gehörschäden holen. Beim Kreisel des Herstellers TEDi können sie sich durch einen zu hohen Anteil an Weichmachern vergiften. Ebenso ist es beim Malen mit den Kinderfarben von TOY PLACE; denn bei denen werden die Chemikaliengrenzwerte überschritten. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind nur einige wenige Beispiele aus einer langen Liste. Von Heiterkeit durch den Gebrauch kann also keine Rede sein. Solche Produkte gehören nicht in Kinderhände und Kindermünder. Der Vorschlag der EU-Kommission zur Spielzeugrichtlinie reicht nicht aus; auch das ist schon von meinen Vorrednerinnen und Vorrednern gesagt worden. Dieser Entwurf enthält zwar ein Verwendungsverbot für krebserregende, erbgut- und fortpflanzungsschädigende Stoffe - k/e/f-Stoffe genannt -, dieses Verbot gilt allerdings nur dann, wenn die Konzentrationsgrenzwerte entsprechend den Regelungen im Chemikalienrecht überschritten werden. Damit wird der Gehalt des jeweiligen Stoffes im Produkt als entscheidend angesehen. Für die Sicherheit der Kinder ist es aber wichtig, wie viel des jeweiligen Giftstoffs vom Spielzeug freigesetzt werden kann. Denn am Spielzeug wird gelutscht, gekaut, und manchmal wird es auch verschluckt. Das Chemikalienrecht bringt uns hier also nicht weiter. Im Gegenteil: Es stellt eine deutliche Verschlechterung des geltenden Schutzniveaus für Kinderspielzeug dar. Der für Lebensmittelverpackungen zulässige Grenzwert für Vinylchlorid ist zum Beispiel mit 1 Milligramm pro Kilogramm tausendfach - ich betone: tausendfach niedriger als der nach Chemikalienrecht zulässige Grenzwert. Vinylchlorid führt übrigens zu Schädigungen der Leber, der Speiseröhre, der Milz, der Haut und wird als krebserzeugend eingestuft. Auch bei den Duftstoffen springt der Vorschlag zu kurz. 38 Stoffe sollen verboten werden. 26 dürfen dagegen weiter verwendet werden, wenn sie gekennzeichnet sind. Kontraproduktiv ist auch das im Kommissionsvorschlag erneut vorgesehene Verbot normaler Prüfzeichen. Die Entscheidung des Europäischen Parlaments und des Europäischen Rates vom Februar 2008 für eine generelle Beibehaltung nationaler Sicherheitszeichen wird hierdurch für den besonders sensiblen Spielzeugbereich ad absurdum geführt; Frau Klöckner hat dies auch schon ausgeführt. Gerade bei Kinderspielzeug müssen sich Eltern mithilfe eines unabhängigen Prüfzeichens am Markt orientieren können. ({0}) Das GS-Zeichen hat sich bewährt und muss erhalten bleiben, solange es kein entsprechendes EU-einheitliches Prüfzeichen - natürlich auf dem Niveau und Standard des GS-Zeichens - gibt. ({1}) Ende Mai soll ein Sicherheitspakt zwischen führenden Spielzeugherstellern aus der EU und der EU selbst geschlossen werden. Das ist zwar begrüßenswert; aber eigentlich ist dies eine Selbstverständlichkeit. ({2}) Die Hersteller müssen natürlich dafür sorgen, dass das von ihnen angebotene Spielzeug für die Kinder sicher ist. Kinder sind besonders schutzbedürftig; dies betonen wir immer wieder. Kleine Kinder nehmen Spielzeug in den Mund. Deshalb sollte Spielzeug wie ein Lebensmittel behandelt werden und den sogenannten Lebensmittelbedarfsgegenständen gleichgestellt werden. ({3}) Unser Antrag, Herr Staatssekretär Müller, fordert die Bundesregierung auf, bei den Verhandlungen auf EUEbene Folgendes deutlich zu machen: Bei der Sicherheit von Kindern darf es keine Kompromisse geben. - Bitte unterstützen Sie uns alle dabei und stimmen Sie für unseren Antrag. Vielen Dank. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Karin Binder von der Fraktion Die Linke. ({0})

Karin Binder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003738, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir führen heute eine ungewöhnliche Debatte. ({0}) Denn wir sind uns quer durch alle Fraktionen einig, dass die sogenannte Spielzeugrichtlinie der EU nicht akzeptabel ist. Sie schützt kein Kind vor unsicherem oder gar gefährlichem Spielzeug. Als Parlamentarier und Parlamentarierinnen müssen wir daher auf zwei Ebenen aktiv werden: auf der Bundes- und auf der EU-Ebene. Auf der Bundesebene sind wir uns in den wesentlichen Punkten einig; deshalb unterstützt meine Fraktion die vorliegenden Anträge. Darin wird die EU aufgefordert, das CE-Zeichen zu einem Prüfsiegel zu entwickeln, ({1}) das dem Schutzbedürfnis von Kindern gerecht wird und dem die Verbraucher und Verbraucherinnen trauen können. Die Mindestforderung lautet in diesem Fall, das deutsche GS-Siegel so lange zu erhalten, bis das CE-Zeichen der EU den Anspruch eines vergleichbaren Prüfsiegels erfüllt. Die EU-Kommission hat jedoch andere Vorstellungen. Sie beharrt auf dem nichtssagenden und unkontrollierten CE-Zeichen. Mit dem Aufdruck des CE-Zeichens erklärt ein Hersteller lediglich, dass er bei der Herstellung des Produktes die Sicherheits- und Gesundheitsanforderungen geltender Gesetze eingehalten hat. Eine Prüfung des Produkts findet nicht statt. So soll es nach dem Willen der EU-Kommission auch bleiben. Mit der überarbeiteten Spielzeugrichtlinie sollen Sicherheitsstandards eher noch heruntergefahren und Grenzwerte angehoben werden. Der Kommission geht es nämlich in erster Linie um die weitere Liberalisierung der Märkte und um den Abbau von sogenannten Handelshemmnissen, also um die Wirtschaft. Die Menschen in Europa werden hintangestellt. Ihnen wird mit dem CE-Zeichen eine Sicherheit vorgegaukelt, die es nicht gibt. Im Gegensatz dazu unterliegen Produkte mit dem deutschen GS-Siegel strengen Sicherheitskontrollen. Das ist ein Verkaufsargument. Das GS-Zeichen hat nur einen Fehler: Es ist bisher nicht verbindlich. Spielwarenhersteller allerdings, die etwas auf sich und ihre Produkte halten, unterziehen sich freiwillig dieser Kontrolle, um das GS-Siegel zu erhalten. Andere jedoch produzieren munter weiter drauf los. Besser gesagt, sie lassen produzieren, insbesondere in China, in sonstigen asiatischen, aber auch in anderen Billiglohnländern. Sie machen ihre Gewinne mit umweltschädlichen Produktionsmethoden, und sie beuten Menschen aus: Die Beschäftigten arbeiten zum Teil in 12-Stunden-Schichten, an sechs oder gar sieben Tagen die Woche, ohne Arbeitsschutz, ohne Gesundheitsvorsorge und unter menschenverachtenden Arbeitsbedingungen zu einem Lohn, der diesen Namen nicht verdient und von dem die Menschen auch in diesen Ländern nicht leben können. Es dürfte unstrittig sein, dass die Arbeitsbedingungen, die Qualität der Arbeitsplätze und die Qualifikation der Beschäftigten die Qualität eines Produktes bedingen. Das bedeutet für mich, dass die Verantwortung der deutschen Spielwarenhersteller und auch der internationalen Konzerne an den Produktionsstätten beginnt. Die Auftraggeber bzw. die Importeure dürfen sich der Verantwortung nicht länger entziehen, auf welche Art und Weise ihre Produkte hergestellt werden. Sie stehen in der Verantwortung gegenüber den Beschäftigten der Produktionsbetriebe dort wie auch gegenüber den Verbrauchern und Verbraucherinnen sowie insbesondere gegenüber den Kindern hier. Wir müssen die EU endlich dazu bewegen, verbindliche Umwelt- und Sozialstandards einzuführen, die auch auf die Partnerstaaten anzuwenden sind, die mit uns Geschäfte machen möchten. ({2}) Eine behördliche Marktaufsicht ist gut und wichtig, aber noch wichtiger und viel effizienter ist eine gute Vorsorge, in diesem Fall die Produktprüfung, bevor ein Spielzeug auf den Markt kommt. Sie können sicher sein: Langfristig werden die Kosten für diese Vorsorge schnell aufgefangen; denn im Zuge dessen entstehen wesentlich geringere Kosten für eine auf diese Weise vermeidbare Nachsorge. Letztendlich zahlen sonst nämlich die Verbraucher und Verbraucherinnen die Zeche: den Preis für qualitativ schlechte Produkte, Rückrufaktionen und verschwendete Ressourcen. Vor allem anderen aber hat die Sicherheit von Kindern Vorrang vor wirtschaftlichen Interessen. Ich danke Ihnen. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Nicole Maisch von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Nicole Maisch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003884, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Eine Novellierung der Spielzeugrichtlinie war nach 20 Jahren längst überfällig. Darüber, denke ich, herrscht hier ebenso Einigkeit wie in der grundsätzlichen Bewertung dieses Richtlinienentwurfs. Ein Blick ins Schnellwarnsystem der EU, RAPEX, macht deutlich, wie viele gefährliche Spielzeuge auf dem europäischen Markt sind und dass auch die Produkte namhafter Markenhersteller darunter sind. Das heißt, Eltern haben heute, wenn sie 40 oder 50 Euro für eine Puppe ausgeben, nicht mehr die Sicherheit, dass die verwendeten Materialien nicht giftig oder gefährlich sind. Deshalb braucht der Spielzeugmarkt sinnvolle Rahmenbedingungen zum Schutz der sensibelsten Konsumentengruppe, der Kinder. ({0}) Um es noch einfacher zu sagen: Eltern brauchen die Gewissheit, dass Spielzeuge, die auf dem deutschen Markt sind, ihre Kinder nicht vergiften - weder durch bleihaltige Farbe noch durch giftige Duftstoffe. Die Sicherheit, die wir für den Spielzeugmarkt brauchen, wird durch den momentan vorliegenden Richtlinienvorschlag allerdings nicht erreicht. Der Vorschlag der Kommission hat viele Schwachstellen; dadurch könnte es dazu kommen, dass die Spielzeuge für unsere Kinder nicht sicherer, sondern im Gegenteil sogar gefährlicher werden. Dies haben wir von Bündnis 90/Die Grünen in unserem Antrag „EU-Spielzeugrichtlinie modernisieren und Verbraucherschutz ausbauen“ und in den zurückliegenden Beratungen wiederholt deutlich gemacht. Auch der Antrag der Koalition weist auf den Nachbesserungsbedarf hin. Auch der Bundesrat, die Abgeordneten des Europäischen Parlaments und viele Verbände fordern Nachbesserungen am Entwurf. Ich möchte auf einige Punkte genauer eingehen. Es wird behauptet, dass durch die Regelungen für krebserregende, erbgutschädigende und fortpflanzungsgefährdende Stoffe sowie die Regelungen zu Schwermetallen wie Blei oder Quecksilber ein besseres Schutzniveau erreicht würde. Das Gegenteil ist der Fall. Die Koppelung an das europäische Chemikalienrecht bewirkt, dass das Schutzniveau für Kinder schlechter wird. Wir stellen uns klar gegen eine Aufweichung der Regelungen in diesem Bereich. ({1}) Giftige und erbgutschädigende Stoffe gehören nicht in Kinderspielzeug. Eine ernst zu nehmende europäische Spielzeugrichtlinie muss auch gewährleisten, dass die Sicherheitsmaßnahmen der Spielzeughersteller systematisch kontrolliert werden und diese Kontrollergebnisse öffentlich zugänglich gemacht werden. Die Verbraucherinnen und Verbraucher brauchen umgehend alle relevanten Informationen. Es wäre sehr schön, wenn sie ihnen auf Deutsch, barrierefrei und leicht verständlich zugänglich gemacht würden. ({2}) Über das GS-Zeichen ist schon einiges gesagt worden. Einen Aspekt möchte ich noch hinzufügen: Wir vom Bündnis 90/Die Grünen stehen hinter dem bewährten GS-Zeichen. Das CE-Zeichen bietet keinen ausreichenden Schutz und ist kein Ersatz für das GS-Zeichen. Wir wollen ein europäisches Sicherheitssiegel für sensible Verbrauchsgüter, das ähnlich wie das GS-Siegel ein hohes Schutzniveau aufgrund einer Kontrolle durch unabhängige Dritte garantiert. Meine Vorstellung von freiem Markt ist ein bisschen anders als die der Kommission. Herstellern, die das GS-Zeichen haben, weil sie besondere Anstrengungen im Bereich der Sicherheit unternehmen, zu verbieten, dies durch das GS-Siegel zu dokumentieren und so den Verbrauchern zu sagen, damit hätten sie ein besonders sicheres und gutes Produkt, ist doch keine freie Marktwirtschaft. Das hat auch nichts mit Liberalisierung und freiem Binnenmarkt zu tun. Ich habe das Gefühl, dass hier die Interessen von ganz anderen, unter anderem auch die der großen Konzerne, im Spiel sind, die glauben, dass ein Markenname ein Ersatz für ein Sicherheitssiegel sei. Wir Grünen wollen geprüfte Sicherheit weiterentwickeln, anstatt sie abzuschaffen. Mein Appell an die Bundesregierung: Nutzen Sie den Rückenwind, der hier ganz munter von allen Seiten, von der FDP bis zur Linken und natürlich auch von den Grünen, weht, und setzen Sie sich in den Verhandlungen auf europäischer Ebene dafür ein, dass die Forderungen aus den vorliegenden Anträgen Eingang in die Richtlinie finden. ({3}) Zum Schluss zitiere ich den EU-Kommissar Verheugen, der etwas ganz Schlaues gesagt hat: Wenn es um die Gesundheit der Kinder geht, darf es keine Kompromisse geben. ({4}) Damit dies keine leeren Versprechungen bleiben - es ist doch noch eher eine leere Versprechung -, ({5}) müssen Sie ihm vonseiten der Bundesregierung noch ein bisschen Anschub geben. Ein erster Schritt für einen solchen Anschub wäre eine Zustimmung zum grünen Antrag. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Franz Obermeier von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Franz Obermeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003201, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich habe in diesem Hause selten eine Debatte erlebt, in der die Übereinstimmung in den Ansichten so übergreifend war, wie es bei dieser Debatte der Fall ist. Offenbar haben wir auf nationaler Ebene gute Vorarbeit geleistet. Dennoch gibt es eine ganze Reihe von Punkten, bei denen wir zusammenstehen und unseren Einfluss geltend machen sollten, damit die europäische Richtlinie nicht in der Form in Kraft tritt, in der sie jetzt novelliert werden soll. Neben den schon mehrfach genannten Punkten wie dem, dass eine unabhängige dritte Prüfstelle eingerichtet werden soll, die nicht nur die physikalisch-mechanischen Anforderungen, sondern auch die chemischen Anforderungen an Kinderspielzeug prüft, gibt es etliche weitere Punkte, die wir in Brüssel vertreten sollten. Im Koalitionsantrag fordern wir die Beibehaltung des deutschen GS-Zeichens, weil es einen Meilenstein des Verbraucherschutzes im Allgemeinen darstellt. Hier prüft nicht nur der Hersteller, sondern etwa ein TÜV ein Produkt auf seine Sicherheit, und es gibt auch nicht nur eine Baumusterprüfung, sondern die Substanzen in diesem Artikel werden im weiteren Verlauf der Produktion immer wieder geprüft. Dies hat sich bewährt. Die Bundesregierung hat auf EU-Ebene bereits mehrfach für den Erhalt des GS-Zeichens gekämpft. Das GS-Zeichen muss zumindest so lange erhalten bleiben, bis ein ebenso effektives EU-einheitliches Sicherheitszeichen obligatorisch wird. Hier darf es keine Novellierung geben. Statt Abschaffung des GS-Gütesiegels sollten wir weiterhin auf ein europaweites unabhängiges Prüfzeichen für die Produktsicherheit drängen. Das Gütesiegel sollte von einer objektiven dritten Seite verliehen werden. Dann hätte der europäische Verbraucher eine einheitliche Orientierung. Es muss so gestaltet werden, dass auch die Importe nach Europa den Prüfungsmechanismen unterworfen werden. ({0}) Ich bitte Sie, unsere Kollegen im Europäischen Parlament verstärkt auf die Zusammenhänge in dieser Angelegenheit anzusprechen, damit sie im Parlament auf die Forderungen, die wir hier übereinstimmend erheben, deutlich hinweisen und uns beim Schutz unserer Kinder, unserer Verbraucherinnen und Verbraucher unterstützen. ({1}) Ich möchte kurz noch auf die Punkte eingehen, die in den anderen Anträgen enthalten sind. Der Oppositionsantrag enthält Maximalforderungen, die zum Teil rechtlich problematisch sind. Ich nenne den Rückruf vermeintlich unsicherer Produkte. Eine solche pauschale Abwälzung von Kosten kann nicht in einer EU-Richtlinie geregelt werden. Das widerspricht dem Subsidiaritätsprinzip. Davor sollten wir uns hüten. Ähnliches gilt für ein generelles Verbot von polyaromatischen Kohlenwasserstoffen; es wäre pauschalierend und zu weitgehend. Es gibt eine ganze Anzahl von Phthalaten und anderen Weichmachern, die toxikologisch unbedenklich sind und deshalb nicht unbedingt verboten werden müssen. Der Grenzwert für Blei ist im Richtlinienentwurf selbst geregelt. Somit ist eine Mitsprache des Europaparlaments zwingend. Ich bin überzeugt, dass die europäische Spielzeugrichtlinie von deutscher Seite bestmöglich auf den Weg und entscheidend nach vorn gebracht wird. Wir sollten alle miteinander daran mitwirken, dass in dieser Novelle eine vertretbare Regelung geschaffen wird. Weitere Ausführungen kann ich mir ersparen, weil Mehrfachäußerungen das Ganze nicht glaubwürdiger machen. Vielen Dank. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat der Kollege Jürgen Kucharczyk von der SPD-Fraktion das Wort. ({0})

Jürgen Kucharczyk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003794, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist bereits viel über RAPEX gesagt worden. Aber es ist schon erstaunlich, was man auf den Seiten dieses europäischen Warnsystems, insbesondere für die letzte Berichtswoche, findet, gerade im Zusammenhang mit Spielzeug, durch das Kinder großen Gefahren ausgesetzt werden, darunter ein Piratenset aus Plastik, das zu mehr als 30 Prozent aus gefährlichen Weichmachern besteht - hergestellt in Hongkong -, ein hölzernes ABC-Lernspiel aus China mit hohem Blei- und Chromanteil, eine Schnecke zum Hinterherziehen, also für die ganz Kleinen, die eine viermal so lange Schnur wie erlaubt hat. Insgesamt 145 Spielzeuge listet RAPEX für das Jahr 2008 schon auf - und wir haben gerade erst Mai. All diese Beispiele beweisen leider: Spielzeug bleibt weiterhin ein Problem und ein Gefahrenpotenzial für unsere Kinder. Es ist daher gut und richtig, dass sich insbesondere die Koalitionsfraktionen dem Thema „Sicheres Spielzeug“ gewidmet haben. In der EU hat sich die Zahl der gefährlichen Spielwaren innerhalb eines Jahres verdoppelt. Durch die EU-Spielzeugrichtlinie soll dem entgegengewirkt werden. Uns geht die Richtlinie jedoch nicht weit genug, und das vor allem in drei Punkten: Krebserregende, erbgut- und fortpflanzungsschädigende Stoffe haben im Spielzeug nichts verloren. Die vorgeschlagenen Grenzwerte für diese Stoffe sind zu hoch. Unsere Zielsetzung und unsere Forderung sind ein komplettes Verbot. In der EU-Richtlinie sind auch noch 38 allergene Duftstoffe erlaubt. Auch hier setzen wir uns für ein komplettes Verbot ein. Das GS-Zeichen und die CE-Kennzeichnung sind die einzigen gesetzlich geregelten Prüfzeichen in Europa für Produktsicherheit. Daher ist umso unverständlicher, dass die EU das Geprüfte-Sicherheit-Zeichen abschaffen will. Da machen wir nicht mit. ({0}) Wir setzen uns für dessen Erhalt ein. Unser GS-Zeichen ist zurzeit in Europa ein beispielhaftes Vorbild. Es bestätigt durch eine unabhängige Stelle, dass die Produkte die Vorschriften in Bezug auf Sicherheit und Gesundheit erfüllen. Spielen ist Erfahrung, Handeln und Emotion. Bei Werten wie Geborgenheit, Vertrauen und Tradition, die mir im Zusammenhang mit Spielzeug ebenfalls in den Sinn kommen, denke ich an die Eltern und an die Branche der Hersteller. Erfreulich ist, dass der Plüschtierhersteller Steiff seine Produktion aus China zurückholt. Damit übernimmt und stellt sich das Unternehmen der Verantwortung bei der Herstellung von Spielzeug. ({1}) Wir müssen die Eltern und all diejenigen, die Kindern mit Spielzeug eine Freude machen wollen, in die Lage versetzen, bewusste Verbraucherentscheidungen zu treffen. Diesbezügliche Informationen müssen verfügbar und transparent sein. Der Gedanke der Nachhaltigkeit muss auch beim Spielzeug in den Vordergrund rücken. Nachhaltigkeit heißt für mich in diesem Zusammenhang: Verwendung von umweltschonendem Material, keine Schadstoffe, Sicherheit, Langlebigkeit, Einhaltung des Verhaltenskodex des Weltverbandes der Spielwarenindustrie sowie keine Kinderarbeit. Unser Koalitionsantrag zeigt gangbare Wege, wie wir als Politiker, Eltern und Unternehmer zu nachhaltigem und sicherem Spielzeug beitragen können. Zugleich bewahren wir damit zwei unserer höchsten Güter: die Gesundheit unserer Kinder und die Freude unserer Kinder am Spielzeug. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie auf Drucksache 16/8977. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/8496 mit dem Titel „Sicheres Spielzeug für unsere Kinder“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. ({0}) Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/7837 mit dem Titel „EU-Spielzeugrichtlinie modernisieren und Verbraucherschutz ausbauen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Jan Korte, Petra Pau, Kersten Naumann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Entschädigung für Opfer nationalsozialistischer Verfolgung - Drucksachen 16/3536, 16/7950 Berichterstattung: Abgeordnete Günter Baumann Christian Ahrendt Wolfgang Wieland Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es dazu Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Günter Baumann von der CDU/CSUFraktion das Wort. ({2})

Günter Baumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003035, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Antrag der Fraktion Die Linke, der heute vorliegt, zielt erneut darauf, ehemaligen Mitgliedern der KPD der Bundesrepublik und politisch aktiven Kommunisten bzw. ihren Erben Ansprüche nach dem Bundesentschädigungsgesetz nachträglich zuzugestehen, weil sie Opfer nationalsozialistischer Verfolgung waren. In dem Antrag unterstellt die Linksfraktion erneut, dass ehemalige Mitglieder der verbotenen KPD, die Verfolgte in der NS-Zeit waren, generell keine Entschädigung bekommen hätten. Dies entspricht nicht den Tatsachen. Vielmehr haben Opfer nationalsozialistischer Verfolgung eine Entschädigung erhalten, wenn sie nicht zielgerichtet gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung der Bundesrepublik vorgegangen sind. Diesen Anspruch hat der Bundesgerichtshof im Jahre 1973 eindeutig bestätigt. Nach § 6 des Bundesentschädigungsgesetzes sind nur zwei Gruppen von Opfern des NS-Regimes von der Entschädigung ausgeschlossen; alle anderen erhalten eine Entschädigung. Ausgeschlossen sind zum Ersten diejenigen, die nach dem 23. Mai 1949 die freiheitlich-demokratische Ordnung im Sinne des Grundgesetzes in der Bundesrepublik bekämpft haben, und zum Zweiten diejenigen, die nach dem 8. Mai 1945 wegen eines Verbrechens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mehr als drei Jahren verurteilt worden sind. Wir müssen also eindeutig feststellen, dass der größte Teil eine Entschädigung erhalten hat. Nur wer mit allen Mitteln gegen die Bundesrepublik gearbeitet hat, ist ausgeschlossen worden. ({0}) - Kollege Korte, Sie können das nachher in Ihrem Beitrag anders darstellen. - Die Ausschlussgründe im Bundesentschädigungsgesetz hat übrigens das Bundesverfassungsgericht 1961 für eindeutig verfassungsgemäß erklärt. Der Antrag, der heute von den Linken vorgelegt wird, ist erneut der Versuch, die Gegner der Bundesrepublik, also diejenigen, die gegen den freiheitlich-demokratischen Staat gearbeitet haben, von Tätern zu Opfern zu stilisieren. ({1}) - Ich habe damit gesagt, dass Sie versuchen, Täter, die gegen die Bundesrepublik gearbeitet haben, heute als Opfer darzustellen und ihnen oder ihren Erben eine Entschädigung zuzugestehen. ({2}) Die KPD war 1956 durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts in der Bundesrepublik verboten, weil sie gegen den freiheitlichen Staat gearbeitet hat. Allein dem Verfassungsgericht obliegt das Entscheidungsmonopol - das wissen Sie, Kollege Korte -, eine Partei zu verbieten oder nicht, wenn sie gegen die demokratische Grundordnung gerichtet ist. Das Gericht kann im Gegenzug eine Partei auch dann für verfassungswidrig erklären, wenn keine Aussicht besteht, dass sie ihre verfassungswidrige Absicht in absehbarer Zeit verwirklichen kann. Damit spielte es aus damaliger Sicht keine Rolle, ob die KPD jemals ihr Ziel des revolutionären Sturzes Adenauers - das wollte sie nämlich - erreicht hätte. Es geht allein darum, dass sie dies erklärt hat und mit einer Vielzahl von Maßnahmen gegen den Staat gearbeitet hat. Wir wissen aus der Statistik: Es gab eine Vielzahl von Gerichtsurteilen gegen diejenigen, die gegen den Staat gearbeitet haben. ({3}) Somit können wir den heute erneut vorgelegten Antrag, das Bundesentschädigungsgesetz zu ändern, nicht unterstützen. Dieser Antrag ist auch gar nicht durchsetzbar. Ich möchte noch deutlich sagen, dass eine zweite Gruppe von Opfern - ich hatte vorhin von zwei Gruppen gesprochen -, nämlich diejenigen, die zu einer Freiheitsstrafe von mehr als drei Jahren verurteilt wurden, keine Entschädigung erhalten hat. Das heißt, sie mussten schwere Delikte in der Bundesrepublik begangen haben, ehe sie zu drei Jahren Freiheitsstrafe verurteilt wurden. Der Gesetzgeber hat heute wie damals einen Gestaltungsspielraum, Personen von einer Entschädigungsleistung auszuschließen. Das war gewollt und aus unserer heutigen Sicht eindeutig richtig. ({4}) Unter Berücksichtigung der damaligen Verhältnisse war es rechtsstaatlich vertretbar, Verfolgte des Nationalsozialismus auszuschließen, wenn sie gegen die freiheitliche Ordnung der Bundesrepublik mit schweren Straftaten gearbeitet haben. Mir liegt aber in meiner politischen Arbeit eine vollkommen andere Personengruppe wesentlich mehr am Herzen, nämlich die Opfer des SED-Regimes. ({5}) Anders als in der Bundesrepublik waren Richter und Staatsanwälte bei der Urteilsfindung in der DDR nicht dem Rechtsstaat verpflichtet. Hier wurden Bürger für ihren mutigen Einsatz für Freiheit, Demokratie und Gerechtigkeit gnadenlos verurteilt. ({6}) - Ich spreche von einer anderen Gruppe, Herr Korte. Sie sollten einmal zuhören. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Baumann, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Winkelmeier?

Günter Baumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003035, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte.

Gert Winkelmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003864, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Herr Kollege Baumann, ist Ihnen bekannt, dass Mitglieder der Kommunistischen Partei Deutschlands am Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland mitgearbeitet haben? ({0}) Ist Ihnen bekannt, dass der damalige Fraktionsvorsitzende der KPD bei der Verabschiedung des Grundgesetzes gesagt hat: „Die Mitglieder der KPD stimmen zwar heute dem Grundgesetz nicht zu, weil es zur Spaltung Deutschlands beiträgt; aber es wird die Zeit kommen, in der wir als Kommunisten die demokratischen Errungenschaften des Grundgesetzes verteidigen werden“?

Günter Baumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003035, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das habe ich hier in keiner Weise infrage gestellt. Auch Mitglieder der KPD haben eine Entschädigung bekommen - das habe ich deutlich gesagt -, aber nicht diejenigen, die gegen den Staat gearbeitet haben und rechtmäßig verurteilt worden sind. ({0}) Ein großer Teil der KPD-Mitglieder hat eine Entschädigung erhalten. Ich habe von denen gesprochen, die in dem Unrechtsstaat DDR verurteilt worden sind, weil sie sich für Freiheit und Demokratie eingesetzt haben. Es gab, wie wir heute alle wissen, hochgradige Unrechtsurteile und politische Verfolgung. Die politische Strafjustiz der DDR war verbrecherisch, was ein markantes Merkmal einer Diktatur ist. Die Opfer der DDR-Willkür haben für ihren mutigen Einsatz für Freiheit, Demokratie und Gerechtigkeit nach der Wende in unserem Land eine moralische Wiedergutmachung erfahren. Das letzte Gesetz hierzu war das 3. SED-Unrechtsbereinigungsgesetz von 2007. Kollege Korte, auch in dieses Gesetz haben wir bewusst einen Ausschlussgrund hineingeschrieben. Wir haben gesagt, dass eine gewisse Gruppe diese Entschädigung nicht erhält. Wir haben festgelegt: Keine Leistung erhält, wer „gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder der Rechtsstaatlichkeit verstoßen oder in schwerwiegendem Maße seine Stellung zum eigenen Vorteil oder zum Nachteil anderer missbraucht hat.“ Das sind politisch gewollte Ausschlussgründe, ebenso wie damals. Der wiederholt eingebrachte Antrag der Fraktion Die Linke - die PDS-Fraktion hat diesen Antrag früher schon einmal eingebracht; er ist also nicht neu - ist der untaugliche Versuch, diejenigen, die einen freiheitlichdemokratischen Rechtsstaat beseitigen wollten, zu Opfern zu machen. ({1}) Das ist eine Verhöhnung derer, die in Deutschland wirklich Opfer von Diktaturen waren. ({2}) Dass Sie als Fraktion Die Linke derartige Anträge heute immer noch stellen, zeigt der Öffentlichkeit in Deutschland deutlich, dass Sie noch nicht in der Demokratie angekommen sind. ({3}) Sie sollten Ihre Kraft lieber darauf verwenden, Ihre eigene Geschichte aufzuarbeiten. Wir werden Ihren Vorschlag ebenso wie im Innenausschuss ablehnen. Vielen Dank. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Ernst Burgbacher von der FDP-Fraktion. ({0})

Ernst Burgbacher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003063, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kollegen von der Linksfraktion, es ist klar, warum Sie diesen Antrag heute noch einmal beraten lassen. Für uns ist das aber eine gute Gelegenheit, noch einmal zu aufzuzeigen, warum Ihr Antrag in vielen Punkten schlichtweg falsch ist. Ich kann an das anknüpfen, was Herr Baumann sagte, und möchte mich kurz fassen. Ich will aber ausdrücklich unterstreichen: Der Antrag erweckt den Eindruck, Mitglieder der verbotenen KPD hätten ausnahmslos keine Entschädigung nach dem Bundesentschädigungsgesetz erhalten. Das ist schlichtweg falsch. Das wissen Sie, und das muss auch die Öffentlichkeit wissen. Ausgeschlossen von der Entschädigung waren nur solche Personen, die nach dem 8. Mai 1945 wegen eines Verbrechens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mehr als drei Jahren - das ist nun wirklich kein Pappenstiel - verurteilt worden sind, und solche Personen, die aktiv für die Beseitigung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung gekämpft haben. ({0}) Die bloße Mitgliedschaft in der KPD war zu keiner Zeit ein Ausschlussgrund. Hierauf hat mein Kollege Max Stadler immer wieder hingewiesen. Das sollten Sie einmal zur Kenntnis nehmen. ({1}) - Ich lasse jetzt keine Zwischenfragen zu, weil ich das weiter ausführen möchte. Ich will darauf hinweisen - auch diesbezüglich liegen Sie falsch -, dass die Bundesrepublik Deutschland in vielen Fällen, in denen ein Ausschlussgrund vorlag, gleichwohl Leistungen erbracht hat. In meinem Bundesland zum Beispiel, in Baden-Württemberg, haben viele Betroffene einen Härteausgleich nach dem Bundesentschädigungsgesetz erhalten. ({2}) Von einer Gerechtigkeitslücke kann entgegen Ihrer Behauptung also überhaupt keine Rede sein; das ist purer Unsinn. Sie laufen Gefahr, mit Ihrem Antrag neues Unrecht zu schaffen, mindestens alte Wunden aufzureißen. Es schüttelt mich, wenn ich in einem Bericht des Innenausschusses lesen muss, „Kommunisten, die Opfer des NS-Regimes waren, müssten ausnahmslos“ - ich wiederhole: ausnahmslos - „mit anderen Geschädigten nationalsozialistischer Verfolgung gleichgestellt werden“. Ich hätte mit diesem Satz kein Problem, stünde da „grundsätzlich“. Die Formulierung „ausnahmslos“ geht aber wirklich zu weit. Das liefe darauf hinaus, diejenigen, die sich für Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit eingesetzt haben, ebenso zu behandeln wie diejenigen, die aus der Geschichte nichts gelernt haben und einen neuen Unrechtsstaat errichten wollten. Das können wir nicht mittragen. ({3}) Ich will auf weitere Einzelheiten gar nicht eingehen. Aber eines möchte ich deutlich sagen: Das KPD-Verbotsurteil stellt eine Gefahr dar; das ist richtig. Damals hatte die FDP einen Antrag für eine gewisse Amnestie gestellt, mit dem sie nicht durchgekommen ist. Das ist Geschichte. ({4}) Es war auch so, dass einige übereifrige Staatsanwälte ermittelt haben, was aus heutiger Sicht zu weit ging. Aber für die Funktionsfähigkeit unseres Rechtsstaates spricht eindeutig, dass derartige Verfahren nur in verhältnismäßig wenigen Fällen überhaupt zu einer Anklage oder gar Verurteilung führten. Gleiches, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, lässt sich über die DDR leider nicht sagen. Dort wurde nicht nur systematisch gegen tragende Prinzipien des Rechtsstaats verstoßen, dort gab es darüber hinaus systemimmanente Sachverhalte von Unrecht. Das muss immer wieder gesagt werden, man muss immer wieder darauf hinweisen. Wenn Sie eine öffentliche Debatte wollen, dann müssen Sie das akzeptieren. Diese Unterscheidung ist notwendig und erlaubt, damit keine Geschichtsklitterung betrieben wird. ({5}) Ich würde mich freuen, wenn Sie sich dieser Erkenntnis endlich nicht länger verschließen und Ihren Antrag zu den Akten legen. Herzlichen Dank. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bevor ich dem Kollegen Wolfgang Gehrcke das Wort zu einer Kurzintervention gebe, will ich darauf hinweisen, dass das die letzte Kurzintervention ist, die ich heute zulasse. Ich bitte, auch von Zwischenfragen abzusehen, damit die Debatte nicht zu weit in den Abend hineingeht. Jetzt hat Kollege Gehrcke das Wort zu einer Kurzintervention. ({0})

Wolfgang Gehrcke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003130, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Wenn Sie schon Biografien lesen, dann lesen Sie sie vollständig. Ich war nicht nur DKP-Vorsitzender in Hamburg, ({0}) sondern auch Mitglied des Präsidiums. ({1}) Ich danke dem Präsidenten, dass er diese Kurzintervention zugelassen hat. Denn das, worüber Sie reden, ist auch ein Teil meiner Geschichte, wie Sie zu Recht feststellen. Ich bin 1961 Mitglied der damals verbotenen KPD geworden. Wenn Sie in die Geschichte schauen - es geht um die Aufarbeitung von Geschichte und Unrecht -, werden Sie feststellen, dass Persönlichkeiten wie Gustav Heinemann und auch der spätere Justizminister in Nordrhein-Westfalen Diether Posser - damals war er Rechtsanwalt - Kommunisten verteidigt haben. Aus den Verfahren, in denen sie Kommunisten verteidigt haben, sind leider viele Urteile ergangen, durch die die Betroffenen über drei Jahre Haft erhalten haben. Wenn Sie das hier als Ausschlussgrund ansprechen, müssen Sie dazusagen, dass in Zeiten des Kalten Krieges auch im Westen Unrecht geschehen ist. Unrecht Ost rechtfertigt nicht Unrecht West. Ich finde, diese ganz einfachen Vergleiche sollten wir hier endlich ausschließen, um den Menschen, die im KZ waren, die unendlich gelitten haben, die - aus Ihrer Sicht war es vielleicht falsch - bei ihrer Überzeugung geblieben sind und wenige Jahre danach schon wieder ins Gefängnis gekommen sind, ein Stückchen Würdigung oder - das Christentum hat einen viel besseren Begriff dafür Barmherzigkeit angedeihen zu lassen. Herzlichen Dank. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Keine Erwiderung. - Dann hat das Wort jetzt der Kollege Maik Reichel von der SPD-Fraktion.

Maik Reichel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003828, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute abschließend die Beschlussempfehlung zu Ihrem Antrag, lieber Kollege Korte. Ich möchte mit zwei formellen Punkten beginnen. Der Antrag zielt darauf ab, ehemaligen Mitgliedern der KPD bzw. politisch tätigen Kommunisten ihnen versagte Ansprüche nach erlittener Verfolgung durch den Nationalsozialismus zuzugestehen. Bei allem Verständnis für das Grundanliegen des Antrages muss jedoch zum Ersten darauf hingewiesen werden, dass der Antrag der Linken aus rein formellen Gründen ins Leere laufen muss. Das Bundesentschädigungsgesetz von 1956 ist im Jahre 1965 noch einmal als BundesentschädigungsgesetzSchlussgesetz verabschiedet worden. Darin wurde eine Ausschlussfrist auf den 31. Dezember 1969 gelegt. Jetzt zitiere ich aus dem Bericht des BMF aus dem Jahre 2006: Deshalb besteht heute keine Möglichkeit mehr, neue Ansprüche auf Entschädigungsleistungen nach dem BEG geltend zu machen. An dieser Regelung ist klar erkennbar: Ein Weiterverfolgen des Anliegens dieses Antrags ist nicht gegeben. Sollten wir hier ansetzen, wäre eine grundlegende Änderung des BEG-Schlussgesetzes notwendig. Eine solche Änderung ist momentan aber nicht in Sicht. Zweitens ist im BEG keine Erbenregelung vorgesehen. Eine heutige, rückwirkende Auszahlung an Erben ist deshalb nicht möglich, und sie wäre auch nicht systemgerecht. Das ist ein weiterer Grund, warum wir diesen Antrag ablehnen. Nun komme ich auf einen anderen Aspekt zu sprechen, über den heute schon diskutiert worden ist. In Ihrem Antrag unterstellen Sie, dass ehemalige Mitglieder der verbotenen KPD generell keine Entschädigung nach dem BEG erhalten haben. Ich weise nur auf den ersten Satz des Antrags der Linken hin - ich zitiere -: Der Deutsche Bundestag stellt fest: Es ist moralisches Unrecht und juristisch nicht hinnehmbar, dass Opfer nationalsozialistischer Verfolgung aufgrund ihrer Mitgliedschaft in der 1956 verbotenen Kommunistischen Partei Deutschlands ({0}) oder wegen politischer Tätigkeit als Kommunisten nach 1949 die ihnen zustehenden Entschädigungsleistungen nicht erhalten [haben] … In dieser Formulierung kommt diese Unterstellung zum Ausdruck; die Kollegen Burgbacher und Baumann haben darauf bereits hingewiesen. Es entspricht nicht den Tatsachen, dass eine bloße Mitgliedschaft in der KPD nach § 6 des Bundesentschädigungsgesetzes dazu geführt hat, dass man von der Entschädigung ausgeschlossen wurde. ({1}) - Nein, nicht zwangsläufig. ({2}) Nach richterlicher Auffassung - ich zitiere jetzt aus einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1961 - „muss der Betroffene bewusst das Ziel verfolgt haben, mit seiner Tätigkeit zum Kampf gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland“ beizutragen. Als das BEG im Jahre 1956 beschlossen wurde, hat man sich bewusst für die Bekräftigung, die unter anderem in dem Begriff „Kampf“ zum Ausdruck kommt, entschieden. § 6 des BEG bezieht sich also nicht allgemein auf die Mitgliedschaft in der Partei, sondern auf die konkreten Aktivitäten einer einzelnen Person, sei sie Mitglied der KPD oder einer anderen Vereinigung oder sei sie privat tätig, um die freiheitlich-demokratische Grundordnung aktiv zu bekämpfen, zu zerstören. Der Gesetzgeber hat bewusst kämpferische Aktivitäten als Ausschlussgrund angeführt. Dem ist auch das Gericht in seiner späteren Betrachtung gefolgt. Ich zitiere § 6 des BEG, der in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle spielt: Von der Entschädigung ausgeschlossen ist, … wer nach dem 23. Mai 1949 die freiheitliche demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes bekämpft hat … Heute, mehr als 50 Jahre nach dem Verbot der KPD durch das Bundesverfassungsgericht, gilt noch immer das Grundgesetz von 1949. Es hat sich auch in dieser Hinsicht bewährt. Das Grundgesetz ist eine der freiheitlichsten Verfassungen der Welt; darauf können wir wirklich stolz sein. Deshalb respektiere ich ausdrücklich das auf der Basis von Art. 21 Abs. 2 des Grundgesetzes entschiedene Verbot der KPD. Auch wenn dieses Verbot in Zeiten des Kalten Krieges erlassen wurde, handelte es sich um ein rechtsstaatliches Verfahren. In den Jahren zwischen 1950 und 1968 wurden im Zusammenhang mit einem Angriff auf die freiheitlich-demokratische Grundordnung bzw. mit dem KPD-Verbot etwa 200 000 Ermittlungsverfahren eingeleitet. Etwa 5 Prozent von ihnen führten zu einer Verurteilung. Ich habe schon darauf hingewiesen, dass die Ausschlussregelungen im Jahre 1961 ausdrücklich für verfassungsgemäß erklärt wurden; darauf brauche ich jetzt nicht näher einzugehen. Im Übrigen ist im Einzelfall bzw. in Fällen besonderer Härte nach § 171 des BEG ein Härteausgleich möglich; das gilt auch im Hinblick auf die Gruppe, um die es Ihnen geht, lieber Kollege Korte. Laut einer Umfrage unter den Bundesländern, die Ende der 90er-Jahre durchgeführt wurde, erhielten viele nach § 6 des BEG Ausgeschlossene in ebensolchen Härtefällen eine finanzielle Unterstützung; das haben die Länder im Jahre 1968 gemeinsam beschlossen. Nach meiner Information hat Baden-Württemberg - Kollege Burgbacher, Sie haben das angesprochen - sogar allen, die nach § 6 des BEG ausgeschlossen waren, einen solchen Härteausgleich gewährt. Vor diesem Hintergrund kann ich den Ausführungen, die Sie in Ihrem Antrag machen, leider nicht folgen. Dort heißt es zum Beispiel: „Ausgrenzung der Kommunistinnen und Kommunisten aus den Opferentschädigungsleistungen“ - das ist so pauschal nicht richtig - oder „juristische Abwertung und die moralische und soziale Ausgrenzung der kommunistischen Opfer des Nazi-Regimes“ bezüglich der Verweigerung der Entschädigungsleistungen. Ich stelle noch einmal fest: Eine pauschale Verweigerung von Entschädigungsleistungen nach dem BEG nur aufgrund von Mitgliedschaften in der KPD hat es - anders als Ihr Antrag suggeriert - nicht gegeben. Wir werden Ihren Antrag ablehnen. Ich gebe zu: 50 oder 60 Jahre sind eine lange Zeit. Bei manchem Antrag ist eine Redezeit von neun Minuten auch sehr lang. Deshalb schenke ich Ihnen drei Minuten meiner Redezeit. Vielen Dank. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Jan Korte von Fraktion Die Linke. ({0})

Jan Korte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003790, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident, bekomme ich die drei Minuten geschenkt? ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Nein, ich bedaure.

Jan Korte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003790, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte deutlich sagen: Wenn es um die Anerkennung der Opfer des Nationalsozialismus geht, sollte man einmal zurückblicken, um zu erfahren, wie lange es gedauert hat, bis zum Beispiel die Opfer des 20. Juli überhaupt als Widerständler anerkannt wurden. ({0}) Sie können doch nicht allen Ernstes behaupten, in der Geschichte der Bundesrepublik habe es eine Gedenkkultur gegeben, bei der insbesondere der Opfer der Arbeiterbewegung gedacht worden sei. Solch eine Position können Sie nicht allen Ernstes in diesem Hause vertreten. Ich möchte daran erinnern, dass Bundestagspräsident Lammert bei der Gedenkstunde zum Jahrestag der Machtergreifung richtigerweise darauf hingewiesen hat, dass Kommunistinnen und Kommunisten die Ersten gewesen sind, die in die Konzentrationslager gewandert sind. Sie waren die Allerersten, die einen unerträglich hohen Blutzoll gezahlt haben. ({1}) Ich verstehe nicht, wie man hier in der Diskussion einen gesellschaftlichen Kontext einfach verschweigen kann: Während des Kalten Krieges herrschte in der Bundesrepublik ein quasi staatsreligiöser Antikommunismus. Damals stellte es schon eine Handlung gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung dar, wenn ein Turnverein aus der Bundesrepublik einen Turnverein in der DDR besucht hat; selbst das wurde in dieser Zeit verfolgt. Man muss verdeutlichen, welche Verhältnisse hier damals geherrscht haben. ({2}) Im Bundesentschädigungsgesetz - darum geht es hier; es wurde heute exakt daran vorbei geredet - ist von einer „Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts“ die Rede; es diene der „Anerkennung der Tatsache“ - so steht es in der Präambel -, dass der „geleistete Widerstand ein Verdienst um das Wohl des Deutschen Volkes und des Staates war“. Der Rechtswissenschaftler Alexander von Brünneck hat dezidiert nachgewiesen, dass ganz viele Leute nicht unter die Regelungen des BEG gefallen sind bzw. ihre Wiedergutmachungsleistungen - das ist der eigentliche Skandal - zurückzahlen mussten. Man muss sich einmal klarmachen, was das bedeutet: Kommunistinnen und Kommunisten, die zum Teil von 1933 bis 1945 im Konzentrationslager gewesen sind, sollten später die erhaltene Entschädigungsleistung zurückzahlen. Wenn wir hier über Opfer reden, darf man die damaligen Täter nicht vergessen - man sollte deutlich darüber reden -: 80 Prozent derer, die an bundesdeutschen Gerichten über Kommunistinnen und Kommunisten geurteilt haben, waren ehemalige Nazis. ({3}) Es wäre schön, wenn wir auch darüber einmal diskutieren würden. Ich will noch einmal deutlich sagen: Es ist geradezu absurd - das muss man sich einmal vorstellen -, dass damals den Menschen, die für erlittenes Unrecht entschädigt wurden, die Entschädigung aberkannt wurde. Zugleich haben die hohen Funktionsträger, die Eliten des Nationalsozialismus üppigste Staatspensionen bis zu ihrem Tod kassiert. Man muss das einmal gegenüberstellen, um zu verdeutlichen, was hier in der Bundesrepublik abgelaufen ist. Wir dürfen nämlich, wenn wir über Opfer reden, die Täter nicht aus ihrer Verantwortung entlassen. Herr Baumann, Sie haben in erster Lesung - heute noch einmal - gesagt: Die Opfer, die Sie in Ihrem Antrag ansprechen, sind gerade keine Opfer einer Diktatur. Das schlägt dem Fass wirklich den Boden aus. Wollen Sie allen Ernstes aufrechterhalten, dass diejenigen, die 1933 in die Konzentrationslager gegangen sind, keine Opfer sind? Ist das Ihre Position? Das kann doch wohl nicht wahr sein. Der Widerstand ist unteilbar; das ist eine Lehre aus der Geschichte. ({4}) Deshalb fordere ich Sie auf, das zurückzunehmen. ({5}) Ich möchte eine letzte Anmerkung an die Reihen der Union machen. Sie reden über die Aufarbeitung der Vergangenheit der DDR und des dort geschehenen Unrechts. Wir befassen uns seit 1990 kritisch und ausführlich damit. ({6}) Ich habe bisher von keiner Tagung der Union - weder bei der Konrad-Adenauer-Stiftung noch bei Ihnen - gehört, bei der Sie sich damit auseinandergesetzt haben, was es mit Leuten wie Globke, Oberländer und anderen Leuten auf sich hat, die die Politik der Union in der frühen Bundesrepublik maßgeblich bestimmt haben. Vielleicht können Sie einmal damit beginnen. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Wolfgang Wieland von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Wolfgang Wieland (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003863, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! So etwas geschieht selten: Ich kann mich keinem der Vorredner vorbehaltlos anschließen. Ich habe mich wundern müssen, dass wir heute, am 8. Mai, argumentativ zum Teil in die Zeit des Kalten Krieges zurückgefallen sind. Als hätte es die große Rede Richard von Weizsäckers vom 8. Mai 1985 - das Begrüßen dieses Datums als Tag der Befreiung und damit einhergehend ein Blick auf die, die bis dato die ausgegrenzten und vergessenen Opfer des Nationalsozialismus gewesen sind - nicht gegeben! Darum geht es bei dem Antrag der Linksfraktion, auch wenn er aus unberufenem Munde kommt und auch wenn er - das will ich auch sagen - ziemlich hingerotzt ist. Ihr zeigt keinen Weg auf, ihr schreibt nur, die Bundesregierung soll ein Gesetz ändern. Die Exekutive soll die Gesetze machen? Wo leben wir eigentlich? Außerdem wird nicht gesagt, wie. Zudem wird vergessen, dass - wie hier zu Recht gesagt wurde - auf Länderebene seit jener Mitte der 80er-Jahre nachgearbeitet wurde, mit Härtefallregelungen aufgefangen wurde, im Land Berlin beispielsweise. All das müsste man berücksichtigen, wenn man den Menschen wirklich helfen will. Da reicht es nicht, agitpropmäßig einen Stein ins Wasser zu werfen. ({0}) Dennoch gebe ich dem Kollegen Korte recht: Das Anliegen ist berechtigt. Die Täter haben nach 1945 eine Rente bekommen, selbst die, die aus dem Beamtenverhältnis entlassen worden waren; sie sind in der Sozialversicherung nachversichert worden und bekamen dann eben eine gesetzliche Rente. Freislers Witwe bekam die Rentenerhöhungen bis zum Schluss. Die Opfer wurden zum Teil gar nicht entschädigt. Im Hinblick auf Sinti und Roma hieß es: Das waren asoziale Landfahrer, das war keine politische Verfolgung. Im Hinblick auf Zwangssterilisierte hieß es: Das Erbgesundheitsgesetz ist kein Unrechtsgesetz, ist nicht per se rechtswidrig. Kommunisten und andere wurden ausgegrenzt, weil ihnen aktive Gegnerschaft gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung teils unterstellt, teils nachgewiesen wurde. Der Fraktionsvorsitzende Renner, von dem in der Zwischenfrage die Rede war, musste Entschädigungsleistungen in Höhe von 25 000 DM zurückzahlen, ohne dass er je verurteilt worden wäre. Es hieß schlicht: Du bist als KPD-Vorsitzender aktiv gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung. Bei anderen langte ein achtmaliges Verteilen der Zeitung Die Wahrheit oder das Hissen einer roten Fahne am 1. Mai. Ganz im Ernst stand das noch 1970 in einem Urteil des Bundesgerichtshofes. Hier wäre enormer Aufarbeitungsund Änderungsbedarf. Ich sage auch: Heute würde man es so nicht mehr sehen. Selbst mit Menschen, die mit dem Regime der DDR gebrochen hatten, ist man so umgegangen, mit Ernst Niekisch beispielsweise, der acht Jahre im Zuchthaus Brandenburg gesessen hat, bis er im April 1945 von der Roten Armee befreit wurde. Er ist Professor in Ostberlin geworden, hat später mit dem System gebrochen und ist nach Westberlin gegangen. Zwölf Jahre musste Niekisch prozessieren, bevor er, blind, partiell gelähmt, eine Entschädigung erhielt. Dazu ein Zitat von Alfred Kantorowicz: Der Fall Niekisch ist zu einem unauslöschlichen Schandfleck und zu einer Belastung Berlins geworden, gerade in den Teilen der Welt, die wir die freie nennen. Kantorowicz wusste, worüber er schreibt, weil es ihm, der nach dem Ungarn-Aufstand aus der DDR in den Westen gegangen war, genauso ergangen ist. Auch er musste den Klageweg beschreiten. Es war leider so - auch da hat Herr Korte recht -, dass die Juristen, die Richter, die in der NS-Zeit nicht im Traum daran gedacht hatten, selber Widerstand zu leisten, sich dazu aufschwangen, diese Entscheidungen zu treffen. Fazit: Man muss etwas tun. Die Linksfraktion hat ihr Pulver verschossen. Das heißt aber nicht, dass dieses Kapitel erledigt wäre. Wir können uns zu diesem schlechten Antrag nur enthalten, meinen aber, dass wir, wenn sich der Pulverdampf verzogen hat, wenn wir uns ruhig mit der Sache befassen, zu einer Lösung kommen müssten. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Innenausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Entschädigung für Opfer nationalsozialistischer Verfolgung“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/7950, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/3536 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke und Enthaltung vom Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 auf: Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Bundesnotarordnung ({0}) - Drucksache 16/4972 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({1}) Innenausschuss Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll gegeben. Es handelt sich um die Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Reden der Kollegen Michael Grosse-Brömer, CDU/ CSU, Christoph Strässer, SPD, der Kollegin Mechthild Dyckmans, FDP, der Kollegen Wolfgang Nešković, Die Linke, und Jerzy Montag, Bündnis 90/Die Grünen, sowie des Parlamentarischen Staatssekretärs Alfred Hartenbach.

Michael Grosse-Brömer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003541, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ausgangspunkt des vorliegenden Gesetzentwurfs zur Neuregelung des Zugangs zum Anwaltsnotariat ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 20. April 2004. Darin hatte das Gericht die bisherige zu § 6 Abs. 2 u. 3 Bundesnotarordnung entwickelte Verwaltungspraxis gerügt. Hauptkritikpunkt: Das Auswahlsystem werde dem Prinzip der Bestenauslese nicht ausreichend gerecht, deshalb sei es zumindest teilweise verfassungswidrig. Notare sind für eine verlässliche und funktionstüchtige Rechtspflege unentbehrlich. Deshalb ist das Eintreten des höchsten deutschen Gerichts für die Bestenauslese im Rahmen der Notarauswahl richtig und konsequent. Über die Verwaltungsvorschriften der Länder ist ein verfassungskonformes Auswahlsystem nicht zufriedenstellend zu regeln. Mit dem Bundesrat bin ich deshalb der Ansicht, dass aufgrund des erwähnten Urteils gesetzgeberischer Handlungsbedarf besteht. Durch die derzeit vorhandenen Schwächen beim Zugang zum Anwaltsnotariat kommt es erfahrungsgemäß auch immer wieder zu langwierigen Konkurrentenstreitverfahren. Dadurch können vakante Notarstellen oft längere Zeit nicht wiederbesetzt werden. Auch dieses Manko soll durch den Entwurf abgebaut werden. Der maßgebliche Lösungsansatz des Gesetzentwurfs - eine stärkere Berücksichtigung notarspezifischer Leistungen - ist richtig. Den Rechtsanwälten, die den Wunsch nach einer Bestellung als Anwaltsnotar haben, kann dadurch der Quasi-Rückfall in studentische Zeiten, das heißt innerhalb möglichst kurzer Zeit möglichst viele Fortbildungsnachweise anzusammeln, erspart werden. Unter dem Druck, häufig notarielle Fortbildungskurse zu besuchen, welche regelmäßig an Wochenenden stattfinden, leiden bislang wohl vor allem Frauen mit Kindern bzw. Frauen mit Kinderwunsch. Das hat jedenfalls die „Arbeitsgemeinschaft Anwältinnen“ des DAV in einem Memorandum ausdrücklich bemängelt. Insoweit ist zu hoffen, dass durch den Wegfall des „Zwangs zum Scheinesammeln“ sowohl der niedrige Anteil von Frauen bei den Anwaltsnotaren als auch der Familienzusammenhalt erhöht werden können. Künftig soll es de lege ferenda neben dem Ergebnis der Zweiten Juristischen Staatsprüfung entscheidend auf das Ergebnis einer vor einem eigenständigen Prüfungsamt abzulegenden „notariellen Fachprüfung“ ankommen. Auch dieses Konzept der Bestenauslese mittels einer fachspezifischen Prüfung erscheint vom Ansatz her überzeugend. Gleichwohl lässt ein Blick auf den geplanten Prüfungsaufwand und Prüfungsumfang etwas Besorgnis aufkommen. Bereits die umfangreichen Einzelbestimmungen über die notarielle Fachprüfung - §§ 7a bis 7i der geänderten BNotO - lassen bei mir die Befürchtung entstehen, dass sich die notarielle Fachprüfung in der Praxis als „drittes juristisches Staatsexamen“ darstellen könnte. So sollen die Prüfungskandidaten ihr Wissen in allen Rechtsgebieten der notariellen Amtstätigkeit in sechs jeweils fünfstündigen Aufsichtsarbeiten sowie einer mündlichen Prüfung - bestehend aus einem Vortrag und einem Gruppenprüfungsgespräch mit drei Abschnitten - unter Beweis stellen. Folglich werden sich die Notaraspiranten, nachdem sie bereits zwei unzweifelhaft schwierige Staatsprüfungen bestanden haben, de facto einem dritten juristischen Staatsexamen stellen müssen. Das geht mir etwas zu weit! Ich halte es für unerlässlich, dass die Vorbereitung für die notarielle Fachprüfung berufsbegleitend erfolgen kann und keine Auszeit erfordert. Dies auch vor dem Hintergrund, dass der freiberuflich tätige Kollege schließlich nicht nur seinen Lebensunterhalt, sondern auch das Geld für die Prüfung erarbeiten muss. Da für die Durchführung der Prüfung ein organisatorisch eigenständiges Prüfungsamt bei der Bundesnotarkammer eingerichtet werden soll und die hierfür anfallenden Kosten durch Prüfungsgebühren ausgeglichen werden sollen, könnte sich die notarielle Fachprüfung für die Prüflinge nämlich nicht nur als fachlich schwierig, sondern auch als teuer erweisen. Neben dem zentralen Punkt der Einführung einer notariellen Fachprüfung sieht der Gesetzentwurf eine Reihe von Änderungen und Ergänzungen der in § 6 Abs. 2 BNotO normierten Regelvoraussetzungen für die Bestellung vor. So soll es künftig auf eine tatsächlich ausgeübte fünfjährige Rechtsanwaltstätigkeit statt auf einen bloßen Zulassungsnachweis ankommen. An anderen Voraussetzungen des Zugangs zum Anwaltsnotariat hält der Entwurf dagegen fest. Dies betrifft etwa den Staatsangehörigkeitsvorbehalt oder die dreijährige örtliche Wartefrist. Bei dieser Frist soll künftig nicht mehr der Amtsgerichts-, sondern der Landgerichtsbezirk maßgebend sein. Im Einzelnen werden wir die Notwendigkeit einiger im Entwurf vorgesehener Änderungen des Zugangs zum Anwaltsnotariat noch im Verfahren diskutieren. So könnte etwa für den Beibehalt der örtlichen Wartefrist das Vermeiden des „Ämter-Hoppings“ im Rahmen hoheitlicher Tätigkeiten angeführt werden. Andererseits fragt es sich, ob es in Zeiten der modernen Kommunikation und der Einführung des elektronischen Rechtsverkehrs tatsächlich noch entscheidend auf das Vertrautsein mit den örtlichen Gegebenheiten ankommt. Hier gibt es auch bei den Verbänden und Rechtswissenschaftlern unterschiedliche Ansichten. Meiner Ansicht nach kann ebenfalls hinterfragt werden, ob die von den Kandidaten nachzuweisende notarspezifische Praxisausbildung tatsächlich 160 Stunden umfassen muss. Nach der ersten Lesung lassen sich sicherlich noch weitere Details mit Experten aus Wissenschaft und Rechtspflege diskutieren. Ich möchte hier auf eine bedeutsame Frage eingehen, der wir deutschen Parlamentarier in der Vergangenheit vielleicht nicht immer die erforderliche Aufmerksamkeit haben zukommen lassen. Die Rede ist vom Europarecht. Wenn bei Gesetzesberatungen im Bundestag teilweise erbittert um Details gerungen wird, soll man Brüssel oder auch Luxemburg nicht aus den Augen lassen. Das zeigt sich auch bei der Neuregelung des Zugangs zum Anwaltsnotariat. Während auf nationaler deutscher Ebene über generelle Fragen wie die Bestenauslese oder spezielle Fragen wie die örtliche Wartefrist gestritten wird, ist nach über elfjährigem Streit zwischen Kommission und Bundesregierung am 12. Februar dieses Jahres als dritte Stufe eines Vertragsverletzungsverfahrens eine Klage der Kommission gegen die Bundesrepublik erhoben worden ({0}). Inhaltlich geht es um den deutschen Staatsangehörigkeitsvorbehalt des § 5 BNotO, der nach Ansicht der Kommission gegen die in den Art. 43 und 45 EGV statuierte Niederlassungsfreiheit verstößt. Sollte die Kommission mit ihrer Klage obsiegen, hätten es deutsche Notare wohl bald mit europäischer Konkurrenz wie dem solicitor und notary public Mark Kober-Smith aus Kent zu tun. Dieser hatte - einen lukrativen Markt vor Augen das Vertragsverletzungsverfahren maßgeblich mitinitiiert. Nun wäre die englische Konkurrenz aus meiner Sicht nicht zu fürchten. Es könnte aber zu einer Inländerdiskriminierung kommen, wenn die deutschen Notare gemäß § 10a BNotO an ihren Amtsbereich gebunden wären, ihre ausländischen Kollegen dagegen nicht. Dass mit diesem Szenario das System der Bestenauslese und das Erfordernis der örtlichen Wartefrist aus einem ganz anderen Blickwinkel zu bewerten wären, brauche ich hier wohl kaum ausführlicher zu erläutern. Worum es mir letztendlich geht, ist nicht vorauseilender Gehorsam gegenüber Europa. Der EuGH muss schließlich erst noch entscheiden. Ich möchte lediglich die Sensibilität dahin gehend erhöhen, dass eine wichtige und weitreichende Entscheidung in Europa zum hier maßgeblichen Thema noch aussteht. Deshalb halte ich es für angebracht, im vorliegenden Fall der Neuregelung des Zugangs zum Anwaltsnotariat die Entwicklung in Europa sehr genau zu verfolgen. Wenig wäre damit gewonnen, ein neues System des Zugangs zum Anwaltsnotariat zu etablieren, nur um dieses dann anschließend nach dem Urteil des EuGH wieder nachbessern zu müssen. Nach allem unterstütze ich den Gesetzentwurf grundlegend und in seinen wesentlichen Regelungen. Ich erlaube mir aber auch die Mahnung zu einem aufmerksamen Blick nach Europa zu diesem Thema.

Christoph Strässer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003644, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

In der letzten Sitzungswoche haben wir uns einem Gesetzentwurf die Anwaltschaft betreffend gewidmet. In dieser Woche richten wir unser Augenmerk auf das Berufsbild des Notars. „Der Notar ist der weltliche Beichtvater. Er ist Puritaner von Profession und Ehrlichkeit“, heißt es bei Shakespeare. Dem Berufsbild des Notars werden durch die Rechtsuchenden demnach einige herausragende Eigenschaften zugeschrieben. Und tatsächlich kommt dem Notar in unserem Rechtssystem eine wichtige Bedeutung zu. Der Notar ist Amtsperson und betreut die Rechtsuchenden bei schwierigen und folgenreichen Rechtsgeschäften. Notare sind besonders ausgebildete und erfahrene Juristen. Dementsprechend sind nur qualifizierte Juristen mit spezifischen Fachkenntnissen als Notare zu bestellen. In Deutschland gibt es etwa 1 600 hauptberufliche Notare und ungefähr 7 200 Anwaltsnotare. Um die Anwaltsnotare geht es in dem nun vorgelegten Gesetzentwurf. Mit dem Bundesratsentwurf soll der Zugang zum Anwaltsnotariat neu geregelt und damit auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts reagiert werden. Das Bundesverfassungsgericht hat die bisherige Verwaltungspraxis zum Teil für verfassungswidrig erklärt. Die individuelle Prüfung der fachlichen Eignung des einzelnen Bewerbers ist für den Bereich des Anwaltsnotariats - anders als im Bereich des hauptberuflichen Notariats mit mehrjährigem Anwärterdienst - wegen der eingeschränkten Erkenntnismöglichkeiten und der größeren Stellen- und Bewerberzahlen praktisch nur schwer durchführbar. Bisher beschränkte man sich bei der Verwaltungspraxis im Auswahlverfahren neben dem Ergebnis des zweiten Staatsexamens auf eine formalisierte Auswahl nach eher quantitativ bestimmten Kriterien. Das Bundesverfassungsgericht hat nunmehr festgestellt, dass diese Verwaltungspraxis und Rechtsprechung dem Grundrecht auf freie Berufswahl nicht hinreichend Rechnung tragen, und eine individuelle Prüfung und Prognose der fachlichen Eignung des einzelnen Bewerbers gefordert. Dazu gehöre eben auch eine stärkere und differenziertere Gewichtung notarspezifischer Leistungen gegenüber dem Ergebnis des oftmals zum Zeitpunkt der Bewerbung lange zurückliegenden Staatsexamens. Sowohl das Interesse der Bürgerinnen und Bürger an einer umfassenden Qualifikation der Anwaltsnotare als auch das Interesse der Bewerber selbst, strikt nach ihrer Eignung und Befähigung für das Amt des Notars ausgewählt zu werden, gebieten daher eine Neuregelung des Zugangs zum Anwaltsnotariat. Eine länderübergreifende Arbeitsgruppe ist dieser Notwendigkeit nachgekommen und hat unter Beteiligung des Justizministeriums und der Bundesnotarkammer den vorliegenden Gesetzentwurf erarbeitet. Kernpunkt des Gesetzentwurfs ist der Vorschlag, für Bewerber um ein Anwaltsnotariat eine notarielle Fachprüfung vor einem bei der Bundesnotarkammer unter Beteiligung der betroffenen Landesjustizverwaltung einzurichtenden Prüfungsamt vorzusehen. Darüber hinaus muss der Bewerber seine Tätigkeit als Rechtsanwalt nachweisen. Bisher galt sein Zulassungsnachweis als ausreichend. Ferner muss er eine dreijährige hauptberufliche Tätigkeit im Landgerichtsbezirk statt bisher im Amtsgerichtsbezirk sowie eine Reihe von Fortbildungsveranstaltungen und eine Praxisausbildung als Notar nachweisen. Wir sind sehr wohl der Meinung, dass eine notarielle Zugangsprüfung zum Anwaltsnotariat eine geeignete Maßnahme zur Verbesserung der Bestenauslese und der Wahrung der Chancengleichheit der Bewerber ist. Die Bundesregierung hat in ihrer Stellungnahme aber - meiner Meinung nach - zu Recht einige Änderungen vorgeschlagen und darauf hingewiesen, dass neben einer Qualitätssicherung und gerechten Bestenauslese auch berücksichtigt werden muss, dass die erforderliche Berufsvorbereitung berufsbegleitend während der Anwaltstätigkeit geleistet werden muss. Sie regt an, im Laufe der Zu Protokoll gegebene Reden parlamentarischen Beratungen zu prüfen, ob die Prüfungsanforderungen nach dem Bundesratsentwurf der durch die Berufsvorbereitung entstehenden Zusatzbelastung der Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte ausreichend Rechnung tragen. Entsprechendes gilt für die Praxisausbildung, die nach dem Gesetzentwurf vor der Bestellung zum Notar nachgewiesen werden muss. Denn es muss in jedem Fall bedacht werden, ob oder inwieweit von einem Bewerber um das Amt als Anwaltsnotar mehr verlangt werden kann als von Notarassessoren, die eine in der Regel drei Jahre dauernde Anwärterzeit ohne Fachprüfung absolvieren, bevor schließlich die Ernennung zum Notar erfolgt. Konkret stellen sich daher Fragen im Hinblick auf die Angemessenheit der Prüfungsanforderungen sowie der Anforderungen an die Praxisausbildung. Ich möchte an dieser Stelle einige Fragen aufwerfen, die wir in den anstehenden Verhandlungen für uns beantworten müssen. Der Umfang der Fachprüfung dürfte nicht ganz unproblematisch sein, da neben notarspezifischen Themen annähernd der gesamte Bereich des Bürgerlichen Rechts und das Gesellschaftsrecht umfasst werden. Es stellt sich die Frage, ob wir wirklich eine Art drittes Staatsexamen einführen wollen. Oder reicht es nicht vielmehr aus, die Prüfung auf die notarspezifischen Themenbereiche zu beschränken, da ohnehin das zweite Staatsexamen nach wie vor in die Gesamtbeurteilung für die Auswahl der Bewerber einfließt? Könnten nicht fünf statt sechs Aufsichtsarbeiten genügen? Der Deutsche Anwaltsverein warnt nicht ganz zu Unrecht vor einem neuen komplizierten, ressourcenverschlingenden System. Könnte der Prüfungsstoff nicht außerdem in einer Rechtsverordnung geregelt werden? Damit könnte der Verordnungsgeber flexibel auf sich wandelnde Anforderungen an das Berufsbild reagieren. In vielen Bundesländern wird der Prüfungsstoff in einer Rechtsverordnung geregelt. Als letzten Punkt möchte ich die Residenzpflicht der Bewerber problematisieren. Ich begrüße eine Lockerung der Regelung zur örtlichen Wartefrist, wie sie mit dem Bundesratsentwurf verbunden ist, nach dem die örtlichen Grenzen der Wartefrist vom Amts- auf den Landgerichtsbezirk ausgeweitet werden sollen. Doch wir sollten diskutieren, ob im Zuge der modernen Kommunikation und des elektronischen Rechtsverkehrs die örtliche Wartefrist grundsätzlich noch beibehalten werden sollte. In einer Zeit, in der der Ort der Rechtshandlung an Bedeutung verliert, verliert auch die Beschränkung möglicherweise ihre Berechtigung. Bei den hauptberuflichen Notaren gibt es eine ähnliche Beschränkung jedenfalls nicht. In kleinen oder ländlichen Bezirken kann die bisherige Regelung jedenfalls im Einzelfall dazu führen, dass die örtliche Wartezeit Bewerbern mit besseren Qualifikationen den Berufszugang verwehrt. Im Rahmen einer Sachverständigenanhörung könnten diese und weitere Fragen erörtert werden. Und ich bin mir sicher, dass, wenn die weiteren Beratungen genau so gut laufen wie die zu den Erfolgshonoraren, wir zu einem guten Ergebnis kommen werden.

Mechthild Dyckmans (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003752, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das Anwaltsnotariat kann in Deutschland auf eine lange Geschichte zurückblicken. Bereits im Staat Preußen entwickelte sich die Verbindung von Notariat und Advokatur. Diese Tradition hat sich bis heute fortgesetzt. Die Besonderheit beim Anwaltsnotariat ist, dass diese Tätigkeit nicht bundesweit in gleicher Weise ausgeübt werden kann, sondern je nach den Bestimmungen des jeweiligen Landesrechts. In den neuen Bundesländern ist beispielsweise eine Tätigkeit als Anwaltsnotar nicht vorgesehen. Der Anwaltsnotar ist nur in den Ländern Berlin, Bremen, Hessen, Niedersachsen und in Teilen von NordrheinWestfalen und Schleswig-Holstein bekannt. Das Anwaltsnotariat hat sich grundsätzlich bewährt. Obwohl Notare Träger eines öffentlichen Amtes sind und vom Staat ernannt werden, üben sie ihre Tätigkeit unabhängig aus. Einer unzulässigen Vermischung von Anwaltstätigkeit und Ausübung des Notaramtes wird vorgebeugt, indem der Anwaltsnotar dem Mandanten gegenüber klarzustellen hat, in welcher Berufsausübung er ihm gegenüber tätig wird. Ist der Anwaltsnotar in seiner Eigenschaft als Notar tätig geworden, schließt dies eine gleichzeitige Tätigkeit als Rechtsanwalt aus. Der Zugang zum Anwaltsnotariat ist an strenge Voraussetzungen geknüpft. Die Bestellung als Anwaltsnotar hängt wesentlich davon ab, ob in dem Amtsgerichtsbezirk, in dem der Rechtsanwalt zugelassen wird, grundsätzlich ein Bedarf für die Besetzung einer Notarstelle besteht. Weitere Kriterien sind unter anderem die persönliche und fachliche Eignung des Bewerbers, das Alter sowie bestimmte allgemeine und örtliche Wartezeiten. Die Voraussetzungen hierfür enthält die Bundesnotarordnung. Das Bundesverfassungsgericht hat 2004 in einem Beschluss festgestellt, dass die Auswahlkriterien in § 6 der Notarordnung unter Berücksichtigung der mit dem öffentlichen Amt der Notare verbundenen Besonderheiten aus Art. 33 Abs. 2 Grundgesetz grundsätzlich den Anforderungen des Art. 12 Abs. 1 Grundgesetz entsprechen. Die Berücksichtigung der Kriterien, insbesondere derjenigen zur fachlichen Eignung, seien verfassungsrechtlich geboten. Das Gericht hat aber des Weiteren entschieden, dass Auslegung und Anwendung der Normen nicht den verfassungsrechtlichen Erfordernissen genügen. So sei bei der Auswahl der Bewerber für das Amt des Anwaltsnotars nicht der Vorrang desjenigen mit der besten fachlichen Eignung gewährleistet. Das Gericht hat zudem kritisiert, dass es beim Zugang zum Anwaltsnotariat an einer konkreten und einzelfallbezogenen Bewertung der fachlichen Leistung des Bewerbers mangele. Der Bundesrat hat die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Anlass genommen, einen Gesetzentwurf zur Änderung der Bundesnotarordnung mit dem Ziel der Neuregelung des Zugangs zum Anwaltsnotariat vorzulegen. Diese Initiative des Bundesrates ist grundsätzlich zu begrüßen. Unabhängig von der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts haben sich die Notarkammern des Anwaltsnotariats bereits seit längerer Zeit für eine Neuregelung des Zugangs zum Anwaltsnotariat ausgesprochen. Zu Protokoll gegebene Reden Der Gesetzentwurf führt ein Zugangs- und Auswahlsystem ein, das sowohl fachliche Mindeststandards sichern, als auch eine den verfassungsrechtlichen Vorgaben entsprechende Auswahlentscheidung ermöglichen soll. Dazu schlägt der Entwurf im Einzelnen die Einführung einer notariellen Fachprüfung vor einem bei der Bundesnotarkammer einzurichtenden Prüfungsamt vor. Dadurch soll gewährleistet werden, dass nur solche Bewerber zu Notaren bestellt werden, die sich umfassend auf die notarielle Tätigkeit vorbereiten und unter Beweis gestellt haben, dass sie über die für die Ausübung dieses Amtes erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten verfügen und diese praxisgerecht umsetzen können. Der Gesetzentwurf unterlässt es jedoch, konkrete Vorgaben dazu zu machen, wie der Erwerb dieser Kenntnisse und Fähigkeiten erfolgen soll. Bei der Beratung über das Rechtsdienstleistungsgesetz waren wir uns im Deutschen Bundestag einig darin, dass das Gesetz dem Ziel dienen muss, die Qualität der Rechtsberatung im Interesse der Mandanten zu sichern. Dieser Maßstab muss auch bei der Neuregelung des Zugangs zum Anwaltsnotariat angelegt werden. Es ist daher zu überlegen, ob der Zugang nicht darüber hinaus eine berufsbegleitende Vorbereitung während der Anwaltstätigkeit erfordern sollte. Dies kann beispielsweise durch die Pflichtteilnahme an Grundkursen zur Vorbereitung auf die notarielle Fachprüfung erreicht werden. Auf den Nachweis von Praxiserfahrung sollte im Interesse einer qualifizierten Rechtspflege nicht verzichtet werden. Die Anwaltschaft und die Bundesregierung haben sich hierzu ähnlich geäußert. Fraglich ist darüber hinaus, ob es der in § 6 Abs. 2 des Entwurfs vorgesehenen Wartezeit von drei Jahren in dem Landgerichtsbezirk, in dem die in Aussicht genommene Notarstelle zu besetzen ist, tatsächlich bedarf. Es ist vielfach darauf hingewiesen worden, dass heute in Zeiten des elektronischen Rechtsverkehrs die in der Gesetzesbegründung geforderte Wartefrist, die den Bewerber mit dem Umgang mit Rechtsuchenden, Gerichten und Behörden im Landgerichtsbezirk vertraut machen soll, entbehrlich geworden ist. Auch hier bedarf es einer näheren Prüfung, ob die Wartefrist tatsächlich geeignet ist, die Qualität des Anwaltsnotariats zu sichern oder ob sie vielmehr ein bürokratisches Hindernis ist, das einer vergangenen Zeit angehört. Ich bin zuversichtlich, dass es gelingen wird, einvernehmlich zu einer guten Lösung zu kommen. Die Hinweise und Vorschläge der Bundesregierung in ihrer Stellungnahme zu dem Gesetzentwurf sind dazu überwiegend sachgerecht. Wir sollten uns daher zügig mit den Vertretern der entsprechenden Berufsverbände und Kammern zusammensetzen, um gemeinsam nach einer akzeptablen Regelung für den Zugang zum Anwaltsnotariat zu suchen. Der Gesetzentwurf des Bundesrates bietet dafür eine gute Beratungsgrundlage.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Im Jahre 2004 hatte das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass die Verwaltungspraxis der Bundesländer für die Zulassung zum Anwaltsnotariat verfassungswidrig ist und nachgebessert werden muss. Der Entwurf des Bundesrates möchte diesen Vorgaben nun mit einer Änderung der Bundesnotarordnung nachkommen. Bereits diese Herangehensweise überzeugt nicht. Denn das Bundesverfassungsgericht hatte nicht die Bundesnotarordnung, also Bundesrecht, gerügt, sondern die Verwaltungspraxis der Länder. Es ist daher einigermaßen seltsam, dass die Länder nicht etwa ihre beanstandete Verwaltungspraxis nachbesserten, sondern nun mit einem Bundesratsentwurf die vom Gericht unbeanstandete Bundesnotarordnung verändern wollen. Anstatt zu tun, was ihnen selbst möglich ist, rufen die Länder also nach der Hilfe des Bundes. Wir werden also im Gesetzgebungsverfahren erstens diskutieren müssen, ob wir überhaupt eine bundesrechtliche Lösung wollen. Für eine bundesrechtliche Lösung spräche immerhin das Ziel einer bundeseinheitlichen Regelung. Aber die Einheit der Rechtsordnung ist für sich genommen noch kein Wert. Sie trägt - als Zielstellung sogar ein besonderes Risiko in sich. Es ist das grundsätzliche Risiko, es für 16 Länder auf einmal und zentral falsch zu machen - bei gleichzeitigem Verzicht auf 16 Einzelchancen für die Landesgesetzgeber, es besser zu machen. Bei sieben Bundesländern, die derzeit über ein Anwaltsnotariat verfügen, ergäbe das für die vorliegende Materie sogar eine Glückszahl an Chancen. Mir scheint aber, der Entwurf verwirklicht eher das Risiko und nicht die Chance: Er ist an den inhaltlichen Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes zu messen. Im Kern lassen sich zwei Hauptvorgaben der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes entnehmen: Zum einen war dafür zu sorgen, dass im Zulassungsverfahren die im Anwaltsberuf erworbenen notarspezifischen Kenntnisse und Fähigkeiten eines Bewerbers in einem angemessenen Verhältnis zu den Leistungen im Zweiten Juristischen Staatsexamen bewertet werden. Zum anderen war künftig sicherzustellen, dass im Zulassungsverfahren insgesamt aussagekräftige fachliche Beurteilungsmaßstäbe zugrunde gelegt werden. Wie geht der Entwurf des Bundesrates mit diesen Vorgaben um? Anstatt Kriterien zu liefern, nach denen die notarspezifischen Kenntnisse und Fähigkeiten der Bewerber neben den Leistungen im Zweiten Staatsexamen sachgemäß bewertet werden könnten, führt der Entwurf mit der notariellen Fachprüfung gleichsam ein drittes Staatsexamen ein. Nicht die langjährige juristisch praktische Tätigkeit eines Menschen ist danach von besonderem Belang, sondern dessen kurzfristiges Aufbäumen in einer Prüfungssituation. Nach meinem Verständnis der Entscheidung war es jedoch die Intention des Verfassungsgerichtes, die im Beruf erworbenen notarspezifischen Kenntnisse und Fähigkeiten - als Leistung in der Praxis - mit einer stärkeren Gewichtung zu versehen. Wir werden im Gesetzgebungsverfahren zweitens diskutieren müssen, ob wir überhaupt eine notarielle Fachprüfung wollen. Zu Protokoll gegebene Reden Wir werden dann drittens darüber reden müssen, ob wir sie in der gewählten Art wollen. Die hierzu eingegangenen Stellungnahmen, insbesondere die des Deutschen Anwaltsvereines, enthalten reichlich Kritik, mit der wir uns dann im weiteren Beratungsverfahren auseinanderzusetzen haben. Schließlich wird viertens der enorme organisatorische und personelle Aufwand kritisch zu besprechen sein, den diese neue Prüfung nach sich zieht. Als Ergebnis will ich zusammenfassen: Wenn wir im Gesetzgebungsverfahren gangbare Wege erkennen, wie wir die Vorgaben des Bundesverfassungsgericht mit weniger Aufwand und besseren Ergebnissen umsetzen können, dann sollten wir einen dieser Wege tunlichst beschreiten und den vorgelegten Entwurf schreddern.

Jerzy Montag (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003595, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Mit seinem Beschluss vom 20. April 2004 hat das Bun- desverfassungsgericht die bisherige Zulassungspraxis zum Anwaltsnotariat in weiten Teilen gekippt und damit zugleich auch dem bisher praktizierten Punktesystem eine deutliche Rüge erteilt, denn das bisherige Auswahl- verfahren, so das Gericht, misst der spezifischen fachli- chen Eignung für das Amt des Notars nur eine unterge- ordnete Rolle bei und überbetont im Gegensatz dazu die allgemeine Befähigung für juristische Berufe und Erfah- rungen aus dem Anwaltsberuf. Vor dem Hintergrund die- ser Entscheidung ist es aus Sicht der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen so notwendig wie richtig, die Zu- gangsregelungen zum Anwaltsnotariat zu überarbeiten und die Zulassungsentscheidung deutlich stärker als bis- her an eine individuelle Prüfung und fachliche Eignungs- prognose der einzelnen Bewerberinnen und Bewerber zu knüpfen. Es ist zu begrüßen, dass sich das Bundesjustizministe- rium mit den Justizverwaltungen der Bundesländer mit Anwaltsnotariat sowie der Bundesnotarkammer zusam- mengesetzt hat, um zeitnah in den erforderlichen Diskus- sionsprozess um Neuregelungen beim Zugang zum Anwaltsnotariat einzutreten. Der vorliegende Gesetzent- wurf ist das Ergebnis eben dieses - drei Jahre währen- den - Diskussionsprozesses. Ich meine, dass die nun auf dem Tisch liegenden Vor- schläge zur Neuregelung des Zugangs zum Anwaltsnota- riat im Grundsatz in die richtige Richtung gehen. Die aus meiner Sicht zentrale Neuerung betrifft die Einführung einer notariellen Fachprüfung zum Anwaltsnotariat. Eine solche Prüfung sichert die persönliche und fachliche Eig- nung der Bewerberinnen und Bewerber für die Arbeit im Anwaltsnotariat, in dem es die notarspezifischen Kompe- tenzen und Leistungen der Bewerber stärker als bisher berücksichtigt. Die notarielle Fachprüfung trägt damit ganz zentral dazu bei, dem Ziel der Bestenauslese auch im Bereich des Anwaltsnotariates Rechnung zu tragen. In der öffentlichen Diskussion über den Gesetzentwurf wird nur in einzelnen, kleineren Punkten Kritik geäußert. So wird die Frage aufgeworfen, ob der Umfang des schriftlichen Teils der Fachprüfung angemessen ausge- staltet worden ist. Es erscheint auch mir auf den ersten Blick nicht unbedingt nachvollziehbar, warum es hierbei sechs fünfstündiger Prüfungsklausuren bedürfen soll, in denen zudem thematisch über die notarspezifischen Be- reiche hinaus zum Beispiel auch Wissen zum Bürgerli- chen, zum Handels- und zu verschiedentlichem Prozess- recht geprüft werden soll. Ist es wirklich gewollt, dass die schriftliche Fachprüfung zum Anwaltsnotariat - das ja immerhin im Nebenberuf ausgeübt wird - den Umfang ei- nes dritten juristischen Staatexamens erhält? Bei der Be- antwortung dieser Frage sollte nicht unberücksichtigt bleiben, dass der mit einer so umfänglichen Prüfung ein- hergehende Vorbereitungsaufwand erheblich sein dürfte und überdies die Bewerber ja zeitgleich auch noch als Anwälte praktizieren. Von daher möchte ich anregen, dass wir uns der Frage der Prüfungsdichte im Rahmen der Beratungen im Rechtsausschuss noch einmal genauer zuwenden. Es gibt noch einen weiteren Punkt, den ich mit Blick auf das Anwaltsnotariat an dieser Stelle ansprechen möchte. Er betrifft den Anteil weiblicher Anwaltsnotarin- nen, der bislang - immer noch - deutlich unter 10 Prozent liegt, obgleich der Anteil weiblicher Rechtsanwältinnen inzwischen bei über 30 Prozent angekommen ist. Ich denke, dieser Umstand kann und darf uns nicht zufrieden stellen. Auch der Gesetzgeber muss sich der Frage stel- len, wie der Anteil weiblicher Anwaltsnotarinnen erhöht werden kann. Dies sollten wir gerade auch in der Diskus- sion um die veränderten Zulassungsvoraussetzungen zum Anwaltsnotariat nicht aus dem Blick verlieren. Ich plädiere dafür, dass wir die Beratungen zu dem vorliegenden Gesetzentwurf zügig und zielorientiert füh- ren. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts liegt in- zwischen fast vier Jahre zurück. Die jetzigen Anwärter zum Anwaltsnotariat sind unsicher, wie es weitergehen wird. Die organisatorische Durchführung des Verfahrens sei, so versicherte die Bundesnotarkammer, kurzfristig re- alisierbar. Von daher denke ich, dass eine zeitnahe Verab- schiedung des Gesetzentwurfes nicht nur richtig und wünschenswert, sondern auch machbar ist. Wir Grünen werden hieran konstruktiv mitarbeiten.

Alfred Hartenbach (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002669

Wir beraten heute einen Gesetzentwurf des Bundesra- tes zur Neuregelung des Zugangs zum Anwaltsnotariat. Kern des Gesetzesvorschlags ist die Einführung einer no- tariellen Fachprüfung, deren Benotung neben der Note des zweiten Staatsexamens für die Bestenauslese bei der Entscheidung der Landesjustizverwaltungen über den Zugang zum Anwaltsnotariat entscheiden soll. Die Bundesregierung unterstützt dieses Vorhaben. Das bisherige Auswahlsystem für den Zugang zum An- waltsnotariat ist nur noch schwierig zu handhaben. Das Zählen von Punkten für die Dauer der Anwaltstätigkeit, den Besuch von Fortbildungsveranstaltungen, die Zahl der als Notarvertreter aufgenommenen Urkunden und manch andere Tätigkeiten ist streitanfällig. Ein grundle- gender Mangel des bestehenden Systems liegt zudem da- rin, dass die genannten Kriterien nur quantitativer Art sind: Die Dauer der Anwaltstätigkeit wird lediglich nach Zu Protokoll gegebene Reden Wolfgang NeškoviæWolfgang Nešković Jahren bemessen. Der individuelle Umfang, die Art und Qualität der Anwaltstätigkeit sind ohne Bedeutung. Ent- sprechendes gilt für die weiteren genannten Zugangskri- terien nach dem geltenden Recht. Echte Qualitätssiche- rung sieht anders aus. Faire Chancen für alle Bewerber erfordern eine Neuregelung. Das Regelungsmodell einer notariellen Fachprüfung ist geeignet, Qualitätssicherung und eine gerechte Bes- tenauslese zu erreichen. Eine notarielle Fachprüfung si- chert die für den Berufseinstieg erforderliche fachliche Qualität der Berufsangehörigen. Sie ist geeignet, klare und transparente Zugangskriterien zum Anwaltsnotariat zu schaffen. Sie kann deshalb Rechtsstreitigkeiten ver- meiden helfen. Sie ermöglicht eine gerechte Bestenaus- lese. Ich verspreche mir von ihr auch deutlich mehr Chancen für Rechtsanwältinnen, den Notarberuf zu er- greifen, was Not tut. Bisher sind Notarinnen im Anwalts- notariat deutlich unterrepräsentiert. Die Einführung einer notariellen Fachprüfung ist da- her gut. Bei den weiteren Beratungen zu ihrer Ausgestal- tung im Einzelnen werden wir aber auch berücksichtigen, dass die Bewerberinnen und Bewerber für den Zugang zum Notaramt die erforderliche Vorbereitung auf den Notarberuf berufsbegleitend während ihrer Anwaltstätig- keit leisten müssen. Die neuen Anforderungen für die no- tarielle Fachprüfung müssen den Erfordernissen der Pra- xis entsprechen. Wir wollen Leute, die in der Praxis erfahren sind und gute Arbeit leisten, und wir müssen darauf achten, dass wir nicht diejenigen bevorzugen, die es sich leisten kön- nen, sich mit viel Zeit und Geld auf theoretische Prü- fungsfragen vorzubereiten. Ich denke, wir sind uns auch darin einig, dass in der notariellen Fachprüfung nur notarspezifische Themen abgefragt werden sollten. Einzelne Anforderungen des Entwurfs können vielleicht reduziert werden. Vier an Stelle von sechs Klausuren wären wohl auch ausreichend. Einen zweiten mir wichtigen Punkt des Gesetzentwurfs möchte ich noch ansprechen. Der Entwurf des Bundesra- tes hält an der sogenannten örtlichen Wartezeit fest. Ört- liche Wartezeit heißt, dass zum Anwaltsnotar nur bestellt werden soll, wer zuvor drei Jahre in dem Ort als Anwalt tätig war, in dem die Notarstelle zu besetzen ist. Die Bun- desregierung hat vorgeschlagen, auf eine solche Rege- lung zu verzichten. Auch auswärtige Bewerber können ohne weiteres leistungsfähig sein. Wir sollten diese Frage im parlamentarischen Verfahren besonders sorgfältig prüfen. Es ist an der Zeit, den Zugang zum Anwaltsnotariat zu modernisieren. Lassen Sie uns eine Regelung aus einem Guss schaffen, die die Qualität der Amtstätigkeit der An- waltsnotarinnen und Anwaltsnotare auch in der Zukunft sichert und die gleiche Chancen für alle Bewerberinnen und Bewerber gewährleistet. Der Gesetzentwurf des Bun- desrates bietet hierfür ein klares und richtiges Regelungs- modell.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- wurfs auf Drucksache 16/4972 an die in der Tagesord- nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13 a bis 13 c auf: a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Marieluise Beck ({0}) und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Die europäische Zukunft Bosniens und Herze- gowinas - Drucksachen 16/4796, 16/6313 - b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Rainer Stinner, Michael Link ({1}), Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Eigenverantwortung Bosnien-Herzegowinas stärken - Amt des Hohen Repräsentanten abschaffen - Notstandsrecht international absichern - Drucksache 16/8541 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({2}) Verteidigungsausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Marieluise Beck ({3}), Rainder Steenblock, Dr. Uschi Eid, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Europäische Verantwortung für Bosnien-Herzegowina ernst nehmen - Drucksache 16/9069 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten soll. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Marieluise Beck vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Marieluise Beck-Oberdorf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002624, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Deutsch-Bosnische Parlamentariergruppe ist vor einigen Wochen in Bosnien unterwegs gewesen. Unsere Eindrücke waren sehr gemischt. Der Aufbau geht auch nach zwölf Jahren internationalen Engagements doch nur schleppend voran. Die Zentrifugalkräfte sind in diesem kleinen Staat nach wie vor stark, und die Institutionen sind äußerst ineffektiv. Das Staatsgebäude ist in sich so irrational und verschachtelt, dass es in diesem Land 180 Minister gibt. Da kann man also etwas werden. ({0}) Marieluise Beck ({1}) Dies alles ist nicht eine Folge der Inkompetenz der Bosnier, sondern das ist eine Folge der Unentschiedenheit von Dayton. Wir wissen: In Dayton haben die Kriegsverbrecher mit am Tisch gesessen. ({2}) Deswegen sage ich: Die internationale Gemeinschaft ist nach wie vor verantwortlich für dieses Land. ({3}) Sie muss für das, was sie dort zusammengerührt hat, nun auch die Verantwortung tragen. Daraus folgt, dass die zeitliche Befristung des OHR, die wir Jahr für Jahr von neuem vorgenommen haben, immer falsch gewesen ist. Es ist sehr gut, dass der Peace Implementation Council mit diesem Unsinn endlich Schluss gemacht und im Januar 2008 gesagt hat: Wir führen nicht alle sechs Monate eine Debatte darüber, wann das OHR geschlossen wird, sodass die qualifizierten Leute weggehen, sondern wir setzen Benchmarks. Anhand dieser Benchmarks wird entschieden, ob das OHR weiter bestehen kann und ob die „Bonn Powers“ auch weiterhin gelten bzw. wann dies beendet wird. Ich sage: Die Benchmark lautet, dass dieses Land eine Verfassung braucht, die demokratischen Standards genügt. Es gibt Differenzen hinsichtlich dieser Frage. Es gibt auch eine Fraktion, die es richtig finden würde, wenn das OHR geschlossen und dem Land die Selbstständigkeit gegeben wird. Das kann man als gut gemeinte Position ansehen, aber ich finde, dass es uns doch sehr skeptisch machen muss, dass in dem Landesteil, in dem vor einiger Zeit noch damit gedroht wurde, ein Referendum durchzuführen, um sich abzuspalten, genau diese Forderung getragen wird. Dort bekommt man Beifall für die Forderung, das OHR zu schließen. Das sollte uns sehr hellhörig machen, Herr Kollege Stinner. ({4}) Die Benchmark für die OHR-Reform ist eine Verfassungsreform nach europäischen Demokratievorstellungen. Auch wenn es in Bosnien drei konstitutive Völker gibt, gehört zu den Kriterien der Demokratie, dass alle Zugang zu allen Ämtern haben müssen und dass das passive und aktive Wahlrecht für jedermann und jede Frau gilt. Man kann nicht die ethnischen Zuordnungen, die in Bosnien in der Verfassung festgelegt sind, ignorieren. Nach EU-Standards können wir erst dann von einer EU-fähigen Demokratie sprechen, wenn ein Jude oder eine Jüdin, ein Rom oder eine Romni oder ein Angehöriger gemischtreligiöser Gruppen, die sich nicht eindeutig zuordnen können und wollen, weil vielleicht der Vater kroatischer und die Mutter serbischer Herkunft ist, Zugang zu allen Ämtern bekommt. Wer über Bosnien spricht, muss in diesen Tagen auch über Serbien sprechen. Wir waren uns gestern im Auswärtigen Ausschuss darüber einig, dass die Politik der Europäischen Union, noch einmal sehr deutlich die Einladung an die serbischen Bürgerinnen und Bürger - sprich: Wählerinnen und Wähler - auszusprechen, richtig ist, aber dass sie insofern am Rande des Erträglichen liegt, als sehr viele der ursprünglich vonseiten der Europäischen Union gestellten Konditionen für die Unterzeichnung des SAA wieder eingesammelt worden sind. ({5}) Es ist schwer auszuhalten, dass nach wie vor die Forderung, die mutmaßlichen Kriegsverbrecher Karadžić und Mladić auszuliefern, nicht mehr als Voraussetzung für die Unterzeichnung des SAA gilt. Wir sind immer ein Stück weiter zurückgegangen. ({6}) Ich will das nicht brandmarken; denn die Situation in Serbien ist sehr schwierig. Vielleicht ist es klug und gut, ein Stück zurückzugehen. Aber es ist eine prekäre Strategie. Es wird dann unerträglich, wenn der Termin zur SAA-Unterzeichnung am 26. Mai nicht haltbar ist, weil sich die Europäische Union aus technischen Gründen nicht in der Lage sieht, die Vorlagen zu übersetzen. Das geht nicht an. ({7}) In diesen Tagen wurde Serbien der Verzicht auf Visagebühren für 80 Prozent der Serben angeboten. Die Visaliberalisierung ist gut und richtig. Es soll gereist werden. Die Menschen sollen sehen, wie westliche Demokratien und Freiheit funktionieren. Es geht aber nicht an, das gleichzeitig den Bosniern vorzuenthalten, weil sie sich sozusagen in politischer Hinsicht nicht schlecht genug benommen haben. ({8}) Die Botschaft der EU darf nicht lauten: Wer mit extremem Nationalismus droht, bekommt zur Belohnung eine Einladung, und die Standards werden gesenkt. Das ist ein Armutszeugnis. ({9}) Ich bitte das Auswärtige Amt eindringlich, alles zu tun, um dafür zu sorgen, dass das SAA am 26. Mai unterzeichnet werden kann. Der Umstand, dass angeblich technische Gründe zu einer solchen Ungleichbehandlung führen, ist schlichtweg skandalös. Schönen Dank. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Holger Haibach von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Holger Haibach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003546, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Polizeiautos mit Blaulicht, eine Menschentraube vor der Kirche, warmer Beifall. Die Ordensschwester an der Orgel kämpft um ein „Glory, glory halleluja“. Festmesse in Tuzla. Der Limburger Bischof - gemeint ist Bischof Franz-Peter Tebartz-van Elst besucht am Samstag mit Sarajevos Kardinal Vinko Puljic die ostbosnische Stadt, um drei Dutzend junge Leute zu firmen. Noch nie, meinen einige Ältere, habe ein ausländischer Bischof die Stadt besucht. Das berichtet die KNA über den Besuch des Limburger Bischofs in Bosnien und Herzegowina. Dieser Bericht ist bezeichnend. Er ist deshalb bezeichnend, weil Bosnien-Herzegowina gegenüber den Nachbarstaaten Kosovo und Serbien - wenn man beide als Entitäten bezeichnen will - bisweilen ein bisschen in Vergessenheit zu geraten scheint und die öffentliche Debatte über diesen doch sehr wichtigen Staat hinweggeht. Dabei sind die Vorgänge in der direkten Umgebung dieses Staates gerade für das sehr fragile Gleichgewicht zwischen den Ethnien, Entitäten und religiösen Gemeinschaften in Bosnien-Herzegowina von immenser Wichtigkeit. Es muss klar sein, dass gerade die EU mit ihrem Umgang mit Serbien und dem Kosovo dieses Gleichgewicht stabilisieren oder destabilisieren kann. So hat die Entscheidung - die Kollegin Beck hat schon darauf hingewiesen -, das Abkommen der EU mit Serbien vor dem mit Bosnien-Herzegowina zu unterzeichnen - und seien dafür nur technische Gründe verantwortlich -, für entsprechende Reaktionen gesorgt. Einer der führenden Politiker in Bosnien-Herzegowina hat gefragt: Gelten diese technischen Probleme - diese bestanden übrigens darin, dass sich die EU nicht in der Lage sah, die Verträge in alle Sprachen der EU-Staaten zu übersetzen - eigentlich nicht auch für die Serben? Ich finde, diese Frage ist sehr berechtigt. Man kann hieran sehen, dass es sich um einen reinen Vorwand handelt. Ich will das deutlich anmerken. ({0}) Insofern bietet die heutige Debatte eine gute Möglichkeit, sich die Situation in Bosnien-Herzegowina genau anzuschauen, sie kritisch zu überprüfen und zu kontrollieren, inwieweit die Politik der EU kohärent und zielgerichtet ausgerichtet ist. Die beiden vorliegenden Anträge und die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage zeigen deutlich, wo Defizite bestehen: zu viel Macht in den Händen der einzelnen Ethnien, kaum ausgebildete föderale Strukturen, Defizite in den Bereichen Polizei und Justiz, mangelnde Bereitschaft zur Kooperation untereinander und vor allem ungenügende oder gar keine Zusammenarbeit mit dem UN-Tribunal in Den Haag. FDP und Bündnis 90/ Die Grünen geben zwei quasi diametral entgegengesetzte Antworten auf die Frage, wie wir mit diesem Problem umgehen sollen. Die FDP betont in ihrem Antrag - das zeigt schon der Titel - die Eigenverantwortung Bosnien-Herzegowinas. Bündnis 90/Die Grünen wollen, dass Europa seine Verantwortung für Bosnien-Herzegowina ernst nimmt. Vieles in dieser Debatte entzündet sich an der Position des Hohen Repräsentanten und Sonderbeauftragten. Die FDP sieht seine Abschaffung als notwendig an und möchte nur noch ein Notstandsrecht international absichern. Dagegen will Bündnis 90/Die Grünen dessen Position verstetigt sehen, wie Frau Beck eben ausgeführt hat. Bei allem Respekt vor den beiden Anträgen halte ich diese Debatte bis zu einem gewissen Grade - ich bitte, mich nicht falsch zu verstehen - für eine typisch deutsche Debatte. Wir diskutieren zu viel über Strukturen. Ich weiß, dass hinter Strukturen auch Antworten auf Fragen stecken. Aber ich finde, wir sollten genauer hinschauen, was wir mit den Strukturen erreichen wollen und welche Philosophie hinter diesen Strukturen steht. Sonst laufen wir Gefahr, bei der Strukturdebatte stehen zu bleiben und nicht wirklich zur Philosophie zu kommen. Welches Ziel haben wir denn? Das Ziel muss sein, Bosnien-Herzegowina zu einem Land zu machen, in dem Rechtsstaatlichkeit und Demokratie herrschen und in dem unterschiedliche Ethnien und Religionen friedlich miteinander leben können. Vor diesem Hintergrund und den Verhältnissen, wie sie die Kollegin Beck richtig beschrieben hat, ist es einigermaßen wagemutig, auf den Hohen Repräsentanten zu verzichten, wie es die FDP vorschlägt, und sozusagen von außen nur dann einzugreifen, wenn man sich schon auf halbem Weg zu einem Bürgerkrieg befindet. Deshalb können wir diesem Antrag nicht nähertreten. Mir ist auch klar, dass vollständiges souveränes Handeln nur dann möglich ist, wenn eines Tages diese Position nicht mehr notwendig ist. Aber gerade Christian Schwarz-Schilling hat deutlich gezeigt, ({1}) dass man dieses Amt auch so ausüben kann, dass auf der einen Seite die Eigenständigkeit gewährleistet ist und dass auf der anderen Seite die „Bonn Powers“ nur die Ultima Ratio sind. Ich hätte mir gewünscht, dass er von vielen Seiten mehr Unterstützung erfahren hätte, als es tatsächlich der Fall war. ({2}) Bündnis 90/Die Grünen betonen in ihrem Antrag die europäische Verantwortung; das ist auch richtig. Aber wir dürfen diejenigen, die vor Ort handeln, nicht aus ihrer Verantwortung entlassen. Die Position des Hohen Repräsentanten darf sozusagen nicht die Rückfallposition sein, wenn sich beide Seiten nicht einig werden. Deswegen ist mir eine unendliche Perpetuierung dieser Position ehrlich gesagt zu viel. Deswegen kann ich diesem Antrag ebenfalls nicht nähertreten.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Beck?

Holger Haibach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003546, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Mit großer Freude.

Marieluise Beck-Oberdorf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002624, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Geschätzter Herr Kollege, Sie haben eben von einer unendlichen Perpetuierung des OHR gesprochen. Ich bitte Sie, genau zu sein. Ich habe von Benchmarking gesprochen und davon, dass es dann, wenn das Land eine demokratische Verfassung hat, an der Zeit ist, den OHR abzuschaffen. Darf ich Sie bitten, zur Kenntnis zu nehmen, dass der verehrte Kollege Schwarz-Schilling vor Ort ständig damit zu kämpfen hatte, dass qualifizierte Leute aus dem OHR abgewandert sind, weil alle sechs Monate unklar war, ob das OHR bleiben würde oder nicht? Es war unklar, ob es geschlossen würde; dann hat man es nochmals für einige Zeit verlängert. Das hat zu einer riesigen Ineffektivität geführt. Was die Sparsamkeit der Anwendung betrifft - ich bitte Sie, das zur Kenntnis zu nehmen -, sind wir vollkommen d’accord.

Holger Haibach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003546, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Kollegin, ich bin gerne bereit, das zur Kenntnis zu nehmen, aber ich glaube, dass es neben einem unbestimmten Mandat, wie es zurzeit besteht, und einer halbjährlichen Verlängerung noch andere Möglichkeiten gibt. Man kann sich verschiedene Dinge überlegen. Aber dem Mandat in irgendeiner Form gar kein Ende zu setzen, fördert nicht gerade den Willen aller Beteiligten, am Ende selbstständig zu handeln. Das ist das, was ich ausdrücken wollte. Die Frage bleibt nach wie vor: Ist die Politik, die die Europäische Union auf dem Balkan insgesamt betreibt, sinngerichtet, und zeigt sie wirklich - was wir alle möchten - diesen Ländern eine europäische Perspektive auf? Darüber sind wir uns, glaube ich, einig: Wir können nur dann auf dem Balkan Frieden stiften, wenn diese Länder eine wirkliche, eine wahrhaftige europäische Perspektive haben. ({0}) Auch das hat die Kollegin Beck meines Erachtens völlig zu Recht ausgeführt: Es ist ein bedenkliches Signal, wenn die Europäische Union zu Beginn der Verhandlungen Bedingungen aufstellt, die auch für andere Staaten, die Mitglieder werden wollen, gelten, und dann Stück für Stück hinter diese Bedingungen zurückfällt. Ich glaube, dass das ein schwieriges Zeichen ist, und ich halte das allein um ihrer Glaubwürdigkeit willen für extrem problematisch. Eines muss vollkommen klar sein: Die allerletzte Reißlinie ist die Verfolgung von Kriegsverbrechen und die Zusammenarbeit mit dem UN-Tribunal. Jede Lösung, sei es eine in Bezug auf Serbien oder auf Bosnien-Herzegowina, die das nicht berücksichtigt, ist ein Rückschlag für die gesamte EU. ({1}) Es bleibt wichtig, festzustellen, dass es trotz aller Widrigkeiten durchaus Hoffnung auf ein friedliches Zusammenleben in Bosnien-Herzegowina gibt und dass die EU gerade solche Initiativen fördern sollte, die das zum Ziel haben. Ich möchte zum Bericht der KNA und dem Besuch von Bischof Tebartz-van Elst zurückkommen. Besonders beeindruckt zeigt sich der Gast aus Limburg von der „Europa-Schule“ des Bistums. 1 200 Schüler besuchen Volksschule, Gymnasium oder Krankenschwesternschule. Schwester Davorka Saric berichtet, 45 Prozent davon seinen katholisch, der Rest orthodox oder muslimisch. In einem Klassenraum holt die stellvertretende Schulleiterin Bibel, Talmud und Koran aus dem Regal. „Die Kinder achten sich. Sie sind vernünftiger als die Erwachsenen.“ Das ist ein Signal der Hoffnung. Aber - so heißt es weiter -: Die Schule, berichtet Generalvikar Mato Zovkic, bekommt … keine EU-Gelder. Darin liegt - vielleicht manchmal mehr als in den großen Fragen - ein Teil des Problems. Herzlichen Dank. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Rainer Stinner von der FDP-Fraktion.

Dr. Rainer Stinner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003640, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Präsident, erlauben Sie mir, dass ich den Botschafter von Bosnien-Herzegowina heute Abend sehr herzlich auf der Tribüne begrüße. Er wird uns in 14 Tagen verlassen. Herr Botschafter, ich danke Ihnen für Ihre Tätigkeit in diesem Land und wünsche Ihnen für Ihre Zukunft und für Ihr Land alles Gute im Namen des ganzen Hauses. ({0}) Herr Präsident, ich hoffe, ich durfte das tun. „Wehe dem Staat, der Diplomaten in die Hände fällt.“ So hat die FAZ die Entscheidung des PIC im Februar dieses Jahres kommentiert, zum zweiten Mal entgegen den ursprünglichen Planungen das Mandat des OHR zu verlängern, und dieses Mal, wie Frau Beck gesagt hat, ohne zeitliche Begrenzung, aber mit Bedingungen verbunden, die sehr einschränkend sind. Wenn jetzt gesagt wird, der OHR werde erst nach der Verfassungsdebatte abziehen können, dann können wir, verehrte Frau Beck, noch mindestens drei bis vier Jahre warten. Vorher wird das nichts. Ich glaube, das wissen wir alle. ({1}) Diese Beschreibung der FAZ ist sicherlich etwas pointiert - das will ich zugeben -, aber sie zeigt einigermaßen, wie erratisch, phantasielos und konzeptionslos die europäische Balkan-Politik eigentlich ist. Hier komme ich zum OHR. Gleichwohl ist es richtig: Am Anfang hatte es eine wichtige Funktion, aber nach 13 Jahren - selbst wenn das OHR von Anfang an blendend funktioniert und vieles gebracht hätte; vieles hat es ja gebracht - ist ein solches Instrument natürlich verbraucht. Jetzt haben wir etwas Zusätzliches: Wir stehen davor - Sie haben alles Notwendige gesagt, liebe Frau Kollegin Beck -, dass Bosnien das SAA-Abkommen, das heißt einen gesicherten und klaren Pfad in Richtung Europa hoffentlich am 26. Mai unterzeichnet. ({2}) Wir glauben allerdings immer noch, dass wir das OHR brauchen. Das ist ein Oktroi im Hinblick auf Europa und ein weiterer Grund, das OHR abzuschaffen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir waren vor wenigen Wochen bei Herrn Lajčák persönlich. Herr Lajčák hat selber gesagt, er messe die Zeitdauer seines Mandates in Monaten und nicht in Jahren. Das heißt, sehr verehrter Herr Haibach, ich bin sehr gespannt, ob Sie als Regierungsfraktion die Bundesregierung dazu bewegen können, gegen das OHR zu stimmen und es weiterbestehen zu lassen, wenn mit Zustimmung des Peace Implementation Councils das OHR zum Jahresende geschlossen wird. ({3}) Das ist nicht realistisch. Das OHR wird am Ende des Jahres, spätestens im nächsten Frühjahr, nicht mehr da sein. Deshalb ist es richtig, heute hier eine realistische Einschätzung abzugeben. Deshalb ist unsere Forderung nach meinem Dafürhalten konsequent, und deshalb können wir Ihrem Antrag, liebe Frau Beck, auch nicht zustimmen, so viel Gutes auch in ihm steht. In unserem Antrag haben wir - das hat Herr Haibach gesagt - eine weitere, wie ich finde, kreative Idee. Denn in der Tat gibt es Befürchtungen, dass es wieder zu kämpferischen Handlungen kommen kann. Deutschland hat zwischen 1952 und 1968 ein solches Eingriffsrecht ohne große Probleme „erdulden“ müssen. Ich glaube, das könnte ein Referenzpunkt sein. ({4}) Wir alle wissen: Die Polizeireform ist ein wesentlicher Prüfstein gewesen - und sie ist es immer noch - für das, was in Bosnien-Herzegowina passiert. Meines Erachtens hat die internationale Gemeinschaft hier sehr unglücklich agiert. Erstens. Die Reihenfolge Polizeireform vor Verfassung ist völlig falsch. Wir hätten uns zuerst mit der Verfassung und dann darauf aufbauend mit einer Polizeireform beschäftigen müssen. Zweitens. Es gibt keine gemeinsame europäische Polizeikultur und -philosophie. In Finnland ist die Polizei sehr zentralistisch aufgebaut, in Deutschland hingegen sehr föderal. Jetzt haben wir den Bosniern die Aufgabe übertragen, die Polizei entsprechend zu reformieren. ({5}) - Das ist sicherlich richtig, sehr geehrter Herr Kollege Brand, aber es gibt keine gemeinsame europäische Polizeikultur. Es gibt kein einheitliches europäisches Polizeimodell, sondern sehr viele verschiedene. Drittens. Um des lieben Friedens willen hat die Europäische Union zunächst einmal hohe Hürden aufgebaut, und um des lieben Friedens willen - und um einige Fortschritte zu zeigen - hat man jetzt - das haben uns die Kollegen in Bosnien-Herzegowina letzte Woche berichtet - die Kriterien so weit gesenkt, dass der Schritt zum SAA gemacht werden kann. Auch das ist unlogisch und nicht besonders glücklich. Das erhöht nicht gerade die Glaubwürdigkeit der Europäischen Union. Von daher sage ich hinsichtlich der Polizeireform: Der Rahmen muss von Europa gesetzt werden. Wie die Polizei organisiert wird, ist am Ende des Tages Sache von Bosnien-Herzegowina. Es geht uns darum, dass wir Bosnien-Herzegowina europafähig machen. Dafür sollen wir Rahmenbedingungen fordern, etwa Rechtsstaatlichkeit oder die Gleichbehandlung aller Bürger in diesem Land; keine Frage. Aber wie das im Land im Einzelnen organisiert wird, ist Sache der Bürger des Landes Bosnien-Herzegowina. Damit komme ich abschließend kurz zur Verfassung. Sie haben völlig recht und wir sind einer Meinung: 13 Jahre nach Dayton ist es dringend überfällig, dass wir die Verfassung entsprechend ändern und fortschreiben. Diesen Prozess können wir als Europäer auch nur begleiten und unterstützen. Wir sollten diesen Prozess allerdings nicht gestalten. Liebe Frau Beck, hier liegt wohl der einzige Unterschied zwischen uns. Wir wehren uns gegen ein Mikromanagement der Europäischen Union und dagegen, dass wir sagen, wie sie es machen sollen. Wir wollen den Rahmen setzen, aber wie die Gesellschaft dieses Landes ihre Dinge in diesem rechtsstaatlichen Rahmen gestaltet, ist ihre Aufgabe. Daher sage ich abschließend: Trotz der Meinungsunterschiede zwischen uns, die heute deutlich geworden sind, sind sich der Bundestag und die hier vertretenen Parteien in der Unterstützung Bosnien-Herzegowinas auf dem Weg nach Europa einig. Wir sagen: Die Tür zu Europa steht offen. Die Gesellschaft Bosnien-Herzegowinas muss den Weg durch diese geöffnete Tür allerdings selber gehen. Schönen Dank. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Detlef Dzembritzki von der SPD-Fraktion. ({0})

Detlef Dzembritzki (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003109, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Einer meiner Vorredner hatte eben gesagt - ich habe es nicht mehr ganz zuordnen können -, dass wir eine typisch deutsche Debatte führen. ({0}) Ich stimme dem zu, weil ein wenig die Gefahr besteht, dass wir schon wieder in die Situation kommen oder den Eindruck erwecken, von unserer Seite aus sollten Regelungsmechanismen erfunden werden, um die Probleme in Bosnien-Herzegowina zu lösen. Meines Erachtens gilt dies auch ein Stück weit für die Europäische Union, obwohl all das, was hier an Perspektive und Hoffnung formuliert worden ist, grundsätzlich richtig ist und auch von mir unterstützt wird. Wenn hier immer wieder von den „Bonn Powers“ gesprochen wird, dann will ich für die Zuhörerinnen und Zuhörer, die in die Thematik nicht so gut eingeführt sind, zumindest einmal den Versuch unternehmen, darauf hinzuweisen, dass es sich hierbei um eine Operationskompetenz des Hohen Repräsentanten der internationalen Gemeinschaft handelt. Die „Bonn Powers“ ermöglichen, in die Regierungsgeschäfte von BosnienHerzegowina einzugreifen. Darin liegt nun tatsächlich ein Problem. Ich erinnere in diesem Zusammenhang daran, dass wir im Dezember 2003 einmal den Versuch unternommen haben, auf europäischer Ebene Fortschritte zu erreichen, und zwar unter Beteiligung von Politikerinnen und Politikern aus Ländern, die wirklich gute Beziehungen dorthin haben. Ich denke an den ehemaligen Außenminister Geremek von Polen, aber auch an Kollegen aus dem Europaparlament - seien sie von der Volkspartei, von den Sozialdemokraten oder von den Liberalen - und an Kollegen aus diesem Haus. Herr Dr. Stinner und andere Kollegen haben am 16. Dezember 2003 eine gemeinsame Erklärung zum Friedensprozess in Bosnien und Herzegowina - Stichwort „Dayton überwinden“ - mit unterschrieben. Eigentlich haben wir uns bemüht, den zehnten Jahrestag zu nutzen, um neue Impulse zu geben. Wenn man sich die Leitlinien dieser Erklärung vor Augen führt, die wir damals gemeinsam auf europäischer Ebene eingebracht haben, dann muss man feststellen, dass fünf Jahre später leider immer noch gilt: Das friedliche Zusammenleben der verschiedenen Gruppen ist nach wie vor gefährdet. Der für die wirtschaftliche und politische Entwicklung notwendige Gesamtstaat ist zu schwach. Die Rolle der internationalen Gemeinschaft ist zunehmend ambivalent. Resignation und Stagnation sowie das wachsende Armutsproblem untergraben die noch schwachen Fundamente des Friedens. Die Konstruktion von Dayton ist an ihrer Grenze angelangt. Ich sage dies wohl wissend, liebe Kolleginnen und Kollegen, ({1}) dass damals diejenigen Diplomaten waren, lieber Kollege Dr. Stinner, die, wie wir schon so häufig festgestellt haben, zumindest in der entscheidenden Sekunde Krieg, Vertreibung und Verbrechen beendet haben. Deswegen sollten wir hier mit dem Begriff „Diplomaten“ - Sie haben es zitiert; es war nicht Ihre eigene Aussage, sondern die der Frankfurter Allgemeinen Zeitung - etwas vorsichtiger umgehen und zuerst einmal Respekt dafür bekunden, dass sie versuchen, etwas zu leisten. ({2}) Trotzdem muss man in Rechnung stellen, dass es hierbei Probleme gibt, die zum Teil obskuren Charakter haben. Ich freue mich, dass der Botschafter von Bosnien-Herzegowina hier ist. Ich weiß, dass in BosnienHerzegowina viele bemüht sind, die Dinge besser zu gestalten und voranzubringen, und dass dies ein schwerer Weg ist. Wir müssen auch von hier aus dem Botschafter die Botschaft mitgeben, dass im Lande selbst die sogenannten Entitäten, die einzelnen Verantwortungsträgerinnen und -träger, ein hohes Maß an Verantwortung dafür haben, ({3}) dass der Dayton-Prozess in Bosnien-Herzegowina überwunden wird. ({4}) Aber es ist und bleibt ein Prozess. Deswegen, lieber Kollege Dr. Stinner, bin ich ein bisschen skeptisch, ob der Antrag, den Sie eingebracht haben, nicht so etwas wie das Ei des Kolumbus darstellt. Sie wissen ja, dass dem Ei des Kolumbus der Kopf abgeschlagen wurde, damit es stehen konnte. Insofern bin ich ein wenig in Sorge, ob das die Lösung ist. Ich glaube nämlich, dass Ihr Notstandsprogramm dann, wenn es nicht funktionieren sollte, sehr problematisch wird. Dennoch besteht Hoffnung. Möglicherweise schafft es der derzeitige Hohe Repräsentant, die Zeit zu nutzen, um daraus ein Monatsprogramm zu machen. Aber dazu ist ein Prozess notwendig. ({5}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe eben noch einmal unseren Staatsminister bezüglich der Sprachen befragt. Liebe Kollegin Beck, was Sie dazu sagten, ist einerseits richtig. Andererseits ist hier auch auf die besondere Situation hinzuweisen. Das richtet sich insbesondere an die Adresse unserer Freunde in Bosnien-Herzegowina. Wenn diese zum Beispiel darauf bestehen, dass die Europäische Union für Übersetzungen in ihre drei Sprachen sorgt, dann kommt es ein Stück weit zu einer Situation, die wir zumindest als merkwürdig empfinden. Meinetwegen sollen Übersetzungen stattfinden. ({6}) - Liebe Kollegin, ich möchte damit doch nur aufzeigen, wie schwer bzw. leicht - je nachdem, wie Sie es sehen wollen - es sich die Verantwortlichen in Bosnien-Herzegowina machen. ({7}) - Liebe Leute, seid doch einmal etwas kreativer und überwindet den Rahmen, der gesetzt ist, und geht etwas unkonventioneller an die Sache heran. Wir können doch von ihnen Flexibilität verlangen, wenn sie Flexibilität von der EU verlangen. An dieser Stelle erlaube ich mir den Hinweis, dass sie auch selber dafür Verantwortung tragen, einen Regelungsmechanismus im eigenen Land aufzubauen, in dessen Folge sie sich nicht immer wieder selbst im Wege stehen. Manches könnte schon längst zur Normalität geworden sein, wenn die Realitäten als solche akzeptiert würden. Ich halte es jedoch für problematisch, wenn aufgrund des Festhaltens an den bestehenden Konstruktionen von Entitäten oder aus Prestigegründen letztendlich der Raum für eigenes flexibles Handeln immer wieder eingeschränkt wird und der eigene Wille nicht stark genug ist, um sich eine eigene Verfassung zu geben. Es ist doch ganz klar, dass diese im Land selbst erarbeitet werden muss. Letztendlich entsteht aus all dem Ungeduld. Ich halte es auch nicht für fair, wenn Serbien und Bosnien-Herzegowina verglichen werden. Die Serben haben doch keinen Freibrief bekommen, indem ihnen angeboten wurde, das SAA-Abkommen abzuschließen. ({8}) - Wo ist denn Herr Karadzic? Auch der internationalen Gemeinschaft kommt in diesem Fall hohe Verantwortung zu. Zumindest haben die Serben ihren Staatschef Milošević ausgeliefert. ({9}) Ich will hier jetzt gar nicht anfangen, zu richten. Ich will, dass Mladic ausgeliefert wird. Aber Ihr Zwischenruf, lieber Kollege Brand, macht deutlich, dass wir es uns nicht zu einfach machen dürfen. Wenn zum Beispiel die serbische Regierung nicht bereit ist, mit dem Internationalen Strafgerichtshof zusammenzuarbeiten, dann wird auch der Mechanismus des SAA-Abkommens nicht greifen. ({10}) - Aber Leute! Ich denke, dass solche Hinweise zu kurz greifen, weil so der Verdacht aufkommen könnte, dass wir unterschiedliche Positionen vertreten. ({11}) Es steht doch fest, dass Kriegsverbrecher ohne Wenn und Aber ausgeliefert werden müssen. ({12}) Diese Position wurde auch von der Europäischen Union nicht aufgegeben. Von Bosnien-Herzegowina muss und kann man erwarten, dass es, wenn Dayton überwunden werden soll, nicht nur abwartet, was die EU macht, sondern auch durch eigenes Zutun im Lande seinen Beitrag leistet. Manchmal habe ich den Eindruck, dass einige Verantwortungsträger in den Entitäten sich so gut eingerichtet haben, dass sie im Grunde wenig Interesse an der Veränderung des bestehenden Status haben und dass die jungen Leute, die ja keine Chance auf ein visafreies Reisen haben und nicht erleben können, wie eine Entwicklung in Freiheit aussehen kann - das bedauere ich zutiefst -, glauben, dass nicht das Problem der fehlenden Freiheit, sondern die Probleme in ihrem Land die grundsätzlichen sind. Ich halte es deshalb für dringend notwendig, dass in Bezug auf die Überwindung der bestehenden Entitäten und der Parallelstrukturen mehr geschieht als bisher. Hier kann ich grundsätzlich die Aussagen der Kollegin Beck bezüglich des Zugangs zu öffentlichen Ämtern usw. unterschreiben. Dieser Zugang ist im Augenblick nicht in der Form gewährleistet, wie wir ihn in Europa als Standard kennen. Um Dayton zu überwinden, müsste all das in einer Verfassung geregelt werden. Nur darin sehe ich eine Chance für die Zukunft. ({13})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Dzembritzki, erlauben Sie am Ende Ihrer Rede noch eine Zwischenfrage der Kollegin Beck?

Detlef Dzembritzki (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003109, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wenn die Kolleginnen und Kollegen mir das nicht übel nehmen, bitte, Frau Kollegin.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das werden sie nicht tun, wenn die Zwischenfrage und die Antwort kurz ausfallen.

Marieluise Beck-Oberdorf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002624, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Dzembritzki, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass wir von diesem Parlament aus etwas zur Beantwortung der Frage, wo Herr Mladic ist, beitragen könnten? Es ist bekannt, dass Herr Mladic Diabetiker ist und ständige medizinische Begleitung braucht. Es ist auch bekannt, dass es mitten in Belgrad ein großes Marieluise Beck ({0}) Areal gibt, auf dem sich ein Armeeklinikum befindet. Wenn man nun zwei und zwei zusammenzählt, sollte es für eine Regierung, die Herrn Mladic wirklich finden will, ein Leichtes sein, ihn zu finden.

Detlef Dzembritzki (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003109, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin, ich kann nur noch einmal deutlich unterstreichen, dass ich hundertprozentig der Meinung bin, dass Herr Mladic vor den Internationalen Gerichtshof gehört und dass jeder Hinweis auf seinen Aufenthaltsort aufgegriffen werden sollte. Andererseits bin ich der Meinung, dass wir dann, wenn sich in Serbien Kräfte durchsetzen sollten, die ihre Kampagne auf eine europaunfreundliche Politik ausrichten - ich formuliere es sehr vorsichtig -, wahrscheinlich noch weniger Chancen hätten, Herrn Mladic vor dem Internationalen Gerichtshof zu sehen. ({0}) Die Unterstützung der europafreundlichen Kräfte ist also ganz wichtig, um nicht nur in diesem Land, sondern auch in Europa zu einem Rechtsfrieden zu kommen. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzter Redner hat der Kollege Wolfgang Gehrcke von der Fraktion Die Linke das Wort. ({0})

Wolfgang Gehrcke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003130, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich beginne mit einer kleinen Polemik. Das brauche ich; anderenfalls fehlte mir etwas, Kollege Stinner. Es gehört ja auch zum Ritual. Sie haben amüsant die FAZ zitiert: Wehe dem Land, das Diplomaten in die Hände fällt. Es ist nicht unbedingt meine Aufgabe, den deutschen diplomatischen Dienst zu verteidigen. Mir läge näher, zu sagen: Wehe dem Land, das Militärs in die Hände fällt. Dann hätten wir es gleich ausgeglichen. ({0}) Möglicherweise gibt es friedfertige Militärs und vernünftige Diplomaten. Mir ist wichtig, in dieser Debatte festzuhalten, dass man an dem Ziel eines souveränen, sich selbst bestimmenden Staates Bosnien-Herzegowina festhält und dass man das, was man von unserem Land und von Europa aus tun kann, in diese Richtung unternimmt. Gleichzeitig muss uns klar sein, dass ein Staat nur dann Bestand hat und stabil ist, wenn die dort lebenden Menschen diesen Staat wollen. Deswegen ist es vor allen Dingen ihr Problem. Die Menschen werden einen Staat dann wollen, wenn er ihnen Schutzfunktionen, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und soziale Sicherheit angedeihen lässt. Damit überzeugt man Menschen für einen Staat. Dies zu unterstützen, könnte eine vernünftige Linie der deutschen Politik sein. ({1}) Leider muss man Entscheidungen immer in Raum und Zeit treffen. Wir sollten daher nichts unternehmen, was eine Stabilisierung auf dem Balkan zusätzlich gefährdet. Dies halte ich im Moment für das größte Problem. Natürlich darf nach meinen Vorstellungen und denen der Linken in keinem Staat eine Aufteilung von Macht und Recht nach Ethnien erfolgen. Das darf keine Verfassung bestimmen. ({2}) Aber ich habe die Sorge, dass wir erneut in einen Prozess der Destabilisierung hineingeraten. Deswegen halte ich den Vorschlag der FDP gerade zum jetzigen Zeitpunkt für ungeeignet. Ich bin dafür, dass das Mandat des Hohen Repräsentanten verlängert wird und dass man mit diesem Mandat weiterarbeitet, obwohl ich anfangs eine andere Zielprojektion hatte. Ich sage Ihnen eines erneut: Die Kosovo-Entscheidung wird ihren Preis haben und, wie ich befürchte, in der gesamten Region destabilisierend wirken. Ich habe gelesen, dass der Exbundeskanzler Schröder diese Entscheidung für falsch und verfrüht hält. Daran sieht man, dass es mehr Leute gibt, die sich darüber einen Kopf machen. ({3}) Es wurde von den Wahlen in Serbien gesprochen. Ich bin sehr skeptisch, ob die Entscheidung der Europäischen Union in dem gewünschten Sinne Einfluss auf die Wahlen in Serbien haben oder das Gegenteil befördern wird, weil dort der Eindruck, man solle gekauft werden, sehr stark ist. Auch darüber ist nachzudenken: Was machen wir denn, wenn die Wahlen in Serbien ganz anders ausgehen, als wir es uns vielleicht wünschen? Welche Auswirkungen wird dies auf die Nachbarländer haben? Vielleicht ist es im Moment vernünftig, einen unerwünschten Zustand einzufrieren, weil ein eingefrorener Zustand berechenbarer als ein Zustand ist, der wieder in gewaltsamen Auseinandersetzungen eskalieren kann. Aus diesem Grunde - nicht, weil ich den Zustand für ideal hielte - glaube ich, im Moment ist es besser, beim Amt des Hohen Repräsentanten zu bleiben und hier keine Veränderungen vorzunehmen. Die Europäische Union sollte ihrerseits all das, was sie Serbien angeboten hat, auch Bosnien-Herzegowina anbieten - statt es mit dummen Argumenten in der Art, dass man eine Übersetzung nicht hinbekomme, zu verweigern - und in Bezug auf freien Reiseverkehr, Austausch und kulturelle Kooperation alle Türen öffnen. Das ist menschlich und vernünftig. In diese Richtung kann man ein Stück Politik entwickeln. Meine Sorgen sehen Sie mir bitte nach. Ich hoffe, dass ich durch die Realität nicht bestätigt werde; aber es sieht leider so aus. Danke sehr. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/8541 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/9069 mit dem Titel „Europäische Verantwortung für BosnienHerzegowina ernst nehmen“. Wer stimmt für den Antrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen aller Fraktionen bei Zustimmung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ergänzung der Bekämpfung der Geldwäsche und der Terrorismusfinanzierung ({0}) - Drucksachen 16/9038, 16/9080 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({1}) Rechtsausschuss Finanzausschuss Hier sollen die Reden zu Protokoll genommen werden. Es handelt sich um die Reden der Kollegen Helmut Brandt, CDU/CSU, Frank Hofmann, SPD, Gisela Piltz, FDP, Ulla Jelpke, Die Linke, und Wolfgang Wieland, Bündnis 90/Die Grünen.

Helmut Brandt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003727, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Heute diskutieren wir in erster Lesung den Entwurf des Gesetzes zur Ergänzung der Bekämpfung der Geldwäsche und der Terrorismusfinanzierung. Grundlagen für die Gesetzesinitiative sind das am 15. August 2002 in Kraft getretene Geldwäschebekämpfungsgesetz und die Richtlinien des Europäischen Parlamentes und des Rates sowie der Kommission aus den Jahren 2005 und 2006. Diese Richtlinien sind nunmehr umzusetzen und bilden den Rahmen für das Ergänzungsgesetz. Die Bedeutung der Bekämpfung der Geldwäsche und der Terrorismusfinanzierung hat in den letzten Jahren nicht abgenommen, sondern im Gegenteil zugenommen. Die Änderung des bestehenden Geldwäschegesetzes mittels der Umsetzung der entsprechenden Richtlinien bedeutet die notwendige Anpassung an die sich verändernden Gegebenheiten. Terroristen, aber auch die organisierte Kriminalität sind auf weltweite Geldflüsse angewiesen, um ihr verbrecherisches Tun zu finanzieren und das gewonnene Kapital zu platzieren. Gelingt es mithin, die Geldwäsche wirksam zu bekämpfen und den weltweiten Finanzfluss zur Finanzierung des Terrorismus einzudämmen, so würde dies einen bedeutenden Schritt zur Bekämpfung dieses Kriminalitätsfeldes darstellen und zudem das organisierte Verbrechen empfindlich treffen. Zu Recht bemüht sich der Gesetzesentwurf, möglichst eine von uns gewünschte Eins-zu-eins-Umsetzung der Richtlinien vorzunehmen. Dies ist angesichts der vielen unterschiedlichen Positionen und Interessen schon allein auf europäischer Ebene keineswegs eine einfache Aufgabe, die aber durch den vorliegenden Gesetzentwurf im Wesentlichen gelungen ist. Dabei ist zu berücksichtigen, dass im Zuge der geplanten Novellierung eine Vielzahl von Gesetzen einer Änderung bedürfen. Zu nennen sind hier die notwendige Änderung des Straftatbestandes der Geldwäsche in § 261 StGB, Änderungen im Kreditwesengesetz, KWG, Änderungen im Versicherungsaufsichtsgesetz,VAG, Folgeänderungen im Zollverwaltungsgesetz, ZollVG, und Änderungen des Investmentgesetzes, InvG. Geldwäsche, das sind all die Methoden und Handlungen, die dem Einschleusen von illegal erworbenem Geld oder anderen gleichwertigen Vermögenswerten in den legalen Finanz- und Wirtschaftskreislauf dienen und gleichzeitig verhindern, die tatsächliche Herkunft der Vermögenswerte aufzudecken. Betrachtet man diese Definition und bedenkt man, dass eine kaum in Zahlen zu fassende Menge von entsprechenden Transaktionen potenziell unter diese Definition fallen, so wird deutlich, dass die Bedeutung der Maßnahme unbestritten ist, die wirksame Durchführung aber einen erheblichen Aufwand bedeutet. Die augenblickliche Sicherheitslage - sowohl global als auch national betrachtet - zwingt uns aber, die entsprechenden Maßnahmen zu treffen. Nach wie vor steht Deutschland und stehen auch die anderen europäischen Länder ebenso wie die USA im Fokus der Bedrohung durch den Terrorismus. Nach wie vor steigt auch die Gefahr durch die organisierte Kriminalität. Diese Gefahren rechtfertigen die vorgesehenen Ergänzungen der bestehenden Gesetze. Sie sind notwendig und müssen auch von den von der Umsetzung Betroffenen als notwendig erkannt werden. Dieser zweite Aspekt ist deshalb besonders wichtig, weil es an der Aufmerksamkeit und an der Genauigkeit der Durchführung der Maßnahmen liegt, wie erfolgreich letztlich die Bekämpfung insbesondere des Terrorismus ist. Durch das Gesetzesvorhaben ist auch das Ziel erreicht worden, klare und übersichtliche Regelungsstrukturen zu schaffen. Man mag dabei bedauern, dass es neben dem Geldwäschegesetz auch notwendige Anpassungen und Auslagerungen insbesondere in das Kreditwesen- und in das Versicherungsaufsichtsgesetz gibt. Dies lässt sich aber aufgrund der Gesetzessystematik in Deutschland nach meiner Auffassung nicht verhindern. Die CDU/ CSU-Fraktion geht nach den Erfahrungen mit dem bisherigen Geldwäschegesetz davon aus, dass es nicht zu Schwierigkeiten bei der praktischen Rechtsanwendung führt, da diejenigen, an die sich das Gesetz wendet, auch jetzt bereits sowohl mit dem Kreditwesengesetz wie auch mit dem Versicherungsaufsichtsgesetz umzugehen verstehen und gewöhnt sind, die dortigen gesetzlichen Grundlagen zu beachten und umzusetzen. Soweit dies zum jetzigen Zeitpunkt überhaupt schon möglich ist, halten sich die Kosten für die Umsetzung in Grenzen. Der mit dem Gesetz beschäftigte Normenkontrollrat hat insoweit keine Bedenken erhoben und ist von der Einschätzung der Bundesregierung nicht abgewichen. Zusammenfassend ist mithin zu betonen, dass diese Gesetzesergänzung und Erweiterung notwendig ist und im Kampf gegen die organisierte Kriminalität und den weltweit agierenden Terrorismus Erfolg verspricht und zwar im Wesentlichen durch folgende Maßnahmen: erstens durch die Ausweitung weiterer zur Geldwäschebekämpfung bereits bestehender Instrumente auf die Bekämpfung des Terrorismus und seiner Finanzierung, zweitens durch die Verstärkung von Sorgfaltspflichten und die bessere Differenzierung nach der Risikoträchtigkeit von Transaktionen, drittens durch eine Neudefinition der tatsächlich hinter den Transaktionen stehenden Personen - Stichwort „wirtschaftliche Eigentümer“ - und viertens durch die Möglichkeit für den Verpflichteten, die sich für ihn aus dem Gesetz ergebende Verpflichtung zur Erfüllung der Sorgfaltspflichten auch auf einen Dritten zu übertragen. Im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens wird man sicherlich noch zu Optimierungen kommen auch unter Berücksichtigung der Stellungnahme des Bundesrates in seiner Sitzung vom 25. April 2008. Ich sehe niemanden, der sich grundsätzlich gegen die Optimierung durch das Geldwäschebekämpfungsergänzungsgesetz ausspricht. Ich freue mich deshalb auf eine angeregte Diskussion.

Frank Hofmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002682, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

In erster Lesung beraten wir den Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Ergänzung der Bekämpfung der Geldwäsche und der Terrorismusfinanzierung. Durch die Richtlinie 2005/60/EG und die Richtlinie 2006/70/EG sind die Grundlagen für die nationalen Gesetzgebungen zur Bekämpfung der Geldwäsche und der Terrorismusfinanzierung umstrukturiert und erweitert worden. Ziel des Gesetzentwurfs ist die Umsetzung der Vorgaben dieser Richtlinien in nationales Recht. Durch die Neufassung des Geldwäschegesetzes und durch Änderungen des Kreditwesengesetzes, des Versicherungsaufsichtsgesetzes und des Strafgesetzbuches werden die zur Geldwäschebekämpfung entwickelten Instrumente auch auf die Bekämpfung der Terrorismusfinanzierung erstreckt. Nach alledem, was wir bisher über den internationalen Terrorismus wissen, finanziert er sich sowohl aus legalen als auch aus illegalen Quellen. Phänomenologisch liegt damit sowohl Geldwäsche, also die Umwandlung von illegalem Geld in legales Geld, als auch umgekehrte Geldwäsche vor, also die Umwandlung von Geld aus legalen Quellen zur Finanzierung terroristischer Zwecke. Die Finanzierung des internationalen Terrorismus ist international und global angelegt und kann deshalb auch nur international und global bekämpft werden und nicht nur von einzelnen Staaten. Es ist deshalb richtig, einen EU-Bekämpfungsansatz zu verfolgen und gleiche Instrumente in der gesamten EU anzuwenden. Von Nachteil ist dabei natürlich die geringe Möglichkeit der Rücksichtnahme auf nationale Eigenheiten und nationales Eigenleben bei den Wirtschaftsunternehmen. Die bürokratischen Kosten der Unternehmen können sich unterschiedlich auswirken. Dies könnte zu einer Vernachlässigung der Sorgfaltspflicht vonseiten der Unternehmen führen. Darauf müssen wir bei der Umsetzung achten: effizient und effektiv bei möglichst geringen Bürokratiekosten. Wer lediglich auf die direkte Finanzierung von terroristischen Anschlägen schaut, stellt fest, dass terroristische Anschläge keinen hohen finanziellen Aufwand erfordern. Beispiele - Quelle UNMonitoringTeamReport/ Aug2004 and NTFIU; Kosten geschätzt -: London Bombings - 7. Juli 2005 - 7 240 Pfund; Madrid Zugattentate - 11. März 2004 - 10 000 Dollar; Istanbul - 15. und 20. November 2003 - 40 000 Dollar; Jakarta JWMarriot Bombenanschlag - 5. August 2003 - 30 000 Dollar; Bali Bombenanschlag - 12. Oktober 2002 - 50 000 Dollar; World Trade Centre/Pentagon USA - 11. September 2001 - 303 672 bis 500 000 Dollar; USS-Cole Anschlag, Yemen - 12. Oktober 2000 - 10 000 Dollar; Kenia Bombenanschlag - 7. August 1998 - 50 000 Dollar. Es wäre allerdings falsch, nur diesen finanziellen Aufwand zu sehen. Al-Qaida und sein internationales Netzwerk beispielsweise benötigen immense Summen, um die terroristischen Strukturen zu unterhalten und zu finanzieren. Die Bandbreite der Methoden, Einrichtungen und Instrumente, die bekanntermaßen von Terroristen genutzt werden, ist enorm. Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung nutzen Schlupflöcher und Eigenheiten von Finanzsystemen aus, um Geld aus Aktivitäten zu waschen und im Endeffekt den wahren Verwendungsgrund einer Geldsumme zu verschleiern. Hier nur ein paar Beispiele, wie sich Terrorismus finanzieren kann: neben Banküberweisungen, Hawala Banking, Strohfirmen, Edelmetall, Gold und Diamanten, Fälschungen von Markenartikeln bis hin zur missbräuchlichen Ausnutzung von Geschäftsbeziehungen zu Stiftungen. Deshalb ist das Trockenlegen von Geldströmen der wichtigste Ansatzpunkt zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus. Insgesamt gehen supranationale Organisationen davon aus, dass so jährlich weltweit etwa 200 Milliarden Dollar ohne staatliche Kontrolle oder Genehmigung geheim transferiert werden. Natürlich nicht nur für die Finanzierung des Terrorismus.Hier wollen wir EU-weit bei der Bekämpfung einen Schritt weiter kommen. Dazu dient dieser Gesetzentwurf. Er enthält sechs neue Informationspflichten für die Wirtschaft; sechs bestehende Informationspflichten werden geändert. Daneben gibt es eine neue Informationspflicht für die Bürger. Vier Informationspflichten für die Verwaltungen sollen geändert werden. Wir werden uns im Rahmen des weiteren Gesetzgebungsverfahrens intensiv mit dem Gesetzentwurf und den zugrunde liegenden Richtlinien auseinandersetzen unter Hinzuziehung des Sachverstands aller Beteiligten aus Wirtschaft und Verwaltung.

Gisela Piltz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003667, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Waschsalons, mit denen Al Capone illegale Gelder aus seinen Mafia-Geschäften reingewaschen hat, sind längst Geschichte. Geldwäsche geschieht heute im Rahmen des globalen Finanzmarktes mit allen Mitteln, die dieser zur Verfügung stellt. Gewinne krimineller Machenschaften Zu Protokoll gegebene Reden und verbrecherischer Geschäfte aufzuspüren und so der organisierten Kriminalität das Wasser abzugraben, erfordert höchste Aufmerksamkeit und Sensibilität aller Beteiligten im Hinblick auf Transaktionen von Geld und anderen Wertgütern. Ebenso stellen die Finanzströme des internationalen Terrorismus eine Herausforderung für den Rechtsstaat dar. Die Unterstützung terroristischer Netzwerke durch die Bereitstellung von Mitteln stellt eine ernsthafte Gefahr für unsere freie Gesellschaft dar. Es ist daher dringend geboten, praktikable und effiziente Methoden zur Bekämpfung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung zu finden. Dass bei diesem wichtigen Thema vonseiten der sogenannten Großen Koalition zunächst geplant war, die erste Lesung ohne Debatte durchzuführen, ist ebenso bezeichnend wie die Tatsache, dass der Gesetzentwurf dem Deutschen Bundestag am Montag dieser Woche, also vor vier Tagen zuging. Im ersten Entwurf der Tagesordnung war noch nicht einmal eine Drucksachennummer angegeben. Die sogenannte Große Koalition zeigt wieder einmal eine fast unverschämt zu nennende Geringschätzung der parlamentarischen Beratungen. Ihr ist nur noch daran gelegen, ihre Vorhaben möglichst schnell durchzudrücken, am besten, ohne viel darüber zu debattieren und ohne die kritischen Punkte anzusprechen. Gerade im globalen Finanzmarkt ist eine enge Zusammenarbeit über nationale Grenzen hinweg erforderlich. Die Initiative der EU für die dritte Geldwäscherichtlinie ist daher vom Grundsatz her richtig und notwendig. Allerdings ist und bleibt das Strafrecht nationale Angelegenheit. Die EU-Richtlinie greift in nationale strafrechtliche Regelungen jedoch in Teilen sehr tief ein und erfasst so beispielsweise einen breiten Straftatenkatalog. Der deutsche Gesetzgeber muss daher strikt darauf achten, dass die Richtlinie verfassungskonform und so grundrechtsschonend wie möglich in deutsches Recht umgesetzt wird. Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel hat in ihrer Regierungserklärung vor dem Deutschen Bundestag am 30. November 2005 erklärt: „Wir haben uns vorgenommen, die EU-Richtlinien im Grundsatz nur noch eins zu eins umzusetzen.“ Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung für ein Geldwäschebekämpfungsergänzungsgesetz geht jedoch in Teilen über die umzusetzenden Richtlinien der EU hinaus. Von einer Eins-zu-eins-Umsetzung wird ohne ersichtlichen Grund abgewichen. Dies führt zu einer Belastung von Unternehmen mit unnötiger Bürokratie und stärkt zudem nicht die Rechtssicherheit. Insbesondere die Sorgfaltspflichten, die Unternehmen auferlegt werden, wenn es um die Identitätsfeststellung ihrer Vertragspartner geht, sind nicht praktikabel und nutzen Spielräume der EU-Richtlinien nicht aus, um den bürokratischen Aufwand so gering wie möglich zu halten. Es ist richtig, dass die Verschleierung der Herkunft von Geldern dadurch vermieden werden soll, dass die Identität der Vertragspartner festgestellt wird. Dass jedoch in dem Gesetz eine kontinuierliche Nachprüfung der Identität gefordert wird, ist in der gewählten Ausgestaltung unverhältnismäßig. Hier müssen die Spielräume der Richtlinie dahin gehend genutzt werden, dass eine angemessene Regelung gefunden wird. Banken müssten sich aufwendige Kontroll- und Wiedervorlagesysteme anlegen, um die geplante Vorschrift zu erfüllen. Bedenklich sind auch die ausufernden Verpflichtungen zur Datensammlung und -aufbewahrung. Notwendig ist eine Begrenzung auf die Daten, die zur Identifizierung erhoben werden. Insbesondere muss klargestellt werden, dass nicht jedes Transaktionsdatum unter die Aufbewahrungspflicht von fünf Jahren fällt. Dies ist nicht nur mit einem erheblichen und kostspieligen Speicheraufwand bei den Verpflichteten verbunden, sondern auch aus Sicht des Datenschutzes äußerst bedenklich. Der Grundsatz bei der Bekämpfung der Geldwäsche und der Terrorismusfinanzierung muss ein risikoorientierter Ansatz sein. Ein Generalverdacht für jeden Kunden einer Bank, für jeden Versicherungsnehmer und für jeden Mandanten eines Notars oder Anwalts ist mit dem Rechtsstaat nicht vereinbar. Daher muss das Gebot der Risikoorientierung strikt eingehalten werden. Es ist mithin völlig überzogen, dass beim Fehlen auch nur des Vornamens des Minderheitsgesellschafters einer GmbH Kreditinstitute Geschäftsbeziehungen beenden bzw. Transaktionen nicht durchführen dürfen, auch wenn überhaupt kein Anlass zum Geldwäscheverdacht besteht. Damit werden in Fällen, in denen Unterlagen schwer zu beschaffen sind, oder bei bestehenden Geschäftsbeziehungen, zum Beispiel langfristigen Krediten, Kunden von der Teilnahme am Geschäftsverkehr ausgeschlossen, ohne dass hierfür ein sachlicher Grund besteht. Die noch über die Vorschläge der Bundesregierung hinausgehende Stellungnahme des Bundesrats geht hier in die falsche Richtung. Jede noch weitere Verschärfung stellt eine unzumutbare Belastung für Banken und andere Verpflichtete dar. Besonders absurd ist die Regelung zu den „politisch exponierten Personen“, den sogenannten PEPs. Alle Kolleginnen und Kollegen sind nach diesem Gesetzentwurf der Geldwäsche oder der Terrorismusfinanzierung verdächtig, weil sie Abgeordnete des Deutschen Bundestags sind und damit PEPs. Es ist ein unerhörter und vollkommen inakzeptabler Vorgang, dass eine bestimmte Gruppe von Personen, nämlich alle, die politisch tätig sind, die ein gewähltes Amt, ein Regierungsamt oder eine hohe Funktion im Staatswesen innehaben, also eigentlich gerade diejenigen, die den Staat tragen, die seine Verfassungsorgane besetzen, per se verdächtig sind - und nicht nur diese Personen, sondern auch noch jeder, der ihnen nahesteht. Die Ehefrau? Die Geliebte? Der Hausfreund? Was für eine absurde, ja, was für eine geradezu groteske Vorstellung, dass seitens der Banken nun aus den Klatschblättern der ganzen Welt die Storys über die Geliebten der Politiker sorgsam zu den Akten genommen werden müssen. Es mag sein, dass die Intention richtig und gut war, dass es auf diese Weise Diktatoren der ganzen Welt erschwert werden sollte, ihre schmutzigen Gelder in Deutschland oder überhaupt in Europa zu waschen. Aber die Definition erfasst eine derartig ausufernde Vielzahl von Personen, unter anderem alle MdBs. Außerdem ist es doch regelrecht absurd, zu glauben, dass ein Jahr nach der Abdankung ein Diktator vom Schlage Idi Amins oder Zu Protokoll gegebene Reden Mugabes sein blutiges Geld nicht mehr anlegen will. Dann ist er nicht mehr erfasst. Die gesamte Regelung ist vollkommen abwegig. Bei einer risikoorientierten Prüfung bedarf es dieses speziellen Kriteriums überhaupt nicht. Mir ist es völlig schleierhaft, warum die Bundesregierung einer solchen Richtlinie in Brüssel nicht Einhalt geboten hat. - Damit betritt Deutschland aus meiner Sicht rechtliches Neuland. Erschwerend kommt hinzu, dass die Bundesregierung bei der Umsetzung noch über die Richtlinie, die schon schlimm genug ist, hinausgeht und zur Einhaltung der Sorgfaltspflichten auch hinsichtlich im Inland ansässiger PEPs verpflichten will. Die Regelungen sind ebenso unpraktikabel wie unbestimmt. Eine gesetzeskonforme Erfüllung der Vorgaben durch Banken oder andere Verpflichtete ist quasi unmöglich. Bei der Auflistung der beizubringenden Unterlagen zum Zwecke der Identifizierung geht der Gesetzentwurf ebenfalls über die Richtlinie hinaus. Während in der Richtlinie nur von „Dokumenten, Daten oder Informationen, die von einer glaubwürdigen und unabhängigen Quelle stammen“, die Rede ist, fordert der Gesetzentwurf die Vorlage eines gültigen Ausweises oder Passes. Gerade bei ausländischen Kunden ist dies jedoch oftmals schwierig. Zugleich werden aber unverständlicherweise die Auslandsvertretungen der Bundesrepublik nicht mehr als zuverlässige Dritte genannt, auf die die nach dem Gesetz Verpflichteten zum Zwecke der Identifizierung zurückgreifen können. Dies ist unverständlich und führt zu praktischen Problemen bei den Banken und anderen Verpflichteten. Die FDP-Bundestagsfraktion wird das nun vorgelegte Gesetz daran messen, dass, erstens, die EU-Richtlinie eins zu eins und nicht darüber hinausgehend umgesetzt wird, dass, zweitens, bei jeder Regelung diejenige gefunden wird, die möglichst wenig neue bürokratische Belastungen mit sich bringt und die die Wirtschaft nicht mit überbordenden Bürokratiekosten überzieht, dass, drittens, strikt der Datenschutz beachtet wird, wenn es um Erhebung, Speicherung und Weitergabe von Daten geht, und dass, viertens, vom Grundsatz der Risikoorientierung nicht abgewichen wird.

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Als Ziel des Gesetzentwurfes führt die Bundesregierung an, die Finanzquellen des internationalen Terrorismus auszutrocknen. Hierzu wird das Geldwäschegesetz vollkommen neu gefasst und die Terrorismusfinanzierung der Geldwäsche gleichgestellt. Das Grundanliegen, dem internationalen Terrorismus die finanziellen Grundlagen zu entziehen, mag dem naiven Betrachter durchaus begrüßenswert erscheinen. Aber: Nicht zum ersten Mal soll der Krieg gegen den Terrorismus dazu dienen, die Grundlagen einer freiheitlichen Gesellschaft weiter auszuhöhlen. Der Gesetzentwurf baut praktisch den kompletten Bereich der Finanzdienstleistungen und -unternehmen in die neue, repressive und freiheitsfeindliche Sicherheitsarchitektur Deutschlands ein. Von zwölf Kategorien von Finanzdienstleistern und damit verbundenen Berufen wie Rechtsanwälten wird verlangt, die Kunden zu überwachen und ihre Geschäftsbeziehung aus der Sicherheitsund Strafverfolgungsperspektive zu dokumentieren. Das privatrechtliche Verhältnis der Parteien wird zu einem nicht mehr staatsfreien, das Vertrauensverhältnis von Anfang an zerstört. In die Berufsfreiheit bzw. Privatautonomie der Verpflichteten wird massiv eingegriffen. So müssen beispielsweise in bestimmten Fällen Geschäfte von den Vorgesetzten der Vertragspartner genehmigt werden. Die Finanzdienstleister werden sogar gezwungen, Verträge zu kündigen oder Vertragsabschlüsse zu unterlassen, wenn die staatlich gewünschten Informationen nicht erhoben werden können. Die Nachforschungen müssen heimlich erfolgen - Paragraf 12 -, und es besteht eine Anzeigepflicht gegenüber den staatlichen Behörden. Die künftige Superbehörde BKA erhält durch ihre Zuständigkeit als Datensammelstelle noch mehr informationelle Macht. Wie durch die Vorratsdatenspeicherung Telefonunternehmen zu „Ermittlungshelfern“ wurden, werden Finanzdienstleister jetzt zu Antiterroreinheiten. Nur am Rande: Wie soll denn ein Bankangestellter in der Lage sein, „Tatsachen“ festzustellen, „die darauf schließen lassen“, dass eine Transaktion der Terrorismusfinanzierung dient, wenn noch nicht einmal klar ist, ob beispielsweise eine ausländische Organisation nun als legitime politische Vereinigung, Befreiungsbewegung oder Terrorbande gilt und sich diese Kategorien ja mitunter schnell ändern können, wie das Beispiel der afghanischen Islamisten zeigt? Die Linke ist sehr dafür, wirkliche Geldwäsche zu bekämpfen und die bislang im Ausland versteckten Milliarden zu versteuern. Wir wollen auch, dass Anschläge verhindert werden. Das ist in einem Rechtsstaat aber ausschließlich die Aufgabe staatlicher Behörden, die bei Vorliegen eines Anfangsverdachts oder einer konkreten Gefahr ermitteln müssen. Private Unternehmen sind für den Service an ihren Kunden da, nicht für die Bekämpfung und Bespitzelung derselben. Das bestehende Geldwäschegesetz knüpft an einen strafrechtlichen Tatbestand an, der verfassungsrechtlich höchst bedenklich ist, und ist daher bereits im Grundsatz mehr als fragwürdig. Die Erweiterung zur Bekämpfung der Terrorismusfinanzierung knüpft nicht einmal zwingend an strafrechtlich relevante Verhaltensweisen an. Ein rechtmäßiges Verhalten wird somit zum Anknüpfungspunkt für Überwachungsmaßnahmen und etwaige Strafanzeigen. Auch soweit strafrechtlich relevantes Verhalten betroffen ist - wie die Finanzierung von Taten nach Paragraf 129 a, auch in Verbindung mit 129 b - wissen wir doch, dass Terrorismus ein Gummibegriff ist und es gerade bei Paragraf 129 b praktisch keine Grenzen mehr gibt. Wer einmal auf der Terrorliste der UN gelandet ist, hat keinerlei Rechtsbefehle. Daran lassen sich keine rechtsstaatlich sauberen Regelungen anknüpfen. Das Gesetz hat weitere Schwachstellen: Erstens. Die Banken sollen ermitteln, ob ein Geschäftskunde eine „exponierte politische Person“ ist, was bis zum Offizier einer fremden Streitmacht geht. Zweitens. Dass Strohmänner Zu Protokoll gegebene Reden aufgedeckt werden sollen, ist zu begrüßen, aber ob es praktikabel ist, bei jeder Rechtsgesellschaft jeden einzelnen Gesellschafter unter Angabe von Dokumenten zu ermitteln, unabhängig von den Stimmrechtsanteilen, ist zweifelhaft. Drittens. Genauso ist es nicht unbedingt sinnvoll, als wirtschaftlich Berechtigte im Falle von Stiftungen „die Gruppe von natürlichen Personen, zu deren Gunsten das Vermögen hauptsächlich verwaltet oder verteilt werden soll“ zu bezeichnen. Man denke nur mal daran, was das im Falle etwa der Aktion Mensch bedeuten würde. Der Bundesregierung ist es also entgegen ihrer Ankündigung nicht gelungen, praxisgerechte und maßvolle Regelungen für die Verpflichteten - Banken, Kreditinstitute und andere - zu schaffen. Noch weniger ist es ihr gelungen, bei ihrer Datensammelwut gegenüber den Bürgern maßzuhalten. Die Fraktion Die Linke lehnt die Bestrebungen der Bundesregierung, die Privatwirtschaft im Krieg gegen den Terrorismus zu verpolizeilichen, ab.

Wolfgang Wieland (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003863, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

In der Terrorbekämpfung brauchen wir Augenmaß. Jedes neue Gesetz ist darauf abzuklopfen, wie hoch der Gewinn an Sicherheit wirklich ist, wie tief dafür in die Rechte der Bürgerinnen und Bürger eingegriffen wird und ob es Alternativen gibt. Und die gibt es fast immer, stellen wir fest. Dabei wissen wir um die Gefahr eines Terroranschlages in unserem Land. Es gibt keine 100-prozentige Sicherheit. Die Gefahren des internationalen Terrorismus darf man nicht ignorieren. Deswegen muss man auch die noch unter Rot-Grün verabschiedete Geldwäschegesetzgebung immer wieder auf Lücken untersuchen. Die Sicherheitsgesetze immer weiter auszuweiten, ist dabei die ganz falsche Antwort, auch bei der Geldwäsche für terroristische Zwecke. Die Bundesregierung beteuert immer wieder, dass Sie maßvoll handele. Dann aber legt sie mit dem Geldwäschebekämpfungsergänzungsgesetz ein 133 Seiten langes Werk mit ungeahnten neuen Informations- oder besser Schnüffelpflichten auf. Ihnen geht es dabei angeblich nur um die Umsetzung mehrerer EU-Richtlinien zur Geldwäsche. Da sind der Bundesregierung natürlich die Hände gebunden. Sie muss umsetzen, saß in Brüssel im Finanzministerrat aber mit am Tisch. Und ihre von der EU vermeintlich gefesselten Hände, wollen Sie jetzt gerne in Unschuld waschen. Sie wollen lediglich eine „Eins-zueins-Umsetzung“ der Richtlinien. Nur der verpflichtende Teil soll angeblich umgesetzt werden. Leider stimmt das nicht. Der Regierungsentwurf geht über die dritte EU-Geldwäscherichtlinie und die Durchführungsrichtlinie hinaus. Jetzt zu den Details: Der Umfang der Identifizierungspflichten soll deutlich ausgeweitet werden, um mehr Verdachtsfälle melden zu können. Früher beschränkte man sich dabei auf natürliche Personen. Jetzt wird sie auch auf juristische Personen ausgeweitet. Das ist an sich unproblematisch. Es kann ja nicht darauf ankommen, ob Terroristen selbst handeln oder für ihr Treiben ein Unternehmen gründen. Im Detail ufern die Informationspflichten dann aber aus. Sie wollen den wirtschaftlich Berechtigten eines Rechtsgeschäfts erkennbar machen zur Aufdeckung von sog. Strohmanngeschäften. Aber wollen sie dazu wirklich jeden einzelnen Anteilseigner an einer GbR erfassen? Es gibt in ihrem Gesetzentwurf nämlich keine Beschränkung auf einen Mindestanteil. Wissen Sie eigentlich, welcher Aufwand damit verbunden ist, auch noch den kleinsten Gesellschafter aufzunehmen? Und wenn bei einer Kapitalgesellschaft alle Mitglieder des Vertretungsorgans herauszufiltern und aktenkundig zu machen sind, dürfte die Schätzung von Bürokratiekosten in Höhe von 195 000 Euro weit untertrieben sein. Eine Eins-zu-eins-Umsetzung ist das nicht mehr. In den Richtlinien steht nichts über Vertreter, überhaupt nichts. EU-Richtlinien sind häufig etwas unbestimmt. Wir wissen das. Da gibt es Umsetzungsspielräume. Die nutzt die Bundesregierung leider nicht aus. Es werden spezielle Überwachungspflichten geschaffen. Bei „exponierten Personen“ aus geldwäschegefährdeten Ländern treffen mich als Anwalt verstärkte Sorgfaltspflichten. Da soll man seinem Mandanten gegenüber offenbar zum Detektiv werden. Ich versuche mir das ganz praktisch vorzustellen. Als Anwalt in einem Asylverfahren geht es um die Verfolgung des Mandanten als Mitglied der Opposition. Die Regierung des Herkunftslandes wirft dieser Opposition Menschenhandel vor. Ist er damit eine exponierte Person? Was ist übrigens mit Liechtenstein? Ist das nicht auch ein geldwäschegefährdeter Staat? Zugegeben, Sie mussten diesen unbestimmten Rechtsbegriff aus der Richtlinie übernehmen. Aber sie haben auch nichts dafür getan, hier mehr Klarheit in die Regelung zu packen. Dafür lassen sie die Auskunftsverpflichteten im Regen stehen. Anwälte und Kreditinstitute etwa müssen nach eigenem Ermessen eine Risikoentscheidung treffen. Hat sich ein Berufsgeheimnisträger dann falsch entschieden, hat er also keine Anzeige erstattet, macht er sich unter Umständen strafbar. Und zwar auch dann, wenn ihm nur einfache Fahrlässigkeit vorzuwerfen ist. Ich meine also, ganz so unschuldig wie Sie behaupten, sind Sie nicht. Ihr Entwurf ist kein Spiegelbild der Richtlinie. Der Referentenentwurf war es noch eher. Da muss noch reichlich geputzt werden, bis das schöne Antlitz des Rechtsstaates wieder eins zu eins erscheint.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf den Drucksachen 16/9038 und 16/9080 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Joachim Günther ({0}), Horst Friedrich ({1}), Patrick Döring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Einführung einer elektronisch lesbaren Chipkarte für den Baubereich - Wirksames Mittel zur Bekämpfung der Schwarzarbeit - Drucksache 16/4208

Not found (Mitglied des Präsidiums)

Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0}) Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Innenausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Auch hier sollen die Reden zu Protokoll genommen werden. Es handelt sich um die Reden der Kollegen Paul Lehrieder, CDU/CSU, Andreas Steppuhn und Ernst Kranz, SPD, Joachim Günther, FDP, Werner Dreibus, Die Linke, und Peter Hettlich, Bündnis 90/Die Grünen.1) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/4208 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Vorlage federführend vom Ausschuss für Arbeit und Soziales beraten werden soll. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ältestenrates zu dem Antrag der Abgeordneten Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn, Sylvia Kotting-Uhl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Den Deutschen Bundestag zum Vorbild für die sparsame und klimafreundliche Stromversorgung machen - Drucksachen 16/7529, 16/8820 Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Norbert Lammert Auch hier sollen die Reden zu Protokoll genommen werden. Es handelt sich um die Reden der Kollegen Bernhard Kaster, CDU/CSU, Iris Gleicke, SPD, Ernst Burgbacher, FDP, Hans-Kurt Hill, Die Linke, und HansJosef Fell, Bündnis 90/Die Grünen.

Bernhard Kaster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003562, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

In der heutigen Debatte haben wir uns mit einem An- trag auseinanderzusetzen, der suggeriert, der Bundestag habe erheblichen Nachholbedarf, was die sparsame und klimafreundliche Stromversorgung für den Bundestag an- geht. Tatsächlich ist dieser Antrag lediglich der durch- sichtige Versuch, sich öffentlichkeitswirksam zu profilie- ren. Ein typischer Schaufensterantrag. Der Deutsche Bundestag ist längst ein Vorbild für sparsame und klima- freundliche Stromversorgung. Die Entscheidung Anfang der 90er-Jahre, mit Parla- ment und Regierung von Bonn nach Berlin umzuziehen, hat der damalige Deutsche Bundestag zum Anlass ge- nommen, bei den Bundestagsneubauten zukunftswei- sende, umweltpolitisch verantwortungsvolle und vorbild- liche Energiekonzepte zu realisieren. Bereits in der 13. Wahlperiode, im November 1995, haben die Koali- tionsfraktionen CDU/CSU und FDP gemeinsam mit der SPD und Bündnis 90/Die Grünen den Antrag auf Bundes- tagsdrucksache 13/3042 „Ökologische Konzepte für die Parlaments- und Regierungsbauten in Berlin“ im Bun- 1) Anlage 6 destag eingebracht und im Januar 1997 einstimmig beschlossen. In dem Antrag heißt es unter anderem: „Die Planung der Hauptstadt Berlin - mit dem Umbau des Reichstagsgebäudes, den Neubauten in den Dorotheenblöcken und im Spreebogen … - ist eine einzigartige politische Chance für ein beispielhaftes Signal für eine umweltfreundliche Bauweise und Nutzung der Gebäude sowie für eine architektonisch integrierte Nutzung erneuerbarer Energien.“ Die damalige unionsgeführte Bundesregierung als Bauherr hat bereits 1994, das heißt vor 18 Jahren, erklärt, dass sie ihre Anstrengungen fortsetzen werde, in den Liegenschaften der Bundesressorts den Energieverbrauch vorbildlich zu senken sowie den Einsatz erneuerbarer Energien zu verstärken. Bei den Bauvorhaben in der Bundeshauptstadt Berlin widmete die damalige Bundesregierung dem Aspekt der rationellen Energienutzung und dem Einsatz erneuerbarer Energien besondere Aufmerksamkeit. Im Zuge der Neubauten des Bundestages in Berlin wurden - parallel zur Sicherung einer hohen energetischen Qualität der Gebäude - bei der Anlagentechnik moderne und innovative Lösungen verfolgt, die den Anforderungen der Zuverlässigkeit, Wirtschaftlichkeit, niedriger Schadstoffemissionen und eines hohen Regenerativanteils Rechnung tragen. Der Bundestag betreibt seit dem Regierungsumzug hauseigene Blockheizkraftwerke in Kraft-Wärme-Kältekopplung, die der Erzeugung regenerativer Energie dienen. Der Anteil des erzeugten Gesamtbedarfs aller Liegenschaften des Deutschen Bundestages beträgt in Abhängigkeit von der Verfügbarkeit der Anlagen derzeit jährlich bereits 30 bis 40 Prozent. Der Bedarf des Bundestages an Elektrizität, der nicht durch die Energieerzeugung gedeckt werden kann, wird über den Zukauf von Strom aus dem Verbundnetz kompensiert. In diesem gelieferten Strommix ist auch ein Anteil regenerativ erzeugter Energie enthalten, der für den Bundestag bei circa 17 Prozent liegt. Mit der Fertigstellung der Verlängerung des MarieElisabeth-Lüders-Hauses ist eine Fortschreibung des bisherigen Energiekonzeptes vorgesehen. Das wird den Anteil an regenerativ erzeugtem Strom noch erhöhen. Die weiter gehenden Vorschläge in dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen haben wir in der Raum- und Baukommission völlig zu Recht abgelehnt. Die Bundestagsverwaltung hatte zuvor die Vorschläge intensiv geprüft und der Raum- und Baukommission eine ausführliche Stellungnahme vorgelegt. Darin kommt sie zu dem Ergebnis, dass die von Bündnis 90/Die Grünen vorgeschlagenen Maßnahmen entweder bereits umgesetzt sind, sich nicht umsetzen lassen oder mit einem Kostenaufwand verbunden sind, der in keinem vertretbaren Verhältnis zum Ertrag stehen. Die Parlamentarische Geschäftsführerin von Bündnis 90/Die Grünen; Dr. Thea Dückert, warf den anderen Fraktionen nach der Entscheidung der Raum- und Baukommission in einer Pressemeldung dennoch vor, sie hätten immer noch so ihre Probleme, wenn es konkret darum gehe, dass sie selbst Treibhausgase einsparen sollten. Dies ist der gezielte und zugleich peinliche Versuch, die Öffentlichkeit über die Realitäten zu täuschen. Es wird verschwiegen, dass die weiter gehenden Forderungen von Bündnis 90/Die Grünen aus sachlichen Gründen schlichtweg nicht umsetzbar sind. So fordern Bündnis 90/Die Grünen beispielsweise die Einspeisung von überschüssigem Strom des Bundestages in das Berliner Elektrizitätsnetz. Tatsächlich wird aber die in den bundestagseigenen Blockheizkraftwerken produzierte Energie in vollem Umfang zur Bedarfsdeckung des Deutschen Bundestages benötigt. Eine Einspeisung von Strom in das Berliner Elektrizitätsnetz ist deshalb gar nicht möglich. Bündnis 90/Die Grünen fordern weiter die Umstellung der Gasversorgung auf Biogas. Für die Lieferung mit Gas besteht zwischen dem Deutschen Bundestag und dem örtlichen Netzbetreiber ein entsprechender Vertrag. Über das Netz wird derzeit ausschließlich Erdgas bereitgestellt. Die vorhandenen Marktteilnehmer besitzen nach Auskunft des Fachverbandes Biogas e. V. aber noch gar nicht genügend Kapazitäten, um eine Grundversorgung mit Biogas sicherzustellen. Ein funktionierender Markt für den Handel von Biogas existiert derzeit überhaupt nicht. Bündnis 90/Die Grünen fordern schließlich noch, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Bundestages regelmäßig über energiesparendes Verhalten im Büro und Fahrdienst zu informieren und entsprechend zu schulen sind. Offensichtlich trauen die Grünen den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Bundestages nur ein geringes ökologisches Bewusstsein zu. Ich bin der festen Überzeugung, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dieses Hauses nicht ständig Belehrungen über energiesparendes Verhalten brauchen. Sie sind längst ausreichend sensibilisiert. Die Bundestagsverwaltung hat im Mai 2006 eine Umweltfibel mit Tipps zu energiesparendem Verhalten veröffentlicht. Die Inhalte dieser Hausmitteilung sind jederzeit über das Intranet des Bundestages abrufbar; im Übrigen auch für die Damen und Herren Abgeordneten von Bündnis 90/Die Grünen. Sie scheinen sie ja noch nicht zu kennen. Bündnis 90/Die Grünen hätten frühzeitig durch einfache Nachfrage bei der Bundestagsverwaltung klären können, wie realitätsfern die von Ihnen erhobenen Forderungen im Einzelnen sind. Offensichtlich wollte man das nicht; dann hätte sich ihr Antrag nämlich erübrigt. Lassen Sie mich zum Schluss noch darauf hinweisen, dass der Deutsche Bundestag die Verwaltung beauftragen wird, den im Herbst auslaufenden Stromliefervertrag neu auszuschreiben, und zwar auf der Grundlage des Konzepts des BMU für die Lieferung von Ökostrom mit der Laufzeit von einem Jahr und einer einjährigen Verlängerungsoption. Wir werden uns dabei sehr genau anschauen müssen, ob und gegebenenfalls welche zusätzlichen Kosten für den Bundestag für den Bezug von Ökostrom entstehen. Daran werden wir unsere zukünftigen Entscheidungen zur Energieversorgung des Bundestages auszurichten haben. Der Bundestag hat sehr wohl eine Vorbildfunktion, in ökologischer und ökonomischer Hinsicht. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat sich im Herbst 2007 in einem Positionspapier zur Energiepolitik dafür ausgesprochen, erneuerbare Energien kostenbewusst auszubauen. Wir müssen auch bei der Energieversorgung im Bundestag einen angemessenen Ausgleich zwischen Ökonomie und Ökologie im Auge behalten. Dazu sind wir gegenüber dem Steuerzahler verpflichtet. Davon müssen wir uns auch in Zukunft leiten lassen.

Iris Gleicke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000687, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Der Ältestenrat hat in seiner Sitzung am 10. April beschlossen, den externen Strombedarf des Deutschen Bundestages durch Strom aus erneuerbaren Energien, also aus Wasser- und Windkraftkraft, Sonne oder Biomasse zu decken. Das ist eine gute Entscheidung. Wir verbessern damit erneut die Umweltbilanz des deutschen Parlaments und bleiben bundesweit Vorbild. Zugleich tragen wir dem unter der von Gerhard Schröder geführten Bundesregierung beschlossenen Atomausstieg weiter Rechnung. Gerade auch vor dem Hintergrund der Klimaverhandlungen auf europäischer Ebene will die Bundesrepublik Deutschland den Anteil erneuerbarer Energien am Endenergieverbrauch von 8,5 Prozent im Jahr 2007 bis auf 18 Prozent im Jahr 2020 erhöhen. Auch hier leisten wir als Parlament unseren Beitrag. Der Bundestag verfügt bereits jetzt über ein vorbildliches und einzigartiges zukunftsweisendes ökologisches Energiekonzept. Von Anfang an wurde bei den Planungen der Parlamentsbauten darauf geachtet, die neuesten Energietechnologien zu nutzen. So ist der Bundestag unter anderem mit zwei Blockheizkraftwerken, die mit Biodiesel betrieben werden, ausgestattet. Außerdem sorgen Wärme- und Kältespeicher für ein energiesparendes Heizen und Kühlen. Zusätzlich wurde seinerzeit eine Fotovoltaikanlage installiert. Mit dieser Anlage produziert der Bundestag selber - auf seinem Dach - Ökostrom, der in vollem Umfang in das hauseigene Netz eingespeist wird. Mit diesen Beispielen will ich deutlich machen: Der Bundestag hat von Anfang an das Reichstagsgebäude und seine umliegenden Bundestagsbauten mit umweltschonender und ressourcensparender Technik ausgestattet. Und es ist vollkommen klar, dass mit dem Fortschreiten der technischen Möglichkeiten diese positive Energiekonzeption überarbeitet wird und ständig weiterentwickelt werden muss. Es wird unsere Daueraufgabe auch in der Baukommission des Ältestenrates bleiben, uns mit diesen neuen Technologien auseinanderzusetzen und zu prüfen, wie diese zusätzliche positive Effekte für unsere Energiebilanz generieren können und ob und wie sie mit vertretbarem Aufwand umgesetzt werden können. Weil das so ist und weil wir uns alle dieser Verantwortung bewusst sind, konnten die über die Ökostromausschreibung hinausgehenden Teile des Grünen-Antrages als erledigt abgelehnt werden. Mit der nun geplanten Umstellung des Stromliefervertrages wird der Deutsche Bundestag - künftig jedenfalls zu 100 Prozent aus erneuerbaren Energien versorgt. Wir setzen damit sowohl ökologisch als auch ökonomisch ein Zu Protokoll gegebene Reden Zeichen. Wir sind nämlich davon überzeugt, dass eine nachhaltige Energieversorgung problemlos möglich und auch wirtschaftlich umsetzbar ist. Der neue Stromliefervertrag wird auf der Grundlage des 2003 und 2006 erfolgreich umgesetzten Konzepts des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit mit der Laufzeit von einem Jahr und einer einjährigen Verlängerungsoption für den Deutschen Bundestag ausgeschrieben. Diese europaweite Ausschreibung ist notwendig, um einerseits die europarechtlichen Vorgaben einzuhalten. Andererseits wird damit sichergestellt, dass nur Strom aus erneuerbaren Energien eingespeist wird. Atomstromanbieter erhalten damit keine Chancen. Übrigens: Pro Jahr spart das Bundesumweltministerium, welches seit 2004 Ökostrom bezieht, mit seinen nachgelagerten Behörden rund 4 400 Tonnen Kohlendioxid ein. Lieferant ist hier nach der europaweiten Ausschreibung ein deutsches Unternehmen aus Hamburg. Es zeigt sich also: Öko- oder auch grüner Strom ist wettbewerbsfähig. Die 13 in Bonn untergebrachten Institutionen der Vereinten Nationen, darunter auch das Klimasekretariat UNFCCC, beziehen seit dem 1. Januar 2007 ausschließlich Strom aus erneuerbaren Energien. Rechnerisch werden dadurch die CO2-Emissionen um 60 Prozent oder 3 100 Tonnen pro Jahr gesenkt. Dies im Übrigen auf Anregung und Beratung des BMU. Neben dem Preis war bei dieser Ausschreibung auch die Höhe der tatsächlichen CO2-Minderung maßgebend für den Zuschlag. Das Angebot der Firma Lichtblick wies mit der Lieferung von Strom aus Biomasse das beste Preis-Leistungs-Verhältnis auf. Ein Preisvergleich mit konventionell erzeugtem Strom zeigt darüber hinaus: Die Kosten der reinen Stromlieferung ohne Netznutzungsgebühren für Ökostrom liegen nur wenig höher - im Fall dieser Ausschreibung laut Umweltministerium bei knapp 2,2 Prozent. In der Ausschreibung von 2003 lagen die zusätzlichen Kosten noch bei etwa 10 Prozent. Trotzdem: Mit der vorläufigen Begrenzung der Ausschreibung auf ein Jahr tragen wir auch unserer Verantwortung gegenüber den Steuerzahlern Rechnung. Trotz der positiven Entwicklung müssen auch wir die Preisentwicklung der kommenden Jahre beobachten und daraus Rückschlüsse für die weitere Sicherung des Energiebedarfes des deutschen Parlamentes gewinnen. Ich sagte es bereits: Umweltschutz ist eine Daueraufgabe für uns alle. Deshalb ist es gut, dass es mehrere Initiativen aus den Reihen des Parlamentes gegeben hat. Mit dem heutigen Beschluss, den zusätzlichen Strombedarf zukünftig aus erneuerbaren Energien zu beziehen, setzt der Bundestag, insbesondere auch auf Initiative der SPD, ein deutliches Zeichen, seine Umweltbilanz stetig zu verbessern. Das ist das richtige Signal für unser Ziel der nachhaltigen Energieversorgung. Und der Bundestag bleibt seiner Vorbildfunktion im Klimaschutz treu. Der Einkauf von erneuerbarer und somit saubererer Energie heißt nicht, dass wir uns alle, ob Abgeordnete oder Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, zufrieden zurücklehnen dürfen. Wir alle können weitere Beiträge zum effizienten Umgang mit Energie in diesem Hause liefern. Das betrifft beispielsweise das ständig auf Stand-by stehende TV-Gerät ebenso wie Kopierer oder Licht in leeren Büroräumen. Wir alle können hier mit ein wenig Achtsamkeit und manchmal nur ganz kleinen technischen Hilfsmitteln noch viel mehr tun. Wir wissen doch, dass es nicht nur die großen Investitionen sind, sondern die vielen kleinen Maßnahmen, die uns dem Klimaschutzziel auch an unserem Arbeitsplatz näher bringen. Zum Schluss noch ein Tipp für alle, die darüber nachdenken, den Stromanbieter zu wechseln: Das Vorurteil, Ökostrom sei nur etwas für Besserverdiener und deutlich teurer, ist längst überholt. Schon heute gibt es zahlreiche Beispiele dafür, dass Strom aus erneuerbaren Energien wie Sonne, Wind, Wasser, Biomasse und der KraftWärme-Kopplung nicht teurer sein müssen als Strom aus Atom- oder Kohlekraftwerken. Verbraucherzentralen und Umweltverbände wie BUND oder Greenpeace beraten und helfen gerne weiter.

Ernst Burgbacher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003063, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

In zumindest dreierlei Hinsicht sind wir uns wohl alle einig. Erstens. Wir wollen die Treibhausgasemissionen verringern und den Klimaschutz voranbringen; dem dient unter anderem Strom aus erneuerbaren Energien. Zweitens. Die Nutzung erneuerbarer Energien ist unterstützenswert, weil die erneuerbaren Energien zur Versorgungssicherheit beitragen, indem sie einseitige Abhängigkeiten bei der Energieversorgung verringern. Außerdem handelt es sich um Zukunftstechnologien für eine nachhaltige, also das Klima schonende Energieversorgung. Drittens verbindet uns wohl alle der Wunsch, einem Parlament anzugehören, das von den Menschen als ein Vorbild wahrgenommen wird. In diesem Sinne stimmt die FDP mit dem vorliegenden Antrag überein: Der Deutsche Bundestag hat eine wichtige Vorbildfunktion auch beim Klimaschutz und beim Einsatz erneuerbarer Energien. Vorbild sein bedeutet allerdings mehr, als ein Symbol guten Willens abzugeben. Im Lexikon steht: Ein Vorbild ist ein bedingungslos gutes Beispiel, das die Menschen zum Nachahmen einlädt und mit dem man sich identifizieren kann. Wer für andere ein Vorbild sein will, sollte sein eigenes Verhalten deshalb mit besonderer Selbstkritik betrachten. Unkritische Prahlerei mit eigenen Ideen, Verliebtheit in eigene Konzepte und Eigenlob sind meist keine Hilfe auf dem mühevollen Weg, ein Vorbild für andere zu werden. Wer anderen ein Vorbild sein will, sollte mindestens zwei Dinge beherzigen. Erstens. Niemand wird selbst schon allein dadurch zum Vorbild für andere, indem er beschließt, dies sei nun so. Parlamentarisch beschließen können wir lediglich ein bestimmtes Verhalten. Das letzte Wort darüber werden wir den Menschen schon selbst überlassen müssen. Zweitens. Wir Abgeordnete beschließen über die Verwendung von Steuergeldern. Da ist es leicht, eine Vorbildfunktion zu beschließen. Als Vorbild wahrgenommen wird vor allem der, der persönlich Verantwortung übernimmt und auch in treuhänderischer Verantwortung für die Interessen anderer handelt. Deswegen müssen wir sehr genau darauf achten, was wir mit dem Geld machen, dem Geld, das die Menschen zuvor erarbeitet und uns dann anvertraut haben. Zu Protokoll gegebene Reden Das Mindeste, was ein Bundestag mit Vorbildambitionen leisten muss, ist, transparente und klare Entscheidungen zu treffen, bei denen schon im Vorhinein eindeutig klar ist, was eine Maßnahme kostet. Das ist bei den heutigen Ausschreiberegeln aber nicht klar. Die Mehrkosten sind nicht genau bezifferbar, welche entstehen, wenn der Stromzusatzbedarf des Bundestages durch Ausschreibung unter allen Umständen bei einem „Ökostrom-Anbieter“ gedeckt würde. Zweitens ist keineswegs sicher, dass die Nutzung jeder beliebigen Art von „Ökostrom“ wirklich zum Klimaschutz beiträgt. Die jüngste Debatte über die energetische Nutzung von Biomasse hat gerade in diesen Tagen deutlich vor Augen geführt, dass hier eine gewisse Skepsis mehr als angebracht ist. Die gutgemeinte Symbolik des vorliegenden Antrags wäre im schlechtesten Fall also nicht nur - auf dem Rücken der Steuerzahler - teuer erkauft, sondern möglicherweise und unter bestimmten Umständen noch nicht einmal ein echter Vorteil für Umwelt und Klimaschutz, ganz zu schweigen von der Tatsache, dass der Bundestag bereits über ein ökologisch außerordentlich anspruchsvolles und international vielfach als mustergültig gewürdigtes Gesamtenergiekonzept verfügt. Einen Teil unseres Stroms produzieren wir selbst mit erneuerbaren Energien. Darauf kann der Steuerzahler mit Recht stolz sein. Angesichts der genannten Bedenken werden wir uns der Stimme enthalten.

Hans Kurt Hill (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003767, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Der Wechsel des Stromanbieters ist einfach. Die Wahlfreiheit hat große Vorteile. Ich kann mich nicht nur für ein günstigeres Angebot entscheiden. Vielmehr kann ich auch meine Macht als Verbraucher nutzen. So kann sich jede Bürgerin und jeder Bürger gegen gefährlichen Atomstrom, für das heimische Stadtwerk oder für mehr Klimaschutz entscheiden, indem er Ökostrom nutzt. Dadurch entsteht ein echter Wettbewerb zwischen den rund 930 Stromanbietern in Deutschland - nicht nur um Preise, sondern auch um die Qualität der elektrischen Versorgung. Diesem Prinzip folgt nun auch der Bundestag, er wird zukünftig ausschließlich Strom aus erneuerbaren Energien kaufen. Dass sich ausgerechnet die FDP als einzige Fraktion hier im Hause dieser Wettbewerbsentscheidung verweigern will, kann man nur als Witz bezeichnen. Dass sich die Liberalen innovativen und zukunftsfähigen Entwicklungen im Energiemarkt entgegenstellen, ist aber nicht neu. Sie lehnen das EU-weit wirksamste Klimaschutzinstrument, das Erneuerbare-Energien-Gesetz, genauso ab wie die Förderung hocheffizienter Kraft-Wärme-Kopplung. Stattdessen reden sie der riskanten Atomenergie das Wort, einer wettbewerbsfernen Technologie, die zwangsläufig zu Energiekartellen führt, nicht hantierbaren Strahlenmüll erzeugt und zu militärischem Missbrauch verleitet. Ich fordere die FDP deshalb auf, endlich ihre Verweigerungshaltung aufzugeben und sich der vorliegenden Entschließung anzuschließen. Übrigens: In Berlin sind ganze acht Ökostromtarife billiger als der Standardtarif des Monopolisten Vattenfall. Der Antrag der Grünen, der die Grundlage für diese Diskussion lieferte, hat sich allerdings erledigt. Zum einen wird die Hauptforderung, Ökostrom zu beziehen, erfüllt. Zum anderen ließ der Antrag außer Acht, dass der Bundestag bereits zahlreiche Maßnahmen zum Energiesparen und zum Klimaschutz umsetzt und stetig verbessert. So werden zunehmend Bewegungsmelder zur Lichtschaltung und Energiesparleuchten installiert. Abschaltbare Steckdosen können problemlos bei der Hausverwaltung bestellt werden. Man muss also feststellen, dass in vielen Bereichen einzelne Forderungen schon erfüllt werden. Um die Vorbildfunktion des Bundestages bei Klimaschutz, Energieeffizienz und erneuerbaren Energien zu verdeutlichen, sollte das aber besser kommuniziert werden. Die Linksfraktion informiert übrigens über www.linksfraktion.de/energie auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter über Energieeffizienz und Stromwechsel. Eine Ausrichtung der Ausschreibungen des Bundestages hin zum Klimaschutz ist ein zunehmend wichtiger Aspekt. Der größte Fortschritt wäre - und das ist wohl eines der großen Defizite hier im Hause - sicherlich beim spritschluckenden Fuhrpark zu erreichen. Hier könnte der CO2-Ausstoß um ein Drittel gesenkt werden. Wenn der Bundestag nun den Stromanbieter wechselt, ist aber darauf zu achten, dass nicht Strom mit sogenannten RECS-Zertifikaten ins Angebot kommt. Diese „Persilscheine“ nutzen deutsche Stromversorger, um Kohle- und Atomstrom an der Börse gegen Wasserkraft aus Skandinavien zu tauschen, ohne selbst erneuerbare Energien zu erzeugen. Mindestvoraussetzung ist eine Orientierung am „Grüner-Strom-Label“. Dieses garantiert, dass die Erträge in den Ausbau heimischer erneuerbarer Energien fließen. Die Linke stimmt der Beschlussempfehlung zu.

Hans Josef Fell (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003115, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Der Bundestag wird vollkommen auf Ökostrom umgestellt. Das ist ein wichtiges Zeichen des Parlaments. Eine 100-prozentige Stromversorgung aus erneuerbaren Energien ist möglich. Dies haben bereits viele Bürger und einige Regionen bewiesen. Die vollständige Umstellung des Bundestages auf Ökostrom ist ein wichtiger Teilerfolg unseres Antrages „Den Deutschen Bundestag zum Vorbild für die sparsame und klimafreundliche Stromversorgung machen“, Drucksache 16/7529. Im Vergleich dazu wurde letztes Jahr unser Antrag abgelehnt, sämtliche Ministerien und das Kanzleramt auf Ökostrom umzustellen. Union, SPD und FDP hatten damals dafür gestimmt, dass die Häuser der Bundesregierung ihren Strom weiter aus Kohle- und Atomkraftwerken beziehen. Die Kanzlerin geht wie die meisten ihrer Minister damit weiter mit schlechtem Beispiel voran. Wir werden dranbleiben und weiter einfordern, dass die Bundesregierung nicht nur über Klimaschutz redet, sondern auch selbst handelt. Bislang wurde bereits die Eigenversorgung des Bundestages mit erneuerbaren Energien bereitgestellt. Leider verbraucht der Bundestag mehr Strom als er selbst herstellt. Es war höchste Zeit, dass auch der Strombezug aus Zu Protokoll gegebene Reden sauberen Quellen kommt. Jetzt ist es entscheidend, dass der eingekaufte Ökostrom auch tatsächlich Ökostrom ist und nicht nur im grünen Mäntelchen getarnter Kohleund Atomstrom. Ökostrom auf der Basis von RECS-Zertifikaten lehnen wir daher strikt ab. Wir werden da ganz genau hinschauen. Die Bundestagsverwaltung muss bei ihrer Ausschreibung strenge Maßstäbe anlegen. Nur dann wird der Bundestag seiner Vorreiterrolle gerecht. Die FDP hat die Umstellung auf Ökostrom abgelehnt. Nun, die Ablehnung der erneuerbaren Energien durch die FDP ist ja nichts Neues. Gespannt bin ich auf die Begründung in der Rede der FDP. So schön die Botschaft ist, dass der Bundestag jetzt auf Ökostrom setzt, so bedauernswert ist die Ablehnung der anderen Punkte unseres Antrages. Anstatt diese Punkte offen aufzugreifen, wurde einfach behauptet, dass man das alles schon mache oder eben nicht machen könne. Leider haben die anderen Fraktionen sich diese höchst konservative Position der Verwaltung zueigen gemacht. Ich möchte nicht auf jeden einzelnen Punkt eingehen, sondern anhand einiger Beispiele zeigen, was möglich gewesen wäre. Der Antrag hatte vorgesehen, dass der Bundestag seine Gasversorgung von Erdgas auf Biogas umstellt. Hier hätte der Deutsche Bundestag die Möglichkeit, weltweit Vorreiter zu sein. So etwas gibt es in keinem anderen Parlament. Es wurde nicht einmal versucht, an Biogas ranzukommen. Dabei würde sich garantiert jeder Biogasanbieter über eine Anfrage des Bundestages freuen und die Füße in die Hand nehmen, um dem Bundestag ein gutes Angebot machen zu können. Ich fordere die Bundestagsverwaltung auf, ihre Blockadehaltung zu überdenken. Die Bundestagsverwaltung behauptet, alle möglichen Einsparmaßnahmen schon getroffen zu haben. Das kann ich überhaupt nicht nachvollziehen. Jeder Abgeordnete und Mitarbeiter braucht doch nur unter seinen Schreibtisch zu schauen und wird feststellen, dass die Bundestagsverwaltung noch eine Menge Hausaufgaben vor sich hat. Unter der Schreibtischplatte werden Sie einen Trafo mit einem riesigen Stand-by-Verbrauch für die Schreibtischlampe entdecken. Diese total veralteten Trafos fressen immens viel Strom. Wir wettern im Umweltausschuss und im Plenum fraktionsübergreifend jahrein, jahraus gegen Stand-by-Verluste und leisten uns ganzjährig eine Sitzheizung mit dem Lampentrafo. Ein Trafoaustausch würde sich bereits in ein, zwei Jahren amortisieren und dem Bundestag schnell jährlich einige Zehntausend Euro einsparen. Gewinner wären die Steuerzahler und die Umwelt. Ich fordere Sie und Ihre Mitarbeiter auf: Ziehen sie selbst den Stecker! Warten Sie nicht darauf, dass die Verwaltung neue Trafos einbaut! Gehen Sie mit gutem Beispiel voran! Die Grüne Fraktion hatte im Ältestenrat zugestimmt, den Antrag für erledigt zu erklären. Sonst wäre der Antrag in Gänze abgelehnt worden. Hiermit wäre auch der Punkt mit dem Ökostrom tot gewesen. Damit der Bundestag sich ernsthaft auch mit den anderen Vorschlägen auseinandersetzt, werden wir den Antrag neu auflegen. Dann müssen die anderen Fraktionen Farbe bekennen. Wir müssen beim Klimaschutz Vorreiter sein. Machen Sie mit. Schluss mit der Blockade!

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ältestenrat empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/8820, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/7529 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/8820 empfiehlt der Ältestenrat, eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen aller Fraktionen bei Enthaltung der FDP-Fraktion angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Beschlussfassung Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Kirsten Tackmann, Kornelia Möller, Werner Dreibus, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Arbeitgeberzusammenschlüsse zur Stärkung ländlicher Räume - Drucksachen 16/4806, 16/8262 Berichterstattung: Abgeordnete Andrea Wicklein Die Reden sollen zu Protokoll genommen werden. Es handelt sich um die Reden der Kollegen Philipp Mißfelder, CDU/CSU, Andrea Wicklein, SPD, Dr. Edmund Peter Geisen, FDP, Dr. Kirsten Tackmann, Die Linke, sowie Ulrike Höfken, Bündnis 90/Die Grünen.

Philipp Mißfelder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003810, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bei der Betrachtung dieses Antrages drängt sich mir unweigerlich der Eindruck auf, dass die Linke gerade wieder auf dem Weg ist, die Kollektivierung in ländlichen Räumen einführen zu wollen. Ich kann es zwar verstehen, dass die Abgeordneten der Linkspartei den Kolchosen und landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften, LPGs, nachtrauern, nur wird sich durch solche planwirtschaftlichen Strukturen die Situation im ländlichen Raum definitiv nicht verbessern lassen. Deshalb haben wir den Antrag der Linkspartei abgelehnt. Und nicht nur wir sehen die Linke hier im Irrtum. Auch die Bundesregierung hat in der Antwort auf deren Kleine Anfrage zu Arbeitgeberzusammenschlüssen, Drucksache 16/8936, unmissverständlich festgestellt, dass es gar keine Notwendigkeit gibt, hier gesetzgeberisch tätig zu werden. Wenn es die Notwendigkeit geben sollte, dass sich verschiedene Arbeitgeber zusammenschließen wollen, so können sie das bereits heute in der Rechtsform einer Gesellschaft bürgerlichen Rechtes, einer GmbH oder einer eingetragenen Genossenschaft. Deshalb ist dieser Antrag auch überflüssig und reaktionär. Was wir brauchen, sind marktwirtschaftliche Strukturen. Beispiele wie Ostbayern oder das Oldenburger Münsterland zeigen, wie ehemals unterentwickelte Regionen durch eine richtige marktwirtschaftliche Ausrichtung von den Armenhäusern Deutschlands zu Boomregionen werden konnten. So ist beispielsweise das Oldenburger Münsterland heute die am stärksten wachsende Region in Niedersachen. Das muss unser Weg sein, nicht die Kollektivierung. Denn es wird auch der Linken nicht entgangen sein, dass sich der ländliche Raum in einer Aufbruchs- und Investitionsstimmung befindet. Es findet derzeit eine „grüne Revolution“ statt, die sich durch eine breite Auffächerung des Arbeitsspektrums auszeichnet. Heute ist der ländliche Raum nicht mehr ausschließlich für die Nahrungsmittelproduktion zuständig, sondern ebenso als Energie- und Rohstofflieferant sowie als Dienstleister für Freizeit, Erholung, Tourismus und Urlaub. Hier ergeben sich gerade ganz neue Erwerbsmöglichkeiten, die inzwischen dazu führen, dass die in Zeiten der Lebensmittelüberproduktion stillgelegten Flächen wieder reaktiviert werden. Die Probleme ländlicher Räume sind in der Vergangenheit vielfältig gewesen und bieten deshalb heute auch Anlass, aus früheren Fehlern zu lernen: Wenn früher Kommunen geglaubt haben, eine Schule aus Kostengründen schließen zu müssen, hat dies häufig dazu geführt, dass auch die Eltern irgendwann in Ballungsräume gezogen sind, weil sie nicht wollten, dass ihre Kinder täglich über weite Strecken zur nächsten Schule befördert werden mussten. Der Schlüssel für die Entwicklung des ländlichen Raumes ist demnach die Infrastruktur. Dazu gehört besonders die Entwicklung des Mittelstandes und der Informationstechnologie, damit der ländliche Raum in Zukunft nicht alleine ein Lieferant von Rohstoffen und Nahrungsmitteln, sondern ebenso von Ideen und Dienstleistungen wird. Deshalb müssen wir dafür sorgen, mit einer flächendeckenden Breitbandnutzung die nötige Infrastruktur in der Informationsgesellschaft zu schaffen. Ich bin der festen Überzeugung, dass durch die Breitbandversorgung bis in den letzten Winkel unseres Landes der ländliche Raum eine neue und bisher nicht gekannte Attraktivität bekommen wird, die alle Vorteile ländlicher Räume, wie gesunde Natur und vergleichsweise günstigen Wohnraum, mit den rasanten Errungenschaften der modernen Informationsgesellschaft verbindet. Deshalb bin ich der Bundesregierung und insbesondere unserem Wirtschaftsminister Michael Glos dankbar, dass er die Schließung der sogenannten weißen Flecken in der Versorgung mit schnellem Internet zu einem Schwerpunkt seiner Arbeit gemacht hat. Hier liegen noch enorme Potenziale brach, die in den nächsten Jahren erschlossen werden können. Unser Ziel ist es dabei, dass in Deutschland jede Person, egal wo sie lebt, Zugang zu Downloads und Uploads im Megabitbereich erhält. Dies ist ein ehrgeiziges Ziel, an dessen Umsetzung wir aber intensiv arbeiten. Immerhin reden wir von etwa 65 Prozent der Bevölkerung, die in Deutschland im ländlichen Raum wohnen und ganz selbstverständlich in die Lage versetzt werden müssen, von ihrem Wohnzimmer aus Anschluss an das weltweite Netz zu haben und ein Teil des globalen Wirtschafts- und Arbeitsmarktes zu sein. Ein wichtiger und aktueller Sachverhalt ist dabei die Nutzung der sogenannten digitalen Dividende. Durch die Abschaltung der analogen Rundfunkfrequenzen werden sich Spielräume ergeben, die zwingend für die flächendeckende Funkversorgung mit breitbandigem Internet genutzt werden müssen. Hier sind sowohl die bisherigen Inhaber der Funkfrequenzen, vor allem der öffentlichrechtliche Rundfunk, als auch die Serviceprovider und die Mobilfunkanbieter in der Pflicht, eine sinnvolle und wirtschaftliche Lösung zu finden. Wir plädieren ganz klar dafür, die frei werdenden Frequenzen für die dringend benötigte Breitbandversorgung des ländlichen Raums zu verwenden. Ungeachtet dieser aktuellen politischen Aufgabe, wie die digitale Dividende genutzt werden kann, hat die Bundesregierung bereits ein ganzes Bündel von Maßnahmen auf den Weg gebracht und wird ihre Anstrengungen weiter intensivieren. Ich möchte hier nur als ein Beispiel die Mittel aus der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“, GA, nennen. Hier wird im Rahmen der Infrastrukturförderung von Gewerbegebieten deren Anbindung ans Netz oder an den nächsten Knotenpunkt gefördert. Bis zu 90 Prozent der anfallenden Kosten sind förderfähig. Das sind die für die Anbindung notwendigen Kosten, die über die eines Anschlusses bei einem Breitbandanbieter hinausgehen. Im Rahmen der gewerblichen Wirtschaftsförderung wird außerdem auch der Breitbandzugang einzelner Unternehmen innerhalb eines Gewerbegebietes gefördert. Förderfähig sind dabei die Anschlusskosten. Der Förderhöchstsatz hängt davon ab, in welcher Fördergebietskategorie sich das begünstigte Unternehmen befindet. Dies soll nur eines von zahlreichen Beispielen sein, die zeigen, dass wir die Entwicklung des ländlichen Raumes sehr ernst nehmen und unsere Anstrengungen darauf konzentrieren, jeden Ort in Deutschland im internationalen Vergleich konkurrenzfähig zu machen. Und das ist es auch, worauf es ankommt: die Zukunftsfähigkeit unserer ländlichen Räume. Dazu sagt der Antrag der Linken gar nichts. Er propagiert kollektivistisches Gedankengut, das eindeutig und nachvollziehbar in seiner Ausformung der Kolchose oder LPG gescheitert ist. Wenn das die Zukunftsvision für unser Land sein soll, zeigt dies einmal mehr, wie sehr die Linke eine fortschrittsfeindliche und restaurative Partei ist. Die Konzepte der Linken sind bereits einmal gescheitert. Das hat jeder vor Augen. Sie sollte uns deshalb in Zukunft mit derartigen rückschrittlichen und unzeitgemäßen Konzepten verschonen.

Andrea Wicklein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003659, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, vor allem in ländlichen, strukturschwachen Räumen ist ein sehr wichtiges Anliegen der Regierungskoalition. Deshalb haben wir in unserem Antrag „Unsere Verantwortung für die ländlichen Räume“ vom Juli letzten Jahres deutlich die Probleme ländlicher Gebiete beschrieben. Wir haben die Bundesregierung aufgefordert, gemeinsam mit den Bundesländern einen sektor- und ressortübergreifenden AnZu Protokoll gegebene Reden satz zu wählen, der der breitgefächerten Problematik der ländlichen Räume gerecht wird. Ziel muss es sein, die Wirtschaftskraft und die Attraktivität ländlicher Regionen als gleichberechtigte und gleichwertige Lebensräume zu entwickeln. Auch über die Gemeinschaftsaufgaben werden Bund und Länder in Zukunft gemeinsam Verantwortung für die Entwicklung der Regionen übernehmen. Wir haben sie daher bei der Reform der bundesstaatlichen Ordnung erhalten. Wir haben bis 2011 die Bundesmittel für die Gemeinschaftsaufgabe „Regionale Wirtschaftsstruktur“ auf jährlich rund 600 Millionen Euro festgeschrieben und sichern damit die Förderung von Investitionen in der gewerblichen Wirtschaft und in wirtschaftsnahe Infrastruktur. Wir haben die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ weiterentwickelt. So ist inzwischen die Förderung der Breitbandversorgung in ländlichen Räumen möglich. Auch Investitionen von Erzeugergemeinschaften können unterstützt werden. Wir haben die Bedeutung der Biomasse für die Entwicklung ländlicher Räume erkannt. Durch unsere Klimapolitik und die darin enthaltene Schwerpunktsetzung auf regenerative Energien bieten wir den ländlichen Regionen neue Perspektiven und Beschäftigungschancen. Zum Beispiel sind in der Branche der erneuerbaren Energien allein in Ostdeutschland bis 2006 235 000 Arbeitsplätze entstanden. Zahlreiche Initiativen stärken ländliche Räume als Produktionsstätte der Biomasse und ihre Verwertung für Energie und Kunststoffe. Wir schenken dem Tourismus in ländlichen Räumen große Beachtung. Wir haben daher bei der Investitionszulage Ost das Beherbergungsgewerbe förderfähig gemacht. Die Investitionszulage muss auch weiterhin als wichtiges Förderinstrument für die ländlichen Räume erhalten bleiben. Natürlich können solche Entwicklungsstrategien nicht allein „von oben“ verordnet werden. Sie bedürfen der Umsetzung und Koordination in den ländlichen Regionen selbst. Regionale Entwicklungskonzepte sind notwendig, um die Akteure vor Ort zusammenzubringen und Entwicklungschancen zu identifizieren. Auch Arbeitgeberzusammenschlüsse, wie sie im Antrag der Linksfraktion beschrieben werden, können Teil regionaler Strategien für mehr Beschäftigung sein. Es ist ausdrücklich zu begrüßen, wenn regional verankerte landwirtschaftliche Betriebe sich zusammentun und den Menschen in der Region eine Beschäftigungsperspektive geben, auch wenn der einzelne Betrieb dazu nicht in der Lage wäre. So können tatsächlich ganzjährige, sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze entstehen. Die Erfahrungen in Brandenburg zeigen jedoch, dass Arbeitgeberzusammenschlüsse zwar den landwirtschaftlichen Betrieben helfen, indem sie die Zusammenarbeit fördern, dass die Wirkung auf die Arbeitslosenzahlen aber eher gering ist. Arbeitgeberzusammenschlüsse sind dann am erfolgreichsten, wenn sie von den landwirtschaftlichen Betrieben selbst ausgehen und auch von ihnen getragen werden. Auch müssen sie sich als Teil einer Gesamtstrategie für die Region verstehen. Eine Lösung allein durch unabhängige und vom Staat geförderte Träger bietet weniger Erfolgsaussichten. Die Regierungskoalition hat bereits Vereinfachungen beschlossen, die auch die Gründung von Arbeitgeberzusammenschlüssen erleichtern. Seit August 2006 ermöglicht das neue Genossenschaftsrecht auch Zusammenschlüsse, die sich sozialen Belangen widmen. Die Anzahl der notwendigen Gründungsmitglieder ist von sieben auf drei gesunken. Das Mindestkapital darf nun in der Satzung von den Gründern selbst festgelegt werden. Auch die Landesregierung Brandenburg hat diese Veränderungen im Hinblick auf Arbeitgeberzusammenschlüsse bereits positiv hervorgehoben. Aus Sicht der SPD-Bundestagsfraktion hat der Bund damit bereits die Vorkehrungen getroffen, die zur erleichterten Gründung von Arbeitgeberzusammenschlüssen nötig waren. Die rechtlichen Rahmenbedingungen zu ihrer Bildung sind ohnehin vorhanden. Ich möchte daran erinnern, dass wir auch für die GmbH-Gründung Erleichterungen beschlossen haben. Des Weiteren besteht eine Fördermöglichkeit über den Europäischen Sozialfonds, dessen Umsetzung Aufgabe der Länder ist. Dass die derzeitigen Regelungen ausreichen, zeigen die vielen Arbeitgeberzusammenschlüsse, die es bereits gibt - nicht nur in Brandenburg, sondern auch in anderen Bundesländern, zum Beispiel das Modellprojekt COOP+ in Jena oder die Kooperationsinitiative Maschinenbau in Braunschweig. Für uns besteht deshalb keine Notwendigkeit, Arbeitgeberzusammenschlüsse direkt und zusätzlich durch den Bund zu fördern. Die notwendigen Rahmenbedingungen sind bereits gegeben.

Dr. Edmund Peter Geisen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003757, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Die Idee von Arbeitgeberzusammenschlüssen zur Sicherung und Schaffung stark saisonal abhängiger Arbeitsplätze, wie sie von der Fraktion Die Linke im zu beratenden Antrag gefordert wird, ist in der Land- und Forstwirtschaft sowie im Gartenbau nicht neu und nicht schlecht; diverse Organisationen wie die Landwirtschaftskammern oder die Maschinen- und Betriebshilfsringe haben hierzu Modelle entwickelt. Neu hingegen ist der Ruf nach staatlicher Reglementierung und Alimentierung. Das lehnt die FDP-Bundestagsfraktion entschieden ab. Erstens. Was staatliche Reglementierung bedeutet, erleben wir ja gerade bei den angesprochenen Erntehelfern: Da werden bürokratische Hürden sowohl für unsere heimischen Sonderkulturbetriebe als auch für polnische Erntehelfer aufgebaut, die beide Seiten verzweifeln lassen - und all das mit dem Verweis auf die hohe deutsche Arbeitslosenrate. Ich bitte Sie: Es ist doch billiger Populismus, zu verkünden, auf den Obst- und Gemüsefeldern würde das Problem der Arbeitslosigkeit in Deutschland gelöst. Im Gegenteil: Sehenden Auges setzt die Bundesregierung die Existenz der heimischen Sonderkulturbetriebe aufs Spiel. Produktionsaufgabe und Verlagerung Zu Protokoll gegebene Reden ins Ausland sind die Folge. So ist dem deutschen Arbeitsmarkt erst recht nicht gedient. Daher fordert die FDP, die Erntehelferregelung endgültig auslaufen zu lassen und durch eine EU-weite Freizügigkeit für Arbeitnehmer im Agrarbereich zu ersetzen. Zudem muss die Regierung unverzüglich bilaterale Verhandlungen mit osteuropäischen Ländern wie etwa der Ukraine und Weißrussland aufnehmen, um den Bedarf der heimischen Landwirtschaft und des Tourismus an Saisonarbeitskräften sicherzustellen. Zweitens. Warum schon wieder eine neue Institution zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit schaffen und mit Geld ausstatten? Das heißt doch im Umkehrschluss, die bestehenden arbeiten nicht effizient! Dann sollte man aber konsequenterweise - wie von der FDP seit langem gefordert - erst einmal bei den Zuständigen wie der Bundesagentur für Arbeit bzw. den Jobcentern und den ARGEs ansetzen. Hier bietet sich echter finanzieller wie konzeptioneller Spielraum. Drittens. In den strukturschwachen ländlichen Regionen vor allem im Nordosten Deutschlands mögen solche Maßnahmen vielleicht noch einige Langzeitarbeitslose zur Arbeit in den Feldern motivieren. In den meisten ländlichen Räumen im Westen hingegen mit geringerer Arbeitslosigkeit sucht man vergeblich! Lassen Sie uns doch den Realitäten ins Auge blicken: In unserer hochtechnologischen Gesellschaft findet man kaum noch motivierte und auch entsprechend qualifizierte Erntehelfer; das belegen doch auch die Vermittlungszahlen. Will man den ländlichen Raum und seine Bewohner wirklich fördern, dann funktioniert das nicht mit Planwirtschaft, dann funktioniert das nur mit nachhaltigen Investitionsanreizen. Verlässlichster Partner sind hier die Landwirte - sie produzieren vor Ort, sie schaffen Arbeitsplätze, nicht nur in ihrem Betrieb, sondern auch und vor allem in vor- und nachgelagerten Bereichen, sie erhalten und pflegen unsere Kulturlandschaften. Deshalb mein Plädoyer: Geht es der Landwirtschaft gut, geht es den ländlichen Räumen gut! Die Bundesregierung sollte alles daransetzen, diese Stütze der Gesellschaft zu unterstützen. Leider können wir häufig nur das Gegenteil erkennen: ob Milchquote, Gesundheitscheck, Biokraftstoffe, Grüne Gentechnik oder Erbschaftsteuerreform - Verlässlichkeit und Planungssicherheit sind für Schwarz-Rot Fremdwörter.

Dr. Kirsten Tackmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003853, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Über die schwierige Lebenssituation und die Zukunft vieler ländlicher Räume haben wir im Bundestag oft diskutiert, zuletzt vor wenigen Wochen, als Minister Seehofer eine interministerielle Arbeitsgruppe ankündigte. Aber Problembewusstsein allein ändert nichts. Der Ernst der Lage ist wohl im Ministerium noch gar nicht angekommen. Es fehlt an vielem: Schulen, Ärztinnen und Ärzten, Bussen und Bahnen, Post- und Bankfilialen. Und vor allem fehlen existenzsichernde Arbeitsplätze! Es geht nämlich nicht nur um Armut aufgrund von Langzeitarbeitslosigkeit, sondern um Niedrigstlöhne und die Tendenz, dass Beschäftigte zum Beispiel im Hotel- und Gaststättengewerbe oder in der Land- oder Forstwirtschaft nur noch zeitweise gebraucht werden. Tage-, Wochenund Monatslöhnern fehlt das Geld aber nicht nur heute, sondern auch im Alter. Es ist also wichtig, darüber nachzudenken, wie diese zeitweise verfügbare Arbeit so organisiert werden kann, dass sie Menschen eine Perspektive bietet. Sie sollen in ihrer Region bleiben können, wenn sie das wollen! Und das geht alle an: Abwanderung ist ja nicht nur ein Problem der verlassenen Gegend, sondern auch eines der Zuzugsregion. Die Linke hat den Vorschlag gemacht, eine französische Idee aufzugreifen, die auch von der brandenburgischen SPD-CDU-Koalition unterstützt wird, während die Koalition auf Bundesebene die gute Idee wohl noch ignoriert. Die Linke redet nicht nur über Problem; sie stellt sich dem Problem der nur noch saisonal oder zeitweise zur Verfügung stehenden Arbeit, speziell in der Land- und Forstwirtschaft. Auf der Suche nach neuen Wegen sind wir auf eine Lösung gestoßen, die den Flexicurity-Ansatz der EU auch im Interesse der Beschäftigten erfüllt: Arbeitgeberzusammenschlüsse ({0})! AGZ sind betriebliche Kooperationen vor allem kleiner und mittlerer Betriebe einer Region. Im Einzelbetrieb nur zeitweise oder saisonal Beschäftigte werden im Arbeitgeberzusammenschluss ganzjährig sozialversicherungspflichtig eingestellt. Vorteil für die Betriebe: Sie können immer auf den gleichen Pool qualifizierter, erfahrener Fachkräfte zugreifen. Im Unterschied zur Leiharbeit bestehen feste Beziehungen der Betriebe untereinander und zu den Beschäftigten. Empfehlenswert sind AGZ aus verschiedenen Branchen, sodass sich Arbeitsspitzen möglichst gut über das Jahr verteilen. Die Betriebe werden von Personalmanagementaufgaben entlastet, was Kosten spart. Sie bekommen erfahrene Fachkräfte für die Zeit ihres erhöhten Arbeitsaufkommens, auf die sie sich verlassen können. Auch die Vorteile für die Beschäftigten sind vielfältig. Sie sind ganzjährig beim AGZ beschäftigt und erfüllen eine Vielzahl abwechslungsreicher Tätigkeiten. Unsichere Einzelarbeitsverhältnisse werden durch die AGZ sozial abgesichert und in existenzsichernde Arbeitsplätze umgewandelt. Zusätzlich werden durch die AGZ Aus- und Fortbildung und andere Qualifizierungen organisiert. Im EU-Nachbarland Frankreich wurden damit sehr positive Erfahrungen gesammelt. 2004 gab es dort auf der Grundlage eines Gesetzes aus dem Jahr 1985 allein im landwirtschaftlichen Bereich 4 100 AGZ mit circa 40 000 Beschäftigten. In Deutschland wird die gemeinsame, betriebsübergreifende Nutzung von land- und forstwirtschaftlichen Maschinen oder die gemeinsame Vermarktung von Produkten schon lange erfolgreich organisiert. Daran lässt sich anknüpfen. In Brandenburg wurden diese Chancen erkannt. Die Landesregierung fördert seit einigen Jahren gezielt den Aufbau von Arbeitgeberzusammenschlüssen. Durch eine gerade erst veröffentlichte Kooperationsrichtlinie soll die schwierige Anfangsphase zur Einrichtung eines Arbeitgeberzusammenschlusses unterstützt werden. Gleichzeitig macht die Brandenburger LandesZu Protokoll gegebene Reden regierung auf bundespolitische Erfordernisse aufmerksam: „Für einen gesetzlichen Schutz, der sich speziell auf den Schutz von Arbeitgeberzusammenschlüssen ausrichtet, sind bundesgesetzliche Regelungen maßgebend.“ Dagegen antwortete die Bundesregierung gerade auf eine Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke ({1}): „Aus Sicht der Bundesregierung sind die rechtlichen Rahmenbedingungen zur Bildung von Arbeitgeberzusammenschlüssen ({2}) bereits vorhanden.“ Ist die Bundesregierung nur schlecht informiert oder ignoriert sie den dringenden Regelungsbedarf? Der ist nämlich klar und eindeutig: Erstens. Gebraucht wird eine Anschubfinanzierung, zum Beispiel über die Bundesagentur für Arbeit. Zweitens. Wir brauchen die gesetzliche Klarstellung, dass AGZ keine Leiharbeit sind, weil sonst zum Beispiel die Beiträge für die Berufsgenossenschaft ungerecht hoch sind. Auch die EU-Ebene hat unterdessen erkannt, dass AGZ zur Stärkung der ländlichen Räume beitragen können: EU-Kommissar Špidla hat Anfang des Jahres ein europäisches Ressourcenzentrum für AGZ gegründet! Bei der Eröffnung im Februar 2008 gab er zu Protokoll, dass die AGZ nach seiner Kenntnis das einzige Projekt wäre, wo Flexibilisierung und soziale Sicherung wirklich gemeinsam gedacht, also die Forderungen an Flexicurity erfüllt werden. Es gibt also, liebe Kolleginnen und Kollegen, keinen wirklichen Grund, den Antrag der Linken heute abzulehnen.

Ulrike Höfken-Deipenbrock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002680, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die Erntezeit in den Sonderkulturen hat begonnen, und damit stellt sich wieder die Frage, wer Erdbeeren und Spargel, aber auch Äpfel und Beeren ernten soll. Die Landwirte klagen, dass sie wegen der Erntehelferregelung nicht mehr ausreichend engagierte Erntehelfer finden und die Produkte auf dem Feld verschimmeln. Aber die Probleme bei der Ernte sind auch hausgemacht: Die Arbeitsbedingungen und Löhne sind häufig schlecht, darum finden die Betriebe weder inländische noch ausländische Helfer. Die jetzige Entwicklung zeigt, dass unsere osteuropäischen Nachbarn nicht mehr als Billigarbeiter auf Reisen gehen wollen. Deutschland ist für Arbeitskräfte aus Osteuropa unattraktiv. Die Politik der Bundesregierung wirkt abschreckend und hilft den Betrieben nicht. Stattdessen sollte sie auf bessere Standards für einheimische und zugereiste Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer setzen. Mit Stundenlöhnen um 4 Euro und weniger kann man keine motivierten Arbeiter mehr anlocken. Nur noch saisonal verfügbare und schlecht bezahlte Arbeitsplätze im ländlichen Raum haben aber noch eine zweite Auswirkung: die Abwanderung junger Menschen aus diesen Regionen. Wollen wir die Dörfer erhalten, muss die Arbeit so organisiert werden, dass sie die Existenz der Arbeitnehmer im ganzen Jahr absichert. Wir brauchen ein Anreizsystem für die grünen Berufe, eine faire Entlohnung, faire Unterbringungs- und Arbeitsbedingungen, eine Verbesserung der Vermittlung von Saisonarbeitskräften und eine koordinierte, bedarfsgerechte Aus- und Weiterbildung. Dazu können die vorgeschlagenen „grünen Agenturen“ besonders gut beitragen, wie wir es in unserem Antrag bereits 2006 gefordert haben ({0}). Wir wollen eine branchenübergreifende Vernetzung saisonaler Arbeitsmöglichkeiten in den Dörfern vom Forstbetrieb über Gartenbau und Landwirtschaft bis hin zu anderen gewerblichen Arbeitszweigen. So kann die Jahresgesamtarbeitszeit an verschiedenen Arbeitsstellen erbracht werden. Die zweite Säule der EU-Agrarpolitik muss finanziell besser ausgestattet werden, damit durch eine höhere EU-Förderung, gemeinsam mit einer zusätzlichen Bundesförderung, Entwicklungen wie etwa der grünen Arbeitsmarktagenturen finanziert werden können. Darüber hinaus fordern wir einen fairen Mindestlohn für die Beschäftigten in den grünen Berufen und unterstützen das Projekt der Gewerkschaft IG BAU gegen Lohndumping und schlechte Arbeitsbedingungen. Mehr Arbeitslose für Tätigkeiten in den grünen Berufen zu vermitteln, kann nur dann gelingen, wenn die Anforderungen der Betriebe an motivierte, qualifizierte und zuverlässige Mitarbeiter auf der einen Seite und der berechtigte Anspruch der Arbeit suchenden Menschen nach einer beruflichen Perspektive auf der anderen Seite zur Deckung gebracht werden. Die heutige Agrarpolitik benachteiligt zudem Betriebe mit vielen Arbeitsplätzen. Dies wollen wir im Rahmen der jetzt anstehenden EU-Agrarreform ändern. Wir fordern, dass die landwirtschaftlichen Direktbeihilfen auch an den Faktor Arbeitskraftbesatz gebunden werden müssen. Die Bundesregierung muss ihre Blockadehaltung gegen eine zukunftsorientierte Weiterentwicklung der europäischen Agrarpolitik endlich aufgeben.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/8262, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/4806 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried Nachtwei, Alexander Bonde, Markus Kurth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Oslo-Prozess zum Erfolg führen - Jegliche Streumunition ächten - Drucksache 16/8909 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({0}) Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Auch hier werden die Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die Reden der Kollegen Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg, CDU/CSU, Andreas Weigel, SPD, Florian Toncar, FDP, Inge Höger, Die Linke, Winfried Nachtwei, Bündnis 90/Die Grünen, sowie Gert Winkelmeier, fraktionslos.

Karl Theodor Guttenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003543, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lassen Sie mich gleich zu Beginn meines Redebeitrages zum Ausdruck bringen, als wie wohltuend ich das Engagement und die in den letzten Wochen und Monaten entstandene ungemeine Dynamik empfinde, mit welcher vonseiten des Parlamentes im Bereich der Streubombenthematik gewirkt wurde. Hierin offenbart sich nicht nur ein hohes Maß an Unabhängigkeit, welche die Legislative bei ihrer Arbeit an den Tag legt sowie die beachtliche inhaltliche Leistungsfähigkeit der parlamentarischen Ausschüsse, sondern auch die große Bedeutung, welche dem Oslo-Prozess als Impulsgeber zukommt. Unterstützt von verdienstvollen Nichtregierungsorganisationen ist es vor dem Hintergrund des Oslo-Prozesses gelungen, Parlamentarier und Regierungsvertreter gleichermaßen an die komplexe Thematik heranzuführen, Zusammenhänge aufzuzeigen, Positionen kritisch zu hinterfragen und vermeintliche Gewissheiten auf den Prüfstand zu stellen. Die in den letzten Wochen offenbar gewordene, lebendige parlamentarische und außerparlamentarische Debatte hat gezeigt, dass der seinem Gewissen verpflichtete Abgeordnete nicht nur ein Postulat unseres Grundgesetzes ist, sondern Realität. Das allein ist bereits bemerkenswert und verdient eine ausdrückliche Würdigung in diesem Rund. Getragen von einer gemeinsamen Zielsetzung haben sich Vertreter aller Parteien mit hohem Sachverstand, mit zielgerichteter Konstruktivität aber vor allem mit einer bemerkenswerten Unabhängigkeit in den zuständigen Ausschüssen und Unterausschüssen beständig gemüht, Fortschritte auf einem schwierigen, vielschichtigen und komplexen Feld zu befördern. Nationale und internationale Prozesse und Abstimmungen gilt es, hierbei ebenso abzuwägen wie - vielleicht erst auf den zweiten Blick sichtbare - ökonomische und vor allem auch bündnispolitische Fragen. Ein von den Antragstellern gefordertes nationales Moratorium, welches den Einsatz, die Entwicklung, die Herstellung, die Modernisierung, die Beschaffung, den Verkauf, die Vermittlung sowie die Ein-, Aus- und Durchfuhr von Streumunition untersagt, wäre hingegen bündnispolitisch nicht leistbar und drohte letztlich, die Bündnisfähigkeit Deutschlands zu unterhöhlen. Ich gebe zu bedenken, dass solch ein Antrag wohl kaum der grünen Regierungspartei gestellt worden wäre. Diese sicherheitspolitischen Folgen einer Umsetzung ihrer Forderungen stünden - und das wissen auch Sie - in keinem Verhältnis zum vielleicht erzielten Effekt. Auch die von den Antragstellern gewählte Diktion der „Terrorwaffe“ als Charakterisierung für Streumunition erscheint mir in der Tat nur schwer erträglich und etwas inspiriert von übersteigerter oppositioneller Dramatik. Derartige Begrifflichkeiten dürfen gerade angesichts der Thematik nicht leichtfertig verwandt und semantisch verwässert werden. Ich nehme nicht an, dass die hier anwesenden Vertreter der Grünen Deutschland und seinen Verbündeten den Besitz und die Produktion einer „Terrorwaffe“ unterstellen möchten. Die schrecklichen Auswirkungen von Streubomben bleiben Opfern wie Nutzern gleichwohl wie in Stein gebrannt. Dies würde auch auf Sie, meine Damen und Herren von der Fraktion der Grünen, zurückfallen. Auch wenn die Antragsteller in ihren Forderungen und Formulierungen weit über das eigentliche Ziel hinausgeschossen sind, so ist ihr Engagement, in der Sache selbst zu einem befriedigenden Ergebnis zu kommen, dennoch unbenommen. Letztlich sind auf dem Gebiet der Streubomben tatsächlich humanitäre Aspekte ausschlaggebend. Es sollte jedoch nicht verschwiegen werden, dass bereits im Vorfeld der anstehenden Konferenz große Fortschritte erreicht werden konnten. So stellt es durchaus einen Erfolg dar, dass von der Union gemeinsam mit dem Koalitionspartner im letzten Jahr ein Antrag bezüglich gefährlicher Streumunition in den Bundestag eingebracht und verabschiedet werden konnte. Dieser sah unter anderem vor, Streumunition der Bundeswehr außer Dienst zu stellen, die eine Blindgängerquote von über einem Prozent hat, von der Neubeschaffung von herkömmlicher Streumunition abzusehen und die Produktion als auch den Export von Streumunition mit einer Blindgängerrate von über einem Prozent zu verbieten. Dieser Antrag kann jedoch nur einen ersten Schritt in die richtige Richtung darstellen. An einer Fortentwicklung dieser Position - auch und besonders im internationalen Rahmen - muss gerade in diesen entscheidenden Tagen intensiv gearbeitet werden. Bei allem Lob für die Arbeit der parlamentarischen Gremien sollte jedoch auch die bisherige Rolle der Bundesregierung gelobt werden. Als zuständiger Berichterstatter der CDU/CSU begrüße und unterstütze ich ausdrücklich die grundsätzlich erklärte Zielsetzung der Bundesregierung, auf internationaler Ebene ein umfassendes Verbot von Streumunition zu erreichen. Diese Zielsetzung ist jedoch ein hoher Maßstab, den die Bundesregierung selbst an sich angelegt hat und an welchem sie sich stets messen lassen muss. Dies gilt insbesondere für den erfolgreichen Abschluss der Verhandlungen über ein internationales Abkommen, welches Ende Mai im Rahmen des Oslo-Prozesses abgeschlossen werden soll. Ein Erfolg des Oslo-Prozesses und eine Unterschrift Deutschlands unter den Ende Mai zu beschließenden Vertrag von Dublin, der sich die weltweite Ächtung von Streumunition zum Ziel gesetzt hat, erscheint als Schritt hin zu einem globalen Abkommen nahezu unverzichtbar. Bei aller Aufmerksamkeit, die der Oslo-Prozess momentan berechtigterweise bindet, sei jedoch daran erinnert, dass es für die Umsetzung einer globalen Ächtung von Streubomben auch darauf ankommen wird, schrittweise die großen Halterstaaten miteinzubeziehen. Dies ist mittels des Oslo-Prozesses bedauerlicherweise bisher nicht gelungen. Die Ansätze des Oslo-Prozesses sind ambitioniert und bewusst weit gefasst. Sie werden daher wohl in absehbarer Zeit nicht von allen Staaten geteilt werden. Gleichwohl kommt dem Oslo-Prozess eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zu, da mittels dieses Unternehmens entscheidende Impulse und Problemlösungsvorschläge hervorgebracht wurden und dies durchaus eine Strahlkraft für den tendenziell stockenden VN-Prozess hat. Zu Protokoll gegebene Reden Es ist daher zu begrüßen, dass sich die Bundesregierung - trotz durchaus frustrierender Erfahrungen - weiterhin aktiv an der Überprüfungskonferenz für das Waffenübereinkommen der Vereinten Nationen, CCW der VN, beteiligt. Und es sollte in der laufenden Diskussion nicht unterschlagen werden, dass auch auf dieser Ebene zumindest schüchterne Fortschritte gezeitigt werden. So hat die dritte Überprüfungskonferenz des VN-Waffenübereinkommens am 17. November 2006 die Einsetzung einer CCW-Expertengruppe zu Streumunition beschlossen, was von der Bundesregierung als Vorstufe zu Verhandlungen über ein flankierendes Abkommen zum Thema Streumunition gewertet wird. Es ist bedauerlich, dass hinsichtlich eines konkreten Vorgehens für allfällige Verhandlungen noch keine von allen relevanten Streumunitionshaltern geteilte Einigung erreicht werden konnte. Russland lehnt nach wie vor Verhandlungen jeder Art ab, die eine Ächtung von Streumunition zum Gegenstand haben. Auch andere Staaten wie etwa die USA und China verhalten sich in dieser Frage alles andere als kooperativ. Dennoch stellt die Befassung der Überprüfungskonferenz einen ersten Beitrag hin zu einem wirksamen Verbot von Streumunition dar. Es gilt daher, den laufenden Diskussionsprozess in einen substanziellen Verhandlungsprozess im CCW-Rahmen zu überführen, an dem die wichtigsten Besitzer und Anwender von Streumunition teilnehmen. Einseitig auf den Oslo-Prozess zu setzen, mag aus Gründen konzeptioneller Orthodoxie befriedigender sein, doch mit Blick auf ein anzustrebendes globales Abkommen wäre dies sicherlich nicht zielführend. Den Ansatz einer deutschen Beteiligung an beiden Prozessen gilt es also weiterzuverfolgen. Zudem muss Deutschland auch bei seinen Partnern in der Nato und der EU energisch um Fortschritte in der Sache werben. Dies gilt auch und insbesondere für die USA, die am Oslo-Prozess bisher nur als Beobachterstaat teilnehmen. Der Oslo-Prozess ist zum Motor der weltweiten Bemühungen geworden, eine weltweite Ächtung von Streubomben herbeizuführen. Vor dem Dubliner Treffen des OsloProzesses droht nun jedoch eine Situation, in welcher Deutschland nicht an der Abschlusserklärung der Konferenz beteiligt sein könnte. Die deutsche Delegation fordert nach wie vor Übergangsfristen für das Verbot und eine Ausnahme für bestimmte sensorengesteuerte Waffen. Die Haltung der deutschen Regierung wurde auf der Konferenz aus diesem Grunde bereits scharf kritisiert. Ein Ausscheiden Deutschlands aus dem Prozess erschien zeitweise möglich. Diese Gefahr ist ganz offensichtlich noch nicht gebannt, denn trotz verheißungsvoller und blumiger Proklamationen des federführenden Auswärtigen Amtes scheint sich die Haltung Deutschlands bisher nicht flexibilisiert zu haben. Das Auswärtige Amt scheint den eigens aufgestellten Maßstäben in Sachen Abrüstung im konkreten Fall nicht vollumfänglich entsprechen zu können. Bedauerlich muss auch erscheinen, dass es auf der Konferenz zunehmend zu Konfrontationen zwischen den Nichtregierungsorganisationen und der Bundesregierung gekommen ist. Offensichtlich hat das einst konstruktive Klima schwer gelitten. Eine in jüngsten Presseverlautbarungen des Auswärtigen Amtes angedeutete Flexibilisierung der deutschen Haltung erschiene mir begrüßenswert. Vor diesem Hintergrund erscheint die Frage relevant, ob und inwiefern die Bundesregierung ihre Haltung in den anstehenden Verhandlungen von Dublin zu ändern gedenkt. Den jüngsten Proklamationen der Bundesregierung konnte leider nicht entnommen werden, ob hierauf tatsächlich substanzielle Positionsveränderungen folgen sollen. Für wohl alle in der Sache zuständigen Parlamentarier würde ich daher sehr gerne die Frage aufwerfen, ob und inwiefern die deutsche Verhandlungsposition flexibilisiert werden soll und welchen weiteren Verhandlungsspielraum die Bundesregierung innerhalb des Oslo-Prozesses sieht. Der Oslo-Prozess würde in gewisser Weise entwertet werden, wenn die wenigen relevanten Teilnehmerstaaten wie Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Kanada, aus einem anzustrebenden Abkommen herausfielen. Eine solche Entwicklung drohte, den gesamten Prozess irrelevant zu machen. Die offizielle Position Deutschlands bedarf einer kritischen Revision unter Beteiligung des Parlamentes. Das kategorische Festhalten der im Dreistufenplan dargestellten Haltung Deutschlands scheint mir in nicht allen Punkten vollständig schlüssig zu sein. Zudem verbleiben offene Fragen bezüglich der konkreten Umsetzung des Dreistufenplanes. Gemeinsam mit meinem Kollegen Andreas Weigel habe ich in diesen Tagen die zahlreichen offenen technisch-militärischen wie auch politischen Fragen in einem Schreiben an die Bundesminister Steinmeier und Jung übermittelt. Im Folgenden möchte ich in aller gebotenen Kürze auch in diesem Hohen Hause einige der überwölbenden Fragen aufwerfen: Offene Fragen bestehen beispielsweise bezüglich der von der deutschen Delegation geforderten Übergangsfristen für sogenannte Streumunition mit einer Blindgängerquote von unter einem Prozent. Nach wie vor ist noch erheblicher Klärungsbedarf hinsichtlich der zuverlässigen Erfüllung der vom Gesetzesantrag der Koalition geforderten Blindgängerquote von unter einem Prozent für die Übergangsbestände der Bundeswehr gegeben. Es ist Pflicht und Aufgabe des Parlaments, über die Einhaltung der geforderten Maßstäbe für die übergangsweise erlaubten Streumunitionsbestände Klarheit zu erlangen. Auch die von der Bundesregierung geforderten Ausnahmen für Alternativmunition, namentlich sensorengesteuerte Waffen, bedürfen meiner Auffassung nach einer kritischeren Überprüfung als bisher. Es muss sichergestellt sein, dass die Alternativmunition tatsächlich die von der Regierung und den Herstellern dargestellten Anforderungen erfüllt. Der deutsche „Dreistufenplan“ setzt die technische Zuverlässigkeit aller Submunitionen voraus. Unklar erscheint mir hierbei noch, auf welche Angaben sich die Bundesregierung verlässt, um diese Zuverlässigkeit zu überprüfen. Insgesamt muss seitens der Bundesregierung noch schlüssiger als bisher der militärische Nutzen und konkrete Bedarf für die - mittelfristig in den Beständen der Bundeswehr verbleibende - Streumunition und die anzuZu Protokoll gegebene Reden schaffende Alternativmunition Erklärung finden. Sollte dieser Bedarf nicht zwingend zum Schutz unserer Soldaten geboten sein, erschienen mir allzu großzügige Regelungen hinsichtlich Übergangsfristen und Alternativmunitionen als nicht notwendig und ganz im Gegenteil aus humanitären Gesichtspunkten sehr bedenklich. In dieser grundsätzlichen Conclusio stimme ich auch mit den Antragstellern überein. Die Unterschrift Deutschlands unter den Vertragsentwurf von Dublin darf schlichtweg nicht an den aufgezeigten offenen Fragen und einer intransigenten deutschen Verhandlungshaltung scheitern. Keinesfalls darf der Eindruck entstehen, dass sich die Bundesregierung auf diesem Feld von den Interessen der militärischen Industrie unter Druck setzen lässt. Auch der scheinbaren Rücksichtnahme auf enge bilaterale Partner sind hinsichtlich dieser Thematik gewisse Grenzen gesetzt. Eine flexiblere Haltung - insbesondere hinsichtlich der von Deutschland eingeforderten Übergangsfristen - sollte daher aus meiner Sicht ernsthaft erwogen werden.

Andreas Weigel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003656, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Deutschland ist nicht der Bremser in den parallel laufenden multilateralen Verhandlungen über eine Ächtung von Streumunition und wird das auch in den anstehenden Verhandlungsrunden nicht sein - auch wenn der hier behandelte Antrag der Grünen diesen Eindruck zu erwecken versucht. Ganz im Gegenteil: Die Bundesregierung hat im vergangenen Jahr eine viel beachtete Initiative für einen schrittweise universellen Verzicht auf Streumunition ergriffen. An den internationalen Verhandlungen - sowohl im UN-Rahmen wie auch im Oslo-Prozess - war Deutschland nicht nur von Anfang an engagiert beteiligt, sondern hat zudem bereits in einem sehr frühen Stadium erste konkrete Vorschläge und Textbausteine für eine Völkerrechtsergänzung eingebracht. Richtig ist, dass sich die Bundesregierung um eine Einbindung möglichst vieler Staaten bemüht. Die deutsche Verhandlungsposition orientiert sich sowohl an Empfehlungen des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz als auch an Vorgaben des Waffenübereinkommens der Vereinten Nationen. Das macht deutlich, dass der Vorwurf, Deutschland trete auf die Bremse, nicht zu halten ist. Vielmehr nimmt Deutschland bei den Verhandlungen - innerhalb und außerhalb des UN-Rahmens - eine Vorreiterrolle ein. Ich bin sehr zuversichtlich, dass bei der Weiterentwicklung humanitärer Rüstungskontrolle noch im Jahr 2008 ein Durchbruch gelingt. Auf Initiative der SPDFraktion hat der Bundestag die Bundesregierung bereits im Jahr 2006 dazu aufgefordert, Schritt für Schritt auf eine völkerrechtliche Ächtung von Streumunition hinzuarbeiten. Im Parlament haben wir die internationalen Verhandlungen seitdem in mehreren Plenardebatten sowie in regelmäßigen Berichterstattungen und Anhörungen in den zuständigen Fachausschüssen eng begleitet. Wir haben dabei stets betont, dass ein umfassendes Verbot der Herstellung, Verwendung und Verbreitung dieser Munition aus unserer Sicht alternativlos ist. Streumunition verursacht unermessliches menschliches Leid - insbesondere unter Zivilisten -, sie ist aber auch aus militärischen Erwägungen schlichtweg überflüssig. Denn sie ist unzuverlässig, gefährdet zudem die sie einsetzenden Militärs und schmälert darüber hinaus die Akzeptanz militärischer Operationen bei der Zivilbevölkerung Die von den Grünen verwendete Bezeichnung „Terrorwaffe“ halte ich aber für unglücklich. Im Fall von Streumunition sind wir schließlich nicht etwa mit dem Problem konfrontiert, dass es in erster Linie transnational operierende, nichtstaatliche Terrornetzwerke sind, die diese Waffe zum Einsatz bringen, sondern es geht darum, Streumunition als konventionelle Waffen aus den Beständen regulärer staatlicher Armeen auszumustern, zu vernichten und ihren Einsatz zu ächten. Ob das gelingt, hängt nicht zuvorderst vom konstruktiven Verhalten der Bundesregierung ab - so wie die Grünen suggerieren -, sondern schon eher von ihrem diplomatischen Verhandlungsgeschick. Entscheidend ist doch, ob es gelingt, diejenigen Staaten in einen Vertragsabschluss einzubinden, die bislang bei den internationalen Verhandlungen tatsächlich auf die Bremse treten. Denn das sind ausgerechnet die Staaten mit den umfangreichsten Streumunitionsarsenalen - die USA, China und Russland, zudem Indien, Pakistan, Israel und Brasilien. Was die Einbindung dieser Staaten betrifft, bleibt weiterhin noch erhebliche Überzeugungsarbeit zu leisten. Denn in ihren Militärstrategien nimmt Streumunition nach wie vor einen ungleich höheren Stellenwert ein als beispielsweise die weltweit nicht mehr eingesetzten Antipersonenminen. Darum hat Deutschland von Beginn an einen ausgewogenen Ansatz verfolgt, der auch aus militärischen Gesichtspunkten überzeugen soll. Allerdings wird sich auch die deutsche Position in den anstehenden Verhandlungen noch weiterentwickeln müssen. Die Grünen behaupten ja, die Bundesregierung unterscheide zwischen gefährlicher und ungefährlicher Munition. Das ist so nicht zutreffend. Ungefährliche Munition gibt es nicht. Allerdings hat sich im Libanonkrieg 2006 in der Tat gezeigt, dass auch neuere, vermeintlich zuverlässigere Streumunitionsmodelle die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllt haben. Daraus sind nun auch seitens der Bundesregierung Konsequenzen zu ziehen. Selbst wenn und gerade weil es nie zu ihrem Einsatz durch die Bundeswehr gekommen ist: Streumunition darf nicht weiterhin nach einer nicht eindeutig belegten Blindgängerrate eingestuft, sondern sollte ohne weitere Übergangsfristen unverzüglich außer Dienst gestellt werden. Aus militärstrategischer Sicht verlangen heutige Einsatzszenarien die Fähigkeit zur Punkt- und nicht zur Flächenzielbekämpfung. Dafür gibt es Punktzielmunition, die bezüglich ihrer Bauart, ihrer Wirkweise und ihrer Zuverlässigkeit grundlegende Unterschiede zu Streumunition aufweist. Insofern sollte sie weder in engerem noch in weiterem Sinne mit Streumunition gleichgesetzt werden. Punktzielmunition ist mit einer erheblich geringeren Anzahl an Explosivkörpern ausgestattet - weniger als Zu Protokoll gegebene Reden zehn im Vergleich zu den bis zu Tausend bei Streumunition. Bei neueren Modellen, die mittels kinetischer Energie funktionieren, wird gänzlich auf Explosivkörper verzichtet. Wenn nun aber in den laufenden internationalen Verhandlungen neben der umfassenden Ächtung von Streumunition auch eine völkerrechtliche Eingrenzung des Einsatzes von Punktzielmunition diskutiert wird, dann geht es dabei nicht darum, einzelnen modernen Munitionsmodellen einen Persilschein auszustellen, sondern es geht darum, eindeutige, von unabhängiger Seite nachprüfbare Kriterien zu definieren, die diese Munition erfüllen muss: erstens eine strikte Limitierung der durch diese Munition verbrachten Sprengkörper; zweitens eine nachgewiesene hohe technische Zuverlässigkeit; drittens die nachgewiesene Fähigkeit dieser Munition, militärische Ziele tatsächlich punktgenau zu bekämpfen. Die Bundesregierung steht dabei in der Pflicht, dem Parlament als unabhängigem Kontrollorgan gesicherte und detaillierte Nachweise über die Einhaltung dieser Maßstäbe vorzulegen. Ein entscheidender Aspekt kommt im hier diskutierten Antrag der Grünen viel zu kurz: der Blick über den OsloProzess hinaus. Die vom Oslo-Prozess ausgehende Dynamik hat die Genfer Verhandlungen zur Ergänzung des Waffenübereinkommens der Vereinten Nationen neu belebt. Im November 2007 haben sich die UN-Vertragsstaaten in Genf zur Aufnahme von Verhandlungen über ein Zusatzprotokoll zur „dringlichen Frage der humanitären Auswirkungen von Streumunition“ bereiterklärt. Dass damit erstmals alle Vertragsstaaten des UN-Waffenübereinkommens in Verhandlungen eingebunden werden, ist ein wichtiger Fortschritt. Es ist ein besonderer Verdienst der am Oslo-Prozess beteiligten Staaten und zivilgesellschaftlichen Akteure, dass sie die Vertragsstaaten verstärkt für die humanitären Folgen des Einsatzes von Streumunition sensibilisiert haben. Unbedingt zu verhindern ist nun freilich, dass UN-Verhandlungen und Oslo-Prozess gegeneinander ausgespielt werden. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass bei den Verhandlungen im Rahmen des Oslo-Prozesses Ende Mai ein präziser Textentwurf erarbeitet wird, der dann den anschließenden UN-Verhandlungen als Vorlage dienen kann. Die Bundesregierung ist gefordert, die Impulse des Oslo-Prozesses aufzugreifen und geeignete Maßnahmen für eine rasche Ratifizierung und Universalisierung der dort erzielten Übereinkunft in die Wege zu leiten. Zugegeben, der Spagat zwischen den beiden parallel laufenden multilateralen Verhandlungsprozessen ist eine komplizierte Übung, die wohl nicht ganz ohne Verrenkungen gelingen kann. Aber ich denke, wir sollten auf die deutsche Verhandlungsführung vertrauen.

Dr. Florian Toncar (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003856, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Heute beraten wir über ein Thema, das aus humanitären Gründen von großer Bedeutung ist: das Verbot von Streumunition. Streumunition wird durch Bomben, Artillerie oder Raketen verschossen, die über dem Ziel eine große Menge von Submunitionsladungen verteilen und großflächig zur Explosion bringen. Ein großer Teil der verschossenen Submunitionen detoniert jedoch nicht beim Aufschlag, sondern bleibt als Blindgänger am Boden liegen. Auch Jahre nach dem Ende von Kampfhandlungen stellen diese Blindgänger ähnlich wie Landminen eine Gefahr für die Zivilbevölkerung dar. Sie verletzen oder töten Menschen, wobei es sich besonders oft um spielende Kinder handelt. Ferner lähmt die von Blindgängern ausgehende Angst den Wiederaufbau und verhindert die Nutzung von Landwirtschaftsflächen, Wohnflächen und Verkehrswegen. Diese schlimmen Folgen von Streumunition rücken immer weiter in das Blickfeld der aktuellen Abrüstungsdebatte. Um den schrecklichen humanitären Folgen von Streumunition zu begegnen, muss endlich gehandelt werden. Aus diesem Grund hat sich die FDP bereits im September 2006 für die umfassende Ächtung von Streumunition ausgesprochen. Daneben fordert die FDP die Ächtung der verbliebenen Landminen, denn trotz des Verbots von Antipersonenminen sind Antifahrzeugminen weiterhin erlaubt. Diese Minen verfügen über eine weitaus größere Sprengkraft und gefährden weiterhin Zivilisten in Konfliktgebieten. Besonders zynisch ist, dass auch Antifahrzeugminen, die mit einer sogenannten Aufhebesperre versehen sind, erlaubt bleiben, obwohl diese Aufhebesperre bewirkt, dass die Mine von einer Person ausgelöst werden kann und somit wie eine Antipersonenmine wirkt. Die Bundesregierung macht sich diese in der Ottawa-Konvention enthaltene semantische Lücke zunutze, um auch an Antifahrzeugminen mit Aufhebesperre festzuhalten. Neben den Liberalen legten im Herbst 2006 auch die Koalitionsfraktionen von CDU/CSU und SPD einen Antrag zum Umgang mit Streumunition vor. Der Antrag der Koalitionsfraktionen sah nur die Abrüstung von „für Zivilisten gefährlicher“ Streumunition mit einer Blindgängerrate von über einem Prozent vor. Dies sollte der Bundesregierung erlauben, an einem Teil der deutschen Streumunition festzuhalten. Diese Unterscheidung ist nicht sinnvoll, da auch Streumunition mit einer prozentual niedrigen Blindgängerrate aufgrund der meist außerordentlich hohen Zahl verschossener Submunitionssprengkörper zu einer großen Gefahr werden kann. Die Bundesregierung stieß mit ihrem Konzept sowohl hier im Parlament als auch in der Öffentlichkeit auf Kritik. Auch wir Liberale haben diesen Ansatz von Regierung und Koalitionsfraktionen hier im Deutschen Bundestag wiederholt als unzureichend abgelehnt. Es ist erfreulich, dass dieser Druck Wirkung gezeigt hat. Die Bundesregierung will nun mittelfristig auch auf die von ihr bisher als ungefährlich eingestufte Streumunition verzichten, sobald Alternativen zur Verfügung stehen, die die entstehende Lücke im Ausrüstungsportfolio der Bundeswehr schließen können. Auch wenn diese alternativen Waffen heute noch nicht einsatzbereit sind, zeichnet sich schon ab, dass diese nicht zu der humanitär problematischen Blindgängerbelastung führen werden wie dies bei der Streumunition der Fall ist. Der heute zur Debatte stehende Antrag der Grünen befasst sich mit dem sogenannten Oslo-Prozess zur Aushandlung eines umfassenden Verbotsabkommens für Streumunition. Im Mai 2008 gehen diese Verhandlungen Zu Protokoll gegebene Reden bei einer Konferenz in Dublin in ihre entscheidende Phase. Dabei geht es darum, möglichst viele Staaten zu einem Verbot dieser Waffen zu bewegen. Es dürfen keine Ausnahmen vom Verbot der Streumunition gemacht werden, die schwerwiegende humanitäre Folgen haben. Auf der anderen Seite muss ein Abkommen auch die Wege zur Verwendung von Waffen offenhalten, die eben nicht dieselben gravierenden Folgen für die Zivilbevölkerung nach sich ziehen wie die bisher verwendete Streumunition. Sonst werden wichtige Prozenten- und Nutzerstaaten von Streumunition dem Verbotsabkommen nicht beitreten. Wenn aber hauptsächlich Staaten die Oslo-Konvention unterschreiben, die niemals nennenswerte Bestände an Streumunition besessen haben, wäre das Abkommen nur eine symbolische Geste. Dies würde das Verbot von Anfang an schwächen. Viel wird daher vom Geschick der an den Verhandlungen beteiligten Diplomaten abhängen. Insgesamt unterstützt die FDP daher die Stoßrichtung des vorliegenden Antrags der Grünen. Gleichwohl wird bei den Beratungen im federführenden Ausschuss noch über einige Formulierungen näher zu sprechen sein. Es wäre zu begrüßen, wenn der Deutsche Bundestag ein starkes Signal für die Ächtung von Streumunition setzen würde. Die Verhandlungen müssen rasch zu einem erfolgreichen Ende geführt werden. Dabei muss Deutschland einen konstruktiven Beitrag leisten. Eines ist klar: Die Bundesregierung muss in den Verhandlungen endgültig von ihrem Kriterium einer Blindgängerrate von 1 Prozent abrücken. Langfristig wäre eine solche Ausnahme kontraproduktiv und unterliefe ein umfassendes Verbot. Es bleibt zu hoffen, dass möglichst viele Staaten der OsloKonvention am Ende beitreten werden. Die hohe Zahl der unschuldigen Opfer dieser grausamen Waffen können wir nicht akzeptieren. Das Beispiel der Ottawa-Konvention stimmt optimistisch. So ist der Handel mit Antipersonenminen nahezu zum Erliegen gekommen. Es wäre wünschenswert, wenn ein umfassendes Verbot von Streumunition den gleichen Effekt hätte. Die Verhandlungen in Dublin werden hierfür entscheidend sein.

Inge Höger-Neuling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003773, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

In gut einer Woche, am 19. Mai 2008, beginnt in Dublin eine elftägige Konferenz, deren Ziel das völkerrechtlich verbindliche Verbot von Streumunition ist. Ob die Vertreter der Bundesrepublik Deutschland dabei eine konstruktive Rolle spielen werden, ist zu bezweifeln. Der Handlungsbedarf zu diesem Thema ist auf jeden Fall nicht zu ignorieren. Streumunition verseucht heute in mindestens 25 Staaten ganze Landstriche. Mehr als 100 000 Menschen fielen bis heute dieser brutalen Technologie zum Opfer. Für die Bevölkerung stellen die unzähligen Blindgänger noch lange nach kriegerischen Auseinandersetzungen eine Bedrohung dar. Die Gefährdung für die Zivilbevölkerung entspricht der durch Landminen, denn der Einsatz von Streumunition richtet sich unterschiedslos gegen militärische und zivile Ziele. Diese unterschiedslose Gefährdung von Zivilisten und Kombattanten ist durch das Völkerrecht verboten. Streumunition ist grausam und unmenschlich. Die Bundesrepublik hat sich mit ihrem Acht-PunktePlan immer wieder faktisch als Bremser für eine verbindliche und umfassende Lösung betätigt. Um die Zivilbevölkerung zu schützen, reicht es definitiv nicht, wie von der Bundesrepublik gefordert, nur ein Teilverbot gegen bestimmte Munitionstypen umzusetzen. Die Unterscheidung zwischen „guter“ und „schlechter“ Streumunition ist zynisch und sorgt dafür, dass die Tabuisierung von Streumunition schwieriger wird. Zum Glück sind es nur einige wenige Staaten, die glauben, dass ein Teilverbot älterer Munitionstypen ausreicht, um inakzeptablen Schaden von der Zivilbevölkerung abzuwenden. Nicht zufällig sind dies vor allem die Hersteller- und Anwenderstaaten von Streumunition. Leider gehört die Bundesrepublik zu diesen Staaten, die Hightech-Streumunition als für Zivilisten ungefährliche Alternativwaffe bezeichnen. Die Haltung der Bundesregierung ist aus humanitärer Sicht nicht nachvollziehbar. Für die Regierung sind militärische Überlegungen inklusive der Möglichkeit gemeinsamer militärischer Operationen mit Armeen, die Streumunition einsetzen, ganz offensichtlich die oberste Priorität. Die Bundesregierung möchte durch ihren AchtPunkte-Plan angeblich andere Länder wie die USA oder Russland, die Streumunition produzieren und einsetzen, mit integrieren. Dass dieses Vorhaben gescheitert ist, hat sich spätestens im November 2007 gezeigt, als sich die Vertragsstaaten des UN-Waffenübereinkommens für ihr weiteres Vorgehen bezüglich Streumunition nur auf einen unverbindlichen Meinungsaustausch einigen konnten. Es geht der Bundesregierung leider in erster Linie darum, Rüstungstechnologien zu schützen und nicht die betroffenen Menschen. Vertreter des Aktionsbündnisses Landminen formulierten deswegen treffend: Es wundert uns nicht, dass die deutsche Rüstungsindustrie die Politik der Bundesregierung ausdrücklich unterstützt. Im Gegensatz zur unehrlichen und halbherzigen Haltung der Bundesregierung unterstützen weit über 100 Staaten ein umfassendes Verbot. Diese Forderung nach einem vollständigen Verbot, ohne Ausnahmen und ohne Übergangsfristen, müssen wir auch hier im Bundestag unterstützen. Die Parlamente in Österreich und Belgien haben bereits vorgemacht, dass dies möglich ist. Die Fraktion Die Linke hat mit dieser Absicht einen eigenen Antrag eingebracht. Heute steht ein Antrag von Bündnis 90/Die Grünen auf der Tagesordnung, dessen Anliegen wir weitgehend teilen. Mit geringfügigen Details haben wir Probleme. Warum etwa soll die Vernichtung der Altbestände von Streumunition insgesamt vier Jahr dauern? Bei entsprechendem politischem Willen geht das deutlich schneller. Das Gesamtziel des GrünenAntrags, inklusive der Forderung nach einem Moratorium für den Einsatz und die Produktion von Streumunition, ist aber auf jeden Fall unterstützenswert.

Winfried Nachtwei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002743, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die Verhandlungen über ein völkerrechtlich verbindliches Verbot von Streumunition im Rahmen des Oslo-Prozesses gehen mit der Dubliner Konferenz vom 19. bis Zu Protokoll gegebene Reden 30. Mai in die voraussichtlich letzte und entscheidende Phase. Der endgültige Vertrag soll in Dublin beschlossen und das rechtsverbindliche Verbotsprotokoll dann im Dezember 2008 in Oslo von den beteiligten Staaten gezeichnet werden. Deutschland kommt dabei eine Schlüsselrolle zu. Der Erfolg des von Norwegen initiierten Oslo-Prozesses wird nicht zuletzt entscheidend vom konstruktiven Verhalten der Bundesregierung abhängen. Weit mehr als zwei Drittel der UNO-Staaten, inklusive Deutschland, unterstützen den Oslo-Prozess. Deutschland wird jedoch zunehmend als Bremser im Oslo-Prozess wahrgenommen. Auf der Vorbereitungskonferenz im Februar dieses Jahres in Wellington/Neuseeland haben 85 der 140 Oslo-Staaten die „Declaration of the Wellington Conference on Cluster Munitions“ für ein weltweites Verbot von Streumunition gezeichnet. Dieser breite internationale Konsens ist beeindruckend und ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg für ein rasches und vollständiges internationales Verbot dieser unterschiedslosen und grausamen Waffen. Auch Deutschland hat sich der „Wellingtoner Erklärung“ angeschlossen. Das ist ausdrücklich zu begrüßen. Eine Unterzeichnung der Erklärung durch die Bundesregierung wäre jedoch fast gescheitert. Der Bundesregierung geht ein vollständiges Verbot von Streumunition zu weit. Einige wenige Staaten, darunter Deutschland, Großbritannien und Frankreich, wollten den Verbotsentwurf auf der Wellingtoner Konferenz abschwächen und Ausnahmen durchsetzen. Angelehnt an den Acht-PunktePlan der Bundesregierung zur Streumunition vom Juni 2006 hat die Bundesregierung mit einem Dreistufenplan operiert, der Übergangsfristen und noch zu entwickelnde Alternativmunition vorsieht. Die Bundesregierung plädiert dafür, zunächst nur „gefährliche“ Streumunition mit hohen Blindgängerquoten und ohne Selbstzerlegungsmechanismus zu ächten. Abgesehen davon, dass es keine „ungefährliche Streumunition“ gibt, will die Bundesregierung im Kern lediglich eine Modernisierung der Streumunitionsbestände und eine Begrenzung der Einsatzbedingungen. Streumunition mit angeblich geringer Fehlerquote oder auch Streuminen sollen vom Verbot ausgenommen bleiben. Diese Ermächtigung werden wir der Bundesregierung nicht erteilen. Im Gegenteil: Wir wollen ein sofortiges Einsatzmoratorium und ein vollständiges Verbot ohne Ausnahmen und Übergangsfristen. Die Bundesregierung argumentiert, dass der von ihr vorgeschlagene Stufenplan geeignet sei, „den humanitären Schutz vor Streumunition effektiv zu verbessern, ohne dabei militärische Realitäten zu ignorieren“. Das ist eine humanitäre Augenwischerei, die auf der Konferenz in Wellington erfreulicherweise von der überwiegenden Mehrheit der beteiligten Staaten nicht geteilt wurde. Am Ende haben auch diejenigen, die für eine Revision des Vertragstextes eingetreten waren, diesen unverändert gezeichnet, ihre Vorbehalte jedoch in den Anhang der Erklärung aufnehmen lassen. Damit ist klar, dass Deutschland weiterhin für einen abgeschwächten Vertragstext eintreten wird. Das wollen wir der Bundesregierung nicht durchgehen lassen. Ich frage mich: Welchen Schutz hat die Bundesregierung eigentlich konkret vor Augen? Auch technisch modernisierte Streumunition mit einer Blindgängerrate von unter 1 Prozent stellt eine permanente tödliche Gefahr und Bedrohung für die betroffene Zivilbevölkerung dar. 98 Prozent aller registrierten Opfer von Streumunition sind laut Nichtregierungsorganisationen Zivilisten. Die Gefährlichkeit und Heimtücke dieser Waffen ändert sich auch dann nicht, wenn nur noch Streumunition mit angeblich geringer Fehlerquote eingesetzt wird. Jede Berührung mit Streumunition kann tödlich sein. Die Unterscheidung zwischen angeblich „gefährlicher“ und „ungefährlicher“ Streumunition kann kein Ausweg sein. Ein Verbot muss sich an den Wirkungen und nicht an technischen Bezeichnungen dieser Waffen orientieren. Der Stufenansatz sei außerdem, so wurde von der Bundesregierung gesagt, geeignet, diejenigen Staaten mit großen Streumunitionsarsenalen, wie die USA, China und Russland, in den Verbotsprozess einzubinden. Diese Staaten lehnen eine Teilnahme am Oslo-Prozess ab. Ihre Politik ist ein Abrüstungshindernis sondergleichen. Ich glaube aber nicht, dass man deren Verweigerungshaltung durch Verwässerung aufweichen kann. Hier bricht das weiche Wasser nicht den Stein. Hier ist vielmehr der Argumentation des ehemaligen Leiters des Planungsstabs im Verteidigungsministerium, Franz H. U. Borkenhagen, zu folgen, der am 19. April 2008 in der Süddeutschen Zeitung davor warnte, dass „militärische Erbsenzählerei zu einem Scheitern der Verhandlungen“ führen könne. „Eine eingehende militärische Beurteilung würde schnell zu dem Schluss kommen, dass es einen Bedarf an dieser Munition nicht gibt. ({0}) Verhandlungen über das Verbot von Streumunition würden einen ungeheuren Schub erhalten, wenn es gelänge, mit einem einseitigen und sofortigen Verzicht einzelner oder mehrerer Staaten ein politisches Signal zu setzen. ({1}) Deutschland könnte jetzt ein Zeichen setzen, dass es der Bundesregierung mit ihren Bemühungen um Rüstungskontrolle ernst ist. Die Bundesregierung sollte ein Moratorium verkünden, das vorsieht, nicht nur auf den Gebrauch, sondern auch die Produktion von sowie auf den Handel mit Streumunition zu verzichten.“ Belgien und Österreich haben ein vollständiges Verbot von Streubomben beschlossen. Sie haben ebenso wenig wie Norwegen Bedenken, dass eine Vertragszeichnung für ein vollständiges Verbot von Streumunition ihre internationalen Verpflichtungen im Rahmen der NATO und EU entgegenstehen könnten. Der Acht-Punkte-Plan der Bundesregierung zur Streumunition ist durch die internationale Entwicklung längst überholt worden. Mehr als 100 Staaten unterstützen mittlerweile die Forderung nach einem umfassenden Verbot von Streumunition. Inzwischen rumort es auch in den Reihen der Abgeordneten der Regierungskoalitionen. Einige von ihnen möchten, dass die Bundesregierung ihre starre Haltung in der Streumunitionspolitik aufgibt, und fordern ein Einsatzmoratorium für Streumunition. Das weist in die richtige Richtung. Wir werden unseren Antrag in die Ausschussberatungen überweisen. Wir wollen, dass das Thema weiter im Bundestag diskutiert wird. Ich finde, wir sollten als Abgeordnete des Deutschen Bundestages unsere parlamentaZu Protokoll gegebene Reden rische Eigenverantwortung tragen und klar Farbe bekennen. Mit unserem Antrag liegt der Ball nun im Spielfeld des Bundestages. Bis zur Dubliner Konferenz ist noch Zeit, um die Bundesregierung dazu zu bewegen, ihre Bremserhaltung im Verbotsprozess aufzugeben und alles dafür zu tun, dass die Entwicklung, die Herstellung und der Einsatz jeglicher Streumunition endlich der Vergangenheit angehört. Eine vollständige internationale Ächtung von Streumunition ist überfällig! Vielen Dank.

Gert Winkelmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003864, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Ich kann mich nicht entsinnen, eine meiner bisherigen Reden mit einem Lob für die Regierungsfraktionen eingeleitet zu haben. Aber beim Thema Streumunition erleben wir erfreulicherweise so etwas wie einen zaghaften Ansatz von Revitalisierung des Parlaments. Das kann ich nur begrüßen und hoffen, dass dies keine Eintagsfliege bleibt. Denn allzu oft hatte nicht nur ich Anlass, die unkritische Übernahme von Regierungspositionen durch die Mehrheitsfraktionen zu beklagen. Deswegen will ich hier ausdrücklich den Kollegen Weigel und von Guttenberg beipflichten, die sich mit der bisherigen Haltung der Bundesregierung zu einem internationalen Abkommen über ein umfassendes Verbot von Streumunition nicht abfinden wollen. So entnehme ich das jedenfalls der Presseberichterstattung. Die Bundesregierung versucht zwar den Eindruck zu erwecken, als habe sie sich an die Spitze dieses Teilabrüstungsprozesses gesetzt und lässt auf der Homepage des Auswärtigen Amtes titeln: Bundesregierung setzt sich für umfassendes Verbot von Streumunition ein. Liest man jedoch ihre sogenannte Acht-Punkte-Position zu Streumunition, wird schnell deutlich, dass sie bei diesem Thema tatsächlich zu den Bremserstaaten gehört. Offensichtlich haben sich nämlich die militärischen Argumente durchgesetzt; denn der Bundesaußenminister hat die vom Führungsstab der Streitkräfte geschriebene Punktuation eins zu eins übernommen. Schaut man beispielsweise in die Nr. 5 dieses Papiers, wird deutlich, dass die Luftwaffe erst nach Ende der Nutzungsdauer des Waffensystems Tornado auf Streumunition verzichten will. Das ist also deutlich jenseits des Jahres 2020, kurz vor dem Sankt-Nimmerleins-Tag sozusagen. Oder: In der Nr. 4 steht, „langfristig“ soll geprüft werden, ob noch vorhandene Streumunition durch alternative Wirkmittel ersetzt werden kann. Was hat denn eine solche Wischiwaschi-Formulierung mit der Ankündigung eines „umfassenden“ Verbotes zu tun? Die Antwort kann sich wohl jeder selber geben. Es kann bei dieser Munition auch nicht darum gehen, einen völkerrechtlichen Disput über ihre Zulässigkeit zu führen; das ist ein Streit um des Kaisers Bart und führt überhaupt nicht weiter. Die Fakten liegen doch auf dem Tisch und sprechen eine eindeutige Sprache: Streumunition trifft wegen ihrer Charakteristik überwiegend unbeteiligte Zivilisten und bleibt noch Jahrzehnte nach ihrem Einsatz eine Dauergefahr für die Bewohner des Einsatzlandes, besonders für die Kinder. In Afghanistan erfahren das unsere Soldaten doch jeden Tag! Deswegen gibt es hier nur eine Lösung: ein sofortiges Moratorium für die Verwendung, Lagerung, Herstellung, Verbringung und Ausfuhr von Streumunition, wie es die Resolution des Europäischen Parlaments vom 28. Oktober 2004 fordert. Auch der von der Bundesregierung favorisierte vermeintliche Königsweg, mit technischen Lösungen die Blindgängerrrate auf 1 Prozent zu begrenzen, ist ein Irrweg, für den weitere Unschuldige weltweit zu büßen hätten. Um das am Beispiel des Libanonkriegs im Jahr 2006 zu erläutern: Wäre diese vorgebliche Hightech-Munition in gleicher Menge eingesetzt worden, hätte es immer noch 40 000 Blindgänger gegeben. Wir sollten uns hingegen an den Parlamenten Belgiens und Österreichs ein Beispiel nehmen, die Gesetze zum umfassenden Verbot von Streumunition verabschiedet haben, um den Abschluss eines internationalen Verbotsvertrags zu beschleunigen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/8909 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainder Steenblock, Undine Kurth ({0}), Cornelia Behm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Einführung eines Europäischen Tags der Meere - Drucksache 16/8213 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({1}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus Auch diese Reden sollen zu Protokoll genommen werden. Es handelt sich um die Reden der Kollegen Bernhard Kaster, CDU/CSU, Holger Ortel, SPD, Angelika Brunkhorst, FDP, Eva Bulling-Schröter, Die Linke, sowie Rainder Steenblock, Bündnis 90/Die Grünen.

Bernhard Kaster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003562, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Der vorliegende Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bietet Gelegenheit, die Bedeutung der Meerespolitik für den Schutz der Umwelt sowie den verantwortungsvollen Umgang mit den ökonomischen Ressourcen der Meere vertieft in den Blick zu nehmen. Denn von einem Grundsatz müssen wir ausgehen: Aus dem Meer kommt im sprichwörtlichen Sinne das Leben. Ohne ein gesundes maritimes Ökosystem ist das Leben auf unserem blauen Planeten - unserem blauen Planeten - schlicht unmöglich. Der Antrag der Grünen ist sicherlich gut gemeint; freilich, gut gemeint genügt oft nicht. So auch hier: Die Bundesregierung folgt längst dem Grundanliegen dieses Antrags, den Meeren verstärkt politische Aufmerksamkeit zu widmen. Bereits im vergangenen Jahr, während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft, sind mit der „Bremer Erklärung zur Zukunft der Meerespolitik in der EU“ wesentliche Impulse für eine integrierte Meerespolitik gegeben worden. Inzwischen hat auch die Europäische Kommission eine Mitteilung zur integrierten Meerespolitik der EU vorgelegt, die eine Reihe von bedenkenswerten Anstößen enthält. Zugleich gilt es, von deutscher Seite an der mit der „Bremer Erklärung“ eingeleiteten Fortentwicklung einer integrierten und in sich stimmigen Politik für die Zukunft unserer Meere weiter zu arbeiten. Das Bewusstsein für die Gefährdung der Weltmeere wie auch die Chancen, die sie bieten, betrifft uns Deutsche als Anrainer von Nord- und Ostsee ganz konkret. Angesichts eines im globalen Vergleich kleinen, aber etwa mit Blick auf das Ökosystem Wattenmeer besonders verletzlichen Teils der Meere ist gerade an unseren Küsten stets ein waches Bewusstsein für den Lebensraum Meer vorhanden gewesen. Die Menschen vor Ort, die Bewohner der Küste, sind seit Jahrhunderten mit dem Meer in all seiner Schönheit, zugleich jedoch auch all dem Schrecken seiner immer wieder spürbaren Naturgewalten aufgewachsen. Alle politischen Maßnahmen, die wir von nationaler Seite wie auch auf europäischer Ebene ergreifen, sollten daher stets auf die aktive Kooperation der Küstenbewohner setzen, auf ihr unvergleichliches Erfahrungswissen zurückgreifen. Dazu gehören nicht zuletzt auch die Fischer, die das Meer als täglichen Arbeits- und Lebensraum so gut wie kaum jemand sonst kennen. Leider ist es freilich auch wahr: Manche Exzesse in der Fischerei führen zu erheblichen ökologischen Schäden und ökonomischen Problemen bei der Nutzung der Meere - ich nenne nur das Stichwort Überfischung. Dennoch sollten wir uns hüten, gleich alle Fischer per se unter Generalverdacht zu stellen und ihnen die Sensibilität für die Belange des Schutzes der Meere abzusprechen. Gesetze und Verordnungen, auch die Kontrolle bei der Verfolgung von Verstößen, sind das eine; gemeinsame Kooperation, Beachtung regional gewachsener Strukturen, die Zusammenarbeit mit den Nutzern der Meere vor Ort, an den Küsten und in der Fischerei, müssen andererseits genauso Teil einer integrierten Meerespolitik sein. Beispielhaft für den Beitrag insbesondere der deutschen Fischereiwirtschaft nenne ich etwa deren Engagement in Bezug auf Ökozertifikate für Fischprodukte. Deutschland gehört inzwischen zu den Ländern mit dem höchsten Anteil ökozertifizierter Fischprodukte; im Laufe dieses Jahres wird voraussichtlich die Seelachsfischerei der Erzeugerorganisation Nordsee als erste deutsche Fischerei nach den Kriterien des „Marine Stewardship Council“ zertifiziert und damit demonstrieren, dass ökonomische Nutzung der Meere keineswegs gegen die umweltbewusste Bewahrung des maritimen Naturerbes verstoßen muss. Meere zu schützen und Meere zu nützen: Das ist aus meiner Sicht eben kein Widerspruch. Dies wird dann kein Widerspruch sein, wenn es uns gelingt, in gemeinsamer Anstrengung die Politik der deutschen Küstenländer vor Ort, die Politik der Bundesregierung, Impulse der europäischen Ebene wie auch die globale Zusammenarbeit im Rahmen der Vereinten Nationen noch stärker als bislang zu koordinieren und zu intensivieren. Alles Leben beginnt im Meer; es ist unsere gemeinsame Aufgabe, dafür zu sorgen, dieses Leben in seiner vielfachen Gefährdung zu schützen, damit es uns auch in Zukunft nützen kann.

Holger Ortel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003203, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

„Nachhaltige Meerespolitik beginnt in den Köpfen der Menschen“. So oder so ähnlich können wir die Notwendigkeit eines Europäischen Tages der Meere auf einen Nenner bringen. Dem stimme ich zu. Bislang weiß der Großteil der Bevölkerung kaum etwas von unseren Meeren. Nur die Wenigsten kommen wie ich von der Küste. Dabei ziehen wir alle einen unermesslichen Nutzen aus unseren Meeren, nicht nur aus Nordund Ostsee. Die Meere beeinflussen unseren Speiseplan, unser Wetter, unsere Gesundheit und unsere Energieversorgung. Sie bieten jedes Jahr Millionen Touristen Erholung. Große Teile der Wertschöpfung an der Küste finden im Tourismus statt. Wir können es uns also gar nicht leisten, auf die Meere nicht achtzugeben; aber das tun wir ja auch nicht. Was wir aber tun müssen, ist, die Bevölkerung für unsere Meere zu sensibilisieren. Deshalb begrüße ich es außerordentlich, dass Europäisches Parlament, Europäische Kommission und der Rat der Europäischen Union die Einführung eines Europäischen Tags der Meere beschlossen haben, auch wenn der 8. Juni bereits der weltweite Tag des Meeres ist. Dieser Tag soll das Bewusstsein für unsere Meere in der Bevölkerung schärfen. Bislang hört die öffentliche Wahrnehmung nämlich meist an der Basislinie auf. Und was unterhalb der Wasseroberfläche passiert, ist den meisten mehr oder weniger unbekannt. In Gesprächen merke ich immer wieder, dass viele nur gerade so viel wissen, wie täglich durch die Presse geht. Diese Darstellungen sind aber in der Regel verkürzt und wenig sachlich. Ein Bild davon, was im Meer wirklich passiert, kann man sich durch solche Informationen nicht machen. Deshalb müssen wir davon wegkommen und den Menschen die Meere nahebringen. Die Menschen müssen das Meer erfahren. Heute reicht es meist, im Supermarkt an die Kühltruhe zu gehen und sich sein Mittagessen auszusuchen. Selbst fangen oder ausnehmen muss man den Fisch schon lange nicht mehr. Wo das Seelachsfilet aber eigentlich herkommt, weiß heute kaum noch einer. Das ist ja beim Schweinefleisch oder der Milch nicht anders. Das heißt übrigens nicht, dass niemand weiß, was heute in den Meeren passiert. Alle diejenigen - an Universitäten und Verwaltungen, in Brüssel und auch im Deutschen Bundestag -, die sich schon viele Jahre mit diesem Thema beschäftigen, haben Enormes für den Erhalt und die Verbesserung des guten Zustandes der Meere erreicht. Selbstverständlich gehen die Ansichten je nach Branche ein wenig auseinander. Aber insgesamt ist ein enormes Wissen vorhanden. Zu Protokoll gegebene Reden Ich möchte an dieser Stelle nur grob skizzieren, was wir in den letzten Jahren alles für die Meere getan haben. Die Seeschifffahrt ist sicherer geworden - ich möchte hier nur Doppelhüllentanker ansprechen -, die Schadstoffeinträge wurden verringert, die Eutrophierung ebenfalls. Die sehr oft - häufig zu Unrecht - gescholtene Fischerei unternimmt große Anstrengungen, ihre Tätigkeit noch nachhaltiger zu gestalten. Projekte zur Vermeidung von Discards, Ökozertifizierung, Maßnahmen zu verbesserter Kontrolle und gegen illegale Fischerei, auf allen Ebenen werden enorme Anstrengungen unternommen. Aber die Möglichkeiten sind noch längst nicht ausgeschöpft. Innovative Techniken zur Reduzierung von Schadstoffemissionen, die Nutzung regenerativer Energien an Bord von Schiffen, die landseitige Energieversorgung von im Hafen liegenden Schiffen, die Reduktion der schifffahrtsverursachten Schwefel- und CO2-Emissionen - es gibt noch viel zu tun. Wir müssen mit dem technologischen Fortschritt auch den ökologischen Zustand des Meeres durch nachhaltigen Schiffbau- und betrieb beachten. Die Kommission hat mit dem „Grünbuch Meerespolitik“ den Aufschlag zu einer integrierten Meerespolitik gemacht und den 20. Mai zum Tag des Meeres erklärt. Wir brauchen unbedingt einen ganzheitlichen Ansatz, der die verschiedenen Bereiche der Nutzung der Meere zu koordinieren vermag. Dazu gehört auch eine Raumplanung auf dem Meer. Schon heute haben wir enorme Nutzungskonflikte zwischen verschiedenen Nutzungsformen: Fischerei, Offshorewindparks, Ölplattformen, Schutzgebiete. Alle aufgezählten und noch einige weitere konkurrieren um den Raum auf See. Über die Raumplanung muss ein Weg gefunden werden, all diese Nutzungsformen zu vereinen, ohne eine auszuschließen. In den Meeren existiert ein enormes Wachstumspotenzial. Unsere Werften haben wieder Aufträge für die nächsten 15 Jahre. Im Schiffbau stehen wir weltweit an vierter Position mit Umsätzen von über 6 Milliarden Euro. Ganze Regionen sind zu großen Teilen vom Schiffsbau abhängig - direkt oder indirekt. Auf den Wasserstraßen und auf See nimmt die Anzahl der Containerschiffe stetig zu. Das können wir nur begrüßen; denn wir brauchen die Wertschöpfung an unseren Küsten. Schon heute ist die maritime Wirtschaft einer der Eckpfeiler der europäischen Volkswirtschaft. Auch Deutschlands Rolle als Exportweltmeister ist von der maritimen Wirtschaft abhängig. Die Schifffahrt boomt wie seit Jahren nicht mehr. Unsere Seehäfen werden ausgebaut, oder es entstehen sogar neue. Leider hat das auch negative Auswirkungen durch den zunehmenden Verkehr. Wir alle kennen die Bilder der verunglückten Frachter „Pallas“ oder „Erika“ und die verheerenden Folgen für die Umwelt. Aber der Nutzen wird gewaltig sein. Ein einziges Containerschiff kann Hunderte Lastwagen ersetzen und Platz auf deutschen Straßen schaffen. Eine große Anzahl von Arbeitsplätzen entsteht hier und Zulieferer im weiten Umkreis werden davon profitieren. Die Hafenwirtschaft wächst stetig. Sie wird dieses Jahr rund 300 Millionen Tonnen in Deutschland umschlagen. In der Hafenwirtschaft sind unmittelbar und mittelbar rund 300 000 Menschen beschäftigt. Die Infrastruktur hin zu den Häfen wird massiv ausgebaut. Ich sehe das bei mir im Wahlkreis. Viel lesen können wir auch jeden Tag über die Auswirkungen des Klimawandels und die Erwärmung der Meere. Zu beobachten ist die Erwärmung auch an der Wanderung von Fischschwärmen. Der Kabeljau wandert immer weiter Richtung Norden hin zu kälteren Gewässern. Konnte man vor hundert Jahren in der Nordsee noch Thunfisch angeln, kann man vielleicht bald Sardinen fangen. In der Themsemündung tummeln sie sich schon. Abschließend möchte ich darauf hinweisen, dass ich diesem Antrag große Sympathien entgegenbringe. Die Meere sind dermaßen wichtig, dass wir alles unternehmen sollten, die Meere stärker in das Bewusstsein der Menschen zu bringen. Ich halte allerdings nicht allzu viel davon, diesen Tag hier im Deutschen Bundestag zu beschließen. Ein Tag des Meeres wird doch ausgefüllt von den Menschen vor Ort. Wenn man von jetzt auf gleich einen solchen Tag veranstaltet, wird er keine Wirkung erzielen. Vielmehr muss sich dieser Tag über die Jahre entwickeln. Das kann nur eine Entwicklung über mehrere Jahre sein. Sie können auch nicht das Bewusstsein der Menschen von jetzt auf gleich verändern. Im Ausschuss werden wir über die Umsetzung zu beraten haben. Ob die Mehrheiten für diesen Antrag ausreichen, vermag ich an dieser Stelle nicht zu sagen.

Angelika Brunkhorst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003675, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das Ziel des Antrags zur Einführung des Europäischen Tags der Meere auch in Deutschland ist es, die Sichtbarkeit der maritimen Sektoren zu stärken und so den Blick der Bürgerinnen und Bürger auch in Deutschland auf maritime Angelegenheiten zu lenken und ihr Bewusstsein dafür zu schärfen. Auf europäischer Ebene soll der Tag der Meere dieses Jahr am 20. Mai erstmals begangen werden. Übrigens ist die sogenannte Dreiererklärung am 14. Dezember 2007 nicht verabschiedet worden, wie es im Antrag heißt. Das soll erst mit Unterzeichnung durch den Kommissionspräsidenten, den Parlamentspräsidenten und die slowenische Präsidentschaft am 20. Mai 2008 in Straßburg geschehen. Der Europäische Tag der Meere soll die maritime Gemeinschaft Europas zusammenbringen. Die Rolle der Meere und Ozeane und die zur See gehörenden Sektoren sollen besser sichtbar gemacht und deren Bedeutung für das tägliche Leben stärker ins Bewusstsein der Menschen gerufen werden. Die Ankündigung des Europäischen Tags der Meere soll also Aufmerksamkeit auf maritime Belange richten. Anlässlich des Tags der Meere findet dieses Jahr vom 19. bis 20. Mai in Brüssel eine Konferenz der Interessengruppen statt. Schwerpunkte der Konferenz sind die regionale Gestaltung und Umsetzung der Meerespolitik und der Dialog mit Interessenvertretern. Jährlich sollen jene ausgezeichnet werden, die zur Verbesserung der SichtZu Protokoll gegebene Reden barkeit und des Images der maritimen Sektoren beitragen; es soll einen Jahresbericht über Fortschritte in maritimen Angelegenheiten sowie spezifische Kampagnen zur Steigerung der Sensibilität für maritime Themen und die Organisation einer Reihe von Veranstaltungen geben, die Netzwerke bewährter Praktiken vereinen. Ein weiteres Ziel ist es, Verbindungen zwischen Einrichtungen zur Pflege des maritimen Erbes, Museen und Aquarien für einen Erfahrungsaustausch zusammenzubringen. All diese Aktionen sollen verbunden werden und im selben Zeitraum stattfinden, um so optimale Sichtbarkeit und Medienberichterstattung zu gewährleisten. Die EU-Kommission sieht sich in der Rolle eines Moderators und hofft darauf, dass sich andere EU-Institutionen, Mitgliedstaaten und weitere Akteure diese jährliche Veranstaltung zu eigen machen. Die Bewusstseinsbildung gerade auch für maritime Angelegenheiten, vom Schiffbau über Fischerei und ökologische Fragen bis hin zum Tourismus, ist sicherlich ein berechtigtes Anliegen, das ich als Abgeordnete aus Niedersachsen grundsätzlich unterstütze. Ich frage mich allerdings, ob es Aufgabe gerade der deutschen Bundesregierung ist, ein Konzept vorzulegen, wie mit einem Europäischen Tag der Meere ein Bewusstsein für das maritime Erbe auch auf europäischer Ebene geschaffen werden kann, wie dies im Antrag unter Ziffer 2 gefordert wird. Darüber werden wir in den Ausschüssen beraten.

Eva Maria Bulling-Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002636, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Um es kurz zu machen: Die Linksfraktion begrüßt den Vorschlag der Europäischen Kommmission, des Rates und des EU-Parlaments. Ein Europäischer Tag der Meere, der festlich begangen wird, könnte dazu beitragen, ein Bewusstsein für das gemeinsame maritime Erbe zu schaffen. Ein solches Bewusstsein wäre auch mehr als notwendig. Schließlich ist die Bilanz der menschlichen Eingriffe in die Meereswelt katastrophal. In den letzten hundert Jahren sind die Bestände vieler Fischarten um fast 90 Prozent zurückgegangen, so schätzen Wissenschaftler. Weil sich das Ganze jedoch fernab und unter der Wasseroberfläche abspielt, wird es für viele Menschen wenig greifbar. Das ist beispielsweise beim Waldsterben anders. Lichte Kronen und Mittelgebirge mit Baumstümpfen sind sichtbar. Sie haben viele Bürgerinnen und Bürger für den „Sauren Regen“ und Luftschadstoffe sensibilisiert. Der öffentliche Druck war es vor allem, der zur Verschärfung der entsprechenden Grenzwerte für Industrieund Verbrennungsanlagen geführt hat. Und genau solch ein öffentlicher Druck für den Schutz der Meere fehlt, wenn ich mal von Walen und Delfinen absehe. Kabeljau, Sprotte und Thunfisch haben keine Lobby. Sie werden gnadenlos überfischt. Dabei geht es nicht nur um den Artenschutz, sondern - wie beim Klimaschutz - auch um Solidarität. Denn während Millionen Tonnen wertvoller Meerestiere als Beifänge ungenutzt und tot über Bord gehen, sitzen Millionen von Küstenbewohnern in Afrika vor leeren Tellern. Die Trawler der Industriestaaten saugen ihnen die Meere leer. Legal und illegal. Es geht aber nicht nur um Fische. Das Ökosystem Meer als Ganzes zu begreifen und endlich behutsam zu nutzen - das ist die eigentliche Aufgabe, die vor der Menschheit steht. Schließlich sind die Ozeane neben der Überfischung auch durch organische Überfrachtung und Schadstoffeinträge bedroht. Die Überdüngung der Flüsse aus der Landwirtschaft führt in den Meeren zu gefürchteten Algenblüten. Schwermetalle und hormonelle Stoffe, neuerdings auch nukleare Belastungen, reichern sich in den Organismen an. Zunehmend wird auch Lärm zu einem Problem, insbesondere für Großsäuger. Wie mangelhaft die europäische Meeresschutzpolitik ist, zeigen Grünbuch und Bluepaper der EU-Kommission genauso wie die Entwicklung der europäischen Meeresschutzrichtlinie. Die Gesetzgebung und die Zuständigleiten in Bezug auf den Meeresschutz bleiben zersplittert. Ein ganzheitlicher ökosystematischer Ansatz ist nicht erkennbar. Die Ozeane werden vorrangig als Wirtschaftsgut betrachtet. Meeresschutz ist aber deutlich mehr, als konkurrierende Nutzungsansprüche aus Fischerei, Bergbau, Seefahrt und Tourismus abzugleichen. Abschließend ein Blick nach vorn, der zeigt, dass moderner Meeresschutz und Meeresnutzung sich auch gegenseitig befruchten können. In Neuseeland waren die Fischer einst die stärksten Gegner, als es darum ging, Schutzgebiete einzurichten. Nunmehr gehören die Fischer zu den Verteidigern dieser ökologischen Oasen. Die dort rasant anwachsenden Bestände wandern nämlich aus den Schutzgebieten aus und füllen wieder die Netze. Greenpeace und andere fordern seit langem, auch in anderen Teilen der Welt Meeresschutzgebiete einzurichten, in denen Fischerei und Rohstoffabbau verboten werden. Konkrete Vorschläge gibt es für Nord- und Ostssee sowie für die außereuropäischen Meere. Vielleicht kann ein „Europäischer Tag der Meere“ dazu beitragen, solche Visionen Wirklichkeit werden zu lassen.

Rainder Steenblock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002806, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

In der EU leben 40 Prozent der Bürgerinnen und Bürger in küstennahen Gebieten, wo fast die Hälfte des Bruttoinlandsprodukts erwirtschaftet wird. Wohlstand und Lebensqualität in der Europäischen Union sind direkt mit dem Meer verbunden. Das gilt nicht nur für die Gebiete nahe der Küste, sondern weit darüber hinaus. Die Bedeutung der Meere liegt auch in ihrer Funktion als Handels- und Transportrouten, Klimaregulierer und Lebensraum für Tiere und Pflanzen. Wir alle haben die Verantwortung, unser maritimes Erbe zu schützen und zu erhalten. Doch der enorm steigende Schiffsverkehr, unsichere Öltanker, Überfischung, Überdüngung und vieles mehr gefährden dieses Erbe. Die Europäische Union hat mit dem Blaubuch zur Europäischen Meerespolitik und noch mehr mit der MeeresZu Protokoll gegebene Reden strategie-Richtlinie erste Weichen zum Schutz der Meere gestellt. Nun will die EU mit einem „Europäischen Tag der Meere“ am 20. Mai jedes Jahres das Bewusstsein für das maritime Erbe Europas schärfen. Wir von Bündnis 90/Die Grünen unterstützen diesen Vorschlag und fordern die Bundesregierung in unserem Antrag auf, den Europäischen Tag der Meere am 20. Mai zu feiern. Uns ist aber auch klar, dass der Tag der Meere nur der Auftakt für weitere Initiativen sein kann. Wir brauchen ein langfristiges Konzept, wie das Bewusstsein für das maritime Erbe auf deutscher und europäischer Ebene über die Küstenregionen hinaus gestärkt werden kann. Darüber hinaus müssen auch Nicht-EU-Mitglieder in die Feierlichkeiten einbezogen werden, wie Russland und die Anrainer des Schwarzen Meeres und des Kaspischen Meeres. Denn unsere Meere bieten uns die Möglichkeit für mehr regionale Kooperation. Die Ostsee ist eine zentrale Handelsroute nach Osteuropa. Das Schwarze Meer und das Kaspische Meer werden als Energietransitrouten und Handelswege immer wichtiger. Daher sollten wir nicht nur auf die Ostseekooperation schauen, sondern auch die Kooperation mit den Anrainern des Schwarzen Meeres und des Kaspischen Meeres stärken. Wir dürfen uns nicht ausschließlich auf die Nutzung der Meere konzentrieren. Besonderes Augenmerk müssen wir auch auf den Schutz der Meere richten; denn ohne Schutz keine Nutzung. Der Beschluss der Internationalen Schifffahrtsorganisation, Schweröl in Schiffstreibstoffen ab dem Jahr 2020 zu verbieten und nur noch schwefelarme Treibstoffe zuzulassen, ist ein wichtiger Beitrag für mehr Meeresschutz. Für Nord- und Ostsee gelten sogar noch höhere Standards. Hier ist noch Potenzial, dem Ziel eines sauberen Schiffsverkehrs mit technischen Innovationen wie alternativen Antrieben ein Stück näher zu kommen. Darüber hinaus muss der Schiffsverkehr in den Handel mit Emissionsrechten einbezogen werden. Weitere Forderungen können Sie in unserem Antrag nachlesen, den wir bereits Ende vergangenen Jahrs eingebracht haben. Ein ökologisch wie politisch fragwürdiges Projekt ist die geplante Ostseepipeline. Insbesondere Polen und die baltischen Staaten befürchten, dass Russland die Pipeline als politisches Druckmittel missbrauchen und sie von der Energieversorgung abschneiden könnte. Darüber hinaus wachsen bei den Ostseeanrainern die ökologischen Bedenken angesichts mehrerer Hunderttausend Tonnen Munitionsaltlasten auf dem Grund der Ostsee - zu Recht, denn auf dem Grund von Nord- und Ostsee liegen über 500 000 Tonnen konventioneller Munition und Kampfstoffe. Die Altlasten wurden zum Ende des Zweiten Weltkriegs von den USA, Großbritannien, der Sowjetunion und der deutschen Marine versenkt. Noch heute gelangen Munition und Blindgänger in die Meere, wenn Bundeswehr- und NATO-Verbände die Küstengewässer als Einsatzgebiete nutzen. Minen, Torpedos, Bomben und Granaten gefährden Strandbesucher, Fischer, Wassersportler sowie Meerestiere- und -pflanzen. Von Hinweisschildern an gefährdeten Stränden bis hin zur Klärung der Zuständigkeiten brauchen wir klare Regelungen. Wir Grüne haben hierzu einen Antrag in den Bundestag eingebracht. Tonnenweise Plastikmüll gefährdet Seevögel und Meerestiere und macht Meere und Strände zu Mülldeponien. Die Bundesregierung scheint sich für dieses wachsende Problem nicht sonderlich zu interessieren. „Nichts hören, nichts sehen, nichts wissen“ - so liest sich die Antwort auf unsere Kleine Anfrage. Ein Europäischer Tag der Meere ist ein deutliches Signal für die Glaubwürdigkeit der deutschen wie der Europäischen Meerespolitik. Lassen Sie uns dieses Signal am 20. Mai gemeinsam setzen. Die Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesverkehrsministerium, Karin Roth, hat den Vorschlag eines Europäischen Tags der Meere beim gestrigen Nautischen Abend aufgegriffen. Ich freue mich über die Unterstützung durch die Parlamentarische Staatssekretärin und werbe bei allen Fraktionen um Zustimmung zu unserem Antrag zur Einführung eines Europäischen Tags der Meere.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/8213 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 9. Mai 2008, 9 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen.