Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alle
herzlich. Bevor wir in unsere Tagesordnung eintreten,
gibt es einige Hinweise und Begrüßungen:
Wir alle haben in den vergangenen Tagen die entsetzlichen Bilder aus Birma gesehen. Die genaue Zahl der
Opfer und das volle Ausmaß der Schäden sind uns bis
heute nicht bekannt. Wir begrüßen die Hilfszusagen und
die Bereitschaft vieler Organisationen, hier vor Ort zu
helfen. Wir fordern dringend die staatlichen Instanzen in
Birma auf, diese Hilfe zuzulassen und zu ermöglichen,
die die betroffenen Menschen dringend benötigen.
({0})
Heute ist der 8. Mai. Das ist nicht irgendein Tag im
Jahresverlauf. Am 8. Mai 1945 ist mit der Kapitulation
des Deutschen Reiches der Zweite Weltkrieg zu Ende
gegangen. Diese militärische Niederlage war Voraussetzung für die politische Befreiung nicht nur unseres Landes, sondern auch vieler unserer europäischen Nachbarländer und zugleich Voraussetzung für einen völligen
Neuanfang in Europa. Deswegen begrüße ich heute
Morgen besonders herzlich den Präsidenten des litauischen Parlamentes und seine Delegation. Herr Kollege Juršėnas, wir freuen uns, dass Sie gerade heute im
Deutschen Bundestag zu Gast sind.
({1})
Im nächsten Jahr wird Litauen sein 1 000-jähriges
Staatsjubiläum begehen. In diesem erstaunlich langen
Zeitraum hat es zwischen unseren Ländern über Jahrhunderte hinweg intensive Beziehungen, insbesondere
intensive kulturelle Beziehungen gegeben. Wir sind froh
und dankbar, dass sich diese Beziehungen zwischen unseren Ländern als Mitglieder der Europäischen Gemeinschaft in den nächsten Jahren in ganz enger Kooperation
weiterentwickeln können.
({2})
Die Kollegin Dr. Margrit Spielmann hat am
29. April ihren 65. Geburtstag gefeiert. Dazu möchte ich
ihr im Namen des ganzen Hauses noch einmal herzlich
gratulieren und alles Gute wünschen.
({3})
Es gibt eine interfraktionelle Vereinbarung, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste
aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen
FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Haltung der Bundesregierung zur vorgeschlagenen Einrichtung eines Nationalen Sicherheitsrates
({4})
ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
({5})
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbes-
serung der grenzüberschreitenden Forde-
rungsdurchsetzung und Zustellung
- Drucksache 16/8839 -
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus
Hofbauer, Dirk Fischer ({6}), Dr. HansPeter Friedrich ({7}), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Heinz Paula, Uwe Beckmeyer, Sören
Bartol, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Zwölf-Tage-Regelung in Europa wieder einführen
- Drucksache 16/9076 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({8})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Tourismus
Redetext
Präsident Dr. Norbert Lammert
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Daniel
Bahr ({9}), Heinz Lanfermann, Dr. Konrad
Schily, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Verbesserung der Finanzsituation der Kran-
kenhäuser
- Drucksache 16/9057 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Harald Terpe, Birgitt Bender, Elisabeth
Scharfenberg, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Krankenhäuser zukunftsfähig machen
- Drucksache 16/9008 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
ZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen
der CDU/CSU und der SPD:
Wachstum und Beschäftigung als Grundlage
wirtschaftlicher Sicherheit - Haltung der Bundesregierung zur Entwicklung des Arbeitsmarktes und den Wachstumsperspektiven für
Deutschland
ZP 4 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD
Zukunft der Bahn, Bahn der Zukunft - Die
Bahnreform weiterentwickeln
- Drucksache 16/9070 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({10})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst
Friedrich ({11}), Patrick Döring, Joachim
Günther ({12}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Bahnprivatisierung zügig und konsequent
beschließen
- Drucksache 16/8774 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({13})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried
Hermann, Bettina Herlitzius, Peter Hettlich, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Zukunft des Schienenverkehrs sichern
- Drucksache 16/9071 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Marina
Schuster, Dr. Werner Hoyer, Jens Ackermann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Die Beziehungen zu Lateinamerika und den
Staaten der Karibik stärken und den EULateinamerika/Karibik-Gipfel zu einer ehrlichen Bestandsaufnahme nutzen
- Drucksache 16/9056 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({14})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 8 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes über die Anpassung von Dienst- und
Versorgungsbezügen im Bund 2008/2009
({15})
- Drucksache 16/9059 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({16})
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Verteidigungsausschuss
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
ZP 9 Erste Beratung des von den Abgeordneten Jörg
van Essen, Dr. Max Stadler, Jens Ackermann,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP
eingebrachten Entwurfs eines Achtundzwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Abgeordnetengesetzes
- Drucksache 16/9054 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung ({17})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Haushaltsausschuss
ZP10 Erste Beratung des von den Abgeordneten Jörg
van Essen, Dr. Max Stadler, Jens Ackermann,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion der FDP
eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur
Änderung des Grundgesetzes ({18})
- Drucksache 16/9055 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung ({19})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Haushaltsausschuss
ZP11 Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Bundesbesoldungsgesetzes
- Drucksache 16/1033 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({20})
Verteidigungsausschuss
Haushaltsausschuss
Präsident Dr. Norbert Lammert
ZP12 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE
LINKE:
Haltung der Bundesregierung zu aktuellen
Vorschlägen einer steuerlichen Entlastung von
kleinen und mittleren Einkommen
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, soweit erforderlich, abgewichen werden.
Außerdem ist vorgesehen, den Tagesordnungspunkt 10 - Flächenerwerbsänderungsgesetz - abzusetzen und den Tagesordnungspunkt 12 - Seelotsgesetz ohne Debatte an die Ausschüsse zu überweisen.
Für die Reihenfolge bedeuten diese Veränderungen,
dass die Tagesordnungspunkte 6 und 7, 8 und 9, 13 und
14, 15 und 16 sowie 17 und 18 jeweils getauscht werden
müssen. Ich vermute, dass Sie damit einverstanden sind. Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Wir müssen über einen Antrag auf Erweiterung der
Tagesordnung entscheiden. Die Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD haben fristgerecht beantragt, die heutige Tagesordnung um die Beratung ihres Antrages sowie der Anträge der Fraktion der FDP und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen zur Bahnreform auf den Drucksachen 16/9070, 16/8774 und 16/9071 zu erweitern. Die
Vorlagen sollen mit einer Debattenzeit von eineinviertel
Stunden im Anschluss an die heutige Aktuelle Stunde
beraten werden. Die Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen haben dem Aufsetzungsantrag widersprochen. Darüber ist nun zu entscheiden.
Ich erteile dazu das Wort der Kollegin Dr. Dagmar
Enkelmann.
({21})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Fraktion Die Linke widerspricht der Aufsetzung des genannten Tagesordnungspunktes auf die Tagesordnung. Es
geht um die Bahnreform. Es ist guter Brauch und auch in
unserer Geschäftsordnung so geregelt, dass wir die Tagesordnung in der vorangehenden Sitzungswoche im Ältestenrat einvernehmlich verabreden. Das ist in der letzten Sitzungswoche auch so geschehen. Da war von der
Bahnreform keine Rede. Am Dienstag nun erfuhren wir
von der Koalition, dass dieser Punkt schnell zusätzlich
auf die Tagesordnung gesetzt wird. Dem haben wir widersprochen; das ist vom Präsidenten völlig korrekt gesagt worden.
Nun steht es der Mehrheit der Koalition in diesem
Hause frei, die Tagesordnung je nach Belieben zu verändern. Die Opposition ist hierbei leider nur ein Stück Petersilie. Aber mit der Änderung der Tagesordnung - darauf möchte ich aufmerksam machen - wird der Weg
dafür frei gemacht, das Thema Bahnprivatisierung sozusagen im Affentempo durch das Parlament zu jagen.
({0})
Denn wenn wir heute tatsächlich die erste Lesung durchführen, dann wird morgen eine Sondersitzung des Verkehrsausschusses, der eine Anhörung beantragen wird,
stattfinden. Die Anhörung wird es bereits am Montag
der nächsten Sitzungswoche geben, am Mittwoch wird
die abschließende Beratung im Verkehrsausschuss folgen und auch noch in der gleichen Sitzungswoche die
abschließende Beratung im Plenum. Das heißt, wir haben keine Gelegenheit, tatsächlich ausführlich über dieses Thema zu beraten.
Ich kann mich gut an die erste Stufe der Bahnreform
1993 erinnern; es gibt noch Kollegen hier im Haus, die
sich ebenfalls daran erinnern können. Wir haben hier
monatelang darüber beraten. Es gab mehrere Berichterstatterrunden und Gespräche mit Vertretern aus Ministerien, der Bahn usw. usf. Wir haben hier lange beraten
und hatten auch in den Fraktionen lange Gelegenheit,
darüber zu beraten. Diese Gelegenheit ist jetzt durch dieses Tempo nicht gegeben. Deswegen widersprechen wir
der Aufsetzung auf die Tagesordnung.
({1})
Nun darf man sich, glaube ich, berechtigt fragen: Warum eigentlich diese Eile? Warum wollen Sie dieses
Tempo? Haben Sie möglicherweise Sorge, dass sich der
öffentliche Widerstand gegen die Bahnprivatisierung
verstärkt, oder - jetzt schaue ich vor allem zu den Kolleginnen und Kollegen der SPD - hat die Fraktionsspitze
Sorge, dass sich auch der Widerstand in der SPD-Fraktion verstärkt?
({2})
Denn so langsam, Kollege Struck, sickert durch, dass die
Belange der Beschäftigten im Tarifvertrag nicht eindeutig geregelt sind. So langsam sickert auch durch, dass es
möglicherweise nicht bei einer Privatisierung von
24,9 Prozent bleiben wird. Die Kanzlerin hat ja eindeutig gesagt, dass es für sie der Einstieg ist, dem Weiteres
folgen wird. Wir wissen auch, dass es durch die Privatisierung der Kapitaltochter möglich sein wird, weitere
Tochtergesellschaften zu gründen. Das heißt, der Weg
für eine weitere Privatisierung der Bahn wird frei gemacht.
Ich finde es interessant, dass Kollege Mehdorn
({3})
inzwischen klar gesagt hat: von wegen Geld für die Sanierung der Bahnhöfe ausgeben! Kollege Mehdorn hat
auch eindeutig gesagt, er möchte weitere Logistikunternehmen in der Welt kaufen. Deswegen wollen Sie das
Thema so schnell und so reibungslos wie möglich durch
das Parlament bringen. Das ist mit uns nicht zu machen.
Hier geht es um öffentliches Eigentum und um öffentliche Daseinsvorsorge. Dazu brauchen wir eine ausführliche Beratung. Wir sind regelrecht gezwungen, uns ausführlich damit zu beschäftigen. Das ist mit Ihrem
Vorschlag nicht gegeben.
Danke.
({4})
Das Wort erhält nun der Kollege Thomas Oppermann.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Verehrte
Frau Enkelmann, Ihr Geschäftsordnungsantrag ist der
durchsichtige Versuch, das Verfahren in einer Situation,
in der Sie in der Sachdebatte nicht mehr durchdringen,
zu kritisieren.
({0})
Die Koalition hat ein Konzept für eine Bahnreform vorgelegt, bei der ein modernes Staatsunternehmen entsteht
mit einer limitierten privaten Kapitalbeteiligung in Höhe
von 24,9 Prozent, bei der das private Kapital hilft, das
Wachstum für die DB AG zu ermöglichen, das Eigenkapital zu stärken und neue Investitionen vorzunehmen.
({1})
Das sichert auch die 230 000 Arbeitsplätze bei der
DB AG. Ich weiß nicht, warum Sie meinen, wir müssten
uns so viel Zeit nehmen, um das sicherzustellen.
({2})
Es wird einen Tarifvertrag geben, der diese Arbeitsplätze
bis 2023 sichert.
Dies ist ein Konzept, das Hand und Fuß hat und
durchdacht ist. Gegen dieses Konzept passen Ihre alten
Argumente gegen die schlichte Privatisierung überhaupt
nicht mehr. Deshalb kritisieren Sie das Verfahren. Das
Verfahren ist aber völlig in Ordnung.
({3})
Im Ausschuss ist in dieser Woche gründlich darüber
diskutiert worden. Der Ausschuss hat einstimmig - ich
wiederhole: einstimmig; Ihre Leute haben nicht einmal
dagegengestimmt - bei Enthaltung der Linken dafür gestimmt, eine Expertenanhörung durchzuführen. Es wird
also eine Anhörung stattfinden, und dieses Thema wird
sorgfältig beraten. Das ist kein „Affentempo“, wie Sie es
genannt haben. Das ist auch kein ICE-Tempo. Das ist
normales Regionalexpresstempo.
({4})
Der Bundestag muss gründlich diskutieren, aber er muss
auch entscheiden. Das wird in diesem Monat passieren.
Deshalb bitte ich Sie, den Antrag von Frau Enkelmann
zurückzuweisen.
Vielen Dank.
({5})
Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für den
Aufsetzungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und
der SPD? - Wer stimmt gegen den Antrag? - Dann ist
der Aufsetzungsantrag mit der Mehrheit des Hauses an-
genommen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 d auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Cajus Caesar,
Marie-Luise Dött, Dr. Christian Ruck, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Heinz Schmitt ({1}), Marco Bülow, Dirk Becker, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Weltnaturschutzgipfel 2008 in Bonn - Biologische Vielfalt schützen, nachhaltig und gerecht nutzen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Angelika
Brunkhorst, Michael Kauch, Horst Meierhofer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
FDP
Leitlinien für den internationalen Artenund Lebensraumschutz im Rahmen des
Übereinkommens über die biologische Vielfalt
- zu dem Antrag der Abgeordneten Renate
Künast, Undine Kurth ({2}), Ulrike
Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Erhalten, was uns erhält - Die UN-Konferenzen zur biologischen Sicherheit und zum
Übereinkommen über die biologische Vielfalt zum Erfolg machen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Angelika
Brunkhorst, Michael Kauch, Horst Meierhofer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
FDP
Naturschutz praxisorientiert voranbringen Entwicklung der Wildtiere in Deutschland
- zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Nationale Strategie zur biologischen Vielfalt
- Drucksachen 16/8756, 16/8878, 16/8890,
16/8077, 16/7082, 16/9106 Berichterstattung:
Abgeordnete Josef Göppel
Heinz Schmitt ({3})
Lutz Heilmann
Undine Kurth ({4})
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({5}) zu dem
Antrag der Abgeordneten Angelika Brunkhorst,
Michael Kauch, Birgit Homburger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Präsident Dr. Norbert Lammert
Allgemeine Grundsätze für den Naturschutz
in Deutschland
- Drucksachen 16/3099, 16/7278 Berichterstattung:
Abgeordnete Josef Göppel
Dirk Becker
Lutz Heilmann
Undine Kurth ({6})
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Lutz
Heilmann, Eva Bulling-Schröter, Hans-Kurt Hill,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
UN-Biodiversitätsgipfel durch Vorreiterrolle
beim Schutz der biologischen Vielfalt und fai-
ren Nord-Süd-Ausgleich zum Erfolg führen
- Drucksache 16/9066 -
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Thilo
Hoppe, Bärbel Höhn, Undine Kurth ({7}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Tropenwaldschutz braucht solide Finanzierung - Entwaldung vermeiden, Klima- und
Biodiversität schützen
- Drucksache 16/9065 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({8})
Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung über
eine Nationale Strategie zur biologischen Vielfalt liegt ein
Entschließungsantrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die
Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Dazu
höre ich keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst dem Kollegen Heinz Schmitt für die SPD-Fraktion.
({9})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es geht
heute nicht nur um den Naturschutz, sondern auch um
die Vielfalt des Lebens auf unserer Erde.
Es ist durchaus angebracht, dass das Publikum auch
nach der Geschäftsordnungsdebatte hier bleibt. Denn als
Gastgeber der 9. Konferenz der Vertragsstaaten des Abkommens zur Biodiversität wird Deutschland in den
nächsten Tagen und Wochen eine wichtige Rolle spielen;
die Abkürzung für „Convention on Biological Diversity“
lautet übrigens CBD. Deutschland hat als Gastgeber dieses höchsten Beschlussorgans eine wichtige Rolle, weil
sich die internationale Staatengemeinschaft vorgenommen hat, den rasant fortschreitenden Verlust an Biodiversität bis zum Jahre 2010 zu stoppen bzw. ihn zumindest zu bremsen.
Es ist auch aus einem anderen Grunde wichtig, dass
diese Konferenz mitten in Europa stattfindet: Biodiversität ist für die Zukunft der Menschheit ein so wichtiges
Thema, dass es aus der Nische von Expertenrunden heraus muss. Biodiversität verdient genauso große Aufmerksamkeit wie die Gefahren, die durch den Klimawandel verursacht werden. Vom Verlust der Arten sind
keineswegs nur die sogenannten Entwicklungsländer betroffen. Biologische Vielfalt ist auch für die Industriestaaten von existenzieller Bedeutung.
({0})
Der Begriff „Biodiversität“ steht zum einen für die
Schönheit unserer Erde und für die Vielfalt von Tieren
und Pflanzen; Sie alle haben sicherlich schon einmal den
wunderschönen Film „Unsere Erde“ gesehen, in dem die
Vielfalt der Tier- und Pflanzenwelt eindrucksvoll dargestellt wird. Zum anderen steht dieser Begriff für Lebensräume, in denen unterschiedlichste Lebewesen perfekt
zusammenspielen. Es geht dabei um genetische Informationen, die Tiere und Pflanzen befähigen, sich an unterschiedlichste Lebensbedingungen anzupassen.
Das ist eine Fähigkeit der Natur, in die wir sehr große
Hoffnungen setzen, in die wir unsere Hoffnungen allerdings auch setzen müssen. Denn wir hoffen, dass es uns
diese Fähigkeit der Natur vielleicht ermöglicht, Schäden,
die durch Übernutzung und Zerstörung natürlicher Lebensgrundlagen entstanden sind, aufzufangen und auszugleichen. Ich spreche bewusst von „Hoffnungen“.
Denn wir wissen nicht, ob und mit welchem Aufwand all
das, was uns die Natur kostenlos und in ausreichendem
Maße zur Verfügung stellt, ohne Weiteres ersetzbar ist.
Zu diesen Dienstleistungen der Natur, wie man sie
nennt, gehören zum Beispiel der Sauerstoff aus den grünen Lungen der Wälder, den wir einatmen, Nahrungsmittel, die Energie von Feldern und aus Meeren und
Rohstoffe für Arzneimittel aus Pflanzen. Durch die Erhaltung der Biodiversität soll also gewährleistet werden,
dass wir die Grundlagen unseres Lebens auch morgen
und übermorgen noch in Anspruch nehmen können. Von
der Vielfalt des Lebens erhoffen wir uns darüber hinaus
Lösungen für die drängendsten Probleme der Menschheit.
Wir müssen die Ernährung der Weltbevölkerung - bis
zum Jahr 2050 ist ein Wachstum auf 9 Milliarden Menschen zu erwarten - sicherstellen. Wir müssen dem Klimawandel begegnen. Damit habe ich nur die größten
Baustellen benannt. Es geht also darum, die biologische
Vielfalt so weit wie möglich zu erhalten. Das ist für uns,
für die ganze Menschheit, überlebenswichtig; das muss
die Staatengemeinschaft begreifen. Daher ist dem
Thema ein entsprechender Stellenwert einzuräumen.
Heinz Schmitt ({1})
Als Gastgeber einer Konferenz zur biologischen Vielfalt muss man zunächst einmal die eigenen Hausaufgaben gemacht haben. Daher begrüßen wir es, dass die
Bundesregierung im November letzten Jahres die Nationale Strategie zur biologischen Vielfalt beschlossen
hat. Diese Strategie umfasst ambitionierte, konkrete
Ziele und Maßnahmen, mit denen die biologische Vielfalt in Deutschland geschützt und gesichert werden soll.
Dabei werden zeitliche Vorgaben für die Umsetzung gemacht. Damit hat Deutschland einen wichtigen Schritt
für den Naturschutz und für eine nachhaltige Nutzung
der Natur im eigenen Lande getan. Das war eine wichtige Voraussetzung dafür, dass Deutschland den Vorsitz
der CBD-Konferenz im Mai übernehmen kann.
Wir Sozialdemokraten erhoffen uns von der 9. Vertragsstaatenkonferenz, dass wir auch international deutlich vorankommen. Wir haben mit unserem Koalitionspartner den vorliegenden Antrag formuliert. Wir
brauchen zum Beispiel Fortschritte - das ist Teil unseres
Antrags - im Hinblick auf die Gewährleistung eines gerechten Zugangs zu genetischen Ressourcen; die Vorteile aus der Nutzung genetischer Ressourcen sind gerecht zu verteilen. In Bonn sollen Regeln für den Zugang
und für den Vorteilsausgleich erarbeitet werden.
Wir wollen neue Möglichkeiten der Finanzierung erschließen, um auch dadurch natürliche Lebensräume zu
erhalten. Dies dient gleichermaßen dem Arten- und dem
Klimaschutz. Wir brauchen mehr Schutzgebiete zu Land
und zu Wasser sowie, wenn man so will, neue World
Wide Webs der Biodiversität.
({2})
Insbesondere auf dem Meer, wo bisher nur 1 Prozent der
Flächen geschützt ist, müssen wir noch weit mehr tun.
Es gibt also in den zwei Wochen der CBD-Konferenz in
Bonn einiges zu stemmen.
Mir ist es wichtig, dass wir beim Thema Biodiversität
den Blick nicht nur in die Ferne richten. Wir müssen
auch vor der eigenen Haustür kehren. Für mich sind
Energie- und Ressourceneffizienz wesentliche Bausteine bei der Erhaltung der Biodiversität. Deshalb müssen wir unsere Konsum- und Wegwerfgesellschaft
stärker hinterfragen. Wir müssen aufhören, unsere Luxusprobleme auf dem Rücken und zulasten von Entwicklungsländern zu lösen. Es gibt keine Rechtfertigung
dafür, dass billiges Turbofleisch und Spritschlucker auf
den Straßen hierzulande zu einer Konkurrenz beim Anbau von Nahrungsmitteln führen.
({3})
Ich begrüße den in diesen Zusammenhängen behutsamen und sensiblen Umgang unseres Umweltministers.
Ich wünsche der Bundesregierung, dass sie viele der
anspruchsvollen Ziele während der Konferenz in Bonn
erreichen wird. Wir, das Parlament, freuen uns, dass wir
diese Arbeit aktiv begleiten dürfen und in der heutigen
Debatte unsere Übereinstimmung hinsichtlich der Ziele
deutlich machen können.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({4})
Angelika Brunkhorst ist die nächste Rednerin für die
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Natur ist unser
größter Schatz. Wir stehen unverändert in der Pflicht, die
natürlichen Lebensgrundlagen der kommenden Generationen in ökologischer, ökonomischer, aber auch sozialer
Hinsicht entschlossen und umsichtig zu bewahren und
weiterzuentwickeln. Wir müssen unseren Kindern und
Kindeskindern eine artenreiche Natur hinterlassen, so
dass auch sie noch von den Ökosystemdienstleistungen
der Natur profitieren können.
({0})
Daher müssen wir den Verlust an biologischer Vielfalt
aufhalten.
Jede verschwundene Art - Tierart oder Pflanzenart ist unwiederbringlich. Das Aussterben von Pflanzen
und Tieren - das muss klar sein - kann man anders als
andere Umweltzerstörungen nicht rückgängig machen.
Indem wir die Biodiversität schützen, sichern wir Nutzungsoptionen für die Zukunft sowohl für die Ernährung
als auch für die Gesundheit und die Produktentwicklung.
Ein Beispiel: Eine Verarmung der ökologischen Facetten bei den Nutztieren und den Nutzpflanzen würde
ihre potenzielle Widerstandsfähigkeit gegen Krankheitserreger und Schädlinge mindern. Im Hinblick auf die
Verfügbarkeit von Heilmitteln sind pflanzliche Wirkstoffe vielleicht eines Tages wichtig, um Krankheiten,
die wir heute noch nicht kennen, bekämpfen zu können.
Bereits heute ist die Natur Vorbild für Hightechprodukte. Auch für die innovativen Produkte der Zukunft
werden wir von der Natur viel lernen können.
Veränderungen in Bezug auf die Biodiversität hat es
in der Erdgeschichte immer gegeben: Es sind Arten entstanden, es sind Arten verschwunden. Dieses Entstehen
und Verschwinden von Arten ist ein Teil der Natur, auch
ohne dass der Mensch eingreift. Es geht nicht darum,
Momentaufnahmen zu konservieren, entscheidend ist
vielmehr, dass wir die Fähigkeit der Ökosysteme, sich
verändernden Gegebenheiten - zum Beispiel einem sich
verändernden Klima - anzupassen, erhalten.
Was müssen wir tun? Wir müssen die Populationen,
die genetischen Ressourcen und die Lebensräume schützen. Wir haben in dieser Hinsicht schon eine Menge getan: Es gibt die FFH-Richtlinie. Es gibt die Vogelschutzrichtlinie, die nicht immer zur Freude aller umgesetzt
wird; aber es gibt sie, und wir haben da einiges erreicht.
Wir müssen die Schutzgebiete nun weiter vernetzen.
({1})
Wir nehmen die Leistungen der Natur in Anspruch
und dies oft als scheinbar kostenloses Gut. Wir müssen
uns aber immer wieder bewusst machen, dass die ökonomische Bewertung und damit auch die soziale BedeuAngelika Brunkhorst
tung der Natur gar nicht hoch genug angesetzt werden
kann. Deswegen möchte ich sechs Forderungen anführen, die uns Liberalen besonders wichtig sind:
Erstens. Der Schutz der Biodiversität kann nicht allein staatliche Aufgabe sein, er ist ein gesamtgesellschaftliches Anliegen, er erfordert die Anstrengungen aller gesellschaftlichen Gruppen: der Industrie, der Landund Forstwirtschaft, letztlich jedes einzelnen Bürgers.
Private Initiativen sind immer willkommen; so etwas
kann nur helfen.
({2})
Zweitens. Die Forschungsanstrengungen müssen verstärkt und besser koordiniert werden. Wir haben nach
wie vor ein enormes Wissensdefizit, das wir durch konzertierte und international vernetzte verstärkte Forschungsaktivitäten beheben müssen. Wir müssen die
Biodiversität als eigenständiges Forschungsgebiet anerkennen und dieses eigenständige Forschungsgebiet personell und materiell gut ausstatten. Ich gehe davon aus,
dass wir die politischen Entscheidungen der Zukunft nur
auf fundierter, belastbarer Datengrundlage treffen können.
Drittens. Wir halten es für wichtig, den ökonomischen
Nutzen der biologischen Vielfalt gerade für die Schwellen- und Entwicklungsländer herauszustellen, um auch
ihr Interesse an der wirtschaftlichen Nutzung zu wecken.
Die Vorteile, die aus der Nutzung genetischer Ressourcen resultieren, müssen natürlich angemessen honoriert
werden. Beim Natur- und Artenschutz sollte deshalb mit
den indigenen Völkern vor Ort zusammengearbeitet
werden.
({3})
Wir sind ja dabei, ein internationales Regelwerk auf den
Weg zu bringen, welches den Zugang zu genetischen
Ressourcen - und damit den Genuss der Vorteile, die
daraus entstehen - einerseits und einen gerechten Ausgleich für die Nutzung andererseits rechtsverbindlich
und zugleich unbürokratisch regelt. Es geht um das sogenannte ABS-Regime - ABS steht für Access and Benefit Sharing -, das auf der bevorstehenden Konferenz
und danach vorangebracht werden muss. Dies muss aktiv geschehen; denn natürlich ist das ABS-Regime nicht
ohne Schwierigkeiten auf den Weg zu bringen.
Viertens. Wir wollen das Verständnis der Menschen in
unserem Land für die ökologischen Zusammenhänge
verbessern. Nur wer die Umwelt kennt, nur wer weiß,
was in der Natur wie funktioniert, weiß den Wert der Natur zu schätzen und wird die Natur schützen wollen. Darum ist es wichtig, die Umweltbildung zu stärken, ganz
früh anzufangen, noch in den Kindergärten. Gerade die
jungen Menschen müssen den Wert der Natur erleben
können. Es muss attraktiv sein, sich mit diesen Themen
zu befassen.
Fünftens. Ein ganz dringender Handlungsbedarf besteht aus unserer Sicht im Bereich der großen Ökosysteme, also für den Schutz der Wälder und der großen
Meere als der größten Reservoire der globalen Artenvielfalt. Neben vielen Teilaspekten ist uns hier insbesondere wichtig, dass die Reproduktionsmöglichkeiten der
betreffenden Ökosysteme nicht überfordert werden. Wir
brauchen sowohl im maritimen Bereich als auch für den
Erhalt der Wälder Schutzgebiete. Diese großen Schutzgebiete müssen durch spezielle Fonds abgesichert werden. Erste Überlegungen dazu gibt es. Der ITT-Fonds in
Ecuador ist ein Beispiel dafür.
({4})
Ein ganz wichtiger Punkt für mich ist, dass auch in
Schutzgebieten Forschung unter Auflagen möglich sein
sollte. Wissenschaftler beklagen zunehmend, dass sie
ausgesperrt werden. Das darf nicht der Fall sein. Die
Wissenschaftler müssen Zugang zu allen Schutzgebieten
haben.
({5})
Sechstens. Für den Weg von der Biodiversitätsstrategie hin zur Umsetzung brauchen wir natürlich konkrete
Arbeitsprogramme. Dabei kommt den vielen zusätzlichen Akteuren auf den verschiedenen politischen und
gesellschaftlichen Ebenen natürlich eine besondere Bedeutung zu. Ich nenne die Bundesländer, die Kommunen, die Verbände, die Wirtschaft und letztlich auch die
Bürger. Hier haben wir Liberale ganz besonders den Anspruch, dass ein Wettbewerb der Lösungen zugelassen
wird; denn die Menschen vor Ort wissen teilweise sehr
gut Bescheid und können bestimmte Leitlinien hervorragend umsetzen.
({6})
Zum Schluss noch einmal zur COP 9 in Bonn.
Deutschland übernimmt bei der Konferenz den Vorsitz.
Das ist eine große Verantwortung. Ich denke, insbesondere Bundesumweltminister Gabriel wird sich an den
Konferenzergebnissen messen lassen müssen.
Wir erwarten natürlich insbesondere Fortschritte bei
den Verhandlungen über das ABS-Regime. Das habe ich
schon gesagt. Ich denke, dabei müssen wir auch so korrekt sein, zu sagen: Wir müssen zwar konkrete Vereinbarungen treffen, aber sie müssen auch erfüllbar sein.
({7})
Es nützt uns nichts, utopische Ziele zu vereinbaren.
Ich wünsche mir, dass das Thema Biodiversivität
noch stärker kommuniziert wird und dass es sich noch
stärker im Bewusstsein und in den Herzen der Menschen
verankert. Uns allen wünsche ich in Bonn einen guten
internationalen Erfahrungsaustausch und konkrete Vereinbarungen zum Wohle unserer Schatzkiste Natur.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({8})
Das Wort erhält nun die Kollegin Katherina Reiche,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Weltnaturschutzgipfel in Bonn muss zu einem Erfolg
werden. Klimaschutz und Artenschutz gehören zusammen. Wir sind verpflichtet, diese Konferenz zu einem Erfolg zu führen, um beidem gleichermaßen gerecht zu werden.
Schopenhauer hat einmal sinngemäß formuliert, dass
man, wenn man der Natur die Daumenschrauben anlegt,
auch hinhören muss, was die Natur sagt.
Was uns die Natur sagt, ist ziemlich unmissverständlich. In den vergangenen 50 Jahren haben wir das Ökosystem schneller und weitreichender verändert als je zuvor. Dies hat zu einem beträchtlichen, ja zum Teil
irreversiblen Verlust der Vielfalt des Lebens auf unserem
Planeten geführt, der wiederum unser Leben maßgeblich
beeinträchtigt.
Manch einer wird sagen: Gut, das hat es in der Vergangenheit auch schon gegeben. - In einer Theorie wird
davon ausgegangen, dass ein Meteorit auf die Erde einschlug, aufgrund dessen die Dinosaurier ausgestorben
sind. Bildlich gesprochen schlägt hier ein Meteorit seit
50 Jahren permanent auf die Erde ein. Als Folge daraus
hat sich das Artensterben - sehr konservativ gerechnet mindestens um den Faktor 100 gegenüber dem normalen
Verlauf innerhalb der Evolution beschleunigt. Das ist
dramatisch.
Gegenwärtig sind wir in unserem politischen Tagesgeschäft damit beschäftigt, den Klimawandel in halbwegs verträglichen Bahnen zu lassen. Ich sagte bereits,
dass der ungebremste Klimawandel und der Verlust von
Artenvielfalt unmittelbar miteinander verbunden sind.
Die ökologische Uhr tickt beharrlich und schnell, aber
sehr leise. Ein geschlossenes, gemeinsames Handeln ist
also gefragt.
Wenn man sieht, wie viele Millionen Zuschauer durch
Filme wie Deep Blue, Unsere Erde oder auch Die Reise
der Pinguine in die Kinosäle gehen, so hat das bestimmt
mit den fantastischen Bildern zu tun, vielleicht aber auch
mit einer Vorahnung, ja, Furcht vieler Menschen, Zeuge
eines unwiederbringlichen Verlustes von Artenvielfalt
und der Schönheit unseres Planeten zu sein. Unsere
Fraktion hat auch - maßgeblich durch den Kollegen
Ruck - einen sehr erfolgreichen Kongress organisiert, an
dem Experten aus aller Welt teilgenommen haben, die
uns beispielhaft das Artensterben und den Klimawandel
sowie deren Auswirkungen sehr deutlich vor Augen geführt haben. Biodiversität ist die Grundlage unseres gewohnten Lebens auf dem Blauen Planeten und eine der
wichtigsten Säulen der nachhaltigen Entwicklung.
Der weltweite Reichtum an Lebensformen ist unsere eigentliche Lebensgrundlage, ohne die es kein ausreichendes Trinkwasser, keine ausreichende Lebensmittelversorgung, Medizin und Kleidung gibt. Auch bei
Naturkatastrophen sorgt die Artenvielfalt dafür, dass der
Zyklus des Lebens nicht abbricht.
Es gibt noch eine weitere Dimension. Wir diskutieren
zurzeit intensiv die Folgen von Armut und Hunger. Gerade die Ärmsten der Welt sind auf Artenvielfalt angewiesen. Denn wenn die Artenvielfalt klimatisch beeinträchtigt wird und das Wasser knapper wird, dann hat
das katastrophale Folgen. Allein auf unserem Nachbarkontinent Afrika könnten bis zum Jahr 2020 250 Millionen Menschen betroffen sein. Welche Migrationsbewegungen das auslösen kann, mag man sich gar nicht
vorstellen. Deshalb brauchen wir - auch in bestverstandenem Eigeninteresse - eine präventive, vorausschauende Umweltdiplomatie.
({0})
Damit komme ich zur Naturschutzkonferenz in
Bonn, die ab 19. Mai dieses Jahres in Bonn stattfinden
wird. Sie wird maßgeblich von vier Fragen geprägt sein:
Erstens. Wie können wir die biologischen Ressourcen
stärker als bisher den Ländern zugutekommen lassen,
aus denen sie stammen? Zweitens. Wie kann mit innovativen Ansätzen erreicht werden, dass zum Schutz der Artenvielfalt mehr Geld zur Verfügung steht? Drittens. Wie
können wir das von Deutschland mitinitiierte, weltweite
Netz von Schutzgebieten erweitern, und gelingt auch ein
Schutz maritimer Lebensgebiete? Viertens - last but not
least - haben sich die bisherigen Beschlüsse zum Schutz
der Wälder als äußerst fruchtbar erwiesen. Sie müssen
aber insbesondere mit Blick auf den Klimawandel dringend erweitert werden. Gerade beim Thema Wald besitzen wir in Deutschland weltweit wohl einmalige Kompetenzen.
({1})
Auf der 9. Vertragsstaatenkonferenz in Bonn muss
mehr erreicht werden als in den vergangenen 16 Jahren
seit dem Erdgipfel 1992 in Rio, der maßgeblich von
Klaus Töpfer und Helmut Kohl mitgeprägt wurde und
immer noch eine wichtige Tragsäule internationaler Umweltpolitik ist. Rio war definitiv ein Meilenstein für die
Integration von Umwelt- und Entwicklungsbestrebungen. Auf diesem Weg müssen wir weiter vorangehen.
Ich glaube auch, dass die Konferenz in Bonn mit die
letzte Gelegenheit ist, den Beschluss der Staats- und Regierungschefs umzusetzen, der auf dem Gipfeltreffen
von Johannesburg im Jahre 2002 beschlossen wurde,
nämlich dem Verlust der biologischen Vielfalt bis 2010
entscheidend entgegenzutreten.
Rund ein Fünftel der globalen Treibhausgasemissionen ist auf die Waldzerstörung zurückzuführen. Wenn
uns beim Thema Waldschutz kein entscheidender Fortschritt gelingt, dann wird unser Blauer Planet wesentliche Teile seiner grünen Lunge einbüßen.
Deutschland hat mit seiner glaubwürdigen Umweltund insbesondere Klimaschutzpolitik weltweit großes
Vertrauen aufgebaut. Dieses Kapital des internationalen
Vertrauens können wir nun investieren, wenn es darum
geht, den Schutz der weltweiten Artenvielfalt zu verbessern. Zwar haben wir selbst mit nur circa 4 Prozent
einen relativ geringen Anteil an der weltweiten Artenvielfalt, aber auch bei uns steht nicht alles zum Besten.
36 Prozent der Tierarten und 27 Prozent der Farn- und
Blütenpflanzen gelten als gefährdet. Aber Deutschland
ist in den vergangenen Jahren beim Artenschutz aktiv
Katherina Reiche ({2})
gewesen. Mit unserer Nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt, die im November 2007 durch das Kabinett verabschiedet wurde, haben wir ein Zeichen gesetzt,
über 300 konkrete Ziele benannt und über 400 Maßnahmen beschlossen.
Die eigentlichen Biodiversitätsbrennpunkte mit rund
80 Prozent aller Tier- und Pflanzenarten der Erde befinden sich aber nicht hier, sondern in den Schwellen- und
Entwicklungsländern Afrikas, Lateinamerikas und
Asiens. Wir müssen diese Staaten beim verantwortungsbewussten Umgang mit der Natur unterstützen, damit
die Zentren der biologischen Vielfalt nicht unwiderbringlich verschwinden.
Ich möchte aus Sicht meiner Fraktion die Schritte benennen, die dabei wichtig sind. Wald- und Biodiversitätsschutz müssen noch stärker durch die klassischen
Instrumente der Entwicklungspolitik flankiert werden.
Klima- und Biodiversitätsschutz müssen besser verzahnt
werden, um effiziente Maßnahmen für beide Bereiche zu
identifizieren und umzusetzen. Eine konzertierte Initiative der Industriestaaten ist notwendig, um die überfällige Umsetzung der CBD-Beschlüsse im Bereich Wald
und Schutzgebiete sicherzustellen. Den Emissionshandel
in der Europäischen Union sollten wir ab 2013 auch für
andere Zertifikate öffnen, um Möglichkeiten der Naturschutzfinanzierung zu fördern. Dies dient dem Schutz
der Artenvielfalt. Finanzielle Mittel müssen effizient
eingesetzt werden, um Parallelstrukturen zu verhindern.
Staatliche Mittel sollten intelligent in Partnerschaften
mit der Wirtschaft und dem privaten Naturschutz zum
Schutz der Biodiversität investiert werden. Gleichzeitig
brauchen wir eine gesamtgesellschaftliche Allianz zur
Bewahrung der Artenvielfalt, der sich auch Unternehmen anschließen.
Zum Abschluss möchte ich Sie herzlich bitten, gemeinsam in den kommenden Wochen alles dafür zu tun,
dass die Konferenz in Bonn ein Erfolg wird. Ich wünsche der Frau Bundeskanzlerin und dem Bundesumweltminister dabei eine glückliche Hand und größtmögliches
Durchsetzungsvermögen. Ich bin sicher, dass Sie, die
Regierung, und alle anderen, die an diesem Prozess beteiligt sind, mit Unterstützung aus der Großen Koalition
rechnen können.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Nächster Redner ist der Kollege Lutz Heilmann,
Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Deutschland, der Saubermann beim Schutz
der Artenvielfalt? Diesen Eindruck möchte die Bundesregierung derzeit mit ihrer Hochglanzkampagne zur
9. Vertragsstaatenkonferenz des Übereinkommens zum
Schutz der Artenvielfalt in zwei Wochen in Bonn vermitteln. Ihre nationale Strategie zum Schutz der Artenvielfalt feiern Sie jedenfalls wie das achte Weltwunder.
({0})
Eine solche Strategie vorzulegen, war aber eine der Verpflichtungen des Übereinkommens. Deutschland muss
mit seiner Strategie damit Rechenschaft ablegen, wie es
die Verpflichtungen des Übereinkommens in Deutschland gestalten will.
Schauen wir uns die Strategie etwas genauer an. Dafür, dass mehrere Bundesregierungen 15 Jahre dafür gebraucht haben, ist das Ergebnis recht mager. Ich befürchte sogar: Ohne den Druck der in Bonn
stattfindenden Vertragsstaatenkonferenz gäbe es die
Strategie heute noch nicht. Liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen, ich frage
Sie: Warum hat das so lange gedauert? Ich gebe durchaus zu, dass die Strategie in weiten Teilen ein prosaisches Meisterwerk ist. Aber immer wenn es ans Eingemachte und ums Konkrete geht: Fehlanzeige! Es fehlen
erstens konkrete Maßnahmen, um die Ziele zügig und
effektiv zu erreichen, zweitens die Verbindlichkeit der
Strategie und die konkrete Überprüfbarkeit der Ziele,
drittens Sanktionsmöglichkeiten zur Durchsetzung der
Ziele, viertens ein Konzept für ein Biodiversitätsmonitoring und fünftens vor allem eine wirksame öffentliche
Kontrolle. Deshalb fordern wir die Änderung des Umweltrechtsbehelfsgesetzes. Das dort enthaltene Drittschutzerfordernis als Klageberechtigung muss abgeschafft werden.
({1})
Nur wenn Ihnen die Naturschutzverbände auf die Finger
hauen und nicht nur schauen können, werden Sie sich
wirklich anstrengen.
({2})
Die Begeisterung der Naturschutzverbände über
Ihre Strategie hält sich im Übrigen in Grenzen. Ich zitiere den Vorsitzenden des Bundes für Umwelt und Naturschutz Deutschland, Professor Hubert Weiger:
Seit Jahrzehnten bekannte, vielfach gesetzlich bereits vorgeschriebene Ziele und Allgemeinplätze
werden erneut als Vision beschrieben, die man lediglich anstrebt.
Ich denke, dieser Verriss erster Güte spricht für sich.
Aber Staatssekretär Müller hat die Auffassung der Bundesregierung gestern im Umweltausschuss auf den Punkt
gebracht: Es sei schon ein Wert an sich, dass die Strategie existiert. Ich sage Ihnen: Es reicht uns nicht. Es
reicht nicht, um beim Erhalt der biologischen Vielfalt
voranzukommen, und es reicht erst recht nicht für eine
verantwortungsbewusste Regierungsarbeit.
({3})
Aber selbst den Koalitionsfraktionen scheint das nicht zu
reichen. Anders kann ich Ihren Entschließungsantrag,
der gestern im Umweltausschuss vorlag, nicht interpretieren.
Einige Zahlen: In Deutschland sind 30 Prozent von
den 14 000 in der Roten Liste aufgeführten Arten in ihrem Bestand bedroht. 70 Prozent der Biotope sind gefährdet. Und was tun Sie? Ich möchte Sie an die kleine
Novelle des Bundesnaturschutzgesetzes im letzten Jahr
erinnern. Mit der haben Sie im Artenschutz eine Zweiklassengesellschaft geschaffen. Nach nationalem Recht
geschützte Arten verdienen anscheinend einen deutlich
geringeren Schutz als nach europäischem Recht geschützte Arten. Das wollen Sie nun im Zuge der großen
Novelle mit der Schaffung des Umweltgesetzbuches beheben - so Ihre damalige Äußerung. Ob das Umweltgesetzbuch in dieser Wahlperiode noch das Licht der Welt
erblickt, steht indes in den Sternen. Herr Minister, momentan treten dabei Ihre bayerischen Kollegen und derzeitigen Wahlkämpfer Seehofer und Glos kräftig auf die
Bremse. Denen oder ihrer Lobby ist unter anderem die
Eingriffsregelung ein Dorn im Auge. Gerade aber die
Ausgleichsverpflichtung bei Eingriffen in die Natur hat
sich in der Praxis als wirksames Mittel des Natur- und
somit Artenschutzes erwiesen. Ich denke, hier wäre einmal ein Machtwort der Kanzlerin, die gerade schwatzt,
erforderlich.
({4})
Ein Indikator für die Bedrohung der Artenvielfalt ist
der anhaltend hohe Flächenverbrauch von 110 Hektar
pro Tag. Angestrebt haben Sie einen Rückgang auf
30 Hektar pro Tag bis zum Jahr 2020. Davon sind Sie allerdings meilenweit entfernt. Konkret bedeutet das die
massive Zerschneidung der Landschaft durch Straßenbau, neue Landebahnen, Industriegelände und Gewerbeund Wohngebiete auf der sogenannten grünen Wiese.
Letztlich ist auch die industrielle Intensivnutzung durch
Land-, Forst- und Fischereiwirtschaft für den Verlust der
biologischen Vielfalt maßgeblich mitverantwortlich.
({5})
All das wird von Ihnen mit erheblichen Summen unterstützt. Wenn nur ein Bruchteil dieser Milliarden dem
Naturschutz und dem Schutz der Artenvielfalt zur Verfügung gestellt würde, wären wir einen Schritt weiter.
Aber was macht unser Umweltminister? Er kürzt, um die
Konferenz in Bonn durchzuführen, erst einmal die Ausgaben für den Naturschutz in Deutschland. Dabei geht es
auf der Konferenz auch ums Geld. 30 Milliarden Euro
würde ein effektiver weltweiter Gebietsschutz bis zum
Jahr 2015 kosten. Wir als Linke fordern die Bundesregierung auf, sich an der Finanzierung eines globalen
Schutzgebietsnetzes in angemessenem Umfang und zügig zu beteiligen;
({6})
denn die angestrebte Schaffung eines globalen Schutzgebietsnetzes bis 2010 kommt kaum voran.
Von besonderer Bedeutung ist der Schutz der letzten
intakten Ur-, Mangroven- und Buchenwälder Mitteleuropas. Die müssen sofort unter Schutz gestellt werden.
Wir brauchen endlich gesetzliche Regelungen, die die
Einfuhr und den Handel von Urwaldhölzern aus illegalem Einschlag unter Strafe stellen.
({7})
Wir brauchen ein europäisches Buchenwaldschutz- und
Aufforstungskonzept. Bis zum Jahr 2012 ist ein Schutzgebietsnetz für die Meere einzurichten. In diesen Schutzgebieten müssen die Müllentsorgung, der Abbau von
Bodenschätzen, die Fischerei, die Förderung von Öl und
Gas und die Entnahme von Sand und Kies ausgeschlossen werden.
Herr Gabriel, ich weiß nicht, wie weit Sie mit Ihrer
Freiwilligeninitiative „LifeWeb“ kommen werden. Ich
frage mich aber, warum Sie den Mitgliedstaaten ein freiwilliges Engagement vorschlagen, wenn die Ausweisung der Schutzgebiete eine Verpflichtung des Übereinkommens ist. Eine Verpflichtung ist eine Verpflichtung.
Da beißt die Maus keinen Faden ab. Daran ändert sich
auch nichts, wenn Sie der Wirtschaft eine Freiwilligeninitiative schmackhaft machen wollen. Sie brauchen es
niemandem schmackhaft zu machen. Sie müssen es fordern, weil Sie das Übereinkommen dazu verpflichtet.
Mit Verlaub, Herr Minister, Ihr süffisanter Satz, dass
sonst nämlich keiner käme, bedeutet, dass Sie dieser völkerrechtlich verbindlichen Zusage von 190 Staaten anscheinend keinen Wert beimessen. Die Beteiligung an
der Schaffung des globalen Schutzgebietsnetzes ist kein
freiwilliger Beitrag. Lassen Sie es, die Verbindlichkeit
mit einer Freiwilligeninitiative inhaltlich zu unterwandern und rhetorisch aufzuweichen!
({8})
Ich komme nun zum ABS-Regime. Es geht dabei
nicht um das Antiblockiersystem, das wir aus dem Auto
kennen. Es geht vielmehr um einen gerechten Vorteilsausgleich. Vorteilsausgleich wofür? - Ich erkläre es
kurz.
Stellen Sie sich vor, irgendwo im brasilianischen
Amazonasgebiet lebt eine Dorfgemeinschaft, die seit
Jahrhunderten ein bestimmtes Pflanzenmittel zur
Schmerzbekämpfung herstellt. Davon bekommt nun ein
großer Pharmakonzern Wind und möchte das nutzen, um
nach diesem Vorbild Tabletten herzustellen und dann natürlich - wir leben im Kapitalismus - gewinnbringend zu
verkaufen.
Bislang ist es in der Regel so, dass sich der Konzern
das Rezept einfach aneignet - ich könnte auch sagen:
klaut -, ohne der Dorfgemeinschaft einen Ausgleich für
den aus dem Wissen gezogenen Vorteil zu geben. Dieser
Vorteilsausgleich ist aber eine der Verpflichtungen des
Übereinkommens zum Schutz der Artenvielfalt. Eine
Regelung, wie der Vorteilsausgleich erfolgen soll, besteht noch nicht. Die Schaffung ist das Ziel der bevorstehenden Vertragsstaatenkonferenz.
Wie soll das nun aussehen? Ganz einfach zusammengefasst kann man sagen: informieren, fragen, Vertrag
schließen, zahlen. Wenn die Dorfgemeinschaft ihr Wissen nicht verkaufen will, ist eben Ebbe mit Geldverdienen. Wer sich dann das Wissen unrechtmäßig beschafft
und verwendet, muss bestraft werden. Wir fordern die
Bundesregierung auf, in den Verhandlungen der Vertragsstaatenkonferenz und während des zweijährigen
Konferenzvorsitzes alles daran zu setzen, dass ein solch
rechtlich verbindlicher Vorteilsausgleich geschaffen
wird.
({9})
Dorfgemeinschaften - in Fachkreisen auch indigene
und lokale Gemeinschaften genannt - sind dabei an den
Verhandlungen voll zu beteiligen. Ihnen muss darüber
hinaus das Recht gewährt werden, eine Patentierung auszuschließen sowie die Weitergabe an Dritte zu beschränken.
({10})
Die Länder und deren indigene und lokale Gemeinschaften, die eine hohe biologische Vielfalt zu bieten haben,
sollen eben nicht verpflichtet werden, uns ihre Ressourcen zur Verfügung zu stellen.
Wir fordern in diesem Zusammenhang, insbesondere
die Rolle sowie die Arbeit der Frauen bei der Nutzung
und Verarbeitung von genetischen Ressourcen und der
Anwendung von traditionellem Wissen zu achten und zu
respektieren und dass ihnen für ihre Arbeit ein ordentlicher Lohn gezahlt wird.
({11})
Das vermisse ich selbst bei den Grünen, aber da vermisst
man mittlerweile ja so einiges.
Ein paar Gedanken zum Thema Agrotreibstoffe. Dabei kommt nach einer kräftigen Panne von Minister
Gabriel jetzt die Losung, man möge die Diskussion doch
bitte wieder auf den Boden der Tatsachen zurückholen.
Weltweit würden ja nur 2 Prozent der landwirtschaftlichen Flächen für Agrosprit genutzt. Hauptursache für
Abholzungen sei eher der Futtermittelanbau, also der
große Fleischkonsum.
Ich finde diese Argumentation recht platt. Natürlich
gibt es eine Vielzahl anderer landwirtschaftlicher Nutzungen als den Anbau von Energiepflanzen. Die Nachfrage nach Nahrungs- und Futtermitteln wächst momentan weltweit, weil die Zahl der Menschen weiter wächst
und weil viele Menschen zum Glück mehr, aber auch
fleischlastiger essen. Gleichzeitig sinkt die Anbaufläche.
Wer ein wenig von Marktmechanismen versteht,
({12})
der weiß, dass das Ganze zu steigenden Nahrungsmittelpreisen führen muss. Genau das geschieht derzeit. Genau
in dieser Situation wollen die Industriestaaten noch zusätzlich zu den ganzen Problemen tropischen Agrosprit
für ihre Autoarmada. „Bravo!“, kann ich da nur sagen.
Da senden wir über die Rohstoffbörsen tolle Nachrichten
in den Süden: Baut nicht mehr Bohnen und Reis, sondern Zuckerrohr und Soja an! Holzt eure letzten Wälder
ab für Ethanol und Agrodiesel! Vertreibt die Kleinbauern!
Warum das alles? - Weil sich unser Umweltminister
nicht mit der Autoindustrie anlegen will. Da ist es vielleicht kein Zufall, dass er der EU-Kommission vorwirft,
einen Wettbewerbskrieg gegen die deutschen Hersteller
anzuzetteln. Denen wollten Sie mit dem Agrosprit ja einen Gefallen tun, damit diese weiter spritschluckende
Kleinpanzer verkaufen können.
Herr Kollege, denken Sie bitte an die Zeit.
Einen Gedanken noch. - Herr Gabriel, was sind Sie:
Auto- oder Umweltminister? Machen Sie endlich Ihre
Arbeit!
Ich komme zum Schluss.
({0})
Deutschland muss noch viel tun, um Saubermann des
Schutzes der Artenvielfalt zu werden. Dazu gehören erstens eine wirksame Strategie zum Schutz der Artenvielfalt, zweitens ein wirksamer Beitrag zur Schaffung eines
globalen Schutzgebietsnetzes und drittens ein Starkmachen für einen gerechten Vorteilsausgleich für die Nutzung von Wissen und Natur.
({1})
Erreichen können wir das, indem Sie sich einen Ruck
geben und dem Antrag meiner Fraktion zustimmen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche einen schönen Tag.
({2})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Renate Künast,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach der
bisherigen Debatte kann man sagen: Bei kaum einem
Thema wird so viel wie beim Naturschutz geheuchelt.
({0})
Schauen wir uns die Debatte um das Umweltgesetzbuch an: Seit Jahrzehnten geführt - nichts passiert. Sicherung des nationalen Naturerbes - nichts passiert. Verabschiedung eines Waldgesetzes und wirtschaftspolitische
Reformen, durch die der Wald geschützt werden soll nichts passiert. Novellierung des Jagdgesetzes - nichts
passiert. Immer wieder wird auf die Agrarreform in
Brüssel verwiesen,
({1})
auch gerade wieder. Herr Heilmann - speziell an Sie gerichtet -, unter uns gibt es noch Kollegen, die dem
Braunkohletagebau durchaus positiv gegenüberstehen.
Da kann man heutzutage nur sagen: Das ist Heuchelei
bezüglich Naturschutz.
({2})
Das ist der Eindruck, den die bisherigen Reden bei mir
erweckt haben.
({3})
- Wenn aus der SPD jemand „Elbvertiefung“ ruft, sage
ich: Naumann. Vergessen Sie das nicht! Die Zwischenrufe müssen schon aus der richtigen Fraktion kommen,
Herr Kollege Kelber.
({4})
Die Erhaltung der biologischen Vielfalt ist die
Grundlage für unser Überleben. Es geht dabei nicht nur
darum, hier ein paar Sonntagsreden zu halten und zu sagen - was materiell nicht falsch ist -: Die Kinder sollen
sich der Natur wieder nähern und sich mit ihr identifizieren können.
({5})
Aber es geht nicht nur darum, dass die Kinder der Natur
näherkommen; vielmehr handelt es sich um Hardcorepolitik und nicht um ein Schönwetterthema. Dazu habe ich
wenig gehört.
({6})
Man muss beim Thema „globale Gerechtigkeit“ anfangen. Ich verweise auf die Folgen des Zyklons in
Birma, etwa auf die vielen Todesfälle. Wir müssen dafür
sorgen, dass die Industriestaaten nicht so, wie sie es jetzt
tun, über dem Limit leben. Fakt ist doch: Wir hier verbrauchen mehr, als uns zusteht, und zwar auf Kosten der
Entwicklungsländer. Das muss man ändern, und das
wird ein hartes Geschäft.
({7})
Man muss verhindern, dass multinationale Konzerne
die Kontrolle über Saatgut und genetische Ressourcen
haben und dadurch zum Beispiel die Ureinwohner vieler
Regionen kalt enteignen. Schutz und Erhalt der biologischen Vielfalt müssen wirklich oberste Priorität haben,
und zwar in allen Politikbereichen. So gern ich auch immer wieder einmal den Umweltminister kritisiere, so
sage ich hier: Man kann im Zweifelsfalle alle am Kabinettstisch, also alle auf der Regierungsbank, ansprechen.
Es ist wirklich eine Querschnittsaufgabe. Die Zeit
drängt.
Wir tragen als Gastgeber der Weltkonferenz nächste
Woche Verantwortung. Daher sollte man wirklich Vorreiter sein und nicht nur Vorgaukler. Es geht darum, die
nächste Stufe zu erreichen. Wir haben gesagt: Bis 2010
soll der Verlust der biologischen Vielfalt gestoppt werden. Das entspricht einer EU-Vorgabe. Für uns heißt das:
Bis 2010 sollen 20 Prozent unserer Fläche zu Schutzgebieten erklärt werden. Wir sind von der Erreichung dieser Ziele meilenweit entfernt. Immer noch gibt es Menschen - auch Vertreter hiesiger Parteien -, die vor Ort
dagegen kämpfen, dass eine Fläche zu einem Schutzgebiet erklärt wird.
({8})
- „Ja, natürlich!“ Zu Recht kommt von der FDP dieser
Zwischenruf. Ich meinte auch und gerade die FDP.
Man hat gesagt: 20 Prozent der Fläche sollen Schutzgebiete sein. Das war zum Beispiel im Hinblick auf den
Schutz der Artenvielfalt und den Klimaschutz eine gute
Idee. Man darf nicht immer die kurzfristigen wirtschaftlichen Interessen über die langfristigen Interessen des
Naturerhalts, also des Erhalts unserer Lebensgrundlagen,
stellen.
({9})
Es ist schön, warme Worte oder in schönen Bildern zu
sprechen; aber dann müssen dem Ganzen auch Taten folgen. Ich muss ein paar Punkte aufzählen, bei denen es
uns nicht reicht, was die Bundesregierung tut. Nehmen
wir die Biokraftstoffkrise, die für die Bundesregierung
eine Pleite bedeutet hat.
({10})
- Dass Sie als Partei Die Linke darüber reden: Guten
Morgen! Schön, dass auch Sie langsam auf diesem Themenfeld angekommen sind. Ich wünsche Ihnen eine gute
Entwicklung.
({11})
Sie vertreten doch eher noch das Motto „Freie Fahrt für
freie Bürger“.
({12})
Die Biokraftstoffpleite ist ein weltweites Problem.
Diese Pleite hat etwas mit der Aktion zu tun, die diese
Bundesregierung durchgeführt hat. Ihr Beimischungszwang war ein Fehler. Dadurch haben Sie den nachhaltigen Pflanzenanbau der heimischen Bauern kaputtgemacht. Viele Betriebe darben daher.
Für eine Veränderung beim Umgang mit Importen
gibt es nur zwei Möglichkeiten: entweder gar keinen
mehr zuzulassen oder eine wirksame Zertifizierung zu
verankern, die auch umgesetzt wird. In Bezug auf Brasilien sage ich ganz klar, Herr Gabriel: Denen darf man
jetzt keinen Glauben schenken, sonst schieben die das
wirklich auf die lange Bank. Es muss nun vielmehr ein
hartes Regime verankert werden, das auch wirklich
funktioniert. Seit Jahren behauptet die brasilianische
Seite, es werde kein Urwald für diese Produkte gerodet.
Das stimmt, aber um den Ausbau der Zuckerrohranbaugebiete zu ermöglichen, muss die Rinderhaltung weichen. Am Ende wird nun für die Rinderhaltung der Urwald gerodet. So machen sie es. Es ist also eine
wirksame Zertifizierung nötig.
Ein anderes Kabinettsmitglied, Herr Seehofer, setzt
immer noch auf Monokulturen, auf Gentechnik und auf
Chemie statt Vielfalt auf dem Teller. Auch diese Fragen
hängen ja mit dem Naturschutz und der Bewahrung von
Artenvielfalt zusammen. Deshalb reicht es nicht, hier
warme Worte zu sprechen, sondern man muss konkret
die Vorschläge der Europäischen Kommission zur
nächsten Stufe der Agrarreform unterstützen. Dabei geht
es nämlich um die Bewahrung von Artenvielfalt und Klimaschutz. Um das zu ermöglichen, sollen die Direktzahlungen an andere Bereiche etwas gekürzt werden und
das so eingesparte Geld umgeschichtet werden.
({13})
Wer wirklich Naturschutz will, muss nach Brüssel gehen
und Frau Fischer Boel sagen: Wir unterstützen Ihr Reformvorhaben. - Da das nicht geschieht, stelle ich fest,
dass hier viel geheuchelt wurde.
Machen Sie endlich eine Politik,
({14})
bei der Schutz der biologischen Vielfalt und Armutsbekämpfung miteinander verbunden werden. Frau
Wieczorek-Zeul, es war ein Fehler, dass Sie vor vielen
Jahren die Fördermittel für die Entwicklung des ländlichen Raumes immer weiter zurückgeschraubt haben.
Geben wir der Welthandelsrunde einen Schub und treten
wir dafür ein, dass Naturschutz und Artenerhalt auch
dort endlich eine Rolle spielen! Verhindern wir, dass in
Bonn am Ende die Saatgutkonzerne durch eine Patentierung genetischer Ressourcen, also eine Art Biopiraterie,
die Weltbevölkerung und hier insbesondere die Armen
und Hungernden im wahrsten Sinne des Wortes enteignen!
Meine Damen und Herren, es reicht nicht, Donnerstag
früh warme Worte zu sprechen. Naturschutz, Erhalt der
Artenvielfalt stellen für uns eine existenzielle Frage dar.
Frau Kollegin.
Um diese zu bewältigen, sind knallharte Politik und
Mut erforderlich. Sonst wird daraus nichts.
({0})
Ich erteile nun das Wort dem Bundesminister Sigmar
Gabriel.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Heilmann, es war eine beeindruckende Rede, die
Sie gehalten haben.
({0})
Sie wäre allerdings zum Beispiel beim Thema „Biokraftstoffe aus Brasilien“ glaubwürdiger gewesen, wenn Sie
sich wie die anderen Kollegen auf unserer Reise das Gebiet und die Anlagen angeschaut hätten, als zu der Zeit
etwas anderes zu machen.
({1})
Ich weiß nicht, ob Sie beim Vortrag der Chefin von
Greenpeace Brasilien zum Thema Zuckerrohr zugehört
haben oder ob Sie zu dem Zeitpunkt auch woanders waren, aber bei diesem Vortrag hätten Sie erfahren können
- das ist auch an die Adresse von Frau Künast gerichtet -,
dass Greenpeace Brasilien sagt, die derzeitige Zuckerrohrproduktion in Brasilien stellt kein ökologisches Problem dar und sorgt auch nicht für eine Verschiebung von
Rinderzucht und Sojaanbau auf Regenwaldflächen, aber
für die Zukunft - insofern hat die Kollegin Künast natürlich absolut recht - besteht ohne ein Verfahren, mit dem
die Produktion wirklich auf Nachhaltigkeit kontrolliert
werden kann, die Gefahr, dass der Ausbau der Zuckerrohrproduktion nicht auf den 6 Millionen Hektar, die in
Brasilien brachgelegen haben, stattfindet, sondern auf
andere Flächen ausweicht.
Eine der Voraussetzungen dafür, damit das nicht geschieht, ist, dass es nicht teurer ist, Brachflächen in Brasilien für den Zuckerrohranbau zu revitalisieren und zu
nutzen als Regenwald- oder Savannenflächen. Wir stehen hier also vor der Frage, wie wir einem anderen Land
helfen können, seine wirtschaftlichen Potenziale zu nutzen.
Dagegen bringt es überhaupt nichts, Herr Kollege
Heilmann - Frau Künast hat das nicht getan, deswegen
will ich sie hierfür nicht in Anspruch nehmen -, diesen
Ländern zu sagen: Wir wollen die Produkte, die ihr produziert, nicht. Wir lassen sie nicht in unser Land; denn
ihr seid die bösen Buben der internationalen Umweltpolitik. - Sie nehmen ein solches Verhalten nämlich nicht
als Mahnruf engagierter Umweltschützer wahr, sondern
sie nehmen es so wahr, als ob da ihre alten Kolonialherren sprechen würden, die verhindern wollen, dass es bei
ihnen wirtschaftliche Entwicklung gibt, die sie in wirtschaftlicher Armut halten wollen und deshalb neuerlich
eine Schutzpolitik für Landwirtschaftsprodukte machen,
um sie herauszuhalten.
({2})
Eine solche Haltung hätte Auswirkungen auf alle internationalen Umweltverhandlungen. Wenn sich dieser
Eindruck bei Brasilien und anderen Ländern verfestigt,
werden wir bei den Klimaschutzverhandlungen eine
böse Überraschung erleben, weil diese Länder glauben
werden, dass wir sie nirgendwo hochkommen lassen
wollen. Gleichzeitig haben die Kollegin Künast und alle
diejenigen recht, die sagen: Es kann nicht sein, dass wir
alles mitmachen und Versprechungen trauen.
Natürlich hat Brasilien eine gute Gesetzgebung. Natürlich wäre es gut, wenn Brasilien jetzt Zonierungen
machte. Ich möchte allerdings darauf hinweisen: Wenn
auf einer Fläche wie dem Bundesstaat Pará in Brasilien,
der dreimal so groß wie Deutschland ist, für die Überprüfung 176 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit zwei
Autos, zwei Schiffen und einem Hubschrauber bereitstehen, dann wird man vermutlich nicht weit kommen. Wir
werden aber auch in einem solchen Fall nicht anders
können, als mit ihnen über die Frage zu verhandeln, wie
wir ihnen dabei helfen können.
Das ist der Grund, warum ich dankbar dafür bin, dass
die deutsche Bundeskanzlerin bei ihrem Besuch in Brasilien exakt über die Frage reden will: Welche Nachhaltigkeitskriterien stellen wir auf und wie überprüfen wir
sie? Aber auch: Wie können wir denen, die es machen,
anbieten, dass ihre Produkte auf dem deutschen und dem
europäischen Markt verkauft werden können? Wer das
nicht macht, sendet das Signal: Wir wollen euch in
Armut halten. - Mit solchen Reden wie Ihrer, Herr
Heilmann, zerstören Sie die Vertrauensgrundlage, die
wir auf der Konferenz über biologische Vielfalt benötigen. Sie werden dann niemanden finden, der bereit ist,
mit uns über die tatsächlich existierenden Probleme
sachgerecht zu reden.
({3})
1992 ist die Konvention über biologische Vielfalt
auf den Weg gebracht worden, mit der das Ziel verfolgt
wird, bis zum Jahre 2010 das weltweite Artensterben
wenigstens deutlich zu bremsen. Die Wahrheit ist: Davon sind wir weit entfernt. Wenn mich jemand fragt, ob
ich - ich glaube, auch das war Herr Heilmann - den Unterschriften von 190 Staaten traue - Sie haben gesagt:
Das steht doch drin; diese Länder sind verpflichtet,
Schutzgebiete auszuweisen -, dann antworte ich: Ja,
aber ich habe zur Kenntnis zu nehmen, dass nach
16 Jahren die Konvention über biologische Vielfalt an
einem Scheideweg steht. Entweder es gelingt uns jetzt,
bis zum Jahre 2010 endlich substanzielle Fortschritte zu
erreichen, oder wir beweisen der Weltbevölkerung, dass
es eben nichts wert ist, wenn 190 Staaten etwas unterschreiben und dann 16 oder 18 Jahre lang nichts passiert.
In der Tat ist vieles von dem, was in der Konvention
steht, nicht mit Leben erfüllt worden. Wenn Sie den klugen Spruch machen, in der Konvention stehe doch, dass
diese Länder verpflichtet sind, Schutzgebiete auszuweisen, dann müssen Sie ihnen erklären, dass Sie sagen: Wir
beschließen international ein Gesetz, in dem wir bestimmen, welcher Teil eures Landes unter Schutz gestellt
wird; unterschreibt mal unten links. - Dass diese Vorstellungen zum Rucksack Ihrer Partei gehören, will ich
gerne zugeben.
({4})
Mit dieser Vorstellung kommen Sie nicht an die Menschen heran. Sie müssen ihnen Angebote machen, sodass
sich diejenigen, die bereit sind, Geld mitzubringen, um
Schutzgebiete zu finanzieren, mit denen treffen können,
die bereit sind, Schutzgebiete auszuweisen, dafür aber
Hilfe brauchen. Das nennt man in der Tat „freiwillig“.
Wenn Sie das nicht machen, sondern mit rechtsverbindlichen Abkommen arbeiten wollen, um diese Länder dazu
zu zwingen, werden Sie scheitern in Bonn. Unsere Aufgabe ist es, sie endlich nach vorne zu bringen.
Wir können als Bundesregierung nicht ausschließen,
dass die Konferenz wieder scheitert. Wir haben sie in
dem Bewusstsein, dass Fortschritte scheitern können,
angenommen. Aber wir wollen sie zum Erfolg bringen,
wir wollen Fortschritte machen; denn wir haben ein hundert- bis tausendfach schnelleres Aussterben der Arten
auf der Welt, als die natürliche Aussterbensrate beträgt.
Wenn wir nichts machen, wird es im Jahre 2050 keine
kommerzielle Fischerei mehr auf der Erde geben. Stellen
Sie sich vor, was das für die Ernährung der Weltbevölkerung bedeutet! Ein paar Milliarden Menschen sind ausschließlich auf Fische angewiesen, um die Proteine zu
bekommen, die sie zum Überleben brauchen.
Es gibt eine Riesenanzahl von Beispielen dafür, dass
wir wirklich über das Überleben von Milliarden von
Menschen reden. Wir reden nicht darüber, dass die Industriestaaten ein bisschen abgeben müssen, um Umweltschutz im Sinne eines Nischenthemas zu betreiben,
wie das manchmal auch in unserem Lande behandelt
wird. Vielmehr reden wir über das nackte Überleben von
Milliarden von Menschen auf unserem Planeten.
Es gibt 6 273 Reissorten. Vor einigen Jahren hat ein
Virus fast die gesamte Reisernte in Indien und Indonesien vernichtet. Dann hat man nach einem Reis gesucht,
der dagegen immun ist. Unter den 6 273 Reissorten hat
man eine einzige gefunden, die resistent war. Das hat
verhindert, dass die Reisbestände der Welt zerstört wurden und die Menschen an Hunger gestorben wären. Stellen Sie sich einmal vor, wir hätten durch die Entwicklung der Industrienationen ausgerechnet diese Reissorte
zerstört! Welch eine Menschheitskatastrophe!
Wenn wir über biologische Vielfalt reden, dann reden
wir, wie das ein Amerikaner einmal gesagt hat, über das
Betriebshandbuch der Erde. Darin steht, wie die Erde
funktioniert. Wir reißen jeden Tag eine Seite heraus. Das
Ergebnis wird sein, dass, wenn das irgendjemand
braucht und da hineinschaut, genau die Seite fehlt, die
zum Überleben einer wachsenden Weltbevölkerung in
wachsenden Industriestaaten gebraucht wird. Das ist Artenverlust.
({5})
Das ist nicht irgendein Randthema. Wir reden über das
Wachstum der Weltbevölkerung von 6 Milliarden auf
über 9 Milliarden Menschen. Wir reden über die Frage,
wie die Erde dann noch funktionieren soll. Da werden
wir uns in der Tat ändern müssen.
Aber wir werden vor allen Dingen auch beachten
müssen, dass es dabei nicht allein um Naturschutz geht,
sondern auch um nachhaltige Nutzung. Wir werden
Wachstum und wirtschaftlichen Wohlstand mit Artenvielfalt und Naturschutz zusammenbringen müssen.
({6})
Das ist übrigens das, was die Entwicklungsländer von
uns erwarten. Wir werden einen wirtschaftlichen Interessenausgleich herbeiführen müssen. Wir haben in der internationalen Politik gelernt, dass man Sicherheit nur gemeinsam erreichen kann. Das gilt auch in der Frage des
Erhalts der natürlichen Lebensgrundlagen, um das Überleben der Menschheit zu sichern. Das können wir nur gemeinsam. Das bedeutet, wir müssen auch bereit sein,
einen Interessenausgleich zu organisieren. Wer Tropenschutz will, muss auch bereit sein, Geld dafür auf den
Tisch zu legen.
Übrigens wird Deutschland 2008 210 Millionen Euro
pro Jahr dafür ausgeben. Die NGOs in Brasilien haben
uns gesagt, sie seien noch heute dankbar dafür, dass es
das PPG-7-Programm gegeben habe, damals von der
Bundesregierung unter Helmut Kohl auf den Weg gebracht. Allerdings seien sie der Meinung, dass man den
Namen ändern müsse: Es müsse PPG-1-Programm heißen, weil Deutschland das einzige Land sei, das seine
Zusagen erfüllt habe.
({7})
Auch das gehört dazu. Das heißt, wir wollen dort auch
darüber verhandeln, wie wir den Interessenausgleich
besser hinbekommen, welche marktwirtschaftlichen Instrumente wir nutzen können.
Ein Ergebnis der G-8-Präsidentschaft Deutschlands
ist, dass wir gemeinsam mit der Europäischen Kommission für die biologische Vielfalt eine Bewertung erstellen
wollen, wie sie Nicholas Stern für den Klimawandel vorgenommen hat. Wir wollen erstens endlich erreichen,
dass man nicht mehr so tun kann, als koste die Vernichtung von Arten nichts. Aber wir wollen zweitens auch
marktwirtschaftliche Instrumente entwickeln, sodass
man am Schutz der Natur mehr Geld verdienen kann als
an ihrer Zerstörung. Das ist ein entscheidendes Argument.
Ich weiß, dass man etwas für den Naturschutz tun
muss, wenn man etwas für seine eigenen Kinder übrig
hat oder wenn man Respekt vor der Schöpfung Gottes
hat. Aber ich weiß auch, dass diese Einstellung in vielen
Ländern dieser Erde nicht hilft, weil sie bitterarm sind.
Wenn sie Geld nur dadurch verdienen können, dass sie
den Regenwald abholzen, dann werden sie das tun. Also
brauchen wir marktwirtschaftliche Instrumente, die auf
den Schutz ausgerichtet sind. Die gibt es bisher nur im
CO2-Sektor, jedenfalls wenn das erreicht wird, was gestern von den Koalitionsfraktionen im Umweltausschuss
beschlossen wurde, nämlich eine 100-prozentige Auktionierung in Europa. Wer einen Wald hat, der kann sich
dann darauf verlassen, dass auf der Grundlage des
nächsten Klimaschutzabkommens dafür, dass er den
Wald erhält, auch Geld fließt.
Aber das reicht nicht aus. Das hilft weder im Meeresschutz noch in vielen anderen Bereichen. Wir brauchen
marktwirtschaftliche Instrumente, um den Völkern
der Erde eine Chance zu geben, beim Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen auch ihre eigenen Lebensgrundlagen neu zu schaffen.
({8})
Dazu zählt das berühmte ABS, Access and Benefit
Sharing. Die Entwicklungsländer bezeichnen es zu
Recht als Biopiraterie, wenn Industrienationen sich im
Regenwald genetischer Ressourcen unerlaubt bedienen,
daraus Medikamente machen, aber keinen Cent zurückzahlen. Wir brauchen im Sinne des Access and Benefit
Sharing eine Ausgleichszahlung. Da geht es übrigens gar
nicht um viel Geld. Es geht darum, dass die Entwicklungsländer endlich mit uns auf Augenhöhe sein wollen,
dass wir ihnen nicht immer sagen, was sie mit dem Regenwald zu machen haben, damit wir hinterher davon
profitieren können. Aus der pazifischen Eibe beispielsweise machen wir ein Medikament zur Krebsbehandlung. Außerdem gibt es eine Fledermaus in Südamerika,
die, wie in den Dracula-Filmen, nur Blut trinkt. Weil
sich, wenn das gerinnt, schlecht fliegen lässt, hat sie ein
Enzym entwickelt, das wir zur Produktion von Medikamenten zur Schlaganfallbehandlung nutzen.
Diese Länder wollen, dass sie etwas zurückbekommen. Darüber reden wir. Europa ist übrigens bislang die
einzige Region der Welt, die bereit ist, das zu machen.
Wir müssen auch andere - vor allen Dingen Japan, Australien, Kanada und die Vereinigten Staaten - davon
überzeugen, mitzumachen. Europa zeigt hier seinen
Mehrwert. Es ist die einzige Region der Welt, die mehr
tut, als die Summe ihrer Einzelinteressen ausmacht. Man
kann wirklich sagen: Wir haben eine grüne EU - eine
„green union“ - in dieser Frage. Wir hoffen, dass wir in
diesem Bereich deutlich vorankommen.
2010 muss es dieses Abkommen geben. Wir wollen
dafür die Voraussetzungen in Bonn schaffen. Wir müssen dabei fair mit denen umgehen, die auf uns zukommen. Richtig ist aber auch, dass wir nicht so tun dürfen,
als gebe es nur in anderen Teilen der Erde Aufgaben im
Natur- und Artenschutz.
Keine Sorge: Die Koalition wird ein Umweltgesetzbuch vorlegen.
({9})
Wir werden das so umsetzen, dass all diejenigen, die öffentlich erklären, wir würden Standards absenken, unrecht behalten werden. Wir wollen dafür sorgen, dass es
für die Menschen in Deutschland verständlich ist. Wir
wollen keine bürokratischen Regelungen einführen; wir
wollen nicht, dass beispielsweise die Gewässerrechte für
das Oberharzer Wasserregal - das liegt in meiner
Heimatregion -, die aus dem Jahre 1200 stammen, im
Umweltgesetzbuch neu formuliert werden. Das muss ich
schon aus regionalpolitischen Gründen ablehnen.
({10})
- Ja, das wäre respektlos. Vielen Dank für den Hinweis.
Wir haben durchaus eine Reihe von Erfolgen. Frau
Künast, Sie haben das Thema Schutzgebiete aufgeführt
und gesagt, wir seien meilenweit von 20 Prozent entfernt. Deutschland liegt bei 14 Prozent. Das ist nicht so
schlecht und ist nicht „meilenweit“ entfernt. Wir müssen
sicherlich mehr tun. Aber wir haben schon die Natura2000-Richtlinie in Deutschland umgesetzt, die FFH-Gebiete sind gemeldet. Bis auf wenige Ausnahmen gilt das
auch für die Vogelschutzgebiete; auch das kriegen wir
hin. Die Gewässerbelastungen sind zurückgegangen. In
der Elbe und im Rhein finden Sie praktisch all die Fische
wieder, die es vor der Industrialisierung dort gab.
({11})
- Ja, das ist ein Erfolg.
Einer der großen Erfolge dieser Koalition ist, dass wir
es geschafft haben, dass 125 000 Hektar wertvolle Naturflächen in das Nationale Naturerbe aufgenommen
werden, 100 000 Hektar in der ersten Tranche in diesem
Jahr. Frau Kollegin Künast, 46 000 Hektar werden in der
kommenden Woche in die Deutsche Bundesstiftung Umwelt eingebracht. Man kann also nicht behaupten, da täte
sich nichts.
({12})
- Ich kann ja nichts dafür, dass wir besser sind, als Sie
vermutet haben.
({13})
Aber Sie müssen schon gestatten, dass ich das einmal
anspreche.
({14})
- Frau Kollegin, Sie wissen -
Herr Kollege Gabriel, bevor Sie jetzt der Versuchung
nachgeben, in einen Spontandialog einzutreten, möchte
ich Sie darauf aufmerksam machen, dass Sie die Redezeit Ihrer Fraktionskollegen verfrühstücken.
Herr Präsident Lammert, Sie scheinen mich gut zu
kennen. Mit diesem Hinweis erleichtern Sie mir das Leben in meiner Fraktion. Vielen Dank dafür.
({0})
- Ich bin in diesem Punkt gefahrenbewusst.
Herzlichen Dank für das Engagement in der Sache.
Bei allem Streit wollen wir gute Gastgeber sein. Ich lade
Sie alle herzlich ein, an der Konferenz teilzunehmen. Es
nehmen Vertreter aus rund 200 Staaten, 5 000 Expertinnen und Experten, Vertreter von NGOs und von indigenen Völkern teil. Wir sollten diese so herzlich begrüßen,
wie sich das für ein gastfreundliches Land wie Deutschland gehört.
Herzlichen Dank, dass Sie dabei mitmachen wollen!
({1})
Der großzügigen Einladung des Umweltministers,
möglichst alle sollten an dieser Konferenz teilnehmen,
will ich nur den dezenten Hinweis hinzufügen, dass
gleichzeitig Plenarsitzungen im Deutschen Bundestag
stattfinden und dass ich die Präsenzpflicht nicht aufheben kann.
({0})
Für eine Erklärung zur Aussprache nach § 30 unserer
Geschäftsordnung erhält der Kollege Heilmann das
Wort.
Der Minister hat mir unterstellt, dass ich aus nichtigen
Gründen an Veranstaltungen im Zusammenhang mit der
Brasilienreise nicht teilgenommen habe. Das möchte ich
zurückweisen. Es gab triftige Gründe dafür. Am Freitag
beispielsweise war ich wie Sie krank.
({0})
Deswegen finde ich Ihre Anschuldigungen ein bisschen
deplatziert.
({1})
Das nehmen wir so zur Kenntnis.
Nächste Rednerin in der Debatte ist die Kollegin
Dr. Christel Happach-Kasan für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
möchte Umweltminister Gabriel herzlich danken für seinen Beitrag; denn er hat meines Erachtens die Debatte
wieder in die Mitte des Raumes gestellt und wirklich auf
den Punkt gebracht. Es geht darum, die Natur zu schützen und sie verantwortlich zu nutzen.
({0})
Dafür haben wir, so meine ich, auf unserer BrasilienReise gute Beispiele gefunden.
({1})
Kollegin Künast, ich bedanke mich bei Ihnen dafür,
dass Sie Ihr 20-Prozent-Ziel im Hinblick auf den Ökolandbau nicht noch einmal erwähnt haben.
({2})
Auch Sie haben wohl deutlich gemerkt, dass Sie mit diesem Ziel absolut danebenliegen. Denn angesichts der jetzigen Ernährungssituation weltweit können, sollten und
dürfen wir dieses Ziel nicht umsetzen; um es ganz deutlich zu sagen.
({3})
- Ich habe die Studie gelesen, Herr Kollege Kelber, und
ich muss Ihnen sagen: Lesen Sie doch auch einmal zwischen den Zeilen! Dann werden Sie feststellen, dass wir
ohne Ökolandbau weiterkommen können. Wir sollten
uns darauf konzentrieren, die Natur nachhaltig zu nutzen, und nicht darauf, Ideologien hinterherzulaufen. Ich
glaube, das ist ganz wichtig.
({4})
Kollege Heilmann, die Kritik des Ministers war
durchaus berechtigt.
Ein weiterer Punkt. Liebe Kollegin Künast, es macht
keinen Sinn, mit Miesmacherei über den Naturschutz zu
sprechen; denn unsere Natur ist schön. Ich finde es toll,
dass wir die Vertragsstaatenkonferenz im Mai abhalten
und damit alle sehen können: Die Natur wirbt für sich
selbst. Ihre Schönheit fällt jedem ins Auge.
Deswegen sind wir bei all denjenigen Menschen in
Deutschland, denen der Schutz der Natur und der Schutz
der Artenvielfalt ein Herzensanliegen sind. Sie haben
den Naturschutz in Deutschland vorangebracht. Sie haben die Grundlage dafür gelegt, dass wir in Deutschland
im Naturschutz erfolgreich sind. Wir sind - das wissen
Sie - ein dichtbesiedeltes Land. Dennoch hat der vormalige Präsident des Bundesamtes für Naturschutz festgestellt, dass der Wandel des Artenspektrums in
Deutschland nicht dramatisch ist.
({5})
- Frau Künast, hören Sie jetzt einfach einmal zu! Das
macht das Ganze etwas einfacher. - Es ist uns gelungen,
den Wandel des Artenspektrums aufzuhalten. Wir haben
enorme Erfolge in Deutschland erzielt.
Diese Erfolge sind für uns Verpflichtung, anderen
Menschen dabei zu helfen, im Naturschutz voranzukommen.
({6})
Das gilt insbesondere für das Land Brasilien, von dem
wir die Artenschutzkonferenz übernehmen. Wir haben
auf einer meines Erachtens hervorragend organisierten
Ministerreise erfahren, welche großen Anstrengungen
dieses Land unternimmt - beispielsweise in der Satellitenüberwachung des Regenwaldes, beispielsweise durch
eine vorbildliche Gesetzgebung. Wir müssen sehen: Wir
können den Regenwald nur schützen, wenn wir Schutzgebiete ausweisen, wenn wir den rechtlichen Status klären und wenn wir eine umfassende Landesaufnahme
etablieren, damit die Regierung von jeder Fläche weiß,
wem sie gehört und wer gegebenenfalls verantwortlich
gemacht werden muss, wenn es zu Abholzungen kommt.
Ich möchte einen Punkt ansprechen, von dem ich
meine, dass wir in Deutschland noch nicht so weit sind,
wie wir sein sollten. Ich bin der Meinung, international
sind wir erst dann glaubwürdig, wenn wir unsere eigenen Hausaufgaben machen. Ziel jeglicher Biodiversitätsstrategie ist es, die Vielfalt genetischer Informationen zu erhalten. Wir müssen aber zur Kenntnis nehmen,
dass es in Deutschland einzelne Pflanzenarten gibt, die
nur noch auf einzelnen Quadratmetern vorkommen. Es
ist nicht sicher, ob sie mit einem konsequenten Biotopschutz zu erhalten sind. Wir müssen den Erhalt dieser
Arten in Saatgutgenbanken oder in botanischen Gärten
sicherstellen. Wir brauchen den Ex-situ-Schutz dieser
Arten - das ist zwingend -, um ihr Aussterben nicht zu
riskieren.
({7})
Der Ex-situ-Schutz ist Voraussetzung dafür, diese Arten
zu einem späteren Zeitpunkt wieder einbürgern zu können. Aus dieser Erkenntnis heraus wurde in Den Haag
2002 beschlossen, 60 Prozent der gefährdeten Arten in
botanischen Gärten oder in Saatgutgenbanken zu schützen, um so den Erhalt der genetischen Informationen
sicherzustellen.
Der Minister hat sehr plastisch gezeigt, wie wichtig
genetische Informationen für uns sind. 10 Prozent dieser
Arten sollen in Wiederausbringungsprogramme einbezogen werden. Von diesen Zielen, die wir selbst beschlossen haben, ist Deutschland weit entfernt. Es gibt keine
nationale Saatgutgenbank für Wildpflanzen und wenige
regionale Saatgutgenbanken wie die Loki-Schmidt-Genbank. Ich bin im Übrigen ein bisschen von der SPDFraktion enttäuscht, dass sie sich nicht etwas mehr für
eine solche, den Namen der Gattin des bedeutenden
Staatsmannes Helmut Schmidt tragenden Genbank engagiert.
({8})
Das enttäuscht mich tief. Das ist eine menschliche Enttäuschung, die Sie vielleicht nicht nachvollziehen können.
({9})
Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Das Bundesamt für Naturschutz kümmert sich um
vieles, jedoch nicht um den Artenschutz bei besonders
gefährdeten Wildpflanzen. Es hat erklärt, dass es Saatgutgenbanken für Wildpflanzen ablehnt. Ich halte dies
für eine fachlich falsche Entscheidung. Ich bitte die Regierung, noch einmal zu überlegen, ob sie das Ziel, das
sie 2002 selbst formuliert hat, nicht doch verfolgen und
sich mit der Sicherung von Wildpflanzen in Saatgutgenbanken oder in botanischen Gärten stärker befassen
sollte, damit wir unserer Verpflichtung nachkommen
können.
Frau Kollegin, bitte.
Ich komme sofort zum Schluss. - So könnten wir im
Bereich des Naturschutzes weiterhin vorbildlich sein.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Christian Ruck ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Auf dem Weltnaturschutzgipfel in Bonn steht viel
auf dem Spiel. Es geht um die Fragen, in welcher Welt
wir zukünftig leben wollen und in welchem Zustand wir
diese Welt unseren Kindern und Enkeln übergeben wollen. Ausgeplündert, leergefischt und abgeholzt oder eine
bunte und vielfältige Natur, die Leben spendet? Es geht
um die Frage, ob es uns gelingt, unserer Verantwortung
für die Schöpfung gerecht zu werden.
Meine Vorredner, unter anderem Herr Gabriel, haben
schon darauf hingewiesen, dass rund 80 Prozent dieser
Schöpfung in Entwicklungs- und Schwellenländern wie
Indien, Indonesien, Kongo, Bolivien oder Peru liegen.
Viele dieser Länder sind oft instabil und haben eine
schwache Verwaltung und Justiz. Dort herrscht noch immer der Wilde Westen - Korruption und anderes -, aber
auch Armut. Das sind Länder, die nichts zu verschenken
haben, zum Beispiel, wenn unter den biodiversitätsreichsten Gebieten Erdöl liegt.
Deshalb ist die Frage, wie die Industrieländer mit den
Entwicklungsländern umgehen, die Schlüsselfrage,
wenn es um die Bewahrung der Artenvielfalt geht. Mehr
als das: Diese Entwicklungsländer haben mit ihrem
Wald einen wichtigen Hebel für den Klimaschutz in der
Hand; auch das wurde schon gesagt. Mindestens 20 Prozent der Treibhausgasemissionen stecken im Tropenwald. Daher muss er erhalten bleiben.
Es ist ganz entscheidend, dass wir auf dem Gipfel in
Bonn gemeinsam mit den Entwicklungs- und Schwellenländern eine faire Lösung finden und wir selbst mit gutem Beispiel vorangehen. Was heißt in diesem Zusammenhang „fair“? Natürlich dürfen wir die Entwicklungsund Schwellenländer nicht aus ihrer Verantwortung entlassen. Es geht schließlich auch um ihre Lebensgrundlagen vor Ort: Wasserhaushalt, regionales Klima usw. Wir
müssen ihnen aber helfen, das zu schützen, was auch für
uns wichtig ist. Diese Wälder sind so etwas wie ein internationales öffentliches Gut, das unter Druck steht,
weil die internationalen, überregionalen Effekte nicht
marktgerecht entlohnt und honoriert werden.
({0})
Wir müssen den Entwicklungsländern ein Angebot
machen. Wir müssen ihnen helfen, ihre Ressourcen
- besser als bisher - naturverträglich zu nutzen. Von dem
ABS-Komplex war schon die Rede. Diese Länder müssen in die Lage versetzt werden - mit unserer Technologie und mit finanziellem Beistand -, wieder Reparaturbetrieb zu sein. Das gilt für Flächen, die halb verwüstet
oder verwüstet sind, die man der Nutzung aber wieder
zuführen könnte.
Im Sinne einer langfristigen, marktkonformen Klimaschutzstrategie wäre es optimal, den Wald in den Emissionshandel einzubeziehen. Aber da stecken wir in zähen
Verhandlungen. Es sind noch viele Fragen offen. Wir
müssen auch die Ergebnisse des einen oder anderen
Pilotprojektes, das wir mitfinanzieren, abwarten.
Wir haben nicht mehr genug Zeit, um ein perfektes
internationales Regime auf die Beine zu stellen. Wir
müssen konkret handeln. Wir müssen auf dieser Weltkonferenz zeigen, dass wir konkret handeln wollen.
Auch hier gebe ich den Vorrednern recht, die sagen: Wir
müssen schon jetzt zum Beispiel die Verbindung zwischen Klimaschutz und dem Schutz der Artenvielfalt
herstellen. Wir müssen schon jetzt einen entsprechenden
Teil der international und national geschaffenen Klimaschutzmittel für den Waldschutz in den Entwicklungsländern heranziehen, zum Beispiel für das Netz des Lebens. Wir müssen - das haben wir auch zwischen den
Koalitionspartnern so verhandelt - den Anteil für Waldschutz, Klimaschutz und den Schutz der Artenvielfalt in
der Entwicklungszusammenarbeit erhöhen. Das PPG7Projekt ist schon angesprochen worden. Es gibt in unserer Entwicklungszusammenarbeit traditionell einige
hervorragende Projekte, die Mut machen und zeigen,
dass es geht, wenn man einen langen Atem hat.
({1})
Gerade in Brasilien beim Küstenregenwald und an anderen Stellen zeigt sich, dass man Fortschritte machen
kann, wenn man an der Sache bleibt.
Wir müssen auch vor Augen haben - darüber haben
wir neulich in der Debatte zur Weltnahrungsmittelkrise
diskutiert -, dass es darum geht, dass wir zusammen mit
Entwicklungsländern und Schwellenländern auf eine
bessere Landnutzung, ein besseres Landmanagement vor
Ort hinwirken, das zum Beispiel zwischen Agrarflächen
und Flächen für die regenerative Erzeugung unterscheidet und den Schutz der natürlichen Vielfalt beachtet. Das
ist ganz entscheidend. Wir können von diesen Ländern
den politischen Willen, sich erstens unterstützen zu lassen und zweitens die nötigen rechtlichen und politischen
Grundlagen zu schaffen, einfordern.
({2})
Wir dürfen auch politisch ehrgeizige Länder wie Brasilien nicht aus der Pflicht lassen, auch nicht unter dem
Stichwort, dass wir Ökoimperialismus betreiben würden.
Wir sollten da jegliche Arroganz vermeiden, aber wir
sollten auch darauf hinweisen, dass Länder wie Brasilien
und China inzwischen eine ganz andere Verantwortung
in der Welt haben als früher.
({3})
Schließlich haben wir in der letzten Zeit Modelle entwickelt, wie wir die Wirtschaft in Public-Private-Partnership-Projekten besser einbeziehen können. Ich appelliere vor allem an die großen Wirtschaftsunternehmen,
die mit internationaler Landpolitik zu tun haben, sich
stärker als bisher an solchen Modellen zu beteiligen und
hier mehr Verantwortung zu übernehmen.
Wir müssen natürlich auch mit gutem Beispiel im eigenen Land vorangehen; das ist richtig. Frau Künast,
Ihre Rede war vor allen Dingen an Herrn Trittin gerichtet, der sich in die hinteren Sitzreihen verzogen hat.
({4})
Das war bezeichnend.
Ich danke ausdrücklich dem Haushaltsausschuss, der
in der letzten Sitzungswoche durch seinen Beschluss - er
ist Ihnen offensichtlich entgangen - die Geldmittel für
Natura 2000 freigegeben hat. Ich möchte mich auch ausdrücklich bei der Bundeskanzlerin für ihre klare Positionierung im Vorfeld dieses Weltnaturschutzgipfels und
auch auf unserem Kongress bedanken.
({5})
Ich wünsche ihr - das steht ja in der guten Tradition der
Union bei diesem Thema -, dem Verhandlungsteam und
auch Ihnen, Herr Gabriel, viel Beharrlichkeit, Verhandlungsgeschick und Erfolg. Wir alle brauchen diesen Erfolg.
({6})
Nun erhält das Wort die Kollegin Undine Kurth für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Vielen Dank. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Herr Minister! Liebe Gäste auf den
Rängen! Wenn man uns hier so hört, dann stellt man fest,
dass wir eigentlich alle einer Meinung sind. Biodiversitätsschutz ist notwendig, wichtig und dringend. Herr Minister, Sie haben gestern eine Ihrer Pressemitteilungen
überschrieben mit dem Satz: „Wir können uns eine Verschwendung der Natur nicht mehr leisten“. Das stimmt
voll und ganz. Auch die Formulierung, wir löschen mit
unserem Verhalten die Festplatte der Natur, ist ein wunderbares Bild, das das Problem auf den Punkt bringt.
Wenn das so ist, dann müssen die Fragen erlaubt sein:
Machen wir genug, machen wir überhaupt das Richtige,
und, wenn ja, wann machen wir eigentlich etwas? Es
muss doch möglich sein, darüber zu diskutieren.
Es reicht nicht aus, die Situation zu beschreiben. Es
ist sicherlich richtig, dass die Natur wunderschön ist.
Das hat aber weder den Sibirischen Tiger noch die Feldlerche davor bewahrt, vom Aussterben bedroht zu sein.
Bei diesem Thema geht es um einen unwiderruflichen
Verlust. Was weg ist, ist weg. Deshalb ist es richtig, darüber nachzudenken, inwiefern wir unser Verhalten ändern müssen.
({0})
Über den Schutz der Biodiversität muss endlich auf
höchster Ebene verhandelt werden. Die Erhaltung der
Biodiversität muss zur Chefsache erklärt werden. Ansonsten wird dieses Thema in den verschiedenen Ressorts und in den Ländern unter die Räder geraten.
Herr Gabriel, Sie sagten, die Nationale Biodiversitätsstrategie sei die deutsche Antwort auf die Konvention zum Schutz der biologischen Vielfalt. In dieser Strategie steht in der Tat sehr viel Richtiges, und in ihr sind
viele gute Ziele beschrieben. Wenn es aber darum geht,
wie Sie diese Ziele erreichen wollen, dann sind die Formulierungen in der Biodiversitätsstrategie ausgesprochen zurückhaltend.
Sie müssen sich mit der Frage beschäftigen, welche
Instrumente Sie anwenden wollen, um diese Ziele zu erreichen, und welche Sanktionsmaßnahmen es geben soll.
Schließlich setzen wir auch die Straßenverkehrs-Ordnung nicht nur mit Appellen durch. Wenn uns etwas am
Herzen liegt, dann müssen wir uns auch Gedanken darüber machen, wie wir es erreichen wollen.
({1})
Es reicht nicht aus, Baustellenschilder aufzubauen, wenn
hinter diesen Schildern nichts geschieht. Deshalb fordern wir ein verbindliches Arbeitsprogramm zur Umsetzung dieser Strategie. Wenn wir unser 2010-Ziel wirklich erreichen wollen, dann müssen alle Visionen, die in
der Strategie beschrieben sind, in den nächsten drei Jahren umgesetzt werden; das entspricht etwa 60 Visionen
pro Jahr. Hier ist also noch einiges zu tun. Daher müssen
Sie das Tempo erhöhen.
Undine Kurth ({2})
Unser Entschließungsantrag stellt eine Unterstützung
der Biodiversitätsstrategie dar. Wir fordern zusätzliche
Sektorstrategien; denn es muss klar sein, wie die unterschiedlichen Ressorts an der Umsetzung der Biodiversitätsstrategie mitwirken. Außerdem setzen wir uns dafür
ein, dass die Förderprogramme der Bundesregierung daraufhin überprüft werden, ob sie dazu beitragen, dass das
2010-Ziel erreicht wird. Es kann doch nicht sein, dass
durch eine Förderung im Bau- und Verkehrsressort das
genaue Gegenteil dessen erreicht wird, was Sie im Rahmen der Biodiversitätsstrategie anstreben.
Ich möchte zwei Beispiele nennen, die deutlich machen, dass Ihr Reden und Handeln nicht zusammenpassen.
Erstens. Es ist bekannt, welch hohe Anforderungen
wir an andere Länder stellen. Der Berggorilla, der
Orang-Utan, das Zebra, der Waldelefant, sie alle sollen
geschützt werden; das ist auch richtig. In diesem Zusammenhang möchte ich das Stichwort „Wildwegeplan“ erwähnen. Wir wissen, dass die Hauptursachen für den
Rückgang der Artenvielfalt in unserem Land die Flächennutzung, der Flächenverbrauch und die Flächenzerschneidung durch Verkehrsprojekte sind. Das soll nicht
heißen, dass wir in Zukunft keine Straßen mehr bauen
oder dass Straßen zurückgebaut werden sollten. Wir
müssen uns aber mit der Frage auseinandersetzen: Wie
können wir der Flächenzerschneidung begegnen und
dafür sorgen, dass Arten wieder wandern können und
Populationen die Möglichkeit haben, sich mit anderen
Populationen auszutauschen? Der NABU hat hierzu ein
hervorragendes Konzept vorgelegt, das der BUND um
einen Wildkatzenplan ergänzt hat. Es wird deutlich, dass
man die Zerschneidung der Landschaft im Rahmen des
Bundesverkehrswegeplanes verringern kann, wenn man
die richtigen Maßnahmen einleitet. Wir haben diese
Konzepte aufgegriffen und einen entsprechenden Antrag
formuliert. Das Ergebnis lautet: abgelehnt. Soll das heißen, dass die anderen Länder die Biodiversität schützen
sollen und dass wir die Gelegenheiten, die wir haben,
nicht ergreifen?
Zweitens: zum Tropenwaldschutz. In Brasilien
wurde uns deutlich vor Augen geführt, dass Klima- und
Biodiversitätsschutz zusammengehören. Deshalb haben
wir einen Antrag zum Tropenwaldschutz vorgelegt, in
dem wir fordern, dass ein Sofortfinanzierungsprogramm
aufgelegt wird. Auch wenn wir für die Ergebnisse im
Rahmen unserer G-8-Präsidentschaft gelobt worden
sind, ist festzustellen: 210 Millionen Euro reichen nicht
aus; das wissen wir. Es muss mehr Geld her. Deutschland sollte dem Beispiel Norwegens folgen. Dort werden
pro Jahr 500 Millionen Euro für den Tropenwaldschutz
zur Verfügung gestellt. Das sollten auch wir ab dem
nächsten Jahr tun. Denn Sie haben zu Recht gesagt, dass
wir die anderen Länder mit diesem Problem nicht alleinlassen dürfen.
In Anbetracht dieser zwei Beispiele stellt sich die
Frage: Reden Sie nur über dieses Thema und stellen Sie
lediglich fest, dass es hier ein Problem gibt, oder handeln
Sie auch? Denn Handeln ist dringend erforderlich.
({3})
Wir wollen uns als Gastgeberin natürlich darum bemühen, dass die beiden Konferenzen nein Erfolg werden. Herr Minister, deshalb ist es besonders wichtig,
dass man nicht nur von einer umfassenden Biodiversitätspolitik redet, sondern auch zeigt, dass man sie umsetzt. Dabei sollte das ganze Kabinett einbezogen werden; denn Sie haben völlig recht: Wir können uns eine
Verschwendung der Natur nicht mehr leisten. Sie sollten
endlich entsprechend handeln.
({4})
Frau Kollegin Groneberg hat nun das Wort für die
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Heute Morgen ist bereits deutlich gemacht worden, dass
Deutschland eine hohe Verantwortung für einen erfolgreichen Abschluss der 9. Vertragsstaatenkonferenz der
Konvention über die biologische Vielfalt trägt. Der Erfolg dieser internationalen Konferenz wird von zwei
Faktoren abhängen: zum einen davon, inwieweit wir
Möglichkeiten eines angemessenen Umgangs mit den
natürlichen Ressourcen weltweit finden, zum anderen,
wie wir insbesondere die Entwicklungsländer in die
Lage versetzen, zum Erhalt der Biodiversität beizutragen. Deshalb ist es außerordentlich wichtig, in den
nächsten zwei Jahren, in denen Deutschland den Vorsitz
der Vertragsstaatenkonferenz innehat, zu einem internationalen Regime zu finden, das rechtsverbindliche Regelungen mit klar definierten Anreizen und Sanktionen
festlegt.
({0})
Unzweifelhaft ist, dass die Weichenstellungen, die wir
jetzt vornehmen, maßgeblichen Einfluss auf die Lebensgrundlagen aller Menschen auf der Welt haben werden.
Wir wissen, dass sich fast 90 Prozent der genetischen
und biologischen Vielfalt in den Entwicklungsländern
wiederfindet, dass also der Erhalt der Biodiversität
- darüber ist heute Morgen schon gesprochen worden nicht nur für uns, sondern auch für die dort lebenden
Menschen von existenzieller Wichtigkeit ist. Eine große
Vielfalt von verschiedenen Anbausorten und Nutztierarten trägt zur Ernährungssicherheit in diesen Ländern
bei. Ich fand das vorhin von Umweltminister Sigmar
Gabriel genannte Beispiel einer Reissorte äußerst beeindruckend; ich wusste davon noch nicht.
Die nachhaltige Nutzung der Biodiversität nutzt letzten Endes der Ernährungssicherheit und der Armutsbekämpfung. Im Umkehrschluss heißt dies, dass ein
Verlust von Biodiversität zur Verschärfung der Armutssituation in den Entwicklungsländern beiträgt. Auch
dazu hat Sigmar Gabriel eine Menge gesagt; ich fand
seine Rede wirklich beeindruckend.
Derzeit verschwinden jährlich Waldflächen in einer
Größe von rund 15 Millionen Hektar - das ist ein Drittel
der Fläche der Bundesrepublik - von der Erde. Das ist
für uns alle ein Problem; denn die unangepassten Landnutzungsformen tragen stärker zum Klimawandel bei
- man beachte! - als die weltweiten Verkehrsemissionen. Darauf möchte ich, weil vorhin über den Straßenbau geredet worden ist, deutlich hinweisen.
Was tun wir jetzt, und was haben wir in der letzten
Zeit gemacht? Ich möchte mich an dieser Stelle mit einem konkreten Beispiel, das ich für vorbildlich halte, beschäftigen. Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit
berücksichtigt in ihren Programmen schon seit längerem
die Gesamtzusammenhänge der Biodiversität. Projekte
zum Schutz und zur nachhaltigen Bewirtschaftung vor
allen Dingen der Wälder wurden schon lange gefördert.
Deutschland unterstützt unter anderem die COMIFAC,
die Waldkommission Zentralafrikas. In dieser Kommission haben sich zehn Regierungen der Anrainerstaaten des Kongobeckens und 20 internationale Entwicklungs- und Umweltorganisationen zusammengefunden,
um sich darum zu kümmern, grenzübergreifend - ich betone: grenzüberschreitend - eine nachhaltige Waldbewirtschaftung zu erreichen. Angesichts der ganzen Konflikte und Krisen in Afrika kann man sagen, dass es sich
bei dieser Zusammenarbeit um ein besonderes Beispiel
handelt.
10 Prozent der Wälder in dieser Region sind von der
Kommission unter Schutz gestellt worden; das entspricht
einer Fläche von 18 Millionen Hektar. Die Kommission
beobachtet die Einhaltung der Vorschriften und organisiert die Umsetzung vor Ort. Drei Viertel der Wälder
dürfen unter Auflagen bewirtschaftet und genutzt werden. Dabei ist wichtig, dass eine Zertifizierung - eine
Legalitätsprüfung -, die Voraussetzung für den Export
von Holzprodukten ist, erreicht werden soll. Die Kommission überprüft die Erfüllung dieser Vorgabe.
Wichtig ist auch, dass die Bevölkerung hierbei Gewinner ist, weil sie an der Nutzung der Wälder beteiligt
wird: Die erwirtschafteten Gelder werden für die lokale
Entwicklung - für Schulen, Gesundheitsvorsorge, Wasserversorgung und dergleichen - eingesetzt. Ich finde,
dass es solche Beispiele öfter geben sollte.
({1})
Wir wissen, dass wir bei dieser Konferenz eine hohe
Verantwortung tragen. Wir wollen mit den Entwicklungsländern auf Augenhöhe über die biologische Vielfalt reden. Ich wünsche - ich denke, Sie sicherlich auch - dieser
Konferenz allen erdenklichen Erfolg. Wir brauchen ihn.
Danke schön.
({2})
Das Wort erhält nun der Kollege Caesar für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen! Kollegen! Die
Natur schützen und den zukünftigen Generationen ein
gesundes Lebensumfeld übergeben, das bedeutet, Verantwortung zu übernehmen. Wir hier im Deutschen Bundestag haben aus meiner Sicht besondere Verantwortung
zu übernehmen.
Ich glaube, dass wir bei der bevorstehenden CBDKonferenz insbesondere durch unsere Bundeskanzlerin
gut vertreten sind. Sie hat schon, als es um die Erreichung der Klimaschutzziele ging, gezeigt, dass sie überzeugen kann. Ich bin ganz sicher, dass ihr das auch bei
der CBD-Konferenz gelingen wird.
({0})
Deutschland hat 11,1 Millionen Hektar Wald. Jedes
Jahr gehen weltweit 12 bis 13 Millionen Hektar Wald
verloren - also mehr, als Deutschland insgesamt Wald
hat -, die Hälfte davon für immer. Kahlschlagen, Torf
freilegen, abbrennen, allenfalls noch für einen kurzen
Zeitraum nutzen, dann kommen Steppe, Verfelsung, Bodenabschwemmung, der Verlust auf Dauer - das ist das
Bild, das wir uns vor Augen halten müssen. Wir müssen
handeln.
Die CBD-Konferenz, die vom 19. bis 30. Mai in
Bonn stattfinden wird, gibt uns die riesige Chance, umzukehren, den richtigen Weg einzuschlagen. Dazu gehört, dass wir uns Alternativen überlegen. Wir müssen
das Life Web, das Netz des Lebens, tatsächlich entwickeln. Das bedeutet Schutzgebiete, das bedeutet Kernzonen, das bedeutet aber auch nachhaltige Bewirtschaftung. Es ist sehr wichtig, dass wir die vor Ort lebenden
Menschen einbeziehen, dass wir sie nicht in ihrer Armut
im Stich lassen und die Ressourcen für uns verwenden.
Die Menschen vor Ort müssen teilhaben; es muss einen
gerechten Vorteilsausgleich geben.
({1})
Wir müssen ihre Produkte abnehmen; da gebe ich Umweltminister Gabriel ausdrücklich recht. Deutschland
hat eine besondere Verantwortung für die Arbeitsplätze
vor Ort. Wir dürfen die Kapazitäten der dortigen Holzindustrie nicht schädigen oder sie gar kaputtmachen; das
würde Armut vor Ort bedeuten.
Wir müssen allerdings auf nachhaltige Bewirtschaftung und Nutzung drängen. Das ist möglich, auch
durch privatwirtschaftliche Modelle.
({2})
Ein gutes Beispiel ist das Naturwaldbewirtschaftungsprogramm Brasiliens. Bei Precious Woods Pará wird auf
76 000 Hektar - zukünftig auf bis zu 150 000 Hektar unter Einbeziehung anerkannter Zertifizierungssysteme
nachhaltige Forstwirtschaft betrieben. Das zeigt, dass
eine umweltverträgliche Nutzung möglich ist, dass die
Menschen vor Ort den Wald bewirtschaften und damit
Einnahmen haben können und gleichzeitig der Wald er16820
halten und auf Dauer die Nachhaltigkeit nach Sorte und
Menge gewährleistet werden kann.
({3})
Der Urwald ist zugegebenermaßen - ich glaube, das
ist ein Bewusstseinsproblem - weit weg. Wie kann man
sich sonst erklären, dass wir in Deutschland darüber diskutieren, welche finanziellen Ressourcen wir für das Erneuerbare-Energien-Gesetz, für das Erneuerbare-Energien-Wärmegesetz und viele andere Dinge einsetzen
wollen, während zu vermerken ist, dass 20 Prozent der
weltweiten CO2-Emissionen durch Urwaldvernichtung
entstehen? Hier gilt es zu handeln. Urwaldschutz ist
nämlich eine der effizientesten und kostengünstigsten
Methoden, das Klima zu schützen.
Es ist wichtig, dass wir auf EU-Ebene sowie auf internationaler Ebene unsere Partner einbeziehen. Wir müssen im CBD-Prozess für die Landnutzung, für die
Schutzgebiete, für die nachhaltige Bewirtschaftung spätestens bis 2010, für den Meeresschutz spätestens bis
2012 zu klaren rechtlichen Rahmenbedingungen kommen.
({4})
Deutschland hat gerade im Holzsektor eine besondere
Verantwortung; denn wir sind weltweit der drittgrößte
Holzimporteur. Wir importieren 100 Millionen Kubikmeter Holz pro Jahr. Deshalb müssen wir uns bei unseren Partnern in Europa dafür einsetzen, das FLEGT-System endlich mit Leben zu erfüllen.
Wir, die Union, wollen eine Dokumentation der erhaltenswerten Gebiete. Ich glaube, es ist richtig, dass die
Länder, in denen es Tropen- bzw. Urwälder gibt, uns die
Gebiete benennen, die sie als erhaltenswert ansehen. Wir
müssen uns hier finanziell engagieren. Die Finanzierung
darf nicht allein durch den Bundeshaushalt erfolgen; wir
müssen die Wirtschaft mit einbeziehen. Es gibt entsprechende Modelle; ich habe sie eben genannt. Gleichzeitig
müssen wir bei den Vereinbarungen darauf achten, dass
eine Kontrolle möglich ist. Durch technische Möglichkeiten - etwa durch GPS, die Satellitenüberwachung ist die Grundlage dafür gelegt. Schon bald kann man
auch aufgrund gentechnischer Untersuchung sagen, woher der Baum kommt, den man im Hamburger Hafen
vorfindet und der bei uns verbaut werden soll. Das müssen wir einbeziehen, Herr Umweltminister. Ich glaube,
dann kommen wir voran.
Es ist wichtig, dass wir dagegen angehen, dass uns
um die 6 Millionen Hektar Wald jährlich verloren gehen.
Es muss Wiederaufforstungsprogramme geben. Bei devastierten Gebieten sollte man auch an die Versorgung
der Holzindustrie denken; ansonsten geht an anderer
Stelle Urwald verloren. Hier haben wir die Möglichkeit,
einen Ausgleich zu schaffen.
Beim Zugang zu genetischen Ressourcen müssen wir
einen gerechten Vorteilsausgleich sichern. Wir müssen
uns auch um den Meeresschutz und die Küstenökosysteme kümmern. Hier gibt es einen erheblichen Nachholbedarf. Ebenso wichtig ist es, Umweltbildungsmaßnahmen zu ergreifen, hier in Deutschland, in Europa, aber
auch bei den Menschen vor Ort, um zu zeigen, wie wichtig der Wald ist. Wir müssen uns die Frage stellen, ob wir
jetzt etwas tun wollen. Wenn wir diese Frage bejahen,
dann gilt es, zu handeln und bei der CBD die richtigen
Pflöcke einzuschlagen.
Ich bedanke mich.
({5})
Das Wort erhält nun der Kollege Dr. Sascha Raabe für
die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir haben heute schon oft gehört, dass der
Großteil der Biodiversität in den Entwicklungsländern
vorkommt. Ich möchte das an einem Beispiel verdeutlichen: An einem einzigen Baum im Amazonasregenwald
in Ecuador - im sogenannten ITT-Gebiet - leben mehr
Käferarten als in ganz Europa zusammen.
Wir reden heute - Bundesumweltminister Gabriel hat
das schon angesprochen - über Gebiete, die uns nicht
gehören. Wir werden daher durch diese globale Aufgabe
in die Verantwortung gestellt, den Ländern, in denen Armut und Hunger die Hauptprobleme sind, finanziell die
Möglichkeit zu geben, sich zu entwickeln, auch wenn sie
ihre Wälder nicht nutzen. Wir in Europa sollten ein bisschen selbstkritisch in die eigene Vergangenheit schauen.
Früher, als die Länder, in denen wir leben, noch nicht industrialisiert waren, haben wir unsere Wälder großflächig abgeholzt und Flächen verbraucht. Das tun wir zum
Teil heute noch. Deswegen müssen wir diesen Ländern
die Möglichkeit geben, sich entsprechend zu entwickeln,
ohne die Fehler zu machen, wie wir sie gemacht haben.
Die neue Regierung in Ecuador hat erkannt, dass
auch sie eine Verantwortung für unsere Natur hat. In diesem Zusammenhang möchte ich daran erinnern, dass in
den Regenwäldern nicht nur Käfer und andere exotische
Tiere leben, sondern auch viele indigene Völker. Auch
für diese Völker müssen wir sorgen und die Wälder und
Lebensräume erhalten. Die Regierung Ecuadors ist bereit, ihren Beitrag dazu zu leisten.
Aber ausgerechnet in dem Gebiet, das die weltweit
größte Biodiversität aufweist, liegt auch das größte Erdölvorkommen Ecuadors. Die Regierung hat sich bereit
erklärt, auf die Hälfte der Einnahmen aus der möglichen
Erdölförderung zu verzichten, wenn die internationale
Gemeinschaft die andere Hälfte finanziell kompensiert.
Dafür verpflichtet sie sich, dieses Geld in lokale, ökologisch nachhaltige Projekte, die der Bevölkerung vor Ort
zugute kommen, und in Armutsbekämpfung zu investieren. Die Regierung ist auf diese Mittel angewiesen, um
die Probleme lösen zu können.
Die Bundesregierung ist einen Schritt vorangegangen
und hat Geld zur Verfügung gestellt, damit Möglichkeiten der Umsetzung geprüft werden können. Ich appelDr. Sascha Raabe
liere an dieser Stelle an das Hohe Haus: Lassen Sie uns
diesen Vorschlag unterstützen und den Regenwald retten, damit dort sowohl die Biodiversität als auch die indigenen Völker geschützt werden können.
({0})
Ein anderes Beispiel, das deutlich macht, wie Umwelt
und Entwicklung zusammengehören und welche
Wechselwirkungen sich daraus ergeben, ist Indonesien.
Dort gibt es die größten noch verbleibenden Regenwaldflächen, deren Entwaldung - vor allem für die Palmölproduktion - in einem dramatischen Tempo vorangeht.
Heute wurden schon mehrfach die Biokraftstoffe angesprochen. Zur aktuellen Problematik ist anzuführen, dass
in Indonesien 80 Prozent der Palmölproduktion in der
Kosmetikindustrie verbraucht werden. Mancher Dame
hier ist vielleicht gar nicht bewusst, dass in ihrer Gesichtscreme ein halber Tropenwaldbaum verarbeitet
wurde. Aber das gilt - um dem Gender-Aspekt gerecht
zu werden - auch für Männer.
({1})
Die Biokraftstoffe verschärfen die Problematik zusätzlich.
Neben der Vernichtung der Regenwälder geht es auch
um das Problem der Nahrungsmittelkonkurrenz; denn
zum Teil werden keine Nahrungsmittelpflanzen mehr
angebaut, um die Flächen für den Anbau von Planzen zu
nutzen, die für die Herstellung von Biokraftstoffen verwendet werden können. Das verschärft die derzeitige
Nahrungsmittelkrise weiter. Deswegen wollen wir neben
den ökologischen Kriterien nur Importe aus nachhaltigem Anbau zulassen, der nicht zulasten der Nahrungsmittelproduktion geht und bei dem die ILO-Kernarbeitsnorm eingehalten wird. Auch darauf müssen wir achten.
Ich stimme Sigmar Gabriel ausdrücklich darin zu,
dass das für Entwicklungsländer eine echte Chance sein
kann. In Brasilien gibt es in der Tat positive Nutzungsmöglichkeiten. Aber wir müssen strikt auf die Zertifizierung und entsprechende Nachweise achten und eine Beweislastumkehr anstreben, sodass uns gegenüber der
Nachweis erbracht wird, dass ökologische und soziale
Kriterien eingehalten werden. Ich glaube, damit können
wir Umwelt und Entwicklung zusammenbringen.
In dem Sinne wünsche ich der Konferenz in Bonn viel
Erfolg.
({2})
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Josef Göppel für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der bisherigen Debatte wurden die internationalen Aspekte in
Hinblick auf die Artenschutzkonferenz ausgiebig dargestellt. Ich möchte auf den Beitrag eingehen, den wir selber und die Europäer insgesamt leisten müssen.
Deutschland hat auf internationaler Ebene unbestreitbar mehr finanzielle Beiträge geleistet als die meisten
anderen Länder. Wir sind maßgeblich am Weltbankfonds
beteiligt, der etwa 3 Milliarden Euro umfasst und in den
die Erlöse aus dem Emissionshandel nach dem Beschluss der Klimakonferenz auf Bali einfließen sollen.
Wir stellen zusätzlich für den internationalen Waldschutz für besonders dringliche und akute Projekte
40 Millionen Euro bereit, die über das Bundesumweltministerium sowie unsere nationalen Institutionen wie
die GTZ und die NGOs eingesetzt werden sollen.
({0})
Wir sind in den Augen der Entwicklungsländer aber
vor allem dadurch glaubwürdig, dass Europa ein Netz
von natürlichen Lebensräumen, Natura 2000, geschaffen hat. Für unser Land macht das gut 10 Prozent aus.
Wenn wir von Entwicklungsländern und armen Ländern
verlangen, große Waldschutzgebiete auszuweisen, dann
müssen wir selber vorangehen. Das hat Europa gemacht.
Es ist kein Zufall, dass 1992 das Europäische Parlament
den Beschluss gefasst hat, das Natura-2000-Netz einzurichten, also in dem Jahr, in dem in Rio de Janeiro die
1. Vertragsstaatenkonferenz des Übereinkommens über
die biologische Vielfalt stattgefunden hat. Das Natura2000-Netz bedarf nun einer eigenständigen Finanzierung
im Rahmen des europäischen Haushalts; denn es handelt
sich hier um eine Daueraufgabe. Es ist nicht sach- und
systemgerecht, hierfür der Landwirtschaft Geld wegzunehmen. Es handelt sich vielmehr um eine eigenständige
Aufgabe der gesamten Gesellschaft.
({1})
Wir müssen in Deutschland noch eine Reihe von Aufgaben erfüllen. Wenn man sieht, dass 36 Prozent der
Tierarten, die bei uns heimisch sind, gefährdet sind, dann
ist ganz klar, wo wir ansetzen müssen. Ich teile deshalb
die Idee, bei den Infrastrukturmaßnahmen, bei Straßen- und Schienennetzen, in unserem Land daran zu
denken, dass wildlebende Tiere diese für die Menschen
gedachten Strukturen überwinden müssen, wenn sie in
der Zivilisation überleben sollen.
Herr Kollege Göppel, möchten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Happach-Kasan zulassen?
Gerne.
Lieber Kollege Göppel, ich finde es sehr gut, dass Sie
auf die Problematik der gefährdeten Wildtierarten in
Deutschland hinweisen und verlangen, Maßnahmen sowohl in der Verkehrspolitik als auch in der Infrastrukturpolitik zum besseren Schutz dieser Tiere zu ergreifen.
Wir wissen, dass beispielsweise mehr als die Hälfte des
Rehwildbestandes auf der Straße verendet, also nicht
durch die Jagd getötet wird.
Ich frage Sie vor diesem Hintergrund, mit welcher
Begründung die CDU/CSU-Fraktion gemeinsam mit der
SPD-Fraktion gestern im Agrarausschuss den von meiner Fraktion unter Federführung der Kollegin
Brunkhorst erarbeiteten Antrag, der genau das, was Sie
hier beschreiben, zum Ziel hat, abgelehnt hat.
Ich denke, dass wir uns in der weiteren Diskussion
annähern werden. Über die Ziele sind wir uns einig. Wir,
die Menschen, müssen bei der Errichtung zivilisatorischer Einrichtungen zunehmend an die Geschöpfe denken, die mit uns leben. Es ist gutes Recht der Opposition,
einen solchen Antrag mit konkreten und terminbezogenen Geldsummen einzubringen. Aber Sie verstehen sicherlich, dass eine Regierungskoalition eine etwas vorsichtigere Haltung einnehmen muss.
({0})
Das war der einzige Grund, warum wir nicht sofort zugestimmt haben. Wir werden aber über diese Sache sicherlich weiter positiv diskutieren.
Ich möchte noch einen anderen Gesichtspunkt erwähnen. Wir haben zurzeit einen besonders starken Rückgang der Zahl der Tierarten in den Ackerlagen zu beklagen. Ich nenne den Kiebitz und die Feldlerche als
Beispiele. Wir brauchen deshalb freiwillige Förderangebote an die Landwirte im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“.
Wer sich in der Zivilisation ein Herz für die Natur bewahrt hat und über einen Feldweg geht und eine aufsteigende, jubilierende Lerche erlebt, der kann - besser als
in vielen Bundestagsreden - verspüren, wie wertvoll die
Schöpfung für uns ist. Das Ganze muss aber mit etwas
Geld unterlegt werden.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit auf
Drucksache 16/9106. Der Ausschuss empfiehlt unter
Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung in Kenntnis der Unter-
richtung der Bundesregierung auf Drucksache 16/7082
über die „Nationale Strategie zur biologischen Vielfalt“
die Annahme des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU
und SPD auf Drucksache 16/8756 mit dem Titel
„Weltnaturschutzgipfel 2008 in Bonn - Biologische Viel-
falt schützen, nachhaltig und gerecht nutzen“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt da-
gegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung
ist mit Mehrheit angenommen.
Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des
Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/8878 mit
dem Titel „Leitlinien für den internationalen Arten- und
Lebensraumschutz im Rahmen des Übereinkommens
über die biologische Vielfalt“. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer ent-
hält sich? - Diese Beschlussempfehlung ist ebenfalls mit
großer Mehrheit gegen die Stimmen der FDP-Fraktion
angenommen.
Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9106 die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen auf Drucksache 16/8890 mit dem Titel „Erhalten,
was uns erhält - Die UN-Konferenzen zur biologischen
Sicherheit und zum Übereinkommen über die biologi-
sche Vielfalt zum Erfolg machen“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Auch diese Beschlussempfehlung ist mit
der Mehrheit der Koalitionsfraktionen angenommen.
Unter Nr. 4 seiner Beschlussempfehlung wird die Ab-
lehnung des Antrags der FDP-Fraktion auf Druck-
sache 16/8077 mit dem Titel „Naturschutz praxisorien-
tiert voranbringen - Entwicklung der Wildtiere in
Deutschland“ empfohlen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer ent-
hält sich? - Auch diese Beschlussempfehlung ist mit
Mehrheit angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 5 sei-
ner Beschlussempfehlung, eine Entschließung anzuneh-
men. Wer stimmt dieser Beschlussempfehlung zu? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Diese Beschluss-
empfehlung ist bei Stimmenthaltung der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke angenom-
men.1)
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 16/9116. Wer stimmt für diesen Entschlie-
ßungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? -
Der Entschließungsantrag ist mit Mehrheit abgelehnt.
Zum Tagesordnungspunkt 3 b gibt es eine Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit zum Antrag der FDP-Fraktion mit
dem Titel „Allgemeine Grundsätze für den Naturschutz
in Deutschland“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 16/7278, diesen An-
trag der FDP-Fraktion abzulehnen. Wer stimmt dieser
Beschlussempfehlung zu? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist angenom-
men.
Schließlich geht es unter dem Tagesordnungs-
punkt 3 c um die Abstimmung über einen Antrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/9066 mit dem Ti-
tel „UN-Biodiversitätsgipfel durch Vorreiterrolle beim
Schutz der biologischen Vielfalt und fairen Nord-Süd-
Ausgleich zum Erfolg führen“. Wer stimmt für diesen
Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? -
Der Antrag ist mehrheitlich abgelehnt.
1) Anlage 2
Präsident Dr. Norbert Lammert
Interfraktionell wird unter Tagesordnungspunkt 3 d
die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/9065
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse
vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist
offenkundig der Fall. Dann ist die Überweisung so be-
schlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus
Ernst, Hüseyin-Kenan Aydin, Dr. Lothar Bisky,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Förderung der Altersteilzeit durch die Bundesagentur für Arbeit fortführen
- Drucksache 16/9067 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({1})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Volker Schneider
({2}), Klaus Ernst, Hüseyin-Kenan
Aydin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Altersteilzeit fortentwickeln
- zu dem Antrag der Abgeordneten Volker Schneider
({3}), Klaus Ernst, Hüseyin-Kenan
Aydin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Rente mit 67 - Berichtspflicht zum Arbeitsmarkt nicht verwässern - Bestandsprüfungsklausel konkretisieren
- Drucksachen 16/4552, 16/4553, 16/6749 Berichterstattung:
Abgeordneter Peter Weiß ({4})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Damit sind offenkundig alle einverstanden.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Volker Schneider für die Fraktion Die Linke das Wort.
({5})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Vor einiger Zeit traf ich nach vielen Jahren einen Klassenkameraden aus meiner Volksschulzeit, den ich schon
eine Ewigkeit nicht mehr gesehen hatte. Zuerst habe ich
ihn nicht erkannt; denn er sah deutlich älter aus als ich,
obwohl wir nur einige Monate auseinander sind. Er erzählte mir, dass er als Werkzeugmacher bei einem Zuliefererbetrieb des saarländischen Bergbaus arbeite. Das sei
ein Knochenjob. Es seien nun einmal große Maschinen,
und er habe insbesondere bei Wartungsarbeiten schwere
Teile zu heben. Die vorzeitige Alterung meines Schulkameraden kam also nicht von nichts. Er erzählte weiter,
dass ihm die Arbeit zunehmend schwerer falle. Überschichten gehe er aus dem Weg. Früher habe er diese
wegen des Geldes gerne gemacht, heute steckten sie ihm
tagelang in den Knochen. Neuerdings frage er sich bei
jedem Geburtstag, wie lange er das noch durchhalten
könne. Es sei für ihn schlicht unvorstellbar, dass er noch
mit 60 dieser schweren Arbeit nachgehen könne. Und
jetzt hätten die Spinner in Berlin auch noch die Rente
mit 67 eingeführt. Dann müsste er noch sieben Monate
länger arbeiten oder sich die Rente noch mehr kürzen
lassen.
({0})
- Herr Grotthaus, ich habe dagegen gestimmt.
Ich sage Ihnen eines: Dieser Mann ist alles andere als
ein Einzelfall.
({1})
Auf dem Bau schaffen es die Beschäftigten im Schnitt
nicht bis zum 60. Lebensjahr. Und es sind auch nicht die
körperlich schwer belastenden Arbeiten allein, die es den
Menschen unmöglich machen, bis zum 65., geschweige
denn bis zum 67. Lebensjahr einer Vollzeiterwerbstätigkeit nachzugehen. In meinem Beruf - ich bin Sozialarbeiter - leiden viele ältere Kolleginnen und Kollegen in
psychisch hoch belastenden Arbeitsfeldern - etwa in der
stationären Psychiatrie - unter dem Burn-out-Syndrom.
Es nützt niemandem - auch nicht deren Klientel -, wenn
sich diese Kolleginnen und Kollegen irgendwie noch in
die Rente schleppen.
({2})
Ja, es gibt auch Menschen, die völlig problemlos über
das 65. und selbst über das 67. Lebensjahr hinaus arbeiten können; ein Blick in die Reihen dieses Hauses genügt.
({3})
Deshalb sagen wir Linke, dass angesichts der Vielfalt
der Arbeitswelt, dass angesichts völlig unterschiedlicher
körperlicher und/oder seelischer Belastungen eine starre
Altersgrenze zunehmend weniger den Lebensleistungen
älterer Arbeitnehmer gerecht wird.
({4})
Wir wollen, dass Arbeitnehmer eine Chance haben,
möglichst gesund aus dem Berufsleben auszuscheiden.
({5})
Was wir dringend brauchen, sind flexible Übergänge in
den Ruhestand. Darin sind wir uns hier im Hause wohl
alle - mit Ausnahme der CDU/CSU-Fraktion - einig.
Nur über das Wie wird trefflich gestritten.
Aber während noch über die Konstruktion neuer Brücken gestritten wird, werden die alten schon abgerissen.
Die Benutzung des Notausgangs Erwerbsminderungsrente hat bereits Rot-Grün drastisch eingeschränkt. Der
Volker Schneider ({6})
Zugang in diese Rentenform ist um mehr als ein Drittel
zurückgegangen. Jetzt soll auch noch die Altersteilzeit
auslaufen. „Arbeiten bis zum Umfallen!“ ist jetzt wohl
die Devise.
Vergessen wir nicht, dass es der Sozialdemokrat
Müntefering war, der gegen alle Widerstände nicht nur
die Rente mit 67 durchgepowert hat,
({7})
sondern auch gleichzeitig das Ende der Altersteilzeitförderung verbrochen hat. Also, auf der einen Seite heißt es
nun länger arbeiten, auf der anderen Seite werden die
Ausstiegsmöglichkeiten zugestellt. Wer vorzeitig aus
dem Berufsleben ausscheiden will, muss deftige Abschläge in Kauf nehmen. Was anderes als eine brutale
Rentenkürzung für körperlich und/oder seelisch Ausgebrannte ist denn ein solches Vorgehen?
({8})
Ist das noch sozial, liebe Kolleginnen und Kollegen der
SPD?
Dass Übergänge vom Erwerbsleben in die Rente sozial zu gestalten sind, darauf haben wir Linke mit einer
Reihe von Anträgen hingewiesen. Auch wenn Sie diese
reflexartig abgelehnt haben, stellen wir als Linke heute
fest, dass es sich lohnt, den Finger immer wieder in die
Wunde zu legen. Irgendwann merkt selbst die SPD, was
für einen Schwachsinn sie verzapft.
({9})
Das Präsidium der SPD hat am 5. Mai ein Papier für
die Weiterentwicklung der Altersteilzeit und Teilrente
beraten. Das ist zwar eine Schmalspurvariante der bisherigen Regelung, aber immerhin besser als gar nichts.
Wenn sich die SPD in dieser Frage jetzt bewegt, dann
geschieht dies nur, weil wir sie in Bewegung gebracht
haben.
({10})
Die Linke sorgt dafür, dass eine Kernforderung der Gewerkschaften im parlamentarischen Raum eine Stimme
erhalten hat. Dem können Sie sich nicht entziehen, und
deshalb macht nur eine starke Linke Deutschland sozialer.
({11})
Große Koalition heißt in der Frage der Altersteilzeit
einmal mehr großer Ärger. Selbst die Schmalspurvariante der SPD lehnt die CDU/CSU entschieden ab.
Die auslaufende Regelung habe nicht den erhofften Erfolg gehabt, sondern faktisch zur Frühverrentung beigetragen, so der Kollege Brauksiepe am Dienstag. Das ist
eine erstaunliche Bewertung. Welchen Sinn hat denn die
Altersteilzeit? Doch wohl den, dass Menschen früher in
Rente gehen können, und zwar so, dass dies nicht mit einem finanziellen Absturz verbunden ist.
Was wäre denn Ihre Alternative, Herr Brauksiepe:
dass man als Arbeitnehmerin oder Arbeitnehmer auch
noch selbst dafür bezahlt, dass man sein Leben lang so
hart geschuftet hat, dass man es einfach nicht mehr
packt? Allein im letzten Jahr bekamen fast 105 000 junge
Menschen einen Arbeitsplatz, der zuvor durch Altersteilzeit frei gemacht worden ist. Was, Herr Brauksiepe, bieten Sie diesen jungen Menschen zukünftig als Alternative: die Arbeitslosigkeit, einen 1-Euro-Job, Midi- oder
Minijob, Leiharbeit, eine Teilzeit- oder befristete Beschäftigung? Oder aus welchen sonstigen prekären Beschäftigungen besteht Ihr fantastischer Aufschwung?
Für uns Linke jedenfalls ist die Altersteilzeitförderung gelebte Solidarität zwischen den Generationen.
({12})
Ältere Beschäftigte können aus dem Arbeitsleben zu ordentlichen Konditionen ausscheiden, jüngere kommen in
den Arbeitsprozess hinein. Wenn die Altersteilzeitförderung abgeschafft wird bzw., wie geplant, ausläuft,
kommt es zu einem massiven Anstieg der Jugendarbeitslosigkeit und zu mehr Altersarmut. Sagen Sie dann nicht,
das hätten Sie vorher nicht gewusst!
Noch ein paar Worte zur SPD und ihren Vorschlägen.
Wir sind gespannt, wann sie uns einen entsprechenden
Antrag vorlegt. Dass Sie im Herbst dieses Jahres ein Gesamtkonzept „Altersgerechtes Arbeiten - Zukunftssichere Rente“ vorlegen wollen, dürfte zumindest für die
Altersteilzeit etwas spät sein. 2009 läuft die Förderung
aus; deshalb wurden entsprechende Tarifverträge von
der IG Metall vorsorglich gekündigt. Die SPD will, dass
ab 2010 Altersteilzeit für alle Neuanträge erst ab dem
57. Lebensjahr möglich ist. Damit werde bei der Altersteilzeit angeblich die Anhebung der Regelaltersgrenze
um zwei Jahre nachvollzogen. Wieso dann aber schon
2010? Die Rente mit 67 ist zu diesem Zeitpunkt noch
nicht einmal gestartet. Vollständig umgesetzt wird sie
erst 2029 sein.
({13})
Dass für die Wiederbesetzung der Stellen nur Ausbildungsabsolventen, nicht aber andere junge Arbeitslose
infrage kommen sollen, ist nur schwer nachzuvollziehen.
Nicht zu akzeptieren sind Überlegungen, statt einer Wiederbesetzung der Stellen auch die Schaffung eines Ausbildungsplatzes als Ausgleich gelten lassen zu wollen.
Das zeigt aber, dass Sie trotz aller Ihrer Schaufensterreden genau wissen, wie es auf dem Ausbildungsmarkt
aussieht.
({14})
Aber die Altersteilzeit ist nicht das Instrument, um Ihr
Versagen zu kaschieren, junge Menschen in genügend
großer Zahl und frühzeitig in Ausbildung zu bringen.
({15})
Nicht mehr spaßig sind Ihre Vorschläge zum Teilrentenbezug; denn dieser soll unmöglich sein, wenn im
späteren Verlauf eine Abhängigkeit von der Grundsicherung im Alter verursacht wird. Das ist nun wirklich fast
nicht mehr zu glauben. Sie tun alles dafür, dass es den
Volker Schneider ({16})
Menschen Jahr für Jahr schwerer fallen wird, noch eine
vernünftige Rente zu erhalten.
({17})
Sie senken das Rentenniveau und muten den Leuten zunehmend Beschäftigung in prekären Arbeitsverhältnissen zu. Wenn sie in ihrem Leben jede noch so üble und
noch so schlecht bezahlte Arbeit angenommen haben
bzw. annehmen mussten, dann verweigern Sie ihnen
auch noch den flexiblen Übergang in die Rente. Das
heißt doch wohl: Wer hat, dem wird gegeben; wer nichts
hat, muss sehen, wo er bleibt.
({18})
Es gibt also noch vieles zu diskutieren; aber die Altersteilzeit verlangt heute eine Lösung. Deshalb fordert
die Linke die Bundesregierung auf, jetzt die Förderung
der Bundesagentur für Arbeit von Leistungen nach dem
Altersteilzeitgesetz fortzuführen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({19})
Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Dr. Ralf
Brauksiepe das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Große Koalition hat in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart, Anreize zur Frühverrentung abzubauen, um Impulse für mehr Beschäftigung von älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zu geben. Ich sage auch
heute: Das ist genau der richtige Weg, der schon erhebliche Erfolge auf dem Arbeitsmarkt erzielt hat.
({0})
Wir haben eine sehr positive Entwicklung bei der
Beschäftigung Älterer zu verzeichnen. Die Beschäftigungsquote für über 55-Jährige lag im zweiten Quartal
des Jahres 2007 in Deutschland bei 52 Prozent. Sie hat
sich gegenüber dem Jahr 2000 um mehr als 10 Prozentpunkte erhöht. Wir haben schon jetzt das Lissabon-Ziel
der Europäischen Union, eine Beschäftigungsquote von
über 50 Prozent für Ältere im Jahr 2010 zu erzielen,
übertroffen.
Zwei Drittel des Beschäftigungsaufschwungs in
Deutschland gehen auf Ältere zurück. Von dem Anstieg
der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse hat die Altersgruppe der über 55-Jährigen mit
einem Plus von fast 7 Prozent profitiert, also weit überdurchschnittlich. Das zeigt: Die Älteren werden in diesem Land nicht nur gebraucht, sondern auch eingestellt;
sie kommen verstärkt in Beschäftigung. Das hat etwas
damit zu tun, dass wir Frühverrentungsanreize abgebaut
haben. Das hat auch etwas damit zu tun, dass wir einen
Mentalitätswandel eingeleitet haben, dass wir Signale
gegeben haben: Die Älteren gehören nicht zum alten Eisen; sie werden gebraucht. Wir haben Erfolge bei der
Bekämpfung der Arbeitslosigkeit Älterer, auf die wir
stolz sind.
({1})
Nun sagt niemand von uns, dass in der Vergangenheit
alles, was in punkto Altersteilzeit und Frühverrentung
gemacht worden ist, falsch gewesen wäre. Man muss
sich auch dazu bekennen, dass man zu unterschiedlichen
Zeiten angesichts unterschiedlicher Rahmenbedingungen unterschiedliche Prioritäten setzt.
({2})
Die Geschichte der Frühverrentung geht ja bis auf
das Vorruhestandsgesetz aus dem Jahre 1984 zurück.
Das war eine Zeit, als Sie von der Linken noch für ganz
andere Zustände hier in Deutschland Verantwortung hatten.
({3})
Da hatten wir mit unserer Politik diese Förderung schon
eingeführt. Sie ist über viele Jahrzehnte - jetzt schon fast
25 Jahre - immer befristet weiter verlängert worden. Sie
ist zum letzten Mal im Jahr 2000 von Rot-Grün mit der
Maßgabe verlängert worden, dass die Dauer der Befristung von der Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt abhängig gemacht wird. Liebe Kolleginnen und Kollegen,
welche Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt muss denn
noch eintreten, dass man ein solches Instrument endlich
auslaufen lassen kann? Reden wir doch unsere Erfolge
auf dem Arbeitsmarkt nicht schlecht. Unsere Bilanz mit
über 1 Million zusätzlicher Arbeitsplätze zeigt: Wir haben Erfolge auf dem Arbeitsmarkt. Nach der Maßgabe
des rot-grünen Gesetzentwurfs muss die Altersteilzeit
mit BA-Förderung damit auslaufen.
({4})
Reden wir unsere eigenen Erfolge also nicht schlecht.
Jetzt sage ich Ihnen, Herr Schneider, was wir unter
Frühverrentung verstehen, damit Sie die Unterschiede
zwischen Frühverrentung und Altersteilzeit begreifen.
Ich habe schon deutlich gesagt: Man muss zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Prioritäten setzen.
Als 1984 das Vorruhestandsgesetz eingeführt wurde, da
drängten gerade die geburtenstarken Jahrgänge auf den
Ausbildungsmarkt. Ich bin Jahrgang 1967. Ich stamme
aus einem dieser Jahrgänge, um die es damals ging. Man
stand vor der Frage, was man in dieser akuten Situation
tun kann. Das war 1984 die Situation. Seitdem hat sich,
wie jeder weiß, in Bezug auf die Geburtenraten und erfreulicherweise auch in Bezug auf die Lebenserwartung
viel geändert.
Die damals beschlossene Förderung ist überwiegend
von den Großbetrieben genutzt worden, sie ist aber von
den kleinen mitbezahlt worden. Damals war das eine
richtige Idee. Auch die Idee, die Norbert Blüm damals
hatte, nämlich gleitende Übergänge zu ermöglichen, war
richtig und sympathisch. Es ging nämlich eigentlich
genau darum, dass man den Älteren ermöglicht, schrittweise aus dem Arbeitsleben auszusteigen, also im Laufe
der Zeit weniger zu arbeiten, aber zugleich ihre Erfahrungen und ihr Wissen im Betrieb an die Jüngeren weiterzugeben. Das verstand man unter gleitenden Übergängen. Die Menschen haben sich aber zu über 90 Prozent
für das Blockmodell entschieden: drei Jahre voll arbeiten und drei Jahre gar nicht.
({5})
Das ist aber nichts anderes als Frühverrentung, und hier
liegt ein Unterschied zu unseren Vorstellungen. Wir
wollten gleitende Übergänge ermöglichen, aber in der
Regel wurde Frühverrentung praktiziert. Das kann sich
diese Gesellschaft nun nicht mehr leisten. Hier liegt der
Unterschied in unseren Betrachtungsweisen.
({6})
Ich sage es noch einmal: 1984 ging es darum, die geburtenstarke Jahrgänge in die Arbeitswelt einzubringen.
Wenn diese Förderung im Jahre 2015 ausläuft, hat es sie
32 Jahre lang gegeben. 32 Jahre sind eine lange Zeit.
32 Jahre lang gab es eine gute Begründung dafür. Heute
fördern wir den Berufseinstieg von jungen Menschen,
deren Eltern sich noch gar nicht kannten, als diese Regelungen eingeführt wurden, um die damaligen geburtenstarken Jahrgänge in Beschäftigung zu bringen. 32 Jahre
sind gut begründet, und das Ende dieser Förderung im
Jahr 2015 ist ebenfalls gut begründet, liebe Kolleginnen
und Kollegen.
Auch die von Rot-Grün eingesetzte Rürup-Kommission hat im Jahre 2003 völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass das Blockmodell, wie es in der Regel praktiziert wird, der notwendigen Bewusstseinsbildung bei
den Menschen, dass sie länger arbeiten müssen, im Weg
steht. Deswegen ist es auch richtig, wenn wir aus solchen Ratschlägen die richtigen Konsequenzen ziehen.
Die Große Koalition hat die Weichen für die Förderung der Teilhabe Älterer richtig gestellt, insbesondere
mit der Initiative „50 plus“. Es kann doch nicht sein,
dass wir propagieren, dass es sich lohnt, dass sich auch
über 50-Jährige weiterbilden, und die Frühverrentung in
Sonntagsreden ablehnen, gleichzeitig aber akzeptieren,
dass es in den Großbetrieben zum guten Ton gehört, dass
über 50-Jährige möglichst schnell die Betriebe verlassen. Sprechen Sie einmal mit denjenigen, deren
Berufsgruppen betroffen sind. Es sind doch nicht die
kleinen mittelständischen Dachdeckerunternehmen, die
die Möglichkeiten zur Frühverrentung nutzen, es sind
doch die Großunternehmen, wo diese generalstabsmäßig
organisiert werden. Wir akzeptieren nicht, dass diejenigen, die generalstabsmäßig die Älteren aus den Betrieben herausdrängen, uns erzählen, eine Rente mit 67 sei
unsinnig, da es in den Betrieben ja gar keine Älteren
gebe. Dieses lassen wir uns nicht von denen vorhalten,
die selbst dafür sorgen, dass die Älteren aus den Betrieben herausgedrängt werden. Damit muss Schluss sein,
liebe Kolleginnen und Kollegen.
({7})
Die Große Koalition hat sich bei den Beratungen über
den Entwurf eines Gesetzes zur Rente mit 67 intensiv
mit allen Rentenarten beschäftigt und sehr genau geprüft, wo es notwendig ist, bei den Rentenarten Ausnahmen von einer allgemeinen Verlängerung um zwei Jahre
zu machen. Wir haben Ausnahmen bei den Erwerbsminderungsrenten gemacht, und zwar aus guten Gründen.
Der Grundsatz muss sein: Wer nicht mehr arbeiten kann,
der wird von der Solidargemeinschaft aufgefangen. Aber
diejenigen, die nicht mehr arbeiten können, können nur
von denen aufgefangen werden, die arbeiten können und
denen wir eine längere Lebensarbeitszeit abverlangen
müssen. Daher ist diese Regelung - Manna fällt schließlich nicht vom Himmel - anders nicht zu finanzieren.
({8})
Wir haben eine besondere Ausnahmeregelung für
Menschen mit 45 Versicherungsjahren geschaffen. Für
sie haben wir eine eigene Rente für besonders langjährig
Versicherte eingeführt. Wir haben darüber hinaus Ausnahmen geschaffen und einen zusätzlichen breiten Korridor für einige Berufsgruppen mit langen Versicherungszeiten von mindestens 35 Jahren eingeführt.
Das haben Klaus Brandner und ich, die wir damals für
die Fraktionen diese Gespräche geführt haben, gemeinsam gemacht und auch die Ergebnisse gemeinsam erarbeitet. Wir haben gemeinsam festgestellt: Die Rente
wegen Altersteilzeit muss auslaufen. Das macht aber nur
dann Sinn, wenn auch die BA-Förderung, die für
100 000 Menschen, um die es geht, jedes Jahr rund
1,5 Milliarden Euro aufwenden muss, ausläuft.
Ich habe immer klipp und klar gesagt - das erkläre ich
auch heute wieder für unsere Fraktion -: Wir sind immer
für neue Argumente offen. Aber wer etwas anderes will,
der muss neue Argumente gegenüber dem Stadium bringen, als wir diese sinnvollen Beschlüsse für die Rente
mit 67 beschlossen haben.
({9})
Dass ein Fristablauf wie der für die Förderung von
Neufällen in der Altersteilzeit Ende 2009 näher rückt
oder dass ein Bundestagswahltermin näher rückt, sind
für uns keine neuen Argumente.
({10})
Wir haben den Entwurf eines Gesetzes zur Rente mit
67 aus guten Gründen so gemacht, wie er ist. Daran halten wir fest.
({11})
Dabei ist völlig klar: Wir sind nicht gegen das Instrument der Altersteilzeit als solches. Deswegen ist im
Jahressteuergesetz 2007 ausdrücklich festgelegt worden,
dass es das Instrument der Altersteilzeit nicht nur weiterhin geben wird, sondern dass es auch durch die Steuerund Sozialabgabenfreiheit für Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer sowie Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber
weiter gefördert wird.
Wir unternehmen erhebliche Anstrengungen, um
junge Menschen in Ausbildung und Beschäftigung zu
bringen. Jeder weiß, dass ein Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Ausbildungsbonus in den parlamentarischen Beratungen ist. Wir werden das in den nächsten
Wochen und Monaten abschließen. Wir fördern also
über die Steuer- und Sozialabgabenfreiheit auch über
2009 hinaus die Altersteilzeit. Wir unterstützen darüber
hinaus nach Kräften die jungen Menschen bei ihrer Integration in das duale Ausbildungssystem.
In dem Alterssicherungsbericht des Bundesarbeitsministeriums wird festgestellt: Nur bei 30 bis 40 Prozent
der Altersteilzeitfälle wird die Förderung der Bundesagentur für Arbeit in Anspruch genommen. Der neue
Chemietarifvertrag zeigt neue Wege auf. Ich weiß, dass
in dem Ingolstädter Wahlkreis von Ernährungsminister
Horst Seehofer entsprechende Regelungen getroffen
wurden. Auch einige Automobilunternehmen in
Deutschland denken hier weiter. Wir sind offen dafür,
auch Langzeitarbeitskonten verstärkt zu schützen. Das
Bundesarbeitsministerium arbeitet an einem entsprechenden Gesetzentwurf. Wir sind sehr zuversichtlich,
hier zu einer guten Lösung zu kommen.
Ich spreche hier auch vor dem Hintergrund von fast
einem Vierteljahrhundert einer immer wieder begrenzt
verlängerten Förderung der Altersteilzeit. Ich kann die
Begünstigten mit ihren Argumenten verstehen, dass man
doch noch einmal für eine begrenzte Zeit etwas tun
sollte. Aber ich sage klipp und klar: Aus der Sicht der
Begünstigten wird es niemals einen geeigneten Zeitpunkt geben, auf das Geld anderer Leute zu verzichten.
({12})
Kollege Brauksiepe, bitte kommen Sie zum Schluss.
Wir müssen auch die mehr als 27 Millionen und jeden
Monat an Zahl zunehmenden Menschen mit ihren Beiträgen zur Arbeitslosenversicherung im Blick haben.
Wir halten in dieser Frage Kurs. Wir stehen zu den getroffenen Verabredungen auch bei Gegenwind.
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat der Kollege Dr. Heinrich Kolb für die
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Schneider, mit der Altersteilzeit ist es so ähnlich
wie mit dem Kommunismus: Es klingt theoretisch gut,
funktioniert praktisch aber nicht und nützt den Menschen auch nicht wirklich, im Gegenteil.
({0})
Vielleicht ist ja, Herr Schneider, diese Ähnlichkeit der
Grund, warum die Linke - jedenfalls nach der geltenden
Gesetzes- und Antragslage - als letzte verbliebene Fraktion im Deutschen Bundestag der Altersteilzeit weiter
anhängt und heute sogar versucht, der mit einem Auslaufdatum versehenen Regelung neues Leben einzuhauchen. Dieses Vorhaben, Herr Schneider und liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, sollten Sie ebenso
wie die kommunistische Ideologie besser beerdigen.
({1})
Wir wissen heute: Die Frühverrentung per Altersteilzeit war ein teurer Irrweg.
({2})
- Der Kommunismus auch; das will ich gerne ergänzen.
({3})
Der Spiegel schreibt in seiner aktuellen Ausgabe - ich
zitiere -:
Was besonders belasteten Arbeitnehmern den Ausstieg erleichtern sollte, entwickelte sich zu einem
finanziellen Sprengsatz für die Sozialkassen und zu
einem Instrument, die „Generation 50 plus“ flächendeckend aus dem Erwerbsleben zu kicken.
({4})
Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen. Ich erwähne,
dass die FDP-Bundestagsfraktion die Erste war, die sich
den Fehler eingestanden und auf die Abschaffung der
Altersteilzeit gedrängt hat.
({5})
- Ja, Herr Fuchs, wir haben das damals mit beschlossen.
Aber man muss aus seinen Fehlern lernen. Die anderen
Fraktionen sind erst später zögerlich, aber am Ende
ebenfalls auf diesen Kurs eingeschwenkt. Nach geltender Rechtslage wird es nach dem 1. Januar 2010 keine
neue Förderung der Altersteilzeit auf Kosten der Beitragszahler mehr geben. Ich füge hinzu: Und das ist auch
gut so.
({6})
Durch die Altersteilzeit sind nämlich die älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer regelrecht aus den
Betrieben herausgedrängt worden, und zwar flächendeckend. Zu dem ursprünglich angedachten Koppelgeschäft - Förderung des Ausscheidens älterer, damit Platz
für die Einstellung jüngerer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer geschaffen wird - ist es doch in den allerwenigsten Fällen gekommen. Zugegeben: Viele Menschen
haben die Frühverrentung bzw. die Altersteilzeit bewusst
als einen sicheren Hafen in Zeiten schwieriger Arbeitsmarktverhältnisse begriffen und sich gerne auf das
sprichwörtlich sichere Altenteil drängen lassen, allerdings ohne Aussicht auf Rückkehr, auch nicht in Zeiten
besserer Konjunktur. Raus ist raus. Frank Weise, der
Chef der Bundesagentur für Arbeit - Anstaltsleiter,
würde mein Kollege Niebel sagen -, wird dazu im
Spiegel mit dem Satz zitiert:
Versuchen Sie mal, einen Daimler-Ingenieur aus
der Altersteilzeit zu holen. Der lacht Sie doch aus.
Recht hat er; leider, sage ich dazu.
({7})
Mit hohem Aufwand von rund 1,5 Milliarden Euro
pro Jahr werden mit der Altersteilzeitregelung erfahrene
Leistungsträger aus dem Wirtschaftsprozess herausgekauft - ein volkswirtschaftlich vollkommen unsinniges
Geschäft. Deswegen ist es an der Zeit, die Dinge neu zu
denken. Die FDP-Bundestagsfraktion hat daher den Vorschlag eines flexiblen Renteneintritts ab dem 60. Lebensjahr bei Wegfall aller Zuverdienstgrenzen vorgelegt
und jetzt auch im Deutschen Bundestag eingebracht.
({8})
Der FDP-Vorschlag ist zukunftsweisend.
({9})
- Frau Präsidentin, der Kollege Straubinger möchte eine
Zwischenfrage stellen. - Bitte.
Genau darauf wollte ich Sie gerade aufmerksam machen; aber wenn Sie sie zulassen wollen, bitte.
Herr Kollege Kolb, Sie haben richtigerweise ausgeführt, dass die Frühverrentungsmaßnahmen volkswirtschaftlicher Unsinn sind. Jetzt kommen Sie mit der Teilrente. Ist nicht auch das volkswirtschaftlicher Unsinn?
Das ist kein volkswirtschaftlicher Unsinn, im Gegenteil. Die Erfahrungen - das will ich an dieser Stelle gerne
sagen - etwa in Dänemark oder Schweden zeigen: Wenn
die Menschen die Möglichkeit haben, frei zu entscheiden, also wenn sie nicht mehr arbeiten müssen, aber
noch arbeiten können, dann steigt in der Tat die Beschäftigungsquote Älterer. In Dänemark sind 61 Prozent, in
Schweden 69 Prozent aller 55- bis 65-Jährigen erwerbstätig, nicht weil sie arbeiten müssen, sondern gerade weil
sie das Angebot haben, mit 60 in Rente zu gehen, dieses
aber nicht nutzen müssen. Sie arbeiten so lange, wie sie
es selbst für richtig halten.
({0})
- Die bleiben doch dabei, Kollege Brauksiepe. Sie scheiden eben nicht aus, sondern bleiben länger, aber in Teilzeit; sie arbeiten noch die Hälfte der ursprünglichen Arbeitszeit. Das ist doch das, worum es geht.
Die FDP schlägt vor, dass Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer unter Berücksichtigung der erworbenen
Anwartschaften in der Rentenversicherung und aus privater gesetzlicher Vorsorge, Grundsicherungsfreiheit vorausgesetzt, frei entscheiden können sollen, ob und in
welchem Umfang sie nach dem 60. Lebensjahr noch erwerbstätig bleiben wollen.
Wir brauchen diesen Paradigmenwechsel: Nicht mehr
ein möglichst frühes Ausscheiden aus dem Arbeitsprozess, sondern eine möglichst lange Teilhabe am Erwerbsleben muss zum neuen Leitbild in unserer Gesellschaft werden.
({1})
Arbeit ist nämlich nicht nur eine Last. Herr Schneider,
diesen Eindruck vermitteln Sie manchmal. Arbeit hat
auch etwas mit dem Selbstwertgefühl von Menschen und
mit dem Gefühl, noch dazuzugehören und gebraucht zu
werden, zu tun.
Wir wollen, dass mit dem Bezug einer Voll- bzw. Teilrente auch alle Zuverdienstgrenzen entfallen. Wir glauben, dass mit diesem Wegfall ein hohes Erwerbsinteresse
der älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer begründet wird. Ich sage Ihnen voraus: Die möglichst
lange Beteiligung der Älteren am Erwerbsleben wird
schon in wenigen Jahren volkswirtschaftliche Räson
sein, nämlich dann, wenn ab dem Jahr 2012 die geburtenstarken Jahrgänge aus dem Erwerbsleben ausscheiden
und vergleichsweise geburtenschwache Jahrgänge nachrücken.
Auf die Erfolge in Skandinavien und in England habe
ich schon hingewiesen. Ich will aber noch einmal betonen: Nicht das Gefühl, noch arbeiten zu müssen, sondern
das Gefühl, arbeiten zu können, führt am Ende dazu,
dass trotz des Angebotes, in Rente zu gehen, die Menschen länger in Arbeit bleiben.
Ich freue mich - das will ich hier sehr deutlich sagen -,
dass das FDP-Modell nach der anfänglich unvermeidlichen Trotzreaktion der anderen Parteien nach dem Motto
„Was nicht von uns ist, kann nicht gut sein“ jetzt zunehmend auf Zustimmung stößt. Ich freue mich, Herr
Schaaf, dass in den Papieren, die es im Moment aus der
SPD gibt, unsere Gedanken reflektiert werden. Ich freue
mich auch, dass beispielsweise Herr Laumann in Nordrhein-Westfalen wesentliche Elemente unseres Konzeptes eines flexiblen Übergangs übernommen hat.
({2})
Auch bei den Tarifpartnern stoßen unsere Vorschläge auf
große Zustimmung.
({3})
Lassen Sie uns also nicht den Modellen von gestern
nachhängen, sondern gemeinsam überlegen, wie der
FDP-Vorschlag im breiten Konsens in das Bundesgesetzblatt aufgenommen werden kann. Wenn das der Ertrag der heutigen Debatte ist, Herr Schneider, hätte sich
das Ganze am Ende doch gelohnt.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Das Wort für die SPD-Fraktion hat die Kollegin Elke
Ferner.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen!
Wenn man Herrn Schneider zuhört, kann man fast den
Eindruck bekommen, die Linke macht Politik nach dem
Motto „Im Himmel ist Jahrmarkt“, egal wie und von
wem es bezahlt werden muss.
({0})
Ich möchte daran erinnern, dass der Beschluss des
Parteipräsidiums der SPD vom vergangenen Montag
nichts Neues enthält. Er basiert in allen Punkten auf
dem, was von einer Arbeitsgruppe, die der Kollege
Ludwig Stiegler und ich im letzten Jahr geleitet haben
und deren Ergebnisse dem Hamburger Parteitag vorgelegt wurden, vorgeschlagen wurde. Wer sich die Mühe
gemacht hätte, diesen Bericht zu lesen, hätte feststellen
können, dass keine neue Erkenntnis, initiiert durch die
Linkspartei oder andere Parteien, aufgenommen worden
ist; denn die Willensbildung in der SPD findet immer
noch in der SPD und nicht in anderen Parteien statt.
({1})
Ein weiterer Punkt, den man in dieser Debatte hervorheben muss, ist, dass sich die Beschäftigungsquote der
älteren Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen - darauf
hat der Kollege Brauksiepe eben hingewiesen - deutlich
verbessert hat.
({2})
Ich muss aber sagen, dass ich mich in der Summe mit einem Anteil von 52 Prozent, mit dem die Lissabon-Strategie gerade so erfüllt wird, nicht zufrieden gebe. Wir
brauchen eine entsprechende Quote durchgängig in allen
Altersgruppen. Da ist noch einiges zu tun.
In dieser Debatte, in der wir über Anträge zur Altersteilzeit sprechen, muss man das Thema komplexer behandeln, als es in Teilen angelegt worden ist. Es kann
nicht vorrangig das Ziel sein, Menschen frühzeitig in
Rente zu schicken.
({3})
Das Ziel muss vielmehr sein, Menschen, solange es geht,
im Erwerbsprozess halten zu können. Das geht aber
nicht, indem man sozusagen hinten ansetzt. Man muss
ein ganzes Erwerbsleben lang dafür sorgen, dass die
Arbeitsbedingungen human, alterns- und altersgerecht
sind und dass vor allen Dingen keine Dequalifizierung
im Laufe des Erwerbsprozesses stattfindet. Das ist bei
uns in Deutschland leider noch der Fall.
({4})
- Stellen Sie Zwischenfragen, Frau Kollegin, und
schreien Sie nicht so durch die Gegend!
({5})
Bei der betrieblichen Weiterbildung, aber auch bei
der notwendigen außerbetrieblichen Weiterbildung haben wir noch viel zu tun. Wenn ich mir anschaue, wie
wenig Menschen über 50 bzw. 55 Jahre überhaupt noch
an betrieblicher Weiterbildung partizipieren können - im
Übrigen können Frauen in deutlich geringerem Umfang
an betrieblicher Weiterbildung partizipieren -, so muss
ich feststellen, dass hier noch einiges zu tun ist. Dequalifizierung kann sich unsere Wirtschaft gerade vor dem
Hintergrund einer älter werdenden Gesellschaft nicht
leisten.
Ein weiteres Thema, das in diesem Zusammenhang
natürlich zu berücksichtigen ist, ist die Tatsache, dass es
selbst bei allgemein sehr humanen Arbeitsbedingungen
und Besserqualifizierung in Zukunft - heute im Übrigen
auch - immer Menschen geben wird, die unter sehr
schweren Bedingungen arbeiten müssen - ob das im
Baugewerbe, im Bergbauzulieferbereich, im Stahlbereich oder in der Automobilindustrie ist. Ich nenne aber
ausdrücklich beispielsweise auch die Krankenschwestern in den Krankenhäusern und die Altenpflegerinnen in
den Pflegeheimen im Wechseldienst, die teilweise unter
körperlich und psychisch sehr anstrengenden Belastungen ihre Arbeit verrichten müssen und die heute die Regelarbeitsgrenze von 65 Jahren nicht gesund oder kaum
gesund erreichen können. Auch darauf brauchen wir
Antworten.
Ich glaube aber nicht, dass die frühere Frühverrentungspraxis die richtige Antwort darauf ist. Die frühere
Frühverrentungspraxis, an der im Übrigen auch Sie, Herr
Kolb, bzw. damals Ihre Partei in Regierungsverantwortung beteiligt waren,
({6})
hat in erster Linie dazu geführt, dass sich große Betriebe
ihren Personalabbau über öffentliche Systeme mitfinanzieren lassen konnten und die kleineren Betriebe, obwohl sie dies mitbezahlt haben, mit ihren Problemen alleingelassen wurden.
({7})
Dies hat leider zu einer Mentalität geführt, die bewirkt
hat, dass in vielen Betrieben kaum Beschäftigte über
50 Jahre zu finden sind. Das ist leider ein Ergebnis der
Frühverrentungspraxis der 70er- und insbesondere der
80er-Jahre. Ich glaube nicht, dass das ein Zukunftsmodell sein kann.
Bei dem Punkt, der jetzt zur Diskussion steht, bei der
Frage der Altersteilzeit, sollte man, Herr Kollege
Schneider, ein Stück weit ehrlich sein. Sie haben eben
wider besseres Wissen behauptet, dass die Altersteilzeit
ausläuft; das kann man ja im Protokoll nachlesen. Die
Altersteilzeit läuft aber nicht aus.
({8})
Altersteilzeit ist nach wie vor auch nach dem
31. Dezember 2009 möglich. Sie wird auch gefördert zwar nicht über die BA, aber über die Steuer- und Sozialversicherungsfreiheit der Aufstockungsbeträge.
Die Frage, über die wir jetzt zu diskutieren haben, ist,
ob auch die BA-geförderte Altersteilzeit zwangsläufig,
wie es im Moment Gesetzeslage ist, auslaufen muss oder
ob es, Herr Brauksiepe, nicht auch gute Gründe gibt,
vielleicht doch eine zumindest eingeschränkte Weiterförderung durch die BA bei Inanspruchnahme von Altersteilzeit zu gewährleisten. Ich nenne Ihnen einen guten Grund. Dazu können Sie sagen, er sei Ihnen nicht gut
genug. Es geht hier nicht um Wahltermine oder sonst irgendetwas, sondern darum, beispielsweise dafür zu sorgen, dass junge Menschen, junge Männer und Frauen,
die ihre Ausbildung in einem staatlich anerkannten Ausbildungsberuf erfolgreich absolviert haben, in Beschäftigung kommen können. Wir alle kennen doch die Situation der jüngeren Generation, die nach der Ausbildung in
unbezahlten Praktika, mit befristeten Verträgen usw.
mehr schlecht als recht über die Runden kommen muss.
Ich finde, dass es ein durchaus gutes Argument ist,
noch einmal darüber nachzudenken, ob man die durch
die BA geförderte Altersteilzeit nicht auch in Zukunft
gewährleisten kann. Wir bauen über diese Regelung
Brücken für die Jungen in das Erwerbsleben, und wir
bieten den Älteren, die aus welchen Gründen auch immer nicht mehr vollschichtig oder nicht mehr so lange
arbeiten wollen oder können, eine flexiblere Brücke vom
Erwerbsleben in die Altersphase.
({9})
Die Teilrente, die auch von Herrn Schneider kritisiert
worden ist, halte ich für durchaus diskussionswürdig.
Wir schlagen vor, bereits ab dem 60. Lebensjahr einen
Teilrentenbezug zu ermöglichen, wenn der Teilrentenbezug nachher nicht zur Bedürftigkeit führt. Sie haben nur
die Hälfte dessen genannt, was in dem Beschluss steht.
Sie haben nicht gesagt, dass die Arbeitgeber verpflichtet
werden sollen, die Beträge aufzustocken, die aufgrund
des Abschlages bei einer Teilrente in Kauf genommen
werden müssen. So soll verhindert werden, dass bei einem
normalen Rentenbezug im Alter die Grundsicherung in
Anspruch genommen werden muss. Das Teilzeitbeschäftigungsverhältnis muss natürlich sozialversicherungspflichtig sein, weil von Teilrente - das wissen wir alle niemand leben kann und durch das Fortbestehen der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung Rentenansprüche erworben werden.
Wir glauben, dass man mit diesen Maßnahmen und
der Anhebung bzw. Aufhebung der Zuverdienstgrenze
einen flexibleren Übergang in die Altersrente als bisher
ermöglichen kann. Das Thema Insolvenzsicherung der
Lebensarbeitszeitkonten gehört auch in diesen Zusammenhang. Man muss auch über Instrumente wie Zusatzbeiträge nachdenken können. Ich glaube, dass es dafür
in diesem Haus durchaus Mehrheiten gibt.
Abschließend möchte ich sagen, dass wir auch für
diejenigen nach einer Lösung suchen, die zwar nicht so
stark eingeschränkt sind, dass sie eine Teil- oder Vollerwerbsminderungsrente beziehen können, aber trotzdem nur noch leichte Tätigkeiten ausüben können. Es
darf nicht sein, dass das Arbeitsmarktrisiko bei diesen
Menschen voll hängen bleibt.
({10})
Auch dazu werden wir im Herbst Vorschläge machen,
und zwar nicht nach dem Motto „Im Himmel ist Jahrmarkt“, sondern nach dem Motto „Was ist realisierbar
und finanzierbar?“.
Schönen Dank.
({11})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die
Kollegin Brigitte Pothmer das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frühverrentungsregelungen sind allzu oft von Unternehmen
missbraucht worden, um auf Kosten der Solidargemeinschaft personelle Strukturanpassungen vorzunehmen.
Während man sich so bequem älterer Arbeitnehmer entledigt hat, ist die Einstellung junger Arbeitnehmer nur
unzureichend vorgenommen worden.
({0})
Diese bahnbrechende Erkenntnis stammt nicht von
mir, sondern von den Kolleginnen und Kollegen der
SPD-Fraktion. Dieser kluge Ausspruch wurde im Ausschuss für Arbeit und Soziales getätigt. Deswegen ist
diese Erkenntnis noch lange nicht falsch.
Doch leider interessiert die Sozialdemokraten heute
auch das kluge Geschwätz von gestern nicht. Liebe Frau
Ferner, was haben Sie eigentlich für eine Rede gehalten?
Sie haben deutlich gemacht, dass Frühverrentungsregelungen missbraucht worden sind; dabei haben Sie die
Weiterführung dieser Regelung erst jüngst beschlossen.
Sie haben alle Erkenntnisse über Bord geworfen.
({1})
Das ist nur eine leicht modifizierte Fassung der alten Regelung.
({2})
Liebe Frau Ferner, selbst wenn Sie hier behaupten,
die Beschlüsse der Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten entstünden autonom in Ihren Köpfen, so lässt
sich doch nicht übersehen, dass diese Kursänderung
dem Vorwahlkampf geschuldet ist.
({3})
Diese Kursänderung ist ein Versuch, der Rentendebatte
von Rüttgers etwas entgegenzusetzen.
({4})
Das ist der Versuch, soziales Profil zu zeigen. Ich kann
Ihnen nur sagen: Wenn Sie sich von jedem, von wirklich
jedem durch die Gegend hetzen lassen, dann werden Sie
ziemlich schnell aus der Puste sein.
({5})
Dass die Linke mit dem hier vorliegenden Antrag alles beim Alten lassen will, macht keinen großen Unterschied. Beide, Linke und Sozialdemokraten, haben eine
Entscheidung gegen alle vorliegenden Fakten getroffen.
Dass diese Entscheidung etwas mit sozialer Gerechtigkeit zu tun hat, bestreite ich. Das werde ich nachweisen.
Alle Erfahrungen zeigen unzweideutig:
Erstens. Die Altersteilzeit ist keine Teilzeit, wie es in
der Begründung Ihres Antrages steht, Herr Schneider,
und sie ist auch kein gleitender Übergang in die Rente,
sondern ein Vorruhestandsmodell. In der Zeit zwischen
1996 und 2005 ist dieses Modell zu 90 Prozent als
Blockmodell genutzt worden. Dieser Trend hat sich bis
2007 verstärkt. Inzwischen sind es 94 Prozent, die das
nicht als gleitenden Übergang, sondern als Blockmodell
nutzen. Damit wird das Ziel des Altersteilzeitgesetzes,
einen fließenden Übergang aus dem Erwerbsleben zu
schaffen, offensichtlich verfehlt.
({6})
Zweitens. Die Altersteilzeit wurde überwiegend zum
Personalabbau genutzt. Lieber Herr Schneider, das
kann Ihnen doch eigentlich nicht recht sein. Die Deutsche Rentenversicherung schätzt, dass sich etwa drei- bis
fünfmal mehr Arbeitnehmer in der Altersteilzeit befinden als im Bestand der BA. Das heißt mit anderen Worten: Seit den 90er-Jahren sind rund 431 000 Altersteilzeitstellen wiederbesetzt worden. Gleichzeitig sind
ungefähr 1,3 bis 2,5 Millionen Arbeitsplätze mithilfe
von Steuermitteln
({7})
und Beitragsmitteln abgebaut worden. Wollen Sie das
mit Ihrem Antrag weiterführen, Herr Schneider?
Drittens. Von der Altersteilzeit profitieren nun wahrlich nicht die Geringverdiener. In Anspruch genommen
wird die Altersteilzeit von relativ gut verdienenden Beschäftigten männlichen Geschlechts. Nach Angaben der
Rentenversicherung haben die Arbeitsteilzeitler im
Durchschnitt höhere Entgelte erzielt, gehen früher in
Rente und beziehen trotzdem höhere Renten als die Vergleichsgruppen. Ist das Ihre Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit? Unserer Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit entspricht das nicht.
({8})
Wir finden es falsch, dass auch mit den Beitragsmitteln, den Steuermitteln derjenigen, die sich diese Altersteilzeit nicht leisten können, die Altersteilzeit derer mitfinanziert wird, die mehr Geld in der Tasche haben. Das
entspricht wahrlich nicht dem, was wir als gerecht empfinden. 1,38 Milliarden Euro von diesen Beitragsmitteln
hat die Bundesagentur für Arbeit allein im letzten Jahr
dafür ausgegeben. Ich finde, diese Beitragsgelder
bräuchten wir an anderer Stelle, insbesondere für die
Qualifizierung derjenigen, die geringe Einkommen haben, weil sie gering qualifiziert sind. Mit der Meinung
bin ich nicht alleine. Auch Herr Alt vom Vorstand der
BA sagt, dass sie ihre Aufgabe nicht darin sehen, Leute
frühzeitig aus dem Erwerbsleben herauszukaufen, sondern dass sie der Auffassung sind, dass ihre Aufgabe darin besteht, den Menschen die Chance zu geben, den
Renteneinstieg im Alter von 67 zu erreichen.
({9})
Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, der Arbeitgeberverband Gesamtmetall und der
Zentralverband des Deutschen Handwerks sehen das genauso. Wenn also selbst diejenigen, die von diesen Beschlüssen profitieren würden, sagen, diese Beschlüsse
seien falsch und gehen in die falsche Richtung,
({10})
dann sollten aus meiner Sicht die Sozialdemokraten
noch einmal darüber nachdenken und ihre Beschlussfassung korrigieren.
({11})
Ich will nicht den Eindruck erwecken, als würde ich
es Beschäftigten nicht gönnen, frühzeitig und gleitend
aus dem Erwerbsleben auszusteigen. Aber ich finde tatsächlich, dass es die vornehmste Aufgabe der Tarifparteien ist, genau dafür flexible und vielfältige Regelungen zu finden.
({12})
Herr Schaaf, Sie haben, wie ich finde, den Linken im
Ausschuss sehr eindrücklich erklärt, dass Sie es inzwischen als einen Fehler ansehen, dass Sie seinerzeit als
Betriebsrat für einen frühzeitigen Ausstieg gekämpft haben, dass Sie es als richtiger und als notwendig ansehen,
sich darauf zu konzentrieren, die Arbeitswelt zu humanisieren und bessere Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten herbeizuführen, damit sie nicht aus Krankheitsgründen oder weil sie ausgebrannt sind frühzeitig
aus dem Erwerbsleben ausscheiden müssen. Das ist die
Aufgabe. Sie besteht nicht darin, Beschlüsse zu fassen,
die diese Frühverrentungspraxis weiterführen.
({13})
Was wir brauchen, ist eine Debatte darüber, wie wir die
notwendige längere Lebensarbeitzeit mit neuen Ideen
gestalten können, nicht mit alten Rezepten.
Kollegin Pothmer, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Schaaf?
Ja.
({0})
Ja. Das haben wir abgesprochen.
({0})
Sehr geehrte Frau Kollegin Pothmer, Sie haben dargestellt, was ich im Ausschuss gesagt habe. Damit haben
Sie selbstverständlich völlig recht.
Sie auch.
Sie sollten aber auch den Kontext berücksichtigen
- die Kollegin Elke Ferner hat ihn eben sehr deutlich beschrieben -: Natürlich muss es oberste Priorität haben,
dass die Menschen so lange wie möglich gesund in Arbeit bleiben können.
({0})
Es wird aber immer Menschen geben, die das aus verschiedensten Gründen nicht schaffen.
({1})
Da Sie eben ausdrücklich gesagt haben, dass Sie das
Instrument der durch die BA geförderten Altersteilzeit
abschaffen wollen - das haben Sie auch begründet -,
möchte ich Sie fragen: Würden Sie mir recht geben, dass
die nicht geförderte Altersteilzeit über 2009 hinaus bestehen bleibt? Können wir, weil dieses Instrument aus
Ihrer Sicht ja völlig falsch ist, in absehbarer Zeit einen
Antrag der Grünen erwarten, in dem Sie fordern, die
nicht geförderte Altersteilzeit abzuschaffen? Auf diese
Fragen hätte ich gerne konkrete Antworten.
Ich hätte auch auf folgende Fragen gerne konkrete
Antworten: Was machen wir mit den Menschen, die vorzeitig kaputt sind und nicht mehr arbeiten können? Wie
können wir dafür sorgen, dass sie aus dem Arbeitsleben
gleiten können? Wie können wir hier einen vernünftigen
Übergang gewährleisten? Wie können wir die Potenziale
Älterer nutzen, die nicht mehr so leistungsfähig sind,
wenn nicht über Instrumentarien wie die Altersteilzeit?
In dem Beschluss, den Sie gefasst haben, haben Sie
zum Ausdruck gebracht, dass Sie die durch die BA geförderte Altersteilzeit, die 2009 auslaufen soll, nicht im
Jahre 2009 auslaufen lassen,
({0})
sondern weitere sechs Jahre fortführen wollen. Das steht
im Mittelpunkt meiner Kritik.
Jetzt steht nicht zur Debatte, dass es weiterhin möglich sein soll, Altersteilzeitmodelle, die zwischen den
Tarifpartnern vereinbart werden, steuer- und abgabenfrei
zu stellen.
({1})
Auch wenn das derzeit nicht zur Debatte steht, sollten
wir über dieses Thema noch einmal reden, Herr Schaaf.
Im Übrigen sehe auch ich die Notwendigkeit, genau das
zu tun, was Sie im Ausschuss, wie ich finde, eindrucksvoll erklärt haben. - Danke schön.
({2})
Es gibt immer mehr Studien, in denen der Arbeitskräftebedarf bis ins Jahr 2020 projiziert wird. In diesen
Studien wird eines ganz deutlich: Wir laufen auf einen
riesengroßen Fachkräftemangel zu, und zwar auch dann,
wenn tatsächlich alle Beschäftigten bis zu ihrem 67. Lebensjahr arbeiten. Daher sollten wir nicht das tun, was
Sie beschlossen haben: dass die Älteren den Jüngeren
Platz machen sollen. Wir brauchen Jüngere und Ältere,
Frauen und Männer.
({3})
Wir müssen alle für den Arbeitsmarkt mobilisieren.
Dafür brauchen wir mehr Ausbildung und Qualifizierung.
Dafür brauchen wir gesunde und gute Arbeitsbedingungen. Dafür brauchen wir flexible Arbeitszeitmodelle, bei
denen Ein- und Ausstiege, zum Beispiel aufgrund von
Kinderbetreuung, der Pflege Älterer oder gesundheitlicher Schwierigkeiten, möglich sind. Was wir aber nicht
gebrauchen können, ist ein Herauskaufen der Älteren.
({4})
Wir haben noch eine Menge zu tun. Eines jedenfalls
ist sicher: Die ollen Kamellen der Linken und der Sozialdemokraten zum Thema Altersteilzeit werden uns nicht
weiterhelfen.
Ich danke Ihnen.
({5})
Für die Unionsfraktion hat nun die Kollegin Gitta
Connemann das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Herr Kollege Schneider, Ihre Debattenbeiträge erinnern mich zunehmend an Märchenstunden nach dem Motto: Es war einmal eine Fraktion im
Deutschen Bundestag. Sie war zwar sehr klein, dafür
aber sehr links. Sie nahm für sich in Anspruch, Anwalt
der Kleinen zu sein. - Wir wissen aber: Es gibt keine
Märchen, jedenfalls nicht im Deutschen Bundestag. Hier
gibt es allenfalls Märchenerzähler wie Sie, Herr Kollege
Schneider.
({0})
Sie fordern, die Förderung der Altersteilzeit durch die
Bundesagentur für Arbeit nach 2009 fortzuführen, finanziert durch Arbeitslosenversicherungsbeiträge. Ihre Begründung dafür ist im Wesentlichen: Erstens. Die Altersteilzeit habe dazu beigetragen, dass Beschäftigte den
Ruhestand gesund erreichen. Zweitens. Sie habe für eine
ausgewogene Beschäftigungsstruktur gesorgt. - Das sind
Märchen.
Die Altersteilzeit ist im Grunde genommen eine gute
Idee gewesen, übrigens von Union und FDP im Jahre
1996. Sie sollte älteren Mitarbeitern einen gleitenden,
frühzeitigen Übergang in den Ruhestand ermöglichen.
Damit wollte man sich von der Praxis verabschieden,
dass bis zum letzten Tag Vollzeit gearbeitet wird und es
dann von hundert auf null geht; denn solche harten
Schnitte sind - das ist unbestritten - gesundheitlich riskant. Zusätzliche Anreize sollten dafür sorgen, dass die
freigewordenen Arbeitsplätze wieder besetzt werden.
Aus dieser Idee wurde jedoch keine praktische Wirklichkeit. Der gleitende Ausstieg blieb die große Ausnahme;
das sogenannte Blockmodell wurde Standard.
Kollegin Pothmer hat bereits darauf hingewiesen,
dass inzwischen mehr als 90 Prozent aller Altersteilzeitverhältnisse im Rahmen des sogenannten Blockmodells
vereinbart werden. Dabei wird zwar die Gesamtarbeitszeit halbiert; aber die Beschäftigten arbeiten eben bis
zum letzten Tag voll. Der harte Schnitt - mit allen damit
verbundenen gesundheitlichen Risiken - wird nur vorverlegt, aber nicht verhindert. So viel zum Märchen
Nummer eins.
Aus der neuen Teilzeit ist wieder die alte Frührente
geworden. Davon profitiert übrigens eine Gruppe nicht:
die Arbeitnehmer in kleinen und mittelständischen Unternehmen.
({1})
Zum einen ist das Verfahren für kleine und mittlere Betriebe nämlich zu kompliziert, zum anderen fehlt diesen
Betrieben der finanzielle Spielraum, um die gesetzlichen
Leistungen aufzupolstern, was gerade bei kleineren Einkommen in der Regel notwendig ist. Das können nur die
großen Unternehmen leisten. Herr Kollege Schneider, es
geht also gerade nicht um den Dachdecker, der in einem
kleinen Betrieb arbeitet, sondern - es wurde bereits erwähnt - um den Ingenieur, der beispielsweise bei einer
großen Automobilfirma arbeitet.
Wenn Sie, meine Damen und Herren von der Linken,
von einer gut angenommenen betrieblichen Praxis sprechen, dann meinen Sie ausschließlich die Praxis der
Großunternehmen.
({2})
Diese haben das Instrument systematisch genutzt, um
ihre Belegschaften zu reduzieren und zu verjüngen, bezahlt mit den Beiträgen aller Arbeitnehmer und Arbeitgeber.
({3})
Ich konnte das in meiner Heimatstadt Leer im Falle der
Telekom sehr plastisch erleben.
Der Präsident des Zentralverbands des Deutschen
Handwerks, Otto Kentzler, beschreibt es im Handelsblatt wie folgt: Die geförderte Altersteilzeit helfe „vor
allem großbetrieblichen Arbeitgebern“ dabei, „in großer
Zahl Arbeitsplätze abzubauen“. Die sozialen Kosten dafür würden „weitgehend auf die Allgemeinheit … abgewälzt“. Die Daten geben ihm recht.
({4})
Laut IAB steigt das betriebliche Engagement in Sachen Altersteilzeit mit der Betriebsgröße und erreicht
schließlich nahezu „flächendeckende Ausmaße“. Der
Anteil der Betriebe, die Altersteilzeit anbieten, liegt bei
Betrieben bis zu 20 Beschäftigten bei kaum 2 Prozent;
bei Betrieben mit 1 000 Beschäftigten liegt sie bei
70 Prozent und mehr.
Sie, meine Damen und Herren von der Linken, wollen
also einmal mehr eine Umverteilung, aber von unten
nach oben. Die in der Regel nicht so hoch bezahlten Mitarbeiter in den kleinen Unternehmen finanzieren über
ihre Beiträge zur Arbeitslosenversicherung den goldenen
Vorruhestand in den Großbetrieben der Industrie,
({5})
und zwar mit enormen Summen. Allein die Aufstockungsbeiträge, die die Bundesagentur für Arbeit im
letzten Jahr für Altersteilzeit aufbringen musste, beliefen
sich auf 1,4 Milliarden Euro, mit steigender Tendenz.
Meine Damen und Herren von der Linken, mit Ihrem
„Weiter so!“ möchten Sie erreichen, dass die Kleinen
weiter für die Großen bezahlen. Das ist mit der Union
nicht zu machen.
({6})
Kollegin Connemann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schneider?
Immer gerne.
Danke schön, Frau Kollegin Connemann. Es wurde
mehrfach behauptet, unsere Devise sei: Weiter so! Deshalb frage ich Sie: Ist Ihnen nicht bekannt, dass wir, was
die Beschäftigungssituation Älterer anbelangt, im letzten
Jahr einen ausführlichen Antrag gestellt haben, in dem
wir eine Vielfalt von Instrumenten vorgeschlagen haben,
Volker Schneider ({0})
die eingesetzt werden könnten, um die Beschäftigungssituation Älterer zu verbessern, und dass schon in diesem
Antrag stand, dass man für den Fall, dass man die Leute
nicht in Beschäftigung halten kann oder sie aus gesundheitlichen Gründen nicht in Beschäftigung bleiben können, sehen muss, welche Instrumente man zur Verfügung
hat?
Können Sie zweitens bestätigen, dass ich eben ausdrücklich darauf hingewiesen habe, dass es uns lieber ist,
wenn die Leute Beschäftigung haben und nicht in Altersteilzeit gehen? Doch wenn Beschäftigung zurzeit nicht
zu haben ist, ist es doch wünschenswert, dass man Brücken wie die Altersteilzeit nicht abreißt, bevor man neue
Brücken gebaut hat. Vor diesem Hintergrund verlangen
wir, dass das Instrument der Altersteilzeit wenigstens so
lange weiter zur Verfügung steht, bis man zu einer besseren Lösung kommt.
({1})
Herr Kollege Schneider, Sie lenken ab. Es ist in der
Tat so, dass die Fraktion Die Linke - das ist eine Eigenart der Fraktion Die Linke - im Dauertakt Anträge aufgelegt hat mit denselben Zielen.
({0})
Der Antrag, von dem Sie gesprochen haben, wird einer
der 646 Anträge gewesen sein, die Sie allein im letzten
Jahr gestellt haben.
Es geht in diesem Fall allerdings darum - darauf sind
Sie in keiner Weise eingegangen -, dass Sie mit dem hier
vorliegenden Antrag - über diesen debattieren wir - fordern, dass nach wie vor die Bundesagentur für Arbeit
aus Beiträgen zur Arbeitslosenversicherung, die von
über 27 Millionen Erwerbstätigen in Deutschland erbracht werden, von Arbeitnehmern und Arbeitgebern,
egal welchen Einkommensniveaus, den Vorruhestand einiger weniger finanziert. Das nenne ich Umverteilung
von unten nach oben. Das geht zulasten der kleinen Arbeitnehmer. Deshalb nenne ich das, was Sie in Ihrem
Antrag fordern, sozial ungerecht.
({1})
Dafür wird es mit uns, der Union, ab 2010 keine Gelder
der Bundesagentur für Arbeit mehr geben.
Wir lehnen Ihre Forderung nach einer Verlängerung
der Altersteilzeit aber nicht nur ab, weil sie finanziell ungerecht wäre, sondern auch, weil es uns im Wesentlichen
um den Stellenwert der älteren Mitarbeiter geht. Die
älteren Mitarbeiter waren es doch, die ihren Arbeitsplatz
räumen mussten. Deshalb hat übrigens auch unser früherer Minister Franz Müntefering vehement gegen eine
Verlängerung der Altersteilzeit gekämpft. Er hielt die
Altersteilzeit für ein - ich zitiere ihn - unkontrollierbares
Instrument, das die Beschäftigungschancen der Senioren
mindert.
({2})
- Er hat in der Tat recht. Denn entgegen der Behauptung
der Linken hat die Altersteilzeit gerade nicht zu einer
ausgewogenen Beschäftigungsstruktur geführt; das ist
Märchen Nummer zwei. Vielmehr hat sie den Jugendwahn gestützt. Gerade die großen Betriebe haben die Altersteilzeit genutzt, um sich älterer Arbeitnehmer systematisch zu entledigen.
({3})
Wir konnten das an der Beschäftigungsquote Älterer sehen, die dramatisch zurückgegangen ist. Deswegen hat
die Große Koalition dem Jugendwahn den Kampf angesagt und im Koalitionsvertrag vereinbart, Anreize zur
Frühverrentung zu beseitigen. Ich sage für die Union:
Wir stehen zu unserem Wort.
({4})
Wir brauchen die Erfahrung der älteren Arbeitnehmer
dringender denn je, auch vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels. Im Übrigen wäre es widersprüchlich, die
gesetzliche Altersgrenze von 65 auf 67 Jahre heraufzusetzen und zugleich ein Modell zu fördern, das dazu beiträgt, dass Menschen - ohne körperlichen Grund - früher aus dem Arbeitsleben ausscheiden. Wir wissen, dass
nicht jeder in der Lage sein wird, diese Altersgrenze in
seinem ursprünglichen Beruf zu erreichen. Das gilt insbesondere für die körperlich belasteten Arbeitnehmer.
Wir brauchen flexible Lösungen, die wir bereits angeboten haben und an denen wir gemeinsam arbeiten. Hier
sind aber insbesondere die Tarifvertragsparteien gefordert. Anstatt dass Mitarbeiter früher in Rente geschickt
werden, braucht es eine demografiebewusste Personalpolitik.
Kollegin Connemann, kommen Sie bitte zum Schluss.
Wir brauchen eine Steigerung der Lernfähigkeit im
Alter durch kontinuierliche Weiterbildung. Es muss
möglich werden, auf einen weniger belastenden Arbeitsplatz zu wechseln. Wir brauchen Lebensarbeitszeitkonten und vieles mehr. Die Altersteilzeit ist insoweit nicht
dafür geeignet. Alles andere ist ein Märchen, und über
Märchen hat Voltaire einmal gesagt, Herr Kollege
Schneider:
Ich liebe die Märchen der Philosophen, ich lache
über die der Kinder, aber ich hasse die der Heuchler.
Recht hatte er. Deshalb lehnen wir Ihren Antrag ab.
({0})
Für die FDP-Fraktion spricht nun der Kollege Jörg
Rohde.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Mein Kollege Kolb hat Ihnen bereits messerscharf dargelegt,
({0})
warum die Altersteilzeit ein Irrweg war und wie im Gegensatz dazu eine beschäftigungsfördernde und rentensteigernde Politik aussieht. Ich brauche hier auch nicht
die Argumente gegen die Rente mit 67 zu wiederholen.
Ich möchte aber kurz auf Sie, Frau Ferner, eingehen.
Sie haben richtigerweise darauf hingewiesen, dass in den
80er-Jahren viele Betriebe das Instrument der Altersteilzeit genutzt haben, um ältere Arbeitnehmer aus dem Erwerbsleben zu komplimentieren. Es ist auch richtig, dass
die FDP der Altersteilzeitregelung damals zugestimmt
hat. Ich möchte hier aber ergänzen, dass wir alle damals
die Hoffnung hatten, dass die frei werdenden Arbeitsplätze von jungen Arbeitnehmern besetzt würden. Das
ist leider nicht eingetroffen.
({1})
Nur circa einer von sieben Arbeitsplätzen wurde wieder besetzt.
Frau Kollegin Connemann hat das Wort Jugendwahn
ausgesprochen. Dieser trat aber eben nur eingeschränkt
ein, weil die jungen Arbeitnehmer nicht zum Zuge kamen. Es wurden nur Arbeitsplätze abgebaut.
({2})
Diese Entwicklung hatten wir nicht gewollt. Deswegen
möchte ich wiederholen, dass die FDP als erste Fraktion
im Deutschen Bundestag diesen Irrtum eingesehen und
Korrekturen angemahnt hat. Diese Regelung läuft zu
Recht aus.
({3})
Kollege Rohde, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Schaaf?
({0})
Sehr gerne.
Nicht in dieser Debatte. Aber das ist nicht der entscheidende Punkt. Deswegen gibt es ja das Instrument,
eine Frage stellen zu dürfen, wenn man sich angesprochen fühlt.
Herr Rohde, würden Sie mir recht geben, dass es einen doch deutlichen und massiven Unterschied zwischen
der alten Vorruhestandsregelung nach Blüm’scher Art
und der Altersteilzeit gibt? Sie haben hier gerade alles
durcheinandergeworfen und gesagt, die Betriebe hätten
das genutzt, um Ältere herauszudrängen. In der Tat wurden beim Vorruhestand Ältere aus den Prozessen herausgedrängt. Bei der Altersteilzeit fanden ganz andere Prozesse statt.
({0})
Würden Sie konstatieren, dass Sie mit der Einschätzung, die Sie gerade formuliert haben, dass nämlich die
Altersteilzeit im Wesentlichen schuld daran ist, dass die
Älteren herausgedrängt worden sind, fehlgehen?
({1})
Herr Kollege Schaaf, es ist sicherlich richtig, dass Altersteilzeit und Vorruhestand unterschiedliche Begriffe
sind.
({0})
In gewisser Weise werden wir in der Diskussion aber immer wieder damit konfrontiert, dass die Begriffe vermischt werden.
Die FDP hat der einen Regelung am Anfang zugestimmt. Jetzt kritisieren wir eben die Wirkung, dass ältere Arbeitnehmer aus dem Erwerbsleben gedrängt werden - egal mit welcher Regelung.
({1})
Deswegen dürfen Regelungen - egal wie das System
heißt -, die dem Ziel dienen, dass Großbetriebe Älteren
den goldenen Handschlag geben und sie aus dem Erwerbsleben herausdrängen können, nicht unterstützt
werden.
({2})
Nun möchte ich die Gelegenheit nutzen, einmal etwas
tiefer in die angebliche Renten- bzw. Arbeitsmarktpolitik der Linken einzutauchen. In der Begründung zum
Antrag „Förderung der Altersteilzeit durch die Bundesagentur für Arbeit fortführen“ schreiben Sie von den
Linken wörtlich:
Sie
- die Altersteilzeit ist gleichzeitig eine Beschäftigungsbrücke, die jungen und erwerbslosen Menschen den Einstieg ins
Arbeitsleben ermöglicht.
({3})
Wir haben eben schon gemeinsam festgehalten - wenn
auch mit unterschiedlichen Begriffen -, dass das Ziel
nicht in dem Umfang erreicht wird, wie es notwendig
wäre.
Denken Sie doch einmal darüber nach, was Sie sagen!
Die Alten sollen abtreten und Platz für die Jungen machen. Sie von der Fraktion Die Linke wollen Alte gegen
Junge ausspielen. Da machen wir nicht mit.
({4})
Bei diesem eiskalten Rausschmiss der älteren Arbeitnehmer aus dem Erwerbsleben sprechen Sie im Folgenden
immer wieder verharmlosend von einer „sozialen Abfederung von Übergängen vom Erwerbsleben in die
Rente“. Diese Politik empfinde ich als beschämend.
({5})
Ich fordere Sie von den Linken auf: Hören Sie mit
dieser Politik des Gegeneinanders in unserer Gesellschaft - Jung gegen Alt, Arm gegen Reich, Ost gegen
West - auf! Das ist kein tragfähiges Politikkonzept, sondern nichts anderes als eine Spaltung der Gesellschaft.
({6})
Allen Ernstes und völlig unverblümt bekennt sich die
Linke klipp und klar dazu, Arbeitsmarktpolitik mit den
Mitteln der Rentenpolitik zu betreiben. Denn Sie, meine
verehrten Damen und Herren von den Linken, erliegen
immer wieder dem Irrtum, dass die aktuellen Probleme
am Arbeitsmarkt mit der Fortführung der Altersteilzeit
zu lösen wären.
Glauben Sie allen Ernstes, dass ein früherer Renteneintritt über Teilzeitlösungen das Problem fehlender Arbeitsplätze löst? Das Gegenteil ist der Fall. Sie bringen
die älteren Arbeitnehmer um große Teile ihres Einkommens und ihrer späteren Rente. Sie erschweren älteren
Arbeitslosen den Wiedereintritt in den Arbeitsmarkt, und
Sie vergrößern das Risiko von Altersarmut. Verstehen
Sie das unter Solidarität?
({7})
Arbeitsplätze für Junge schafft man nicht, indem man
die Alten rausschmeißt, sondern indem man die Steuern
und Sozialabgaben senkt, Investitionen der Unternehmen erleichtert und Arbeit in Deutschland wieder wettbewerbsfähig macht.
({8})
Aber das Ziel der Schaffung neuer Arbeitsplätze haben
Sie von den Linken längst aufgegeben. Sie beschränken
sich darauf, die in zu geringem Umfang vorhandene Arbeit auf die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land zu
verteilen. Wenn das nicht reicht, dann reduzieren Sie
einfach die Zahl der Erwerbstätigen, zum Beispiel über
die Altersteilzeit.
({9})
Das ist Planwirtschaft am Arbeitsmarkt. Dieser Zug ist
aber schon längst abgefahren, und zwar vor 18 Jahren.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat die Kollegin Andrea Nahles für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Fraktion ist erfreut und stolz darauf - auch
weil wir das Arbeitsministerium in den letzten zehn Jahren mitgeprägt haben -, dass die Erwerbsbeteiligung Älterer in den letzten zehn Jahren immerhin von 38 Prozent
auf 52 Prozent gestiegen ist. Diese Politik wollen wir
fortsetzen.
({0})
Im Übrigen steht nicht die Rente mit 67 zur Debatte.
Diesen Beschluss haben wir gemeinsam gefasst, und
dazu stehen wir.
({1})
Aber wir müssen auch Wahrheiten akzeptieren, die es
in der Realität unseres Arbeitslebens gibt. Eine Realität
in unserem Arbeitsleben ist eine zunehmende Arbeitsverdichtung. Die Krankenkassen haben vor wenigen
Tagen ihren neuesten Bericht über den Krankenstand
veröffentlicht. Mittlerweile sind psychische Belastungen
in die Rubrik der fünf häufigsten Krankheiten aufgerückt. Eine weitere Wahrheit ist, dass die realen Arbeitszeiten in den letzten Jahren fortlaufend verlängert worden sind.
Insofern muss man sich fragen, was diese Tatsachen
im Einzelfall bedeuten. Es werden nämlich nicht alle
Krankenschwestern, Busfahrer und Dachdecker in Vollzeit bis zum 67. Lebensjahr durchhalten können.
({2})
Es stünde jedem in diesem Hause gut zu Gesicht, sich
darüber Gedanken zu machen, wie man eine Antwort auf
diese Frage finden kann, ohne das grundsätzliche Ziel,
Ältere länger im Erwerbsleben zu halten, infrage zu stellen. Darum geht es bei unseren Vorschlägen.
({3})
Wir müssen mit einigen Vorurteilen aufräumen wie
dem, dass Altersteilzeit nur etwas für Großbetriebe ist.
Ich wundere mich, Frau Connemann, dass Sie die IABStudie nur auszugsweise zitiert haben. Sie besagt nämlich, dass es nahezu hälftig mittelständische Betriebe
sind, die Altersteilzeit in Anspruch nehmen.
({4})
Da Sie den Kopf schütteln, will ich das anhand konkreter Zahlen verdeutlichen: In Großbetrieben mit über
500 Beschäftigten wird die Altersteilzeit von 45 Prozent
der dazu berechtigten Beschäftigten genutzt; in mittelständischen Betrieben sind es 41 Prozent. Die einzigen,
bei denen der Anteil niedriger ist, sind die Kleinstbetriebe.
({5})
- Ja, aber Sie können nicht behaupten, dass Altersteilzeit
nur ein Instrument für Großbetriebe ist. Das ist nicht
wahr. Das muss an dieser Stelle klipp und klar gesagt
werden.
({6})
Der Kollege Brauksiepe wollte neue Argumente hören. Lassen Sie uns den Blick auf die Schulabgängerquote richten. Seit Jahren wird behauptet, dass die
Schulabgängerquote sinkt. Die Wahrheit ist, dass insbesondere in Westdeutschland - in Ostdeutschland verhält
es sich etwas anders - die Schulabgängerquote bis 2015
auf dem derzeitigen Stand bleiben wird, und zwar bei
eher steigender Tendenz. Angesichts dessen stellt sich
natürlich die Frage, wie wir Brücken zwischen Jung und
Alt in den Betrieben bauen können. Ich sage Ihnen offen: Eine Förderung der Altersteilzeit kommt für mich
nur infrage, wenn sie einen gesamtgesellschaftlichen
Nutzen bringt.
({7})
Eine Förderung kommt für mich nicht infrage, wenn nur
vereinzelt Betriebe davon profitieren. Wenn aber junge
Leute in Zukunft - das geht über das Jahr 2015 hinaus weiterhin Probleme beim Berufseinstieg haben, dann ist
es legitim, es darauf zu begrenzen. Das halbiert übrigens
die Anzahl der Altersteilzeitfälle, wenn wir das tun. Wir
begrenzen es auf die Brücke zwischen Jung und Alt. Nur
bei Übernahme von Auszubildenden bzw. Ausgebildeten
in den Betrieb ist eine Förderung legitim. Genau das ist
unser Vorschlag. Den kann ich guten Gewissens begründen.
({8})
Kollegin Nahles, gestatten Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Pothmer?
Gerne.
Frau Kollegin Nahles, wie wollen Sie verhindern,
dass Betriebe diese Förderung auch dann in Anspruch
nehmen, wenn sie ohnehin beschlossen haben, einen fertig Ausgebildeten zu übernehmen und ältere Beschäftigte abzubauen? Wie wollen Sie solche Mitnahmeeffekte, die aufgrund der derzeitigen Regelung massenhaft
auftreten, in Zukunft verhindern?
Frau Pothmer, das ist eine gute Frage.
({0})
Ein ähnliches Phänomen gab es bei der jetzt geltenden
Altersteilzeit, weswegen sie als Instrument teilweise diskreditiert wurde. Das betrifft insbesondere die Abgänge
aus Arbeitslosengeld und Arbeitslosigkeit. Wir wollen
aber keine Förderung, wenn Arbeitslose übernommen
werden. Dies war nämlich der Hauptpunkt, bei dem
Missbrauch betrieben wurde oder zumindest Schummeleien passiert sind. Wir können das bei den jungen Leuten noch präziser fassen, wenn wir das Kriterium der
Übernahme beispielsweise rückwirkend an die Ausbildungs- und Übernahmequoten in den letzten drei, vier
Jahren koppeln. Ein solches Verfahren haben wir an anderen Stellen effektiv eingesetzt.
({1})
Ich gebe Ihnen gerne recht: Das ist ein wichtiger
Punkt, wenn das Instrument der Altersteilzeit in unserem
Sinne genutzt werden soll.
Wir gehen dieses Thema noch aus einem anderen
Grund an. Ich weiß nicht, wie es Ihnen in Ihren Bürgersprechstunden geht, aber ich habe den Eindruck, dass
wir die Menschen motivieren müssen. Wenn es um die
Lebensarbeitszeit geht, wollen die meisten im Trott der
80er- und 90er-Jahre weitermachen. Mit unserer Beschlusslage motivieren wir die Menschen; das ist richtig.
Aber wer von Ihnen hatte nicht schon jemanden in der
Bürgersprechstunde sitzen, der sich regelrecht kaputtgearbeitet hat, um es klar zu sagen. Die Erwerbsminderungsrente ist aufgrund der zahlreichen Zugänge mittlerweile ein Nadelöhr geworden. Hier kann ich nur meiner
Kollegin Elke Ferner zustimmen. Wir müssen darüber
nachdenken, wie wir solchen Menschen einen humanen
und flexiblen Ausstieg aus dem Erwerbsleben ermöglichen können. Mich treibt so etwas um. Ich frage mich,
was Sie solchen Menschen in Ihrer Bürgersprechstunde
sagen. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.
({2})
Herr Kolb, die von uns vorgeschlagene Teilrente unterscheidet sich deutlich von der, die Sie vorschlagen.
Die FDP macht eine Teilrente für Besserverdienende.
({3})
Denjenigen, die die von Ihnen vorgeschlagene Teilrente
in Anspruch nehmen können, ist es egal, ob sie Abschläge von bis zu 18 Prozent hinnehmen müssen oder
nicht. Das ist eine individuelle Lösung, eine Flexibilisierung.
({4})
- Nein, ich werde jetzt keine Zwischenfrage zulassen;
denn ich möchte an dieser Stelle den Unterschied deutlich machen.
Nach unserem Modell vereinbart der Arbeitnehmer
mit seinem Arbeitgeber eine Arbeitszeitverkürzung.
Aber die Abschläge vom 60. bis zum 62. Lebensjahr
werden von den Arbeitgebern kollektiv abgesichert. Das
bedeutet einen Abschlag von maximal 7,2 Prozent. Hier
haben die Tarifpartner noch Gestaltungsspielraum, das
nach unten zu drücken. So können sich auch Menschen
mit niedrigen Einkommen und Renten unsere Teilrente
leisten. Das ist der große Unterschied zu dem Modell,
das die FDP vorgeschlagen hat, Herr Kolb.
({5})
Wir brauchen angesichts der demografischen Entwicklung eine Veränderung, was den Verbleib der Menschen im Erwerbsleben angeht. Sie müssen länger im Erwerbsleben verbleiben, als das in den 80er- und 90erJahren der Fall war. Wir müssen aber Übergänge für
Härtefälle schaffen, weil es in einzelnen Betrieben besondere Belastungen für die arbeitenden Menschen gibt.
Altersteilzeit sollte gefördert und verlängert werden,
wenn dafür junge Menschen eingestellt werden - das ist
ein hartes Kriterium -, und die Teilrente ab 60 sollte ermöglicht werden, wobei diese von den Tarifpartnern
ausgestaltet werden kann. Das halte ich für einen fairen
Kompromiss, der unsere grundsätzliche Politik nicht infrage stellt, sondern ihr in der Bevölkerung endlich Akzeptanz verschafft. Machen wir uns hier doch nichts vor!
Wenn wir nicht einen flexiblen und humanen Übergang
schaffen, dann werden wir die Bevölkerung in ihrer großen Mehrheit nicht auf den Weg in eine längere Lebensarbeitszeit mitnehmen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Zu einer Kurzintervention hat nun der Kollege Kolb
das Wort.
({0})
Frau Kollegin Nahles, wir sollten alle wissen, dass
eine Zwischenfrage und die Antwort darauf weniger Zeit
kostet als die Kurzintervention und die Replik. Antworten werden Sie mir ohnehin;
({0})
insofern verstehe ich nicht, dass Sie meine Zwischenfrage nicht gleich zugelassen haben.
Ich will Folgendes sagen, Frau Nahles: Sie haben den
Eindruck erweckt, wir würden einen flexiblen Übergang
nur für Rentner mit höheren Renten schaffen.
({1})
Das ist ausdrücklich falsch. Voraussetzung für unsere
flexible Rente ist die Grundsicherungsfreiheit. Da reden
wir über eine Rente nach Abschlägen von etwa
660 Euro. Unsere Prüfung findet außerdem für die Bedarfsgemeinschaft statt. Das heißt, auch in Haushalten
werden Ehepartner zusammen betrachtet, was die
Grundsicherungsfreiheit anbelangt. Das führt im Ergebnis dazu, dass 90 Prozent aller Versicherten die Chance
haben, mit dem FDP-Modell einen flexiblen Übergang
zu erreichen.
({2})
Das muss hier einmal deutlich gesagt werden.
({3})
Außerdem lässt sich Ihr Ansinnen, so finde ich, mit
unserem Vorschlag sehr gut kombinieren. Auch wir haben natürlich die Menschen im Auge, die sich, wie Herr
Schneider gesagt hat, mit 60 Jahren kaputtgearbeitet haben, weil sie einen körperlich anstrengenden Beruf haben. Dann muss man den Vorschlag, den wir gemacht
haben, durch tarifvertragliche Regelungen ergänzen,
zum Beispiel indem Fonds in Branchen geschaffen werden, wenn regelmäßig zu erwarten ist, dass Arbeitnehmer in diesen Branchen eine vorgezogene Rente in Anspruch nehmen müssen. Lassen Sie uns doch nicht
künstlich Differenzen aufbauen, sondern lassen Sie uns
schauen, wie wir Brücken bauen können, die wir gemeinsam begehen können. Unser Vorschlag ist zielführend, er erreicht die Masse der Versicherten in Deutschland, und Sie sollten einfach überlegen, wie wir das
gemeinsam hinbekommen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Sie haben das Wort.
Bei Ihren letzten Sätzen, Herr Kolb, ampelte es schon
ein bisschen. Das nehme ich natürlich mit Freude zur
Kenntnis.
Das Problem, das wir momentan an dieser Stelle haben, Herr Kolb, sind die Grünen. Die haben hier überhaupt keinen Vorschlag gemacht, wie sie den flexiblen
Übergang in die Rente organisieren wollen.
({0})
Mir ist jedenfalls heute keiner zu Ohren gekommen. Wir
müssen daran vielleicht noch ein bisschen arbeiten.
In der Sache will ich Ihnen, Herr Kolb, aber ganz klar
sagen, dass zwar potenziell 90 Prozent der Leute nach
Ihrem Modell die Rente in Anspruch nehmen könnten,
aber diese 90 Prozent sich das nicht leisten können, und
zwar wegen der Abschläge. Genau darum geht es. Vielleicht können wir den Unterschied zwischen uns im
Laufe der nächsten Jahre noch abbauen.
({1})
Der Kollege Dr. Michael Fuchs hat nun für die
Unionsfraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Als ich eben Herrn Schneider zugehört habe, habe
ich mir gedacht: Bei dem einen oder anderen in diesem
Parlament wäre es doch ganz gut, wenn er relativ rechtzeitig in Altersteilzeit gehen und nicht so lange im Parlament bleiben würde.
({0})
Was wir in der Großen Koalition wollen, ist eine deutliche Verbesserung der Beschäftigungschancen älterer
Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen. Ich halte das für notwendig, und auf diesem Weg sind wir ein gutes Stück
weitergekommen; denn wir brauchen diese Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Zukunft. Machen wir uns
doch nichts vor: Den Azubiberg, den wir eine ganze Zeit
lang zu bewältigen hatten, wird es in Bälde nicht mehr
geben. Spätestens im Jahre 2012 - das sage ich den Unternehmen voraus - werden sie den roten Teppich ausrollen müssen, um überhaupt einen Auszubildenden zu
bekommen.
({1})
Für diesen Bereich, Herr Schneider, brauchen wir die
Altersteilzeit ganz sicherlich nicht mehr.
({2})
Ich möchte, dass die Menschen, die über Erfahrung
verfügen und mitten im Leben stehen - heute steht jemand mit 60 oder 65 mitten im Leben, denn seine Lebenserwartung liegt bei über 80 Jahren -, weiter im Berufsleben bleiben.
({3})
Liebe Kollegin Nahles, das wird für den überwiegenden
Teil auch notwendig sein, weil wir gerade aufgrund der
demografischen Entwicklung diese Menschen brauchen. Selbstverständlich gibt es welche, die es nicht
mehr schaffen; auch diese hatte ich bereits in meiner
Sprechstunde. Ich glaube allerdings nicht, dass man diesen Menschen empfehlen sollte, in Altersteilzeit zu gehen. Das funktioniert bei der Zielgruppe, die Sie angesprochen haben, mit Sicherheit nicht.
({4})
Die demografische Entwicklung ist so, wie sie ist.
Machen wir uns nichts vor: Wir alle werden älter. Das ist
gut so. Wir haben pro Jahr 30 Tage mehr Lebenserwartung. Das heißt, innerhalb von zehn Jahren steigt unsere
Lebenserwartung um beinahe ein Jahr an. Dementsprechend haben wir richtig reagiert, als wir die Rente mit 67
beschlossen haben. Es gab überhaupt keine Alternative
dazu. Gott sei Dank hat die Große Koalition das so gemacht.
Ich möchte es noch einmal auf den Punkt bringen.
Fakt ist: Es werden nicht mehr Auszubildende eingestellt. Das funktioniert nicht. Ich habe eben schon gesagt, dass sich dieses Problem anderweitig lösen wird.
Fakt ist auch: Es werden Stellen mithilfe staatlicher
Subventionen abgebaut, und zwar im Wesentlichen, Frau
Kollegin Nahles, in den größeren Unternehmen. 98 Prozent der Unternehmen in Deutschland haben unter
20 Mitarbeiter. In diesen Unternehmen findet es gar
nicht statt.
({5})
Ich habe mir - ich habe hier ja noch gewisse Beziehungen - die Zahlen für den Groß- und Außenhandel in
Nordrhein-Westfalen geben lassen; diese Unternehmen
liegen in der Größenordnung zwischen 20 und 100 Mitarbeitern. Wissen Sie, wie viele der 90 000 Mitarbeiter
in Altersteilzeit gegangen sind? Es gab einen einzigen
Fall im Groß- und Außenhandel in Nordrhein-Westfalen.
Das zeigt, es wird in ganz anderen Bereichen angewandt.
Daraufhin habe ich bei der Bundesagentur für Arbeit
nachgefragt, welche Branchen es denn sind, in denen am
allermeisten die Altersteilzeit in Anspruch genommen
wird. An erster Stelle - man höre und staune - steht der
öffentliche Dienst.
({6})
Öffentliche Verwaltungen und Sozialversicherungen
nehmen ihn an erster Stelle in Anspruch. 15 Prozent der
105 000 in Altersteilzeit Befindlichen sind aus dem öffentlichen Dienst.
({7})
An zweiter Stelle steht das Gesundheits-, Veterinärund Sozialwesen. Auch hier können Sie wieder davon
ausgehen, dass diese Bereiche in großen Teilen zum öffentlichen Dienst gehören.
An dritter Stelle steht das Kreditgewerbe - das sind
wahrscheinlich die Sparkassen -, und dann kommen erst
der Maschinenbausektor und die Automobilhersteller.
Das sind die großen Bereiche, die bereits 50 Prozent
der gesamten Altersteilzeit abdecken. Das heißt, im Wesentlichen ist es eine Subventionierung der kleinen Betriebe zugunsten der Großen und des öffentlichen Dienstes obendrein.
({8})
Das haben wir erkannt, und deshalb sind wir richtigerweise zu dem Schluss gekommen, dass es so nicht
weitergehen kann.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir geben in diesem
Bereich immerhin 1,5 Milliarden Euro aus. Das sind
0,2 Beitragspunkte in der Arbeitslosenversicherung,
die uns eigentlich zur Verfügung stünden. Genau hier
müssen wir ansetzen.
({9})
Wir wollen, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer netto mehr in der Tasche haben. Das geht nicht
über die Umverteilerei. Ich weiß: Sobald Sie von den
Linken irgendwo Geld sehen, kommen Sie sofort auf die
Idee - davon kann man ausgehen -, dass es umverteilt
werden muss. Sie wollen Masse, um sie umzuverteilen.
Das ist doch Ihr Ziel. Etwas anderes tun Sie doch nicht.
({10})
Deswegen bin ich dafür, dass wir die geltende Regelung so schnell wie möglich auslaufen lassen, damit wir
das Geld denjenigen, die es aufbringen, nämlich den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sowie den Unternehmen, zurückgeben können. Das ist unser Job, das ist
unsere Aufgabe.
({11})
Ich hoffe, dass es uns - wiederum so bald wie möglich - gelingt, die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung
weiter zu senken. Denn die Spanne zwischen dem Netto
der Arbeitnehmer und den Kosten, die in den Löhnen
enthalten sind, ist immer noch zu groß.
({12})
Jeder Altersteilzeitfall wird mit 32 000 Euro aus der
Kasse der Bundesagentur für Arbeit subventioniert. Das
zeigt, wie gefährlich es ist und dass hier erhebliche Gelder verschwendet werden, die wir besser denjenigen geben sollten, die sie aufbringen müssen.
({13})
Deswegen sollten wir auch darauf achten, dass wir alles tun, um ältere Arbeitnehmer durch Qualifizierungsmaßnahmen oder Anreize im Arbeitsbereich in den Betrieben zu halten. Es macht keinen Sinn, zu glauben,
dass wir das Problem lösen können, indem wir die älteren Arbeitnehmer aus den Betrieben herausnehmen. Das
funktioniert nicht. Auch die Großindustrie darf dieses
Instrument nicht mehr anwenden. Es ist eben - das wissen wir alle - missbräuchlich verwendet worden,
({14})
und deswegen sollten wir seine Verwendung jetzt auslaufen lassen. Auf die bisher praktizierte Weise kann
man den demografischen Wandel nicht gestalten. Das
können wir nur mit anderen, vernünftigen Instrumenten.
Wir müssen über viele Dinge nachdenken. Da wird
Kreativität notwendig sein. Was der Kollege Kolb eben
gesagt hat, ist nicht falsch.
({15})
Es gibt eine ganze Reihe von Personen, die durchaus in
der Lage sind, unter Inkaufnahme von Abschlägen früher in Rente zu gehen. Die Höhe der Rente muss aber
über der Höhe der Grundsicherung liegen; denn sonst
wird das Ganze wiederum zum Fall für den Staat. Das
wollen wir sicherlich nicht.
Die Kollegin Connemann hat in ihrer sehr schönen
Rede eben Voltaire zitiert. Mir ist ebenfalls ein Zitat von
Voltaire eingefallen. Er hat in seiner unnachahmlichen
Art einmal über die Deutschen gesagt: „Am Grunde eines Problems sitzt immer ein Deutscher“. Ich glaube, bei
uns im Parlament ist das anders: Am Grunde eines Problems sitzt immer ein Linker.
({16})
Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Wolfgang
Grotthaus das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Wenn man als Letzter in einer Diskussion an der
Reihe ist, dann gibt es viel zu sagen. Herr Fuchs, Ihr zuletzt genanntes Zitat finde ich prima. Es bedeutet nämlich, dass sich Linke - dazu zählt sich auch die SPD ({0})
mit den gesellschaftlichen Problemen immer noch viel
intensiver auseinandersetzen, als Sie es in Ihrer Rede getan haben.
({1})
Daher könnte ich jetzt mit Ihnen einen Streit anfangen.
Aber Ihre Ausführungen stehen heute nicht zur Abstimmung; zur Abstimmung stehen vielmehr die Anträge der
Linken.
Ich will den Linken gleich mit auf den Weg geben:
Wir werden diese Anträge natürlich ablehnen, so wie wir
es auch im Ausschuss getan haben. Wir werden festhalten, dass Sie mit diesen Anträgen inhaltlich zu kurz
springen. Hier geht es nur um den Erhalt dessen, was
bisher gilt - mit einigen wenigen Verbesserungen.
Eine dieser Verbesserungen - zumindest aus Ihrer
Sicht - will ich Ihnen benennen; Herr Schneider, Sie haben das in Ihren Ausführungen dargestellt. Sie sagen
zum Beispiel: Wenn jemand 40 Jahre lang gearbeitet hat,
dann muss er ohne Abschläge in die Rente gehen können. Ich gehöre einem Jahrgang an, der mit 16 in die
Ausbildung gegangen ist. Kollegen von mir sind mit 14
in die Ausbildung gegangen. Nach Ihren Vorstellungen
müssten sie mit 54 ohne Abschläge in Rente gehen und
elf Jahre zusätzliche Rentenzeit bekommen können. Das
wäre für den, der davon betroffen ist, toll. Sie machen
aber keine Vorschläge, wie das zu finanzieren ist. Ich
warte nur darauf, dass Sie irgendwann vorschlagen: von
der Hochschule gleich in die Rente.
({2})
Diesen Vorschlag würden wir natürlich auch ablehnen.
In unserem System wird die Rente nämlich von Menschen finanziert, die im Arbeitsleben stehen.
Genau diesen Punkt betonen Sie hier immer wieder,
Herr Schneider. Sie sagen: Wir, die Linken, haben die
besten Ideen, und ihr, die Regierungskoalition, habt
diese Ideen nun umzusetzen und euch obendrein Gedanken darüber zu machen, wie diese Umsetzung zu finanzieren ist. So ist Ihre Aufgabenverteilung. Wir werden
Ihnen jedes Mal, wenn es um dieses Thema geht, den
Spiegel vorhalten. Auf Ihre Vorschläge werden wir nicht
eingehen. Wir sagen: Mit Ihren Anträgen springen Sie zu
kurz.
Aus meiner Sicht stellt sich die Frage: Wann stoßen
Menschen an ihre psychischen und physischen Grenzen, und wie lassen sich diese Grenzen im Interesse der
Menschen ausdehnen? Wie ist es möglich, dass der eine
oder andere nicht so schnell unter dem Burn-out-Syndrom, das Sie genannt haben, leidet? Wie ist es möglich,
dass man Arbeitsplätze schafft, die den Körper nicht so
stark belasten, wie sie es heute tun?
Altersteilzeit ist eine Maßnahme, um Betroffenen gerecht zu werden. Das gilt zum Beispiel für den oft zitierten Dachdecker. Das ist Fakt. Auch der Fliesenleger
kann seinem Job mit 60 Jahren im Wesentlichen nicht
mehr nachgehen. Er hat die Chance, in die Altersteilzeit
zu gehen - wenn wir sie denn erhalten. Aber wie sieht
es mit der sowohl physisch als auch psychisch kaputten
45-jährigen Frau aus, die in der Krankenpflege tätig ist?
Welches Angebot machen Sie dieser Frau? Sie kann
nicht in Altersteilzeit gehen!
Deswegen muss man sich fragen: Ist Altersteilzeit das
einzige richtige Mittel, oder sollten nicht noch mehr
Möglichkeiten in Betracht gezogen werden? Ich denke
da an einen Dreiklang aus Altersteilzeit - in welchen
Formen auch immer, ob Teilrente oder Langzeitarbeitskonten -, aus lebenslangem Lernen zum Beispiel in
Form der betrieblichen Ausbildung und aus Prävention.
All das gehört dazu; das muss angesprochen werden,
auch wenn Ihnen das jetzt nicht gefällt.
({3})
Diesen Dreiklang muss es also geben. Lebenslanges
Lernen statt Aussortierung lautet eine Devise. Nach dem
heutigen System wird die eben genannte 45-Jährige ja
aussortiert; sie wird ausgemustert, weil sie keine Chance
mehr hat. Deswegen müssen wir in die Köpfe der Menschen hineinbringen, dass lebenslanges Lernen notwendig ist, und dieses muss auch von den Betrieben gefördert werden. Ich habe erleben müssen, wie technische
Zeichner, die 55 Jahre alt waren, vom Arbeitgeber unter
Druck gesetzt worden sind, doch bitte aus dem Betrieb
auszuscheiden, weil sie das computergestützte Zeichnen
nicht beherrschten. Stattdessen sind dann aber keine
Auszubildenden, sondern 35-Jährige eingestellt worden.
Genau das wollen wir aber nicht.
Weiterhin ist es auch richtig, dass wir Prävention viel
stärker in das Bewusstsein der Menschen bringen. Prävention heißt zum Beispiel, den Menschen mit Unterstützung der Gewerkschaften deutlich zu machen, dass
jede Überstunde in jungen Jahren eine Gesundheitsgefährdung mit sich bringen kann, die man im Alter zu
spüren bekommt. Diesen Punkt müssen wir jetzt noch
ein bisschen weiterspinnen - daran sehen Sie die Bandbreite der Themen, über die wir hier reden -: Wer macht
denn Überstunden? Es sind meistens diejenigen, die im
Niedriglohnbereich arbeiten.
({4})
Sie müssen geradezu Überstunden machen, um überhaupt einigermaßen ihren Lebensunterhalt bestreiten zu
können. Deswegen müssen wir in diesem Zusammenhang auch über Mindestlöhne bzw. gerechte Löhne diskutieren.
Das Themenspektrum muss also sehr stark ausgeweitet werden und darf sich nicht ausschließlich auf den Inhalt Ihrer Anträge konzentrieren. Wir können Ihnen versichern: Ja, wir haben Ideen. Diese Ideen werden wir in
Antragsform gießen. Die entsprechenden Anträge werden im Herbst dieses Jahres vorgelegt werden. Darin
wird es auch um altersgerechte Arbeitsplätze, um altersbezogenes Personalmanagement, um intelligente Schichtenpläne und um vieles mehr gehen. Hier sind aber auch
die Tarifvertragsparteien gefordert. Die wissen nämlich
am besten, was notwendig ist, damit in den Betrieben
altersgerechte Arbeitsplätze eingerichtet werden können. Die wissen, in welcher Form Prävention betrieben
werden muss.
All das wird aber - das sage ich hier sehr deutlich nicht reichen, weil es immer mehr Menschen geben
wird, die körperlich nicht mehr können. Denen müssen
wir über entsprechende Regelungen zur Altersteilzeit die
Chance geben, aus dem Berufsleben ausscheiden zu
können. Deswegen muss es Altersteilzeit auch weiterhin
geben.
({5})
Die SPD hat hierzu in einem Diskussionspapier Vorschläge unterbreitet. Es ist toll, dass die anderen Fraktionen unsere Vorschläge aufgegriffen haben und in der
heutigen Debatte darüber mehr diskutiert worden ist als
über die Anträge der Linken.
Ihnen, Herr Schneider, möchte ich eines mit auf den
Weg geben, wenn Sie Ihren nächsten Antrag formulieren: Im Zusammenhang mit Langzeitarbeitskonten
muss nicht nur über den Insolvenzschutz diskutiert werden, sondern auch über die Vererbbarkeit. Es kann ja
nicht sein, dass dann, wenn einer, der ein volles Langzeitarbeitskonto hat, verstirbt - das soll ja im Leben
schon einmal vorkommen -, dieses irgendjemandem zugute kommt, aber nicht der Witwe oder dem Witwer.
Hier ist Kapital angesammelt worden. Deswegen müssen wir auch über die Vererbbarkeit reden. Wir müssen
auch darüber reden, ob ein solches Langzeitarbeitskonto
im Nachhinein mit Sozialversicherungsbeiträgen belastet werden darf, was sich ja auf die Rente auswirken
würde.
({6})
- Das ist toll, Herr Schneider. Deswegen habe ich Ihnen
das ja mit auf den Weg gegeben. Sie werden dies bestimmt aufgreifen, in nächster Zeit in den Bundestag einbringen und uns bei der Gelegenheit vorhalten, dass wir
es doch wieder ablehnen. Wenn es kurzfristig eingebracht wird, werden wir es ablehnen müssen, weil wir
die Diskussion darüber noch nicht zu Ende geführt haben.
Abschließend ist festzuhalten: Unsere Zielsetzung ist
nicht, möglichst viele Ältere aus dem Arbeitsleben zu
entlassen, sondern ist, ihnen größtmögliche Chancen zu
eröffnen, damit sie ihren Beruf weiterhin ausüben können. Das ist uns in den zurückliegenden Jahren immer
besser gelungen. Die entsprechenden Zahlen sind hier
schon genannt worden. All das hat nicht nur etwas mit
dem Wirtschaftsaufschwung zu tun, sondern auch mit
den Maßnahmen, die die Bundesregierung unter sozialdemokratischer Führung eingeleitet hat. Ich erinnere
zum Beispiel an die Initiative „50 plus“ oder an Instrumente zur Reintegration von Menschen mit besonderen
Vermittlungshemmnissen.
Wir verschließen also nicht die Augen davor, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in besonders belastenden Berufen die Chance auf einen gleitenden
Übergang vom Erwerbsleben in den Ruhestand eröffnet werden muss. Wir sagen aber gleichzeitig: Wir müssen versuchen, diese Belastungen weitestgehend zu minimieren, damit die Menschen auch noch nach dem
Ausscheiden aus dem Arbeitsleben gesund sind. Es gilt
also zu vermeiden, dass Menschen krank aus dem Arbeitsleben ausscheiden. Von daher müssen wir vorne an
der Kette ansetzen: Gesundheit erhalten und die Möglichkeit schaffen, lange im Berufsleben zu bleiben, und
dort, wo das nicht möglich ist, gleitende Übergänge zu
schaffen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/9067 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Arbeit und Soziales auf Drucksache 16/6749. Der
Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfeh-
lung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke
auf Drucksache 16/4552 mit dem Titel „Altersteilzeit
fortentwickeln“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? - Wer stimmt dagegen? - Gibt es Enthaltungen? -
Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der
Unionsfraktion, der SPD-Fraktion, der FDP-Fraktion
und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die
Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen.
Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/4553
mit dem Titel „Rente mit 67 - Berichtspflicht zum Ar-
beitsmarkt nicht verwässern - Bestandsprüfungsklausel
konkretisieren“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unions-
fraktion, der SPD-Fraktion und der FDP-Fraktion gegen
die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 27 a bis 27 e
und 12 sowie die Zusatzpunkte 2 a bis 2 d auf:
27 a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Heimkehrerstiftungsaufhebungsgesetzes
- Drucksache 16/9058 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Rechtsausschuss
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 24. September 2005 zwischen
der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Vereinigten Arabischen Emirate über die Zusammenarbeit im
Sicherheitsbereich
- Drucksache 16/9039 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bevölkerungsstatistikgesetzes
- Drucksachen 16/9040, 16/9079 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({2})
Rechtsausschuss
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin
Andreae, Dr. Thea Dückert, Dr. Wolfgang
Strengmann-Kuhn, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Vergaberecht reformieren - Rechtssicherheit
schaffen - Eckpunkte für die Reform des Vergaberechts
- Drucksache 16/8810 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({3})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Vizepräsidentin Petra Pau
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss
e) Beratung der Unterrichtung durch die Delegation
der Bundesrepublik Deutschland in der Ostseeparlamentarierkonferenz
16. Jahrestagung der Ostseeparlamentarierkonferenz vom 27. bis 28. August 2007 in Berlin
- Drucksache 16/7809 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({4})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
12 Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur
Änderung des Seelotsgesetzes
- Drucksache 16/9037 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
ZP 2 a)Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbes-
serung der grenzüberschreitenden Forde-
rungsdurchsetzung und Zustellung
- Drucksache 16/8839 -
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus
Hofbauer, Dirk Fischer ({5}), Dr. HansPeter Friedrich ({6}), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Heinz Paula, Uwe Beckmeyer, Sören
Bartol, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Zwölf-Tage-Regelung in Europa wieder einführen
- Drucksache 16/9076 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({7})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Tourismus
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Daniel
Bahr ({8}), Heinz Lanfermann, Dr. Konrad
Schily, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Verbesserung der Finanzsituation der Kran-
kenhäuser
- Drucksache 16/9057 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Harald Terpe, Birgitt Bender, Elisabeth
Scharfenberg, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Krankenhäuser zukunftsfähig machen
- Drucksache 16/9008 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 28 a bis 28 l auf.
Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen,
zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 28 a:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP, DIE LINKE und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Änderung
des Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung
„Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“
- Drucksache 16/8870 Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({9})
- Drucksache 16/9109 Berichterstattung:
Abgeordnete Stephan Mayer ({10})
Dr. Max Stadler
Silke Stokar von Neuforn
Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9109, den interfraktionellen Gesetzentwurf auf Drucksache 16/8870 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gibt es Gegenstimmen? - Gibt es Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Ich
bitte diejenigen, die den Gesetzentwurf ablehnen wollen,
sich zu erheben. - Gibt es jemanden, der sich enthalten
möchte? - Dann ist der Gesetzentwurf auch in dritter Beratung einstimmig angenommen.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 28 b:
- Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Conterganstiftungsgesetzes
- Drucksache 16/8743 16844
Vizepräsidentin Petra Pau
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
Ersten Gesetzes zur Änderung des Conterganstiftungsgesetzes
- Drucksache 16/8653 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
({11})
- Drucksache 16/9025 Berichterstattung:
Abgeordnete Antje Blumenthal
Marlene Rupprecht ({12})
Ina Lenke
Elke Reinke
Britta Haßelmann
- Bericht des Haushaltsausschusses ({13}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 16/9026 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Ole Schröder
Petra Hinz ({14})
Otto Fricke
Anna Lührmann
Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Ju-
gend empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 16/9025, den Gesetzentwurf der Fraktio-
nen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/
8743 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, dem Gesetzent-
wurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegen-
probe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in
zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzent-
wurf ist damit auch in dritter Beratung einstimmig ange-
nommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 16/9025 empfiehlt der Ausschuss, den Gesetzent-
wurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/8653 zur
Änderung des Conterganstiftungsgesetzes für erledigt zu
erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? -
Die Gegenprobe! - Wer möchte sich enthalten? - Die
Beschlussempfehlung ist damit einstimmig angenom-
men.1)
Tagesordnungspunkt 28 c:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({15}) zu dem
Antrag der Abgeordneten Mechthild Dyckmans,
Hans-Michael Goldmann, Jens Ackermann, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
1) Anlage 3
Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen
Parlamentes und des Rates über den Schutz
der Verbraucher im Hinblick auf bestimmte
Aspekte von Teilzeitnutzungsrechten, langfristigen Urlaubsprodukten sowie des Wiederverkaufs und Tausches derselben
- Drucksachen 16/8187, 16/9115 Berichterstattung:
Abgeordnete Marco Wanderwitz
Dirk Manzewski
Wolfgang Nešković
Hans-Christian Ströbele
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9115, den Antrag der Fraktion
der FDP auf Drucksache 16/8187 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Die Gegenprobe! - Wer möchte sich enthalten? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und
der SPD-Fraktion bei Gegenstimmen der FDP-Fraktion
und der Fraktion Die Linke sowie Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 28 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({16})
Sammelübersicht 398 zu Petitionen
- Drucksache 16/8894 Wer stimmt für diese Sammelübersicht? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 398
ist damit angenommen.
Tagesordnungspunkt 28 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({17})
Sammelübersicht 399 zu Petitionen
- Drucksache 16/8895 Wer stimmt dafür? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 399 ist damit ebenfalls angenommen.
Tagesordnungspunkt 28 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({18})
Sammelübersicht 400 zu Petitionen
- Drucksache 16/8896 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 400 ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der SPD-Fraktion und der FDPFraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei
Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({0})
Sammelübersicht 401 zu Petitionen
- Drucksache 16/8897 Wer stimmt dafür? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 401 ist damit angenommen.
Tagesordnungspunkt 28 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({1})
Sammelübersicht 402 zu Petitionen
- Drucksache 16/8898 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 402 ist damit gegen
die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 28 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({2})
Sammelübersicht 403 zu Petitionen
- Drucksache 16/8899 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 403 ist damit gegen
die Stimmen der FDP-Fraktion angenommen.
Tagesordnungspunkt 28 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({3})
Sammelübersicht 404 zu Petitionen
- Drucksache 16/8900 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Gibt es
Enthaltungen? - Das ist nicht der Fall. Die Sammelübersicht 404 ist damit gegen die Stimmen der Fraktion
Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 28 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({4})
Sammelübersicht 405 zu Petitionen
- Drucksache 16/8901 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Gibt es
Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 405 ist damit gegen die Stimmen der FDP-Fraktion und der Fraktion Die
Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 28 l:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({5})
Sammelübersicht 406 zu Petitionen
- Drucksache 16/8902 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Gibt es
Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 406 ist gegen die
Stimmen der FDP-Fraktion, der Fraktion Die Linke und
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 3 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und
der SPD
Wachstum und Beschäftigung als Grundlage
wirtschaftlicher Sicherheit - Haltung der Bundesregierung zur Entwicklung des Arbeitsmarktes und zu den Wachstumsperspektiven
für Deutschland
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Klaus Brandner.
({6})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die letzten Jahre zeigen eindrucksvoll: Wir haben mit unserer Politik erfolgreich dafür gesorgt, dass sich Wachstum viel schneller und
nachhaltiger in Beschäftigung umsetzt. Ein hoher Beschäftigungsstand bedeutet nicht nur wirtschaftliche Sicherheit, sondern legt auch die Grundlage für zukunftsfähige, sichere Sozialsysteme und für einen verbesserten
sozialen Zusammenhalt.
Das sieht man auch in Europa so. Deswegen steht in
der Lissabon-Strategie unter anderem:
Wachstum ist kein Selbstzweck, sondern eine Voraussetzung für die Wahrung und Vermehrung des
Wohlstands in Europa und somit für den Erhalt und
die Verbesserung unserer Sozialmodelle.
Aber auch der Umkehrschluss stimmt: Deutschland
ist wirtschaftlich stark, nicht obwohl, sondern weil wir
Sozialstaat sind; denn der Sozialstaat bietet die Grundlage für Wachstum und sozialen Frieden.
({0})
Erwirtschaftet wird unser Wachstum von den vielen
Menschen, die Tag für Tag hart arbeiten, von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, von Unternehmerinnen
und Unternehmern. Sie sind das Rückgrat unseres gesellschaftlichen Wohlstands. Aber Arbeit ist weit mehr
als nur ein Weg, um Einkommen zu erzielen. Arbeit ist
der Schlüssel für gesellschaftliche Teilhabe überhaupt.
Deswegen sind die folgenden Zahlen so wichtig, weit
über wirtschaftliche Überlegungen hinaus.
Die Zahl der Erwerbstätigen steigt kontinuierlich. Sie
wird erstmals im Jahresdurchschnitt über der Marke von
40 Millionen liegen. Ursache ist vor allem die erfreulich
starke Zunahme der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung. Es ist uns erstmals gelungen, über 27 Millionen Menschen in sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung zu haben. Deswegen ist es nicht richtig,
wenn manche behaupten, die guten Nachrichten vom
Arbeitsmarkt seien vor allem auf mehr geringfügige Beschäftigung zurückzuführen. Das Gegenteil ist richtig:
Die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung ist in
den letzten 12 Monaten mit 2,5 Prozent deutlich stärker
gewachsen als die geringfügige Beschäftigung mit nur
1,7 Prozent.
Die zweite gute Entwicklung: Die Zahl der Arbeitslosen sinkt weiter. Im April 2008 gab es 1,6 Millionen Arbeitslose weniger als vor drei Jahren. Das entspricht fast
der Einwohnerzahl einer Stadt wie Hamburg. Im letzten
Jahr konnten wir uns über den mit Abstand stärksten
Rückgang der Arbeitslosigkeit in der Geschichte der
Bundesrepublik Deutschland freuen. Diese gute Entwicklung geht weiter. Für dieses Jahr erwarten wir einen
weiteren Rückgang um gut 500 000 auf dann knapp
3,3 Millionen Arbeitslose. Damit werden wir die niedrigste Arbeitslosenzahl seit 15 Jahren erreichen.
Mehr Beschäftigung bedeutet zugleich mehr Einnahmen für alle Zweige der Sozialversicherung. Das kann
man in Zahlen fassen: 100 000 Beschäftigte mehr bedeuten rund 1 Milliarde Euro Mehreinnahmen bei der Sozialversicherung. All das führt dazu, dass wir Handlungsspielräume gewinnen.
In diesem Zusammenhang möchte ich an folgende
Punkte erinnern. Diese Handlungsspielräume geben uns
die Möglichkeit, ein hohes Leistungsniveau zu erhalten.
Außerdem können Maßnahmen, mit denen auf neue Herausforderungen reagiert werden muss, finanziert werden. Die neuen Handlungsspielräume haben zudem die
Absenkung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung
von 6,5 Prozent Ende 2006 auf heute 3,3 Prozent ermöglicht. Für den Haushalt der Bundesagentur für Arbeit
kann man schon heute prognostizieren: Ein Defizit von
knapp 5 Milliarden Euro, wie wir es noch im Haushaltsplan 2008 unterstellt haben, wird es nicht geben.
All diese Entwicklungen belegen nachdrücklich, dass
die Strukturreformen am Arbeitsmarkt erfolgreich sind.
Wir arbeiten ehrgeizig weiter, indem wir die Vermittlung
ständig verbessern, die Weiterbildung vorantreiben und
mithelfen, dass es mehr und gute Arbeit gibt.
Dabei haben wir heute Vollbeschäftigung als realistisches Ziel vor Augen. Zugegebenermaßen: Noch müssen wir dazu das Fernlicht einschalten; aber wir nähern
uns diesem in der Vergangenheit oft als nicht mehr erreichbar bezeichneten Ziel mit beachtlichem Tempo. Erfolgreiche Arbeitsmarktpolitik ist das Ergebnis erfolgreichen Handelns in einer Vielzahl von Politikbereichen.
Besonders gefordert sind dabei natürlich die Sozial-, die
Wirtschafts- und die Finanzpolitik des Bundes. Gewiss
ist: Wir bleiben ehrgeizig, steuern weiter auf diesem
Kurs und werden so dazu beitragen, dass die Arbeitslosigkeit in unserem Land weiter kontinuierlich abgebaut
wird.
Herzlichen Dank.
({1})
Das Wort hat der Kollege Martin Zeil für die FDPFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Angesichts des Titels der Aktuellen Stunde war zu erwarten, dass wir eine kleine Selbstbeweihräucherungsstunde der Regierung erleben. Aber ich glaube, wir müssen tiefer gehen; denn allein mit politischen Spielchen
gehen wir an der Lebenswirklichkeit vieler Menschen
vorbei.
({0})
Zum Glück haben wir dank der guten Aufstellung unserer Unternehmen vor allem im Mittelstand wieder
mehr Arbeitsplätze. Niemand freut sich über jeden zusätzlichen Arbeitsplatz mehr als wir Freien Demokraten.
({1})
- Sie können sich ja noch mehr freuen, Frau Kollegin. Angesichts dunkler Wolken der internationalen Finanzkrise und des vorausgesagten Wachstumsrückgangs immerhin von 2,5 Prozent in 2007 auf etwa 1,4 Prozent in
2009 dürfen wir es aber nicht bei einem oberflächlichen
Schulterklopfen der Politik belassen, schon deshalb
nicht, weil die Politik gerade dieser Regierung sehr wenig zu dem positiven Zwischenstand beigetragen, ihn
durch falsche Weichenstellungen sogar behindert hat.
({2})
Wir müssen schon genauer hinsehen: Was sind denn
das für Arbeitsplätze? In vielen Unternehmen werden
Zeitarbeiter eingesetzt - mit steigender Tendenz.
({3})
Dies zeigt uns zweierlei: Zum einen sehen viele Arbeitgeber große Unsicherheiten in der konjunkturellen Entwicklung. Zum anderen ist unser Arbeitsmarkt nach wie
vor durch zu starre Eintrittsbarrieren behindert.
({4})
Da die Koalition auf diesem Gebiet reformunfähig ist,
({5})
trägt sie die Verantwortung für den Anstieg der Zahl der
Leiharbeitsverhältnisse.
Wie abgehoben viele Politiker reden, zeigen die aktuellen Studien über das Schrumpfen der sogenannten Mittelschichten in Deutschland. Wir haben bereits vor einem
Jahr gefordert, dass die Politik die Mitte unserer Gesellschaft nicht vergessen darf. Das sind diejenigen Menschen, die täglich aufstehen, ihre Kinder zur Schule bringen und dann zur Arbeit gehen. Das sind Menschen mit
durchschnittlichen Gehältern wie der 37-jährige Bauleiter mit 4 400 Euro im Monat, der davon 2 000 Euro Steuern und Abgaben zahlt. Es sind diejenigen Menschen, die
weder Transferleistungen in Anspruch nehmen noch in
Steueroasen flüchten, die mit ihrer Hände Arbeit ihren
Lebensunterhalt selbst finanzieren. Diese Menschen fühlen sich ausgenommen und bestraft.
({6})
Vor acht Jahren gehörten noch 62 Prozent der Deutschen zur Mittelschicht. Heute sind es nur 54 Prozent.
Bis zum Jahre 2020 wird weniger als die Hälfte der Bevölkerung ein Einkommen auf Durchschnittsniveau erzielen. Das sind 10 Millionen Menschen weniger als
noch Anfang der 90er-Jahre.
Die Politik der schwarz-roten Regierung - massive
Steuererhöhungen, staatliche Preistreiberei auf vielen
Gebieten, zum Beispiel im Energiebereich - hat diese
Entwicklung noch verschärft.
({7})
Von den versprochenen Beitragssatzsenkungen sind
per saldo nur Erhöhungen übrig geblieben. Das ist der
Grund, warum die Menschen vergeblich darauf warten,
dass der Aufschwung auch bei ihnen ankommt. Es reicht
nicht, dass die CSU als kleinster Teil der Koalition die
Spendierlederhosen anzieht und der staunenden Bevölkerung ein Steuersenkungstheater vorspielt; es ist die
gleiche Union, Herr Kauder, die in dieser Legislaturperiode voller Inbrunst insgesamt 19 Steuererhöhungen
mitbeschlossen hat.
({8})
Herr Kauder, wer theoretisch für Steuersenkungen eintritt, praktisch aber die Steuern am laufenden Band erhöht, ist ungefähr so glaubwürdig wie der Brandstifter,
der nach der Feuerwehr ruft.
Diese Art von gespaltenem Bewusstsein kennen wir
ja zur Genüge. Auch beim Gesundheitsfonds werden in
Bayern Forderungen aufgestellt, die nicht zu dem passen, was in Berlin beschlossen wurde. Das Schlimme ist:
Die Zeche zahlt der Bürger mit steigenden Beiträgen und
schlechteren Leistungen.
({9})
Wir haben Ihnen mehrfach Gelegenheit gegeben, im
Deutschen Bundestag endlich ein einfacheres und gerechteres Steuersystem mit niedrigeren Steuersätzen einzuführen. Sie hätten unserem Gesetzentwurf nur zustimmen müssen. Die Normalverdiener - das ist die von
Ihnen vergessene Mitte - rufen zu Recht nach einer Entlastung. Auch die Wirtschaftsinstitute haben kürzlich gesagt, dass die Regierung angesichts der guten Entwicklung endlich die Steuern senken sollte.
({10})
Aber: Das Verwirrspiel geht ja bereits weiter: Die Koalition hat eine absolut mittelstandsfeindliche Erbschaftsteuerreform verabredet.
In dieser Woche hören wir im Rahmen des Knowhow-Transfers die Wirtschaftsjunioren an. Ein junger
Mann hat uns sehr eindrücklich geschildert, wie sich
diese Reform auf sein Familienunternehmen auswirken
würde. Ich kann nur hoffen, dass der Know-how-Transfer bei der Koalition ankommt.
({11})
Herr Kollege, ich möchte Sie auf Ihre Redezeit hinweisen.
Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Auch im letzten
Jahr haben wieder 150 000 zumeist gut ausgebildete und
kreative Menschen unser Land verlassen, weil sie sich
hier eingeengt fühlen und hier keine Perspektive für sich
sehen. Diese Alarmzeichen müssen wir erkennen. Diesen Trend müssen wir umkehren. Statt sich selbst zu loben, sollte die Koalition endlich ihre Hausaufgaben machen.
({0})
Nächster Redner ist für die CDU/CSU-Fraktion der
Kollege Gerald Weiß.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Lieber Kollege Zeil, diese Kassandrarufe kann
man nicht mehr hören. Wir haben 1,6 Millionen Arbeitslose weniger als vor zwei Jahren, wir haben 1 Million
sozialversicherungspflichtig Beschäftigte mehr als vor
zwei Jahren, wir haben robustes Wachstum im dritten
Jahr, und auch das vierte Jahr wird trotz der Probleme
auf dem internationalen Immobilienmarkt stabil sein.
({0})
Wir haben eine gute, gesunde volkswirtschaftliche Entwicklung, aber Sie üben sich in Kassandrarufen. Das
bringt uns nicht weiter. Mit diesen Kassandrarufen helfen Sie uns nicht weiter.
({1})
Sie können jetzt sagen, das sei ein internes, von regierungsnaher Seite ausgestelltes Zeugnis. - Zugegeben.
Ich will Ihnen aber auch drei Stimmen aus dem Ausland
vorhalten:
Erstens. Das renommierte World Economic Forum
hat in seinem jüngsten Report festgestellt: Deutschland
ist eine der fünf wettbewerbsfähigsten Volkswirtschaften
der Welt.
Zweitens. Deutschland ist der attraktivste Investitionsstandort in Europa. Das hat eine international
durchgeführte Befragung von Führungskräften von Ernst
& Young ergeben.
Gerald Weiß ({2})
Drittens. Die Auslandspresse schreibt - der eine
schreibt es vom anderen ab -: Deutschland erlebt sein
zweites Wirtschaftswunder.
Wenn Sie uns schon nicht glauben wollen, sollten Sie
diesen internationalen Stimmen glauben. Wir sind nicht
am Ziel; das kann keiner behaupten. Was stabiles
Wachstum, mehr Arbeit und mehr Sicherheit anbetrifft,
sind wir zwar nicht am Ziel, aber wir sind in Deutschland auf einem guten Weg. Das ist unbestreitbar.
({3})
Die Politik der Regierung unter dem Leitmotiv „Sanieren, Reformieren, Investieren“
({4})
ist erfolgreich. Wenn Sie behaupten - das Bild wollen
Sie ja zeichnen -, der Aufschwung sei wie Manna vom
Himmel gefallen, dann darf man in aller Bescheidenheit
sagen: Natürlich haben die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die Unternehmer, die Selbstständigen und
die fleißigen und innovativen Manager alle dazu beigetragen. Zum Teil sind auch beachtliche Opfer gebracht
worden. Aber ohne bessere wirtschaftspolitische Rahmenbedingungen in Deutschland und ohne bestimmte
strategische Entscheidungen der Großen Koalition ({5})
- ich will Ihnen jetzt gerade ein bisschen entgegenkommen, Frau Pothmer - und teilweise auch - nach Irrungen
und Wirrungen - der Vorgängerregierung gäbe es diesen
stabilen Aufschwung in Deutschland nicht. Er trägt jetzt
Früchte.
({6})
Herr Zeil, er ist nicht vom Himmel gefallen,
({7})
vielmehr hat die Große Koalition ein 25-MilliardenEuro-Programm gestartet und beim Wachstum klugerweise kein Strohfeuer entfacht, sondern an Wachstumstreibern angesetzt. Wir geben jetzt beispielsweise 6 Milliarden Euro mehr für Spitzenforschung in Deutschland
aus. Das setzt an einem entscheidenden Wachstumstreiber an und wird uns strategisch helfen, dieses Land weiter voranzubringen und zu stabilisieren.
Sie haben eben von den steigenden Abgaben, den zunehmenden Sozialabgaben gesprochen. Haben Sie denn
nicht bemerkt, dass wir den Arbeitslosenversicherungsbeitrag in zwölf Monaten von 6,5 auf 3,3 Prozent praktisch fast halbiert haben? Ist das an Ihnen vorbeigegangen?
({8})
Ich folge den Aussagen meines Kollegen Fuchs und
sage: Die positive Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt
- wir haben für die Bundesagentur für Arbeit 18 Milliarden Euro als Rücklage auf der hohen Kante liegen rechtfertigt unsere Hoffnung. Sie gibt uns aber auch auf,
den Arbeitslosenversicherungsbeitrag in einem weiteren
Schritt noch einmal abzusenken und bessere Rahmenbedingungen zu setzen.
({9})
Letztes Beispiel - meine Redezeit ist abgelaufen -:
Die Nettoneuverschuldung wurde von uns von nahezu
40 Milliarden Euro auf jetzt 13 Milliarden Euro reduziert. Das ist nicht die Endstation Sehnsucht, wir müssen
diesen Weg weitergehen. Auch das ist nicht vom Himmel gefallen, sondern eine Frucht beachtlicher Anstrengungen. Das heißt, diese Koalition, diese Regierung hat
sich mit großem und nachhaltigem Erfolg für dieses
Land eingesetzt. Die Früchte sind sichtbar.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({10})
Nächster Redner ist nun der Kollege Herbert Schui
für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zu einer
nüchternen Bestandsaufnahme sind die Redebeiträge der
Koalition bislang nicht gekommen.
({0})
Stattdessen gab es einiges Eigenlob auch für vergangene
Schandtaten, zum Beispiel für die Agenda 2010 und
Hartz IV. Was eigentlich macht die Beschäftigungspolitik seit der deutschen Vereinigung und davor aus, gleichgültig ob Kohl, Schröder oder Merkel regieren? Ich
nenne einige Zahlen: Der Bedarf an Arbeitsstunden sinkt
stetig. 1991 haben die Arbeitnehmer rund 52 Milliarden
Arbeitsstunden geleistet. Im Jahr 2007 waren es noch
knapp 47 Milliarden; das heißt 8 Prozent weniger. Die
Anzahl der Arbeitnehmer ist dagegen von 1991 bis 2007
um 0,5 Prozent - und auch nicht mehr - gestiegen.
Wie erklärt sich der in etwa gleichbleibende Beschäftigungsstand? Das ist ganz einfach: Sie haben mit Ihrer
Politik bewirkt, dass die einzelnen Arbeitnehmer je Woche weniger Stunden arbeiten, nämlich 28,4 Stunden je
Woche im rechnerischen Durchschnitt im Jahr 1991 und
26 Stunden je Woche im rechnerischen Durchschnitt im
Jahr 2007. Das ist ein Rückgang um 8,5 Prozent. Weil
die durchschnittliche Wochenarbeitszeit pro Arbeitnehmer um ein halbes Prozent mehr gesunken ist als die Anzahl der geleisteten Arbeitsstunden, ist es im Saldo zu einer Zunahme der Beschäftigung um 0,5 Prozent
gekommen. Das ist die ganze Mystik Ihres Beschäftigungsaufschwungs.
({1})
Das ist doch eine stramme Leistung. Da sollten Sie mit
Eigenlob nicht sparen.
({2})
Das ist aber noch nicht die ganze Geschichte: In Preisen von 2007 beträgt der preisbereinigte Nettolohn im
Jahr 1991 12,69 Euro, im Jahr 2007 sind es 13,03 Euro,
für den gesamten Zeitraum von 1991 bis 2007 also
34 Cent pro Stunde mehr. In den vergangenen 16 Jahren
ist die Arbeitsproduktivität je Stunde aber um 34 Prozent
gestiegen. Damit hätte der Stundenlohn selbst bei unveränderter Verteilung des Volkseinkommens auf Lohn und
Profit in den letzten 16 Jahren auf 17 Euro steigen müssen. Das entspricht nicht 34 Cent mehr, sondern
4,31 Euro.
Was folgt daraus? Ihre Beschäftigungspolitik hatte
zur Folge, dass Arbeitszeit und Wochenlohn in den letzten 16 Jahren gesunken sind. Daher musste die Armutsquote steigen. Näheres lesen wir wahrscheinlich im Armutsbericht, den die Regierung wohl nach dieser
Feierstunde veröffentlichen wird.
Wie sieht Ihr Konzept aus? Der Bedarf an Arbeitsstunden sinkt. Die Gesetzgebung schafft miserabel entlohnte Teilzeitarbeitsplätze; da und dort sind sie sogar
sozialversicherungspflichtig. Indem die Vollzeitbeschäftigung und damit die Einkommen reduziert werden, wird
das Niveau der Beschäftigung gehalten. Die Gesetzgebung sorgt für mehr Wettbewerbsdruck auf dem Arbeitsmarkt. So kommt es dazu, dass die Gruppe der sogenannten arbeitenden Armen, der working poor, wächst,
und zwar auch bei Vollzeitbeschäftigung.
In Ihren Debattenbeiträgen lassen Sie die Wirklichkeit nicht zu Wort kommen. Sie rechnen uns etwas für
die Jahre 2005 bis 2007 vor, dann hoffen Sie auf die Zukunft und machen das Fernlicht an. Weil die Beschäftigung in diesen beiden Jahren, in den Jahren 2005 und
2007, um 800 000 Personen gestiegen ist, findet sich die
Regierung und besonders die Kanzlerin toll. Von Armut
dagegen reden Sie nicht.
Was aber sagen Sie dazu, dass die Beschäftigung in
den Jahren 1998 bis 2000 um 1,253 Millionen gestiegen
ist, nachdem sie zuvor gesunken war? Das war vor
Hartz IV. Wie erklären Sie, dass die Beschäftigung seit
der Vereinigung Deutschlands um 190 000 Personen gestiegen ist? Wie erklären Sie Ihre Arbeitslosenstatistik?
Bedenken Sie, dass das Arbeitspotenzial nicht mehr in
dem Ausmaß zunimmt, wie es früher der Fall war. Bedenken Sie auch, dass die stille Reserve zunimmt.
({3})
Das alles sind Entwicklungen, die nicht Folge Ihrer Politik sind.
Es muss eine ernsthafte Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik her. Beschließen wir endlich einen gesetzlichen Mindestlohn, mehr Rechte für die Beschäftigten
und mehr Mitbestimmung.
({4})
Stärken wir durch unsere Gesetzgebung die Gewerkschaften, damit sie in den Tarifkonflikten höhere Löhne
und Arbeitszeitverkürzungen bei vollem Lohnausgleich
durchsetzen können. Schaffen wir die Voraussetzungen
für mehr Beschäftigung im öffentlichen Dienst, finanziert durch höhere Gewinnsteuern und höhere Unternehmensteuern.
Vielen Dank.
({5})
Nun hat der Kollege Rolf Stöckel für die SPD-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Schui, Sie haben Entwicklungen beschrieben, die wahrscheinlich noch prekärer wären, wenn wir
Sozialdemokraten nicht die Maßnahmen eingeleitet hätten, die wir vor knapp zehn Jahren eingeleitet haben. Wir
haben die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit in den Mittelpunkt gerückt. Es ging uns darum, den Reformstau in
unserem Land zu überwinden, neue Fundamente für
wirtschaftliches Wachstum zu legen und die Sicherheit
unserer Sozialsysteme langfristig neu zu begründen. Das
verlangte manch schmerzhafte Entscheidung, nicht nur
für die Betroffenen, sondern auch für unsere Partei, die
vor Probleme gestellt war, die sie lieber nicht gehabt
hätte. Gerade deswegen können wir heute mit Stolz sagen, dass wir die Wende zum Besseren geschafft haben,
sowohl in der Vorgängerregierung als auch jetzt in der
Großen Koalition.
Staatssekretär Brandner hat die Zahlen genannt. Wir
sehen sogar gute Chancen, in diesem Jahr zum ersten
Mal im vereinten Deutschland beim prozentualen Wirtschaftswachstum eine Zwei vor dem Komma zu
erreichen. Weil so viele Menschen wie noch nie sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind, haben sich die
Sozialkassen wieder auf ein solides Maß gefüllt. Im Jahr
2011 wollen wir - Kollege Weiß hat darauf hingewiesen einen ausgeglichenen Bundeshaushalt vorlegen; das
wurde in der alten Bundesrepublik zuletzt 1969 erreicht.
Gestärkt durch die Erfolge sagen wir jetzt: Wir wollen
die Arbeitslosigkeit nicht nur bekämpfen, sondern besiegen. Unser Ziel für das nächste Jahrzehnt ist Vollbeschäftigung in Deutschland bei guten Löhnen und fairen
Arbeitsbedingungen. Wir wollen, dass jeder Mensch in
unserem Land nicht nur gute Aussichten hat, Arbeit zu
finden, sondern auch die realistische Chance auf einen
sozialen Aufstieg erhält. Wir sind überzeugt, dass wir
diese Ziele erreichen können, und zwar mit einer Politik,
die entschlossen auf Innovation und Wachstum setzt, die
Chancen der Globalisierung konsequent nutzt und im
Binnenmarkt neue Dienstleistungen fördert. Wenn immer mehr Menschen bewusst gesund leben und älter
werden, werden in Zukunft Gesundheitsdienstleistungen und die Inklusion behinderter und pflegebedürftiger
Menschen noch stärker gefragt sein.
Wir wollen eine starke Industrie und innovative mittelständische Unternehmen. Wir richten den Blick aber
auch auf die Beschäftigungspotenziale in der Kreativwirtschaft, die inzwischen eine ähnliche Wertschöpfung
wie etwa die Chemiebranche erzielt.
Es geht nicht nur um ökonomische Chancen; zugleich
müssen wir uns der Verantwortung für die ökologischen
Folgen des bevorstehenden, geschichtlich einmaligen
Wachstumsprozesses stellen. Damit wir unseren Planeten Erde nicht überfordern, brauchen wir so rasch wie
möglich moderne, umweltfreundliche Produkte zu bezahlbaren Preisen; wir sollten einen wesentlichen Anteil
an ihrer Entwicklung und Herstellung haben. Umweltfreundliche Energien, Maschinen, die mit weniger Energie auskommen, Produkte aus neuen Materialien statt
aus teuren Rohstoffen bergen unsere größten Zukunftschancen auf zusätzliche, sichere Arbeitsplätze.
Die Ausgrenzung von alleinerziehenden Frauen, älteren Arbeitnehmern, Migranten und behinderten Menschen sowie die fehlenden Bildungschancen von
Kindern aus benachteiligten Familien stellen heute in
Deutschland die größten Risiken für eine stabile wirtschaftliche Entwicklung dar und sind die wichtigste Ursache dafür, dass Armutsrisiken steigen und sich die Einkommensschere weiter öffnet.
Im Übrigen ist jeder Arbeitsplatz, der neu entsteht,
nicht nur ein Gewinn für den Menschen, der der Arbeitslosigkeit entkommt; er führt zu sinkenden Beiträgen zur
Sozialversicherung für alle Arbeitnehmer. Die Politik für
mehr Beschäftigung verschafft den Leistungsträgern unserer Gesellschaft, denen wir Sozialdemokraten uns besonders verpflichtet fühlen, Vorteile: der Krankenpflegerin, dem Facharbeiter, dem Angestellten und dem
verantwortlich handelnden Unternehmer.
Für Sozialdemokraten - es bleibt dabei - steht der
Mensch im Mittelpunkt der Wirtschaft. Darum ist der
Grundsatz „gute Arbeit“ der Kompass unserer Politik.
({0})
Was bedeutet das? Wer eine Vollzeitbeschäftigung hat,
muss von dem Lohn dieser Arbeit leben können. Darum
kämpfen wir mit den Gewerkschaften für branchenspezifische Mindestlöhne und für einen gesetzlichen Mindestlohn.
({1})
„Gute Arbeit“ bedeutet aber auch: Leiharbeit darf
nicht für Lohndumping oder Tarifflucht missbraucht
werden, sondern nur der Bewältigung von Auftragsspitzen dienen und eine Brücke in den regulären Arbeitsmarkt sein. „Gute Arbeit“ heißt auch, strukturelle
Lohnunterschiede zwischen Frauen und Männern zu
überwinden, mehr prekäre Jobs in reguläre Arbeitsverhältnisse zu überführen, die Mitbestimmung in den Betrieben zu erhalten sowie die Weiterbildung und Qualifizierung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zu
fördern.
Wer das Ziel der Teilhabe aller an Wohlstand und
Wachstum ernst nimmt, muss sich an erster Stelle zur gewerkschaftlichen Organisation und Mitbestimmung bekennen. Die Flucht aus den Tarifverträgen ist ein Fluch
und der Grund für neue Armutsrisiken. Gute Arbeit liegt
nicht nur im eigenen Interesse langfristig und weitsichtig
planender Unternehmen. Darum stellen wir Sozialdemokraten uns der Verantwortung, die Voraussetzungen für
gute Arbeit zu schaffen, etwa mit neuen Modellen für
längere Erwerbstätigkeit und gleitende Übergänge vom
Erwerbsleben in die Rente.
Unser Grundsatz lautet: Wer länger arbeitet, muss davon im Alter profitieren. Wir zäumen das Pferd aber
nicht, wie es Jürgen Rüttgers aus durchsichtigen Gründen tut, von hinten auf. Leider fehlt mir die Zeit, über
das Menschenbild, das hinter diesen falschen, sozialpopulistischen Parolen steht, zu reden.
Wir können im Jahre 2008 feststellen: Deutschland
geht die Arbeit nicht aus. Der technische Wandel verlangt von den aktiven Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern allerdings mehr Bereitschaft zu Weiterbildung
und Qualifizierung. Da sind die Tarifpartner gefordert.
Wir sagen: Deutschland hat eine bessere Zukunft, als
viele glauben. Mit einer klaren Politik können wir die
Chancen nutzen. Vertrauen wir wieder auf unsere Kraft!
Wir Sozialdemokraten sind bereit für eine Politik, die die
Massenarbeitslosigkeit besiegt und Sicherheit für die
Menschen und inneren Frieden in unserem Land schafft.
Herzlichen Dank.
({2})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die
Kollegin Brigitte Pothmer das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist
interessant, wie sich die Zeiten ändern: 1976 war die
Zahl von 1,2 Millionen Arbeitslosen Anlass für düstere
Prognosen im Hinblick auf Wirtschaft und Gesellschaft.
Im Jahr 2008 wird die Zahl von 3,4 Millionen Arbeitslosen quasi als Vorabend der Vollbeschäftigung gefeiert.
Ich habe den Eindruck, dass die langanhaltende Massenarbeitslosigkeit zu einer starken Relativierung der Wahrnehmung der gesellschaftlichen Probleme geführt hat.
({0})
Damit will ich - das betone ich - die Reduzierung der
Arbeitslosigkeit in den letzten Jahren wirklich nicht
kleinreden. Mehr Menschen haben wieder Arbeit, das ist
insbesondere für die Betroffenen ein Erfolg.
({1})
Ich will nicht behaupten, dass Vollbeschäftigung unmöglich ist. Dass Vollbeschäftigung möglich ist, haben
unsere europäischen Nachbarn, zum Beispiel die Dänen,
gezeigt. Vollbeschäftigung fällt jedoch nicht wie Manna
vom Himmel, Herr Weiß, Vollbeschäftigung erreicht
man nur durch konsequente und harte Arbeit an Reformen.
({2})
Genau dies haben die Dänen getan. Das Gleiche hat die
rot-grüne Regierung getan; ihre Arbeit ist es, die jetzt
zunehmend Erfolge zeitigt.
({3})
Ich will unmissverständlich sagen - auch wenn Ihnen
das vielleicht nicht gefällt, Herr Weiß -: Die Entspannung auf dem Arbeitsmarkt ist das Ergebnis unserer
Reformpolitik, und sie ist das Ergebnis der guten Konjunktur. Die CDU/CSU ist in dieser Hinsicht nur Trittbrettfahrer; ein anderes Zeugnis kann ich Ihnen leider
nicht ausstellen.
({4})
Im Gegenteil: Ich muss Ihnen vorwerfen, dass Sie die
gegenwärtige Phase wirklich guter Konjunktur nicht nutzen, um weitere dringend notwendige Reformen voranzubringen.
({5})
Ich sage Ihnen: Die nächste Abschwächung der Konjunktur kommt. Dann wird sich rächen, dass Sie sich
darauf in keiner Weise vorbereitet haben. Die Anfänge
der nächsten Konjunkturabschwächung sehen wir schon
jetzt: Die Zahl der offenen Stellen stagniert, und der Arbeitsmarkt ist nach wie vor tief gespalten. Daran hat dieser Konjunkturaufschwung leider nichts geändert.
({6})
Im Gegenteil: Deutschland hat den größten Niedriglohnsektor in ganz Europa.
({7})
Innerhalb dieses Niedriglohnsektors haben wir die
größte Zahl an Arbeitsplätzen, für die Löhne unter
5 Euro gezahlt werden. Diese deutsche Besonderheit
lässt sich auf einen zentralen Fehler zurückführen: dass
es in Deutschland keinen Mindestlohn gibt. Trotz dieser
dramatischen Entwicklung blockiert die CDU/CSU einen Mindestlohn.
({8})
- Natürlich ist das so, und das muss Ihnen peinlich sein,
Herr Weiß! Sie müssen mit Ihren Jungs über den Mindestlohn reden! So geht es doch nicht weiter.
({9})
Ich weiß nicht, ob jemand von Ihnen auf den Maidemonstrationen war. Mir sind da häufig Plakate begegnet, auf denen stand: Habe Arbeit, brauche Geld.
({10})
Besser lässt sich kaum zusammenfassen, was viele Beschäftigte heute bewegt: Armut trotz Arbeit, das ist die
hässliche Seite des vielbeschworenen konjunkturellen
Aufschwungs. Das hat sehr wenig mit „guter Arbeit“ zu
tun, Herr Stöckel.
({11})
Zum ersten Mal haben wir die Situation, dass zwar die
Wirtschaft wächst, aber das Einkommen der Beschäftigten nicht. Über diese Besonderheit des konjunkturellen
Aufschwungs müssen wir reden.
Die Reallöhne werden auch in diesem Jahr trotz in
Teilen guter Lohnabschlüsse weiter sinken, nämlich
noch einmal um 1,2 Prozent. Es zeigt sich hier ganz
deutlich, dass das Versprechen von Frau Merkel - Wohlstand für alle - wirklich ein hohles Versprechen ist.
Ich sage abschließend noch einmal: Wir brauchen den
Mindestlohn dringend, und zwar nicht nur, weil er ökonomisch und sozial notwendig ist.
({12})
Wir brauchen ihn auch deshalb dringend, weil wir nicht
zusehen können, wie die gesellschaftliche Spaltung immer größer wird.
Jetzt noch einmal ein Wort an die lieben Kolleginnen
und Kollegen von der CDU/CSU-Fraktion: Ich finde, da
selbst die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung davon
spricht, dass wir auf dem Weg in eine neue Klassengesellschaft sind, sollten auch bei Ihnen einmal die Alarmglocken klingeln.
({13})
Sie sollten dafür sorgen, dass der Aufschwung auch bei
denen ankommt, die am wenigsten Geld haben. Ansonsten ist der soziale Zusammenhalt in dieser Gesellschaft
wirklich tief gefährdet.
Ich danke Ihnen.
({14})
Nächster Redner ist der Kollege Bartholomäus Kalb
für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Staatssekretär Brandner und Kollege Weiß
haben ja schon dargestellt, welchen Beitrag die Große
Koalition dazu geleistet hat, Wachstum auszulösen und
mehr Beschäftigung zu sichern. Diese Aktuelle Stunde
steht ja auch unter der Überschrift, wie wir langfristige
Perspektiven entwickeln können, um Wachstum, Beschäftigung und Wohlstand zu sichern.
In einer McKinsey-Studie wird darauf hingewiesen,
dass wir in den nächsten Jahren vor ganz anderen
Herausforderungen stehen werden. Dabei geht es um die
Verfügbarkeit von qualifizierten Mitarbeitern in
Deutschland. Bereits im letzten Jahr ist eine Delegation
des Deutschen Bundestages von einer amerikanischen
Führungspersönlichkeit mit der Bemerkung begrüßt
worden: Das größte Problem aller westlichen Industrienationen wird in den nächsten Jahren sein, noch ausreichend qualifizierte Mitarbeiter zu haben. - Wir stehen
also vor völlig neuen Herausforderungen.
({0})
Ich füge hinzu: Die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands wird in der Zukunft nicht mehr so sehr von der
Steuerlast der Unternehmen als von der Steuer- und Abgabenlast des Erwerbstätigen bzw. des Arbeitnehmers
beeinflusst werden. Das wird die neue Herausforderung
für uns sein.
({1})
Die Bedingungen für die Menschen haben sich grundlegend geändert. Für junge Menschen ist die Sprache
heute keine Barriere mehr. Nationalstaatliche Grenzen
gibt es praktisch nicht mehr. Kollege Zeil, ich glaube,
Sie haben darauf hingewiesen: Die Tendenz zur Abwanderung aus unserem Land - insbesondere von hochqualifizierten Menschen - können wir uns nicht leisten. Das
stellt uns vor völlig neue Herausforderungen.
({2})
Der frühere Bundesarbeitsminister Müntefering hat
zur Begründung der Rentenrechtsänderung zu Recht darauf hingewiesen, dass sich die Zahl der Erwerbsfähigen
- nicht der Erwerbstätigen - von derzeit rund 45 Millionen in wenigen Jahren auf 37 Millionen reduzieren wird.
Das heißt, der Wohlstand in unserem Land muss von immer weniger Menschen erarbeitet und erwirtschaftet
werden. Das muss Konsequenzen haben.
({3})
Eine Konsequenz ist, wie bereits dargestellt, dass wir
unseren Wohlstand eben nicht mehr durch die Kreditfinanzierung, die Staatsverschuldung bewahren und
finanzieren können. Eine andere Konsequenz ist, dass
wir zu ausgeglichenen Haushalten kommen müssen, wie
wir das auch fest eingeplant und verabredet haben. Natürlich muss das auch Konsequenzen im Bereich des
Rentenrechts bzw. der Alterssicherung haben. Auch dort
sind wesentliche Schritte eingeleitet worden. Eine weitere Konsequenz ist natürlich, dass das Thema „qualifizierte Bildung und Ausbildung“ mittlerweile in den Mittelpunkt der gesamten gesellschaftlichen Diskussion
getreten ist.
({4})
Das gilt insbesondere für die Länder, die dafür auch ganz
überwiegend zuständig sind.
Kollege Weiß hat darauf hingewiesen: Wir haben
durch die Senkung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung bereits erste Maßnahmen zur Senkung der Abgabenbelastung und der Lohnnebenkosten getroffen.
Wir werden langfristig auch unser Steuersystem entsprechend umstellen müssen - das geht nicht von einem
Tag auf den anderen -, damit sich die Menschen angeregt fühlen, die in ihnen schlummernden Leistungsreserven, ihre Mobilität und Flexibilität zu wecken, statt sich
ständig demotiviert zu fragen, ob es sich lohnt, von einer
gering bezahlten Beschäftigung in ein reguläres Beschäftigungsverhältnis zu wechseln oder an Aufstiegsund Qualifizierungsmaßnahmen teilzunehmen. Dabei
spielt die Frage der Schwellen und der Grenzbelastung,
die wir in unserem Steuersystem kennen, eine entscheidende Rolle. Vor diesem Hintergrund ist das von dem
CSU-Vorsitzenden Erwin Huber vorgelegte Konzept als
richtig zu betrachten.
Der Parteivorsitzende der SPD hat angekündigt, dass
die SPD ebenfalls ein Steuerkonzept vorlegen will. Das
wird sicherlich auch unsere Schwesterpartei, die CDU,
tun. Denn wir müssen uns diesen Fragen stellen. Es gibt
keine Lösungen, die in einem Schritt erreichbar sind.
Dabei handelt es sich um eine langfristige Aufgabe. Es
werden mehr Schritte und weiter gehende Maßnahmen
notwendig sein als die, die im Steuerkonzept der CSU
enthalten sind. Wir werden diese Aufgabe unverzüglich
in Angriff nehmen müssen, wenn bei der Haushaltskonsolidierung weitere Schritte zur Senkung der Steuern
und Abgabenlast möglich sind. Diesen Spagat müssen
wir hinbekommen.
({5})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Edelgard Bulmahn
für die SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Herren und Damen! Demokratie lebt von dem Versprechen auf Teilhabe: Teilhabe an Bildung, am kulturellen
Leben, an Arbeit und am Wohlstand. Dieses Versprechen
einzulösen, ist die wichtigste politische Aufgabe.
({0})
Wenn es uns nicht gelingt, dieses Versprechen einzulösen, dann - das wissen wir - verliert jede Demokratie
ihr Fundament. Deshalb hat sich diese Koalition vorgenommen, drei Ziele zu erreichen, nämlich erstens die
Einnahmesituation zu verbessern, zweitens die Verschuldung zu verringern und drittens in die wichtigen Zukunftsaufgaben zu investieren.
({1})
Dass diese Entscheidung richtig war, zeigt die Tatsache, dass sich die Wirtschaft trotz der internationalen
Finanzkrise und der damit verbundenen Schwierigkeiten
in einer stabilen und guten Verfassung befindet. Die Zahl
der Arbeitslosen ist so stark gesunken wie seit 15 Jahren
nicht mehr. Wir haben 1,6 Millionen Arbeitslose weniger. Das sind Menschen, die wieder am Arbeitsprozess
teilhaben können.
Die kleinen und mittleren Unternehmen erweisen sich
als stabiles Rückgrat unserer Wirtschaft. Auch die großen Unternehmen sind so gut aufgestellt, dass sie sich
international behaupten können.
Wir erwarten in diesem Jahr ein reales Wachstum des
Bruttoinlandsprodukts von 1,7 Prozent.
Aber ich will nicht verschweigen, dass das gesamtwirtschaftliche Wachstum immer noch zu sehr auf einem
Bein steht. Es ist gut, dass wir 2007 zum fünften Mal in
Folge Exportweltmeister waren. Das zeigt die Leistungsfähigkeit und Stärke der deutschen Wirtschaft. Weniger
gut ist, dass der Binnenmarkt und die Binnenmarktnachfrage nicht so stark sind, wie sie sein müssten.
Es ist entscheidend, dass wir stabil auf beiden Beinen
stehen. Wir müssen deshalb unsere Anstrengungen, die
Arbeitslosigkeit zu verringern, und vor allen Dingen zu
erreichen, dass jeder von seiner Arbeit auch leben kann,
fortsetzen. Wir dürfen nicht auf halbem Wege stehen
bleiben.
({2})
Deshalb sage ich ausdrücklich, dass die von uns vereinbarte branchenbezogene Einführung des Mindestlohns,
wenn die Tarifvertragsparteien dies wollen, ein richtiger
erster Schritt ist. Aber wir dürfen nicht dabei stehen bleiben. Wir brauchen einen Mindestlohn, damit wir ein
zweites starkes Bein haben - eine starke Binnennachfrage.
An die Adresse von Herrn Zeil und Herrn Schui:
Wirtschaftliches Wachstum, Verringerung der Arbeitslosigkeit und Armutsbekämpfung erreicht man nicht durch
Kassandrarufe, genauso wenig wie durch Steuergeschenke.
({3})
Herr Zeil, die wichtigste Aufgabe, die wir zu bewältigen
haben, besteht darin, Kindern und Jugendlichen eine exzellente Ausbildung zu ermöglichen und sicherzustellen,
dass jeder eine gute Bildung und Ausbildung erhält. Nur
weil vielleicht gerade Landtagswahlen anstehen, sollte
man nicht landauf, landab populistisch Steuergeschenke
versprechen und sich einen Dreck darum kümmern, woher das notwendige Geld für die Finanzierung der Bildung kommt. Letzteres fällt schließlich nicht vom Himmel.
({4})
Die Lehrerinnen und Lehrer müssen gut bezahlt werden.
Die Schulen müssen gut ausgestattet werden. Es muss
Freude machen, in eine Schule zu gehen. Wir müssten
schon jetzt jedes Jahr zusätzlich 12,3 Milliarden Euro für
die Bildung ausgeben, wenn wir so gut sein wollten wie
die skandinavischen Länder. Das zeigt die Dimension
der Aufgabe.
Meine Damen und Herren von der Linken, wo waren
Sie vor etwa acht bzw. zehn Jahren, als die rot-grüne
Bundesregierung und ich als Bildungsministerin das
Ganztagsschulprogramm gestartet haben, damit die Bildung der Kinder in unserem Land endlich genauso gut
wird wie zum Beispiel in Finnland und Südkorea? Damals habe ich von Ihnen nicht viel gehört.
({5})
Es ist leicht, sich hier hinzustellen und zu sagen: „Hätten
wir mal …“ Als es darauf ankam, hätte ich mir gewünscht, dass Sie gesagt hätten: Gut und richtig, dass
Sie das machen! - Was haben Sie in den Landesregierungen, an denen Sie beteiligt sind, zur Verbesserung der
schulischen und der frühkindlichen Bildung getan? Endlich verbessern wir die frühkindliche Bildung; das ist
mehr als überfällig. Das ist auch keine neue Erkenntnis.
Das wissen wir bereits seit 20 Jahren. Jeder, der nun so
tut, als ob er dies nicht gewusst hätte, sagt etwas Falsches.
({6})
Herr Zeil, auch für eine starke Forschung und Entwicklung brauchen wir Steuermittel, genauso wie für die
Bildung. Wir sind deshalb so leistungsfähig, und unsere
Wirtschaft wächst deshalb, weil wir so gut in Forschung
und Entwicklung sind. Aber auch hier fällt das Geld
nicht vom Himmel. Das schafft man nicht in ein, zwei
Jahren. Hier muss man langfristig und kontinuierlich
klare Schwerpunkte setzen. Es ist zwingend notwendig,
dass wir, die Bundesregierung, das fortsetzen. Aber genauso wichtig ist es, dass die Bundesländer ihre Hausaufgaben erfüllen. Aber auch die Wirtschaft muss ihre
Hausaufgaben erfüllen. Sonst werden wir unser 3-Prozent-Ziel deutlich verfehlen.
({7})
Frau Kollegin, achten Sie bitte auf Ihre Redezeit.
Wir müssen eine gute Ausbildung und Qualifikation,
das heißt ein leistungsfähiges Bildungssystem, eine
starke Forschung und Entwicklung sowie eine leistungsfähige Infrastruktur mit Steuermitteln finanzieren, weil
es sonst kein wirtschaftliches Wachstum geben wird.
Deshalb darf man nicht leichtfertig Steuergeschenke versprechen. Wirtschaftliches Wachstum ist die Voraussetzung dafür, dass wir diese Aufgaben erfüllen können und
damit die Arbeitslosigkeit verringern können.
Ich möchte mit einem Satz von Ferdinand Lassalle,
dem Gründer meiner Partei, schließen.
Aber nur ganz kurz, Frau Kollegin; denn Sie haben
Ihre Redezeit schon weit überschritten.
({0})
Ferdinand Lassalle hat gesagt: „Politik ist, immer zu
sagen, was ist.“ Das habe ich getan.
Vielen Dank.
({0})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun das Wort der
Kollege Wolfgang Meckelburg.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich finde, die heutige Aktuelle Stunde zum Thema
„Wachstum und Beschäftigung als Grundlage wirtschaftlicher Sicherheit“ ist notwendig; denn ich glaube, dass in
der öffentlichen Diskussion in den letzten Monaten der
Eindruck entstanden ist, als ginge es in Deutschland ständig bergab, als gäbe es hier nur Altersarmut und Kinderarmut, nur negative Themen.
({0})
Große Schuld daran tragen Sie von der Fraktion Die
Linke.
Das Weltbild, das Sie, Herr Schui, gerade hier vorgestellt haben, ist ziemlich weit von der Realität entfernt.
Das ist eine Statistik nach dem Motto: Wenn ein Fußballspieler einmal auf den linken und einmal auf den
rechten Pfosten schießt, dann hat er im Schnitt ein Tor
geschossen. - So geht es natürlich nicht.
({1})
Deswegen nehme ich mir heraus, das Bild ein wenig zurechtzurücken.
Herr Schui, wir sollten bei der Politik, die wir machen, vom Normalfall ausgehen. Nach unserem Verständnis besteht der Normalfall darin, dass man Arbeit
hat und mit dem Einkommen, das man mit der Arbeit erwirtschaftet, sich selbst und eine Familie ernähren kann.
Das ist unser Ziel. Bei Ihnen kann ich das Ziel überhaupt
nicht erkennen. Sie sind ständig dabei, Ansatzpunkte zu
suchen, wie man durch Kleinigkeiten sogenannte soziale
Gerechtigkeit herstellen kann.
({2})
Sie sagen aber niemandem, woher Sie das Geld nehmen
wollen und wie all das finanziert werden soll.
({3})
Das ist das Problem bei Ihrem Weltbild.
({4})
- Ich werde Sie nicht überbeanspruchen. Bei fünf Minuten Redezeit werde ich nicht die ganze Zeit auf Sie verwenden. - Ich will genau das tun, woran es mangelt,
nämlich - wenn es sein muss, zum zehnten Mal - die Daten nennen und klar sagen, was hier in Deutschland passiert ist. Wir haben inzwischen - das ist der Stand vom
April 2008 - 3,4 Millionen Arbeitslose. Der Höchststand
im Wahljahr 2005 lag bei über 5 Millionen Arbeitslosen.
Heute sind es 1,6 Millionen Arbeitslose weniger.
({5})
Jahr für Jahr, Stück für Stück wurde die Arbeitslosigkeit
abgebaut. Wer hätte das zu Beginn dieser Legislaturperiode erwartet. Das ist ein Erfolg. Wir sind inzwischen
so weit, dass wir nicht nur die Menschen, die Arbeitslosengeld I beziehen, wieder in Arbeit bringen, sondern
auch die Langzeitarbeitslosen. Das ist schwieriger als
bei denen, die Arbeitslosengeld I beziehen, aber auch da
passiert etwas. Es muss Ziel unserer Politik sein, Menschen in Arbeit zu bringen und nicht darüber nachzudenken, wie man noch hier und da einen Cent ausgeben
kann, damit sich die Leute wohlfühlen. Das ist Politik.
Ihr Verständnis, Herr Schui, ist ein völlig anderes.
({6})
Bei den offenen Stellen haben wir eine positive Entwicklung. Was ich bei keiner Debatte verschweigen werde,
ist die Entwicklung bei der sozialversicherungspflichtigen
Beschäftigung. Wir haben in den letzten Jahren unter RotGrün 65 Monate lang einen Rückgang der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung erleben müssen. Unser
Plakat lautete damals: Jeden Tag 1 000 weniger. - Die
Trendwende hat im vorletzten Jahr angefangen. Die Entwicklung der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung
ist jetzt positiv. Auch in den letzten drei Monaten ist die Zahl
gestiegen. Wir haben jetzt 27,1 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigte. Das sind 663 000 mehr als vor
einem Jahr, 1,3 Millionen mehr als vor zwei Jahren.
({7})
Das ist genau die Arbeit, die wir brauchen, weil die Beschäftigten die Sozialsysteme und die Steuern bezahlen.
Es handelt sich um diejenigen, deren Geld Sie ständig
ausgeben wollen. Das ist der Unterschied.
({8})
- Ich bin dabei, die Erfolge dieser Bundesregierung hervorzuheben. Die lasse ich mir durch Ihre Zwischenrufe
nicht kaputtmachen.
({9})
Wir haben 1,3 Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen.
Nehmen Sie das zur Kenntnis, Herr Schneider. Sie jedenfalls haben dazu keinen Beitrag geleistet.
({10})
Im Gegenteil: Die Vergangenheit, die Ihre Partei zu verantworten hat, hat dazu geführt, dass wir größere
Schwierigkeiten zu bewältigen haben.
({11})
Die Entwicklung wird so weitergehen. Wenn man das
Frühjahrsgutachten der Wirtschaftsinstitute liest und hört,
was Professor Rürup sagt, kann man optimistisch sein.
Herr Rürup erwartet zum Jahresende 2008 weniger als
3 Millionen Arbeitslose und im Jahresschnitt 2008 rund
3,47 Millionen Arbeitslose. Das wäre eine Quote von
8,0 Prozent. Wir liegen jetzt schon bei 8,1 Prozent und
sind bei über 12 Prozent gestartet. An der Zahl kann man
erkennen, was sich wirklich verändert hat. Das ist die
Grundlage. Das ist wichtig für uns, weil es sonst keine
Steuerzahler gibt und niemand in die Sozialversicherungen einzahlt. Wir brauchen Menschen, die arbeiten. Dieser Trend wird weitergehen. Ich bin sicher, dass die
Wirtschaftsweisen recht haben, dass wir in diesem und
im nächsten Jahr weiterkommen werden und im Schnitt
des Jahres 2009 eine Arbeitslosenzahl haben werden, die
unter 3 Millionen liegen wird. Das ist ein Erfolg, und
den lassen wir uns von Ihnen nicht zerreden. Allein dafür lohnt es sich, diese Aktuelle Stunde durchzuführen.
({12})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Gabriele LösekrugMöller für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es sind
von meinen Vorrednerinnen und Vorrednern schon sehr
viele richtige Zahlen genannt worden, die beschreiben,
wie gut die wirtschaftliche Entwicklung und die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt sind und wie sehr das
eine mit dem anderen zusammenhängt. Wenn ich sage,
dass es richtig ist, in dieser Aktuellen Stunde das, was
sich positiv entwickelt hat, in den Vordergrund zu stellen, verehrter Herr Kollege Schui, dann wissen Sie, dass
ich nicht von Ihren Zahlen spreche.
Ihre politische Mathematik beginnt mit dem Ergebnis.
Sie wollen auf Ihre Weise politisch argumentieren können und fangen an, Ihre politische Mathematik vom Ergebnis her aufzubauen, sodass am Ende zum Beispiel
eine IG Metall, die eine 35-Stunden-Woche gefordert
und über Jahre eingelöst hat, locker eingerechnet wird.
Diesen Kollateralschaden nehmen Sie hin; mehr will ich
zu Ihren Zahlen gar nicht sagen.
({0})
Die Zahlen, über die wir heute reden, sind ein Beleg
dafür, dass die politischen Entscheidungen der letzten
Jahre eine günstige wirtschaftliche Entwicklung befördert und damit zweifellos auch den Arbeitsmarkt beflügelt haben. Dennoch dürfen wir nicht darauf vertrauen,
dass der Arbeitsmarkt nunmehr wie ein Perpetuum mobile, einmal angestoßen, von selbst läuft. Ich hoffe, wir
alle wissen, dass die Sache mit dem Perpetuum mobile
bisher noch nie geklappt hat, und ich befürchte, auch in
Sachen Arbeitsmarkt funktioniert es nicht. Wir stehen
politisch gesehen noch in der Schuld der vielen Menschen, die zwar arbeiten möchten, aber keine Arbeit finden. Auch das gehört dazu, wenn wir die Wahrheit beschreiben.
({1})
Deshalb sagt die SPD-Bundestagsfraktion, dass gute
Arbeit her muss, und damit müssen wir im Parlament beginnen. Ich stehe hier sehr selbstbewusst und sage: Genau das liefern wir. In den Feldern Sozial- und Arbeitsmarktpolitik müssen wir bei Leiharbeit und Mindestlohn
noch gute Arbeit leisten. Das sind wir denjenigen schuldig, die im Moment zu Recht nicht zufrieden sind.
Wir müssen hinsichtlich Weiterbildung und lebenslangen Lernens mehr leisten. Das sollte im Übrigen auch
eine Herausforderung für Mandatsträger sein.
In den Zeitungen der letzten Tage wird der Fachkräftemangel beklagt. Ja, das ist eine große Sorge, die wir
haben. Mich wundert allerdings, dass er erst jetzt beklagt
wird, obwohl viele Unternehmen Vorsorge hätten treffen
können, indem sie rechtzeitig mehr ausgebildet hätten.
Auch das ist ein Teil der Wahrheit.
({2})
Unser Ziel ist ohne Frage die Vollbeschäftigung.
Denn wir wollen nicht hinnehmen, dass die Zukunft des
Arbeitsmarktes von Fachkräftemangel einerseits und
von hoher Arbeitslosigkeit andererseits geprägt ist. Das
müssen wir mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln bekämpfen. Denn für uns gilt, dass es gute Arbeit
für alle geben muss. Das beginnt bei Berufseinsteigern,
geht über kluge Angebote für alle Übergänge in der Erwerbsbiografie - wir wissen, dass es davon immer mehr
geben wird - und reicht bis hin zur besseren Absicherung gesundheitlicher Risiken.
Ich möchte noch etwas zu den Erwerbstätigen sagen.
Laut einer Untersuchung von INQA sind 72 Prozent der
abhängig Beschäftigten stolz auf ihre Arbeit. Entsprechend hochwertig sind die Arbeitsergebnisse. Wir reden
über diese Menschen und über ihre Arbeit, die wesentlich zu dem Erfolg, den wir heute zu Recht formulieren,
beigetragen haben. Deshalb müssen sie meiner Meinung
nach in den Mittelpunkt einer solchen Aktuellen Stunde
gehoben werden.
In unserem Haus bewegt sich eine Kategorie, die
nicht hierher gehört: Es sind die Unken. Sie alle wissen,
wie sich Unken äußern. Schon in Brehms Tierleben kann
man lesen, dass Unken zwar häufig, aber einfach und bescheiden rufen. Das gilt auch für die „politische Unke“.
Ihre Rufe hörten wir auch in dieser Aktuellen Stunde.
({3})
Das Plenum des Deutschen Bundestages ist allerdings
nicht der natürliche Lebensraum von Unken, gleich ob
sie Rot- oder Gelbbauchunken sind; diese leben übrigens
wirklich in Mitteleuropa. Hier gehören sie nicht her.
({4})
Das Plenum des Deutschen Bundestages muss der Mittelpunkt einer ehrlichen Beschreibung der Tatsachen
sein; da hat Ferdinand Lassalle recht. Insofern kann man
zu Recht erwarten, dass von uns und von diesem Pult
konstruktive Lösungen für das, was besser werden muss,
geliefert werden. Wir liefern. Wir stehen für gute Arbeit.
Danke schön.
({5})
Für die Bundesregierung hat nun das Wort der Parlamentarische Staatssekretär Hartmut Schauerte.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Von 2001 bis 2005, also vier Jahre lang,
herrschte Stagnation. Wie war die Lage? Die Arbeitslosigkeit stieg, die Staatsverschuldung stieg, kein Wachstum; es herrschte überall große Verunsicherung. Heute
ist die Lage anders: Die Arbeitslosigkeit sinkt, die
Staatsverschuldung liegt bei null.
({0})
- Ja. Ich kann auch noch ein paar andere Zahlen nennen,
Frau Pothmer. - Es herrscht relative Zuversicht. Die
Zahl der Arbeitsplätze wächst. Nachdem die Ausbildungsplatzsituation unerträglich schlecht geworden war,
wurden im Jahr 2007 626 000 Ausbildungsverträge abgeschlossen. Für 2008 erwarten wir einen weiteren Zuwachs von 11 Prozent. Wir können also zu sehr vielen
Bereichen sagen: Die Dinge haben sich gewendet und
entwickeln sich sehr positiv.
({1})
Das darf man doch nicht leugnen.
Man sollte allerdings einen Fehler nicht machen,
nämlich zu sagen: Für das alles ist die Politik verantwortlich. Wer realistisch ist, sagt - diese Auffassung vertreten ich und auch Fachleute, die Schätzungen vorgenommen haben -: Etwa zwei Drittel dieser Entwicklung
sind das Ergebnis einer wiedergewonnenen, neuen Wettbewerbsfähigkeit unserer Industrie, unserer Unternehmen. Dem liegen der Fleiß und die Intelligenz der Unternehmer und ihrer Mitarbeiter zugrunde. Etwa ein Drittel
dieser Entwicklung ist konkretem politischen Einfluss
geschuldet. Die Politik hätte mehr kaputt machen können. Das ist meiner Meinung nach eine realistische Analyse dessen, was passiert ist.
Dazu gehört auch, dass wir in der europäischen Einigung weitergekommen sind. Das ist für Deutschland ein
Segen; denn wir verdienen heute nirgendwo so viel Geld
wie auf den mittel- und osteuropäischen Märkten. Die
EU-Osterweiterung war ein großer Schub, den wir als
Deutsche genutzt haben. Wir sind also wirklich besser
geworden.
({2})
Ich will auf eine Frage eingehen, die in diesen Zusammenhang gehört: Wollen wir den Menschen Zuversicht
oder Angst vermitteln, wenn wir Politik machen?
({3})
- Ja, die haben wir erhöht, lieber Herr Kollege Koppelin,
weil wir auch das Ziel verfolgen, die Staatsverschuldung
auf null zu senken und damit die Gesellschaft von der
Angst vor der ewigen Nettoneuverschuldung zu befreien. Das ist an sich ein wichtiges Ziel. Wir bewegen
uns hier nicht auf einer Einbahnstraße, sondern wir arbeiten mit einer Vielzahl von Instrumenten. Dazu gehört
auch die Mehrwertsteuer.
Übrigens haben wir die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung von 6,5 Prozent auf 3,3 Prozent gesenkt. Das
hat für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie
die Unternehmen eine Entlastung von 25 Milliarden
Euro gebracht. Wir haben sehr unterschiedliche Instrumente zur Erreichung dieses Ziels eingesetzt.
Ich möchte auf einen sehr interessanten Punkt hinweisen. Die Eigenkapitallage der mittelständischen Unternehmen in Deutschland ist ein Zeichen von Zukunftsfestigkeit oder von Gefährdung. Ein Großteil der Arbeitsplätze
ist von dieser Eigenkapitallage abhängig. 2004 lag die
Eigenkapitalquote von Unternehmen mit einem Umsatz
von 0 bis 50 Millionen Euro bei 7,7 Prozent. Heute liegt
die Eigenkapitalquote dieser Unternehmen bei 15 Prozent. Die Quote hat sich also in drei Jahren rund verdoppelt. Die Eigenkapitalsituation von Unternehmen mit einem Umsatz von mehr als 50 Millionen Euro hat sich
ebenfalls verbessert: Deren Eigenkapitalquote ist von
25 Prozent auf 28 Prozent gestiegen.
Ich verweise auf das, was wir für die Steigerung der
Zahl der Arbeitsplätze und damit für die Sicherung aller
anderen Arbeitsplätze erreicht haben. Man muss sich
einmal Folgendes klarmachen: 2004/2005 gab es täglich
1 000 Arbeitslose mehr. Damals hatten 70 bis 80 Prozent
der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer massive Angst
um ihren Arbeitsplatz. Das war eine brennende Sorge.
Heute gibt es jeden Tag 1 000 Arbeitsplätze mehr. Wir
können heute sagen, dass weit über die Hälfte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer keine konkrete
Sorge mehr um ihren Arbeitsplatz hat. Auch das ist ein
enormer Erfolg, den man gar nicht hoch genug einschätzen kann.
({4})
Die gewachsene Zuversicht bezüglich des Erhalts der
Arbeitsplätze und die gewachsene Zuversicht bezüglich
der Eigenkapitalentwicklung - sie ist ein Merkmal für
die Zukunftsfähigkeit von mittelständischen UnternehParl. Staatssekretär Hartmut Schauerte
men - sind sehr positive und sehr wichtige Entwicklungen, die man auch benennen soll.
Wenn ich mich einmal in Europa umsehe, komme ich
zu dem Fazit: Deutschland ist im Vergleich zu den anderen großen europäischen Wirtschaftsnationen - England,
Frankreich, Italien und Spanien - der wettbewerbsfähigste, interessanteste und zukunftssicherste Standort.
Dänemark ist ein interessanter Sonderfall. Dort liegt
die Staatsquote aber auch bei über 57 Prozent. Bei uns
ist Gott sei Dank die Staatsquote von 45 auf 43 Prozent
gesunken. Deswegen kann man Dänemark nicht mit
Deutschland vergleichen.
({5})
Wir können auch Norwegen und die Schweiz nicht als
Vergleichsmaßstab heranziehen; denn die einen leben
vom Öl und die anderen vom Geld der Welt. Wir dagegen müssen unseren Wohlstand selber erarbeiten. Aber
vor diesem Hintergrund sind wir verdammt gut aufgestellt.
Nun zum Thema Mindestlohn, sehr geehrte Frau
Pothmer: Ich habe wirklich gestutzt, als Sie uns vorwarfen, wir seien reformunfähig und legten eine Verweigerungshaltung an den Tag und behaupteten, die Voraussetzung dafür, dass Deutschland zukunftsfest werde, sei die
Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns.
({6})
Da staunen alle Fachleute dieser Welt.
({7})
Die Einführung eines flächendeckenden gesetzlichen
Mindestlohns löst nicht die Probleme, er würde die Probleme vergrößern. Deswegen können und werden wir
ihn nicht akzeptieren.
({8})
Jetzt stehen wir vor der Frage, wie wir unseren Kurs
fortsetzen. Die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands findet ja vor dem Hintergrund schwersten Beschusses statt: Es gibt die Ölpreiskrise, es gibt die Finanzmarktkrise, und es gibt einen immer schwächer
werdenden Dollar.
({9})
Jedes dieser Probleme alleine hätte vor Jahr und Tag die
deutsche Volkswirtschaft ins Wanken gebracht. Heute
sagen uns die Professoren und Sachverständigen: Die
deutsche Volkswirtschaft ist so wettbewerbsfähig aufgestellt, dass die allergrößten Chancen bestehen, dass sie
relativ ungefährdet und relativ stabil diese drohende Situation bewältigt.
({10})
Das ist doch eine wunderbare Bestätigung, dass wir auf
richtigem Kurs sind.
({11})
Nun stellt sich noch die Frage, was wir in Zukunft tun
müssen, um die Motivation unserer Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter zu verbessern. Die Steuerpolitik ist ein
Mittel. Dabei stehen wir vor der entscheidenden Frage,
wie den Menschen mit 30 000 bis 60 000 Euro Jahreseinkommen wieder eine Perspektive eröffnet werden
kann. Denen wird ja heute bei jeder Gehaltssteigerung
ein überproportional hoher Teil weggenommen. Hierfür
eine Lösung zu finden, ist die Aufgabe, die vor uns liegt
und mit der wir uns zuallererst beschäftigen müssen.
Von dieser Fragestellung sind ja 30 bis 40 Millionen
Menschen in Deutschland betroffen. Wir sollten nicht
ausschließlich Diskussionen über die Ränder der Gesellschaft führen, sondern müssen auch in ihre Mitte hineingehen und uns fragen, wie wir hier für eine Entlastung
sorgen können.
Ich will einmal eine Zahl nennen: Wenn ein Facharbeiter, der derzeit 30 000 Euro im Jahr verdient - das ist
ja wirklich nicht üppig, aber eine sehr häufig vorkommende Größenordnung -, 100 Euro Lohnerhöhung bekommt, dann bleiben ihm von diesen 100 Euro 43 Euro.
({12})
Das empfindet er als ungerecht. Diese Situation können
auch wir nicht akzeptieren.
({13})
Sobald wir etwas Freiheit zum Handeln haben,
({14})
müssen wir an den entsprechenden Stellschrauben drehen. Wir dürfen das nicht herauszögern, sondern müssen,
sobald wir etwas Freiheit zum Drehen an der Steuerschraube haben, an dieser Stelle etwas tun. Die derzeitige
Situation wirkt nämlich demotivierend und gefährdet die
Wettbewerbsfähigkeit.
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die motiviert sind
- lassen Sie mich das zum Schluss sagen -, bieten ja die
beste Garantie für hohe Ergebnisse und Wettbewerbsfähigkeit. Mit den staatlichen Rahmenbedingungen, die
mittlerweile für die Mitte der Gesellschaft gelten, machen
wir deren Motivation kaputt. Das müssen wir ändern.
Daraus erwächst neue Zukunftsfestigkeit, neue Motivation, neues Wirtschaftswachstum, neuer Schwung.
Zugleich müssen wir gute Bildungs- und Technologiepolitik machen. Die entsprechenden Positionen bauen
wir ja aus. Wir tun mehr für Forschung und Technologie,
Frau Pothmer, als Rot-Grün in all den sieben Jahren getan hat.
({15})
An keiner Stelle haben wir unsere Haushaltsansätze trotz
aller Sparzwänge so deutlich angehoben wie in diesem
Bereich. Wir wissen also schon, wohin wir müssen. Wir
befinden uns auf einem guten Kurs. Deutschland ist stabiler geworden. Im internationalen Wettbewerb können
wir hervorragend bestehen. Deshalb werden wir die bisherige Politiklinie fortführen.
Bei dieser Aktuellen Stunde ging es ja - so habe ich
das jedenfalls verstanden - um eine Beschauung der
Lage unterwegs. So lassen Sie mich festhalten: Wenn
wir Ängste schüren, werden wir keine Höchstleistungen
erzielen. Das wird uns nur gelingen, wenn wir mit Zuversicht an die Dinge herangehen. Ich meine, die Bundesregierung hat Deutschland gut aufgestellt. Helfen Sie
uns als Parlamentarier dabei, dass das so bleibt. Wir sind
immer gespannt auf gute und neue Ideen. Anregungen,
die wirklich etwas bringen, werden gerne aufgenommen,
Frau Pothmer.
Herzlichen Dank.
({16})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Doris Barnett für
die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Das
Wetterhoch entspricht den Aussichten der Wirtschaft
und des Arbeitsmarktes. Wir können mit einer robusten
Wirtschaft strahlen, und die Zunahme von sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätzen sorgt für immer größer werdendes Wachstum und für mehr Wohlstand in unserem Land. Auch wenn Letzterer noch nicht bis in den
letzten Winkel vorgedrungen ist, so kann ich doch festhalten, dass sich die Reformen von Bundeskanzler
Schröder jetzt auszahlen. Die Agenda 2010 war der
Schlüssel, den wir umdrehen mussten, um endlich wieder die Maschine zu starten.
({0})
Ja, es mussten harte Entscheidungen getroffen werden, und die Anstrengungen wurden nicht immer von
Applaus begleitet. Heute wissen wir, dass wir den richtigen Weg eingeschlagen haben; denn die Erfolge geben
uns recht. Die Arbeitslosigkeit - Staatssekretär Brandner
nannte die Zahlen - ist erheblich zurückgegangen. Immer mehr Menschen, die bisher allein auf staatliche
Leistungen angewiesen waren, können nun ihren Lebensunterhalt selbst verdienen. Ihnen müssen wir bei
den Abgaben helfen; denn es ist nicht die Steuerlast, die
sie drückt. Die wachsende Zahl von Beschäftigten entlastet die Volkswirtschaft und schafft größeren Spielraum für notwendige Investitionen. Investitionen in Bildung, Wissenschaft und Forschung - das sind die am
besten angelegten Gelder, weil sie in den wahren Rohstoff der Zukunft investiert werden: in die Menschen.
({1})
Nur mit ihnen kann Deutschland weiterhin die Wirtschaftslokomotive in Europa bleiben, aber dann brauchen wir auch alle Talente. Ich lasse es nicht gelten, dass
Intelligenz nach sozialen Milieus verteilt sein soll.
({2})
Deshalb ist Bildung von Anfang an, also bei den Kleinsten beginnend, die einzige Alternative, die wir haben.
({3})
Ich freue mich, dass die Einsicht bezüglich Ganztagsschulen, ja sogar integrierter Gesamtschulen, also der
Geheimwaffe Finnlands, in unserem Land immer mehr
um sich greift. Qualifizierte Arbeitskräfte werden dringend gebraucht, aber die schütteln wir nicht von den
Bäumen. Wir als Staat tun sehr wohl das Unsere. Auch
die Unternehmen kommen immer mehr zu der Einsicht,
dass Ausbildung kein Luxus ist, sondern eine Investition
in die eigene Zukunftsfähigkeit.
Das haben wir, die Mitglieder des Unterausschusses
Regionale Wirtschaftspolitik, in der letzten Woche in einer ehemals strukturschwachen Region unseres Landes,
in der Ems-Dollart-Region, erfahren können. Ich nenne
hier als Beispiel die Meyer-Werft in Papenburg, die die
Traumschiffe für internationale Touristikunternehmen
baut.
({4})
Die Auftragsbücher sind gut gefüllt, und das Unternehmen ist auf Jahre hinaus auf hochqualifizierte Kräfte angewiesen. Die Ausbildungsquote liegt bei über 11 Prozent. Das kommt nicht von ungefähr. Frühzeitig hat die
Firmenleitung erkannt, wie schnell es hier zu einem
Mangel an Fachkräften kommt, den es im Norden bereits
gibt. Aber durch die hohe Zahl an Auszubildenden ist
die Werft jetzt auf der sicheren Seite.
Die ganze Region beweist, wie man mit eigenen Stärken Wachstum und Arbeitsplätze schafft. Das wirkt sich
sogar grenzüberschreitend auf die holländischen Gemeinden aus, mit deren Unternehmen zusammengearbeitet wird.
({5})
Beide Partner profitieren voneinander. So konnte im Arbeitsmarktbezirk Leer die Arbeitslosigkeit signifikant
gesenkt werden. Sie liegt jetzt bei etwas über 4 Prozent.
Das ist fast Vollbeschäftigung in einer Region, die bislang als das Armenhaus Deutschlands galt.
In vielen Regionen unseres Landes macht sich der
Aufschwung bemerkbar. Wir dürfen uns jetzt aber nicht
ausruhen, denn er soll schließlich das ganze Land erfassen. Auch muss er robust bleiben. Deshalb ist es jetzt so
wichtig, dass wir für unsere Unternehmen, insbesondere
die mittelständischen, Auffanglinien einziehen. Eine
ganz wichtige davon ist das Entsendegesetz. Wenn die
europäische Dienstleistungsrichtlinie voll greift, brauchen wir in unserem Lande faire Wettbewerbsbedingungen für unsere Unternehmen, sonst sind nicht nur die ArDoris Barnett
beitsplätze in Gefahr. Nein, ganzen Wirtschaftsbereichen
kann dann das Aus drohen. Es wundert mich deshalb
auch nicht, dass sich ganze Branchen bei Minister
Scholz gemeldet haben und Aufnahme in das Entsendegesetz anstreben.
({6})
Für sie ist demnach der Mindestlohn keine Bedrohung.
Im Gegenteil: Er ist ein Schutz.
({7})
Das sehen wir etwas anders als der Kollege Schauerte.
Wir wollen gute Europäer sein. Wir wollen als Lokomotive weiterhin kräftig für wirtschaftliches Wachstum
sorgen. Dafür brauchen wir faire Arbeitsbedingungen für
die Menschen, die mit ihrer guten Arbeit dieses Wachstum produzieren.
Vielen Dank.
({8})
Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege
Laurenz Meyer für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In den letzten Tagen und Wochen gab es zwei Anstöße,
die diese Debatte wesentlich befruchtet haben. Zum einen war das die McKinsey-Studie über die Zukunft
Deutschlands, übrigens mit der aufschreckenden Botschaft, die Mittelschichten seien in Aufruhr und ihr Standard würde sinken. Zum anderen waren es die Vorschläge der CSU zur Steuerpolitik. Beides hat endlich zu
einer Diskussionslage geführt, in der wir uns mit denen
beschäftigen, die unsere Wirtschaft wirklich tragen: diejenigen, die keine Transferleistungen, kein BAföG, kein
Wohngeld, mehr bekommen, die Facharbeiter, die Angestellten, die Handwerker.
({0})
Sie tragen unsere Wirtschaft und stellen unsere Zukunft
dar.
({1})
Deswegen möchte ich zum Schluss dieser Debatte aus
meiner Sicht ein paar zusammenfassende Bemerkungen
machen:
Erster Punkt. Wir werden in Deutschland keine Zukunft haben, wenn wir nicht ein klares Bekenntnis zum
Industriestandort Deutschland ablegen. Die Industriearbeitsplätze sind die Voraussetzung für hochqualifizierte Dienstleistungsarbeitsplätze. Ich entdecke zu viel
Industriefeindlichkeit und zu viel Ängstlichkeit, wenn es
um neue Technologien in unserem Land geht. Dagegen
müssen wir angehen.
({2})
Wir müssen auch ein klares Bekenntnis zu den Industrien ablegen, die uns bisher getragen haben und die
Hochtechnologien darstellen: Stahl, NE-Metalle, Fahrzeuge, Chemie. Ebenfalls dazu gehören die Kohlekraftwerke neuerer Art, die die alten ersetzen können und
einen zusätzlichen technischen Standard bringen. Diese
hochqualifizierten Industriearbeitsplätze, diese Hightech-Arbeitsplätze sind die Voraussetzung für die Entwicklung von unternehmensnahen, handwerksnahen oder,
womit wir uns jetzt beschäftigen, haushaltsnahen
Dienstleistungen. Denken Sie auch an die Entwicklung
der Kulturwirtschaft. Der neu gewachsene Dienstleistungsbereich der Kulturwirtschaft in Deutschland bietet
inzwischen mehr Arbeitsplätze als die gesamte Automobilindustrie bei uns.
({3})
Denken Sie ferner an den Bereich der Gesundheitswirtschaft.
({4})
Hier bestehen Chancen, die wir nutzen müssen.
({5})
Mir fehlt ein klares Bekenntnis zu diesen Bereichen.
Wir haben da keine offensive Haltung. Ich glaube, das ist
das Entscheidende, was wir auch aus der Steuerdiskussion, aus der Diskussion um die Mittelschichten mitnehmen müssen.
Es klang übrigens eben bei Frau Barnett an: Wir brauchen Menschen, die wirklich motiviert sind, die mit Lebenslust, Engagement und Zukunftsoptimismus an die
Arbeit gehen, sowohl im Unternehmerbereich wie im
Arbeitnehmerbereich. Davon lebt unser Land und nicht
von der pessimistischen, kleinkarierten Grundhaltung,
die aus vielen Diskussionen, leider Gottes auf mehreren
Seiten, herauszuhören ist.
({6})
Das muss ich auch angesichts der kleinkarierten Kritikasterei sagen, die Sie zum Teil zurzeit hier vortragen.
({7})
Deswegen lassen Sie uns über Zukunftsfelder diskutieren, die weit über das hinausgehen, was heute hier
- Mindestlohn und Ähnliches - immer wieder gekommen ist. Es geht um die Fragen: Wie können wir Unternehmen aus Universitäten heraus gründen, aus Universitäten, die ihre Innovationen umsetzen können? Wie
können wir die Finanzierung sicherstellen? Warum tun
wir uns so schwer, zum Beispiel mit Venture-Capital Bedingungen zu schaffen, die international wettbewerbsfähig sind?
({8})
Zweiter Punkt. Auch die Bildungsfrage ist von Bedeutung. Da müssen viele Schützengräben übersprungen
Laurenz Meyer ({9})
werden, übrigens auch bei uns. In der Bildungsfrage geht
es darum: Wie können wir bei dem Riesenbedarf an
Facharbeitern und Akademikern, den wir haben, bildungsferne Schichten in der Zukunft in die Lage versetzen, dass aus ihnen unsere zukünftigen Eliten kommen?
Bei diesen Fragen müssen viele von uns - auf allen
Seiten des Hauses übrigens, auch bei uns - ihre Vorstellungen überprüfen und zu neuen Ansichten kommen.
Denn das sind die Kernfragen: Bildung, Zukunftssicherung durch Bildung. Dazu brauchen wir Kinder in unserem Land. Deshalb muss dafür gesorgt werden, dass
auch in den Mittelschichten wieder mehr Kinder geboren
werden, dass die jungen Frauen Beruf und Familie unter
einen Hut bekommen können. Solche Fragen werden in
diesem Zusammenhang eine entscheidende Rolle spielen.
({10})
Deswegen ist es so wichtig, dass wir uns mit den betreffenden Grundsatzfragen beschäftigen.
Ein dritter Punkt in diesem Zusammenhang ist unsere
Infrastruktur. Auf welche Art und Weise zum Teil über
die noch vorhandene gute Infrastruktur bei uns geredet
wird - sei es im Verkehrsbereich, sei es im Bereich der
Telekommunikation oder der Energie -, ist für mich
wirklich erschreckend.
({11})
Wir müssen hier die Weichen für die Zukunft stellen und
dürfen nicht mit dem großen Füllhorn übers Land gehen,
weil wir uns anschließend wundern würden, was dabei
herauskäme.
Dass wir beispielsweise im Bereich der alternativen
Energien die Weichen für die Zukunft stellen müssen, ist
doch völlig klar. Aber wir müssen dies, bitte schön, so
effizient wie möglich tun.
({12})
- Herr Kuhn, lassen Sie uns doch gemeinsam darüber
sprechen.
Mich erschreckt, dass die Gefahr besteht, dass die
technisch schlechtesten Fotovoltaikanlagen in Deutschland landen, weil sie aufgrund unseres Fördersystems
hier noch untergebracht werden können. Bei uns müssten die besten Fotovoltaikanlagen produziert und installiert werden und nicht die, die man woanders auf dem
Weltmarkt nicht mehr unterbringen kann.
({13})
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Bitte in dem
Zusammenhang ist: Lassen Sie uns über diese Grundsatzfragen, die für Deutschland langfristig wichtig sind,
intensiver sprechen und nicht nur anlässlich solcher Aktueller Stunden! Lassen Sie uns aus den Schützengräben
herauskommen und manche kleinkarierte Diskussion,
wie ich sie auch heute in dieser Debatte erlebt habe, beenden!
({0})
Damit ist die Aktuelle Stunde beendet.
Ich rufe die Zusatzpunkte 4 bis 6 auf:
ZP 4 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD
Zukunft der Bahn, Bahn der Zukunft - Die
Bahnreform weiterentwickeln
- Drucksache 16/9070 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst
Friedrich ({1}), Patrick Döring, Joachim
Günther ({2}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Bahnprivatisierung zügig und konsequent
beschließen
- Drucksache 16/8774 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({3})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried
Hermann, Bettina Herlitzius, Peter Hettlich, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Zukunft des Schienenverkehrs sichern
- Drucksache 16/9071 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich
höre dazu keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Klaas Hübner das Wort für die SPDFraktion.
({4})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Kluge Politik ist es, auf neue Herausforderungen neue Antworten zu finden und nicht immer das Heil
in alten Rezepten zu suchen. Das ist nicht immer einfach. Viele haben gerade uns Sozialdemokraten nicht zugetraut, in der schwierigen Frage der Bahnreform zu einer Lösung zu kommen.
({0})
Wir sind nicht nur zu einer Lösung gekommen, wir sind
sogar zu einer guten sozialdemokratischen Lösung gekommen, und das bei der schwierigsten Frage, die wir in
dieser Legislatur zu bewältigen haben. Wir können deshalb heute im Deutschen Bundestag mit einem gewissen
Stolz sagen: Wir haben ein Modell entwickelt, das der
Koalitionspartner mitträgt. Wir haben damit gezeigt: Die
SPD ist regierungsfähig und regierungswillig, und diese
Koalition hat Gestaltungskraft.
({1})
Wir haben vor 14 Jahren mit der Bahnreform den
Grundstein für eine moderne Deutsche Bahn AG gelegt
und den Güter- und Personennahverkehr für den Wettbewerb geöffnet. Dieser Wettbewerb funktioniert. Die
Deutsche Bahn ist mit der Zeit von einer Beamtenbundesbahn zu einem vorbildlichen, hochmodernen und
konkurrenzfähigen Verkehrsanbieter geworden.
Nun stehen wir aber vor neuen Herausforderungen.
Das Schienennetz stößt erkennbar an Kapazitätsgrenzen.
Die Lärmbelastungen wachsen mit zunehmendem Schienenverkehr. Die europäischen Verkehrsmärkte öffnen
sich und bringen damit auch neue Chancen und Risiken.
Auf diese neuen Herausforderungen brauchen wir auch
neue Antworten.
Seit der Deutsche Bundestag im November 2006 die
Leitlinien für die Weiterentwicklung der Bahnreform beschlossen hat, haben wir uns intensiv mit verschiedensten Modellen beschäftigt. Wir haben - das gebe ich zu dafür reichlich Zeit gebraucht. Aber es wäre blanker
Populismus, zu sagen, dass man auf solch komplexe
Sachverhalte immer einfache und kurze Antworten finden kann. Nach langen Diskussionen haben wir in der
Großen Koalition gemeinsam eine gute Antwort gefunden.
Es geht um die Zukunft der für viele Menschen notwendigen und für die Verkehrspolitik nicht zu ersetzenden Bahnen. Gerade bei so sensiblen, politisch hochbrisanten und komplexen Themen ist es richtig, Punkte
zweimal zu bedenken und auch Überlegungen zu verwerfen, wenn sie sich als falsch erwiesen haben. Beschäftigte, Kunden und Steuerzahler haben den berechtigten Anspruch an uns, an die Politik, dass wir uns
ausreichend Zeit nehmen - das haben wir getan -, um
die unterschiedlichen Interessen aller Beteiligten sorgfältig zu gewichten und auch zu berücksichtigen.
Wir haben uns bei all diesen Überlegungen immer
von folgenden Zielen leiten lassen:
Erstens. Wir wollen mehr Verkehr auf die Schiene
bringen.
Zweitens. Wir wollen ein in Europa auch künftig
wettbewerbsfähiges Unternehmen Deutsche Bahn AG.
({2})
Drittens. Wir wollen, dass die 230 000 Beschäftigten
der Deutschen Bahn einen sicheren Arbeitsplatz bei
einer auskömmlichen Bezahlung haben.
({3})
Wir wollen all das erreichen, ohne den Bundeshaushalt
zusätzlich zu belasten.
({4})
Mit dem vorliegenden Antrag skizzieren wir ein Modell für die DB AG, das zukunftsweisend ist. Zum Ersten
stellen wir klar: Im Bereich der Infrastruktur ändern wir
nichts. Wir stellen damit sicher, dass die Infrastruktur - sprich: die Bahnhöfe, die Schienen und die
Energieversorgung - zu 100 Prozent in Bundeseinfluss
bleiben. Das ist eine aus allen Reihen dieses Hauses oft
geäußerte Forderung. Der sind wir nachgekommen; das
ist auch richtig so.
Zum Zweiten werden wir an den Verkehrsbetrieben
Investoren bis zu 24,9 Prozent beteiligen. Diese Grenze
von 24,9 Prozent ist für uns Sozialdemokraten nicht verhandelbar.
({5})
Das ist deswegen wichtig, weil wir damit sicherstellen,
dass die Festlegung der Aufsichtsratsmandate und damit
der Einfluss auf die Unternehmenspolitik der DB AG
auf jeden Fall allein beim Bund bleiben; denn dadurch,
dass ein Investor keine Schachtelbeteiligung haben
kann, kann es keinen verbrieften Anspruch geben, dort
mit einzusteigen. Damit stellen wir den Einfluss des
Bundes vollständig sicher und haben trotzdem die Möglichkeit, privates Geld zu generieren, um unsere Ziele,
die uns im Bereich des deutschen Schienenverkehrs
wichtig sind, umzusetzen.
({6})
Wir haben es mit diesem Modell zum Dritten geschafft, den integrierten Konzern zu erhalten und
damit - das ist uns sehr wichtig - den konzerninternen
Arbeitsmarkt zu sichern.
({7})
Aufgrund dieses Modells ist es gelungen, gemeinsam
mit der DB AG und den Gewerkschaften einen Beschäftigungssicherungsvertrag festzuklopfen, der bis zum
Jahre 2023 reicht, also für 15 Jahre gilt.
({8})
Man kann ja viel lamentieren. Aber dann, wenn es darauf ankommt, für die Beschäftigten wirklich etwas zu
tun - Beschäftigungssicherung ist etwas Handfestes -,
ist man bei den Sozialdemokraten an der richtigen
Adresse.
({9})
Wir werden neue Mittel generieren können. Wir haben festgelegt, dass die Einnahmen zu einem Drittel dem
Bundeshaushalt zugeführt und zu zwei Dritteln in
Deutschland investiert werden: ein Drittel direkt durch
die DB AG, ein Drittel durch uns. Wir wollen damit vor
allen Dingen Engpässe und Langsamfahrstellen beseitigen, was gerade im Hinblick auf die Seehafenhinterlandanbindungen extrem wichtig ist. Wir haben in den
nächsten Jahren ein hohes Logistikaufkommen zu gewärtigen, das wir auch abtransportieren müssen. Dort
müssen wir dringend investieren. Jetzt bekommen wir
die notwendigen Mittel dafür.
Wir wollen die Bahnhöfe und die Haltepunkte attraktiver machen. Wir wollen Lokomotiven und Wagen erneuern, und wir wollen vor allen Dingen den Schienenlärm gezielt bekämpfen.
({10})
Das ist eine Forderung, die oft gestellt worden ist, und
zwar nicht nur die Rheinschiene betreffend. Es gibt in
Deutschland mehr Verkehr und auch mehr Logistik; dies
wollen wir auch. Aber wir wollen dem so gerecht werden, dass die Bürgerinnen und Bürger auch leben können. Darum müssen wir den Lärm an der Quelle bekämpfen. Das können wir jetzt mit den neu gewonnenen
Mitteln.
({11})
Den vorgeschlagenen Maßnahmenkatalog können
wahrscheinlich Sie alle unterschreiben. Aber es stellt
sich ja auch die Frage, wie wir das seriös finanzieren.
Seriös finanzierbar ist dies eben nicht, indem wir die
Mittel einfach aus dem Bundeshaushalt nehmen oder,
wie es die Linke will, die Neuverschuldung ins Exorbitante steigen lassen. Es ist keine generationengerechte,
nachhaltige Politik, einfach die Lasten auf die kommenden Generationen zu verschieben. Nein, klug ist es, die
Aufgaben, die wir heute haben, auch heute zu finanzieren. Durch die Teilprivatisierung ist es uns möglich, das
Geld einzunehmen, das wir brauchen, um die verkehrspolitischen Ziele, die wir haben, umzusetzen.
Wir werden mit der neuen Struktur der Deutschen
Bahn auf sehr schwierigem Terrain erfolgreich sein. Wir
machen das Unternehmen fit für die Zukunft. Wir werden die DB AG finanziell stärken. Wir werden sie organisatorisch neu aufstellen, und die DB AG wird die
Möglichkeit haben, demnächst auch im europäischen
Wettbewerb zu reüssieren.
Wir werden uns in den nächsten Wochen Zeit nehmen, den vorliegenden Antrag zu beraten. Wir werden
eine Expertenanhörung durchführen - ich glaube, am
Montag der kommenden Sitzungswoche - und dann abschließend Ende Mai darüber debattieren.
Ich bin mir sehr sicher, dass wir hier ein Modell vorgelegt haben, das viele Gewinner hat. Gewinner werden
die Kunden sein, weil sie eine attraktivere Bahn haben
werden.
({12})
Gewinner werden alle Bürgerinnen und Bürger sein,
weil wir den Bundeshaushalt an dieser Stelle entlasten.
({13})
Gewinner wird die Wirtschaft sein, weil der Logistikstandort Deutschland deutlich gestärkt wird.
({14})
Gewinner werden auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sein, weil wir dafür gesorgt haben, einen Beschäftigungssicherungsvertrag für 15 Jahre zu schließen.
15 Jahre keine betriebsbedingten Kündigungen bei der
Deutschen Bahn AG, das ist konkrete sozialdemokratische Politik. Dazu stehen wir.
Vielen Dank.
({15})
Nächster Redner ist für die FDP-Fraktion der Kollege
Horst Friedrich.
({0})
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich bin tief beeindruckt von den Ausführungen des Kollegen Hübner, frage mich aber, ob man darüber lachen oder weinen soll.
({0})
Das Schlimme ist: Wahrscheinlich glaubt er sogar, was
er gesagt hat. Das ist ja das eigentliche Problem.
Das Ganze fing mit der Bahnreform 1994 an. Jetzt
legt uns die Große Koalition gnädigerweise - wie hat
Herr Hübner es gesagt? - in einem seriösen Verfahren
einen Antrag zur Beratung vor. Der staunenden Öffentlichkeit sage ich: Wir haben den Antrag gestern erhalten.
Heute findet die erste Lesung statt. Am Montag findet
eine Anhörung statt.
({1})
Eine solche Expertenanhörung kann man selbstverständlich innerhalb von eineinhalb Tagen vollständig auswerten, damit der Antrag in der gleichen Woche in zweiter
und dritter Lesung beschlossen werden kann. - Das bezeichnet die Große Koalition als seriöse Bearbeitung eiHorst Friedrich ({2})
nes Vorschlages. Das mag glauben, wer will. Für uns ist
das: eine Lösung im Schweinsgalopp finden. Dementsprechend wird wahrscheinlich das endgültige Ergebnis aussehen.
({3})
Wir reden in dieser Legislaturperiode mittlerweile
über die dritte Variante zur Fortführung der Bahnreform.
Die Große Koalition hat sich nach der Diskussion über
den integrierten Börsengang der Deutschen Bahn AG
mit Netz und der Diskussion über das Eigentumssicherungsmodell von Herrn Tiefensee - mit einem kurzen
Abstecher zur Volksaktie, die Herr Tiefensee, als er nach
Hamburg fuhr, noch abgelehnt hat, hinterher aber regelrecht erfunden haben will - jetzt auf ein neues Modell
geeinigt, das angeblich die Lösung aller Probleme ist.
Darauf komme ich später zu sprechen.
Es ist schon erstaunlich, dass mittlerweile offensichtlich auch die Kollegen von der Union Opfer der Propagandainitiative der Deutschen Bahn wurden. Liebe Kollegen von der Union, wenn ich das richtig lese, steht im
dritten Absatz des Antrages:
Dank der Bahnreform ist es in den vergangenen
Jahren gelungen, mehr Verkehr auf die Schiene zu
bringen … und die Belastungen der öffentlichen
Hand zu verringern.
Wenn man das mit den verkehrspolitischen Leitlinien
zur Kapitalprivatisierung der Deutschen Bahn der CDU/
CSU-Bundestagsfraktion vergleicht, stellt man fest, dass
es dort völlig anders klingt. Dort steht nämlich: Bis
heute wurden die beiden Ziele der Bahnreform, nämlich
mehr Verkehr auf die Schiene und nachhaltige Entlastung des Haushaltes, nicht erreicht. Seit 1994 konnten
nicht mehr Verkehrsanteile auf die Schiene gezogen
werden. Darüber hinaus führte das bestehende Modell
nicht zu einer nennenswerten Entlastung des Bundeshaushaltes; denn das System Schiene kostete den Bund
einschließlich der Regionalisierungsmittel im Jahr 1994
rund 18,9 Milliarden Euro und 2004 18,7 Milliarden
Euro. - Die Quelle ist relativ unverdächtig - Verkehr in
Zahlen; Verfasser ist das Bundesministerium für Verkehr -,
es sei denn, dass man den eigenen Zahlen nicht mehr
glaubt.
Dass die Union in diesem Antrag genau das bestätigt,
muss schon überraschen.
({4})
Nicht überraschend ist hingegen, dass die SPD das mitträgt. Der Sprecher der SPD - das ist ja in der Öffentlichkeit zitierfähig - hat nach einer Vergabe im Nahverkehr einen Brief an seine eigene Verwaltung in Bremen
geschrieben, der zufälligerweise bis aufs Komma mit einem Brief identisch war, den die Deutsche Bahn geschrieben hat.
({5})
Das kann man zur Kenntnis nehmen oder nicht. Auf jeden Fall überrascht ein solches Verhalten seitens der
SPD nicht; das der Union überrascht mich schon ein bisschen.
({6})
Sie legen Wert auf die Aussage, dass mit diesem Gesetz mehr Wettbewerb im Bereich Schiene geschaffen
wird. Was beschließen Sie aber? Sie legen in Ihrem Antrag vor, dass die Eisenbahninfrastrukturunternehmen
dauerhaft und vollständig bei der DB AG verbleiben sollen. Das ist die Situation, die wir jetzt haben. Wenn ich
mich aber richtig erinnere, sind die Mitbewerber der
Bahn auf der Schiene beim Eisenbahn-Bundesamt und
bei der Netzagentur vorstellig geworden; einige Kollegen sind ja Mitglied im Beirat. Jeder erzählt mir, der
Wettbewerb könne noch besser funktionieren, wenn das
Schienennetz neutralisiert werde und es eine echte Lösung gebe, und zwar 100 Prozent Verantwortung für das
Schienennetz direkt durch den Staat und nicht indirekt
durch die Beteiligung an der Deutschen Bahn AG.
({7})
Die Union bezeichnet das wiederum als Reverstaatlichung. Wissen Sie, Kollege Friedrich, Ihr Zwischenruf
gibt mir Gelegenheit, auf noch einen Punkt einzugehen.
Ich gehe davon aus, dass Kollege Gysi das Projekt Neuseeland hier ansprechen wird; er hat es schon in einem
Zwischenruf genannt. In Neuseeland hat man genau das
gemacht, was wir verhindern wollen. Man hat das
Schiennetz und das Unternehmen an die Börse gebracht
und privatisiert. Das wollen Sie in Ihrem Herzen immer
noch; denn Sie kämpfen immer noch für den integrierten
Börsengang des Unternehmens Deutsche Bahn AG. Sie
kämpfen nicht für den Verkehrsträger Schiene. Sie sind
ein Ministerium für die Deutsche Bahn AG. Das ist das
eigentliche Problem.
({8})
- Ja, man kann das als Unfug bezeichnen. Man kann
auch zur Kenntnis nehmen und lesen, was hier alles beschlossen wird.
Am Rande möchte ich Herrn Hansen erwähnen, der
Mitglied der Verhandlungskommission der Bahn bei der
Bahnreform war, stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender ist und einer nicht unbedeutenden Gewerkschaft
in der Bahn angehört.
({9})
- Ja, gut, deswegen war er ja in der Verhandlungskommission und ist auch als Sachverständiger für die SPD in
der Anhörung benannt.
({10})
Horst Friedrich ({11})
Ausgerechnet Herr Hansen hat heute schon erklärt, dass
er als Gewerkschaftsvorsitzender zurücktritt. Wie man
aus gewöhnlich gut unterrichteten Kreisen hört, wird er
Arbeitsdirektor der DB AG.
({12})
Frau Suckale wird dann sozusagen upgegradet in die
Transportabteilung
({13})
Dazu muss ich sagen: Das kann man als ganz normal bezeichnen. Man kann auch sagen: Genau das scheint ein
Kernpunkt des Gesetzes zu sein, das Sie uns jetzt vorlegen.
({14})
Sie selbst weichen jetzt von Ihrem eigenen Antrag
vom November 2006 ab, in dem Sie die Bundesregierung aufgefordert haben, ein Privatisierungsgesetz vorzulegen. Das ist ein Antrag, und Sie schreiben, dass kein
Gesetz nötig ist. Sie schreiben in Ihrem eigenen Antrag er wurde mehrheitlich beschlossen -, dass es durch eine
gleichzeitig vorzulegende Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung begleitet werden muss. Ich habe den Kollegen Dirk Fischer noch im Ohr, der mir hoch und heilig
zugesagt hat: Die Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung muss sich, bevor sie Gesetz wird, erst einmal in
der Praxis über ein Jahr oder länger bewähren, damit wir
überhaupt prüfen können, ob das alles funktioniert. Wie
kann ich denn eine Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung vorlegen, wenn wir nicht einmal einen Netzzustandsbericht haben?
({15})
Wie kann ich etwas bezüglich der Qualität beschließen,
wenn ich noch nicht einmal weiß, was ich kaufe?
Das alles wird jetzt mit einem krampfhaften Versuch
zugedeckt. Es wird gesagt: Um Himmels willen, wir haben nicht mehr genügend Geld, jetzt muss uns der Teilbörsengang retten. Damit sendet man keine Signale aus,
die Investoren beflügeln. Frau Nahles ist zitierfähig mit
der Aussage: Kohle ja, Mitbestimmung nein. - Das reizt
natürlich jeden Investor, sein Geld bei der Deutschen
Bahn abzuliefern. Wenn Sie sich an den Beginn der Diskussion erinnern: Wir hatten beim integrierten Börsengang, also mit Schienennetz, eine Erlöserwartung in
Höhe von 8 Milliarden Euro. Jetzt soll die Privatisierung
von 24,9 Prozent der Transporteinrichtungen einen Erlös
von 8 Milliarden Euro einbringen, wenn ich Herrn
Tiefensee glauben darf. Selbst wenn das eintreffen sollte,
was ja momentan hochspekulativ ist, bleiben für die
Deutsche Bahn im günstigsten Fall ungefähr
3 Milliarden Euro für Neuinvestitionen übrig. Es gibt
aber einen Wunschkatalog, der ungefähr das Zehnfache
umfasst.
({16})
- Das ist bei dieser Lösung gar nicht möglich,
({17})
weil wahrscheinlich der Steuerzahler die garantierte
Rendite zahlen muss. Hier sind wir uns völlig einig, Herr
Gysi.
({18})
Da der Kollege Klaas Hübner gesagt hat, es sei verbindlich festgelegt, dass diese 3 Milliarden Euro in
Deutschland ausgegeben werden müssen, möchte ich
einmal vorlesen, was hier steht: Der Bund erwartet, dass
die der Bahn zur Verfügung gestellten Mittel für nationale Innovationen und Investitionen der Bahn verwandt
werden. - Donnerwetter! Ich kenne Hartmut Mehdorn
und weiß: Das wird ihn bis ins innerste Mark erschüttern.
({19})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Großen
Koalition, dass Sie versuchen, uns das, was Sie hier vorlegen,
({20})
als die Lösung der Probleme der Deutschen Bahn oder
gar als gelungene Fortsetzung der Bahnreform von 1994
zu verkaufen, grenzt schon fast an Frechheit. Wir werden die Ergebnisse der Anhörung mit Geduld auswerten
und uns auch die Begleitgesetze genau ansehen. Dann
werden wir entscheiden, ob wir diesem Werk das zukommen lassen, was es eigentlich verdient hat: die Versenkung in den Orkus.
({21})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Hans-Peter
Friedrich für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Weichen für die nächste Stufe der Bahnreform, die Teilprivatisierung, werden gestellt. Die
Große Koalition hat einen Kompromiss gefunden, bei
dem sich die Union durchgesetzt hat
({0})
- hören Sie mir doch erst einmal zu -, was die Struktur
der Privatisierung angeht, und bei dem sich die SPD
durchgesetzt hat, was den Umfang der Privatisierung anbetrifft.
Dr. Hans-Peter Friedrich ({1})
({2})
Insgesamt ist dieser Kompromiss gut.
Wie sieht die Struktur der Privatisierung aus? Das
Wichtigste ist - das ist schon angesprochen worden -,
dass wir die Infrastruktur, also die Schienen, die Bahnhöfe und die Energieversorgung, nicht privatisieren.
({3})
Sie bleibt zu 100 Prozent im Eigentum der DB AG.
({4})
Das ist eine sehr wichtige Entscheidung. Noch vor zwei
Jahren hat Bahnchef Mehdorn von einem integrierten
Börsengang - Betrieb und Infrastruktur - gesprochen;
({5})
unterstützt wurde er damals übrigens von Herrn
Steinbrück und Herrn Tiefensee. Es war wichtig, dass
wir in den letzten zwei Jahren miteinander gerungen haben und letztlich zu der Entscheidung gelangt sind: Das
kommt nicht infrage.
({6})
Damit in Deutschland keine neuseeländischen Verhältnisse Realität werden, lieber Kollege Friedrich, haben
wir verhindert, dass auch nur ein Meter Schiene in die
Hand von Privaten gelangt.
({7})
Was wird privatisiert? Was diese Frage betrifft, wäre
ich sehr dankbar, wenn man in den Äußerungen, die in
der Öffentlichkeit gemacht werden, bei der Wahrheit
bliebe. Die Betriebsgesellschaften der Bahn, mit denen
sie Logistik betreibt - das tut sie übrigens weltweit, nicht
nur in Deutschland -, werden in einem Paket zu einer
Holding zusammengeschnürt. Von dieser Holding werden 24,9 Prozent privatisiert.
Warum machen wir das?
({8})
Ein Aspekt ist, dass auf diesem Wege eine Schienenoffensive finanziert wird. Das ist aber nicht der einzige
wichtige Aspekt. Schauen wir uns das Paket an! Was ist
darin enthalten?
Erstens. In den letzten Jahren hat der Bahnvorstand,
von der Öffentlichkeit unbemerkt, viele Unternehmen
weltweit aufgekauft. Die Bahn - viele wissen das nicht ist heute der größte Stückgutlieferant in Kalifornien
({9})
und betreibt Güterverkehr in Holland und Personenverkehr in England.
({10})
Meine sehr verehrten Damen und Herren von der Linken, erklären Sie dem deutschen Steuerzahler doch bitte
einmal, warum es seine Aufgabe sein soll, all dies zu
finanzieren. Wenn Sie unter den deutschen Steuerzahlern
eine Umfrage durchführen würden, kämen Sie zu dem
Ergebnis, dass sie sagen: All die Firmen, die weltweit
zusammengekauft wurden, müssen privatisiert werden.
({11})
Genau das tun wir.
({12})
Zweitens. In diesem Paket ist auch das Unternehmen
Schenker enthalten; viele von Ihnen kennen es. Schenker
transportiert Güter, aber nicht auf der Schiene, sondern
auf der Straße.
({13})
In jedem Landkreis in Deutschland gibt es Fuhrunternehmen. Die meisten von ihnen sind kleine Mittelständler, die fünf, sechs oder sieben Lkw haben und jeden Tag
gemeinsam mit ihren Mitarbeitern um ihre Existenz
kämpfen müssen.
({14})
Jetzt erklären Sie von der Linken bitte, warum es eine
Staatsaufgabe sein soll, auf deutschen Autobahnen Güter
zu befördern, wie es das zum Staatskonzern gehörende
Unternehmen Schenker tut! Damit werden die Arbeitsplätze der Menschen in den Privatbetrieben von Staats
wegen gefährdet.
({15})
Wie gesagt: In einer entsprechenden Umfrage würde die
Mehrheit der Menschen in Deutschland sagen, dass der
Güterverkehr auf der Straße privatisiert werden muss.
Das tun wir, jedenfalls zu 24,9 Prozent.
({16})
Drittens. Enthalten ist auch der Güterverkehr auf der
Schiene, Railion. Die Wahrheit ist: Es ist nicht so viel
Güterverkehr auf die Schiene verlagert worden, wie wir
es uns erhofft haben; aber der Güterverkehr auf der
Schiene hat deutlich zugenommen. Das ist nicht unbedingt das Verdienst der Deutschen Bahn AG, sondern das
Verdienst vieler Wettbewerber, Hunderter kleiner Unternehmen, die heute Güter auf der Schiene befördern. Wir
wollen, dass dieser Wettbewerb gefestigt und gekräftigt
Dr. Hans-Peter Friedrich ({17})
wird. Deswegen wollen wir DB Railion in den privaten
Wettbewerb entlassen. Aus diesem Grund ist Railion in
dem Paket enthalten, dessen Privatisierung ansteht.
Viertens: der Personennahverkehr. Ich bitte Sie, auch
bei diesem Thema bei der Wahrheit zu bleiben. Für die
Frage, ob ein Zug von Bonn nach Euskirchen, von Berlin
nach Brandenburg an der Havel oder von Hof nach Bad
Steben fährt, ist ausschließlich das Land zuständig; es
bekommt Geld vom Bund und bestellt diese Züge. Dafür
ist nicht die DB AG oder die DB Regio zuständig, sondern das Land. Das wird so bleiben, weil Nahverkehr
Daseinsvorsorge ist.
Heute ist dank Ausschreibungen eine Vielzahl von
Unternehmen auf unseren Bahnhöfen vertreten: Man
sieht inzwischen nicht nur die roten Züge der DB Regio,
sondern auch Züge in vielen anderen Farben. Wenn Sie
sich die Bahnhöfe in Deutschland anschauen, dann stellen Sie fest: Viele kleine Privatbahnen betreiben Wettbewerb, versuchen, im Kampf um die Kunden im Nahverkehr besseren Service oder bessere Preise zu bieten, um
so Geld zu verdienen. Letzten Endes profitieren aber der
Verkehrsträger Schiene und damit diejenigen, die den
Nahverkehr in Anspruch nehmen - die Bürgerinnen und
Bürger -, von diesem Wettbewerb. Wenn es gelingt, dass
eine Privatbahn, weil sie günstigere Kostenstrukturen
hat, auf einer Strecke für den gleichen Preis elf statt zehn
Züge pro Tag anbieten kann, dann profitieren davon die
Menschen im Land. Deswegen soll dieser Bereich privatisiert werden.
Was ist noch in diesem Paket enthalten? Der Personenfernverkehr. Bereits heute bietet die Deutsche Bahn AG
Personenfernverkehr nur auf den Strecken an, auf denen
es sich rechnet, also betriebswirtschaftlich sinnvoll ist.
({18})
Das ist die Konsequenz der Bahnreform, die vor
14 Jahren vollzogen wurde. Wir haben damals gesagt:
Wir müssen den Schienenverkehr wirtschaftlich gestalten. Das wurde erreicht: Die Deutsche Bahn AG fährt
schon heute, vor der Privatisierung, nur auf Strecken, die
sich wirtschaftlich betreiben lassen.
In der Zukunft wird sich der europäische Eisenbahnmarkt öffnen; demnächst wird es auch im Fernverkehr
Wettbewerb geben. Die Franzosen sind entschlossen,
künftig selbst Zugverbindungen von Paris über Deutschland nach Warschau sowie Fernverkehrsverbindungen in
Deutschland anzubieten. Auch in diesem Bereich muss
Wettbewerb hergestellt werden. Begreifen Sie von der
Linken endlich einmal, dass Wettbewerb auch im Hinblick auf die Schaffung von Arbeitsplätzen etwas Gutes
ist; denn nur, wer sich in den Wettbewerb begibt, bleibt
wettbewerbsfähig.
({19})
Es gibt, was das Verhältnis von Bund und Deutscher
Bahn AG in der Vergangenheit anbelangt, einiges zu beklagen, und zwar auch, Kollege Friedrich, einiges aus
den letzten vier Jahren der schwarz-gelben Regierung.
({20})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, in den
sieben Jahren der rot-grünen Koalition haben Sie übrigens zugeschaut, als ein braver Verkehrsminister
Bodewig, der der Bahn nicht genehm war, gestürzt
wurde; Sie haben keinen Widerstand geleistet.
Ich sage Ihnen: Wir werden die Bahn an die Kandare
nehmen.
({21})
Mit der Privatisierung, die wir vornehmen wollen, werden die Voraussetzungen dafür geschaffen.
({22})
Wir werden eine Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung abschließen, in der wir der Bahn klipp und klar sagen: Geld für Instandsetzungen gibt es nur im Gegenzug
für Netzqualität, gibt es nur, wenn Qualitätskriterien erfüllt werden, die wir zusammen mit den Ländern vorgeben, und wenn die Bahn bereit ist, dafür zu sorgen, dass
die Regionalnetze in der Fläche, bei denen es darum
geht, den Wirtschaftsstandort Deutschland in seiner Gesamtheit zu erschließen, in Ordnung gebracht und in
Ordnung gehalten werden.
({23})
Wir werden die DB in dieser Frage an die kurze Leine
nehmen.
Lassen Sie mich etwas zum Umfang der Privatisierung sagen. Die Sozialdemokraten haben sich auf
24,9 Prozent festgelegt.
({24})
Ich gebe zu, dass ich 30 Prozent für richtig gehalten
hätte. Mit 30 Prozent hätte es die Chance gegeben, dass
die Deutsche Bahn AG in den DAX aufgenommen wird,
({25})
und ein DAX-Unternehmen hat in der Regel einen höheren Preis als ein Nicht-DAX-Unternehmen. Herr
Steinbrück muss mit der SPD-Fraktion ausmachen, warum er hier auf Geld verzichtet. Das, was wir beschlossen haben, ist wenigstens ein Schritt in die richtige Richtung, ein Einstieg.
({26})
Ich sage für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion aber
auch: Wir wollen über diese Privatisierung hinaus nicht
auf Biegen und Brechen eine weitere Privatisierung.
({27})
Wir schauen uns jetzt in Ruhe an, was sich entwickelt.
Wir werden das eine oder andere korrigieren.
({28})
Dr. Hans-Peter Friedrich ({29})
Kommende Bundestage werden entscheiden, ob es weitere Privatisierungsschritte gibt,
({30})
vielleicht sogar unter Beifall der Gewerkschaften. Es
drängt uns überhaupt nichts.
Entscheidend ist, dass wir den Einstieg in die Privatisierung haben und dass Infrastruktur - sie gehört zur Daseinsvorsorge und ist somit Staatsaufgabe - und Betriebsgesellschaften - dort kann und muss der
Wettbewerb stattfinden - getrennt behandelt werden. Ich
denke, dass wir mit dieser Lösung einen großen Schritt
in Richtung Zukunft, in Richtung einer Stärkung des
Verkehrsträgers Schiene machen, für die Menschen in
diesem Land und für den Wirtschaftsstandort Deutschland. Ich freue mich auf die Beratungen, die in den
nächsten Wochen anstehen, und darauf, dass wir die
Dinge bald umsetzen können.
Vielen Dank.
({31})
Für die Fraktion Die Linke hat nun der Kollege
Dr. Gregor Gysi das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin
kein Bahnexperte, ich bin Generalist.
({0})
So etwas kennen Sie anscheinend nicht.
Vor 170 Jahren ist in Deutschland damit begonnen
worden, das Eisenbahnnetz aufzubauen. Was Sie jetzt
machen, ist klar: Sie beginnen, die Bevölkerung diesbezüglich zu enteignen. Das ist verheerend.
({1})
1993 hat der Bundestag über die organisatorische Privatisierung gesprochen. Wissen Sie, welche Parteien, als
damals die Gesetze verabschiedet wurden, versprochen
haben, dass der Bund zu 100 Prozent Eigentümer bleiben wird, für immer und ewig? Die Union, die SPD und
die Grünen. Union und SPD haben wieder einmal ein
Versprechen gebrochen; das ist die Wahrheit.
({2})
Ich finde es gut, dass unser Kollege von der CDU/
CSU klar gesagt hat, dass diese Privatisierung der Bahn
lediglich ein Beginn ist. Sie öffnen eine Tür, und dann
wird die Enteignung immer weiter fortschreiten.
({3})
1993 haben Sie - es ist interessant, daran zu erinnern drei Dinge versprochen: Die Bahn wird für die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler billiger werden. Die Bahn
wird ein kundennahes Serviceunternehmen. Die Schiene
wird ihren Anteil am Verkehrsmarkt erhöhen. - Nichts
davon ist eingetroffen. Dagmar Enkelmann sprach am
2. Dezember 1993 für uns und sagte:
Eine private AG muß - das können wir hier relativ
nüchtern feststellen - auf Gedeih und Verderb gewinnorientiert arbeiten. Der Profit ist das Maß aller
Dinge. Da muß das Gemeinwohl zwangsläufig auf
der Strecke bleiben.
({4})
Ausdünnungen und Stillegungen sind die Folge.
Hatte Sie recht oder nicht? Es gab Ausdünnungen, es
gab Stilllegungen; genau so ist es gekommen.
({5})
Der Schienenverkehr kostet die Steuerzahlerinnen
und Steuerzahler heute mehr als 1994; das hat die FDP
schon gesagt. Die Deutsche Bahn AG startete am
1. Januar 1994 - nicht vergessen! - schuldenfrei. Heute
hat sie Schulden in Höhe von 21,5 Milliarden Euro, und
ihr Eigenkapital ist fast aufgezehrt.
({6})
Die Deutsche Bahn AG ist weniger kundennah als die
alte Bundesbahn; denn die Belegschaft wurde im Vergleich zu 1994 halbiert und 500 Bahnhöfe und Tausende
Schalter sind geschlossen worden. Die Verkehrsleistung
der Bahn beim Schienenverkehr lag 2005 unter derjenigen von 1993. Das heißt, der Anteil ist deutlich gesunken.
({7})
Nun kann man sich ja einmal ansehen, welche Erfahrungen andere Länder gemacht haben, die die Bahn privatisiert haben. Die privaten Eisenbahnen in den USA
sind fast verschwunden.
({8})
In Großbritannien führte die Bahnprivatisierung zu
schweren Unfällen, woraus entsprechende Konsequenzen gezogen worden sind. In Neuseeland wird die Bahn
gerade zurückgekauft.
({9})
Ich bitte Sie: Als die Bahn in Neuseeland verkauft
wurde, erbrachte das einen Erlös von 202 Millionen
Euro; jetzt wird sie für 336 Millionen Euro zurückgekauft. Dort wurde also ein tolles Geschäft für die Bürgerinnen und Bürger organisiert.
({10})
Der neuseeländische Finanzminister - das ist kein Linker, meine Damen und Herren von der Union -, erklärte
wörtlich: Der Verkauf der staatlichen Bahn zu Beginn
der 90er-Jahre und der danach folgende Niedergang des
Vermögens war eine schmerzliche Lektion für Neuseeland. - Nun wollen Sie diese Lektion auch für Deutschland. Das ist die Wahrheit.
({11})
Die Bahn gehört zur öffentlichen Daseinsvorsorge.
Sie muss in öffentlichem Eigentum stehen, weil es um
ökologische und soziale Ziele geht; darüber müssen wir
uns verständigen. Gibt es ein Grundrecht auf Mobilität
oder nicht? Ich habe einmal von einer Sozialhilfeempfängerin ein Schreiben bekommen, in dem stand: Es ist
nett, dass du eine Kundgebung organisierst, aber ich
kann nicht hinfahren, weil ich mir das nicht leisten
kann. - Verstehen Sie das? Man muss schon wissen, ob
man Sozialtickets will oder nicht.
({12})
Zur Ökologie sage ich Ihnen auch etwas: Wenn wir
die Gütertransporte von der Straße auf die Schiene verlagern wollen, dann müssen wir günstige Angebote machen und das subventionieren.
({13})
Ein Privater wird das nicht subventionieren. Dann bleiben die ökologischen Probleme bestehen. Das ist der eigentliche Skandal.
({14})
Wir brauchen die Bahn in öffentlichem Eigentum, damit
wir öffentlich darüber streiten und entscheiden können,
meinetwegen auch mit unterschiedlichen Konzepten.
Privatisierung bedeutet doch immer, dass man die Politik
aus der Verantwortung entlässt. Wenn Sie eines Tages alles verkauft haben, dann haben die Kanzlerin und auch
ich diesbezüglich nichts mehr zu entscheiden. Um Ihnen
das ganz klar zu sagen: Das halte ich für eine sehr ungünstige Gemeinsamkeit,
({15})
weil dann die Wahl zwischen uns beiden in dieser Hinsicht für die Bevölkerung keinen Sinn mehr macht.
Außerdem sind Sie bereit, das Grundgesetz wieder zu
verletzen; das muss man einmal ganz klar sagen. Durch
Art. 87 e Grundgesetz wird eine Entscheidung des Bundestages in Form eines Gesetzes verlangt. Sie sagen
aber, dass Sie das ohne Gesetz machen. Gestern hat Ihnen das Bundesverfassungsgericht wieder bestätigt, dass
das Grundgesetz verletzt worden ist. Hier passiert das
Gleiche. Die SPD verletzt auch ihren eigenen Parteitagsbeschluss, was laut Grundgesetz aber erlaubt ist. Das
Grundgesetz zu verletzen, ist laut Grundgesetz aber
nicht erlaubt. Daran muss ich Sie erinnern.
({16})
Nun wird immer gesagt, dass wir dadurch frisches
Geld bekommen. Ich bin ja sehr für frisches Geld.
({17})
- Ja, natürlich. Hören Sie einmal zu! - Ich weiß, dass die
Bahn Geld braucht.
({18})
- Nun warten Sie doch einmal eine Sekunde. - Heute
wurde gesagt, ein Drittel solle dann für Investitionen an
die Bahn gehen.
Machen wir uns das doch einmal klar: Jemand kauft
knapp ein Viertel der Bahn und zahlt dafür einen Kaufpreis. Ein Drittel bekommt er wieder zurück. Da er dann
Eigentümer ist, hat er ja etwas von dem Drittel, das zurückfließt. Das kann man also schon einmal herausrechnen.
({19})
Die Bahn wird ja auch künftig noch durch den Bund
subventioniert; das können Sie nicht leugnen. Knapp ein
Viertel davon bekommt immer der private Eigentümer.
Verstehen Sie?
({20})
Der private Eigentümer ist natürlich furchtbar edel. Er
will nur Geld geben. Ich sage Ihnen aber: Er will auch
noch etwas anderes, nämlich in kürzester Frist mehr
Geld heraushaben. Das bezahlen entweder die Kundinnen und Kunden oder die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler. Das ist die Wahrheit.
({21})
Egal was die SPD jetzt heilig verspricht: Die Privatisierung wird fortgesetzt werden. Das ist die eigentliche
Katastrophe. Außerdem wird die Profitorientierung
deutlich zunehmen. Kommen Sie mir jetzt nicht damit,
dass das ja nur ein kleiner Anteil von 24,9 Prozent ist.
Der Multimilliardär Frederiksen besitzt nur 12 Prozent
der Anteile von TUI, entscheidet aber trotzdem, was verkauft wird und wie hoch die Rendite zu sein hat. Sie
können mir glauben: Die anderen schaffen mit 24,9 Prozent noch deutlich mehr.
({22})
Die privaten Investoren haben ein Motiv, ihr Geld zur
Verfügung zu stellen: Sie wollen mehr Geld herausbekommen.
({23})
Dieses Geld wird gezahlt werden müssen. Das ist die eigentliche Tragik.
Es hat mich immer sehr gewundert, dass Transnet
auch für die Privatisierung war. Der DGB hat sich sehr
darüber geärgert. Heute habe ich erfahren, dass der Vorsitzende der Gewerkschaft, Norbert Hansen, Arbeitsdirektor bei der Deutschen Bahn AG wird. Er bekommt
dieselbe Funktion, die Hartz bei VW hatte, bei der Deutschen Bahn AG. Dort verdient er mehr. Er hat die Seiten
gewechselt und wird künftig dem Vorstand angehören.
Den Rest müssen wir uns denken.
({24})
Die Schienen behalten Sie noch. Ich kenne doch Ihre
Schrittchenpolitik; sie ist nicht neu. Man muss erst die
Tür öffnen - so fängt es an -, und dann geht die Entwicklung weiter. Die privaten Investoren werden tolle
Argumente finden, warum noch mehr verkauft werden
muss. Erst erwerben sie 30 Prozent der Anteile; dann
werden es 40 Prozent, und so geht die Entwicklung weiter.
({25})
- Ich bitte Sie, darüber nachzudenken. In der Politik gibt
es Wahlen. Es gibt Gründe dafür, dass die Bevölkerung
den Deutschen Bundestag wählen darf, aber nicht den
Vorstand der Deutschen Bahn. Insofern ist die Frage,
was der Vorstand entscheiden darf und was wir entscheiden dürfen, entscheidend für die Demokratie.
({26})
Wenn Sie immer mehr Privatisierungen vornehmen,
dann entlassen Sie immer mehr Bereiche aus der Verantwortung der Politik und machen diesbezüglich die Demokratie bedeutungsloser. Die Linken kämpfen für mehr
Bedeutung der Demokratie. Die Privatiseure hingegen
wollen sie abbauen. Das ist die Wahrheit.
({27})
Wenn denn alles ökologisch und sozial unvertretbar
wird und Unfälle passieren wie in Großbritannien, dann
wird die Regierung eines Tages alles viel teurer zurückkaufen müssen.
({28})
Deshalb ist das, was Sie heute einleiten - eine die Bevölkerung teuer zu stehen kommende Enteignung -, ein
Skandal.
Danke.
({29})
Nächster Redner ist der Kollege Winfried Hermann
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Was die Große Koalition heute zur Privatisierung der Bahn vorlegt, ist nach all dem, was wir über
viele Jahre mit Expertenrat, Modellüberlegungen und
komplizierten Aufrechnungen diskutiert haben, beschämend. Die zurückgezogenen Gesetzentwürfe dazu haben
mehrere hundert Seiten umfasst. Angesichts dessen ist
diese Resolution als Grundlage der Privatisierung eine
Sauerei.
({0})
Es klingt harmlos: Private Investoren werden nur mit
24,9 Prozent beteiligt, und das auch nur an der Hälfte der
Bahn. Es geht also sozusagen um eine Achtelprivatisierung oder um eine Privatisierung light.
({1})
Sie ist scheinbar nicht besonders schlimm, aber wir glauben, dass sie schwerwiegende und fatale Konsequenzen
für die Kunden und den Schienenverkehr im ländlichen
Raum und den neuen Bundesländern hat. Das werden
Sie noch merken.
Wenn Sie die Ziele der Bahnreform, die übrigens in
diversen Anträgen dieser Koalition - nicht irgendeiner
anderen Koalition oder auf irgendwelchen Parteitagen 2006 im Bundestag nochmals bestätigt wurden, und die
Versprechen mit dem vergleichen, was heute vorliegt,
dann werden Sie feststellen, dass das nichts mehr miteinander zu tun hat.
({2})
Es ist nicht mehr die Rede von mehr Schienenverkehr.
Sie weisen nicht nach, wie das funktionieren soll. Es ist
auch nicht mehr die Rede von mehr Wettbewerb. Was ist
stattdessen vorgesehen? In der ganzen Modelldebatte ist
einzig und allein ein Modell übrig geblieben, das sich
immer wieder in Varianten durchgesetzt hat, nämlich der
integrierte Konzernbörsengang. Man hat den Eindruck,
es geht nur darum, den DB-Konzern als integrierten
Konzern zu erhalten. Das ist Ihre Variante einer verkürzten Bahnreform.
({3})
Aber, Kolleginnen und Kollegen auch von der CDU/
CSU, dieses Modell ist ein Etikettenschwindel, weil es
weder eine wirkliche Privatisierung bedeutet - es ist übrigens auch nicht marktwirtschaftlich - noch das öffentliche Eigentum sichert. Es sichert auch nicht die Einflussnahme der Politik, wie die SPD es aufgrund Ihres
Parteitagsbeschlusses in Form von Volksaktien zu tun
vorgibt. Es ist ein Etikettenschwindel, weil Sie nicht
wirklich das Eigentum des Bundes schützen und Markt
und Wettbewerb nicht wirklich zulassen.
({4})
Ihr Entwurf sieht keine Neuordnung des Schienenverkehrs, sondern einen Umbau des DB-Konzerns vor. Ursprünglich hieß es, dass man die öffentlichen Aufgaben
klar von den unternehmerischen trenne. Fehlanzeige!
({5})
Der CSU-Kollege Friedrich hat wortreich gefragt, warum der deutsche Steuerzahler den Verkehr und den
Transport in Kalifornien organisieren und finanzieren
solle. Aber, Kollege Friedrich, 75 Prozent des zukünftigen Holding-Transportunternehmens sind in staatlicher
Hand. Genau das, was Sie beklagen, wird fortgesetzt.
({6})
Sie tun nichts für den Wettbewerb und stärken den
Monopolisten.
({7})
Sie sorgen nicht für mehr Transparenz, sondern wollen
ein intransparentes Holdingmodell umsetzen. Am meisten ärgert mich als Parlamentarier, dass Sie nach all den
gescheiterten gesetzlichen Verfahren auf eine gesetzliche
Grundlage gleich ganz verzichten. Übrigens wurde vor
zwei Jahren im Bundestag beschlossen, dass die Bundesregierung zur Privatisierung einen Gesetzentwurf mit
entsprechenden Eckpunkten vorlegen soll. Aber all das
scheint vergessen zu sein.
({8})
Sie haben zwar einen Gesetzentwurf vorgelegt, sind aber
mit sich selbst gescheitert.
Ich komme nun auf die Genossen zu sprechen, die
mutig gesagt haben: Wir werden verhindern, dass mehr
als 24,9 Prozent privatisiert werden. Was ist denn Ihre
Resolution wert? Jede Regierung wird zukünftig nach
Kassenlage und Mehrheit Aktien verkaufen. Dagegen
haben Sie nichts in der Hand. Ihnen bleiben dann nur
noch Ihre mutigen Sprüche.
({9})
Was diese und Ihr auf einem Sonderparteitag geäußerter
Wunsch nach einer Volksaktie wert sind, wissen wir
heute. Keiner von den großen Genossen ist mehr da,
nicht einmal der Kollege Scheer. Schade! Sie haben gekämpft und verloren. Nun halten alle das Maul.
({10})
Sie privatisieren, obwohl Sie vor anderthalb Jahren in
Ihrer Vorlage geschrieben haben: Es kann erst losgehen,
wenn entsprechende Rahmenbedingungen geschaffen
wurden. Wir brauchen einen Netzzustandsbericht. Seit
ewigen Zeiten warten wir nun darauf. Bislang liegt er
nicht vor. Des Weiteren haben Sie eine Leistungs- und
Finanzierungsvereinbarung gefordert. Aber auch diese
liegt nicht vor. Sie fordern zudem in Ihrem Antrag einen
Beteiligungsvertrag. Auch dieser liegt nicht vor. Sie reden von Regulierung des Wettbewerbs. Aber es gibt
keine Anreize für eine Regulierung. Sie lassen alles weg,
was dringend notwendig ist, wenn man eine Privatisierung angeht. Trotzdem schreiten Sie mutig voran. Ich
halte das für politisch dumm und gefährlich. Es wird die
Möglichkeiten der Politik zukünftig drastisch mindern.
Hier gebe ich dem Kollegen Gysi vollkommen recht.
({11})
Nun sagen manche Genossen, es handele sich nur um
24,9 Prozent, und es gebe keine wirkliche Renditeorientierung. Aber das ist der Einstieg. Es ist doch eine naive
Vorstellung, dass ein Kapitalgeber in ein Unternehmen investiert und - das sind sozialdemokratische Fantasien Maßnahmen zur Verschönerung von Bahnhöfen und zur
Verbesserung des Lärmschutzes finanziert. Das ist doch
Witz pur.
({12})
Natürlich lässt sich mit Ihrer Resolution nicht das Aktienrecht aushebeln. Selbstverständlich wird jeder Aktionär, der 5 oder 10 Prozent der Aktien besitzt, auf eine
Rendite drängen. Sie können noch so schön sozialdemokratisch daherreden, aber das, was Sie sich wünschen,
wird nicht in Erfüllung gehen. Es handelt sich allenfalls
um die Vorstellung von Sozialdemokraten, wie Kapitalismus funktionieren könnte, müsste oder sollte. Es handelt sich tatsächlich um den Einstieg in eine renditeorientierte Bahn.
({13})
Nun zum Verkaufserlös. Viele von Ihnen haben schon
Milliardeneinnahmen versprochen. Hier möchte ich Ihnen Folgendes vorrechnen: Kollege Friedrich und Kollege Beckmeyer, aber auch Herr Tiefensee haben immer
wieder gesagt, man erwarte einen Erlös in Höhe von
8 Milliarden bis 12 Milliarden Euro. Interessanterweise
hat man auch beim ersten Modell genauso viel erwartet.
Damals wollte man die Hälfte verkaufen. Nun will man
mit einem Achtel genauso viel erlösen. Das ist doch
Volksverdummung.
({14})
- Ein Viertel von der Hälfte ist ein Achtel. Zu dem Ergebnis kommen auch Sie, wenn Sie rechnen können. Das
kann man leicht nachvollziehen.
Sie tun so, als könnte man mit einem Achtel genauso
viel erlösen. Gehen wir einmal von 3 Milliarden Euro
aus. 1 Milliarde Euro bekommt Herr Mehdorn, um weltweit einzukaufen. 1 Milliarde Euro bekommt Herr
Steinbrück zur Konsolidierung des Haushalts. Dann
bleibt noch 1 Milliarde Euro beispielsweise für die Verschönerung von Bahnhöfen übrig. Mit diesem Betrag
können Sie vielleicht gerade einmal die Mehrkosten eines Großprojekts wie Stuttgart 21 oder der Strecke
Nürnberg-Erfurt decken. Wenn Sie Glück haben, können
Sie auch das Dach des Berliner Hauptbahnhofs verlängern. Aber mehr ist damit nicht drin.
({15})
Noch ein Wort zum Holdingmodell. Die CDU/CSU
ist stolz, dass sie das Staatseigentum in Form des Holdingmodells gerettet hat.
({16})
Formal haben Sie recht. Aber es ist ein merkwürdiges,
widersprüchliches Konstrukt. Es wird in Zukunft Herr
Mehdorn mit seinem Knappen Hansen das Staatsunternehmen als unser Treuhänder führen. Wir alle glauben
daran. Ein Teil wirtschaftet gemeinwirtschaftlich im
Sinne des Grundgesetzes
({17})
und sichert die Infrastruktur. Das wird vom Steuerzahler
finanziert. Im anderen Teil des Konzerns wird renditeorientiert gearbeitet. Mehdorn hält das alles schön auseinander, das eine für die Allgemeinheit und das andere
für die Rendite. Das ist doch eher eine neue Art von
Selbstbedienungsladen für die Aktionäre. Das wird nie
und nimmer funktionieren.
({18})
Man muss doch wirklich an Märchen glauben, wenn
man glaubt, dass dieses Holdingmodell irgendwie funktionieren kann.
Noch ein Wort zum Wettbewerb. Wie soll eigentlich
Wettbewerb funktionieren, wenn zukünftig der Hauptmonopolist von heute als Unternehmen, an dem der
Staat Anteile in Höhe von 75 Prozent hat, mit vielen
kleinen Unternehmen konkurriert? Das ist doch kein fairer Wettbewerb. Das ist staatsmonopolistischer Kapitalismus in neuer Form. Es wundert mich, dass Sie von der
CDU/CSU das mitmachen und ausgerechnet die Linke
das kritisieren und darauf hinweisen muss, dass das so
nicht funktioniert.
({19})
Ich komme zum Schluss und fasse zusammen. Diese
Art von Teilprivatisierung wird nicht den Bahnkunden
nutzen, und sie wird nicht dem Schienenverkehr nutzen.
Es wird vor allem im ländlichen Raum zu einer Ausdünnung kommen, weil sich der Schienenverkehr dort nicht
rechnet. Die Teilprivatisierung hat jede Menge Nachteile. Die Politik hat kein Mitspracherecht mehr. Das ist
ein Beitrag zur Entparlamentarisierung der Schienenpolitik, weil wir nicht an Gesetzgebungsverfahren beteiligt
sind und weil alles, was in Zukunft geschieht, eine reine
Organisationsfrage der DB AG ist. Wenn überhaupt,
dann gibt es nur eine indirekte Mitsprachemöglichkeit
für die Regierung, von der wir aber wissen, dass sie selten mitspricht, sondern nur das tut, was die Bahn will.
Das wird fortgesetzt. All dies zusammen bringt uns zu
der ganz klaren Meinung: Diese Art von Bahnprivatisierung kann man nur ablehnen.
({20})
Das Wort hat nun Bundesminister Wolfgang
Tiefensee.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der Antrag „Zukunft der Bahn, Bahn der Zukunft - Die Bahnreform weiterentwickeln“ schlägt eine
hervorragende Lösung zur Teilprivatisierung der Deutschen Bahn vor, und das aus sachlichen Gründen.
({0})
Denn all die Ziele, die wir uns gesetzt haben, werden mit
dieser sehr guten Lösung erreicht. Weiterhin wird in dieser Debatte heute deutlich, dass dieser Antrag und damit
diese Lösung auf eine erstaunliche Allianz der Ablehnung stoßen. Schon allein das muss uns zufrieden machen.
({1})
Auf der einen Seite gibt es die Haltung, dass der Konzern zerschlagen werden muss; auf der anderen Seite
wird als Lösung vorgeschlagen, alles möglichst so zu
belassen, wie es ist. Ich denke, dass wir einen sehr guten
Weg gefunden haben, unsere Deutsche Bahn für
Deutschland und für den europäischen und internationalen Markt stark zu machen.
({2})
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Koppelin?
Sehr gern.
Herr Minister, wäre es nicht für den Ablauf der Debatte besser gewesen, wenn Sie gleich zu Beginn das
Wort ergriffen hätten, damit auch die Oppositionsparteien zu Ihrer Rede hätten Stellung nehmen können?
({0})
Stattdessen reden Sie jetzt nach den Oppositionsparteien, und danach sprechen nur noch Vertreter der Regierungskoalition. Wäre es nicht vom Stil her besser gewesen, wenn Sie der Meinung sind, dass Ihre Argumente
stichhaltig sind, dass die drei Oppositionsparteien Gelegenheit gehabt hätten, auf Ihre Rede zu antworten? Sie
sprechen aber jetzt, nachdem die Redezeit der Opposition vorbei ist. Ich persönlich halte das für einen
schlechten Stil.
({1})
Sehr verehrter Herr Abgeordneter, ich denke, Sie haben Gelegenheit gehabt, zum Beispiel auf den Wortbeitrag von Herrn Hübner zu reagieren, der in ähnlicher
Weise unser Modell vorgestellt hat.
({0})
Ich denke, dass das eine gute Lösung ist. Ich bitte Sie
dennoch, meinen Argumenten zu folgen, auch wenn Sie
nicht noch einmal reagieren können.
({1})
Der Minister hat bei allen vorangegangenen Debatten
immer am Anfang gesprochen. Ich denke, dass es bei der
Einbringung eines Antrags des Bundestags legitim ist,
dass der Bundestag zuerst das Wort hat. Darauf legen Sie
Wert.
({2})
Jetzt möchte ich etwas zu den Vorwürfen sagen, um
dann kurz zur Lösung selbst zu kommen.
Herr Gysi, ich darf Sie persönlich ansprechen. Sie haben in entwaffnender Offenheit den Satz geäußert: Ich
bin kein Bahnexperte.
({3})
Sie sind aber offensichtlich ein Experte in der Frage der
Enteignung, und da - Herr Gysi, das muss ich Ihnen sagen - treffen Sie bei mir einen sehr wunden Punkt. Sie
sind offensichtlich auch ein Experte darin, wie man die
Infrastruktur in Ordnung hält. Auch diesbezüglich treffen Sie bei mir aufgrund meiner Erfahrungen einen sehr
wunden Punkt. Sie sind offensichtlich auch ein Experte
darin, wie man der Bevölkerung
({4})
mit Schwarzmalerei, die man Wahrheit nennt, obwohl
sie völlig realitätsfern ist, den Mut nimmt. Auch hier
treffen Sie bei mir einen sehr wunden Punkt.
({5})
Ich lasse mir von einem Vertreter der Linken, der für
eine Regierungszeit von vor 1990 steht - 1976 ist enteignet und das private Engagement kaputt gemacht worden ({6})
nicht sagen, wie man die Infrastruktur in Ordnung hält,
zumal wir die Schäden jetzt mit Milliardenbeträgen beseitigen müssen.
({7})
Ich lasse mir nicht von jemandem, der nach eigenem
Bekunden nichts von der Bahn versteht, erzählen, dass er
die Bedürfnisse der Bevölkerung genau kennt und dass
er deshalb schwarzmalen muss.
({8})
Das ist für mich indiskutabel, und ich halte es für keinen
guten politischen Stil.
Ich möchte Ihnen in zwei Punkten in der Sache widersprechen. Dies betrifft erstens die Frage, ob sich die
Bahn positiv entwickelt hat. Wissen Sie eigentlich noch,
wie hoch die Verschuldung der Bahn 1993/94 war?
({9})
Wissen Sie vor allem auch, sehr verehrter Herr Gysi,
was die Verschuldung in den darauffolgenden Jahren bis
zum Ende der 90er-Jahre mit sich gebracht hätte? Es
wäre zum Konkurs der Deutschen Bundesbahn gekommen, wenn wir nicht zuletzt auch mit der Bahnreform
1993/94 einen Riegel vorgeschoben hätten.
({10})
Zweitens. Ich möchte Ihnen widersprechen, was die
Stilllegung von Strecken anbetrifft. Sagen Sie der Bevölkerung, wann, wo und wie viele Strecken stillgelegt bzw.
entwidmet worden sind.
({11})
Warum sagen Sie nicht, dass die Hauptstreckenstill-
legungen vor 1994 stattgefunden haben? Warum sagen
Sie nicht, dass sie im Osten stattgefunden haben? Warum
sagen Sie nicht, dass sie stattgefunden haben, weil wir
a) völlig unwirtschaftliche Flächen und Strecken hatten
und weil sich b) auch die Verkehrsmittel - Stichwort
„Erdgasbus“ - und das persönliche Mobilitätsverhalten
verändert haben? Wir können mit einem solchen Ansatz,
der nicht auf Wirtschaftlichkeit zielt, sondern lediglich
den Bankautomaten bedienen will, keine Bahnreform
machen.
({12})
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Claus von der Fraktion Die Linke?
Sehr gerne.
Herr Minister, Sie sind soeben auf die Bahn in der
Fläche zu sprechen gekommen. Deshalb möchte ich Sie
fragen: Wie bewerten Sie die Wahrung der Interessen der
Länder und Kommunen im Privatisierungsprozess der
Bahn, und zwar angesichts der Tatsache, dass das Land
Sachsen-Anhalt gestern einen eigenen Gesetzentwurf im
Bundesrat vorgelegt hat, der ausdrücklich die Sicherung
der Landesinteressen zum Gegenstand hat? Es ist hier
allgemein bekannt, dass dort die gleiche Regierungskonstellation aus SPD und CDU tätig ist.
Vielen Dank, Herr Claus, für die Frage. - Die Länder
haben genauso wie der Bund ein berechtigtes Interesse
daran, dass sowohl die Regionalnetze als auch die Fernund Mischnetze in ordentlichem Zustand und gut vertaktet sind. Wir diskutieren mit den Landesverkehrsministern im Rahmen der Verkehrsministerkonferenzen in den
letzten Monaten ausführlich darüber, wo in dieser Zielrichtung Deckungsgleichheit besteht und wo nicht.
Sie wissen, dass die Länder pro Jahr 6,7 Milliarden
Euro - diese Summe wird ab nächstem Jahr um 1,5 Prozent erhöht - an Regionalisierungsmitteln bekommen.
Sie wissen, dass wir für die Instandhaltung des Netzes
jährlich 2,5 Milliarden Euro aufwenden. Das machen
wir nicht, weil wir gegen die Länder, sondern weil wir
mit den Ländern Verkehrspolitik machen. Ich möchte
nicht verhehlen, dass dieses oder jenes Land gerne etwas
mehr Regionalisierungsmittel hätte
({0})
und diesbezüglich etwas mehr Mitsprache einfordert;
das steht allerdings auf einem anderen Blatt.
Ich habe in einem Schreiben, ausgehend auch von der
Länderverkehrsministerkonferenz in der vorletzten Woche in Brüssel, Herrn Daehre, der sich in seiner Eigenschaft als Vorsitzender dieser Länderverkehrsministerkonferenz äußert, zugesichert, dass das umgesetzt wird,
was in einer Arbeitsgruppe vereinbart wurde. Dabei geht
es um die Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung.
Des Weiteren ist die Frage des Netzzustands- und -entwicklungsberichts zu besprechen, und gemeinsam wollen wir zu einer konsensualen Lösung kommen. Ich habe
ihm den Antrag, den wir heute in erster Lesung behandeln, zur Kenntnis gegeben, der beinhaltet, dass die Beteiligung der Länder ausdrücklich durch Sie, meine Damen und Herren, verankert sein wird. Es gibt also keinen
Dissens darüber, dass es einen Beschluss der Verkehrsminister gibt, der sich darauf bezieht, dass es noch mehr
Mitsprache geben soll.
Eine andere Lösung beim Fernverkehr - Sie kennen
den Gesetzentwurf - anzustreben, nämlich die Regelung,
dass der Bund zu guter Letzt auch noch die Fernverkehre
bestellt und bezahlt, das steht auf einem anderen Blatt.
Das müssen wir fachlich ausdiskutieren.
Ich garantiere dafür - das habe ich dem Minister
schriftlich mitgeteilt, und ich sage es hier in aller Öffentlichkeit -: Es wird eine kooperative, gründliche Einbeziehung der Länder in diesen Prozess geben, weil wir die
gleichen Interessen verfolgen.
({1})
Jetzt möchte ich mich gern den Argumenten zuwenden, die von der anderen Seite gekommen sind. Wenn
Sie diese Lösung ablehnen, weil sie auf dem Fundament
des integrierten Konzerns steht, dann nehme ich Ihre
Ablehnung zur Kenntnis und respektiere sie. Ihrer Vorstellung liegt ein völlig anderer Pfad zugrunde als der,
den wir einschlagen wollen. Es stimmt nicht, dass wir
das Verhältnis Schiene/Straße in den letzten Jahren nicht
haben nachhaltig verändern können. Wir haben
40 Prozent Zuwachs beim Güterverkehr; wir haben einen Zuwachs beim Modal Split.
({2})
Sie wissen, dass ein Aufwuchs der Güterverkehrsmenge
um 1 Prozentpunkt ein großer Erfolg ist. Sie wissen,
dass unser Staat schon allein dadurch entlastet ist - ich
verweise auf meine vorigen Ausführungen -, dass wir
verhindert haben, dass der Deutschen Bundesbahn ein
Konkurs drohte.
({3})
Ich bitte, das auch Ihrer Klientel deutlich zu machen.
Meine sehr verehrten Kollegen von der FDP, wir werden mit diesem integrierten Konzern die Aufgaben der
nächsten 15 Jahre wesentlich besser erledigen als mit einem zerschlagenen Konzern. Sie wollen der Bevölkerung weismachen, dass eine Bahn, die sich in den nächsten ein oder zwei Jahren mit sich selbst und ihrer
Zerlegung beschäftigt, effizienter, besser, wettbewerbsfähiger und kundenorientierter sei. Das kann nicht die
Lösung sein.
({4})
Ich nehme sehr gern zur Kenntnis, dass Sie eine andere
Lösung anstreben. Wir verfolgen in dieser Regierungskoalition den integrierten Konzern - 100 Prozent Netz
beim Bund -,
({5})
und wir verfolgen keine Zerschlagung der Güterverkehrs-, Personalverkehrs- und Logistikbranche.
Ich möchte daran erinnern: Diese Zerschlagung ist
von Anfang an Ihr Ziel gewesen. Dieses Ziel haben wir
von Anfang an nicht verfolgt.
({6})
Die Motive Ihres Widerspruchs sind erkennbar.
({7})
Herr Hermann, jetzt möchte ich auf Ihre Argumente
eingehen. Sie haben sehr wortreich von „Etikettenschwindel“ gesprochen und behauptet, alles das, was
vorliegen müsse, liege nicht vor. Ich versichere Ihnen:
Wir werden sehr schnell einen Beteiligungsvertrag vorlegen. Im Antrag steht nämlich, dass er vorgelegt werden
muss.
({8})
Der Beteiligungsvertrag ist die Grundlage für die weiteren Schritte. Dieser Vertrag wird im Laufe der nächsten
Tage vorliegen.
Die Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung ist ein
ganz entscheidendes Element dafür, dass wir die Fläche
bedienen, dass die Qualität erhalten bleibt.
({9})
Die Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung wird in
den nächsten Wochen - noch vor der Sommerpause vorgelegt.
({10})
Sie wird mit den Ländern abgestimmt sein. Der Netzzustands- und -entwicklungsbericht wird in den nächsten
Wochen - ebenfalls noch vor der Sommerpause - vorgelegt.
({11})
Wir werden in der Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung völlig neue Elemente verankern. Dort wird
die Frage beantwortet: Wie können wir das Regionalnetz
in seinem Qualitätsparameter und die hohe Qualität des
Fernnetzes erhalten? Wir werden Pönalen einführen. Es
wird Standards für die Bahnhöfe geben.
({12})
Es wird die Möglichkeit geben, dass wir nicht nur die
Verwendung von Geldern, sondern auch die Erfüllung
der damit verbundenen Aufgaben - die Erreichung einer
hohen Qualität - kontrollieren. Wir werden also eine
ganz neue Art und Weise der Finanzierung der Bahn
durch den Bund schaffen.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Menzner von der Fraktion Die Linke, und gestatten Sie danach eine Zwischenfrage des Kollegen
Hermann von den Grünen?
Sehr gern.
Herr Minister, ich höre, wir können jetzt mit einer
Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung und einem
Netzzustandsbericht rechnen. Das wird mir, seit ich Mitglied des Bundestages bin, immer wieder erzählt. Sie haben jetzt auch einen Zeitraum genannt. Ich möchte, dass
Sie mir ein konkretes Datum nennen, bis zu dem wir die
beiden Papiere vorliegen haben, oder wenigstens hören,
ob wir sie vor der Abstimmung und dem Beschluss übernächste Woche haben werden.
({0})
Vielen Dank, Frau Menzner. - Der Bericht zum Netzzustand, der Netzzustands- und -entwicklungsbericht,
sowie die Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung
werden parallel verhandelt und sind nicht Grundlage
dessen, was wir heute hier zu diskutieren haben.
({0})
Beides läuft parallel. Der Netzzustandsbericht gibt Auskunft über das Netz, meine sehr verehrten Damen und
Herren von der Linken.
({1})
Ich bitte Sie, den Antrag zu lesen; denn darin steht, dass
das Netz - damit sind die Gleise, die Bahnhöfe, die Energie- und die Telekommunikationsleitungen gemeint zu 100 Prozent im Eigentum des Bundes bleibt.
({2})
Niemand kauft da die Katze im Sack bzw. im Netz, vielmehr bleibt die Infrastruktur beim Bund. Wir sorgen nun
erstmals dafür - ich kann nichts dafür, dass es länger gedauert hat, dass es sich nämlich nun schon über zehn
Jahre hinzieht; wir haben uns in dieser Legislaturperiode
intensiv darum bemüht - ({3})
- Dazu komme ich gleich, eine Sekunde.
({4})
- Sie haben nicht so viel Zeit, die Frage zu diskutieren?
Das tut mir leid. - Die Sorge um den Netzzustand bleibt
also eine Aufgabe des Bundes und der DB AG, die wir
vertraglich neu regeln werden. Vor der Sommerpause,
wie aus dem Ihnen vorliegenden Plan ersichtlich, werden wir beide Dokumente vorlegen.
({5})
Jetzt noch der Kollege Hermann.
Herr Minister, Sie haben soeben gehört, dass uns
schon vielmals versprochen wurde, dass demnächst oder
bald oder in den nächsten Tagen der Netzzustandsbericht
bzw. die Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung vorgelegt würden. Können Sie uns denn erklären, warum
das so lange dauert, warum die Vorlage immer wieder
verschoben werden musste, und warum es so schwierig
ist, an Daten eines Unternehmens heranzukommen, das
heute noch zu 100 Prozent dem Bund gehört?
Vielen Dank für die Frage, Herr Hermann. Das kann
ich Ihnen erklären. - Es ist ja ganz einfach, das Wort
„Netzzustands- und -entwicklungsbericht“ auszusprechen; so gerät die Katze ganz schnell ins Netz. Viel
schwieriger ist es aber, Qualitätsparameter zu eruieren,
die auf 250 Meter Streckenlänge genau die Qualität des
Netzes und deren Entwicklungsmöglichkeiten beschreiben, und zwar im Hinblick auf die planfestgestellten
Größen. Das sind, wie Sie wissen, die Stundenkilometer,
die maximal auf einer Strecke gefahren werden dürfen,
und die geometrischen Parameter. Wir haben uns die
Aufgabe gestellt, nicht irgendeinen Bericht zu erstellen,
wo Streckenstücke von 10 Kilometern Länge gemäß
ihrem Zustand mit den Qualitätsparametern rot, rot-gelb,
gelb, gelb-grün oder grün versehen werden, sondern in
diesem Bericht die Qualität von Streckenstücken von
250 Metern Länge zu definieren, um später mit der Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung auch für die Einhaltung der vereinbarten Qualitätsparameter sorgen zu
können.
Das ist eine immense Aufgabe. Hierbei handelt es
sich nicht um irgendein Gewurschtel oder ein Zeichnen
mit dem Filzstift. Das beauftragte Institut hat die Strecken befahren, um so einen Bericht über den tatsächlichen Zustand und nicht über den gefühlten Zustand des
Netzes abgeben zu können. Genau das ist aber nicht so
einfach. Sie können mir glauben, Herr Hermann, ich
hätte lieber vorgestern als heute diesen Bericht vorgelegt. Wir werden ihn aber vorlegen. Ich bin sicher, Sie
werden damit zufrieden sein.
({0})
So viel zu den Berichten und den anderen Punkten,
die angesprochen worden sind.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das, was
wir vorlegen, stellt keine Enteignung dar.
({1})
Es handelt sich nicht um eine Zerschlagung und auch
nicht um einen Etikettenschwindel,
({2})
weil wir wie kein zweites Land - das meine ich wirklich
sehr ernsthaft - die Deutsche Bahn AG auch in Relation
zu ihren Wettbewerbern in den anderen EU-Mitgliedstaaten und ihren Wettbewerbern auf dem Logistikmarkt
im internationalen Maßstab
({3})
fitmachen wollen, ohne unendlich weitere und zusätzliche Steuergelder aufwenden zu müssen und ohne uns in
den nächsten 10 bis 15 Jahren mit dem Auseinanderdividieren eines hochkomplexen Systems beschäftigen zu
müssen.
({4})
Wir wollen privates Kapital für uns nutzbar machen, damit Steuerzahler und Private dafür sorgen, dass dieses
Mobilitäts- und Logistikunternehmen für die Zukunft
gut aufgestellt ist.
Herr Friedrich, weil Sie jetzt zum siebten Mal dazwischenrufen, darf ich noch einmal ganz klar sagen: Die
Deutsche Bahn AG hat im November 2005 einen völlig
anderen Vorschlag vorgelegt. Ich will es nicht hinnehmen, dass der Bundestag bzw. die Bundesregierung ständig als ein Anhängsel, als ein Gehilfe der Deutschen
Bahn denunziert werden, sondern ich möchte, dass Sie
die Fakten zur Kenntnis nehmen, dass das, was der
Bundestag und die Bundesregierung wollen, umgesetzt
wird. Das unterscheidet sich - lesen Sie es bitte nach;
Sie sind schon länger mit der Sache beschäftigt als ich ({5})
fundamental von dem, was wir hier vorlegen. Unser
Konzept beinhaltet eine eigene tragfähige und zukunftsorientierte Lösung, die das Prädikat „Sehr gut“ verdient
und nicht das der Enteignung, der Zerschlagung und
schon gar nicht des Etikettenschwindels.
({6})
Ich lege Wert darauf, dass Sie zustimmen und dass
Sie damit der Bahn die Zukunft eröffnen.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat nun Kollege Dirk Fischer, CDU/CSUFraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
In einem effizienten Gesamtverkehrssystem werden
moderne und leistungsfähige Bahnen dringend gebraucht. Deutschland braucht daher eine effiziente
Schieneninfrastruktur und starke Unternehmen, ganz besonders eine erfolgreiche DB AG. Nach 15 Jahren Bahnreform hat sich dieses Unternehmen immer mehr zu einem modernen, leistungsfähigen und serviceorientierten
Unternehmen entwickelt. Die DB AG von heute ist nicht
mehr die Behördenbahn von gestern. Dies ist zum Vorteil der Fahrgäste und Kunden.
Kundenorientierung steht heute eindeutig im Vordergrund. Das muss verstärkt werden. Hier müssen wir
einen Trend zur Kenntnis nehmen und diesen fördern.
Wir müssen auch dazu beitragen, dass wir die Mitarbeiter bei der Veränderung ihrer Einstellung unterstützen.
Deswegen ist manchmal ein gutes Wort der Anregung
notwendig.
Die Bahn muss sich - das ist eine starke Herausforderung dieser Jahre - auf eine Europäisierung des Eisenbahnverkehrs einstellen. Schon seit Januar 2007 wurde
der gesamte Schienengüterverkehr in der Europäischen
Union liberalisiert. Das heißt, es kann jetzt wechselseitig
grenzüberschreitend gefahren werden.
({0})
Ab 2010 erfolgt die Marktöffnung im grenzüberschreitenden Schienenpersonenfernverkehr. Die Eigenkapitalbasis und Investitionskraft der DB AG müssen gestärkt
werden, damit sie sich der zunehmenden Konkurrenz im
europäischen Schienenverkehr erfolgreich stellen kann.
Angesichts der Beträge, mit denen die SNCF aus Frankreich versucht, in die Märkte anderer Staaten einzudringen, um sich auch dort zu positionieren, wäre es sicherlich ein schwerer Fehler, wenn wir dem in Deutschland
tatenlos zuschauen würden.
({1})
Deswegen - das sollte fraktionsübergreifend unser
Anliegen sein - braucht die DB AG den Zugang zum
Kapitalmarkt. Die Teilprivatisierung der Deutschen
Bahn ist nach meiner Überzeugung dafür der richtige
Weg. Sie verschafft dem Unternehmen frisches Kapital,
um in Deutschland investieren und in Europa konkurrenzfähig bleiben zu können.
({2})
Es ist nach meiner Meinung gut, dass das Eigentumssicherungsmodell endgültig vom Tisch ist.
({3})
Dieses Modell war mit zu vielen haushaltspolitischen
und juristischen Risiken verbunden. Mit dem jetzt vorgelegten Holdingmodell wird nach Auffassung meiner
Fraktion ein Schritt in die richtige Richtung gemacht.
({4})
Ich fand es eindrucksvoll, wie sich insbesondere die
Kollegen der FDP und der Grünen sehr tapfer bemüht
haben, heute die Rolle der Opposition wahrzunehmen,
obwohl eigentlich auch sie diese Denkrichtung verfolgen.
({5})
Wir haben uns immer dafür engagiert - das war ein
gemeinsames Vorgehen -, dass die Infrastruktur, das
heißt das Schienennetz, die Bahnhöfe und die Energieversorgung, beim Staat bleibt, weil dies nun einmal die
Lebensader einer wettbewerbsorientierten Volkswirtschaft ist.
({6})
Das entspricht der grundgesetzlichen und finanziellen
Infrastrukturverantwortung des Staates, der er sich gar
Dirk Fischer ({7})
nicht entziehen kann. Das ist auch bei den Bundesfernstraßen und Bundeswasserstraßen so geregelt.
({8})
Dass nur die Verkehrs- und Logistikgesellschaften
teilweise privatisiert werden, ist völlig richtig und, wie
ich denke, auch dringend notwendig. Ich nenne nur ein
Beispiel: Der Bund muss wahrlich nicht auf Dauer
Volleigentümer des größten deutschen und europäischen
Lkw-Unternehmens bleiben.
({9})
Dies ist nach meiner Auffassung weder ordnungspolitisch noch wirtschaftspolitisch sinnvoll, weil der Bund
dann ständig in Konkurrenz zu Privatunternehmen
stehen würde, die nicht den Vorteil einer faktisch staatlich garantierten Insolvenzfreiheit besitzen.
Gerne wäre natürlich meine Fraktion - dazu waren
wir bereit - weiter als 24,9 Prozent gegangen. Aber jeder
weiß, was Kompromisse so mit sich bringen. Ich denke,
mehr wäre aus wirtschaftlichen Gründen sinnvoller gewesen; denn beim Erlös der Teilprivatisierung wird nun
sicher mit Abschlägen gerechnet werden müssen. Deshalb können aus meiner Sicht die 24,9 Prozent lediglich
ein erster Schritt sein.
Es ist aber, wie ich finde, sehr richtig, schrittweise
vorzugehen. Das haben wir seinerzeit bei der Privatisierung der Lufthansa nicht anders gemacht. Das war ein
Weg von 15 Jahren, bis das Aktienkapital von 85,4 Prozent nicht mehr in öffentlicher Hand war. Auch damals
bestanden am Anfang viele Urängste der Personalvertretung und der Mitarbeiter. Aber durch eine vernünftige
Entwicklung des Unternehmens, durch die Liberalisierung des Marktes, übrigens auch durch die Entwicklung
der Börsenkurse - für den Finanzminister ist es ja immer
sehr spannend, wenn sie im Laufe der Jahre steigen - sowie durch das Mitnehmen der Mitarbeiterschaft des Unternehmens in positivem Sinne war von den Ängsten am
Ende des Prozesses, 1997, als der Bund die restlichen
Aktien verkauft hat, nichts mehr zu hören. Deswegen
sollten wir auch in diesem Fall schrittweise und vernünftig vorgehen und genau die logischen Schritte vollziehen, die ich eben angesprochen habe.
Der Bund zieht sich durch die Teilprivatisierung nicht
aus der Daseinsvorsorge zurück. Er investiert jährlich
rund 3,6 Milliarden Euro in die Instandhaltung und den
Ausbau des Schienennetzes. Wir als Verkehrspolitiker
wünschen uns mehr. Gleichzeitig verzichtete der Bund
bisher trotz der Unternehmensgewinne der DB AG immer auf die Ausschüttung einer Dividende. Auch die gesamten Trassenentgelte,
({10})
quasi die Schienenmaut, jährlich etwa 4,3 Milliarden
Euro - das ist 1 Milliarde Euro mehr als bei der LkwMaut -, bleiben Jahr für Jahr im Unternehmen.
({11})
Das zeigt, dass wir in diesem Bereich große Verantwortung gezeigt haben. Damit ermöglicht der Bund der
DB AG und ihren Mitbewerbern einen eigenwirtschaftlichen Fernverkehr.
Im Nahverkehr gilt das Bestellerprinzip. Dort bestellen die Länder mit den vom Bund zur Verfügung gestellten Regionalisierungsmitteln von rund 7 Milliarden Euro
pro Jahr Zugleistungen bei der DB Regio oder auch bei
anderen Wettbewerbern, die nach Ausschreibung und
Vergabe zum Zuge kommen. Die Länder entscheiden
also, welche Strecken bedient werden, und niemand anders, auch nicht DB Regio. Wer das nicht begreift, hat
die ganze Bahnreform offenbar nicht begriffen. An diesem Prinzip wird auch weiterhin festgehalten. Niemand
anders definiert die Daseinsvorsorge als die Länder, unterstützt von Mitteln aus dem Bundeshaushalt, nicht die
Carrier.
({12})
Die DB Regio muss sich daher auch in Zukunft anstrengen, um bei den ausgeschriebenen Strecken den Zuschlag zu bekommen.
({13})
Im Übrigen ist sie sinnvollerweise dabei, sich stärker im
europäischen Markt, in Drittstaaten, zu positionieren.
Das heißt, eine Europäisierung ist klar erkennbar.
Die Eisenbahninfrastrukturgesellschaften bleiben
weiterhin der DB AG Holding untergeordnet. Da an der
Holding keine Investoren beteiligt werden, bleibt die Infrastruktur wie bisher im 100-prozentigen mittelbaren
Eigentum des Bundes. Kein einziger privater Investor
erhält damit Zugriff auf die Infrastruktur.
Der konzerninterne Arbeitsmarkt bleibt erhalten. Das
ist wichtig für die Arbeitsplatzsicherheit der rund
230 000 Beschäftigten. Wir wollen die Anliegen der Arbeitnehmer ernst nehmen. Dies sind wir den Arbeitnehmern schuldig, da sie über Jahre hinweg den erheblichen
Produktivitätsfortschritt des Unternehmens mit drastischem Stellenabbau überhaupt erst ermöglicht haben.
({14})
Die Mitarbeiterzahl betrug 1994 355 000 und 2008
229 000. Ohne diese Entwicklung wäre die Produktivität
des Unternehmens nicht in die für ein Wirtschaftsunternehmen notwendige Dimension vorgestoßen. Deswegen
haben wir gegenüber den Mitarbeitern eine gewisse Verpflichtung.
Die Vergangenheit hat gezeigt, dass Privatisierungen
in einem erheblichen Umfang zur Schaffung und Sicherung von Arbeitsplätzen beitragen können. Bestes Beispiel ist wiederum die Lufthansa. Aus dem defizitären
Unternehmen, das damals Subventionen brauchte, ist
heute ein solides und prosperierendes Unternehmen geworden. Allein seit 2004 hat die Lufthansa insgesamt
15 000 neue Arbeitsplätze geschaffen. Eine ähnliche
Entwicklung wünsche ich mir bei der DB AG und kann
Dirk Fischer ({15})
sie mir auch sehr gut vorstellen, wenn wir in der richtigen Richtung weiterhandeln.
Ich komme zum Schluss. Die Teilprivatisierung
kommt den Bahnkunden zugute, entlastet die Steuerzahler, stärkt das Eigenkapital des Unternehmens und
schafft die Voraussetzungen für ein Innovations- und Investitionsprogramm, mit dem Kapazitätsengpässe beseitigt werden können. Außerdem trägt die Teilprivatisierung zur Intensivierung von Lärmschutz, zur Sanierung
von Bahnhöfen und auch zur Entschuldung des Bundeshaushaltes bei. Das ist völlig in Ordnung, weil die Schulden des Bundes unter anderem durch die Investitionen in
den Schienenverkehr entstanden sind. Daher muss ein
Teil des Geldes zurückfließen.
Dies ist insgesamt ein guter Weg, den wir unterstützen sollten. Nun muss es darum gehen, in einem zügigen
und sachgerechten Verfahren die dringenden Entscheidungen im Deutschen Bundestag zu treffen. Daran wollen wir engagiert mitwirken.
({16})
Das Wort hat nun Uwe Beckmeyer, SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Seitens der Oppositionsfraktionen ist hier einiges
behauptet worden, das in dieser Debatte noch richtiggestellt werden muss.
Ich möchte mit unserem Antrag, den wir beschließen
wollen, beginnen und seinen Inhalt verdeutlichen; denn
ich habe den Eindruck, dass er bei Ihnen als Zerrbild angekommen ist.
({0})
- Herr Hermann, halten Sie es aus! Ich habe Ihre Rede
ebenfalls ausgehalten.
({1})
Die Mehrheit in Deutschland und insbesondere die
großen Parteien wollen den integrierten Konzern
DB AG erhalten. Das heißt, 100 Prozent der DB AG
werden auch in Zukunft im Eigentum der Bundesrepublik Deutschland sein. Das hat zur Konsequenz, dass wir
als Eigentümer für das Gesamtunternehmen die Verantwortung tragen. Es verändert sich also nichts.
Das Netz, der Energiebereich und die Bahnhöfe werden auch in Zukunft zu 100 Prozent im Eigentum der
Bundesrepublik Deutschland bleiben. Ich sage deutlich:
Auch daran ändert sich nichts.
({2})
- Herr Friedrich, sind Sie fertig? - Gut.
Ich fahre mit meinen Ausführungen fort. Das bedeutet, es verändert sich auf diesem Felde nichts. All diejenigen, die vorher beklagt haben, dass es in diesem Bereich Enteignungen geben wird und dass damit hohe
Milliardenbeträge Privaten in den Rachen geworfen werden, haben unrecht.
Dann bleiben noch die Unternehmensteile Verkehrsunternehmen und Logistik, die zum Teil zur Privatisierung anstehen. Wenn man genau hinschaut, dann sieht
man, dass 75,1 Prozent auch von diesen Unternehmen,
also mehr als Dreiviertel, im Besitz der DB AG und damit des Bundes bleiben.
({3})
Das Risiko, dass Dritte auf den Aufsichtsrat in irgendeiner Form Einfluss nehmen können, geht gegen null.
Das hat zur Konsequenz, dass auch alle aktienpolitischen Instrumente, die wir brauchen, um Infrastrukturinvestitionen durchzuführen und Bahnpolitik durchzusetzen, voll und ganz in der Hand des Bundes und der
DB AG bleiben.
({4})
Das hat zum Ergebnis, dass all Ihre Schwarzmalerei, die
Sie in den Raum stellen, falsch ist.
Es geht darum, dass wir mit einer Beteiligung privaten Kapitals in Höhe von 24,9 Prozent einen Börsengang
des Verkehrsunternehmens organisieren wollen, um auf
diese Art und Weise privates Kapital für Verkehrsleistungen, für Investitionen in die Infrastruktur, in die Strecken und Bahnhöfe, und zu einem Teil für den Bundeshaushalt zu mobilisieren. Darum geht es zurzeit. Die
Vorteile, die damit verbunden sind, sind so überwältigend gut und groß, dass man nur sagen kann: Diese Vorteile übersteigen alle Restbefürchtungen, die es möglicherweise gibt.
Was steht in dem vorliegenden Antrag? Darin steht,
mit welcher Zielrichtung wir die Einnahmen verwenden
wollen. Diese Einnahmen sollen unter anderem zur
Eigenkapitalstärkung der DB AG verwendet werden, die
dies notwendig hat. Wenn man sich den Geschäftsbericht
und die schmale Eigenkapitalbasis der DB AG,
({5})
verglichen mit den Schulden, die sie in den letzten
18 Jahren für Investitionen gemacht hat, anschaut, dann,
so denke ich, ist das vernünftig; denn damit werden die
Finanzkraft und die Eigenkapitalausstattung eines Unternehmens, das zu 100 Prozent der Bundesrepublik
Deutschland gehört, gestärkt. Es ist gut so, dass wir das
tun.
({6})
Der Finanzminister wird ein Drittel der Einnahmen
für seinen Haushalt bekommen. Vorhin ist gesagt worden, wir finanzierten die DB AG ständig aus dem Haushalt, zum Beispiel 2,5 Milliarden Euro für die Infrastruktur - Dirk Fischer hat auf die restlichen Größen
aufmerksam gemacht -, 7 Milliarden Euro für die Regionalverkehre, womit die Länder ihren Regionalverkehr
bestellen können. An dieser Stelle muss man deutlich sagen: Wir haben auch eine Verpflichtung dem Haushalt
gegenüber.
In Bezug auf das letzte Drittel wird ausdrücklich ausgeführt, wofür wir es verwenden wollen: für Infrastrukturinvestitionen in das Netz, für Investitionen in den
Lärmschutz und für Investitionen in deutsche Bahnhöfe.
Es gibt 5 400 Bahnhöfe, und die sehen alle nicht so aus
wie der Hauptbahnhof in Berlin. Hier besteht teilweise
ein hoher Investitionsbedarf. Es ist richtig, dass wir hier
etwas tun; denn die Bahn muss ihr Gesicht gegenüber
dem Kunden in Zukunft verbessern.
({7})
Insofern ist es ein richtiger Weg, den wir hier beschreiten. Er ist konsequent. Es besteht die Chance, dass
wir ihn kontrollieren können. Kollege Hermann hat vorhin von einer Entparlamentarisierung der Bahndebatte
gesprochen. Das ist eine völlig falsche Wahrnehmung.
Das Gegenteil tritt ein. Wir werden mit der vorgesehenen Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung zum ersten Mal ein Instrument haben, mit dem wir die Investitionen, die wir mit unserem Geld finanzieren wollen,
tatsächlich kontrollieren können,
({8})
und zwar aufgrund eines Netzzustandsberichtes und
nicht auf der Basis dessen, was vielleicht irgendwelche
Techniker aufschreiben. Dieser Bericht kann von den
Parlamentariern gelesen und verstanden werden, weil er
nachvollziehbar ist. Dieser Netzzustandsbericht versetzt
uns in die Lage, den Netzzustand und die Netzentwicklung zu steuern.
({9})
Das ist unsere Aufgabe. Daran wird zurzeit gearbeitet.
Wir werden ihn, wie es der Minister ausgedrückt hat, im
ersten Halbjahr dieses Jahres bekommen.
({10})
Ich denke, das ist wichtig.
Zu Herrn Gysi. Herr Gysi, Sie sind zwar kein Bahnfachmann. Aber ich fand Ihre Rede noch schlechter als
die von Lafontaine beim letzten Mal. Es war eine sogenannte Elendstheoretikerrede, bzw. sie war geprägt von,
wie ich neulich im Cicero gelesen habe, sozialistischen
Utopieleichen im Programmkeller. In diese Kategorie
fällt Ihre Rede zu dieser Frage.
({11})
Dazu kann man nur sagen: Populismus, der einzig auf
Emotionen setzt und sich links gibt, aber rechts endet, ist
nicht unsere Sache.
({12})
Insofern denke ich, die Politik und die Perspektive Ihrer
Partei werden bald nicht mehr links sein. Vielmehr werden Sie irgendwann auf der anderen Seite sitzen. Das ist
das Ergebnis dessen, was Sie tun.
({13})
Ich möchte an dieser Stelle noch etwas zu der Personalie Hansen sagen. Hansen ist keine Personalie, die
man einfach so abtut, wie Sie es getan haben. Wenn Sie
sich die deutsche Mitbestimmungslandschaft anschauen,
dann stellen Sie fest, dass es durchaus üblich ist, dass
Gewerkschaftsfunktionäre auch in Arbeitsdirektorenpositionen sitzen. Das ist ein Element der betrieblichen
Mitbestimmung. Ich bitte Sie, das nicht zu diskreditieren, auch nicht im Hinblick auf die Person Hansen.
Kollege Beckmeyer, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Döring?
Herr Döring, bitte.
Herr Kollege Beckmeyer, herzlichen Dank. - Sind Sie
mit mir der Meinung, dass es durchaus interessant ist,
wenn um 12.36 Uhr die Meldung über den Ticker lief,
dass die Stelle eines Arbeitsdirektors geschaffen werden
soll und der Bewerber für diese Stelle schon jetzt von
seiner derzeitigen Position zurücktritt und damit seine
Bewerbung öffentlich macht? Vorstände werden nach
dem deutschen Aktiengesetz eigentlich vom Aufsichtsrat
berufen. Dieser Aufsichtsrat, der zu 100 Prozent durch
vom Bund bestellte Vertreter besetzt ist, hat heute, wenn
ich das richtig sehe, nicht getagt.
({0})
Sind Sie nicht auch der Meinung, dass dieser Vorgang
durchaus interessant ist, wenn man weiß, dass hier um
14 Uhr eine Debatte zu diesem Thema beginnen soll?
Vielleicht können Sie mir eine weitere Frage beantworten: Wie viele Mitglieder der Arbeitsgruppe der SPD
werden als Zeichen der Dankbarkeit in Zukunft ebenfalls
Dienst bei der Bahn tun?
({1})
Herr Döring, an dieser Stelle will ich gar nichts dazu
sagen, weil ich gar nichts dazu sagen kann. Ich bin nicht
Aufsichtsratsmitglied. Ich bin weder bei der Bahn noch
in anderen Bereichen dafür verantwortlich. Das ist eine
Entwicklung, die ich gar nicht kenne. Gegenüber Pressevertretern, die mich gestern dazu befragt haben, habe ich
auch nichts sagen können. Mich hat keiner gefragt. Die
sozialdemokratische Fraktion hat damit nichts zu tun. Es
gibt Gremien, die davon betroffen sind.
({0})
Es gibt einen Aufsichtsratsvorsitzenden und entsprechende Gremien. Das ist deren Entscheidung. Diese Entscheidung hinterfrage ich momentan nicht.
Ich habe lediglich gegenüber Herrn Gysi zum Ausdruck bringen wollen - ich glaube, das ist auch gelungen -,
dass man in diesem Umstand insofern nichts Spektakuläres erblicken kann, als Gewerkschaftsleute im Rahmen
der paritätischen Mitbestimmung schon heute in deutschen Unternehmen mitarbeiten. Ich kenne viele davon
und kann sagen, dass sie einen sehr guten Job machen;
auch das muss einmal deutlich gesagt werden.
({1})
Ich habe an dieser Stelle noch etwas hinzuzufügen.
Vorhin ist zum Ausdruck gebracht worden, dass wir eine
Bahnreform durchführen, die unparlamentarisch ist, die
am Ende zu einer Enteignung führen wird, die dazu führen wird, dass Monopolisten etwas zugeschustert wird
oder das sogenannte böse Kapital Zugang zu dem bekommt, was wir „unsere Bahn“ nennen. Am Ende des
Tages werden wir eine Deutsche Bahn haben, die über
eine bessere Eigenkapitalbasis verfügt. Wir werden ein
Netz in Deutschland haben, das durch zusätzliche Investitionen besser wird, wodurch logistische Transportleistungen noch effizienter durchgeführt werden können.
Wir werden auf bestimmten Streckenabschnitten endlich
die Investitionen bekommen, die absolut notwendig
sind. Letztendlich werden wir in Sachen Wettbewerb etwas hinzufügen, was von einigen in diesem Hause bisher
vermisst wurde.
Insofern meine ich: Schwarzmalerei taugt nichts. Am
Ende werden wir ein vorzeigbares unternehmerisches
Ergebnis haben. Das Ergebnis als solches zählt: mehr
Eigenkapital, bessere Schieneninfrastruktur, bessere
Bahnhöfe und mehr Lärmschutz an deutschen Schienen.
Die Infrastruktureinrichtung Deutsche Bahn, die schon
jetzt zu den besten der Welt gehört, wird am Ende noch
effizienter, noch kundenfreundlicher und damit logistisch noch interessanter als in der Vergangenheit sein.
Herzlichen Dank.
({2})
Ich erteile das Wort nun Kollegen Enak Ferlemann,
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Vor etwa einem halben Jahr habe ich von der
gleichen Stelle aus zum Thema Bahnreform gesprochen.
Damals ist ein Gesetzentwurf in den Deutschen Bundestag eingebracht worden. Ich habe unter anderem ausgeführt, dass wir alle möglichen Modelle und Varianten
noch einmal in die Diskussion einbeziehen werden. Der
Vorschlag stammte von der Regierung bzw. vom Ministerium. Wir haben damals gesagt: Die Parlamentarier
werden letztlich entscheiden; denn die Bahn ist eine Parlamentsbahn und keine Regierungsbahn.
({0})
- Ja, sehen Sie einmal.
Heute stehe ich sehr erfreut hier, weil wir einen guten
Tag für Deutschland haben, nicht nur, weil draußen wunderschönes Wetter ist,
({1})
sondern auch, weil wir eine sehr vernünftige Bahnreform bekommen. Es ist ein sehr gutes Modell. Das sage
ich nicht nur deshalb, weil wir an dem Modell hart gearbeitet haben, sondern auch in der Funktion als Vorsitzender des Unterausschusses Eisenbahninfrastruktur.
Es gab bei der Diskussion viele Irrungen und Wirrungen - das ist hier von einigen Rednern angesprochen
worden -, aber es gab immer Kolleginnen und Kollegen,
die eine klare ordnungspolitische Orientierung gehalten
haben. Ich möchte als Erstes sagen: Ich bin meiner Fraktion außerordentlich dankbar,
({2})
insbesondere den Verkehrspolitikern, dass sie immer
diese Linie gehalten haben, auch wenn es manchmal hart
umstritten war. Ich bin der Bundeskanzlerin und dem
Bundesfinanzminister sehr dankbar dafür,
({3})
dass auch sie letztlich diese ordnungspolitische Linie gehalten haben. Ich darf an dieser Stelle auch den Kollegen
Klaas Hübner besonders erwähnen, für den es mit dem
ordnungspolitischen Ansatz vielleicht nicht immer einfach war, hier für Mehrheiten zu sorgen. Aber es ist eine
gute Bahnreform dabei herausgekommen.
Wir haben zwei wesentliche Essentials, die denjenigen wichtig sind, die ein solches Modell wie das, das
jetzt umgesetzt wird, möchten: eine klare Trennung von
Netz und Betrieb sowie einen staatlichen Teil und einen
teilprivatisierten Teil.
({4})
Ich will Ihnen eines sagen: Ich finde auch den integrierten Konzern gut. Denn der integrierte Konzern sorgt dafür, dass wir im Übergang zu einer solchen Trennung
keine Schwächen im europäischen Wettbewerb zeigen,
sondern einen sehr gut aufgestellten Konzern haben, der
die Bahn betreiben kann.
({5})
Ich glaube, es gibt orientiert an dem Modell von 1994
sehr viele Gewinner der Bahnreform; aber es gibt auch
Verlierer. Einer sitzt dort vorne: Herr Gysi. Er hat überhaupt nicht begriffen, worum es geht.
({6})
Er hat gesagt, dass er von Bahnpolitik nichts versteht.
Das hat er hier bewiesen; das kann man nicht anders sagen. Aber dass es mit der Mathematik bei Ihnen auch
nicht klappt, habe ich vorher nicht gewusst.
Kollege Hermann, Ihre Rechnung müssen Sie mir
noch einmal vormachen: Die Hälfte von der Hälfte ist
ein Achtel vom Ganzen.
({7})
So etwas haben wir überhaupt nicht vorgesehen. Ich
weiß gar nicht, wie Sie auf solche Zahlen kommen.
({8})
Wenn wir unseren Antrag beraten, werden wir in Ruhe
klären können, was es mit Ihrer eigentümlichen Mathematik auf sich hat.
Die Bahnreform hat viele Gewinner. Sie sorgt dafür,
dass die DB Kapital für das Wachstum bekommt. Sie
sorgt dafür, dass das Schienennetz ausgebaut werden
kann; die Seehhafenhinterlandanbindungen sind erwähnt
worden. Die Nutzer bekommen einen diskriminierungsfreien Wettbewerb. Hier wird im Übrigen die Bundesnetzagentur ihre erfolgreiche Arbeit fortführen können. Der
Bundeshaushalt bekommt für die Konsolidierung einen
Teil der Erlöse der Privatisierung. Wir bekommen eine
Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung, durch die
wir Steuerungselemente erhalten, die wir als Parlamentarier so noch nie hatten. Die Bundesländer haben eine
klare Haltung zur Infrastrukturverantwortung des Bundes. Die Kunden bekommen durch mehr Wettbewerb
mehr Leistung für das gleiche Geld, bessere und neue
Angebote im Regional- und Fernverkehr sowie im Güterverkehr.
Dass auch der Transnet-Chef seit heute zu einem großen Gewinner der Bahnreform zählt, wussten wir vorher
so nicht. Ich halte den Zeitpunkt der Ankündigung in der
Tat für geschmacklos; da gebe ich Kollegen Döring
recht.
({9})
Das ist außerordentlich unsensibel. So sollte man mit einem Parlament nicht umgehen. Das wird im Aufsichtsrat
sicherlich für große Diskussionen sorgen.
({10})
Was steht in den nächsten Wochen und Monaten an?
Die Teilprivatisierung müssen wir durch einen Bundestagsbeschluss in 14 Tagen absichern. Wir brauchen die
Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung, Herr Minister, um die Rechte, die wir haben wollen, festzuschreiben. Der Netzzustandsbericht ist angesprochen worden.
Wir müssen die Regulierung weiter ausbauen; Kollege
Hermann, da sind wir gleicher Meinung. Die Anreizregulierung für die Netzbetriebe muss kommen; hier wartet noch ein großes Stück Arbeit auf uns. Wir müssen sehen, wo die Erlöse aus der Kapitalprivatisierung bleiben.
Ich möchte gerne einen Nachweis für die Verwendung
der Mittel haben, die für die Infrastruktur ausgegeben
werden, damit wir nachher nicht erleben, dass die Mittel
nicht so verwendet worden sind, wie wir es wollten.
Diese Maßnahmen werden wir in den nächsten Wochen
und Monaten umsetzen müssen.
Ich stelle fest: Die Bahnreform wird ein sehr großer
Erfolg. Wir sollten gemeinsam an der Umsetzung dieser
Reform für ein zukunftssicheres, umweltfreundliches
und kundenfreundliches Eisenbahnsystem in Deutschland arbeiten.
Herzlichen Dank.
({11})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/9070, 16/8774 und 16/9071 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b
auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Rentenanpassung
- Drucksache 16/8744 - Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({0})
- Drucksache 16/9100 Berichterstattung
Abgeordneter Anton Schaaf
- Bericht des Haushaltsausschusses ({1}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 16/9108 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Hans-Joachim Fuchtel
Waltraud Lehn
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Gesine Lötzsch
Alexander Bonde
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Schneider ({2}), Klaus Ernst, Dr. Lothar
Bisky, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Rente um vier Prozent erhöhen - Dämpfungsfaktoren abschaffen
- Drucksache 16/9068 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({3})
Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
Zu dem Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU
und der SPD liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Damit eröffne ich die Aussprache und erteile dem
Parlamentarischen Staatssekretär Klaus Brandner das
Wort.
({4})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Ich mute Ihnen heute etwas Goethe zu.
({0})
Denn ich habe den Eindruck, es tut gut, diese Debatte
mit ein wenig Geist zu bereichern. Goethe formulierte in
seinen „Maximen und Reflexionen“ den goldenen Satz:
Alle Gesetze sind Versuche, sich den Absichten der
moralischen Weltordnung im Welt- und Lebenslaufe zu nähern.
Ich will jetzt keine höhere Moralität bemühen. Was
den vorliegenden Gesetzentwurf angeht, möchte ich allerdings für uns in Anspruch nehmen, dass wir uns anstrengen, das Richtige zu tun, und dabei auch die Realität und den Lauf von Welt und Leben berücksichtigen.
({1})
- Ja, wir sind stets bemüht. Wir sind dabei aber auch erfolgreich. Das unterscheidet uns vielleicht voneinander.
({2})
Genau das ist es, was wir mit dem Rentenanpassungsgesetz 2008 machen. Wir sind nicht stur und ignorieren
nicht, dass sich die Dinge ändern und dass neue Gesichtspunkte hinzukommen, die zu berücksichtigen sind;
das haben wir auch getan, als wir die Rentenreform angepackt haben. Jetzt haben wir dafür gesorgt, dass unser
Alterssicherungssystem zukunftsfest ist und dass es belastbar und finanzierbar bleibt.
({3})
Viele internationale Experten würdigen unsere Reform als nachhaltig und zukunftsweisend; ich glaube,
das wurde auch in der Anhörung eindruckvoll unterstrichen. Wir nehmen aber auch die Realität zur Kenntnis.
Eine gute Entwicklung bei Wachstum und Beschäftigung beeinflusst die zukünftige Entwicklung der Rentenkassen positiv. Die Dividende dieses Reformerfolgs
bleibt vielen Menschen aber noch vorenthalten.
Darum handeln wir, wie Bundesarbeits- und -sozialminister Olaf Scholz gesagt hat, prinzipienfest, nicht
aber als Prinzipienreiter. Wir setzen unsere solidarische
und nachhaltige Rentenpolitik mit der Rentenanpassung
2008 fort, indem wir dafür sorgen, dass der Aufschwung
auch die Rentnerinnen und Rentner erreicht. Eine Erhöhung der Renten um 1,1 Prozent ist zwar kein großer
Sprung, aber ein verantwortbarer Schritt. Diese Erhöhung ist vor dem Hintergrund dreier Nullrunden und einer nur kleinen Erhöhung im vergangenen Jahr ein klares Signal. Gleichzeitig halten wir an dem Ziel fest, zu
gewährleisten, dass der Beitragssatz zur gesetzlichen
Rentenversicherung bis 2020 die Marke von 20 Prozent
nicht übersteigen wird.
Wir nebeln aber keinen Rauch auf und werfen auch
keine Windmaschinen an, wie es andere tun, zum Beispiel einige Landesarbeits- und -sozialminister und sogar
ein Ministerpräsident, die beim Thema Rente auf große
Aufregung setzen, am Ende aber ohne etwas Handfestes
dastehen werden.
({4})
- Wer sich diesen Schuh anzieht, der muss ihn sich auch
ausgesucht haben; das ist doch völlig klar. Man stellt
manchmal Schuhe hin. Wenn sie genutzt werden, weiß
man, wer zu wem gehört. Schönen Dank für diesen Hinweis!
Zurück zum Thema. Der vorliegende Gesetzentwurf
ist handwerklich sauber und, wie ich finde, klar nachvollziehbar. Bei der Anpassung der Renten, die über
mehrere Jahre verteilt durchgeführt wird, haben wir auch
die zusätzliche Altersvorsorge berücksichtigt, die wir allen jüngeren Beitragszahlern ausdrücklich nahelegen.
Das steht noch viermal an, und dann ist dieser Faktor erledigt. Jetzt verschieben wir das um zwei Jahre und ermöglichen damit eine Rentenerhöhung um 1,1 Prozent.
Die beiden ausgesetzten Stufen der Riester-Treppe werden wir in den Jahren 2012 und 2013 nachholen.
({5})
Dadurch werden die Beitragssatzziele erreicht, und die
Rentenfinanzen bleiben stabil.
Ich möchte ehrlich und gerne allen, die jetzt noch
nicht überzeugt sind, zugestehen, dass sie ebenfalls nach
einer goldenen Regel von Goethe handeln, die da lautet:
Man sollte wirklich nicht alles mit sich selbst verarbeiten, sondern manchmal eine kleine Beschwerde
führen, damit man so freundlich zurechtgewiesen
und … aufgeklärt würde.
Ich gehe also gerne auf einige Beschwerden - oder
nennen wir es Gegenargumente - ein, die in den vergangenen Wochen vorgebracht wurden. Da ist zum einen die
Frage, warum trotz des deutlichen Aufschwungs die
Rentenanhebung hinter der Preissteigerung zurückbleibt.
Natürlich liegt das vordergründig schlichtweg daran,
dass bei der Rentenentwicklung grundsätzlich kein Inflationsausgleich garantiert ist; denn die Rente ist eine
Lohnersatzleistung, die direkt an die Entwicklung der
Löhne gekoppelt ist. Die Renten können daher nicht
stärker als die Löhne steigen. Das wäre ungerecht; die
Beitragszahler würden klar benachteiligt.
Zum anderen beobachten wir eine lang bekannte Reihenfolge: Bei jedem Aufschwung steigt zunächst die
Zahl der Beschäftigten, erst danach steigen die Löhne.
Was die Beschäftigung angeht, verzeichnen wir große
Erfolge. Das hat zu einer deutlich größeren Zahl von
Beitragszahlern geführt.
({6})
- Sie wollen doch wohl nicht die Zahlen infrage stellen.
({7})
- Die Zahlen muss man kennen. Exakt. Man muss sie
nicht nur lesen, sondern auch bewerten können und verstehen, dass die Beschäftigung - das ist heute dargestellt
worden - erheblich steigt,
({8})
und zwar nicht nur im Bereich geringfügiger Beschäftigungen, sondern auch im Bereich der voll sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung.
({9})
Die jüngsten Tarifabschlüsse geben uns Grund zur
Annahme, dass es in den kommenden Jahren größere
Rentenanhebungen geben wird. Die Daten, die bis jetzt
bekannt sind, können uns durchweg optimistisch stimmen. Darum ist es genau der richtige Schritt, jetzt die
Riester-Treppe auszusetzen. Bei einer weiterhin positiven Beschäftigungs- und Lohnentwicklung werden in
den kommenden Jahren weitere Anhebungen folgen.
Wenn wir 2012 und 2013 die Riester-Treppe nachholen,
werden wir aufgrund anderer Faktoren, die dann wirken
- zum Beispiel eine zu erwartende Absenkung des Beitragssatzes -, trotz der Dämpfungswirkung höhere Renten erreichen.
Die andere große Frage ist die nach der Finanzierung.
Zunächst zwei klare Antworten: Ja, es stimmt, dass es
die Verschiebung bei der Riester-Treppe nicht zum
Nulltarif gibt. Die Tarife, also die Beiträge, werden
aber - anders als manche vollmundig behauptet haben nicht erhöht.
({10})
- Da ist ein großer Unterschied. Es wurde immer so dargestellt, als käme es zu einer riesigen Beitragssatzerhöhung. - Nein, richtig ist, dass die Beitragssatzsenkung
geringfügig verschoben wird. Ich glaube, das ist im Interesse der Rentnerinnen und Rentner sowie der Beschäftigten in diesem Land. Die Rentenversicherung wird
nicht dauerhaft belastet, weil wir nicht aussetzen, sondern nur verschieben. Wir produzieren keine Defizite,
und trotzdem kann es in der nächsten Dekade zu deutlichen Beitragssatzsenkungen kommen.
Ja, auch das stimmt: Der Bundeshaushalt wird sowohl
durch den Bundeszuschuss zur Rentenversicherung als
auch durch andere Sozialleistungen wie zum Beispiel die
Arbeitslosengeld-II-Leistungen belastet. Wir nehmen
kurzfristige Mehrausgaben bewusst in Kauf, weil die
gute wirtschaftliche Entwicklung Spielräume schafft, die
wir nutzen wollen, und weil dadurch Kaufkraft auch bei
denen entsteht, die es bitter nötig haben, nämlich den
Empfängern von Grundsicherung und Sozialgeld. Unsere Binnenkonjunktur kann diese zusätzliche Kaufkraft
gut gebrauchen; denn sie kann den weiteren Aufschwung tragen. Wir werden die Finanzierung im Bundeshaushalt innerhalb des bisher geplanten Rahmens sicherstellen; dabei schafft die gute Entwicklung Raum.
Alles in allem möchte ich zusammenfassen: Wir handeln prinzipientreu und mit offenen Augen für die Welt
und das wirkliche Leben. Es handelt sich also im
Goethe’schen Sinne um ein gutes Gesetz. Zum Schluss
möchte ich sagen, dass wir ein wesentliches Ziel nicht
aus den Augen verlieren dürfen: Am Ende müssen wir
dafür sorgen, dass sich die Löhne in diesem Land besser
entwickeln; denn gute und faire Löhne sind der beste
Garant für ordentliche Renten.
({11})
Deshalb wird es in vielen Fällen notwendig sein, dass
wir als Gesetzgeber eingreifen und mit dafür sorgen,
dass faire Löhne die beste Grundlage für eine gute soziale Sicherung in diesem Land darstellen.
Herzlichen Dank.
({12})
Das Wort hat nun Kollege Heinrich Kolb für die FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Kollege Brauksiepe hat heute Morgen in der Debatte
über die Verlängerung der Altersteilzeit erklärt, die
Union treffe ihre Entscheidungen nicht mit Blick auf
Wahltermine.
({0})
Dazu ist zweierlei zu sagen: Erstens. Es ist zu hoffen,
dass die Union zu ihrer Ablehnung einer erneuten Verlängerung der Altersteilzeit steht.
({1})
Zweitens. Es ist zu hoffen, dass diese Bemerkung mit
Blick auf die aufgehübschte Rentenanpassung nicht gilt.
Auch nach den Beratungen im Ausschuss bleibt es dabei: Die mit dem Gesetz zur Rentenanpassung 2008 erfolgende Manipulation an der Rentenformel ist rein
wahltaktisch bedingt.
({2})
Die Koalition hat im Vorwahljahr Bauchschmerzen,
mit der sich aus der Rentenformel ergebenden Erhöhung
von 0,46 Prozent vor die Rentner zu treten. Vielleicht
hatten einige auch schon das zu Beginn der Woche bekannt gewordene Projekt einer neuerlichen Diätenerhöhung vor Augen, als sie bei der Höhe der Rentenanpassung Handlungsbedarf entdeckten. Dass das Ganze der
Koalition nach der vernichtenden Kritik von Presse und
Wissenschaft eher peinlich ist, zeigt sich daran, dass
über den Entwurf eines Gesetzes zur Rentenanpassung
2008 nur eine Dreiviertelstunde und am Nachmittag debattiert wird. Es hätte uns gut angestanden, wenn wir uns
dafür mehr Zeit genommen hätten.
({3})
Wir kritisieren die Koalition, weil sie mit ihrem Gesetzentwurf ohne Not die in der gesetzlichen Rentenversicherung durch die Reformen der Vergangenheit erreichte Nachhaltigkeit infrage stellt.
({4})
Man kann es auch so sagen: Mit dem Gesetz zur
Rentenanpassung 2008 löst die Koalition ein Problem,
das es ohne das gesetzgeberische Handeln ihrer Regierung nicht gegeben hätte.
({5})
Das ist doch in der Anhörung gesagt worden - Frau
Schewe-Gerigk, Sie werden mir zustimmen -: Wenn die
Regierung die Rentenbeiträge für ALG-II-Empfänger
nicht gesenkt hätte, wenn die Regierung nicht ohne Not
den Rentenbeitrag erhöht hätte, wäre bereits nach der bestehenden Rentenformel rein rechnerisch eine Erhöhung
von etwa 0,9 Prozent herausgekommen.
({6})
Sie lösen also ein Problem, das es ohne Ihr Tun nicht gegeben hätte.
Die Entlastung ist, was den Weg angeht, nicht ohne
Alternativen. Es gibt andere Möglichkeiten, die Rentner
zu entlasten; man muss nicht zwingend an der Rentenformel, die auf Langfristigkeit, Verlässlichkeit angelegt
ist, herumbasteln.
Herr Präsident, der Kollege Niebel möchte eine Zwischenfrage stellen.
({7})
- Das ist unvorbereitet.
Ich freue mich immer über gutes Zusammenspiel in
einer Fraktion. Herr Kollege, Sie haben die Gelegenheit
zur Zwischenfrage.
({0})
Der Kollege Kolb und ich gehören einer Fraktion an,
die durchaus wissbegierig, lernfähig und lernwillig ist.
Deswegen hat mich die Rede des Kollegen Kolb zu einer
Frage animiert.
Der Kollege Kolb hat im Zusammenhang mit der
Rentenformel den Gesichtspunkt der Nachhaltigkeit angesprochen. Ich würde gern wissen: Wenn die Koalition
jetzt aus tagespolitischen Gründen von der Rentenformel
abgeht und bei der Rentenerhöhung würfelt, damit es
mehr wird für die Rentner - zwar nur wenig mehr,
6 Euro im Durchschnitt -, kann denn die Koalition mit
Sicherheit ausschließen, dass, wenn das nächste Mal gewürfelt wird, die Rente außerhalb der Formel gesenkt
wird?
({0})
Dazu will ich erstens sagen: Diese Frage ist nicht vorbereitet; sie ist ohne Netz und doppelten Boden.
({0})
Zweitens will ich sagen: Fragen von Kollegen aus der
eigenen Fraktion sind immer die gefährlichsten.
Drittens will ich dazu sagen: Ich weiß nicht, welche
Zahlen sich noch auf dem Würfel befinden. Aber natürlich ist richtig: Jetzt kommt bei diesem Spiel - ein
Glücksspiel aus Sicht der Rentner - eine Erhöhung heraus. Doch wenn man Manipulationen Tür und Tor öffDr. Heinrich L. Kolb
net, kann es eines Tages ohne Weiteres zu einer Absenkung der Renten kommen. Das ist genau das Problem.
({1})
Herr Präsident, auch der Kollege Weiß möchte eine
nicht abgesprochene Zwischenfrage stellen.
Ich bin ja beruhigt, dass Sie das so betonen; sonst
könnte ich meinen Posten gleich verlassen, und Sie regeln das dann untereinander.
({0})
Herr Kollege Weiß, ergreifen Sie das Wort.
Herr Kollege Kolb, bevor Sie sich in weiteren Rechenbeispielen à la Niebel vergaloppieren,
({0})
möchte ich Sie fragen: Erinnere ich mich richtig, dass
Sie in mehreren Plenardebatten des Deutschen Bundestages und in mehreren Ausschusssitzungen immer wieder gerügt haben, dass es im Jahr 2006 einzig und allein
durch die noch von der rot-grünen Koalition beschlossene Vorfälligkeit der Sozialversicherungsbeiträge, also
durch das Einkassieren von insgesamt 13 Monatseinnahmen für die Rentenversicherung als einen Zweig der Sozialversicherung -, möglich war, dass die Ausgaben der
Rentenversicherung durch die Einnahmen gedeckt wurden?
Ich weiß, worauf Sie hinauswollen. Sie können sich
kürzer fassen.
Konsequenterweise - Sie kritisieren die Vorfälligkeit
immer wieder - hat die FDP also bereits zum
1. Januar 2006 eine Erhöhung des Rentenversicherungsbeitrages für notwendig erachtet. Ist das richtig?
Das ist vollkommen falsch.
({0})
- Das ist vollkommen falsch. Das habe ich Ihnen damals
auch schon erklärt.
({1})
Sie müssen einfach die sozialpolitischen Verschiebebahnhöfe betrachten, für die Sie verantwortlich sind. Im
letzten Jahr wurde der Rentenversicherungsbeitrag für
die Empfänger von ALG II halbiert. In der Rentenkasse
fehlten plötzlich 2 Milliarden Euro, die vorher da waren.
Das hat übrigens auch die Konsequenz, dass die Empfänger von ALG II für ein Jahr der Langzeitarbeitslosigkeit deutlich niedrigere Rentenansprüche erwerben,
nämlich nur noch halb so hohe. Solche Verschiebebahnhöfe haben Sie zuhauf. Ich behaupte sogar, dass Sie mittlerweile wie bei einem Hütchenspieler ein bisschen den
Überblick verloren haben, weil Sie die Dinge immer dort
hinschieben, wo sich gerade das Geld befindet.
({2})
Tatsache ist, dass die jetzige Situation der Rentenversicherung, die Sie offensichtlich zu allerlei Großzügigkeit verleitet, dem Vorziehen der Fälligkeit der Sozialversicherungsbeiträge geschuldet ist. Das ist so.
Herr Weiß, Sie machen einen Denkfehler. Wenn aus
unserer Sicht eine Erhöhung notwendig gewesen wäre,
dann müsste das Geld heute weg sein. Das Geld ist aber
noch da.
({3})
Ich versuche ja immer wieder, Ihnen das zu erklären.
2006 hatte die Rentenkasse einen Bestand von etwa
1,2 Milliarden Euro. Das war die sogenannte Nachhaltigkeitsrücklage. Jetzt sind es etwas über 11 Milliarden
Euro. Das Aufkommen aus dem Vorziehen der Fälligkeit
der Sozialversicherungsbeiträge beträgt etwa 10 Milliarden Euro.
Ich habe immer versucht, Ihnen und auch dem Kollegen Brauksiepe das zu erklären. Angenommen, ich gebe
Ihnen heute einen 500-Euro-Schein - mittlerweile wissen wir, dass es keine 1000-Euro-Scheine gibt -, Sie stecken ihn in Ihr Portemonnaie, vereinnahmen weiterhin
Ihre Bezüge bzw. Ihr Gehalt und tätigen Ihre Ausgaben
für Miete usw. Wenn der 500-Euro-Schein am Ende immer noch da ist, dann ist das der Beweis dafür, dass Sie
mit Ihrem Geld ausgekommen sind.
Die 10 Milliarden Euro sind nach wie vor in der
Nachhaltigkeitsrücklage. Das heißt, auf dieses Vorziehen
hätte verzichtet werden können. Ich bringe es noch einmal auf den Punkt: Eine Beitragserhöhung wäre nicht
die notwendige Konsequenz aus dem Verzicht auf das
Vorziehen der Fälligkeit gewesen.
({4})
Ist das eine hinreichende Antwort auf Ihre Frage? Ich bedanke mich und fahre gerne fort.
({5})
Ich bin der Meinung: Wer die gewünschte Entlastung
mit der Konjunktur begründet, der muss das Rentengeschenk auch aus Steuermitteln und nicht aus Beitragsmitteln bezahlen; denn es sind die Steuerquellen, die
sprudeln, Herr Weiß. Der Bund profitiert von der konjunkturellen Entwicklung, indem seine Einnahmen um
110 Milliarden Euro steigen.
Wenn man das Vorziehen der Fälligkeit herausrechnet, dann erkennt man, dass die Überschüsse der
Rentenkasse die in Aussicht gestellte Rentenerhöhung
nur bedingt hergeben. Wichtig ist, dass die Entlastung
nur vorübergehend ist. Professor Bomsdorf hat das so
gesagt: Bestellt wird jetzt, gezahlt wird später.
({6})
Die Bundesregierung leiht den Rentnern bis zum
Wahltag etwas Geld, das nicht ihr, sondern den Beitragszahlern gehört. Danach zieht sie es wieder ein. So steht
es ja auch schon im Gesetz. Das ist - darauf haben die
Sachverständigen in der Anhörung ausdrücklich hingewiesen - sozusagen die unverzichtbare Geschäftsgrundlage. Von den Rentenversicherungsträgern ist sehr deutlich gesagt worden: Erfolgt die Nachholung nicht, dann
ist der Zielkorridor gemäß dem RV-Nachhaltigkeitsgesetz mit Sicherheit nicht mehr einzuhalten.
Es besteht auch die Gefahr, dass die geplante Entlastung ungewollt zu hoch ausfällt - nicht in diesem, aber
im nächsten Jahr. Nach 1,1 Prozent zum 1. Juli 2008
könnte die Erhöhung im nächsten Jahr angesichts der Tarifvereinbarungen nämlich bei 3,5 Prozent und höher liegen. Das wäre eine große Belastung der Rentenkasse, die
mit einem sich abschwächenden Aufschwung zusammentreffen würde. Dadurch könnte die Kalkulation der
Bundesregierung hinsichtlich der weiteren Entwicklung
der Rentenfinanzen erheblich durcheinandergewirbelt
werden.
Was bleibt? Die Große Koalition hat - das werfe ich
Ihnen vor - in dem Zweig der sozialen Sicherung, der
bislang am besten auf die demografische Herausforderung vorbereitet war, ohne Not große Fragezeichen hinter gesichert erscheinende rentenpolitische Entscheidungen der letzten Jahre gesetzt.
Wer schon in einem Vorwahljahr unaufgefordert
Nachgiebigkeit zeigt, Herr Weiß, wird sicherlich damit
rechnen müssen, in einem Wahljahr mit 14 bis 16 Wahlen - darunter die Bundestagswahl und die Wahl zum
Europaparlament - hinsichtlich seiner Standfestigkeit
getestet zu werden. Darin liegt der eigentliche große rentenpolitische Schaden, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der Union und der SPD.
Herr Staatssekretär, Sie haben Goethe wahrscheinlich
deswegen zitiert,
({7})
weil ich in der ersten Beratung den Zauberlehrling bemüht hatte: „Die ich rief, die Geister, werd ich nun nicht
los.“ Sie liefern mit Ihrem heutigen Vorhaben eine wunderbare Vorlage für die Linke, die folgerichtig - aber,
wie nicht anders zu erwarten, ohne jeden Finanzierungsvorschlag - die von Ihnen vorgesehene Rentenerhöhung
um 1,1 Prozent mit der Forderung nach 4 Prozent mehr
problemlos toppt.
An dieser Stelle vermisse ich die Führung der Bundeskanzlerin. Es genügt nicht, als Regierungschefin die
Manipulation der Rentenformel damit zu kommentieren,
dass das kein ordnungspolitisches Meisterstück sei. Eine
derart lasche Intervention ruft geradezu Nachahmungstäter auf den Plan.
({8})
Jürgen Rüttgers mit seiner Forderung nach der
Sockelrente ist die logische Fortsetzung dieser Entwicklung. Auch hier ist es der Bundeskanzlerin nicht gelungen, das Feuer auszutreten. Der Brand schwelt weiter
und wird zu gegebener Zeit wieder neu entflammen. Zu
groß ist die Neigung in der Koalition - auch in der CDU/
CSU -, mit einer Politik des „Allen wohl und niemand
weh“ auf die Zielgerade zur nächsten Bundestagswahl
einzuschwenken.
Fazit: Es geht in der Union und leider auch in der
SPD - im Hinblick auf das, was Herr Riester an Vorarbeit geleistet hat - derzeit drunter und drüber. Tagespolitik regiert da, wo langfristige Verlässlichkeit gefragt
wäre. Eine klare Linie ist nicht zu erkennen. Das ist das
Fazit der Beratungen des Gesetzentwurfs zur Rentenanpassung.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Das Wort hat nun Peter Weiß, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Nach der Rede des Kollegen Kolb ist eines deutlich geworden: Sie verstehen es meisterhaft, sich Jahr für Jahr
rentenpolitisch zu drehen und genau das Gegenteil von
dem zu behaupten, was Sie im letzten Jahr erklärt haben.
({0})
Lassen Sie mich das verdeutlichen. Herr Kolb hat vor
einem Jahr festgestellt, es sei unanständig, 13 Monatsbeiträge zu vereinnahmen; man vertusche damit die Notwendigkeit einer Erhöhung des Rentenversicherungsbeitrags.
({1})
Im nächsten Jahr, nachdem der Rentenversicherungsbeitrag erhöht und damit seine eigentliche Forderung erfüllt worden ist, stellt derselbe Herr Kolb fest, das sei
verkehrt und hätte nicht gemacht werden dürfen. Er vertritt jedes Jahr das Gegenteil vom Vorjahr.
({2})
Er ist mittlerweile in diesem Parlament die rentenpolitische Unzuverlässigkeit in Person.
Herr Kollege Weiß, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des angesprochenen Kollegen Kolb?
Ja, selbstverständlich.
({0})
Herr Weiß, stimmen Sie mir zu, dass Sie mit Ihrer
Aussage nur dann recht hätten, wenn das Geld aus dem
Vorziehen der Fälligkeit der Sozialversicherungsbeiträge
benötigt worden wäre, um die laufenden Ausgaben der
Rentenversicherung zu decken? Tatsächlich ist doch auf
wundersame Weise die Nachhaltigkeitsrücklage im Jahr
des Vorziehens der Fälligkeit der Sozialversicherungsbeiträge um genau den Betrag angewachsen, den der
13. Monatsbeitrag erbracht hat. Ist damit nicht hinreichend bewiesen, dass man auf das Vorziehen der Fälligkeit hätte verzichten können?
({0})
Verehrter Herr Kollege Kolb, man sollte die Gesetzeslage kennen. Das Gesetz besagt nämlich Folgendes: In
der Rentenkasse ist eine Nachhaltigkeitsrücklage von
mindestens 0,2 Monatsausgaben vorgeschrieben. Der
Beitragssatz zur Rentenversicherung bleibt so lange auf
dem von uns festgelegten Niveau, bis eine Nachhaltigkeitsrücklage von 1,5 Monatsausgaben erreicht wird.
Dann sinkt der Rentenversicherungsbeitrag. Diese Regelung ist vernünftig, weil die Rentnerinnen und Rentner
in unserem Land sicher sein wollen, dass die Rentenversicherung jeden Monat tatsächlich in der Lage ist, aus ihren Einnahmen die Renten auszuzahlen, und dass die
Rente nicht auf Pump ausgezahlt werden muss.
({0})
Herr Kollege Kolb, diese Sicherheit war nach Aussage
aller Fachexperten damals nur mit einer Erhöhung des
Rentenversicherungsbeitrags zu gewährleisten. Das gilt
bis zum heutigen Tag.
({1})
- Entschuldigung, Herr Kolb, Sie haben gerade gesagt:
Manipulation an der Rentenformel, pfui!
({2})
Sie schlagen offensichtlich vor, den Rentenversicherungsbeitrag zu senken, bevor 1,5 Monatsausgaben als
Rücklage erwirtschaftet sind.
({3})
Nicht wir, sondern Sie wollen an der Rentenformel
herumfummeln. Das ist der Punkt. Wir bleiben bei dem,
was im Gesetz steht. Das ist die Wahrheit.
({4})
Was wir heute beschließen, bedeutet keine Manipulation an der Rentenformel. Es handelt sich vielmehr um
eine politisch korrekte und notwendige Antwort auf folgende Situation: Ließen wir das, was gesetzlich vorgesehen ist, wirken, käme es am 1. Juli dieses Jahres zu einer
Rentenanpassung von nur 0,46 Prozent
({5})
- nein, ich habe es gerade erklärt -, und das, obwohl es
in Deutschland Gott sei Dank einen wirtschaftlichen
Aufschwung gibt, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wieder Lohnzuwächse zu verzeichnen haben
und wir wieder anständige Rücklagen in unserer Rentenversicherung haben, weil wir das, was Herr Kolb vorschlägt, nicht gemacht haben. Deswegen haben wir uns
politisch entschlossen, ein Element der Rentenformel
nicht aufzuheben oder zu manipulieren, sondern seine
Wirkung um zwei Jahre auszusetzen, damit die Rentnerinnen und Rentner zum 1. Juli 2008 eine Rentenerhöhung von 1,1 Prozent bekommen. Das finde ich okay.
Das ist sauber gemacht. Es ist sachlich voll und ganz gerechtfertigt.
({6})
Das, was die Oppositionsfraktionen vortragen und
zum Teil in Anträgen als Alternativen vorschlagen, ist
schlichtweg unsolide. Die einen wollen - das ist der Vorschlag von Herrn Kolb - einmalig Schecks an die Rentnerinnen und Rentner verteilen. Die anderen wollen die
Rentenformel ganz abschaffen und die Rente nach Willkür beschließen. Wiederum andere wollen vertuschen,
was sie selbst beschlossen haben, als sie an der Regierung waren. Für all diese angeblichen Alternativen gilt:
Sie sind höchst unsolide und damit auch höchst unsozial.
Der Präsident der Deutschen Rentenversicherung hat
in der Anhörung klipp und klar erklärt: Der von der Koalition eingebrachte Entwurf eines Gesetzes zur Rentenanpassung 2008 ist systematisch, also rentenpolitisch,
voll und ganz in Ordnung. Er hat im Hinblick auf die angeblichen Alternativen festgestellt, dass der Gesetzentwurf der Regierung einen gangbareren Weg darstellt als
andere Konzepte. Wir haben also die höchste Anerkennung und Auszeichnung vom Präsidenten der Deutschen
Rentenversicherung ausgesprochen bekommen. Er weiß,
wie es um die Rente bestellt ist, und hält unseren Weg
für richtig.
({7})
Beachtlich war auch, dass auf Vorschlag von Bündnis 90/Die Grünen Frau Dr. Monika Queisser von der
Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung an der Anhörung zu dem Gesetzentwurf
teilgenommen hat. Sie hat es als einzigartig, ja sogar als
spektakulär bezeichnet, dass wir in Deutschland durch
die Rentenreform
Peter Weiß ({8})
({9})
unser Alterssicherungssystem sowohl an die demografische Entwicklung als auch an die Situation auf dem
Arbeitsmarkt angepasst haben. Sie hat zudem vorgetragen, dass Rentnerarmut in Deutschland im internationalen Vergleich extrem selten ist. Ich muss bei all der ständig vorgetragenen Kritik sagen: Es ist beachtlich, welch
hervorragendes Zeugnis eine internationale Expertin der
deutschen Alterssicherungspolitik am Montag ausgestellt hat. Ich finde, darauf können wir miteinander stolz
sein.
({10})
Ich finde, es ist kein Geschenk, das wir den Rentnerinnen und Rentnern machen. Die Erhöhung von
1,1 Prozent ist in Wahrheit kein riesiger Betrag. Es handelt sich vielmehr um eine angemessene Erhöhung der
Rente für eine Generation von Rentnerinnen und Rentnern, die dieses Land mit aufgebaut haben, die lange in
die Rentenkasse eingezahlt haben, damit das System stabil gehalten haben und die jetzt am Lebensabend darauf
bauen, dass sie von dieser Rente einigermaßen angemessen leben können. Deswegen gibt es keine Alternative zu
unserem Vorschlag, aus 0,46 Prozent wenigstens
1,1 Prozent zu machen.
Es ist übrigens - wie ich glaube, von Herrn Kolb - in
der Ausschusssitzung angemerkt worden, dass es früher
in diesem Parlament üblich war, dass man wichtige rentenpolitische Vorhaben, insbesondere auch die Rentenanpassung,
({11})
in großer Einigkeit zwischen Regierungsfraktionen und
Oppositionsfraktionen beschlossen hat.
({12})
Es geht hier nämlich nicht um eine Regierungs- oder
eine Oppositionsrente, sondern es geht um eine Rente
für alle Rentnerinnen und Rentner in Deutschland. Ich
hätte mir eigentlich gewünscht, dass bei einem solch
kleinen Schritt, den Rentnerinnen und Rentnern wenigstens eine Rentenanpassung von 1,1 Prozent zum
1. Juli 2008 zu ermöglichen, möglichst alle Fraktionen
und alle Kolleginnen und Kollegen des Deutschen Bundestags zustimmen.
({13})
Mit viel Optimismus und Energie haben Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und Unternehmer in den
letzten Jahren wesentlich dazu beigetragen, dass es in
Deutschland wieder aufwärtsgeht, dass wir Wirtschaftswachstum haben, dass die Zahl der Arbeitslosen sinkt,
dass Menschen neu in Arbeit kommen und somit neu
Sozialversicherungsbeiträge, auch in die Rentenversicherung, einzahlen können. Wir wollen, dass die Rentnerinnen und Rentner an diesem Aufschwung teilhaben.
({14})
Deshalb: Ja zur Rentenanpassung 2008.
Vielen Dank.
({15})
Das Wort hat nun Oskar Lafontaine, Fraktion Die
Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Vorredner und auch der Parlamentarische
Staatssekretär, der hier für die Bundesregierung gesprochen hat, erweckten den Eindruck, als müssten wir jetzt
vor Dankbarkeit erstarren, weil die Koalition die Rentnerinnen und Rentner nun doch am Aufschwung beteiligt, wie Sie das formuliert haben. Ich bin sicher: Wenn
jetzt Rentnerinnen und Rentner am Fernsehen zuhören,
werden sie vor Dankbarkeit auf die Knie gehen, weil sie
wirklich nicht mehr wissen, wie sie ihr Glück angesichts
der Großzügigkeit dieser Großen Koalition fassen sollen.
Dennoch will es mir scheinen, dass Sie ein schlechtes
Gewissen haben, dass Sie heute eine Große Koalition
des schlechten Gewissens sind; denn so richtig kam die
Begeisterung, die Sie angesichts der Großzügigkeit einer
Erhöhung von 1,1 Prozent verbreiten wollten, nicht herüber.
({0})
Nun haben der Vorredner Herr Weiß und der Parlamentarische Staatssekretär, aber auch Mitglieder der
Bundesregierung gesagt, man wolle durch diese Maßnahme die Rentnerinnen und Rentner am Aufschwung
beteiligen. Da müssen wir die Frage stellen, was eigentlich der Aufschwung ist. Wenn man jemanden an etwas
beteiligen will, dann muss man wissen, woran. Nach
klassischer Definition ist ein Aufschwung ein reales
Wachstum der Wirtschaft. Einen Aufschwung haben wir
also dann, wenn wir einen realen Zuwachs des Reichtums der gesamten Volkswirtschaft haben. Würde man
also jemanden am Aufschwung beteiligen wollen, dann
müsste es zu einem realen Einkommens- bzw. Kaufkraftzuwachs kommen. Sie aber machen genau das Gegenteil. Was Sie hier machen, ist entweder Zynismus
oder Dummheit - ich weiß nicht, welche Variante ich
jetzt nehmen soll.
({1})
Sie wissen offensichtlich nicht, wovon Sie reden. Wie
kann man angesichts eines erneuten Kaufkraftverlustes
für die Rentnerinnen und Rentner von einer Beteiligung
am Aufschwung reden? Da muss man nicht einmal die
simpelsten wirtschaftlichen Zusammenhänge kennen.
({2})
Aufschwung heißt nun einmal realer Zuwachs des Sozialproduktes. Sie muten den Rentnerinnen und Rentnern
noch einmal einen Kaufkraftverlust zu. Das ist Zynismus
oder Dummheit; ich wiederhole es. Ich fürchte, ich kann
zur Variante Zynismus angesichts der Debatte in diesem
Hohen Hause nicht mehr greifen. Es ist nicht zu fassen.
({3})
Die Rentnerinnen und Rentner haben in den letzten
Jahren einen Kaufkraftverlust von 8,5 Prozent hinnehmen müssen,
({4})
und Sie muten den Rentnerinnen und Rentnern einen erneuten Kaufkraftverlust zu. Das ist die Realität. Meine
Fraktion ist nicht bereit, den Rentnerinnen und Rentnern
nach all den Jahren einen erneuten Kaufkraftverlust zuzumuten. Wir lehnen daher diese Unverschämtheit, die
Sie hier vorlegen, ab. Das sage ich in aller Klarheit.
({5})
- Da lachen Sie auch noch.
({6})
Diejenigen, die uns jetzt zuhören, denken auch daran,
wie wir - das sage ich als Bundestagsabgeordneter - uns
unser Einkommen in den nächsten beiden Jahren erhöhen; selbstverständlich denken sie daran.
({7})
Ich muss Ihnen sagen: Angesichts der Tatsache, dass
sich die Erhöhungen der Diäten auf 16 Prozent summieren, ist das, was Sie der Rentnergeneration zumuten,
eine bodenlose Unverschämtheit. Das sage ich in aller
Klarheit.
Herr Kollege Lafontaine, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Meckelburg?
Dass Sie sich überhaupt noch trauen, sich hier hinzustellen und zu sagen, wir wollen die Rentnerinnen und
Rentner am Aufschwung beteiligen, ist meiner Auffassung nach nicht mehr nachvollziehbar.
({0})
Darf ich noch mal fragen: Der Kollege Meckelburg
möchte eine Zwischenfrage stellen. - Bitte schön.
Herr Lafontaine, ich möchte es in großer Ruhe machen, obwohl mich die Art und Weise, wie Sie es hier
vortragen, sehr erregt. Haben Sie eine Ahnung davon,
wie unser deutsches Rentensystem funktioniert? Es ist
so, dass die Rentenentwicklung der Lohnentwicklung
des Vorjahres folgt. Das, was Sie hier mit Wirtschaftswachstum, allgemeinem Wachstum, Kaufkraftausgleich
vermanschen, hat mit diesem System nichts zu tun. Wissen Sie, dass in der Anhörung auf Nachfrage geantwortet
wurde, dass über die letzten 25 Jahre die Rentner mehr
davon profitiert haben, dass die Rentenentwicklung an
die Lohnentwicklung und nicht an den Inflationsausgleich gekoppelt war?
Ich habe den Eindruck, dass Sie ziemlich viel vermanschen und Populismus betreiben, um die Leute zunächst zu verunsichern und sich anschließend selber als
Retter darzustellen. Deswegen habe ich diese Zwischenfrage gestellt. Sie können sie beantworten oder nicht. Ich
wollte es einfach loswerden.
({0})
Vielen Dank für diese Zwischenfrage. Sie zeigt wieder, dass Sie nicht verstanden haben, was Sie als Rentenreform hier in den letzten Jahren vorgenommen haben.
Sie haben nämlich durch die Dämpfungsfaktoren genau
das Gegenteil von dem erreicht, was Sie jetzt sagen. Sie
haben die Renten von den Löhnen abgekoppelt. Sie wissen überhaupt nicht mehr, was Sie machen.
({0})
Wenn einfache Tatbestände schlicht nicht bekannt
sind oder ignoriert werden, macht es doch keinen Sinn,
hier eine Sachdebatte ernsthaft führen zu wollen.
({1})
Was wir hier feststellen, ist, dass sich schlicht und
einfach immer wieder Abgeordnete zu Wort melden und
als Rentenexperten ausgeben, obwohl sie offensichtlich
überhaupt nicht wissen, was sie angerichtet haben.
({2})
Sie haben die Renten von der Lohnentwicklung abgekoppelt.
({3})
Nun möchte ich Ihnen sagen, wie sich das in Zahlen
darstellt. Es geht nämlich nicht nur um die Renten, die
jetzt ausgezahlt werden. Vielmehr geht es um die
Rentenentwicklung der nächsten Jahre. Es liegen bereits
seit einiger Zeit Zahlen auf dem Tisch, die jeder von Ihnen lesen kann. Die Zahlen sagen Folgendes aus: Jemand, der heute 1 000 Euro in Deutschland verdient ich sage das für die Zuschauerinnen und Zuschauer vor
den Fernsehern, weil es bei Ihnen keinen Sinn mehr
macht -, hat eine Rentenerwartung von 400 Euro. Jemand, der 1 000 Euro in OECD-Ländern verdient, hat
eine Rentenerwartung von 730 Euro. Und da stellen Sie
sich hin und wagen es, dies auch noch zu rechtfertigen.
Es wäre zu wünschen, dass Sie einmal mit ähnlichen
Kürzungen konfrontiert werden, damit Sie wissen, wovon überhaupt die Rede ist, wenn wir über Renten in
Deutschland diskutieren.
({4})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, Sie werden
diese Rentenformel nicht durchhalten.
({5})
Ich sage noch einmal: Sie werden die Dämpfungsfaktoren aus der Rentenformel herausnehmen müssen. Das
wird kein einmaliger Akt gewesen sein. Es ist überhaupt
keine andere Möglichkeit mehr gegeben.
Ich zitiere Herrn Laumann - ich wünschte mir, Sie
würden wenigstens von ihm Lehren annehmen -, der gesagt hat, dass diese Rentenformel so keinen Bestand haben könne.
({6})
Er hat gesagt, dass wir den Niedriglohnsektor „total unterschätzt haben“. Wir werden in Zukunft 8 Millionen
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die jetzt noch aktiv sind, haben, die mit solchen Armutsrenten konfrontiert sein werden.
({7})
Deshalb fasse ich hier zusammen: Sie sitzen ratlos da
und haben ein schlechtes Gewissen. Sie haben die Rentenformel zerstört. Sie haben Altersarmut programmiert.
Was Sie den Rentnerinnen und Rentnern heute zumuten,
ist eine bodenlose Unverschämtheit. Wir lehnen eine solche Vorgehensweise ab.
({8})
Das Wort hat nun Kollegin Irmingard ScheweGerigk, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zweifellos, es stimmt: Es gibt viele Rentnerinnen und
Rentner, die durch die Politik der Bundesregierung an
den Rand ihrer Existenz gebracht wurden, nämlich die
mit den kleinen Renten.
({0})
- Der jetzigen.
Die Ursachen liegen auf der Hand: die Mehrwertsteuererhöhung, die Erhöhung der Pflegeversicherungsbeiträge, die überzogene Erhöhung der Beiträge zur Rentenversicherung, die Halbierung der Beiträge für
Langzeitarbeitslose und die Förderung von Betriebsrenten zulasten der heutigen Rentnerinnen und Rentner.
Jetzt stehen Sie, meine Damen und Herren von der
Großen Koalition, vor dem Scherbenhaufen Ihrer Politik; aber statt zu kitten, zerschlagen Sie neues Porzellan.
Sie versprechen den Rentnern und Rentnerinnen nämlich
Wahlgeschenke, die vergiftet sind; denn sie müssen
diese Wahlgeschenke in den Jahren 2012 und 2013
selbst bezahlen. Bestellt wird heute, bezahlt wird später;
der Kollege Kolb hat es gerade schon gesagt.
Aber auch die künftigen Rentnergenerationen müssen
diese Suppe auslöffeln; denn die wirklich Leidtragenden
der Politik, die Sie hier betreiben, sind die heute 50- bis
60-Jährigen. Über 11 Milliarden Euro kostet Ihr Vorhaben bis zum Jahre 2030. Wenn Sie, Herr Weiß, sagen,
das seien kleine Summen, dann verstehe ich die Welt
nicht mehr.
({1})
Die junge Generation ist zu Recht in Sorge, dass die
Rentenpolitik zukünftig von Wahlterminen abhängig gemacht wird. Das ist keine verlässliche Politik, das ist Politik nach Gutsherrenart. Zwar haben Sie im Ausschuss
versprochen, dies sei ein einmaliger Eingriff in die Rentenformel; aber glauben Sie das wirklich selbst? Wenn
das Wahljahr 2013 ansteht und der Rentenwert 20 Cent
niedriger als der heutige ist - dies wurde in der Sachverständigenanhörung gesagt -, glauben Sie, dass Sie dann
nichts machen werden? Ich glaube das nicht! Für wie
blöd halten Sie eigentlich die Leute?
({2})
Da wir gerade bei den Wahlen sind: Jeder sieht, dass
die Situation im Jahre 2008 wirklich problematisch ist.
Warum Sie aber zusätzlich schon jetzt die Renten für das
Jahr 2009 erhöhen, obwohl Ihnen alle Experten sagen,
dass die Rentensteigerung 2009 sehr viel höher sein
wird, das ist doch mehr als durchsichtig. Herr Kollege
Brandner, wenn Sie in Ihrer Rede mit Bezug auf die
Aussetzung der Riester-Treppe dreimal Goethe zitieren,
dann spricht das für sich.
Auch wir sehen Handlungsbedarf, gerade bei Menschen mit kleinem Einkommen. Ich finde, diese Menschen dürfen für die Versäumnisse dieser Bundesregierung nicht bestraft werden. Denn es stimmt: Wer ein
kleines Einkommen hat, hat große Schwierigkeiten, die
anstehenden Erhöhungen des Beitrags zur Pflegeversicherung, die Kostensteigerungen bei den Lebensmitteln,
den Energiepreisen und den Gütern des täglichen Bedarfs zu verkraften. Deshalb haben wir Ihnen einen EntIrmingard Schewe-Gerigk
schließungsantrag vorgelegt, in dem Akzente gesetzt
werden, die deutlich anders sind als die der Bundesregierung. Es wird bei denjenigen angesetzt, die besonders
schutzbedürftig sind.
({3})
Sie hingegen heben kleine und große Renten gleichermaßen an.
Erstens. Wir fordern die Bundesregierung auf, die
Grundsicherung im Alter endlich auf 420 Euro anzuheben; denn der heutige Regelsatz deckt schon lange nicht
mehr das soziokulturelle Existenzminimum. Darauf haben Sozialexperten und Wohlfahrtsverbände mehrfach
hingewiesen.
({4})
Zweitens. Wir wollen, dass die Halbierung des Rentenversicherungsbeitrags für Langzeitarbeitslose so
schnell wie möglich zurückgenommen wird. 2,19 Euro
Rente im Monat nach einem Jahr Arbeitslosigkeit, das
ist ein Hohn. Diese unsoziale Entscheidung hat die
Große Koalition bereits im Koalitionsvertrag festgelegt
und bis heute nicht zurückgenommen - trotz guter Konjunktur und sprudelnder Steuereinnahmen.
Drittens. Wir wollen nicht, dass die Rentner und
Rentnerinnen durch die sozialabgaben- und steuerfreie
Förderung der Betriebsrenten benachteiligt werden. Dieses Instrument ist als Anreiz für den Abschluss von mehr
Betriebsrenten eingeführt worden. Dass dadurch jetzt
automatisch die Renten gekürzt werden, das war nie das
Ziel. Deshalb fordern wir, dass dieser Kürzungsmechanismus bei der Festlegung des aktuellen Rentenwerts herausgerechnet wird, wie Sie es im Übrigen auch bei den
1-Euro-Jobs gemacht haben. Wir fordern Sie auf, hier
ebenso vorzugehen. Was können die Rentnerinnen und
Rentner dafür, dass wir Betriebsrenten besonders fördern? Das ist ja gerade so, als würden Sie den einen etwas wegnehmen und es den anderen geben und denen,
die am wenigsten haben, am meisten wegnehmen.
Die Bundeskanzlerin hat Anfang April zugegeben,
die Rentenerhöhung sei ordnungspolitisch keine Meisterleistung. Wäre sie selbstkritischer gewesen, dann
hätte sie eingestehen müssen: Die Probleme der niedrigen Rentenanpassung sind hausgemacht und die unmittelbare Folge von politischen Fehlentscheidungen dieser
Großen Koalition.
({5})
Statt die Ursachen zu beseitigen, hat sich die Kanzlerin
für eine Politik entschieden, deren Verantwortung mit
dem Bundestagswahltermin endet.
Ihnen, meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, ist es offenkundig egal, dass die Versicherten
2011 und 2012 auf Beitragssenkungen vergeblich warten
müssen. Es macht Ihnen offensichtlich auch nichts aus,
dass die Rentnerinnen und Rentner in den Jahren 2012
und 2013 Ihre vermeintlichen Geschenke wieder zurückgeben müssen und dann erst recht keine Rentenerhöhungen erwarten können. Das ist keine nachhaltige Politik.
Das ist Wählerverdummung. Deshalb lehnen wir Ihren
Gesetzentwurf ab.
Ein letzter Satz, Herr Präsident: Zum Antrag der Linken, der ja gestern erst eingegangen ist, muss man ja
auch noch etwas sagen. Die Erhöhung der Rente um
4 Prozent und die Abschaffung aller Dämpfungsfaktoren
würde 17 Milliarden Euro kosten. Das ist gerade so, als
würden wir hier im Bundestag den Beschluss fassen,
dass die demografische Entwicklung nicht stattfindet;
wir die Nachhaltigkeit im Rentensystem, die uns die
OECD bescheinigt hat, nicht benötigten, also ein Beschluss von uns ausreichte, um dafür zu sorgen, dass all
das auch so eintritt.
({6})
Ich finde, das ist unglaubwürdig. Deshalb lehnen wir
Ihre Vorschläge ab.
({7})
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat nun Anton Schaaf, SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die außerordentlich gekünstelte Aufregung des Kollegen
Lafontaine,
({0})
der sich um seine Altersvorsorge mit Sicherheit keine
Sorgen machen muss, war schon mehr als erstaunlich.
({1})
Die Art und Weise, wie da Kolleginnen und Kollegen als
ahnungslos oder Ähnliches diffamiert wurden, ist bemerkenswert und besonders stillos.
({2})
Zur Frage der Ahnungslosigkeit sage ich gerne noch
etwas, indem ich die Vorschläge, die Sie in letzter Zeit
gemacht haben, in Bezug zum Rentenversicherungssystem setze, wie es sich entwickelt hat. Ich halte es da mit
der Kollegin Kipping, die in der Frage völlig zutreffend
beschrieben hat, wie Sie zum Rentenversicherungssystem stehen: Sie gab zu, dass Sie schlicht kein rentenpolitisches Konzept haben. Sie bringen zwar jede Menge
Einzelanträge, haben aber überhaupt keine Ahnung, was
diese kumuliert bewirken würden. Auf diese Weise versuchen Sie, die Menschen im Land zu verunsichern.
Nichts anderes betreiben Sie die ganze Zeit.
Schauen wir uns einmal an, welche rentenpolitischen
Forderungen seitens der Linken gestellt werden. Frau
Irmingard Schewe-Gerigk hat diese ja gerade kurz
angesprochen. Es geht ja nicht nur um die Erhöhung um
4 Prozent, die da gefordert wird; es geht ja nicht nur um
die Dämpfungsfaktoren, die zurückgenommen werden
sollen; es geht ja nicht nur um die Angleichung der Ostrenten an das Westniveau, die da gefordert wird; es geht
nicht nur um die Einzelinteressen bestimmter Berufsgruppen, die da bedient werden sollen; es geht ja nicht
nur darum, die Rente mit 67 und die damit zusammenhängenden Faktoren wieder zurückzunehmen. Nein,
wenn man sich das alles anschaut, kann ich dazu nur sagen: Da findet ein rentenpolitischer Blindflug statt, der
uns mit Sicherheit nicht voranbringt,
({3})
sondern im Gegenteil unser Rentensystem, das wir haben und das sich bewährt hat, mit Sicherheit in Gänze
und grundlegend infrage stellt. Ich warne Sie davor, diesen Weg zu gehen.
({4})
Herr Kollege Schaaf, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, der Kollege Schneider wird gleich noch Gegenstand meiner Ausführungen sein. Vielleicht können Sie
sich danach noch einmal melden, Herr Schneider. Dann
wird es nämlich spannend.
Im Ausschuss haben wir gestern die Anhörung ausgewertet. An dem Verhalten der Linken dabei kann man
schön klarmachen, wie die Linke operiert. Das war nämlich wirklich hochinteressant. Die Linke hat immer eine
einzige Stelle aus der OECD-Studie zur Altersvorsorge
zitiert. Das Zitat stimmt sogar, Herr Schneider; das will
ich gar nicht infrage stellen. Es steht an einer Stelle, wo
es um die drohende Altersarmut von Soloselbstständigen
etc. geht. Die Linke hat aber diese Stelle aus der OECDStudie immer separat und isoliert zitiert. Eine in zentraler Funktion an der OECD-Studie beteiligte Person war
nun in der Anhörung, Frau Dr. Queisser. Ich fand es hervorragend, was sie sagte, und danke den Grünen noch
einmal für die Einladung dieser Sachverständigen.
Diese Sachverständige bescheinigt uns, dass die rentenpolitischen Veränderungen und Reformen, die insbesondere Rot-Grün durchgeführt hat, zukunftsweisend
und zukunftsgerichtet sind und wir damit gut aufgestellt
sind. Die Frage der drohenden Altersarmut von Soloselbstständigen sei an der Stelle noch einmal ausgeklammert.
({0})
Ich habe dabei immer angemerkt, dass die OECD den
Bereich der privaten und der betrieblichen Altersvorsorge gar nicht mitberücksichtigt hat.
Der Kollege Schneider geht nun hin und greift immer
die negativen Punkte dieser OECD-Studie heraus. Dort
aber, wo die gleiche Autorin sagt, da habt ihr in Deutschland recht, beschimpft er diese Autorin als neoliberal.
({1})
So, meine Damen und Herren von der LINKEN, ist Ihre
Vorgehensweise.
Herr Lafontaine, auch Sie haben das gerade so gemacht. Ich sage Ihnen, was das ist - ich beziehe mich auf
die Literaten -: Es ist eine Form von Don Quichotte auf
der klapprigen Rosinante. Sie malen sich Ihre Welt selber und machen sich zum Helden.
({2})
Hier kämpft Don Quichotte aber nicht gegen Windmühlen. Man muss es so sagen: Oskar Lafontaine ist nicht
auf einer klapprigen Rosinante, sondern auf einem fehlenden Rentenkonzept unterwegs.
({3})
Er bekämpft keine Windmühlen, sondern den drohenden
Neoliberalismus. Sie malen sich die Welt, wie Sie sie haben wollen, und so argumentieren Sie hier auch.
Es ist schon ziemlich erstaunlich, dass Sie anderen
vorwerfen, sie hätten keine Ahnung von der Rentenpolitik und der -systematik. An Ihrer Stelle würde ich noch
einmal in Ihrer Rede nachlesen; denn aus meiner Sicht
hatte das, was Sie gesagt haben, mit Ahnung nicht viel
zu tun.
({4})
Wir tun für die Rentnerinnen und Rentner jetzt mit Sicherheit nichts Herausragendes; das ist völlig klar. Eine
Rentenerhöhung um 1,1 Prozent wird niemanden dazu
verleiten, eine der Parteien der Großen Koalition im
nächsten Jahr zu wählen. Es ist Unfug, so etwas zu unterstellen. Ich sage: Diese Rentenerhöhung ist das, was
jetzt machbar ist, da die Rentner drei Jahre lang keine
bzw. nur eine ganz kleine Rentenerhöhung bekommen
haben.
Wir haben politisch entschieden, dass wir diesen Zustand in diesem und im nächsten Jahr so nicht beibehalten wollen. Hier spielte ein Dämpfungsfaktor eine wichtige Rolle. Damit Ihnen das klar wird, Frau ScheweGerigk: Es handelt sich um einen Dämpfungsfaktor, der
nicht dauerhaft - er ist kein Nachhaltigkeitsfaktor -, sondern zeitlich begrenzt ist. Er wird auch nicht gänzlich
abgeschafft, sondern nur verschoben.
Es macht aus zwei Gründen durchaus Sinn, so vorzugehen - das möchte ich an dieser Stelle deutlich machen -:
Erstens. Die Riester-Treppe ist ein Stück weit der Gegenpart zur Riester-Förderung. Diese wurde auf Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ausgerichtet, die privat
vorsorgen wollen; sie werden entsprechend gefördert.
Wir sind aber noch lange nicht bei der Zahl von 30 Millionen angekommen, die wir uns gewünscht haben und
die auch möglich wäre. Wir liegen bei 10 Millionen. Wir
können daher einen Teil der Summe, die wir dafür veranschlagt haben, zurückgeben.
Zweitens. In diesem Jahr fand eine Anhebung des Rentenversicherungsbeitragssatzes auf 19,9 Prozent statt;
dieser Punkt ist mir sehr wichtig. In der Tat hätte man
darüber diskutieren können. Die Daten, die uns damals
vorlagen, haben diese 19,9 Prozent vorgegeben. Aus
heutiger Sicht hätten wahrscheinlich auch 19,7 Prozent
gereicht, aus damaliger Sicht aber nicht.
Diese Anhebung des Rentenversicherungsbeitragssatzes wirkt sich bei Anpassungen für die Renterinnen und
Rentner negativ aus.
({5})
Wenn wir die ausgesetzten Stufen der Riester-Treppe in
den Jahren 2012 und 2013 nachholen, kommt es jedoch
zu Senkungen des Beitragssatzes zur Rentenversicherung, die sich für die Rentnerinnen und Rentner positiv
auswirken. Es gibt also inhaltliche Gründe dafür, dies
dann zu tun, wenn es sich für die Rentnerinnen und
Rentner positiver auswirkt als heute.
({6})
Herr Kolb, eines möchte ich zum Schluss im Hinblick
auf Wahltermine und Wahlgeschenke sagen: Wenn man
Gutes tun kann - natürlich stellt sich die Frage, ob es
ausreichend gut ist; dass man alles auch anders bewerten
kann, ist mir klar -, muss man keine Rücksicht darauf
nehmen, dass irgendwann in nächster Zeit Wahlen stattfinden. Wenn man für die Menschen Gutes tun kann,
wenn man ihnen Möglichkeiten eröffnen und im Interesse der Menschen etwas weitergeben kann, dann sollte
man dies unabhängig von Wahlterminen tun. Wir machen das in diesem und im nächsten Jahr. Lassen Sie uns
weiterhin eine so konsistente und zukunftssichere Rentenpolitik betreiben, wie wir es bisher gemacht haben.
Die Dämpfungsfaktoren wirken, und zwar auf Dauer. Sie
werden nun an einer Stelle für zwei Jahre ausgesetzt.
Das ist begründbar, und das ist richtig.
({7})
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich dem
Kollegen Schneider von der Linksfraktion.
Lieber Kollege Schaaf, damit Sie nicht immer etwas
anderes wiederholen müssen: Meine Fraktion hat bereits
im Frühjahr letzten Jahres ein Rentenkonzept beschlossen. Es ist vor zwei Monaten von unserem Parteivorstand noch einmal überarbeitet und erweitert worden.
Die Behauptung, wir hätten kein Rentenkonzept, ist also
schlicht falsch.
Zweiter Punkt. Wenn Sie sagen, wir würden das Rentensystem zerschießen, sage ich Ihnen: Die Einzigen, die
hier ein System zerschossen haben, sind Sie, nämlich indem Sie die Altersvorsorge privatisiert haben.
({0})
Das hat dazu geführt, dass wir in Zukunft bei höheren
Beiträgen, die wir in beide Systeme einzahlen, weniger
herausbekommen. Das ist nachrechenbar und überprüfbar. Ich kann Ihnen die aktuellen Zahlen sagen: Hätten
wir die gesetzliche Rentenversicherung so weitergeführt,
wie sie war, läge der Beitragssatz bei 21,4 Prozent. Das
ist eine Zahl aus der Anhörung. Bei Ihnen geht es um
mindestens die fast 10 Prozent Rentenversicherung plus
3 Prozent Riester, wenn ich den durchschnittlichen Förderungsbetrag abziehe.
Dritter und letzter Punkt. Schon fast eine Unverschämtheit ist Ihr Hinweis auf die OECD-Studie. Ich
sage das hier noch einmal. Wenn ich auf die Tribüne
hochblicke, sehe ich dort viele junge Leute sitzen, die sicherlich einmal Renten bekommen wollen. In der
OECD-Studie steht, dass zukünftig Menschen - die
junge Generation von heute -, die 1 000 Euro brutto verdient haben, eine Bruttorente von 400 Euro bekommen
werden,
({1})
und das bei einem Durchschnitt von 730 Euro in der
OECD. Das heißt, in einem der wirtschaftlich stärksten
Länder der OECD wird der schlechteste Betrag überhaupt ausbezahlt.
({2})
Das hat man auch für andere Gruppen ausgerechnet. Das
sind Fakten, die in der Studie stehen. Jedes Mal stehen
wir im letzten Drittel. Das ist für mich ein Skandal.
Wenn Frau Queisser an der Stelle auf die Idee kommt,
das auch noch loben zu wollen, dann ist das für mich
nichts anderes als wirtschaftsliberales Gedankengut.
Diesen Vorwurf habe ich immer vertreten, und davon
habe ich nichts zurückzunehmen.
({3})
Kollege Schaaf, Sie haben Gelegenheit zur Reaktion.
Ich habe im Zusammenhang mit der OECD-Studie
beschrieben, wie beliebig Sie in Ihrer Argumentationsweise sind. Mal nutzen Sie das eine, mal das andere. Von
der Qualität des Vortrages her war das nichts anderes als
das, was der Herr Kollege Lafontaine vorher gemacht
hat.
Die OECD-Studie - Frau Dr. Queisser hat es klipp
und klar gesagt - macht deutlich, dass wir uns auf den
richtigen Weg gemacht haben. Sie haben ja durchaus
recht, was die Bewertung angeht, was man in ungefähr
30 Jahren bei einem Bruttoverdienst von 1 000 Euro an
Rente bekommen wird. Aber außer Acht gelassen hat
diese OECD-Studie die enormen Anstrengungen, die wir
unternommen haben, was die private und die betriebliche Vorsorge angeht. Wenn man diese Beträge dazurechnet, dann - das sagt auch die OECD-Studie klipp
und klar - kommen wir auf das Niveau, das in Europa
üblich ist.
Von daher kann ich nur sagen: Wenn Sie etwas aus
solchen Studien und Ähnlichem vortragen, dann tragen
Sie das in Gänze vor und nicht selektiv, nicht wie Sie es
gerade politisch brauchen können, um Menschen zu verunsichern. Wir haben uns da auf den richtigen Weg gemacht; da gibt es nichts zurückzunehmen.
({0})
Das Wort hat nun Kollege Max Straubinger, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich
glaube, die heutige zweite und dritte Lesung zeigt sehr
deutlich: Die Bundesregierung und die sie tragenden
Fraktionen sind sich ihrer sozialen Verantwortung bewusst und werden ihr gerecht. Sie haben deshalb die
Rentenanpassung so erhöht, dass die Rentnerinnen und
Rentner am Aufschwung teilnehmen können.
Wenn das heute vielfältigst in Zweifel gezogen worden ist, so muss man auch die Maßstäbe darlegen:
1,4 Prozent durchschnittliche Lohnsteigerung im vergangenen Jahr bedeuten 1,1 Prozent Rentensteigerung
ab dem 1. Juli dieses Jahres. Ich glaube, hier stimmt
auch die Verhältnismäßigkeit. Man kann deutlich erkennen: Das Rentensystem folgt letztendlich auch der Entwicklung der Löhne. Das ist gut so, wie wir heute bereits
feststellen konnten; denn über 25 Jahre hinweg haben
sich die Löhne besser entwickelt als die Preissteigerungsraten.
({0})
Wichtig ist aber nicht nur, die Rentnerinnen und Rentner am wirtschaftlichen Aufschwung teilhaben zu lassen, sondern auch, das Ziel der Beitragssatzstabilität
nicht aus dem Auge zu verlieren. Der Vorschlag, den wir
heute in zweiter und dritter Lesung beraten, wurde auch
in den Anhörungen bestätigt. Er sieht eine Beitragssatzstabilität von 20 Prozent bis zum Jahr 2020 und von
22 Prozent bis zum Jahr 2030 vor. Damit soll nicht nur
Leistungsgerechtigkeit, sondern auch Beitragsgerechtigkeit gewährleistet werden, besonders für die betroffenen
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Das Rentenkonzept, das es angeblich bei der Linken gibt, würde dazu
führen, dass die Beitragszahler mit bis zu 28 Prozent belastet würden.
({1})
Angesichts der derzeitigen Höhe der Beiträge zur Krankenversicherung, zur Arbeitslosenversicherung, zur
Pflegeversicherung und der Höhe der Steuerbelastung
wäre dies eine ungeheure Belastung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben aber
ein Recht darauf, netto mehr ausbezahlt zu bekommen.
Meine Partei hat bereits das Konzept einer Steuerreform
erarbeitet, mit dem die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die Leistungsträger in unserem Land entlastet
werden. Die Linken wollen aber genau das Gegenteil.
({2})
Bei den Anhörungen hat sich gezeigt - auch das ist
eine wichtige Botschaft für die Rentnerinnen und Rentner in Deutschland -, dass wir ein stabiles Rentensystem
haben. Es ist weiterhin gewährleistet, dass sich die Renten wie die Löhne entwickeln. Vor allem können sich die
Rentnerinnen und Rentner auf unser Rentensystem ob
der guten wirtschaftlichen Entwicklung in den vergangenen Jahren, die es dank der Politik der Bundesregierung
gab, verlassen. Die Arbeitslosenzahl wurde um
1,7 Millionen gesenkt. Es gibt 1,1 Millionen mehr sozialversicherungspflichtig Beschäftigte und damit Beitragszahler als beim Amtsantritt dieser Bundesregierung.
Darüber hinaus wurde die Rücklage der Rentenversicherung auf knapp 12 Milliarden Euro erhöht. Im Jahr
2005 war noch ein Vorziehen des Bundeszuschusses notwendig, um die Renten im Dezember des betreffenden
Jahres planmäßig auszahlen zu können. Die Bundesregierung hat erfolgreich die Wende in der Rentenpolitik
geschafft. Es ist meines Erachtens sehr wichtig, darauf
hinzuweisen.
Herr Kollege Kolb, natürlich ist es entscheidend, notwendige Veränderungen immer wieder vorzunehmen.
Ich bitte ausdrücklich darum, nicht immer von Manipulationen und vom Würfeln zu sprechen,
({3})
weil dies unserer Rentenpolitik - auch die in der Vergangenheit - in keiner Weise gerecht wird. In den letzten
Jahren mussten einige notwendige Veränderungen im
Rentensystem durchgeführt werden. Man muss sehen,
dass man in der Rentenpolitik aufgrund neuer Gegebenheiten immer wieder Veränderungen herbeiführen muss.
Unsere Rentenpolitik, die auf Dauer angelegt ist, sichert
die Renten in Deutschland. Es bleibt dabei auch bei der
Leistungsorientierung in der Rente.
({4})
Heute wurde bereits in vielfältiger Weise auf Anträge
eingegangen. Besonders bemerkenswert ist das Vorgehen der Linken, immer mehr zu fordern, aber nie darzustellen, was dies an Belastungen für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bedeutet.
({5})
Der Kollege Lafontaine ist mir heute fast so vorgekommen wie der ehemalige Staatsratsvorsitzende Erich
Honecker,
({6})
der zum 40-jährigen Bestehen des SED-Staates den
Rentnerinnen und Rentnern in Ostdeutschland 330 Ostmark an Mindestrente zugesichert hat. Das ist sozusagen
die Rentenpolitik der Linken, vormals PDS und SED.
Dieser Tradition sind Sie heute noch verhaftet und wollen dementsprechend Rentenpolitik gestalten. Dies lehnen wir ab.
({7})
Ein weiterer Punkt. Kollege Lafontaine hat vieles vermengt. Er hat gefordert, dass sich das Wachstum der
Volkswirtschaft in der Rente niederschlagen muss. Dieser Zuwachs zeigt sich in der Förderung der RiesterRente, Herr Kollege Lafontaine. Die Riester-Rente wird
im Falle von Geringverdienern mit bis zu 80 Prozent gefördert. Das ist eine Leistung unserer Volkswirtschaft
und der Steuerzahler in unserem Land. Diese Förderung
ist ein Anreiz für die jungen Menschen, für das Alter zusätzlich vorzusorgen.
({8})
Es zeigt sich sehr deutlich: Wir haben mit dem heutigen Rentenanpassungsgesetz die bewährte Rentenpolitik
der Vergangenheit fortgeführt. Ich bitte deshalb um Zustimmung.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({9})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten
Entwurf eines Gesetzes zur Rentenanpassung 2008. Der
Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9100, den Ge-
setzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD
auf Drucksache 16/8744 anzunehmen. Ich bitte diejeni-
gen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das
Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? -
Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen
der Oppositionsfraktionen bei - wenn ich es richtig gese-
hen habe - einigen Enthaltungen aus der CDU/CSU-
Fraktion angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Dazu liegen schriftliche Erklä-
rungen nach § 31 unserer Geschäftsordnung von
18 Kollegen vor1). Ich bitte nun diejenigen, die dem Ge-
setzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
1) Anlagen 4 und 5
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der Fraktionen der FDP, der Linken
und der Grünen bei einer Gegenstimme aus der CDU/
CSU-Fraktion und einer Enthaltung aus der CDU/CSUFraktion angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 16/9107. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen von
CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion
Die Linke abgelehnt.
Tagesordnungspunkt 5 b. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/9068 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({0}) gemäß § 62 Abs. 2 der
Geschäftsordnung
- zu dem von den Abgeordneten Jens
Ackermann, Dr. Karl Addicks, Christian
Ahrendt und weiteren Abgeordneten eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Betäubungsmittelgesetzes und anderer Vorschriften
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Harald
Terpe, Birgitt Bender, Elisabeth Scharfenberg,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Gesetzliche Voraussetzungen für heroingestützte Behandlung Schwerstabhängiger
schaffen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Monika
Knoche, Ulla Jelpke, Frank Spieth, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Heroinmodell in die Regelversorgung überführen und Therapiefreiheit der Ärztinnen
und Ärzte schützen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Detlef Parr,
Daniel Bahr ({1}), Heinz Lanfermann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
FDP
Kontrollierte Heroinabgabe in die Regelversorgung aufnehmen
- Drucksachen 16/4696, 16/2075, 16/2503,
16/3840, 16/8886 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Martina Bunge
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Damit eröffne ich die Aussprache und erteile Kollegen Harald Terpe, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, das
Wort.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist empörend, was man beim Thema Heroinbehandlung in letzter Zeit erleben musste. Teile der Union
blockieren nicht nur die Gesetzentwürfe der Opposition
im Ausschuss. Sogar den vergleichbaren Gesetzentwurf
aus dem Bundesrat blockieren sie aus rein ideologischer
Borniertheit.
Worum geht es? Es gibt eine Gruppe von Menschen
in unserer Gesellschaft, die an einer schweren Erkrankung leiden. Sie sind heroinabhängig. Vielen dieser
Menschen kann mittlerweile durch die Substitution mit
Methadon verhältnismäßig erfolgreich geholfen werden.
Es gibt aber das Problem, dass ein kleiner Teil der
schwer Heroinabhängigen mit diesem Therapieangebot
nicht mehr zu erreichen ist. Sie geraten immer stärker in
den Teufelskreis aus Sucht, Krankheit, Kriminalität und
Verelendung. Ihnen könnte eine zeitweilige therapeutische Heroingabe unter strengen Auflagen helfen, sich
aus dem Drogenelend zu befreien. Das belegen sowohl
internationale Erfahrungen als auch besonders eine in
Deutschland durchgeführte und von der Bundesregierung finanzierte Arzneimittelstudie nebst Begleitforschung. Die Rede ist vom sogenannten Modellprojekt
zur heroingestützten Behandlung Opiatabhängiger.
Die überwiegende Mehrheit der Abgeordneten dieses
Hauses - Abgeordnete aus der Opposition und der SPD
und übrigens auch Abgeordnete aus der Unionsfraktion -,
der Bundesrat, die Mehrheit der Ministerpräsidenten,
sämtliche Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker der beteiligten Städte, die meisten Verbände und
Experten sowie die Gewerkschaft der Polizei befürworten nach den Ergebnissen des Modellversuches und ihren eigenen positiven Erfahrungen die Einführung der
Heroinbehandlung für schwer Opiatabhängige. Es geht
nicht um die Legalisierung von Heroin, Herr Kollege
Spahn. Es geht schlichtweg darum, einer kleinen Gruppe
schwerstopiatabhängiger Menschen gesetzlich geregelt
eine letzte Chance zu geben, damit sie wieder eine Wohnung und einen Job suchen, ihr soziales Leben stabilisieren sowie ihre oft zahlreichen Krankheiten und Infektionen behandeln können. So kommen sie aus ihrem Elend
raus.
Wenn diese Tür versperrt wird, führt der Weg zurück
in die Drogenszene. Dann tragen Sie von der Union die
Verantwortung für die Zukunft dieser Menschen. Welche
Zukunft das ist, kann man im aktuellen Bericht der Drogenbeauftragten der Bundesregierung, Frau Bätzing,
nachlesen: Die Zahl der Drogentoten - lange auf einem
hohen Niveau - steigt wieder an.
Herr Spahn hat die Fortsetzung des jetzigen Modellprojekts einmal als guten Kompromiss bezeichnet. Das
ist blanke Heuchelei angesichts der Tatsache, dass sich
der Bund aus der Finanzierung zurückzieht. Wir wissen
nicht nur, dass die Kommunen mit dem Problem der
Schwerstabhängigen finanziell alleingelassen werden,
sondern auch, dass die Union mit ihrer Blockadehaltung
das Ziel verfolgt, die Sache so lange auszusitzen, bis niemand mehr danach fragt. Die Leidtragenden sind die
Schwerstopiatabhängigen.
Mit Ausnahme der Vertreter der Spitzenverbände der
Krankenkassen haben in der Anhörung alle darauf hingewiesen, dass die gesundheitsökonomischen und volkswirtschaftlichen Auswirkungen der Herointherapie positiv zu bewerten sind. Dennoch ziehen Sie von der Union
durchs Land und behaupten das Gegenteil.
Albert Schweitzer hat einmal gesagt:
Humanität besteht darin, dass niemals ein Mensch
einem Zweck geopfert wird.
Sie opfern diese Menschen ihren ausschließlich ideologisch motivierten Vorbehalten. Das ist inhuman.
({0})
Blockade von Oppositionsanträgen ist in diesem Haus
Sitte, aber ich bitte Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der Koalition, trotzdem eindringlich darum, den Gesetzentwurf des Bundesrates nicht länger zu blockieren.
Sie tun das nicht für mich, die Opposition oder den Bundesrat. Sie tun das für Menschen, die sonst keine Chance
im Leben mehr haben.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Ich gebe das Wort der Kollegin Maria Eichhorn,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In Deutschland leben zurzeit schätzungsweise 140 000
Opiatabhängige. Die meisten von ihnen konsumieren
Heroin. Diese Menschen können sich aus ihrer Sucht
nicht mehr selbst befreien. Sie sind auf unsere Hilfe angewiesen.
Herr Terpe, Sie sprachen gerade von Blockade. Bei
der Behandlung dieser Problematik geht es aber nicht
um Blockade. Es gibt schlicht und einfach unterschiedliche Meinungen zu diesem Thema. Ich denke, in einer
Demokratie muss es möglich sein, unterschiedliche Meinungen zu äußern und auszuhalten.
Ziel aller Behandlungsmaßnahmen muss es sein,
möglichst viele der Abhängigen in das bestehende Behandlungssystem zu integrieren, um ihren Gesundheitszustand zu stabilisieren und sie langfristig von ihrer
Sucht zu befreien. Stabilisierung und Abstinenz sind
zwei Seiten derselben Medaille, nicht nur für die CDU/
CSU-Bundestagsfraktion, sondern auch für viele Fachleute, und oberste Maxime jeder Substitutionsbehandlung.
({0})
Das gilt auch für die Behandlung mit Methadon, von der
in Deutschland 62 000 Patienten profitieren.
Diese Ausstiegsorientierung spielt bei der Diamorphinsubstitution jedoch keine Rolle. Der 1998 von der
rot-grünen Bundesregierung vereinbarte Modellversuch
hatte die Aufgabe, die Wirkung der Heroin- bzw. Methadonbehandlung zu vergleichen, jedoch nur im Hinblick
auf die Verbesserung des Gesundheitszustands und den
Rückgang des illegalen Drogenkonsums. Die Ergebnisse
des Modellprojektes lassen nach unserer Meinung keinen sicheren Schluss auf die Überlegenheit der Heroinsubstitution zu. Dieser Ansicht sind übrigens nicht nur
wir, sondern auch viele Fachleute.
({1})
Unsere wichtigsten Kritikpunkte lauten: In der
Gruppe der Heroinpatienten ergab sich bei 80 Prozent
eine Verbesserung des Gesundheitszustandes, in der Methadongruppe bei 74 Prozent. Das ist zwar statistisch signifikant, aber dieser Unterschied beruht nach Meinung
vieler Fachleute auf der unterschiedlichen Erwartungshaltung. So traten bei vielen Heroinpatienten bereits vor
Studienbeginn nur aufgrund der Erwartung der Behandlung Verbesserungen des Gesundheitszustandes auf.
Besorgniserregend sind die Ergebnisse der Studie im
Hinblick auf das Auftreten medizinischer Komplikationen, die übrigens bei der Anhörung bestätigt wurden.
Von Atemdepression waren 23 Heroinpatienten betroffen, jedoch nur ein Methadonpatient. Krampfanfälle traten bei 63 Heroinpatienten auf, aber nur bei einem
Methadonpatienten. Schwere allergische Reaktionen betrafen 7 Heroinpatienten, jedoch keinen Methadonpatienten. Hier handelt es sich nicht mehr um nur statistisch signifikante Unterschiede. Die Heroinbehandlung
birgt weitaus größere gesundheitliche Risiken als die Behandlung mit Methadon. Wenn die Rede davon ist, dass
wir Menschenleben retten wollen, dann dürfen wir diese
Zahlen nicht aus den Augen verlieren.
Der Rückgang des illegalen Drogenkonsums war bei
den Patienten, die Heroin bekamen, zwangsläufig höher
als bei den Methadonpatienten. Bei rund einem Drittel
der Heroinpatienten änderte sich das Konsumverhalten
trotz Heroinvergabe nicht.
({2})
Es wurden weiterhin illegale Drogen wie Kokain, aber
auch Heroin konsumiert. Von einem Erfolg der Behandlung kann in diesem Punkt nicht gesprochen werden.
({3})
Begleitende Spezialstudien untersuchten unter anderem gesundheitsökonomische Effekte und die Kriminalitätsentwicklung. Es ging um die Kostenersparnisse der
Heroinbehandlung in den Bereichen Delinquenz, Anklagen vor Gericht und volkswirtschaftlicher Produktivitätsgewinn. Positive Entwicklungen in diesen Bereichen
werden immer als großer Erfolg dargestellt. Sie sind allerdings nicht verwunderlich. Denn wer Heroin legal bekommt, muss es nicht mehr illegal beschaffen. Zwangsläufig sinkt dann die Kriminalitätsrate.
Dem gegenüber stehen die hohen Behandlungskosten
der Heroinsubstitution. Für die Heroinpatienten wurden
pro Patient und Jahr 18 060 Euro ausgegeben. Das ist
dreimal mehr als für die Methadonsubstitutierten mit
6 147 Euro.
({4})
In Zeiten knapper Kassen können wir unseren Mitbürgern nicht zumuten, die Kosten für ein zusätzliches Behandlungssystem aufzubringen, dessen Nutzen nicht erwiesen ist.
({5})
Ohne feste Orientierung auf den Ausstieg ist die Behandlungsdauer zudem völlig offen.
Die Ergebnisse des Modellprojektes sind für uns alles
andere als überzeugend.
({6})
Es gibt viele medizinische, sozialpolitische und sicherheitspolitische Aspekte, die ungeklärt sind. Deswegen hat sich unsere Fraktion mehrheitlich gegen eine
Überführung der heroingestützten Behandlung in die Regelversorgung ausgesprochen. Stattdessen sollte die Heroinbehandlung im Rahmen eines neuen Modellvorhabens mit dem Ziel weitergeführt werden, neue
Erkenntnisse zu erlangen und die angesprochenen offenen Fragen zu klären. Dazu zählt beispielsweise die
Frage der Abstinenzorientierung. Denn nur 8 Prozent der
Patienten konnten im Rahmen des Modellversuchs in
eine Abstinenztherapie überführt werden.
({7})
Damit ist auch noch nicht geklärt, ob diese erfolgreich
war.
Es wird ja immer gesagt, es seien nur ganz wenige Patienten betroffen. Wer an der Anhörung teilgenommen
hat, der hat gehört, dass die Fachleute von bis zu
80 000 Betroffenen sprachen. Ich frage Sie: Ist das eine
geringe Zahl von Patienten? Es geht also nicht um eine
kleine Gruppe von Patienten, wie Herr Terpe gesagt hat,
sondern es könnte sich um eine große Zahl von Betroffenen handeln.
Meine Damen und Herren, die Heroinbehandlung ist
nicht ohne Alternative.
({8})
Viele Sachverständige vertreten die Auffassung, dass
Umfang und Ausmaß der psychosozialen Betreuung für
den Behandlungserfolg entscheidend sind.
({9})
Durch eine Intensivierung und Verbreiterung der psychosozialen Betreuung bei der Methadonsubstitution
wären, so sagen die Fachleute, ähnlich gute Ergebnisse
wie im Modellvorhaben mit Heroin zu erreichen. In Anbetracht dessen stellt sich die Frage, wie man die vorhandenen Mittel so einsetzt, dass möglichst vielen Menschen geholfen werden kann; denn darum geht es
letztlich.
({10})
In der Schweiz werden zwei Drittel der Opiatabhängigen durch die Methadonsubstitution erreicht, in Deutschland wird nur die Hälfte dieser Gruppe erreicht. Dies
zeigt, dass die Methadonbehandlung in der Bundesrepublik ausbaufähig ist.
Da Sie, Herr Terpe, die zunehmende Zahl der Drogentoten angesprochen haben, möchte ich Sie darauf
hinweisen: Sie sollten auch sagen, dass im Suchtbericht
der Bundesregierung ganz eindeutig steht, dass die Ursache dafür nicht geklärt ist. Es ist lediglich davon die
Rede, dass die Zahl der Drogentoten zugenommen hat,
mehr nicht. Die Ursache für diese Entwicklung muss geklärt werden; das ist richtig. Sie können aber nicht behaupten, dass diese Entwicklung auf die fehlende Heroinsubstitution zurückzuführen sei.
Die Opposition hat vielfach betont, dass, was die von
ihr vorgelegten Anträge angeht, besondere Eile geboten
sei und dass die Weiterbehandlung der Patienten nur
durch eine gesetzliche Überführung in die Regelversorgung sichergestellt werden könne. Davon kann keine
Rede sein. Dies bestätigt auch ein Schreiben der Parlamentarischen Staatssekretärin im Bundesgesundheitsministerium, Frau Caspers-Merck. Darin heißt es, dass die
Versorgung der bisherigen Heroinpatienten durch die Finanzierung der Städte gesichert ist.
({11})
Der Anteil der Bundesförderung ist mit 10 Prozent, gemessen an den gesamten Behandlungskosten, ohnehin
gering.
({12})
Die Patienten werden seit Ende des Modellprojekts auf
Basis einer Ausnahmeerlaubnis weiter mit Diamorphin
versorgt.
Karlsruhe, Köln und Frankfurt haben zudem Genehmigungen für die Aufnahme neuer Patienten bekommen;
das wissen Sie.
({13})
Ihre Behandlung ist also trotz unterschiedlicher Ansichten in diesem Hause sichergestellt. Die Diamorphinbehandlung kann in den bestehenden Ambulanzen auch
ohne Gesetzesänderung fortgeführt werden. Für die Patienten ändert sich nichts. Jeder, der Hilfe braucht, wird
sie auch in Zukunft erhalten.
({14})
Für die FDP-Fraktion gebe ich das Wort dem Kollegen Detlef Parr.
({0})
Verschieben, vertagen und auf Zeit setzen, das, Frau
Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen, prägt seit
dem Sommer 2006, also seit fast zwei Jahren, diese parlamentarische Debatte. Fast zwei Jahre lässt die Bundesregierung Schwerstabhängige im Stich, lässt sie engagierte Städte und Gemeinden allein, betreibt sie eine
Sucht- und Drogenpolitik von vorgestern
({0})
und verfolgt sie eine Ideologie zulasten notleidender
Menschen. Das ist ein beschämendes Schauspiel.
({1})
Zwischen der praktischen Politik vor Ort und der Politik zweifelhafter Prinzipien unter dieser Glaskuppel liegen Welten. Es ist traurig, dass wir sogar die Geschäftsordnung bemühen mussten, um heute hier im Plenum
überhaupt eine öffentliche Debatte über dieses Thema
führen zu können.
Meine Damen und Herren, die Ergebnisse des Modellversuchs verlangen mehr als einen faulen Kompromiss aus Fristverlängerungen und Ausnahmeregelungen.
In den Metropolen Hamburg und München endet die Erlaubnis zur Weiterbehandlung der im Modellversuch befindlichen Patientinnen und Patienten in gut sieben Wochen. Die Bundesförderung ist bereits seit zwei Monaten
ausgelaufen. Das ist ein unhaltbarer Zustand.
({2})
Dazu heißt es im soeben vorgelegten Sucht- und Drogenbericht der Bundesregierung lapidar - Zitat -:
Die Dokumentation und das Monitoring der diamorphingestützten Behandlung in Deutschland sollen jedoch weiterhin durch den Bund gefördert werden, damit im Sinne der Qualitätssicherung eine
Verlaufskontrolle der Behandlung erfolgt, die
Durchführungsstandards und Behandlungseffekte
einschließt.
Wie großzügig! Das ist alles, was die CDU/CSU noch
zulässt: die seelenlose Verwaltung eines Projekts anstelle
einer berechenbaren Hilfe für alle Schwerstabhängigen
auf einer sicheren Rechtsgrundlage.
({3})
Man muss dies vor dem Hintergrund betrachten, dass bei
einer Anhörung vor acht Monaten von den beteiligten
Städten Hamburg, München, Frankfurt, Köln, Hannover,
Bonn und Karlsruhe eindrucksvoll belegt wurde, welch
segensreiche Wirkung die diamorphingestützte Behandlung bei schwer Opiatabhängigen entfaltet, bei einer
kleinen Gruppe von Menschen, bei denen eine herkömmliche Substitutionsbehandlung nicht erfolgreich
verläuft, die von anderen Maßnahmen der Suchtbehandlung gar nicht mehr erreicht wird, bei einer Gruppe von
Langzeitabhängigen, deren Alter über zehn Jahre höher
als das des durchschnittlichen Drogenabhängigen in
Deutschland ist, von Schwerstbetroffenen, für die es oft
nur noch ums nackte Überleben geht.
Erst vor drei Tagen - Harald Terpe hat darauf hingewiesen - stellte die Bundesregierung in einer Presseerklärung fest, dass es bei Heroinkonsumenten im Jahr
2007 leider eine Trendwende gegeben hat: Die Zahl der
Drogentoten ist im Jahr 2007 im Vergleich zum Vorjahr
um 7,6 Prozent gestiegen; es verstarben 1 394 Menschen
an den Folgen des Konsums illegaler Drogen; 2006 waren es noch 1 296 Menschen. Es ist richtig, Frau
Eichhorn: Eine klare Ursache für diese Entwicklung
kann noch nicht benannt werden, weil die Auswertungsergebnisse noch nicht vorliegen. Eine mögliche Ursache
- hören Sie jetzt genau zu! - könnte die veränderte Altersstruktur bei den Abhängigen sein, die inzwischen älter geworden sind und bei denen der körperliche Verfall
voranschreitet. Aber auch die private und berufliche Perspektivlosigkeit von Heroinabhängigen können drogenbedingte Todesfälle begünstigen.
Wie können uns in diesem Hause eigentlich solche
Schicksale kaltlassen?
({4})
Es wirkt fast zynisch, wenn im Sucht- und Drogenbericht, der auch von der Union als Regierungspartner getragen wird, von vier Säulen die Rede ist, von denen eine
die Überlebenshilfe ist. Ist es nicht Überlebenshilfe,
wenn bei den Probanden die Zahl der regelmäßig arbeitenden um 11 Prozent auf 27 Prozent steigt, wenn die
Beschaffungskriminalität sinkt, wenn der Zwang zur
Prostitution abnimmt und wenn die Delinquenzrate innerhalb eines Jahres von etwa 70 Prozent auf 27 Prozent
zurückgeht?
Das hat auch der Bundesrat so gesehen und mit deutlicher Mehrheit eine entsprechende Initiative in den
Bundestag eingebracht. Wir haben gemeinsam mit den
Grünen und den Linken einen Gesetzentwurf erarbeitet,
der auch von vielen Mitgliedern der SPD-Fraktion
({5})
und von Teilen der Union inhaltlich unterstützt wird. Es
gibt also eine Mehrheit in diesem Hause, die die notwendige Gesetzesänderung will.
({6})
Es ist unseren Besuchern auf der Tribüne und der Öffentlichkeit nicht zu erklären, dass Koalitionsdisziplin
mehr wert sein soll als eine Bundestagsmehrheit. Das ist
verkehrte Demokratie.
({7})
Da es hier um Überlebensschicksale geht, empfinde ich
die Entscheidung als Gewissensentscheidung. Deshalb
appelliere ich an die Union: Geben Sie die Abstimmung
frei. Die Betroffenen und ihr Umfeld werden es uns danken.
Ich danke Ihnen fürs Zuhören.
({8})
Das Wort hat die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Sabine Bätzing.
({0})
Sabine Bätzing, Drogenbeauftragte der Bundesregierung:
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich möchte die Aussprache für eine sachliche,
nüchterne und faktenorientierte Information zur Diamorphinbehandlung nutzen.
({1})
- Das ist richtig. - Dank des beachtlichen finanziellen
Engagements von sieben Städten, vier Ländern und des
Bundes findet in Deutschland eine Diamorphinbehandlung statt, die als weltweit anerkannte Arzneimittelstudie
begonnen wurde.
({2})
Die Ergebnisse sind inzwischen in international renommierten Fachzeitschriften publiziert worden. Mit
diesen Veröffentlichungen wurden die Ergebnisse in die
international grundlegende Datenbank für evidenzbasierte Studien aufgenommen. Damit sind meiner Meinung nach alle Zweifel an der wissenschaftlichen Qualität der Studie ausgeräumt.
({3})
Über was reden wir hier eigentlich? Wir sprechen hier
über eine medizinisch fundierte Behandlungsform für
Schwerstopiatabhängige. Diese Menschen sind nicht irgendwie in den Teufelskreis der Abhängigkeit geraten,
diese Menschen sind in ihrer Kindheit und Jugend stark
vernachlässigt, schwer misshandelt oder sogar sexuell
missbraucht worden. Drogen sind für diese Menschen
ein Mittel, um diese quälenden Erlebnisse und Erinnerungen ertragen zu können. Es kostet diese Menschen
immense Kraft, ihre seelischen und körperlichen
Schmerzen zu überwinden und ein abstinentes Leben zu
führen.
Sabine Bätzing, Drogenbeauftragte der Bundesregierung
Umso erstaunlicher sind die Ergebnisse der Diamorphinbehandlung: 12,6 Prozent der Patienten, die ihre Behandlung regulär beendeten, begannen entweder mit einer Abstinenztherapie oder schafften es ohne weitere
Hilfe, abstinent zu leben. Fast 13 Prozent Abstinenzquote, und das, obwohl sich die Experten einig sind, dass
Schwerstopiatabhängigkeit eine chronische Krankheit
ist.
Manche Kollegen glauben, dass sich die nachgewiesenen signifikanten Unterschiede zwischen Methadonund Diamorphinsubstitution ausgleichen würden, wenn
man die bisherige Substitution ausbaute. Davor möchte
ich warnen. Wer das glaubt, vergleicht Äpfel mit Birnen;
denn Diamorphin erhalten nur die Menschen, die mit der
bisherigen Substitution nicht fachgerecht behandelt werden konnten.
({4})
Der unionsdominierte Bundesrat hat aus den Erfolgen
der Diamorphinbehandlung die richtige Schlussfolgerung gezogen und mit der überwältigenden Mehrheit von
13 Ländern einen Gesetzentwurf zur diamorphingestützten Behandlung beschlossen.
In ihrer Stellungnahme zu diesem Gesetzentwurf geht
die Bundesregierung davon aus, dass unter anderem der
Grundsatz der Ausstiegsorientierung noch geklärt werden muss. Kolleginnen und Kollegen, ich bin der Auffassung, dass sich mit den von mir genannten neuen
Zahlen auch diese Klärung eigentlich erledigt hat.
({5})
Ausstieg und Abstinenz sind anscheinend auch bei
schwerer Opiatabhängigkeit möglich, wenn auch nicht
die Regel. Deswegen fragen wir uns: Konnte die Diamorphinbehandlung den Zustand derjenigen Patienten,
die erwartungsgemäß in der Behandlung geblieben sind,
verbessern? Ja, die Diamorphinbehandlung war und ist
erfolgreich. So ging zum Beispiel das riskante Konsumverhalten, wie das gemeinsame Benutzen von Spritzbesteck bezeichnet wird, quasi auf null zurück. Der gesundheitliche und psychische Zustand der Patienten hat
sich zu Beginn der Behandlung deutlich verbessert und
stabilisiert. Auch ihre soziale Situation ist deutlich besser geworden: Der Anteil der arbeitsfähigen Patienten,
die Arbeit fanden, stieg von 29 Prozent auf 68 Prozent.
Die Verwicklung in illegale Geschäfte sank von über
67 Prozent zu Beginn der Studie auf nun 7 Prozent.
Mein Fazit lautet: Die Diamorphinbehandlung ist erfolgreich bei den Schwerstopiatabhängigen, denen mit den
bisherigen Therapien nicht ausreichend geholfen werden
konnte.
({6})
Kolleginnen und Kollegen, noch erhalten die Betroffenen in den sieben Städten ihr Diamorphin; aber die
Kostenbelastung für die Kommunen ist enorm. Was passiert, wenn die Behandlung aus finanziellen Gründen
eingestellt werden muss? Wer übernimmt dann die Verantwortung für das Schicksal der Patientinnen und
Patienten? Gerade wir Parlamentarier müssen vorbeugend handeln. Konkret heißt das, über den guten Gesetzentwurf des Bundesrates zu beraten und ihn zu verabschieden, damit eine Regelversorgung mit Diamorphin
ermöglicht wird.
In der Stellungnahme der Bundesregierung sind weitere offene Fragen aufgeführt. Ich appelliere deswegen
an die Kolleginnen und Kollegen vor allem der CDU/
CSU-Fraktion, im Rahmen der parlamentarischen Beratung die noch offenen Fragen gemeinsam konstruktiv zu
klären, damit wir den betroffenen Schwerstabhängigen
endlich eine wirksame Überlebenshilfe bieten können.
Die Diamorphinbehandlung ist nämlich - das hören wir
aus den Reihen der CDU, vor allen Dingen aber aus den
Reihen der Kirchen - ein zutiefst christliches Projekt,
weil sie Leben retten kann.
Danke schön.
({7})
Ich gebe das Wort der Kollegin Monika Knoche,
Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Ich muss schon sagen, Frau Kollegin: Es ist nahezu beispiellos, mit welcher Chuzpe Sie
sich hier für die CDU/CSU gegen jede Wahrhaftigkeit in
der Argumentation verweigern, schwerkranken Menschen die notwendige medizinische Hilfe zu gewähren.
Ich finde das beispiellos und auch skrupellos.
({0})
Angesichts der Tatsache, dass es kein arzneimittelrechtliches und kein medizinethisches Argument gibt,
das auf Ihrer Seite steht, kann ich nur sagen: Es sind Ihre
ideologischen Scheuklappen, von denen Sie sich leiten
lassen und die zum Ergebnis haben, dass einem Teil der
heroinabhängigen Menschen das Recht abgesprochen
wird, nach dem neuesten Stand der Wissenschaft und
ärztlichen Kunst therapiert zu werden. Das sind die Fakten, über die wir sprechen.
({1})
Frau Kollegin Knoche, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Spahn?
Nein, Herrn Spahn gebe ich jetzt bewusst keine Gelegenheit.
({0})
Es geht um nichts anderes als darum, Diamorphin als
ein neues Medikament zuzulassen, damit Abhängigen,
denen anders nicht geholfen werden kann, eine wirksame Therapie zuteil wird. Selten - das muss ich betonen - gab es eine so intensive, über fast zehn Jahre währende fachliche Beratung über eine Gesetzesänderung in
diesem Haus. Es wurde extra eine wissenschaftliche Studie durchgeführt, um dieses neue Medikament zu prüfen
und mit dem Vorhandenen zu vergleichen.
Das Ergebnis liegt vor: Diamorphin hilft nachweislich
auf allen gesundheits- und sozial relevanten Gebieten.
Es hilft diesen Menschen, ein Leben in Würde und frei
von Kriminalität zu führen. Das müssen wir ganz hoch
respektieren. Haben Sie Respekt vor diesen Menschen
und vor der großen Leistung, die sie individuell erbringen! Manche finden sogar den Weg in die Abstinenz.
Wie können Sie darüber hinweggehen?
({1})
Ich frage: Sind Sie bereit, zu akzeptieren, dass viele
dieser schwerkranken Menschen einen vermeidbaren
frühzeitigen Tod sterben, wenn diese Therapie nicht etabliert wird? Uns als Politikerinnen und Politiker steht
diese Entscheidung über Lebensperspektiven anderer
nicht zu. Es steht uns auch nicht zu, mit Kostenargumenten dagegenzuhalten. Jedes individuelle Leben ist es
wert, geschützt zu werden. Das sollten Sie als Christdemokraten doch wissen.
({2})
Dieser Gesetzentwurf wird von der Bundesärztekammer, von den Suchtexperten, von den Bundesländern
und von den Städten und Gemeinden getragen. Ich weiß,
worüber ich rede. Ich habe das Projekt in Karlsruhe mit
initiiert. Sie gehen hier sogar gegen den Rat Ihrer eigenen Oberbürgermeisterin vor und verweigern, dass das
Parlament endlich eine Entscheidung treffen kann. Um
was geht es? Sie betreiben eine Obstruktionspolitik im
Gesundheitsausschuss und verweigern sich, sodass wir
nach der Expertenanhörung keinen Beschluss fassen
konnten, um hier im Deutschen Bundestag ein Gesetz zu
erlassen.
Gemeinsam mit der FDP und den Grünen haben wir
Linken hier einen Gesetzentwurf vorgelegt, der deckungsgleich mit den Interessen des Bundesrates ist. Die
SPD spricht mit großer Überzeugung davon, dass sie
dieses Projekt durchführen will. Es gibt keinen Koalitionsvertrag, durch den irgendjemand daran gehindert
wird, nach bestem Wissen und Gewissen zu entscheiden.
Es gibt auch keine Koalitionsvereinbarung, wonach dieses Projekt verhindert werden soll.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ich
sage das ganz ehrlich: Springen Sie an dieser Stelle und
nabeln Sie sich von der CDU/CSU ab! Gehen Sie diesen
Schritt mit uns gemeinsam! Die betroffenen Menschen
und ihre Angehörigen, die die große Hoffnung in uns
setzen, dass wir in der Politik endlich die Ideologie und
Parteibücher beiseiteschieben und das tun, was für diese
kranken Menschen notwendig ist, werden es Ihnen danken.
Danke schön.
({3})
Das Wort zu einer Kurzintervention gebe ich dem
Kollegen Spahn.
({0})
Frau Kollegin Knoche, weil Sie mir nicht die Gelegenheit gegeben haben, eine Zwischenfrage zu stellen,
beginne ich mit einer Frage.
Wenn Sie schon behaupten, hier sei nicht wahrhaftig
gesprochen worden, dann wäre ich Ihnen dankbar, wenn
Sie mir genau belegen könnten, welche Daten der Kollegin Eichhorn nicht wahr sind. Wenn Sie eine solche Behauptung aufstellen, dann müssen Sie auch sagen können, welche Angaben nicht wahr waren. Es ist nicht
redlich, einfach eine derartige Behauptung in den Raum
zu stellen.
Des Weiteren - das gilt auch für andere Kollegen bringen Sie immer wieder den Vorwurf der Ideologie
vor. Auch wenn man in der Sache zu einer anderen Bewertung kommt als Sie und Nachfragen an die bereits
aufgezeigten Ergebnisse dieser Studie hat - etwa was die
Abstinenzorientierung, die Zahlen usw. angeht -, sollten
Sie sich auf eine sachliche Diskussion einlassen, statt
den Vorwurf der Ideologie wie einen Hammer einzusetzen.
Ich würde Ihre Aufregung verstehen, wenn es derzeit
in Deutschland keine Alternativbehandlung Heroinsüchtiger gäbe. Es gibt aber die Alternative der Methadonbehandlung.
({0})
Deswegen sollten Sie nicht so tun, als gäbe es keine
Alternative zu dem, was Sie fordern.
({1})
Was die Methadonbehandlung angeht, wäre vielleicht
zu prüfen, ob es nicht einer besseren psychosozialen Betreuung bedarf, weil die Länder und insbesondere die
Kommunen in letzter Zeit vieles in diesem Bereich zurückgefahren haben. Bei einer ähnlichen Tagesstruktur
wie bei der Heroinbehandlung, bei der man dreimal am
Tag eine entsprechende Stelle aufsuchen muss, gäbe es
sicherlich andere Ergebnisse.
Wenn es Ihnen ein so großes Anliegen ist, Frau Kollegin Bätzing, dann stelle ich mir die Frage, warum Sie
sich nicht bereit erklären, unseren Weg mitzugehen,
wenn wir das Angebot machen, das auch von den
Städten, von denen schon mehrfach die Rede war, begrüßt und aufgegriffen wurde, nämlich die Studie fortzusetzen und gemeinsam Möglichkeiten zu suchen, wie
Bundesmittel zur Verfügung gestellt werden können, um
die offenen Fragen zur Abstinenzorientierung, zum Beikonsum etc. zu prüfen und sowohl den Städten als auch
den Menschen zu helfen und - das ist das Entscheidende neue Erkenntnisse zu gewinnen. Diesem Weg, der auch
in Ihrem Interesse sein müsste, verweigern Sie sich aber.
({2})
Frau Kollegin Knoche.
Darauf kann ich Ihnen in aller Ruhe antworten. Da ich
selber Mitglied der damaligen Regierungsfraktion war,
die dieses Modellprojekt ins Leben gerufen hat, bin ich
sehr gut über die Kriterien für dieses Projekt informiert.
Ich bin auch eine engagierte Vertreterin der psychosozialen Betreuung, die aber - das müssen Sie zur
Kenntnis nehmen - bei der Methadon- und der Heroinsubstitution in gleicher Weise ausgeprägt ist.
({0})
Hier kann man keine Differenzen ausmachen.
Heute geht es im Grunde um eine arzneimittelrechtliche Frage,
({1})
wie sie sich auch bei Diabetespräparaten, Psychopharmaka oder anderen Präparaten stellt. Die Frage ist, ob
Heroin bei einem bestimmten erkrankten Personenkreis
besser geeignet ist, Therapieerfolge zu erzielen, als das
vergleichbare Präparat Methadon.
Dieser Nachweis wurde in der Studie geführt. Keine
der von Ihnen, Frau Eichhorn, vorgebrachten Äußerungen betrifft die Wissenschaftlichkeit dieser Studie oder
zieht die Studie in Zweifel.
({2})
Wir als Gesetzgeber müssen die Voraussetzung schaffen, dass das BfArM dieses Medikament zulassen kann,
da das Betäubungsmittelgesetz Heroin nicht als Medikament zulässt. Die Ärzte werden dadurch Therapiefreiheit
erhalten, um zu entscheiden, welche Substitution oder
Abstinenztherapie für welche Patientinnen und Patienten
geeignet ist. Es ist eine rein medizinische, arzneimittelrechtliche Frage, die es zu entscheiden gilt. Es hat nichts
damit zu tun, ob ich einer Abstinenzorientierung oder einer Substitutionsorientierung zugetan bin. Es geht um
eine ganz andere Frage. Das scheint Ihnen nicht klar zu
sein.
({3})
Nächste Rednerin ist Dr. Margrit Spielmann, SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich hoffe sehr, dass die Diskussion, die wir heute angeschoben haben - eigentlich haben wir das schon seit
zwei Jahren mit Ihnen in den Ausschüssen oder Arbeitsgruppen vor -, dazu führt, dass wir auch in Zukunft
sachlich, konstruktiv und ergebnisorientiert miteinander
umgehen.
Mir und auch meiner Fraktion ist es völlig unverständlich, dass Sie die eindeutigen Ergebnisse - sie wurden von Frau Bätzing vorgetragen - nicht wahrhaben
wollen und immer noch Diskussionsbedarf anmelden.
Alle mit dem Thema „diamorphingestützte Substitutionstherapie“ befassten Gruppen - seien es Ärzte, Sozialarbeiter oder Betroffene - fordern die weitere Vergabe an Schwerstabhängige. Alle sind davon überzeugt,
dass sich mit dieser Therapieform nachweislich die besten Ergebnisse erzielen lassen. Die unionsregierten Länder Hamburg, Hessen, Niedersachsen und NordrheinWestfalen fordern die Diamorphinabgabe. Unionsbürgermeister aus Hamburg, Frankfurt und Karlsruhe, die
Modellprojekte in ihren Städten haben, sind längst vom
Erfolg überzeugt. Ich frage Sie, Frau Eichhorn: Warum
sind Sie es nicht?
({0})
Betroffene und ihre Angehörigen werfen Ihnen, liebe
Kolleginnen und Kollegen von der Union, zu Recht vor,
Entscheidungen vor dem Hintergrund ideologischer
Überzeugungen - das wurde schon gesagt - zu fällen
und damit - so meine ich - vor gesellschaftlichen Realitäten und persönlichen Schicksalen die Augen zu verschließen. Ich frage Sie: Kann man eigentlich die Realität in unserem Land wirklich so ignorieren? Ich denke,
dass wir uns das gar nicht leisten können.
({1})
Deshalb unterstützt die SPD-Bundestagsfraktion als
logische Konsequenz aus den Ergebnissen des Modellprojektes den Gesetzentwurf des Bundesrates. Damit
liegt ein Konzept für einen gangbaren Weg vor. Der Gesetzentwurf beruht im Wesentlichen auf den Ergebnissen
einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe, an der auch die CDU/
CSU beteiligt war.
({2})
Dieser Gesetzentwurf enthält Regelungen, die den rechtlichen Rahmen für die Überführung der diamorphingestützten Therapie Schwerstopiatabhängiger in die Regelversorgung bilden.
Ich fasse zusammen: Wir fordern, dass Diamorphin
als verschreibungsfähiges Betäubungsmittel eingestuft
wird und damit eine ausreichende Regelung geschaffen
wird, gemäß der Diamorphin zur Behandlung verwendet
werden kann. Wir fordern, dass das Betäubungsmittelgesetz, die Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung und das Arzneimittelgesetz entsprechend ergänzt
und geändert werden, Frau Knoche. Wir fordern, dass
die Diamorphinsubstitution nur bei Schwerstopiatabhängigen Anwendung findet, die von anderen Therapieformen nicht erreicht werden können. Diamorphin soll unter
strengen Auflagen und ärztlicher Kontrolle vergeben werden. Wir wollen, dass am gesetzlich festgelegten Ziel
jeder Substitutionsbehandlung, nämlich an der Wiederherstellung der Betäubungsmittelabstinenz sowie der Besserung und Stabilisierung des Gesundheitszustandes, festgehalten wird. Das soll ohne Einschränkung auch für die
diamorphingestützte Substitutionsbehandlung Schwerstopiatabhängiger gelten.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 6:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten
Gesetzes zur Änderung des Jugendschutzgesetzes
- Drucksache 16/8546 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
({0})
- Drucksache 16/9024 Berichterstattung:
Abgeordnete Antje Blumenthal
Miriam Gruß
Elke Reinke
Hierzu liegt uns jeweils ein Entschließungsantrag der
Fraktion der FDP und von Bündnis 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Antje Blumenthal, CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
„Schau hin, was Deine Kinder sehen!“ heißt es in einer
Kampagne, die vom Bundesfamilienministerium gemeinsam mit ARD und ZDF -
Frau Kollegin Blumenthal, einen Augenblick, bitte.
Ich bitte die FDP-Fraktion, ihre Gespräche anderweitig
fortzusetzen.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Vielleicht sollte ich
lieber sagen: Hört hin! Ich beginne noch einmal.
„Schau hin, was Deine Kinder sehen“ heißt es in einer
Kampagne, die vom Bundesfamilienministerium gemeinsam mit ARD und ZDF ins Leben gerufen worden
ist. Schau hin, was deine Kinder am Rechner und an der
Konsole spielen! Das möchte ich den Eltern zurufen;
denn es ist die Pflicht und das Recht der Eltern, den Medienkonsum ihrer Kinder zu begleiten und zu kontrollieren. Weil sich Medien und speziell die elektronischen
aber extrem schnell verändern, brauchen Eltern dabei
Unterstützung. Denn während wohl die meisten, wahrscheinlich auch die meisten hier im Hause, noch die Regeln für „Cowboy und Indianer“ und „Mensch ärgere
dich nicht“ kennen, werden die wenigsten Eltern wissen,
wer Niko Bellic, Joanna Dark oder Alex Mercer sind,
geschweige denn, welch düstere Aufträge diese drei zu
erledigen haben.
({0})
- Auch wenn Sie es wissen, so erkläre ich es doch den
übrigen Kollegen. - All denjenigen, die sich im tagtäglichen Leben nicht mit den Handlungssträngen von gewalttätigen Actionspielen oder Shootern beschäftigen,
sei gesagt: Alle drei sind schwerbewaffnete Hauptcharaktere in aktuellen Videospielen.
Wir stehen also vor einem Dilemma. Es gibt Spiele,
die für Kinder und Jugendliche wegen ihrer Härte und
ihrer brutalen Darstellung gänzlich ungeeignet sind, und
wir haben Eltern und Erzieher, die sich leider allzu selten
mit den Medien, die ihre Kinder konsumieren möchten,
auskennen.
({1})
Allen Menschen, die Kinder erziehen und sich um deren
Entwicklung sorgen, kann ich deshalb nur zurufen:
Schaut hin! Schaut hin, was ihr den Kindern kauft, und
schaut hin, womit sich eure Kinder vielleicht schon
heute zu Hause beschäftigen! Denn in allererster Linie
liegt es an den Eltern, abzuschätzen, welche Medieninhalte ihre Kinder sehen und welche Spiele sie konsumieren dürfen. Aber - und hier kommt die Politik ins Spiel Eltern brauchen Unterstützung bei ihrer Erziehungsaufgabe; denn auf den ersten Blick ist nicht zu erkennen, ob
ein Film oder ein Spiel für ein bestimmtes Alter freigegeben ist. Bisher haben wir zwar die Alterskennzeichnungen; sie sind jedoch so klein und oftmals so
versteckt, dass wir den Eltern das Hinsehen unnötig
schwer machen.
Mit der heutigen Änderung im Gesetz machen wir Jugendschutz sichtbar,
({2})
weil wir die Größe der Alterskennzeichnung verdoppeln
und weil wir die Altersfreigabe nun verpflichtend vorne
auf dem Cover platziert haben; denn schließlich muss
die Altersangabe auf Filmen und auf Spielen für alle
sichtbar und erkennbar sein, um Kinder und Jugendliche
zu schützen.
Genauso wichtig wie das Sichtbarmachen von Altersangaben ist aber noch ein Zweites: Wir müssen gefährliche Inhalte für Kinder unsichtbar machen. Genau das tun
wir mit den Klarstellungen der Indizierungskriterien.
({3})
Für die Indizierung kraft Gesetzes fügen wir „Darstellungen selbstzweckhafter Gewalt ..., die das Geschehen
beherrschen“ hinzu. Auch die Liste der jugendgefährdenden Medien der Bundesprüfstelle erhält mit der Gesetzesänderung klarere Richtlinien. Beides dient einem
Zweck: Medien, sowohl PC- als auch Videospiele und
Filme, deren gewalthaltiger Inhalt für Kinder nicht geeignet ist, werden für sie nahezu unsichtbar. Denn was
heißt es eigentlich, wenn ein Medium auf dem Index
steht, ganz gleich ob es kraft Gesetzes indiziert oder von
der Bundesprüfstelle auf diese Liste gesetzt wurde? Es
heißt, dass das Spiel und der Film nicht ausgestellt, nicht
beworben und vor allem nicht für Kinder und Jugendliche frei zugänglich gemacht werden dürfen. Indizierte
Medien werden damit für Kinder unsichtbar.
Aber, wenn wir von Sichtbarkeit reden, dürfen wir
unsere Augen nicht davor verschließen, dass Eltern bei
der Erziehung ihrer Kinder zu medienkompetenten Menschen von den verschiedensten Stellen behindert werden.
Wir müssen unseren Blick auf die unterschiedlichen Akteure und Einrichtungen richten, die Einfluss auf die Medienkompetenz und auf den Medienkonsum unserer
Jüngsten haben können. Was ist mit der Verkäuferin, die
versehentlich oder aber fahrlässig das Alter eines jugendlichen Spiele- oder Filmkäufers nicht überprüft?
Was ist mit den Großeltern, die ihrem minderjährigen
Enkel seinen heißersehnten Shooter schenken? Was ist
mit dem Versandhandel im In- und Ausland? Schlimmer
noch: Was ist mit den nicht jugendfreien Filmen und
Spielen, die sich die Kinder schon heute illegal aus dem
Netz ziehen können?
({4})
Mir fallen viele solcher Szenarien und damit verbundene
Fragen ein, die noch nicht gelöst sind. Mir schießen diverse Möglichkeiten durch den Kopf, wie Kinder und
Jugendliche an nicht altersgerechte Medien herankommen können. Ich weiß auch, dass es hier nicht reicht, die
Eltern aufzufordern, hinzusehen, und ein Gesetz zu erlassen.
({5})
Verstehen Sie mich nicht falsch: Das Gesetz ist ein wichtiger Rahmen. Aber um mit unseren Kindern und Jugendlichen medientechnisch Schritt zu halten, bedarf es
der Anstrengung von mehr als nur uns Bundespolitikern
oder den Eltern. Wir brauchen den Handel, wir brauchen
die Länder, und wir brauchen jeden einzelnen verantwortlichen Bürger.
An den Handel möchte ich appellieren, die Vertriebsstrukturen und Warenauslagen kinderfreundlich und dem
Jugendschutz entsprechend aufzubauen. Im Handel gibt
es bereits gute Ansätze. In einigen Fachgeschäften ist es
beispielsweise üblich, Trägermedien ohne Jugendfreigabe mit roten Plastikhüllen einzufassen, sodass jede
Mitarbeiterin und jeder Mitarbeiter an der Kasse gleich
erkennen kann: Das darf ich einem unter 18-Jährigen
nicht verkaufen.
Eine weitere Möglichkeit des Handels, die Mitarbeiter zu unterstützen, sind optische und akustische Warnsignale an Kassen, die bei den Strichcodes jugendbeeinträchtigender Medien ein Signal geben und zur
Überprüfung des Ausweises auffordern.
Und noch etwas: In vielen Elektronikmärkten stehen
die zum Teil grausamen und pornografischen Cover in
den Regalen runter bis auf 70 Zentimeter, also in Kinderaugenhöhe, meine Damen und Herren. Gehen Sie
einmal durch die verschiedenen Elektronikmärkte. Sie
werden sehr erstaunt sein, was sich dort alles ansehen
lässt. Dabei wäre es eigentlich einfach für die Händler,
solche Medien nur auf den obersten Regalböden aufzubauen. Das ist zwar nur eine kleine, aber unter Jugendschutzaspekten hilfreiche Maßnahme.
({6})
Ich habe es bereits kurz erwähnt: Der Jugendschutz
im Onlinebereich, also im Internet, wird mit der vorliegenden Gesetzesänderung noch nicht berührt. Gerade
aber das Internet bietet Einfallstüren, um den Jugendschutz zu umgehen, was die anstehende Überarbeitung
- darin sind wir uns hier im Hause alle einig - dringend
erforderlich macht.
({7})
Das Internet bietet nämlich Kindern und Jugendlichen
zahlreiche Möglichkeiten, an nicht altersgerechte bzw.
nicht freigegebene Medien illegal heranzukommen und
zu spielen.
Hier besteht also noch erheblicher Handlungsbedarf,
bei dem die Bundesländer unabdingbar sind. Denn der
Jugendmedienschutz-Staatsvertrag, der die Onlinemedien regelt, steht unter dem Vorbehalt der Länder. Damit
komme ich jetzt zu den beiden Entschließungsanträgen
der Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und FDP.
Meine Damen und Herren, die von Ihnen angesprochenen Punkte sind bereits Thema in den laufenden
Bund-Länder-Gesprächen. Des Weiteren sind die einzelnen Länder bereits dabei, zum Beispiel bei den Bußgeldsätzen transparente Regelungen festzusetzen. Also,
meine Damen und Herren von der Opposition, achten
Sie zunächst auf die von der Verfassung vorgegebene
Aufgabenverteilung und warten Sie bitte die Ergebnisse
der laufenden Bund-Länder-Gespräche ab.
({8})
Ich denke, diesbezüglich sind wir auf einem guten Weg.
Gerade mit dem heute vorliegenden Gesetzentwurf
werden die am runden Tisch vereinbarten bundesgesetzlichen Maßnahmen umgesetzt. Ich bitte Sie deshalb um
Zustimmung zum vorliegenden Gesetzentwurf. Wir werden die beiden Entschließungsanträge aus den von mir
genannten Gründen ablehnen.
Vielen Dank.
({9})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Christoph Waitz,
FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Gesetzesinitiative der Bundesregierung
zur Novelle des Jugendschutzgesetzes ist sicher gut gemeint. Leider fasst die Initiative die eigentlichen Probleme nicht an, und da ist es auch nicht verwunderlich,
dass wir in Ihrem Gesetzespapier keine Lösungsvorschläge für die eigentlichen Probleme finden konnten.
({0})
Frau von der Leyen ist heute leider nicht anwesend,
({1})
aber wir haben es schon in der ersten Lesung gesagt: Ihr
Gesetzentwurf ignoriert die aktuellen Empfehlungen des
Hans-Bredow-Instituts.
({2})
Dabei hat das Institut im Auftrag ihres Ministeriums den
aktuellen Jugendschutz auf Schwachstellen hin abgeklopft. Das Hans-Bredow-Institut hat viele Verbesserungsvorschläge gemacht, die jetzt der Gefahr unterliegen, ins Leere zu laufen.
({3})
Ihr Gesetzentwurf, Frau Bundesministerin, ist unzureichend, und wir bedauern das. Eltern, Kinder und Jugendliche in unserem Land hätten es verdient, dass wir uns
gemeinsam mehr Zeit für eine sorgfältige Prüfung der
Probleme genommen hätten. Mit Ihrem Zeitmanagement
haben Sie die Chance verpasst, den Jugendmedienschutz
noch in der 16. Wahlperiode effektiv zu reformieren.
({4})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir Liberale
sind der Meinung, dass ein effektiver Jugendschutz
- auch Jugendmedienschutz - in den Familien und Schulen anfangen muss. Ohne diese Basis können alle weiteren begleitenden Maßnahmen keine Wirkung haben.
Aber in Deutschland wird nur in jedem vierten Haushalt mit Kindern zum Beispiel eine Filtersoftware zum
Schutz der Kinder eingesetzt. Lediglich 17 Prozent aller
Eltern in Deutschland kontrollieren das Surfverhalten ihrer Kinder. Kinder und Jugendliche spielen zu einem
großen Teil unbeaufsichtigt am Computer. Aber das ist
nicht nur ein Problem der Aufsicht und der Kontrolle; es
hängt auch damit zusammen, dass viele Eltern gar nicht
mehr verstehen, was ihre Kinder am Computer machen.
({5})
Viele interessieren sich auch gar nicht mehr dafür. Da
müssen wir ansetzen.
({6})
Die Alterskennzeichnung der Unabhängigen Selbstkontrolle gibt Hinweise, welche Spiele für unsere Kinder
und Jugendlichen geeignet sind. Aber auch eine größere
und eine eindeutigere Kennzeichnung auf der Verpackung scheitert, wenn mehr und mehr Kinder ihre
Spiele direkt aus dem Internet herunterladen. Frau
Blumenthal, da war ich in Ihrer Analyse sehr nah bei Ihnen. Leider Gottes werden im Gesetzentwurf der Bundesregierung nicht die nötigen Konsequenzen gezogen.
({7})
Wir müssen die Frage beantworten, wie wir im Hinblick auf das Internet zu einer Jugendschutzprüfung und
einer altersgerechten Freigabe kommen. Wir brauchen
die Novellierung des Jugendmedienschutz-Staatsvertrages der Länder, und das besser heute als morgen. Da sind
unsere Positionen nah beieinander.
Kinder müssen von klein auf lernen, wie sie mit den
neuen Medien umgehen sollten. Wir brauchen die Stärkung der pädagogischen Medienarbeit. Wir brauchen
verpflichtende Lehrerfortbildungen und Aufklärungsarbeit für die Eltern an den Schulen.
Im April hat die Konferenz der Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder die dringende Notwendigkeit der Förderung der Medienkompetenz von
Kindern und Jugendlichen eingefordert. Für die Datenschützer stehen dabei die Datensicherheit und der Schutz
der Privatsphäre im Vordergrund. Die Komplexität der
Gefahren moderner Mediennutzung macht deutlich, dass
starre Verbotsgesetze die vielleicht schlechteste aller Lösungen darstellen und dass wir besonders Prävention und
Aufklärung zu Schwerpunkten in unserer Arbeit machen
müssen.
Gerade die renommierte Harvard-Universität hat eine
große Studie zu den Auswirkungen von Computer- und
Videospielen auf Kinder und Jugendliche erstellt. Diese
Studie kommt zu dem erstaunlichen Ergebnis, dass Kinder, die nicht spielen, mehr Probleme im Elternhaus oder
in der Schule haben als diejenigen, die spielen. Nichtspielen von Computerspielen bedeutet in den Augen dieser Forscher sogar ein Zeichen fehlender Sozialkompetenz. Computerspiele könnten also auch positive Effekte
haben. Das ist ein Ergebnis, über das wir noch diskutieren müssen.
Bündnis 90/Die Grünen haben in ihrem Antrag den
Vorschlag gemacht, europaweit einheitliche Jugendschutzregelungen zu schaffen. Wir glauben, dass eine
europäische Regelung des Jugendschutzes die Gefahr in
sich birgt, dass wir - wie in so vielen Fällen - zu einem
europäischen Minimalkonsens kommen. Damit ist gerade dem deutschen Jugendmedienschutz nicht geholfen.
Solange die Server in der Karibik oder in Asien stehen,
hat die Europäische Union leider keinen Einfluss auf die
zur Verfügung gestellten Inhalte.
({8})
Wir können dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen
nicht in allen Punkten zustimmen und werden uns daher
bedauerlicherweise enthalten müssen, Herr Gehring.
Der von der Bundesregierung eingebrachte Entwurf
eines Gesetzes zur Änderung des Jugendschutzgesetzes
wird von der FDP-Fraktion abgelehnt.
({9})
Nächster Redner ist der Kollege Jürgen Kucharczyk,
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Jugendschutz bedeutet nicht, die Welt vor Kindern und
Jugendlichen zu schützen. Jugendschutz bedeutet, Kinder und Jugendliche vor negativen Einflüssen und Auswirkungen aus der Welt der Erwachsenen zu schützen.
Das Wohl der Kinder und jungen Menschen hat Vorrang. Im Fokus steht nicht, welche marktwirtschaftlichen
Gesichtspunkte und Anteile sich am besten über Kinder
und Jugendliche generieren lassen. Wir als Gesetzgeber
sind in der Pflicht, die Rahmenbedingungen dafür zu
schaffen, dass ein gutes Aufwachsen möglich ist. Aus
der Wissenschaft und der Medizin liegen uns Erkenntnisse vor, dass Kinder im Alter von null bis acht Jahren
ihre aufnahmefähigste Phase des Lernens, der Kreativität und der Talentförderung haben. Es ist erschreckend,
dass Untersuchungsergebnisse bestätigen, dass Kinder
und Jugendliche am Tag drei bis fünf Stunden TV,
Videos, Computer, Spielkonsolen oder Gameboys nutzen. Die Zeit, die sie mittlerweile mit Handys verbringen, ist da noch gar nicht hinzugerechnet.
„Bildung von Anfang an“ ist die Erkenntnis, die sich
mittlerweile in allen Fraktionen verfestigt hat. Unsere
Zukunft ist unmittelbar abhängig von unserem Knowhow hier in Europa. Die Informationstechnologien spielen dabei natürlich eine große Rolle. Computertechnik
gehört deshalb heute zur Basisqualifikation junger Menschen.
Generationenübergreifend ist es in unser aller Interesse, für Spielregeln und Rahmenbedingungen zu sorgen, damit Kinder und junge Menschen sich unter gleichen Chancen und Möglichkeiten entwickeln können.
Die freiwilligen Selbstkontrollinstrumente der FSK und
USK funktionieren, jedoch noch nicht gut genug, dass
ein gesetzliches Handeln überflüssig würde. Deshalb ist
es notwendig, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass im
Medienbereich für DVDs, Videos, Filme und Computerspiele einheitliche, klar erkennbare und sichtbare Alterskennzeichnungen durchgängig vorhanden sind, Szenen
und Darstellungen in Computerspielen von selbstzweckhafter Gewalt reduziert und vom Markt entfernt werden,
der Verbotskatalog für schwer jugendgefährdende Trägermedien, die kraft Gesetz indiziert sind, im Hinblick
auf Gewaltdarstellungen erweitert und somit eine Indizierung auch noch nach der Alterskennzeichnung möglich wird.
Mit der heutigen Novellierung erheben wir nicht den
Anspruch auf Vollkommenheit im Schutzbereich von
Kindern und Jugendlichen. Im Bereich Online haben wir
die Herausforderungen erst noch zu bestehen. Gerade
die Gefahren von Onlinesucht sind, wie wir zuletzt in einer öffentlichen Anhörung erfahren haben, noch nicht
ausreichend wissenschaftlich untersucht. Da müssen wir
ansetzen.
Wichtig ist uns in der Koalition, dafür zu sorgen, dass
nach den jetzigen, vorliegenden Erkenntnissen aus sozialwissenschaftlichen Studien die notwendigen und politisch möglichen Fortschreibungen im Jugendschutzgesetz praktisch, nachvollziehbar und zeitnah erfolgen.
Eltern, Großeltern, Lehrer und Pädagogen müssen auf
den ersten Blick erkennen können, was in der Medienlandschaft für die Kinder richtig, gut und von Nutzen ist.
Prävention im Sinne der Kinder und Jugendlichen ist die
richtige zukunftsorientierte Antwort.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die beiden Entschließungsanträge, die uns heute vorliegen, beinhalten
zwar eine ganze Menge, was originär zum Themenbereich Online gehört, haben aber in der Regel mit dem
Gesetzesentwurf, der heute vorliegt, nichts zu tun.
({1})
Diese Fragen stellen Herausforderungen dar, denen wir
uns in den nächsten Wochen und Monaten stellen müssen. Insofern bitte ich Sie, dem Koalitionsantrag zuzustimmen.
Danke schön.
({2})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Lothar Bisky,
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir befinden uns in einem kulturellen Umbruchprozess, der
vor allem durch die fortschreitende Digitalisierung nahezu aller Lebensbereiche gekennzeichnet ist. Digitale
Spiele sind heute zu normalen Produkten der Alltagskultur geworden. Am meisten verbreitet sind die sogenannten Ballerspiele; manche nennen sie auch Killerspiele.
Wir müssen - das ist meine Position - den Herausforderungen des digitalen Zeitalters vor allem kulturell begegnen.
({0})
Erwachsene, aber vor allem Kinder und Jugendliche
müssen Medienkompetenz erwerben. Darum geht es.
Medienkompetenz ist die Schlüsselkategorie. Eine moderne Mediensozialisation kommt ohne einen kritischen
Verstand und ohne die Fähigkeit, Realität und Fiktion zu
unterscheiden, nicht aus. Das sind unabdingbare Voraussetzungen. Daher tritt die Linke dafür ein, Medienkompetenz so früh wie möglich entwickeln zu helfen und
entsprechende Maßnahmen Kindergärten, Horten und
Schulen institutionell verpflichtend vorzugeben.
({1})
Medienkompetenz von Kindern und Jugendlichen muss
gefördert werden. Sie brauchen eine Schulung in Sachen
Medienkompetenz, sonst sind sie für die Zukunft in einer digitalen Welt nicht gut gerüstet.
Meine Damen und Herren, der vorliegende Gesetzentwurf zur Änderung des Jugendschutzgesetzes beinhaltet kein Totalverbot mit Strafandrohung für Hersteller, Verbreiter und Nutzerinnen und Nutzer von solchen
Spielen. Gut so; denn solche Verbote bringen nichts. Der
Gesetzentwurf bleibt jedoch im Kern unzureichend. Das
zeigt sich besonders in der Neufassung des § 18. Wenn
künftig nun auch solche Medien in die Liste jugendgefährdender Medien aufzunehmen sind, die, wie es im
Gesetzentwurf heißt,
Gewalthandlungen wie Mord- und Metzelszenen
selbstzweckhaft und detailliert
darstellen, werden die Gerichte sehr viel zu tun bekommen.
({2})
Von diesem rechtsunsicheren Passus sind nämlich nicht
nur Computerspiele betroffen, sondern ebenso Spielfilme und auch so mancher Antikriegsfilm.
({3})
Nein, mit Verboten kommt man hier nicht weiter.
Auch die Indexierung von Medien, die „Selbstjustiz
als einzig bewährtes Mittel zur Durchsetzung der vermeintlichen Gerechtigkeit“ nahelegen, ist aus meiner
Sicht falsch. Selbstjustiz ist zu Recht strafbewehrt. Aber
sollte diese Formulierung Gesetzeskraft erlangen, so
würde demnächst mancher Film etwa mit Charles
Bronson auf dem Index stehen. Nun kann ich mir gut
vorstellen, dass manche von Ihnen den Film „Ein Mann
sieht rot“ verbieten wollen. Ich möchte dies nicht.
({4})
Meine Damen und Herren, der oft behauptete wissenschaftliche Nachweis eines Zusammenhangs von virtuellem Spiel und realer Gewalt ist nichts anderes als ein
Mythos.
({5})
Gewalt und Amokläufe an Schulen entstehen nicht allein
durch den Konsum von gewalthaltigen Computerspielen. Ein sehr komplexes Bedingungsgefüge aus sozialen,
psychologischen und familiären Komponenten muss als
Ursache betrachtet werden. Aus Zeitgründen kann ich
sie hier im Einzelnen nicht aufführen.
Ich komme zum Schluss. Der vorliegende Gesetzentwurf ist ein untauglicher Versuch, diesen neueren sozialen Bedingungen in der gebotenen Komplexität zu
begegnen. Er trägt nicht dazu bei, die kulturellen Herausforderungen des digitalen Zeitalters zu gestalten.
Die Linke lehnt eine prohibitive Politik im Umgang mit
gewalthaltigen Computerspielen ab. Darum lehnen wir
auch diesen Gesetzentwurf ab.
Ich bedanke mich.
({6})
Für Bündnis 90/Die Grünen gebe ich dem Kollegen
Kai Gehring das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das Jugendschutzgesetz sollte Prävention, Erziehung
und Selbstverantwortung durch klare und konsistente
Regelungen unterstützen. Jede Novelle muss sich daran
messen lassen, ob sie tatsächlich zu einem effektiveren
Jugendschutz beiträgt. Viel zu prüfen gibt es aber bei
dieser Mininovelle wahrlich nicht: Die vorgeschlagene
Vergrößerung der Alterskennzeichnungen auf Trägermedien ist ein Tropfen auf dem heißen Stein, und die neuen
Gewaltdefinitionen für Computerspiele sind unnötig und
unklar und bringen mehr Rechtsunsicherheit.
({0})
Anstatt endlich die Empfehlungen der gelungenen
Evaluation des Hans-Bredow-Instituts und des runden
Tisches zum Jugendschutz umzusetzen, verweisen Sie
auf mögliche weitere Novellen und damit vermutlich auf
den Sankt-Nimmerleins-Tag. Warum regeln Sie in dieser
Novelle nicht auch, wie Alterskennzeichnungen verständlicher und klarer werden, anstatt sie einfach nur zu
vergrößern? Warum schaffen Sie unklare Rechtsbegriffe
wie „selbstzweckhafte Gewalt“, anstatt die offensichtlichen Defizite zwischen Selbstkontrolle und Bundesprüfstelle zu beseitigen?
({1})
Ihr Vorgehen gaukelt nur Aktivität vor.
({2})
Offensichtlich wollen Sie verschleiern, dass sich die
Große Koalition beim Jugendschutz in einer populistischen Sackgasse befindet. Aus Bayern kommen völlig
überzogene Verbotsforderungen bei sogenannten Killerspielen. Auf der anderen Seite will NRW seine florierende Computerspielindustrie schützen. Daraus stricken
Sie nun unwirksame gesetzliche Regelungen, die niemandem nützen.
({3})
Beim Thema Alkohol fordert die Unionsfraktion in
dieser Woche im Bundestag wie zuvor bereits die Ministerin von der Leyen ein absolutes Alkoholabgabeverbot
an bzw. Alkoholverbot für alle unter 18-Jährigen. Eine
solche Forderung ist aus meiner Sicht weltfremd.
({4})
Es ist zweifellos erschreckend, dass laut Drogenbericht
im Jahr 2006 rund 20 000 Kinder und Jugendliche mit
Alkoholvergiftungen ins Krankenhaus eingeliefert worden sind. Hiergegen brauchen wir dringend umfassende
Präventionsstrategien, die früh ansetzen müssen: Im Elternhaus, in den Schulen und in den Jugendeinrichtungen muss zusammen mit vielen Kooperationspartnern
eine ganze Menge passieren. Mit Ihrem Vorschlag würde
der Alkoholkonsum jedoch lediglich mit noch weniger
sozialer Kontrolle ins Private verlagert. Ebensolche Verdrängungseffekte bringen innerstädtische Alkoholverbotszonen. Großbritannien und die USA sind bereits mit
einer solchen Verbotspolitik gescheitert. Wieso sollten
wir anderswo gescheiterte Ansätze importieren?
({5})
Nein, wir müssen Kontroll- und Vollzugsdefizite im
Jugendschutz beheben. Diese packen Sie aber mit Ihrer
Novelle definitiv nicht an,
({6})
und das, obwohl Sie dafür zweieinhalb Jahre Zeit gehabt
hätten, auch für die Bund-Länder-Gespräche, die dafür
notwendig sind. Wo bleiben Initiativen für spürbare und
abschreckende Mindestbußgelder für Jugendschutzverstöße? Wo sind Verpflichtungen des Handels zu Kassensystemen mit akustischen Signalen, sobald ein jugendschutzrelevantes Produkt über die Ladentheke geht? Wo
sind Vorstöße für mehr Kontrollen vor Ort? Das müsste
heute hier beantwortet werden; denn diese Maßnahmen
wären wirksam. Das fehlt in Ihrer Novelle. Deshalb
springen Sie beim Jugendschutz zu kurz.
Dagegen hat die Evaluation vom Hans-Bredow-Institut nicht nur die Wirksamkeit der rot-grünen Jugendschutzreform bestätigt, sondern auch die Anpassung an
neue technische Entwicklungen vorgeschlagen - Entwicklungen, die Sie völlig verschlafen; darauf ist bereits
hingewiesen worden. Es darf nicht sein, dass Onlinespiele künftig weiterhin überhaupt nicht geprüft werden.
Wir schlagen auch vor, dass das Suchtpotenzial von
Computerspielen in die Altersfreigabe mit einbezogen
wird. Ebenso wollen wir, dass Zeitverzögerungen bei der
Indizierung von Telemedien, von Hass- und Gewaltaufrufen nicht mehr hingenommen werden. Deshalb müssen die Kooperationsstrukturen ganz klar besser werden.
({7})
Nicht zuletzt geht es natürlich darum, das Wissen von
Lehrkräften und Eltern sowie die Kompetenz der Jugendlichen selbst zu steigern.
Was wir definitiv nicht brauchen - auch das klang
Anfang der Woche wieder an -, ist eine neue Testkäuferdebatte. Damit haben Sie schon einmal Schiffbruch erlitten. Sie hätten jetzt aber sehr wohl gesetzlich regeln können, den Einsatz von Kindern als Testkäufer und damit
als Lückenbüßer für mangelnde staatliche Kontrollen
auszuschließen. Das wäre aus ethischen, pädagogischen
und entwicklungspsychologischen Gründen geboten gewesen. Für eine solche klare Regelung hatten Sie an der
Stelle nicht den Mut.
Herr Kollege, Sie müssen jetzt zum Ende kommen.
Das komme ich jetzt auch mit einem letzten Satz. Wenn Sie nur einen Teil der Energie, die Sie auf das Vorlegen von solchen Scheinlösungen wie heute hier im
Bundestag verwenden, in die Verbesserung des Jugendschutzes in Praxis und Vollzug fließen lassen würden,
dann wäre für den Jugendschutz heute in der Tat eine
ganze Menge bewegt worden. Was Sie uns aber anbieten, ist eine Schmalspurpolitik. Deshalb können wir Ihrem Gesetzentwurf nicht zustimmen.
({0})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Kerstin Griese, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Kollege Gehring, wir haben unsere ganze Energie
auf breiter Spur eingesetzt, um den Jugendschutz ein
Stück voranzubringen. Natürlich wird man das immer
weiter tun müssen. Das ist der Sache immanent: Der Jugendmedienschutz entwickelt sich immer weiter, weil
sich auch die Medien immer weiter entwickeln. Aus diesem Grund brauchen wir hier neue Regelungen, und deshalb ist es richtig, dass wir heute einen ersten Schritt machen.
Wir sollten zur Kenntnis nehmen, dass wir 2003 mit
unserem - übrigens damals gemeinsam beschlossenen Kerstin Griese
Jugendschutzgesetz zum ersten Mal in Angriff genommen haben, den Bereich der Computerspiele zu regeln.
({0})
Das gab es vorher nicht. Das war ein wichtiger Schritt.
Jetzt gibt es eine Evaluation, übrigens erst seit ein paar
Monaten, die wir gut durcharbeiten und deren Ergebnisse wir umsetzen werden. Wenn Sie sich damit beschäftigen, wissen Sie, dass ein großer Teil dieses Bereichs Ländersache ist, sodass wir gemeinsam mit den
Ländern an weiteren Verbesserungen arbeiten werden.
({1})
Wirksamer Jugendmedienschutz muss gleichermaßen auf drei Säulen beruhen: erstens auf der Stärkung
der Medienkompetenz von Kindern und Jugendlichen
- übrigens auch von Eltern -, zweitens auf der gezielten
Aufklärung und drittens auf einem System sinnvoller Altersbeschränkungen. Denn damit können wir deutlich
machen, welche Werte und welche Grenzen in unserer
Gesellschaft gültig sind. Ich sage es noch einmal: Wir
werden hier mit Sicherheit immer wieder über den Jugendmedienschutz sprechen, weil sich die Technik weiterentwickelt, weil es eine stetige Veränderung gibt.
Das wird auch in der Evaluation deutlich. Das HansBredow-Institut hat in dieser Evaluation festgestellt,
dass sich allein durch die technologische Entwicklung
die Grafiken so verändert haben, dass die Darstellung
von Gewalt heute realitätsnäher und detailgetreuer möglich ist als vor einigen Jahren. Der andere Grund für die
Weiterentwicklung ist die Medienkonvergenz, das heißt
die Übertragbarkeit der Inhalte von einem Medium auf
ein anderes.
Ich bin sehr dafür, dass wir die Diskussion über gewalthaltige Spiele sachlich und ohne populistische Zwischentöne führen. Denn selbstverständlich sind nicht alle
Konsumenten von sogenannten Killerspielen, mit denen
ja meistens die Ego-Shooter gemeint sind, gewalttätig.
Tatsache ist aber auch, dass es inzwischen nur noch
wenige Lobbyisten gibt, die behaupten, dass brutale
Spiele und Gewalt überhaupt nichts miteinander zu tun
hätten. Wenn Sie sich mit diesem Thema beschäftigen,
dann wissen Sie, dass sich die Wissenschaft durchaus
schwertut, direkte Zusammenhänge herzustellen: Was
haben gewalttätige Spiele mit Aggressionen aufseiten
der Nutzer zu tun? Es ist tatsächlich noch ungeklärt, wie
sich Gewaltdarstellungen auf das reale Verhalten von
Spielern auswirken.
Es ist aber auch klar, dass es einen Zusammenhang
zwischen dem häufigen Konsum von gewalthaltigen
Computerspielen und einer Abnahme von Empathie, von
Einfühlungsvermögen, und von sozialen Verhaltensweisen gibt. Das hat die Evaluation deutlich gezeigt. Deshalb müssen wir handeln.
({2})
Es gibt Studien, die deutlich zeigen, dass Spiele ein solches Verhalten verstärken, wenn Jugendliche von vornherein große Probleme haben und ohnehin zu gewalttätigem Handeln neigen.
Trotzdem sage ich ganz deutlich: Es ist reiner Populismus, ein Verbot solcher Spiele zu fordern; denn erstens setzt unser Rechtssystem Verboten aus guten Gründen hohe Hürden, und zweitens würde uns ein Verbot in
der falschen Sicherheit wiegen, wir hätten das Problem
im Griff, obwohl das nicht der Fall ist.
Es gibt allerdings einen Zusammenhang - auch das
zeigen neueste Forschungen - zwischen einem sehr intensiven Computerspielkonsum und schlechten Schulleistungen. Das heißt, die Jugendlichen, die in eine
zweite Welt, in ein „second life“, also in ein anderes Leben, abtauchen, können gar nicht mehr den Bezug zum
realen Leben herstellen. Diese Entwicklung ist übrigens
auch dann zu beobachten, wenn man den ganzen Tag vor
dem Fernseher sitzt.
Wenn emotionale Erlebnisse während des Computerspielens die realen Erlebnisse wie beispielsweise Lernerfolge in der Schule in den Schatten stellen, dann kann
man in der Tat eine Art Medienverwahrlosung feststellen. Eine solche Medienverwahrlosung werden wir nicht
allein mit Jugendschutzregelungen nachhaltig eindämmen können. Da braucht es viele andere Maßnahmen
beispielsweise im Bereich der Ganztagsschulen. Dazu
gehört auch, dass man sich um die Jugendlichen und
Kinder kümmert.
({3})
Ich sage noch einmal: Zum Jugendschutz gehört auch,
dass die Gesellschaft mehr Verantwortung für Kinder
und Jugendliche übernimmt.
({4})
2003 haben wir das positive Rating für Computerspiele eingeführt. Es muss eine Kennzeichnung geben,
ab welchem Alter Spiele geeignet sind. Wir haben zum
ersten Mal die Regelung eingeführt, dass die USK, die
Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle, entsprechende
Label vergibt. Ich will allen Beteiligten ausdrücklich für
ihre Arbeit danken. In diesen Dank einbeziehen möchte
ich auch und gerade die Spieletester, die sich diese
Spiele ansehen, durchspielen und sich durch eine Flut
von Spielen kämpfen. Natürlich sind die Eltern gefordert, danach zu handeln. Genauso wie bei der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft hat sich auch hier
gezeigt, dass sich eine freiwillige Selbstkontrolle bewährt.
Die Defizite liegen in der Tat im Vollzug; das will ich
noch einmal ausdrücklich sagen. Die Evaluation hat ergeben, dass drei Viertel aller Jugendlichen sagen, sie hätten Zugang zu nicht altersgemäßen Spielen. 18 Prozent
der Jugendlichen haben angegeben, ihre Eltern hätten ihnen diese Spiele, die für ihr Alter noch nicht geeignet
sind, gegeben. Es geht also sehr stark darum, Eltern im
Umgang mit Medien kompetenter zu machen.
({5})
Mit dieser Gesetzesänderung wollen wir die maßgeblichen Kriterien herausstellen. Die USK hat diesbezüglich
gute Arbeit geleistet. Aber sie ist natürlich auch nicht
unfehlbar. Wir müssen darauf hinwirken, dass bei besonders realistischen, grausamen und reißerischen Darstellungen selbstzweckhafter Gewalt diese Medien indiziert
werden. Das ist deshalb wichtig, weil damit ein Werbeverbot verbunden ist, welches bewirkt, dass der Umsatz
sinkt. Das ist auch gut so.
Wir werden Medien, die Gewalthandlungen wie
Mord- und Metzelszenen selbstzweckhaft und detailliert
darstellen, automatisch auf die Liste der jugendgefährdenden Medien setzen. Auch das ist richtig. Denn auch
hier hat die Evaluation gezeigt: Wenn Gewalttaten in
solchen Spielen als belohntes Leistungshandeln dargestellt werden, ist dies besonders schwerwiegend und gefährlich.
Zum Schluss will ich noch auf einen wichtigen Punkt
hinweisen. Wir müssen alle Anstrengungen unternehmen, die Medienkompetenz von Kindern und Jugendlichen sowie von ihren Eltern, von Erzieherinnen und Erziehern, von Lehrerinnen und Lehrern zu stärken. Wir
brauchen eine Kultur der Anerkennung, die Kinder kompetent begleitet.
Frau Kollegin, Sie haben gesagt, Sie kämen zum
Schluss.
Dann tue ich das.
Ich will noch ausdrücklich sagen, dass Computerspiele nicht per se dumm machen. Es gibt auch sehr viele
pädagogisch wertvolle Spiele. Aber wir müssen die
Augen offenhalten, wenn Kinder und Jugendliche in Parallelwelten abtauchen. Deshalb brauchen wir einen
positiven Jugendschutz, der junge Menschen vor Bildungsarmut, vor Perspektivlosigkeit und vor Langeweile
bewahrt.
Vielen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Jugendschutzgesetzes. Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/9024, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/8546
in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit
in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalition bei
Gegenstimmen der Opposition angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit auch in dritter Beratung mit den Stimmen
der Koalition bei Gegenstimmen der Opposition angenommen.
Wir kommen nun zur Abstimmung über die Entschließungsanträge. Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/9117? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Fraktionen der
SPD und der CDU/CSU bei Enthaltung der Fraktionen
Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke gegen die Stimmen der Fraktion der FDP abgelehnt.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/9118? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Auch dieser
Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalition
bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
und Enthaltung der Fraktionen Die Linke und der FDP
abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten HansJoachim Otto ({1}), Christoph Waitz,
Christian Ahrendt, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der FDP
Notwendige Verbesserungen am Telemediengesetz jetzt angehen
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Lothar
Bisky, Ulla Lötzer, Dr. Petra Sitte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Telemediengesetz verbessern - Datenschutz
und Verbraucherrechte stärken
- zu dem Antrag der Abgeordneten Grietje
Bettin, Bärbel Höhn, Kerstin Andreae, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Fehlende Verbraucherschutzregeln und
Rechtsunsicherheiten im Telemediengesetz
beseitigen
- Drucksachen 16/5613, 16/6772, 16/6394,
16/8099 Berichterstattung:
Abgeordneter Martin Dörmann
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Dr. Martina Krogmann, CDU/CSU-Fraktion.
({2})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Das Telemediengesetz setzt den Rahmen für die
wirtschaftliche Betätigung im Internet und ist damit das
zentrale Gesetz für die Internetwirtschaft in Deutschland. Im vergangenen Jahr haben wir mit dem Telemediengesetz unsere Medienordnung grundlegend reformiert. Die FDP hat damals zugestimmt.
({0})
Wir haben den Mediendienste-Staatsvertrag, das Teledienstegesetz und das Teledienstedatenschutzgesetz zu
einem einzigen Gesetz, zum Telemediengesetz, zusammengefasst und damit den Rechtsrahmen nicht nur vereinfacht, sondern auch vereinheitlicht und den Grundstein für den Boom der Internetwirtschaft in Deutschland
gelegt, wie wir ihn im vergangenen Jahr erlebt haben.
({1})
Wir haben das Gesetz verabschiedet - ich erinnere
mich noch genau -, obwohl uns allen damals bewusst
war, dass wir wichtige Bereiche außen vor gelassen haben.
({2})
Wir haben es dennoch getan, weil damals eine Novellierung der E-Commerce-Richtlinie im Raum stand - auch
Sie, Herr Otto, werden sich erinnern -,
({3})
die genau diese Lücken schließen sollte, die wir außen
vor gelassen haben.
({4})
Man hat dann auf EU-Ebene davon Abstand genommen.
Seitdem ist klar, dass von EU-Ebene nichts kommt und
wir das Telemediengesetz nicht zweimal ändern müssen.
Das Wirtschaftsministerium
({5})
arbeitet mit Hochdruck - das ist wahrscheinlich der
Grund, warum noch keiner hier ist ({6})
an der Überarbeitung des Telemediengesetzes.
({7})
Es wird Zeit - da sind wir uns, glaube ich, einig -, dass
das Telemediengesetz überarbeitet wird, um die Lücken
zu schließen, die wir damals bewusst offengelassen haben.
({8})
- PGF-Dienst hat mein Kollege Manfred Grund. Ich
kann Ihnen diese Frage jetzt nicht beantworten, Frau
Kumpf. Aber ich habe ja eben gesagt, dass das Wirtschaftsministerium mit Hochdruck arbeitet. Ich denke,
vor lauter Arbeit haben sie die Uhrzeit vergessen. Ich bin
sicher, die werden gleich kommen.
({9})
Worum geht es uns bei der Überarbeitung des TMG?
Der wichtigste Bereich sind aus meiner Sicht die Haftungsregeln und die Verantwortlichkeiten im Internet
({10})
für Inhalte - das ist wichtig -, die von Dritten eingestellt
werden. Das betrifft Internetunternehmen, die Daten
transportieren, also die Internetserviceprovider. Das betrifft Forenbetreiber, Internetauktionshäuser, Suchmaschinenbetreiber oder Betreiber von Hyperlinks.
({11})
Anhand eines Beispiels aus der sogenannten Offlinewelt, also aus der realen Welt, will ich verdeutlichen,
worum es geht: Niemand von uns käme doch auf die
Idee, dass die Deutsche Post AG für den Inhalt der Pakete, die sie von A nach B bringt, verantwortlich ist.
Deshalb verlangt auch keiner, dass die Deutsche
Post AG den Inhalt der Pakete vorher kontrolliert. Wir
alle würden sogar sagen: Das wäre völlig absurd. Im
Internet ist das aber nicht so klar, obwohl ein Internetserviceprovider eigentlich nichts anderes macht als die
Deutsche Post AG. Er transportiert Pakete, allerdings
Datenpakete, von A nach B. Hier ist aber nicht klar geregelt, welche Kontrollfunktionen er ausüben muss und
welche Verantwortung er hat.
({12})
- Herr Otto, entspannen Sie sich.
({13})
- Ich bin in tiefer Sorge um Ihre Gesundheit, wenn Sie
so aufgeregt auf der Oppositionsbank sitzen. - Wir sind
uns alle einig, dass die Zeit drängt und wir schnell ein
Gesetz brauchen; denn die Lücken, die wir damals bewusst im Gesetz gelassen haben, führen inzwischen zu
Rechtsunsicherheit. Ursächlich ist unter anderem die
Tatsache, dass sich eine Rechtsprechung etabliert hat,
({14})
die widersprüchlich und für die Unternehmen daher
schwer zu kalkulieren ist. Es herrscht also Rechtsunsicherheit.
Ich will auch dafür ein Beispiel bringen: die berühmten Rolex-Urteile. Es ging darum, dass jemand gefälschte Rolex-Uhren über ein Internetauktionshaus angeboten hat.
({15})
- Das war nicht Ebay, sondern Ricardo. - Die Frage war,
wie das Auktionshaus damit umgehen soll. Es ist selbstverständlich, dass das Auktionshaus dieses Angebot löschen muss, sobald es davon erfährt, dass gefälschte
Rolex-Uhren auf seiner Plattform angeboten werden.
Die Rechtsprechung fordert aber auch, dass die Auktionshäuser die Angebote vor Einstellung ins Internet
prüfen. Die Urteile lassen allerdings offen, wer was in
welchem Umfang nach welchen Kriterien prüfen soll. Es
herrscht also völlige Rechtsunsicherheit. Soll jeder Artikel vorher geprüft werden? Ist das zumutbar, und was
heißt in diesem Zusammenhang überhaupt „zumutbare
Prüfung“?
Ich glaube, dass diese Beispiele deutlich machen, worum es geht: Wir brauchen schnell klare, präzise und
nachvollziehbare Bestimmungen für Verantwortlichkeiten bei Inhalten, die Dritte eingestellt haben. Aus unserer
Sicht muss bei der Überarbeitung des Telemediengesetzes das Prinzip gelten - diesbezüglich stimmen wir mit
den Anträgen der Grünen und der FDP überein -, dass
die Anbieter nicht mit unerfüllbaren, unpraktikablen und
unverhältnismäßigen Verantwortungsregelungen belastet
werden dürfen.
Dieser Grundsatz muss unserer Ansicht nach für die
vier unterschiedlichen Bereiche der Internetwirtschaft
gelten: für die Internetserviceprovider, die Hostprovider,
also die Auktionshäuser und Forenbetreiber, für die Betreiber von Suchmaschinen und für all diejenigen, die
mit Links auf andere Homepages verweisen, also für den
Bereich der Hyperlinks. Bei den Serviceprovidern muss
es bei der Regelung bleiben, dass sie die Daten, die sie
verschicken, vorher nicht kontrollieren müssen. Wir
werden sicherstellen, dass es auch bei den Hostprovidern
keine generellen Vorabprüfungen gibt. Gleiches wird für
die Betreiber von Suchmaschinen gelten. Aus meiner
Sicht wäre es völlig absurd, wenn Inhaber von Homepages die Seiten, auf die sie mit Links verweisen, was
wahrscheinlich jeder von uns tut, ständig kontrollieren
müssten. Das wäre überzogen. Wir werden eine gesetzliche Regelung finden, die praktikabel ist, und so endlich
auch bei den Hyperlinks für Rechtssicherheit sorgen.
({16})
Ich freue mich, dass wir uns im Grundsatz mit der
FDP und den Grünen einig sind.
({17})
Überzogen sind allerdings die Forderungen der Linken
und der Grünen zum Datenschutz, insbesondere zum uneingeschränkten Koppelungsverbot.
Worum geht es hierbei? Koppelung heißt, dass ich
mich, wenn ich beispielsweise einen kostenlosen Dienst
nutze, damit einverstanden erkläre, Werbemails zu bekommen. Wenn man diese Koppelung verbietet, bedeutet das im Umkehrschluss, dass wir im Netz bald keine
kostenlose Angebote, keine Gratisdienste mehr haben
werden. Ich muss den Grünen und auch den Linken sagen: Die Gratiskultur im Internet hat es vor zehn Jahren
gegeben; aber sie ist jetzt vorbei. Es gibt dort Geschäftsmodelle, die sich rechnen müssen. Kein Unternehmen
stellt etwas kostenlos ins Netz, wenn es nicht etwas dafür bekommt.
Ein weiterer Punkt. Wir haben in Deutschland
glücklicherweise das Prinzip der Vertragsfreiheit. Es
wird also niemand gezwungen, diese Dienste zu nutzen
und damit persönliche Daten preiszugeben. Man kann
sich aussuchen, ob man einen kostenlosen Dienst nutzen möchte - dann weiß man, dass man dazu verpflichtet ist - oder eben nicht. Ansonsten nutze ich einen anderen Dienst, weiß aber, dass ich gegebenenfalls dafür
zahlen muss. Das ist das Prinzip der Marktwirtschaft,
das im Internet Einzug gehalten hat. Man mag es bedauern, dass es nicht mehr das „free Internet for all“ gibt,
aber das ist die Realität, und damit müssen wir uns auseinandersetzen.
Ich sehe natürlich, dass wir hinsichtlich der Preisgabe
der persönlichen Daten ein Problem haben. Gerade die
Debatte vorhin zum Jugendschutz hat dies deutlich gemacht. Wir müssen uns genauso klarmachen, dass dies
nur ein kleiner Bereich ist, in dem es um persönliche Daten geht. Ich sehe hier vielmehr die Gefahr im Bereich
der Social Networking Platforms, also zum Beispiel
StudiVZ, MySpace oder inzwischen auch SchülerVZ,
wo Personen und vor allem immer mehr Jugendliche
völlig unbekümmert persönliche Fotos, Daten, Hobbys,
Beziehungen und alles Mögliche ins Internet stellen,
weil sie vielleicht gar nicht wissen, welches Schindluder
mit ihren persönlichen Daten getrieben werden kann.
Frau Kollegin Krogmann.
Ich komme gleich zum Schluss, Frau Präsidentin. Deshalb, denke ich, ist es wichtig, hier nicht auf generelle Verbote zu setzen, sondern darauf, die Medienkompetenz zu stärken, gleichzeitig aber durch die Vertragsfreiheit dem mündigen Bürger die Wahl zu lassen, was er
möchte und was nicht. Dafür werden wir uns als Union
und auch als Große Koalition einsetzen.
({0})
Frau Kollegin Krogmann, das wäre ein wunderbares
Schlusswort. Sie haben Ihre Redezeit endlos überzogen.
Sie müssen jetzt zum Schluss kommen.
Frau Präsidentin, ich komme jetzt gerne zum Schluss.
({0})
Dies ist einer der Punkte, warum wir die Anträge der
Oppositionsfraktionen ablehnen. Wir freuen uns aber auf
eine konstruktive Debatte und ein konstruktives Zusammenarbeiten bei der Überarbeitung des Telemediengesetzes.
Herzlichen Dank.
({1})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Hans-Joachim Otto,
FDP-Fraktion.
({0})
Liebe Frau Kollegin Dr. Krogmann, ich habe Ihnen
mit großer Begeisterung zugehört. Ich habe lange nach
Gründen gesucht, warum Sie, nachdem Sie praktisch alles richtig gesagt haben, unserem Antrag nicht zustimmen. Wir waren uns einig. Wir haben das Telemediengesetz im vergangenen Jahr gemeinsam verabschiedet. Wir
waren und sind uns einig, dass Änderungen dringend erforderlich sind. Sie haben die Änderungen in hervorragender Weise geschildert. Wenn jetzt von der Bundesregierung keine Änderungen vorgelegt werden, dann wird
in dieser Legislaturperiode nichts mehr passieren, und
die Konsequenzen sind katastrophal. Auch darüber sind
wir uns einig. Ihre Rede war super, nur der Schluss war
schlecht, als Sie sagten, dass Sie unserem Antrag nicht
zustimmen.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, alles, was Kollegin
Krogmann eben gesagt hat, wissen wir schon seit der
Anhörung im Wirtschaftsausschuss im Dezember 2006.
Damals ist gesagt worden, es sei unbedingt notwendig,
das Gesetz schnell zu verabschieden. Wir haben uns
dazu hinreißen lassen, die Zustimmung dazu zu erteilen,
haben aber gesagt, dass Änderungen notwendig sind. Sie
haben uns öffentlich zugesagt, dass Änderungsvorschläge zeitnah und umgehend eingebracht werden. Das
ist leider nicht passiert.
Öffnen wir die Augen! Die Konsequenz aus dieser
Säumigkeit des Gesetzgebers ist, dass die gesamte Informations- und Telekommunikationsbranche einem erheblichen Maß an Rechtsunsicherheit ausgesetzt ist. Das belegen zahlreiche Urteile - eines hat Frau Krogmann eben
erwähnt -, die gegensätzlicher nicht sein können. Ich
möchte Ihnen ein weiteres Beispiel nennen - es ist ja
nicht überraschend, dass eine Dame die Rolex-Entscheidung anführt -:
({1})
Die Tatsache, dass in die Zukunft gerichtete Überwachungspflichten von Meinungsforen und artverwandten
Plattformen nicht grundsätzlich ausgeschlossen wurden,
führt zu der absurden Situation, dass einige Betreiber
ihre Kommentarfunktion gleich ganz abschalten mussten. Vielleicht erinnern Sie sich an das absurde Urteil
zum Niggemeier-Blog.
Mir ist bewusst, dass das Thema Überwachung bei Ihnen momentan hoch im Kurs steht. Allerdings frage ich
mich und Sie: Wie soll zum Beispiel ein Onlineportal
wie www.heise.de gewährleisten, dass die circa
200 000 Kommentare, die dort pro Monat abgegeben
werden - gerade sie machen ja den Reiz eines solchen
Portals aus -, vorab kontrolliert werden, ganz abgesehen
davon, dass dies eine weitere nicht hinnehmbare Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit bedeuten
würde?
({2})
Hier ist eine Klarstellung dringend erforderlich.
Ganz grundsätzlich müssen auch die sogenannten
Haftungsprivilegierungen präzisiert werden. Nach wie
vor sollten wir an dem Grundsatz festhalten - Sie haben
ihn angesprochen -, dass die Verantwortung nach dem
Verursacherprinzip zugeordnet wird. Betreiber von
Onlineplattformen dürfen nicht in die Zwickmühle geraten, auf der einen Seite potenzieller Mitstörer und auf
der anderen Seite Vertragsverletzer zu sein. Schließlich
ist auch problematisch, dass Plattformbetreiber gleichzeitig in die Rolle des Anklägers und des Richters gedrängt werden, da sie erwägen müssen, ob im Einzelfall
eine Rechtsverletzung vorliegt.
Neben diesen vordringlichen Punkten werden in unserem Antrag weitere Probleme angesprochen, die endlich gelöst werden müssen: Begrifflichkeiten und Abgrenzungen müssen präzisiert werden. Die Regelungen
zur Bestandsdatennutzung müssen auf das Niveau gehoben werden, das auch im nichtelektronischen Geschäftsverkehr üblich ist. Die Bekämpfung von Spam muss mit
hoher Priorität fortgesetzt werden, ohne jedoch - das
sage ich ausdrücklich in Richtung der Linkspartei und
der Grünen - der Verlockung symbolischer Gesetzesverschärfungen zu erliegen.
({3})
Meine Damen und Herren, ich möchte Sie alle daran
erinnern, dass Bund und Länder die dringend notwendige Restrukturierung der Medienaufsicht vor sich herschieben, ohne auch nur ansatzweise Reformwillen zu
offenbaren. Dabei ist uns allen bewusst, dass Deutschland die zerklüftetste und unüberschaubarste Aufsichtsund Regulierungslandschaft der Welt aufweist und dass
dies zu erheblichen Wettbewerbsnachteilen und Entwicklungshemmnissen führt.
({4})
Ich appelliere daher mit Nachdruck an Sie, gemeinsam
mit den Ländern eine Vereinheitlichung und Vereinfachung anzugehen. Das britische OFCOM könnte uns dabei als praktikables Vorbild dienen.
Damit Frau Präsidentin nicht auch mich ermahnen
muss, komme ich zu meinem Schlusswort. Es ist schon
zu viel Zeit vergangen, in der der Standort Deutschland
und die Informationsgesellschaft und -industrie in diesem Land gehemmt wurden. Deshalb bitte ich Sie, liebe
Hans-Joachim Otto ({5})
Frau Kollegin Krogmann - bitte leihen Sie mir Ihr geschätztes Ohr -, um Ihre Zustimmung zu unserem Antrag.
Herzlichen Dank.
({6})
Nächster Redner ist der Kollege Klaus Barthel, SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die vorliegenden Anträge, mit denen wir uns heute beschäftigen, wurden zwischen dem 20. September und
25. Oktober 2007 an die Ausschüsse überwiesen und am
23. Januar 2008 im Wirtschaftsausschuss behandelt. Sie
wurden dem Plenum gegen die Stimmen der jeweiligen
Antragsteller zur Ablehnung empfohlen.
({0})
Dass die Behandlung dieser Anträge heute offensichtlich
auf Betreiben der jeweiligen Antragsteller auf die Tagesordnung gesetzt wurde, kann ich von der Sache her allerdings nicht verstehen. Denn damit zwingen Sie uns im
Grunde genommen, sie heute abzulehnen.
({1})
Herr Otto, wir alle wissen, dass es sich bei diesem
Thema um eine komplizierte Rechtsmaterie handelt und
dass es im Bereich der elektronischen Kommunikation
ständig neue Entwicklungen, neue Geschäftsmodelle
und neue Missbrauchstatbestände gibt, auf die wir uns
einstellen müssen.
Wir wissen alle, warum wir damals gemeinsam Änderungs- und Ergänzungsbedarf beim Telemediengesetz
gesehen haben und noch immer sehen. Wir mussten dieses Gesetz seinerzeit, im Januar 2007 - Sie haben es erwähnt -, unter Termindruck verabschieden, damit es
zeitgleich mit dem neuen Rundfunkstaatsvertrag der
Länder am 1. März 2007 in Kraft treten konnte. Damit
wurden das frühere Teledienstegesetz und der Mediendienste-Staatsvertrag zusammengeführt. Bestimmte Fragen, die angesprochen worden sind, beispielsweise die
Fragen der Anbieterhaftung, der Spambekämpfung und
des Telemediendatenschutzes, konnten wir damals nicht
mehr vollständig klären.
Wir alle wissen auch, dass die vorgetragenen Änderungswünsche teilweise durchaus erwägenswert, teilweise aber auch strittig sind; Sie werden das noch hören.
Wenn man sich die drei vorliegenden Anträge anschaut,
dann merkt man, dass sie völlig unterschiedlich und gegensätzlich sind. Deswegen kann man hier nicht einfach
sagen: Wir setzen alles um.
Zum einen geht es um die Fragen der Definition und
Abgrenzung von Telemedien, Telekommunikation und
Rundfunk. Hier sehen wir keinen Handlungsbedarf. Mit
Rundfunkstaatsvertrag und Telemediengesetz gelten
jetzt einheitliche Bestimmungen für alle neuen Dienste:
Das Telemediengesetz regelt die wirtschaftlichen Anforderungen, der Rundfunkstaatsvertrag die inhaltlichen
Aspekte der neuen Dienste. Dieser neue gemeinsame
Rechtsrahmen für die Telemedien ist gegenüber dem früheren Zustand eine Vereinfachung und die Grundlage für
ein übergreifendes, einheitliches Datenschutzkonzept.
Außerdem haben wir sichergestellt, dass dieser Rahmen
jetzt unabhängig von Übertragungswegen und Technologien offen für weitere Entwicklungen ist und der Konvergenz Rechnung trägt.
Anders, als die FDP behauptet, gibt es keine Doppelregulierung. Auch die von der FDP, den Linken und den
Grünen geforderte positive Definition von Telemedien
halten wir für problematisch, weil sie zu neuen Abgrenzungsproblemen, zum Beispiel im Hinblick auf die
E-Commerce-Richtlinie der EU und den Rundfunk, führen würde.
({2})
Die neue Flexibilität, die wir geschaffen haben, wäre mit
einem Federstrich wieder dahin, ohne dass es einen Nutzen bringen würde.
({3})
Auch bei den Informationspflichten sehen wir wenig
Änderungsbedarf. Unter Berücksichtigung der E-Commerce-Richtlinie sind die notwendigen Eingrenzungen,
zum Beispiel des Begriffs der Geschäftsmäßigkeit,
längst vollzogen worden. Auch hier können wir der FDP
nicht folgen.
Dagegen halten wir die Forderung der Linken, eine
eindeutige Regelung zu finden, ob im Rahmen der Informationspflichten die Telefon- oder Faxnummer des Verantwortlichen anzugeben ist, für erwägenswert. Wir sollten allerdings berücksichtigen, dass der BGH diese
Frage schon dem Europäischen Gerichtshof zur Entscheidung vorgelegt hat. Wir sollten einfach abwarten,
welche Entscheidung in dem entsprechenden Verfahren
getroffen wird.
In Übereinstimmung mit den Antragstellern sehen wir
bei den Fragen der Verantwortung und Haftung der
Diensteanbieter Handlungsbedarf. Ich nenne dazu drei
Punkte:
Erstens: Haftung für Inhalte des Internetauftritts eines
Diensteanbieters. Die Störerhaftung ist in der Tat unzureichend geregelt. Die Rechtsprechung beurteilt die Unterlassungsansprüche nach allgemeinen Grundsätzen.
Daher werden die Unterlassungsansprüche in einem bestimmten Fall auf kerngleiche Rechtsverletzungen ausgedehnt. Aber was kerngleich ist, bleibt etwas unklar.
Daraus ergibt sich vor allem für kleine Diensteanbieter
ein Risiko.
Zweitens: Suchmaschinen. Prinzip einer Suchmaschine ist, dass alle einschlägigen Seiten regelmäßig
auf zentralen Servern zwischengespeichert werden, damit jemand, der oder die nach entsprechenden Begriffen
sucht, eine gefundene Seite in Sekunden abrufen kann.
Eine vom ursprünglichen Anbieter bereits gelöschte
Seite bleibt dort weiterhin erhalten und kann noch nach
Wochen über die Suchmaschine eingesehen werden.
Eine Löschungspflicht würde die etablierten Anbieter
dieser Welt wie Google technisch und wirtschaftlich
hoch belasten. Das könnte in der Tat das Aus für ein
halbwegs kostenloses Internet bedeuten, zumindest was
einige der Komfortfunktionen anbelangt, die sich bei
den Usern großer Beliebtheit erfreuen.
Drittens: elektronischer Verweis bzw. Link, der auf
eine andere Seite hinweist, die rechtswidrige Inhalte hat.
Nehmen wir an, jemand weist auf die Seite einer politischen Vereinigung hin, die zu einem späteren Zeitpunkt
volksverhetzende Inhalte einstellt, oder nehmen wir an,
jemand baut einen Link zu einer Seite mit Kinderpornografie in seinen Internetauftritt ein. Sind beide Fälle
gleich zu behandeln? Das ist bislang nicht oder nur unzureichend geregelt. Wir stehen hier vor der Abwägung,
ob wir dem Schutz der persönlichen und politischen
Rechte oder aber den etablierten oder möglichen Geschäftsmodellen von Diensteanbietern Vorrang geben
wollen.
Wir würden immer sagen: Die Persönlichkeitsrechte,
die Verbraucherrechte, die Urheberrechte dürfen nicht
vor der Gewalt der Masse und vor Geschäftsinteressen
kapitulieren; das Internet darf kein rechtsfreier Raum
sein. Gleichzeitig wissen wir, dass das Internet eine
weltweite Veranstaltung ist und wir mit nationalen Verboten nicht weit kommen.
({4})
Man läuft Gefahr - das ist uns bewusst -, deutsche Anbieter kaputtzumachen, ohne dass sich in der Sache etwas ändert. Deswegen müssen wir an dieser Stelle die
internationale Entwicklung des Rechts im Auge behalten. Es gilt zum Beispiel, abzuschätzen und zu berücksichtigen, welche Auswirkungen der neue europäische
Rechtsrahmen für die Telekommunikation haben könnte.
Dieser Rechtsrahmen befindet sich zurzeit in Überarbeitung, gerade was die Verbrauer- und Nutzerrechte betrifft.
Wir stehen zum Beispiel vor der Frage, ob wir es zulassen, dass das Internet wegen unseriöser Praktiken eine
verzerrte Alltagswahrnehmung produziert. Wenn man
„Klaus Barthel“ als Suchbegriff bei Google eingibt, erhält man in 0,19 Sekunden 44 800 Treffer.
({5})
- Moment! Das ist ganz bescheiden. - „Merkel“ ergibt
in derselben Zeit 14,7 Millionen Treffer. Sucht man nach
„Beleidigungen“ und „Merkel“, erhält man immerhin
noch 87 000 Treffer. Ich meine, es kann nicht sein, dass
die Bundeskanzlerin gegen in Zeitungen oder Büchern
gedruckte Beleidigungen jederzeit gerichtlich vorgehen
kann, Beleidigungen im World Wide Web hingegen hilflos gegenübersteht. Wir wollen trotzdem keine generelle
Vorabzensur der Angebote im Internet.
Das Telemediengesetz hat sich im ersten Jahr seines
Bestehens im Großen und Ganzen bewährt, Herr Otto,
auch wenn Sie hier Katastrophenszenarien an die Wand
malen. Einige der Änderungsvorschläge aus den drei
Anträgen haben sich durch geltendes Recht und die Praxis bereits erledigt.
Herr Kollege Barthel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Otto?
Bitte, Herr Otto.
Lieber Herr Kollege Barthel, ich möchte keine Untergangsszenarien an die Wand malen, wie Sie es mir gerade unterstellt haben, sondern Ihnen schlicht und einfach die Frage stellen: Können Sie angesichts der vielen
Schwierigkeiten und Probleme, die Sie uns geschildert
haben, der deutschen Internetwirtschaft in Aussicht stellen, dass die auch von Ihnen für dringend notwendig erachtete Überarbeitung des Telemediengesetzes noch in
dieser Legislaturperiode verabschiedet wird?
Herr Otto, das können wir; darauf wäre ich zum
Schluss meiner Ausführungen gekommen.
({0})
Ich war noch bei Ihren Gedanken, dabei, wo wir keinen
Handlungsbedarf sehen. Spamming beispielsweise
konnte durch wirksamere Filter, aber auch durch die Androhung von Bußgeld zurückgedrängt werden.
Die Rechtsprechung schafft auch an anderer Stelle
immer mehr Klarheit. So hat zum Beispiel der Bundesgerichtshof in seinem Urteil vom 10. April 2008 in Sachen Haftung von Ebay bei „Namensklau“ im Internet
eine weise Entscheidung getroffen: Er hat die Haftung
von Internetauktionshäusern bejaht, sie aber begrenzt.
Ich kann das jetzt aus zeitlichen Gründen nicht näher erläutern.
({1})
Das eine oder andere erübrigt sich also durch die laufende Rechtsprechung.
Ich habe aber auch gesagt - Frau Krogmann hat das
ebenfalls deutlich gemacht -, dass wir in Teilbereichen
Änderungsbedarf sehen. Dieser Änderungsbedarf wird
zurzeit - das dürfte allgemein bekannt sein - zwischen
den Ressorts der Bundesregierung abgestimmt. Wir als
Koalitionsfraktionen drängen darauf, dass diese Änderungen auf den Tisch kommen.
Unsere Zusage steht - lassen Sie mich das zum
Schluss noch einmal deutlich machen -: Die Oppositionsfraktionen werden in die Beratungen einbezogen,
bevor der Kabinettsentwurf fertiggestellt wird. Insofern
war es sicherlich verdienstvoll und hilfreich, dass Sie
- FDP, Linke und Grüne - Ihre Änderungswünsche vorgelegt haben. Einiges, aber nicht alles werden wir sicherlich berücksichtigen können.
Vor dem Hintergrund dessen, was Frau Krogmann
und ich vorgetragen haben, werden Sie verstehen, dass
wir heute Ihre Anträge ablehnen müssen, damit wir gemeinsam zu einem vernünftigen Ergebnis kommen. Das
wird sicherlich noch in diesem Jahr sein. Der Zeitdruck
ist uns durchaus klar.
({2})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Lothar Bisky,
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In einer
Frage sind wir uns einig: Das bestehende Telemediengesetz vom vergangenen Jahr ist in wesentlichen Teilen für
die Praxis ungeeignet. Das ist kein Wunder; denn es war
bereits bei seiner Verabschiedung veraltet. Auch wir
Linken halten es für richtig und notwendig, die Regelungen aus dem früheren Teledienstegesetz und dem Mediendienste-Staatsvertrag zusammenzuführen. Mit dem
geltenden Telemediengesetz ist das allerdings misslungen.
Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, Sie haben es versäumt, den Begriff „Telemedien“
im Gesetz eindeutig zu verankern und ihn mit den bestehenden EU-Richtlinien abzugleichen. Viel schwerer aber
wiegt, dass Sie Tausende Betreiber und Betreiberinnen
von Webseiten, Blogs, Foren und anderen Onlinediensten bei der Frage der Haftung alleinlassen. Sie haben es
verpasst, die bestehenden Regelungen klarer und verständlicher zu formulieren und die Intention, die mit den
Regelungen verfolgt wird, zu verdeutlichen. Nie war die
Rechtsunsicherheit im Internet größer. Das bisherige Telemediengesetz ist hinsichtlich der Rechtssicherheit das
Papier nicht wert, auf dem es geschrieben steht. Hier
muss dringend nachgebessert werden. Machen Sie klar,
wer wann, für was und warum haften soll; denn jemand,
der ein Angebot im Netz bereitstellt, darf keinen unkalkulierbaren Haftungsrisiken ausgesetzt sein. Rechtssicherheit brauchen alle. Was wir nicht brauchen, sind
präventive Überwachungspflichten.
Auch der Datenschutz kommt im Telemediengesetz
zu kurz. Die Linksfraktion fordert ein Recht auf Anonymität im Internet. Die meisten Menschen bewegen sich
auch im normalen Leben, also außerhalb des Internets,
häufig anonym in ihrer Umwelt. Noch ist das so, und ich
hoffe, dass dies auch noch lange so bleiben wird. Wir
alle wissen: Gerade im Internet ist der Datenschutz besonders wichtig. Darum muss er auch im Netz gelten.
Ich will Ihnen ein Beispiel nennen: Manch einen Internetdienst dürfen Sie nur dann nutzen, wenn Sie gleichzeitig der Zusendung von Werbung zustimmen. Damit
werden Sie quasi genötigt, Ihre persönlichen Daten unfreiwillig preiszugeben. Das mögen Sie anders sehen.
Ich halte das für grundfalsch. Darum plädiere ich dafür,
diese Zwangskoppelung zu untersagen bzw. zu verbieten.
Auch die neu eingeführte Regelung hinsichtlich der
Auskunft über Bestandsdaten ist uns viel zu weitgehend.
Streichen Sie die Nachrichtendienste und die Polizeibehörden der Länder aus dem Kreis der Auskunftsberechtigten; denn so, wie es jetzt ist, ist es mit dem Datenschutz im Internet nicht weit her. Dass Private bei der
Verletzung von Rechten des geistigen Eigentums mit Sicherheitsbehörden gleichgestellt werden, ist nicht nachzuvollziehen. Die Regelungen der Strafprozessordnung
reichen hier völlig aus.
Ich komme zum Schluss. Geben Sie sich einen Ruck!
Novellieren Sie das Telemediengesetz zugunsten der
Nutzerinnen und Nutzer, und stärken Sie den Verbraucherschutz und den Datenschutz!
Ich danke Ihnen.
({0})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Nicole Maisch, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Das Telemediengesetz ist noch nicht
sehr alt, aber leider schon jetzt veraltet. Darüber besteht
hier im Haus Einigkeit. Uns wurde die Neuordnung der
Medienlandschaft verkauft. Das Versprechen wurde leider nicht gehalten.
({0})
Wir sind der Ansicht, dass die Bundesregierung wichtige Meinungen von Experten ignoriert hat, die gesagt
haben, dass das Gesetz weder den Anforderungen an einen bürgerfreundlichen und einheitlichen Datenschutz
noch den Anforderungen an einen modernen Verbraucherschutz im digitalen Raum gerecht wird.
({1})
Ich habe auch gewisse Zweifel, ob der Boom der Internetwirtschaft nur auf dieses Gesetz zurückzuführen ist.
Ich glaube, er hält schon etwas länger an, als dieses Gesetz in Kraft ist; er wurde nicht ausschließlich dadurch
gefördert.
Wir Grüne bemängeln, dass in diesem Gesetz eine
Definition dessen fehlt, was ein Telemedium eigentlich
ist. Was ist zum Beispiel mit Spiegel Online, die Texte
und Videoclips im Internet anbieten? Ist ein Text Presse
oder Telemedium? Sind Videoclips Rundfunk? Es fehlt
auch eine Definition dessen, wer für die Aufsicht dieser
Medien zuständig ist. Wer ist für den Jugendschutz zuständig? Muss ein Anbieter den Inhalt seiner Videos von
den Landesmedienanstalten oder von der Kommission
für Jugendmedienschutz kontrollieren lassen? Das inteNicole Maisch
ressiert nicht nur große kommerzielle Anbieter, sondern
auch viele private Blogger und Forenanbieter. Die müssen wissen, welches Recht für sie gilt und welche Verantwortung sie für ihr Angebot übernehmen müssen.
Wir Grüne kritisieren insbesondere, dass die Bundesregierung die Welt des Internets ohne den Blick auf die
Nutzerinnen und Nutzer gestaltet hat. Sie verkennt, dass
Bürgerrechte, zum Beispiel beim Datenschutz, selbstverständlich auch im digitalen Raum gelten müssen.
({2})
Wir Grüne kritisieren, dass die Bundesregierung es verpasst hat, einen einheitlichen Datenschutz für Rundfunk,
Telekommunikation und Telemedien zu schaffen.
Ich erinnere in diesem Zusammenhang an das Koppelungsverbot, das verhindert, dass die Nutzung von Internetdiensten an die Herausgabe persönlicher Daten gebunden ist. Das StudiVZ, das in diesem Kontext genannt
wurde, ist, glaube ich, ein gutes Beispiel. Die Kollegin
Krogmann hat kritisiert, dass Menschen im Internet ihre
persönlichen Daten freigeben. Ich stimme mit Ihnen darin überein, dass man das nicht regulieren kann. Gegen
Naivität und Dummheit helfen nun einmal keine Gesetze. Man kann aber regulieren, dass die Anbieter dieser
Foren die Menschen, die sie nutzen wollen, dazu zwingen, ihnen eine große Anzahl persönlicher Daten als Voraussetzung dafür zu überlassen, dass man an solchen
Angeboten teilnehmen kann. Das meinen wir mit Koppelungsverbot, und wir glauben, dass dringend Handlungsbedarf besteht.
({3})
Was den Datenschutz betrifft, gibt es also keinen
Fortschritt. Stattdessen hat das Gesetz den Zugriff auf
persönliche Daten sogar noch erweitert. Bestandsdaten
dürfen unbegrenzt für die Gefahrenabwehr im Bereich
der polizeilichen Vorbeugung und zur Durchsetzung der
Rechte am geistigen Eigentum herausgegeben werden.
Darin sehen wir Grünen eine Zweckentfremdung personenbezogener Daten. Wir glauben, dass Sie damit zu
weit gegangen sind.
Auch was den digitalen Verbraucherschutz angeht,
glauben wir, dass dieses Gesetz dringend überarbeitungswürdig ist. Wir möchten, dass Verbraucherinnen
und Verbraucher effektiver vor Spams geschützt werden.
Wir glauben nicht, dass die Vorschläge der FDP, eine
freiwillige Selbstkontrolle der Wirtschaft einzuführen,
weiterführen.
Wir wollen eine klare und einheitliche Kennzeichnung von Werbemails, damit Verbraucherinnen und Verbraucher nicht so leicht in die Irre geführt werden können. Wir wollen außerdem klare Bußgeld- und
Verbotsregelungen für Spams und Werbemails.
({4})
Die Verfolgung von Spammern und Werbemailabsendern möchten wir bei der Bundesnetzagentur ansiedeln;
denn Spam nervt nicht nur, sondern verursacht auch einen immensen volkswirtschaftlichen Schaden.
Herr Barthel hat gesagt, er müsse sich die Zustimmung zu den Anträgen - also auch zu dem Antrag der
Grünen - verkneifen, weil die Zeit dafür noch nicht gekommen ist. Tun Sie sich keinen Zwang an: Man kann
auch jetzt schon zustimmen.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zu der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie auf Drucksache 16/8099. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/5613 mit dem
Titel „Notwendige Verbesserungen am Telemediengesetz jetzt angehen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die
Beschlussempfehlung ist damit mit den Stimmen der
Fraktion Die Linke, SPD, Bündnis 90/Die Grünen und
CDU/CSU bei Gegenstimmen der FDP angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/6772 mit dem Titel „Telemediengesetz verbessern - Datenschutz und Verbraucherrechte stärken“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU und FDP bei
Gegenstimmen von Bündnis 90/Die Grünen und der
Fraktion Die Linke angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter
Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung
des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 16/6394 mit dem Titel „Fehlende Verbraucherschutzregeln und Rechtsunsicherheiten im Telemediengesetz beseitigen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von
SPD, CDU/CSU und FDP bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke
angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({0})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Laurenz
Meyer ({1}), Peter Bleser, Julia Klöckner,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Elvira
Drobinski-Weiß, Dr. Rainer Wend, Ingrid
Arndt-Brauer, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD
Sicheres Spielzeug für unsere Kinder
- zu dem Antrag der Abgeordneten Nicole
Maisch, Ulrike Höfken, Cornelia Behm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
EU-Spielzeugrichtlinie modernisieren und
Verbraucherschutz ausbauen
- Drucksachen 16/8496, 16/7837, 16/8977 Berichterstattung:
Abgeordnete Doris Barnett
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Julia Klöckner, CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ein Grund für die heutige Debatte sind die Erfahrungen aus dem vergangenen Sommer, als die Schlagzeilen einander jagten. Unsicheres Spielzeug wurde vom
Markt zurückgerufen. Betroffen waren 20 Millionen
Spielzeuge zum Beispiel von Mattel, einem Markenhersteller. Selbst bei solchen Herstellern kann man nicht davon ausgehen, dass die Produkte sicher und ungefährlich
sind. Noch schlimmer waren die Schlagzeilen, dass Kinder erstickt sind, dass Vergiftungsgefahren bestehen und
dass sich Eltern, die meistens damit befasst sind, ihre
kleinen Kinder von gefährlichen Gegenständen wie
Scheren fernzuhalten, Sorgen machten. Darüber, dass
von harmlos erscheinenden Spielzeugen Gefahren ausgehen, sollten wir nicht nur diskutieren. Vielmehr sollten
wir auch die Konsequenzen ziehen. Eines ist für die
CDU/CSU-Bundestagsfraktion ganz klar: Es darf keine
Kompromisse geben, wenn es um die Sicherheit und die
Gesundheit unserer Kinder geht. Alle Produkte, die bei
uns auf den Markt kommen und die Verbraucherinnen
und Verbraucher hier erwerben können, müssen sicher
sein. Es gibt keine Entschuldigung dafür, dass Spielzeug
giftige und gefährliche Stoffe enthält und dass letztlich
unsere Kinder in Europa gefährdet werden.
({0})
Ein anderer Grund für die heutige Debatte ist die anstehende Spielzeugrichtiglinie, über die auf europäischer
Ebene verhandelt wird. Ich möchte mich ganz herzlich
bei meiner Kollegin Frau Drobinski-Weiß bedanken.
Wir beide haben damals zusammen mit der Wirtschaftsarbeitsgruppe den Antrag auf den Weg gebracht, der
heute vorliegt. Wir haben ihn zwar im vergangenen Jahr
erarbeitet. Aber er ist aktueller denn je. Mich hat sehr erstaunt, dass mit der vorgelegten Spielzeugrichtlinie, die
Sicherheit bringen soll, nicht das umgesetzt wird, was
der zuständige EU-Kommissar Verheugen in allen Reden sagt. Das heißt, dass krebserregende und erbgutschädigende Stoffe auch in Zukunft in Kinderspielzeugen zu
finden sein werden, wenn die Richtlinie in der jetzigen
Form umgesetzt wird. Vor allen Dingen werden Grenzwerte dann flexibler gehandhabt. Das heißt, dass man
gegenüber krebserregenden Stoffen etwas toleranter sein
wird. Ein weiterer Punkt, der uns besonders auf den Nägeln brennt, ist, dass das GS-Zeichen, das auf nationaler
Ebene für geprüfte Sicherheit steht und ein hervorragendes Kennzeichen aus Deutschland ist, verboten werden
soll.
Was mich in der Tat sehr irritiert, ist die Rede von
Herrn Verheugen, der am 28. Februar sagte, für Spielzeug gelte das europäische Chemikalienrecht REACH.
Hier muss ich den EU-Kommissar leider verbessern.
Das stimmt so nicht. Dieses Recht gilt nicht unmittelbar
für Spielzeug. Des Weiteren sagte er, dass die Substanzen, die krebserregend oder fortpflanzungsschädlich
seien, verboten werden. Aber auch hier muss ich den
EU-Kommissar korrigieren. Das stimmt nicht. Es werden nur andere Grenzwerte eingeführt. Dann sagte er,
dass bestimmte Duftstoffe verboten werden. Auch das
stimmt nicht. Es werden wiederum nur andere Grenzwerte eingeführt. Hier gibt es eine Kluft. Wir von der
CDU/CSU-Fraktion erwarten, dass der zuständige EUKommissar in Brüssel das von seinen Beamten umsetzen
lässt, was er richtigerweise in seinen Reden sagt.
Ich halte es schon für mehr als sportlich, die Stellungnahmen des Europäischen Parlaments und die ganze Debatte zu torpedieren. Schauen Sie sich einmal im Internet
die Umfrage an, die die Kommission zurzeit über die
Zukunft des GS-Zeichens durchführt. Die Fragen sind
alles andere als wissenschaftlich und offen gestaltet. Fast
Woche für Woche wird die Umfrage umformuliert.
Ein letzter Satz: Ich freue mich sehr, dass die Verbraucherzentrale Bundesverband hier in Deutschland
unsere Position unterstützt. Wir unterstützen uns gegenseitig. Mich irritiert aber, dass die europäische Verbraucherschutzorganisation zu keiner Meinung kommt. Das
verstehe ich nicht unter einem Sprachrohr der Verbraucher. Ich höre von dort überhaupt keine klare Meinung
zum GS-Zeichen. Das GS-Zeichen unterstützt nicht nur
unsere Wirtschaft, sondern es schützt auch unsere Verbraucherinnen und Verbraucher. Verbraucherverbände
fordern immer von der Politik, dass sie auf europäischer
Ebene eine Meinung entwickelt. Das erwarten wir auch
von den Verbraucherverbänden. Denn mit uns gibt es
keine Kompromisse. Die Union steht für Sicherheit bei
den Produkten und auch für Spaß beim Spielen.
({1})
Das Wort hat jetzt der Kollege Hans-Michael
Goldmann von der FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich freue mich zunächst einmal, dass wir
überhaupt zu diesem Thema sprechen. Ich war eben bass
erstaunt, als ich angerufen und mir mitgeteilt wurde, es
solle nicht geredet werden. Ich finde, die Kinder und der
Anlass sollten es uns wirklich wert sein, diese Zeit heute
Abend, wenn es auch ein bisschen spät ist, für unser
wichtiges Anliegen zu verwenden. Ich finde es auch gut,
dass unsere kinder- und jugendpolitische Sprecherin,
Frau Gruß, extra hergekommen ist, um uns in dieser
Frage zu unterstützen.
({0})
Die Kinderkommission war sich in dieser Frage einig.
Dazu werden wir im Zusammenhang mit dem GS-Zeichen noch kommen. Es wäre auch ganz gut, wenn wir
uns einig werden; aber wir sind uns ja ziemlich einig.
Die FDP wird dem Antrag der CDU/CSU und der SPD
zustimmen.
({1})
Liebe Freunde, wir müssen schon einmal hinschauen.
Es muss jedem ein Schauer den Rücken hinunterlaufen,
wenn er feststellt - die Zahlen sind jetzt von dem
RAPEX-Schnellwarnsystem veröffentlicht worden -,
dass es 1 605 Produktwarnungen im Jahr 2007 gegeben
hat, also 53 Prozent mehr als im letzten Jahr. In
400 Fällen handelte es sich um Spielwaren. Das betrifft
also genau den Problembereich, den Julia Klöckner eben
angesprochen hat. Da geht es um Gifte und krebserregende Substanzen im Spielzeug. Man muss ganz klar sagen, dass das Sicherheitsniveau auf der europäischen
Ebene weit hinter dem zurückbleibt, was wir uns wünschen.
({2})
Es ist richtig, was hier angesprochen worden ist, nämlich dass man sich von allen Seiten ein bisschen mehr
Schlagkraft wünschen würde. Wir wissen, dass Grenzwerte bei Spielzeug einfach nicht ausreichen. Deswegen
bitte ich darum, dass diejenigen, die an der Regierung
beteiligt sind, SPD und CDU/CSU, auch auf unseren Minister und den geschätzten, immer anwesenden Staatssekretär Herrn Müller einwirken, damit sie in Brüssel - ich
sage das einmal etwas locker - auf den Putz hauen; denn
das, was in Brüssel passiert, ist ein tolles Ding.
({3})
- Da bin ich nicht so ganz sicher.
Es gibt ein super Zeichen in Deutschland, das GSZeichen. Die europäische Ebene wird sich möglicherweise nur auf das CE-Zeichen einigen. Das heißt nicht,
dass das GS-Zeichen vom Markt ist. Aber das heißt, dass
im europäischen Wettbewerb nur das CE-Zeichen gilt.
Dieses CE-Zeichen hat nun einmal klare Mängel gegenüber dem GS-Zeichen. Deswegen sollten wir uns gemeinsam dafür einsetzen, dass das qualifizierte GS-Zeichen zum Tragen kommt; denn im großen Unterschied
zum europäischen CE-Zeichen wird die Übereinstimmung von Baumustern mit den später in den Handel gebrachten Produkten überprüft. Das ist der entscheidende
Punkt. Es wird also nicht nur ein Baumuster irgendwann
einmal vorgestellt, sondern es wird permanent überprüft,
ob das Produkt, das auf dem Markt ist, mit dem Baumuster im Einklang ist. Das ist eine wirklich gute Sache.
Deswegen noch einmal der Appell an das Ministerium, Herr Staatssekretär, sich um diesen Bereich energisch zu kümmern. Das Verbraucherinformationsgesetz
ist schön und gut, aber ein Verbraucherinformationsgesetz, das mit relativ hohen Kosten auch für diejenigen
verbunden ist, die Bittsteller sind, ist nicht so gut. Aber
in dieser Frage kann man durch engagierten Einsatz auf
europäischer Ebene möglicherweise wirklich noch etwas
erreichen; aber es wird allerhöchste Zeit.
Das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz - möglicherweise auch
das Wirtschaftsministerium - ist in dieser Frage nicht
besonders aktiv. Denn die Information über Produktmängel ist dringend verbesserungsbedürftig. Es gibt
auch die Idee - die Idee gibt es schon länger -, ein Institut in Neuruppin einzurichten, das sich in besonderer
Weise mit Produktsicherheit beschäftigt. Da kann ich nur
sagen: Kommt in die Pötte, damit der Verbraucher endlich die Informationen erhält, die er braucht, um seine
Entscheidung so zu treffen, dass die Kinder, die mit diesem Spielzeug so umgehen, wie man eben mit Spielzeug
umgeht - Kinder stecken sich Spielzeug auch einmal in
den Mund und spielen mit den Händen -, beim Spielen
sicher sind.
({4})
Ich sage Ihnen, liebe Freunde, die Aktivitäten auf europäischer Ebene können Sie vergessen. Wir hatten
heute Morgen ein Gespräch mit dem TÜV Deutschland,
und ich hatte heute Mittag auch ein Gespräch mit Herrn
Billen von der Verbraucherzentrale. Die Information seitens der europäischen Ebene ist eine einzige Katastrophe. Wenn Sie an Informationen kommen wollen und
den Link endlich gefunden haben, dann müssen Sie folgenden Link eingeben.
({5})
Das kann man jetzt schlecht sehen; das gebe ich zu. Aber
Sie sehen, dass es viel ist. Das müssen Sie alles eingeben,
um an Informationen zu kommen: http://ec.europa.eu/
yourvoice/ipm/forms/dispatch?form=SAFETYMARK3
&lang=de. - Dann sind Sie immer noch in einem Bereich, in dem Sie im Grunde genommen kaum Informationen bekommen.
({6})
Lassen Sie uns gemeinsam dafür arbeiten, damit das,
was heute beschlossen wird, auf europäischer Ebene
Schlagkraft hat.
Liebe Freunde von der Großen Koalition, schauen Sie
sich Ihren Antrag noch einmal an. Ich meine, er enthält
eine Verdächtigkeit. Ich glaube, dass wir zu schnell das
GS-Zeichen für ein europäisches CE-Zeichen preisgeben. Lassen Sie uns gemeinsam dafür arbeiten, dass es
auf europäischer Ebene hoffentlich zur GS-Qualität
kommt.
Herzlichen Dank.
({7})
Das Wort hat die Kollegin Elvira Drobinski-Weiß von
der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Falls Sie gleich
ein paar Zahlen noch einmal hören, macht das, so denke
ich, gar nichts. Dann bleibt es besser hängen.
Vor drei Wochen hat die EU-Kommission den
RAPEX-Jahresbericht für 2007 vorgelegt, der die Zahlen
des europäischen Schnellwarnsystems für gefährliche
Konsumgüter enthält. Der Kollege Goldmann hat es bereits gesagt: Um über 50 Prozent ist die Anzahl dieser
Fälle angestiegen. Um genau zu sein, Herr Goldmann:
Es waren 417 Meldungen, die vor allen Dingen gefährliches Spielzeug betrafen. Das heißt, es war pro Tag mehr
als ein Fall.
„Ein Spielzeug gibt zuerst Genuss durch seine Erscheinung und dann Heiterkeit durch seinen Gebrauch“,
heißt es bei Jean Paul in der Erziehlehre. Heutzutage
müsste es wohl eher heißen: Ein Spielzeug gibt zuerst
Genuss durch seine Erscheinung und dann Vergiftungs-,
Erstickungs- und Verletzungsgefahr durch seinen Gebrauch.
Mit ein paar Beispielen will ich das illustrieren. Seit
der letzten Lesung zu diesem Gesetzentwurf Mitte März
sind täglich neue gefährliche Produkte aufgetaucht; ich
möchte sie aneinanderreihen: Verschiedene Spielzeugwaffen mit Laser, Hersteller unbekannt, Warnung: Erblindungsgefahr durch zu starken Laser; Schaukelpferd,
Hersteller unbekannt, Warnung: Schaukelpferd kann
sich mit Kind überschlagen; ferngesteuerter Helikopter,
Hersteller: AEOLUS, Warnung: Gefahr durch Stromschläge; Plastikdinosaurier, Hersteller unbekannt, Warnung: enthält nicht zugelassene, krebserregende chemische Substanzen. Beim Spielhandy von Super Hero
können sich die Kinder Gehörschäden holen. Beim Kreisel des Herstellers TEDi können sie sich durch einen zu
hohen Anteil an Weichmachern vergiften. Ebenso ist es
beim Malen mit den Kinderfarben von TOY PLACE;
denn bei denen werden die Chemikaliengrenzwerte
überschritten.
Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind nur einige
wenige Beispiele aus einer langen Liste. Von Heiterkeit
durch den Gebrauch kann also keine Rede sein. Solche
Produkte gehören nicht in Kinderhände und Kindermünder.
Der Vorschlag der EU-Kommission zur Spielzeugrichtlinie reicht nicht aus; auch das ist schon von meinen
Vorrednerinnen und Vorrednern gesagt worden. Dieser
Entwurf enthält zwar ein Verwendungsverbot für
krebserregende, erbgut- und fortpflanzungsschädigende
Stoffe - k/e/f-Stoffe genannt -, dieses Verbot gilt allerdings nur dann, wenn die Konzentrationsgrenzwerte entsprechend den Regelungen im Chemikalienrecht überschritten werden. Damit wird der Gehalt des jeweiligen
Stoffes im Produkt als entscheidend angesehen. Für die
Sicherheit der Kinder ist es aber wichtig, wie viel des jeweiligen Giftstoffs vom Spielzeug freigesetzt werden
kann. Denn am Spielzeug wird gelutscht, gekaut, und
manchmal wird es auch verschluckt.
Das Chemikalienrecht bringt uns hier also nicht weiter. Im Gegenteil: Es stellt eine deutliche Verschlechterung des geltenden Schutzniveaus für Kinderspielzeug
dar. Der für Lebensmittelverpackungen zulässige Grenzwert für Vinylchlorid ist zum Beispiel mit 1 Milligramm
pro Kilogramm tausendfach - ich betone: tausendfach niedriger als der nach Chemikalienrecht zulässige Grenzwert. Vinylchlorid führt übrigens zu Schädigungen der
Leber, der Speiseröhre, der Milz, der Haut und wird als
krebserzeugend eingestuft.
Auch bei den Duftstoffen springt der Vorschlag zu
kurz. 38 Stoffe sollen verboten werden. 26 dürfen dagegen weiter verwendet werden, wenn sie gekennzeichnet
sind.
Kontraproduktiv ist auch das im Kommissionsvorschlag erneut vorgesehene Verbot normaler Prüfzeichen.
Die Entscheidung des Europäischen Parlaments und des
Europäischen Rates vom Februar 2008 für eine generelle
Beibehaltung nationaler Sicherheitszeichen wird hierdurch für den besonders sensiblen Spielzeugbereich ad
absurdum geführt; Frau Klöckner hat dies auch schon
ausgeführt. Gerade bei Kinderspielzeug müssen sich Eltern mithilfe eines unabhängigen Prüfzeichens am Markt
orientieren können.
({0})
Das GS-Zeichen hat sich bewährt und muss erhalten
bleiben, solange es kein entsprechendes EU-einheitliches Prüfzeichen - natürlich auf dem Niveau und Standard des GS-Zeichens - gibt.
({1})
Ende Mai soll ein Sicherheitspakt zwischen führenden Spielzeugherstellern aus der EU und der EU selbst
geschlossen werden. Das ist zwar begrüßenswert; aber
eigentlich ist dies eine Selbstverständlichkeit.
({2})
Die Hersteller müssen natürlich dafür sorgen, dass das
von ihnen angebotene Spielzeug für die Kinder sicher
ist. Kinder sind besonders schutzbedürftig; dies betonen
wir immer wieder. Kleine Kinder nehmen Spielzeug in
den Mund. Deshalb sollte Spielzeug wie ein Lebensmittel behandelt werden und den sogenannten Lebensmittelbedarfsgegenständen gleichgestellt werden.
({3})
Unser Antrag, Herr Staatssekretär Müller, fordert die
Bundesregierung auf, bei den Verhandlungen auf EUEbene Folgendes deutlich zu machen: Bei der Sicherheit
von Kindern darf es keine Kompromisse geben. - Bitte
unterstützen Sie uns alle dabei und stimmen Sie für unseren Antrag.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat die Kollegin Karin Binder von der Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir führen heute eine ungewöhnliche Debatte.
({0})
Denn wir sind uns quer durch alle Fraktionen einig, dass
die sogenannte Spielzeugrichtlinie der EU nicht akzeptabel ist. Sie schützt kein Kind vor unsicherem oder gar
gefährlichem Spielzeug.
Als Parlamentarier und Parlamentarierinnen müssen
wir daher auf zwei Ebenen aktiv werden: auf der Bundes- und auf der EU-Ebene. Auf der Bundesebene sind
wir uns in den wesentlichen Punkten einig; deshalb unterstützt meine Fraktion die vorliegenden Anträge. Darin
wird die EU aufgefordert, das CE-Zeichen zu einem
Prüfsiegel zu entwickeln,
({1})
das dem Schutzbedürfnis von Kindern gerecht wird und
dem die Verbraucher und Verbraucherinnen trauen können. Die Mindestforderung lautet in diesem Fall, das
deutsche GS-Siegel so lange zu erhalten, bis das CE-Zeichen der EU den Anspruch eines vergleichbaren Prüfsiegels erfüllt.
Die EU-Kommission hat jedoch andere Vorstellungen. Sie beharrt auf dem nichtssagenden und unkontrollierten CE-Zeichen. Mit dem Aufdruck des CE-Zeichens
erklärt ein Hersteller lediglich, dass er bei der Herstellung des Produktes die Sicherheits- und Gesundheitsanforderungen geltender Gesetze eingehalten hat. Eine
Prüfung des Produkts findet nicht statt. So soll es nach
dem Willen der EU-Kommission auch bleiben. Mit der
überarbeiteten Spielzeugrichtlinie sollen Sicherheitsstandards eher noch heruntergefahren und Grenzwerte
angehoben werden. Der Kommission geht es nämlich in
erster Linie um die weitere Liberalisierung der Märkte
und um den Abbau von sogenannten Handelshemmnissen, also um die Wirtschaft. Die Menschen in Europa
werden hintangestellt. Ihnen wird mit dem CE-Zeichen
eine Sicherheit vorgegaukelt, die es nicht gibt.
Im Gegensatz dazu unterliegen Produkte mit dem
deutschen GS-Siegel strengen Sicherheitskontrollen.
Das ist ein Verkaufsargument. Das GS-Zeichen hat nur
einen Fehler: Es ist bisher nicht verbindlich. Spielwarenhersteller allerdings, die etwas auf sich und ihre Produkte halten, unterziehen sich freiwillig dieser Kontrolle, um das GS-Siegel zu erhalten.
Andere jedoch produzieren munter weiter drauf los.
Besser gesagt, sie lassen produzieren, insbesondere in
China, in sonstigen asiatischen, aber auch in anderen
Billiglohnländern. Sie machen ihre Gewinne mit umweltschädlichen Produktionsmethoden, und sie beuten
Menschen aus: Die Beschäftigten arbeiten zum Teil in
12-Stunden-Schichten, an sechs oder gar sieben Tagen
die Woche, ohne Arbeitsschutz, ohne Gesundheitsvorsorge und unter menschenverachtenden Arbeitsbedingungen zu einem Lohn, der diesen Namen nicht verdient
und von dem die Menschen auch in diesen Ländern nicht
leben können.
Es dürfte unstrittig sein, dass die Arbeitsbedingungen,
die Qualität der Arbeitsplätze und die Qualifikation der
Beschäftigten die Qualität eines Produktes bedingen.
Das bedeutet für mich, dass die Verantwortung der deutschen Spielwarenhersteller und auch der internationalen
Konzerne an den Produktionsstätten beginnt. Die Auftraggeber bzw. die Importeure dürfen sich der Verantwortung nicht länger entziehen, auf welche Art und
Weise ihre Produkte hergestellt werden. Sie stehen in der
Verantwortung gegenüber den Beschäftigten der Produktionsbetriebe dort wie auch gegenüber den Verbrauchern
und Verbraucherinnen sowie insbesondere gegenüber
den Kindern hier.
Wir müssen die EU endlich dazu bewegen, verbindliche Umwelt- und Sozialstandards einzuführen, die auch
auf die Partnerstaaten anzuwenden sind, die mit uns Geschäfte machen möchten.
({2})
Eine behördliche Marktaufsicht ist gut und wichtig,
aber noch wichtiger und viel effizienter ist eine gute Vorsorge, in diesem Fall die Produktprüfung, bevor ein
Spielzeug auf den Markt kommt. Sie können sicher sein:
Langfristig werden die Kosten für diese Vorsorge schnell
aufgefangen; denn im Zuge dessen entstehen wesentlich
geringere Kosten für eine auf diese Weise vermeidbare
Nachsorge. Letztendlich zahlen sonst nämlich die Verbraucher und Verbraucherinnen die Zeche: den Preis für
qualitativ schlechte Produkte, Rückrufaktionen und verschwendete Ressourcen.
Vor allem anderen aber hat die Sicherheit von Kindern Vorrang vor wirtschaftlichen Interessen.
Ich danke Ihnen.
({3})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Nicole Maisch von
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Eine Novellierung der Spielzeugrichtlinie
war nach 20 Jahren längst überfällig. Darüber, denke
ich, herrscht hier ebenso Einigkeit wie in der grundsätzlichen Bewertung dieses Richtlinienentwurfs.
Ein Blick ins Schnellwarnsystem der EU, RAPEX,
macht deutlich, wie viele gefährliche Spielzeuge auf
dem europäischen Markt sind und dass auch die Produkte namhafter Markenhersteller darunter sind. Das
heißt, Eltern haben heute, wenn sie 40 oder 50 Euro für
eine Puppe ausgeben, nicht mehr die Sicherheit, dass die
verwendeten Materialien nicht giftig oder gefährlich
sind. Deshalb braucht der Spielzeugmarkt sinnvolle
Rahmenbedingungen zum Schutz der sensibelsten Konsumentengruppe, der Kinder.
({0})
Um es noch einfacher zu sagen: Eltern brauchen die Gewissheit, dass Spielzeuge, die auf dem deutschen Markt
sind, ihre Kinder nicht vergiften - weder durch bleihaltige Farbe noch durch giftige Duftstoffe.
Die Sicherheit, die wir für den Spielzeugmarkt brauchen, wird durch den momentan vorliegenden Richtlinienvorschlag allerdings nicht erreicht. Der Vorschlag
der Kommission hat viele Schwachstellen; dadurch
könnte es dazu kommen, dass die Spielzeuge für unsere
Kinder nicht sicherer, sondern im Gegenteil sogar gefährlicher werden. Dies haben wir von Bündnis 90/Die
Grünen in unserem Antrag „EU-Spielzeugrichtlinie modernisieren und Verbraucherschutz ausbauen“ und in den
zurückliegenden Beratungen wiederholt deutlich gemacht. Auch der Antrag der Koalition weist auf den
Nachbesserungsbedarf hin. Auch der Bundesrat, die Abgeordneten des Europäischen Parlaments und viele Verbände fordern Nachbesserungen am Entwurf. Ich
möchte auf einige Punkte genauer eingehen.
Es wird behauptet, dass durch die Regelungen für
krebserregende, erbgutschädigende und fortpflanzungsgefährdende Stoffe sowie die Regelungen zu Schwermetallen wie Blei oder Quecksilber ein besseres Schutzniveau erreicht würde. Das Gegenteil ist der Fall. Die
Koppelung an das europäische Chemikalienrecht bewirkt, dass das Schutzniveau für Kinder schlechter wird.
Wir stellen uns klar gegen eine Aufweichung der Regelungen in diesem Bereich.
({1})
Giftige und erbgutschädigende Stoffe gehören nicht in
Kinderspielzeug.
Eine ernst zu nehmende europäische Spielzeugrichtlinie muss auch gewährleisten, dass die Sicherheitsmaßnahmen der Spielzeughersteller systematisch kontrolliert
werden und diese Kontrollergebnisse öffentlich zugänglich gemacht werden.
Die Verbraucherinnen und Verbraucher brauchen umgehend alle relevanten Informationen. Es wäre sehr
schön, wenn sie ihnen auf Deutsch, barrierefrei und
leicht verständlich zugänglich gemacht würden.
({2})
Über das GS-Zeichen ist schon einiges gesagt worden. Einen Aspekt möchte ich noch hinzufügen: Wir
vom Bündnis 90/Die Grünen stehen hinter dem bewährten GS-Zeichen. Das CE-Zeichen bietet keinen ausreichenden Schutz und ist kein Ersatz für das GS-Zeichen.
Wir wollen ein europäisches Sicherheitssiegel für sensible Verbrauchsgüter, das ähnlich wie das GS-Siegel ein
hohes Schutzniveau aufgrund einer Kontrolle durch unabhängige Dritte garantiert. Meine Vorstellung von
freiem Markt ist ein bisschen anders als die der Kommission. Herstellern, die das GS-Zeichen haben, weil sie besondere Anstrengungen im Bereich der Sicherheit unternehmen, zu verbieten, dies durch das GS-Siegel zu
dokumentieren und so den Verbrauchern zu sagen, damit
hätten sie ein besonders sicheres und gutes Produkt, ist
doch keine freie Marktwirtschaft. Das hat auch nichts
mit Liberalisierung und freiem Binnenmarkt zu tun. Ich
habe das Gefühl, dass hier die Interessen von ganz anderen, unter anderem auch die der großen Konzerne, im
Spiel sind, die glauben, dass ein Markenname ein Ersatz
für ein Sicherheitssiegel sei.
Wir Grünen wollen geprüfte Sicherheit weiterentwickeln, anstatt sie abzuschaffen. Mein Appell an die
Bundesregierung: Nutzen Sie den Rückenwind, der hier
ganz munter von allen Seiten, von der FDP bis zur Linken und natürlich auch von den Grünen, weht, und setzen Sie sich in den Verhandlungen auf europäischer
Ebene dafür ein, dass die Forderungen aus den vorliegenden Anträgen Eingang in die Richtlinie finden.
({3})
Zum Schluss zitiere ich den EU-Kommissar Verheugen,
der etwas ganz Schlaues gesagt hat:
Wenn es um die Gesundheit der Kinder geht, darf es
keine Kompromisse geben.
({4})
Damit dies keine leeren Versprechungen bleiben - es ist
doch noch eher eine leere Versprechung -,
({5})
müssen Sie ihm vonseiten der Bundesregierung noch ein
bisschen Anschub geben. Ein erster Schritt für einen solchen Anschub wäre eine Zustimmung zum grünen Antrag.
({6})
Das Wort hat der Kollege Franz Obermeier von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Ich habe in diesem Hause selten eine Debatte erlebt, in
der die Übereinstimmung in den Ansichten so übergreifend war, wie es bei dieser Debatte der Fall ist. Offenbar
haben wir auf nationaler Ebene gute Vorarbeit geleistet.
Dennoch gibt es eine ganze Reihe von Punkten, bei denen wir zusammenstehen und unseren Einfluss geltend
machen sollten, damit die europäische Richtlinie nicht in
der Form in Kraft tritt, in der sie jetzt novelliert werden
soll. Neben den schon mehrfach genannten Punkten wie
dem, dass eine unabhängige dritte Prüfstelle eingerichtet
werden soll, die nicht nur die physikalisch-mechanischen Anforderungen, sondern auch die chemischen Anforderungen an Kinderspielzeug prüft, gibt es etliche
weitere Punkte, die wir in Brüssel vertreten sollten.
Im Koalitionsantrag fordern wir die Beibehaltung des
deutschen GS-Zeichens, weil es einen Meilenstein des
Verbraucherschutzes im Allgemeinen darstellt. Hier
prüft nicht nur der Hersteller, sondern etwa ein TÜV ein
Produkt auf seine Sicherheit, und es gibt auch nicht nur
eine Baumusterprüfung, sondern die Substanzen in diesem Artikel werden im weiteren Verlauf der Produktion
immer wieder geprüft. Dies hat sich bewährt. Die Bundesregierung hat auf EU-Ebene bereits mehrfach für den
Erhalt des GS-Zeichens gekämpft. Das GS-Zeichen
muss zumindest so lange erhalten bleiben, bis ein ebenso
effektives EU-einheitliches Sicherheitszeichen obligatorisch wird. Hier darf es keine Novellierung geben. Statt
Abschaffung des GS-Gütesiegels sollten wir weiterhin
auf ein europaweites unabhängiges Prüfzeichen für die
Produktsicherheit drängen. Das Gütesiegel sollte von einer objektiven dritten Seite verliehen werden. Dann
hätte der europäische Verbraucher eine einheitliche
Orientierung. Es muss so gestaltet werden, dass auch die
Importe nach Europa den Prüfungsmechanismen unterworfen werden.
({0})
Ich bitte Sie, unsere Kollegen im Europäischen Parlament verstärkt auf die Zusammenhänge in dieser Angelegenheit anzusprechen, damit sie im Parlament auf die
Forderungen, die wir hier übereinstimmend erheben,
deutlich hinweisen und uns beim Schutz unserer Kinder,
unserer Verbraucherinnen und Verbraucher unterstützen.
({1})
Ich möchte kurz noch auf die Punkte eingehen, die in
den anderen Anträgen enthalten sind. Der Oppositionsantrag enthält Maximalforderungen, die zum Teil rechtlich problematisch sind. Ich nenne den Rückruf vermeintlich unsicherer Produkte. Eine solche pauschale
Abwälzung von Kosten kann nicht in einer EU-Richtlinie geregelt werden. Das widerspricht dem Subsidiaritätsprinzip. Davor sollten wir uns hüten. Ähnliches gilt
für ein generelles Verbot von polyaromatischen Kohlenwasserstoffen; es wäre pauschalierend und zu weitgehend. Es gibt eine ganze Anzahl von Phthalaten und anderen Weichmachern, die toxikologisch unbedenklich
sind und deshalb nicht unbedingt verboten werden müssen. Der Grenzwert für Blei ist im Richtlinienentwurf
selbst geregelt. Somit ist eine Mitsprache des Europaparlaments zwingend.
Ich bin überzeugt, dass die europäische Spielzeugrichtlinie von deutscher Seite bestmöglich auf den Weg
und entscheidend nach vorn gebracht wird. Wir sollten
alle miteinander daran mitwirken, dass in dieser Novelle
eine vertretbare Regelung geschaffen wird.
Weitere Ausführungen kann ich mir ersparen, weil
Mehrfachäußerungen das Ganze nicht glaubwürdiger
machen.
Vielen Dank.
({2})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
der Kollege Jürgen Kucharczyk von der SPD-Fraktion
das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist bereits viel
über RAPEX gesagt worden. Aber es ist schon erstaunlich, was man auf den Seiten dieses europäischen Warnsystems, insbesondere für die letzte Berichtswoche, findet, gerade im Zusammenhang mit Spielzeug, durch das
Kinder großen Gefahren ausgesetzt werden, darunter ein
Piratenset aus Plastik, das zu mehr als 30 Prozent aus gefährlichen Weichmachern besteht - hergestellt in Hongkong -, ein hölzernes ABC-Lernspiel aus China mit hohem Blei- und Chromanteil, eine Schnecke zum
Hinterherziehen, also für die ganz Kleinen, die eine viermal so lange Schnur wie erlaubt hat. Insgesamt
145 Spielzeuge listet RAPEX für das Jahr 2008 schon
auf - und wir haben gerade erst Mai.
All diese Beispiele beweisen leider: Spielzeug bleibt
weiterhin ein Problem und ein Gefahrenpotenzial für unsere Kinder. Es ist daher gut und richtig, dass sich insbesondere die Koalitionsfraktionen dem Thema „Sicheres
Spielzeug“ gewidmet haben. In der EU hat sich die Zahl
der gefährlichen Spielwaren innerhalb eines Jahres verdoppelt. Durch die EU-Spielzeugrichtlinie soll dem entgegengewirkt werden.
Uns geht die Richtlinie jedoch nicht weit genug, und
das vor allem in drei Punkten:
Krebserregende, erbgut- und fortpflanzungsschädigende Stoffe haben im Spielzeug nichts verloren. Die
vorgeschlagenen Grenzwerte für diese Stoffe sind zu
hoch. Unsere Zielsetzung und unsere Forderung sind ein
komplettes Verbot.
In der EU-Richtlinie sind auch noch 38 allergene
Duftstoffe erlaubt. Auch hier setzen wir uns für ein komplettes Verbot ein.
Das GS-Zeichen und die CE-Kennzeichnung sind die
einzigen gesetzlich geregelten Prüfzeichen in Europa für
Produktsicherheit. Daher ist umso unverständlicher, dass
die EU das Geprüfte-Sicherheit-Zeichen abschaffen will.
Da machen wir nicht mit.
({0})
Wir setzen uns für dessen Erhalt ein. Unser GS-Zeichen
ist zurzeit in Europa ein beispielhaftes Vorbild. Es bestätigt durch eine unabhängige Stelle, dass die Produkte die
Vorschriften in Bezug auf Sicherheit und Gesundheit erfüllen.
Spielen ist Erfahrung, Handeln und Emotion. Bei
Werten wie Geborgenheit, Vertrauen und Tradition, die
mir im Zusammenhang mit Spielzeug ebenfalls in den
Sinn kommen, denke ich an die Eltern und an die Branche der Hersteller. Erfreulich ist, dass der Plüschtierhersteller Steiff seine Produktion aus China zurückholt. Damit übernimmt und stellt sich das Unternehmen der
Verantwortung bei der Herstellung von Spielzeug.
({1})
Wir müssen die Eltern und all diejenigen, die Kindern
mit Spielzeug eine Freude machen wollen, in die Lage
versetzen, bewusste Verbraucherentscheidungen zu treffen. Diesbezügliche Informationen müssen verfügbar
und transparent sein. Der Gedanke der Nachhaltigkeit
muss auch beim Spielzeug in den Vordergrund rücken.
Nachhaltigkeit heißt für mich in diesem Zusammenhang:
Verwendung von umweltschonendem Material, keine
Schadstoffe, Sicherheit, Langlebigkeit, Einhaltung des
Verhaltenskodex des Weltverbandes der Spielwarenindustrie sowie keine Kinderarbeit.
Unser Koalitionsantrag zeigt gangbare Wege, wie wir
als Politiker, Eltern und Unternehmer zu nachhaltigem
und sicherem Spielzeug beitragen können. Zugleich bewahren wir damit zwei unserer höchsten Güter: die Gesundheit unserer Kinder und die Freude unserer Kinder
am Spielzeug.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie auf Drucksache
16/8977. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/8496
mit dem Titel „Sicheres Spielzeug für unsere Kinder“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist einstimmig angenommen.
({0})
Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung
des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 16/7837 mit dem Titel „EU-Spielzeugrichtlinie modernisieren und Verbraucherschutz ausbauen“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der
FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke
und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({1}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Jan Korte, Petra
Pau, Kersten Naumann, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE
Entschädigung für Opfer nationalsozialistischer Verfolgung
- Drucksachen 16/3536, 16/7950 Berichterstattung:
Abgeordnete Günter Baumann
Christian Ahrendt
Wolfgang Wieland
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es dazu
Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Günter Baumann von der CDU/CSUFraktion das Wort.
({2})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der Antrag der Fraktion Die Linke, der heute
vorliegt, zielt erneut darauf, ehemaligen Mitgliedern der
KPD der Bundesrepublik und politisch aktiven Kommunisten bzw. ihren Erben Ansprüche nach dem Bundesentschädigungsgesetz nachträglich zuzugestehen, weil
sie Opfer nationalsozialistischer Verfolgung waren.
In dem Antrag unterstellt die Linksfraktion erneut,
dass ehemalige Mitglieder der verbotenen KPD, die Verfolgte in der NS-Zeit waren, generell keine Entschädigung bekommen hätten. Dies entspricht nicht den Tatsachen. Vielmehr haben Opfer nationalsozialistischer
Verfolgung eine Entschädigung erhalten, wenn sie nicht
zielgerichtet gegen die freiheitlich-demokratische
Grundordnung der Bundesrepublik vorgegangen sind.
Diesen Anspruch hat der Bundesgerichtshof im Jahre
1973 eindeutig bestätigt.
Nach § 6 des Bundesentschädigungsgesetzes sind nur
zwei Gruppen von Opfern des NS-Regimes von der Entschädigung ausgeschlossen; alle anderen erhalten eine
Entschädigung. Ausgeschlossen sind zum Ersten diejenigen, die nach dem 23. Mai 1949 die freiheitlich-demokratische Ordnung im Sinne des Grundgesetzes in der
Bundesrepublik bekämpft haben, und zum Zweiten diejenigen, die nach dem 8. Mai 1945 wegen eines Verbrechens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mehr als
drei Jahren verurteilt worden sind. Wir müssen also eindeutig feststellen, dass der größte Teil eine Entschädigung erhalten hat. Nur wer mit allen Mitteln gegen die
Bundesrepublik gearbeitet hat, ist ausgeschlossen worden.
({0})
- Kollege Korte, Sie können das nachher in Ihrem Beitrag anders darstellen. - Die Ausschlussgründe im Bundesentschädigungsgesetz hat übrigens das Bundesverfassungsgericht 1961 für eindeutig verfassungsgemäß
erklärt.
Der Antrag, der heute von den Linken vorgelegt wird,
ist erneut der Versuch, die Gegner der Bundesrepublik,
also diejenigen, die gegen den freiheitlich-demokratischen Staat gearbeitet haben, von Tätern zu Opfern zu
stilisieren.
({1})
- Ich habe damit gesagt, dass Sie versuchen, Täter, die
gegen die Bundesrepublik gearbeitet haben, heute als
Opfer darzustellen und ihnen oder ihren Erben eine Entschädigung zuzugestehen.
({2})
Die KPD war 1956 durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts in der Bundesrepublik verboten, weil
sie gegen den freiheitlichen Staat gearbeitet hat. Allein
dem Verfassungsgericht obliegt das Entscheidungsmonopol - das wissen Sie, Kollege Korte -, eine Partei zu
verbieten oder nicht, wenn sie gegen die demokratische
Grundordnung gerichtet ist. Das Gericht kann im Gegenzug eine Partei auch dann für verfassungswidrig erklären, wenn keine Aussicht besteht, dass sie ihre verfassungswidrige Absicht in absehbarer Zeit verwirklichen
kann. Damit spielte es aus damaliger Sicht keine Rolle,
ob die KPD jemals ihr Ziel des revolutionären Sturzes
Adenauers - das wollte sie nämlich - erreicht hätte. Es
geht allein darum, dass sie dies erklärt hat und mit einer
Vielzahl von Maßnahmen gegen den Staat gearbeitet hat.
Wir wissen aus der Statistik: Es gab eine Vielzahl von
Gerichtsurteilen gegen diejenigen, die gegen den Staat
gearbeitet haben.
({3})
Somit können wir den heute erneut vorgelegten Antrag,
das Bundesentschädigungsgesetz zu ändern, nicht unterstützen. Dieser Antrag ist auch gar nicht durchsetzbar.
Ich möchte noch deutlich sagen, dass eine zweite
Gruppe von Opfern - ich hatte vorhin von zwei Gruppen
gesprochen -, nämlich diejenigen, die zu einer Freiheitsstrafe von mehr als drei Jahren verurteilt wurden, keine
Entschädigung erhalten hat. Das heißt, sie mussten
schwere Delikte in der Bundesrepublik begangen haben,
ehe sie zu drei Jahren Freiheitsstrafe verurteilt wurden.
Der Gesetzgeber hat heute wie damals einen Gestaltungsspielraum, Personen von einer Entschädigungsleistung auszuschließen. Das war gewollt und aus unserer
heutigen Sicht eindeutig richtig.
({4})
Unter Berücksichtigung der damaligen Verhältnisse war
es rechtsstaatlich vertretbar, Verfolgte des Nationalsozialismus auszuschließen, wenn sie gegen die freiheitliche
Ordnung der Bundesrepublik mit schweren Straftaten
gearbeitet haben.
Mir liegt aber in meiner politischen Arbeit eine vollkommen andere Personengruppe wesentlich mehr am
Herzen, nämlich die Opfer des SED-Regimes.
({5})
Anders als in der Bundesrepublik waren Richter und
Staatsanwälte bei der Urteilsfindung in der DDR nicht
dem Rechtsstaat verpflichtet. Hier wurden Bürger für ihren mutigen Einsatz für Freiheit, Demokratie und Gerechtigkeit gnadenlos verurteilt.
({6})
- Ich spreche von einer anderen Gruppe, Herr Korte. Sie
sollten einmal zuhören.
({7})
Herr Kollege Baumann, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Winkelmeier?
Bitte.
Herr Kollege Baumann, ist Ihnen bekannt, dass Mitglieder der Kommunistischen Partei Deutschlands am
Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland mitgearbeitet haben?
({0})
Ist Ihnen bekannt, dass der damalige Fraktionsvorsitzende der KPD bei der Verabschiedung des Grundgesetzes gesagt hat: „Die Mitglieder der KPD stimmen zwar
heute dem Grundgesetz nicht zu, weil es zur Spaltung
Deutschlands beiträgt; aber es wird die Zeit kommen, in
der wir als Kommunisten die demokratischen Errungenschaften des Grundgesetzes verteidigen werden“?
Das habe ich hier in keiner Weise infrage gestellt.
Auch Mitglieder der KPD haben eine Entschädigung bekommen - das habe ich deutlich gesagt -, aber nicht diejenigen, die gegen den Staat gearbeitet haben und rechtmäßig verurteilt worden sind.
({0})
Ein großer Teil der KPD-Mitglieder hat eine Entschädigung erhalten.
Ich habe von denen gesprochen, die in dem Unrechtsstaat DDR verurteilt worden sind, weil sie sich für Freiheit und Demokratie eingesetzt haben. Es gab, wie wir
heute alle wissen, hochgradige Unrechtsurteile und politische Verfolgung. Die politische Strafjustiz der DDR
war verbrecherisch, was ein markantes Merkmal einer
Diktatur ist.
Die Opfer der DDR-Willkür haben für ihren mutigen
Einsatz für Freiheit, Demokratie und Gerechtigkeit nach
der Wende in unserem Land eine moralische Wiedergutmachung erfahren. Das letzte Gesetz hierzu war das
3. SED-Unrechtsbereinigungsgesetz von 2007. Kollege
Korte, auch in dieses Gesetz haben wir bewusst einen
Ausschlussgrund hineingeschrieben. Wir haben gesagt,
dass eine gewisse Gruppe diese Entschädigung nicht erhält. Wir haben festgelegt: Keine Leistung erhält, wer
„gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder der
Rechtsstaatlichkeit verstoßen oder in schwerwiegendem
Maße seine Stellung zum eigenen Vorteil oder zum
Nachteil anderer missbraucht hat.“ Das sind politisch gewollte Ausschlussgründe, ebenso wie damals.
Der wiederholt eingebrachte Antrag der Fraktion Die
Linke - die PDS-Fraktion hat diesen Antrag früher
schon einmal eingebracht; er ist also nicht neu - ist der
untaugliche Versuch, diejenigen, die einen freiheitlichdemokratischen Rechtsstaat beseitigen wollten, zu Opfern zu machen.
({1})
Das ist eine Verhöhnung derer, die in Deutschland wirklich Opfer von Diktaturen waren.
({2})
Dass Sie als Fraktion Die Linke derartige Anträge
heute immer noch stellen, zeigt der Öffentlichkeit in
Deutschland deutlich, dass Sie noch nicht in der Demokratie angekommen sind.
({3})
Sie sollten Ihre Kraft lieber darauf verwenden, Ihre eigene Geschichte aufzuarbeiten. Wir werden Ihren Vorschlag ebenso wie im Innenausschuss ablehnen.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat der Kollege Ernst Burgbacher von der
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Kollegen von der Linksfraktion, es ist klar, warum
Sie diesen Antrag heute noch einmal beraten lassen. Für
uns ist das aber eine gute Gelegenheit, noch einmal zu
aufzuzeigen, warum Ihr Antrag in vielen Punkten
schlichtweg falsch ist.
Ich kann an das anknüpfen, was Herr Baumann sagte,
und möchte mich kurz fassen. Ich will aber ausdrücklich
unterstreichen: Der Antrag erweckt den Eindruck, Mitglieder der verbotenen KPD hätten ausnahmslos keine
Entschädigung nach dem Bundesentschädigungsgesetz
erhalten. Das ist schlichtweg falsch. Das wissen Sie, und
das muss auch die Öffentlichkeit wissen. Ausgeschlossen von der Entschädigung waren nur solche Personen,
die nach dem 8. Mai 1945 wegen eines Verbrechens
rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mehr als drei
Jahren - das ist nun wirklich kein Pappenstiel - verurteilt worden sind, und solche Personen, die aktiv für die
Beseitigung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung gekämpft haben.
({0})
Die bloße Mitgliedschaft in der KPD war zu keiner
Zeit ein Ausschlussgrund. Hierauf hat mein Kollege
Max Stadler immer wieder hingewiesen. Das sollten Sie
einmal zur Kenntnis nehmen.
({1})
- Ich lasse jetzt keine Zwischenfragen zu, weil ich das
weiter ausführen möchte.
Ich will darauf hinweisen - auch diesbezüglich liegen
Sie falsch -, dass die Bundesrepublik Deutschland in
vielen Fällen, in denen ein Ausschlussgrund vorlag,
gleichwohl Leistungen erbracht hat. In meinem Bundesland zum Beispiel, in Baden-Württemberg, haben viele
Betroffene einen Härteausgleich nach dem Bundesentschädigungsgesetz erhalten.
({2})
Von einer Gerechtigkeitslücke kann entgegen Ihrer Behauptung also überhaupt keine Rede sein; das ist purer
Unsinn.
Sie laufen Gefahr, mit Ihrem Antrag neues Unrecht zu
schaffen, mindestens alte Wunden aufzureißen. Es schüttelt mich, wenn ich in einem Bericht des Innenausschusses lesen muss, „Kommunisten, die Opfer des NS-Regimes waren, müssten ausnahmslos“ - ich wiederhole:
ausnahmslos - „mit anderen Geschädigten nationalsozialistischer Verfolgung gleichgestellt werden“. Ich hätte
mit diesem Satz kein Problem, stünde da „grundsätzlich“. Die Formulierung „ausnahmslos“ geht aber wirklich zu weit. Das liefe darauf hinaus, diejenigen, die sich
für Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit eingesetzt haben, ebenso zu behandeln wie diejenigen, die aus
der Geschichte nichts gelernt haben und einen neuen Unrechtsstaat errichten wollten. Das können wir nicht mittragen.
({3})
Ich will auf weitere Einzelheiten gar nicht eingehen.
Aber eines möchte ich deutlich sagen: Das KPD-Verbotsurteil stellt eine Gefahr dar; das ist richtig. Damals
hatte die FDP einen Antrag für eine gewisse Amnestie
gestellt, mit dem sie nicht durchgekommen ist. Das ist
Geschichte.
({4})
Es war auch so, dass einige übereifrige Staatsanwälte ermittelt haben, was aus heutiger Sicht zu weit ging. Aber
für die Funktionsfähigkeit unseres Rechtsstaates spricht
eindeutig, dass derartige Verfahren nur in verhältnismäßig wenigen Fällen überhaupt zu einer Anklage oder
gar Verurteilung führten.
Gleiches, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
Linken, lässt sich über die DDR leider nicht sagen. Dort
wurde nicht nur systematisch gegen tragende Prinzipien
des Rechtsstaats verstoßen, dort gab es darüber hinaus
systemimmanente Sachverhalte von Unrecht. Das muss
immer wieder gesagt werden, man muss immer wieder
darauf hinweisen. Wenn Sie eine öffentliche Debatte
wollen, dann müssen Sie das akzeptieren. Diese Unterscheidung ist notwendig und erlaubt, damit keine Geschichtsklitterung betrieben wird.
({5})
Ich würde mich freuen, wenn Sie sich dieser Erkenntnis
endlich nicht länger verschließen und Ihren Antrag zu
den Akten legen.
Herzlichen Dank.
({6})
Bevor ich dem Kollegen Wolfgang Gehrcke das Wort
zu einer Kurzintervention gebe, will ich darauf hinweisen, dass das die letzte Kurzintervention ist, die ich heute
zulasse. Ich bitte, auch von Zwischenfragen abzusehen,
damit die Debatte nicht zu weit in den Abend hineingeht.
Jetzt hat Kollege Gehrcke das Wort zu einer Kurzintervention.
({0})
Wenn Sie schon Biografien lesen, dann lesen Sie sie
vollständig. Ich war nicht nur DKP-Vorsitzender in
Hamburg,
({0})
sondern auch Mitglied des Präsidiums.
({1})
Ich danke dem Präsidenten, dass er diese Kurzintervention zugelassen hat. Denn das, worüber Sie reden, ist
auch ein Teil meiner Geschichte, wie Sie zu Recht feststellen. Ich bin 1961 Mitglied der damals verbotenen
KPD geworden. Wenn Sie in die Geschichte schauen
- es geht um die Aufarbeitung von Geschichte und Unrecht -, werden Sie feststellen, dass Persönlichkeiten wie
Gustav Heinemann und auch der spätere Justizminister
in Nordrhein-Westfalen Diether Posser - damals war er
Rechtsanwalt - Kommunisten verteidigt haben. Aus den
Verfahren, in denen sie Kommunisten verteidigt haben,
sind leider viele Urteile ergangen, durch die die Betroffenen über drei Jahre Haft erhalten haben.
Wenn Sie das hier als Ausschlussgrund ansprechen,
müssen Sie dazusagen, dass in Zeiten des Kalten Krieges
auch im Westen Unrecht geschehen ist. Unrecht Ost
rechtfertigt nicht Unrecht West. Ich finde, diese ganz
einfachen Vergleiche sollten wir hier endlich ausschließen, um den Menschen, die im KZ waren, die unendlich
gelitten haben, die - aus Ihrer Sicht war es vielleicht
falsch - bei ihrer Überzeugung geblieben sind und
wenige Jahre danach schon wieder ins Gefängnis gekommen sind, ein Stückchen Würdigung oder - das
Christentum hat einen viel besseren Begriff dafür Barmherzigkeit angedeihen zu lassen.
Herzlichen Dank.
({2})
Keine Erwiderung. - Dann hat das Wort jetzt der Kollege Maik Reichel von der SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir beraten heute abschließend die Beschlussempfehlung zu Ihrem Antrag, lieber Kollege
Korte. Ich möchte mit zwei formellen Punkten beginnen.
Der Antrag zielt darauf ab, ehemaligen Mitgliedern der
KPD bzw. politisch tätigen Kommunisten ihnen versagte
Ansprüche nach erlittener Verfolgung durch den Nationalsozialismus zuzugestehen. Bei allem Verständnis für
das Grundanliegen des Antrages muss jedoch zum Ersten darauf hingewiesen werden, dass der Antrag der Linken aus rein formellen Gründen ins Leere laufen muss.
Das Bundesentschädigungsgesetz von 1956 ist im Jahre
1965 noch einmal als BundesentschädigungsgesetzSchlussgesetz verabschiedet worden. Darin wurde eine
Ausschlussfrist auf den 31. Dezember 1969 gelegt.
Jetzt zitiere ich aus dem Bericht des BMF aus dem
Jahre 2006:
Deshalb besteht heute keine Möglichkeit mehr,
neue Ansprüche auf Entschädigungsleistungen
nach dem BEG geltend zu machen.
An dieser Regelung ist klar erkennbar: Ein Weiterverfolgen des Anliegens dieses Antrags ist nicht gegeben.
Sollten wir hier ansetzen, wäre eine grundlegende Änderung des BEG-Schlussgesetzes notwendig. Eine solche
Änderung ist momentan aber nicht in Sicht.
Zweitens ist im BEG keine Erbenregelung vorgesehen. Eine heutige, rückwirkende Auszahlung an Erben
ist deshalb nicht möglich, und sie wäre auch nicht systemgerecht. Das ist ein weiterer Grund, warum wir diesen Antrag ablehnen.
Nun komme ich auf einen anderen Aspekt zu sprechen, über den heute schon diskutiert worden ist. In Ihrem Antrag unterstellen Sie, dass ehemalige Mitglieder
der verbotenen KPD generell keine Entschädigung nach
dem BEG erhalten haben. Ich weise nur auf den ersten
Satz des Antrags der Linken hin - ich zitiere -:
Der Deutsche Bundestag stellt fest:
Es ist moralisches Unrecht und juristisch nicht hinnehmbar, dass Opfer nationalsozialistischer Verfolgung aufgrund ihrer Mitgliedschaft in der 1956 verbotenen Kommunistischen Partei Deutschlands
({0}) oder wegen politischer Tätigkeit als Kommunisten nach 1949 die ihnen zustehenden Entschädigungsleistungen nicht erhalten [haben] …
In dieser Formulierung kommt diese Unterstellung
zum Ausdruck; die Kollegen Burgbacher und Baumann
haben darauf bereits hingewiesen. Es entspricht nicht
den Tatsachen, dass eine bloße Mitgliedschaft in der
KPD nach § 6 des Bundesentschädigungsgesetzes dazu
geführt hat, dass man von der Entschädigung ausgeschlossen wurde.
({1})
- Nein, nicht zwangsläufig.
({2})
Nach richterlicher Auffassung - ich zitiere jetzt aus
einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem
Jahre 1961 - „muss der Betroffene bewusst das Ziel verfolgt haben, mit seiner Tätigkeit zum Kampf gegen die
freiheitlich-demokratische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland“ beizutragen. Als das BEG im
Jahre 1956 beschlossen wurde, hat man sich bewusst für
die Bekräftigung, die unter anderem in dem Begriff
„Kampf“ zum Ausdruck kommt, entschieden. § 6 des
BEG bezieht sich also nicht allgemein auf die Mitgliedschaft in der Partei, sondern auf die konkreten Aktivitäten einer einzelnen Person, sei sie Mitglied der KPD
oder einer anderen Vereinigung oder sei sie privat tätig,
um die freiheitlich-demokratische Grundordnung aktiv
zu bekämpfen, zu zerstören.
Der Gesetzgeber hat bewusst kämpferische Aktivitäten als Ausschlussgrund angeführt. Dem ist auch das Gericht in seiner späteren Betrachtung gefolgt. Ich zitiere
§ 6 des BEG, der in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle spielt:
Von der Entschädigung ausgeschlossen ist, … wer
nach dem 23. Mai 1949 die freiheitliche demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes
bekämpft hat …
Heute, mehr als 50 Jahre nach dem Verbot der KPD
durch das Bundesverfassungsgericht, gilt noch immer
das Grundgesetz von 1949. Es hat sich auch in dieser
Hinsicht bewährt. Das Grundgesetz ist eine der freiheitlichsten Verfassungen der Welt; darauf können wir wirklich stolz sein. Deshalb respektiere ich ausdrücklich das
auf der Basis von Art. 21 Abs. 2 des Grundgesetzes
entschiedene Verbot der KPD. Auch wenn dieses Verbot
in Zeiten des Kalten Krieges erlassen wurde, handelte es
sich um ein rechtsstaatliches Verfahren. In den Jahren
zwischen 1950 und 1968 wurden im Zusammenhang
mit einem Angriff auf die freiheitlich-demokratische
Grundordnung bzw. mit dem KPD-Verbot etwa
200 000 Ermittlungsverfahren eingeleitet. Etwa 5 Prozent von ihnen führten zu einer Verurteilung.
Ich habe schon darauf hingewiesen, dass die Ausschlussregelungen im Jahre 1961 ausdrücklich für verfassungsgemäß erklärt wurden; darauf brauche ich jetzt
nicht näher einzugehen. Im Übrigen ist im Einzelfall
bzw. in Fällen besonderer Härte nach § 171 des BEG ein
Härteausgleich möglich; das gilt auch im Hinblick auf
die Gruppe, um die es Ihnen geht, lieber Kollege Korte.
Laut einer Umfrage unter den Bundesländern, die
Ende der 90er-Jahre durchgeführt wurde, erhielten viele
nach § 6 des BEG Ausgeschlossene in ebensolchen Härtefällen eine finanzielle Unterstützung; das haben die
Länder im Jahre 1968 gemeinsam beschlossen. Nach
meiner Information hat Baden-Württemberg - Kollege
Burgbacher, Sie haben das angesprochen - sogar allen,
die nach § 6 des BEG ausgeschlossen waren, einen solchen Härteausgleich gewährt.
Vor diesem Hintergrund kann ich den Ausführungen, die Sie in Ihrem Antrag machen, leider nicht folgen. Dort heißt es zum Beispiel: „Ausgrenzung der
Kommunistinnen und Kommunisten aus den Opferentschädigungsleistungen“ - das ist so pauschal nicht
richtig - oder „juristische Abwertung und die moralische und soziale Ausgrenzung der kommunistischen
Opfer des Nazi-Regimes“ bezüglich der Verweigerung
der Entschädigungsleistungen.
Ich stelle noch einmal fest: Eine pauschale Verweigerung von Entschädigungsleistungen nach dem BEG nur
aufgrund von Mitgliedschaften in der KPD hat es - anders als Ihr Antrag suggeriert - nicht gegeben. Wir werden Ihren Antrag ablehnen. Ich gebe zu: 50 oder
60 Jahre sind eine lange Zeit. Bei manchem Antrag ist
eine Redezeit von neun Minuten auch sehr lang. Deshalb
schenke ich Ihnen drei Minuten meiner Redezeit.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat der Kollege Jan Korte von Fraktion Die
Linke.
({0})
Herr Präsident, bekomme ich die drei Minuten geschenkt?
({0})
Nein, ich bedaure.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte deutlich sagen: Wenn es
um die Anerkennung der Opfer des Nationalsozialismus
geht, sollte man einmal zurückblicken, um zu erfahren,
wie lange es gedauert hat, bis zum Beispiel die Opfer des
20. Juli überhaupt als Widerständler anerkannt wurden.
({0})
Sie können doch nicht allen Ernstes behaupten, in der
Geschichte der Bundesrepublik habe es eine Gedenkkultur gegeben, bei der insbesondere der Opfer der Arbeiterbewegung gedacht worden sei. Solch eine Position
können Sie nicht allen Ernstes in diesem Hause vertreten.
Ich möchte daran erinnern, dass Bundestagspräsident
Lammert bei der Gedenkstunde zum Jahrestag der
Machtergreifung richtigerweise darauf hingewiesen hat,
dass Kommunistinnen und Kommunisten die Ersten gewesen sind, die in die Konzentrationslager gewandert
sind. Sie waren die Allerersten, die einen unerträglich
hohen Blutzoll gezahlt haben.
({1})
Ich verstehe nicht, wie man hier in der Diskussion einen gesellschaftlichen Kontext einfach verschweigen
kann: Während des Kalten Krieges herrschte in der Bundesrepublik ein quasi staatsreligiöser Antikommunismus. Damals stellte es schon eine Handlung gegen die
freiheitliche demokratische Grundordnung dar, wenn ein
Turnverein aus der Bundesrepublik einen Turnverein in
der DDR besucht hat; selbst das wurde in dieser Zeit
verfolgt. Man muss verdeutlichen, welche Verhältnisse
hier damals geherrscht haben.
({2})
Im Bundesentschädigungsgesetz - darum geht es hier; es
wurde heute exakt daran vorbei geredet - ist von einer
„Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts“
die Rede; es diene der „Anerkennung der Tatsache“ - so
steht es in der Präambel -, dass der „geleistete Widerstand ein Verdienst um das Wohl des Deutschen Volkes
und des Staates war“.
Der Rechtswissenschaftler Alexander von Brünneck
hat dezidiert nachgewiesen, dass ganz viele Leute nicht
unter die Regelungen des BEG gefallen sind bzw. ihre
Wiedergutmachungsleistungen - das ist der eigentliche
Skandal - zurückzahlen mussten. Man muss sich einmal
klarmachen, was das bedeutet: Kommunistinnen und
Kommunisten, die zum Teil von 1933 bis 1945 im Konzentrationslager gewesen sind, sollten später die erhaltene Entschädigungsleistung zurückzahlen.
Wenn wir hier über Opfer reden, darf man die damaligen Täter nicht vergessen - man sollte deutlich darüber
reden -: 80 Prozent derer, die an bundesdeutschen Gerichten über Kommunistinnen und Kommunisten geurteilt haben, waren ehemalige Nazis.
({3})
Es wäre schön, wenn wir auch darüber einmal diskutieren würden.
Ich will noch einmal deutlich sagen: Es ist geradezu
absurd - das muss man sich einmal vorstellen -, dass damals den Menschen, die für erlittenes Unrecht entschädigt wurden, die Entschädigung aberkannt wurde. Zugleich haben die hohen Funktionsträger, die Eliten des
Nationalsozialismus üppigste Staatspensionen bis zu ihrem Tod kassiert. Man muss das einmal gegenüberstellen, um zu verdeutlichen, was hier in der Bundesrepublik
abgelaufen ist. Wir dürfen nämlich, wenn wir über Opfer
reden, die Täter nicht aus ihrer Verantwortung entlassen.
Herr Baumann, Sie haben in erster Lesung - heute
noch einmal - gesagt:
Die Opfer, die Sie in Ihrem Antrag ansprechen, sind
gerade keine Opfer einer Diktatur.
Das schlägt dem Fass wirklich den Boden aus. Wollen
Sie allen Ernstes aufrechterhalten, dass diejenigen, die
1933 in die Konzentrationslager gegangen sind, keine
Opfer sind? Ist das Ihre Position? Das kann doch wohl
nicht wahr sein. Der Widerstand ist unteilbar; das ist eine
Lehre aus der Geschichte.
({4})
Deshalb fordere ich Sie auf, das zurückzunehmen.
({5})
Ich möchte eine letzte Anmerkung an die Reihen der
Union machen. Sie reden über die Aufarbeitung der Vergangenheit der DDR und des dort geschehenen Unrechts. Wir befassen uns seit 1990 kritisch und ausführlich damit.
({6})
Ich habe bisher von keiner Tagung der Union - weder
bei der Konrad-Adenauer-Stiftung noch bei Ihnen - gehört, bei der Sie sich damit auseinandergesetzt haben,
was es mit Leuten wie Globke, Oberländer und anderen
Leuten auf sich hat, die die Politik der Union in der frühen Bundesrepublik maßgeblich bestimmt haben. Vielleicht können Sie einmal damit beginnen.
({7})
Das Wort hat jetzt der Kollege Wolfgang Wieland von
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! So etwas
geschieht selten: Ich kann mich keinem der Vorredner
vorbehaltlos anschließen. Ich habe mich wundern müssen, dass wir heute, am 8. Mai, argumentativ zum Teil in
die Zeit des Kalten Krieges zurückgefallen sind. Als
hätte es die große Rede Richard von Weizsäckers vom
8. Mai 1985 - das Begrüßen dieses Datums als Tag der
Befreiung und damit einhergehend ein Blick auf die, die
bis dato die ausgegrenzten und vergessenen Opfer des
Nationalsozialismus gewesen sind - nicht gegeben!
Darum geht es bei dem Antrag der Linksfraktion,
auch wenn er aus unberufenem Munde kommt und auch
wenn er - das will ich auch sagen - ziemlich hingerotzt
ist. Ihr zeigt keinen Weg auf, ihr schreibt nur, die Bundesregierung soll ein Gesetz ändern. Die Exekutive soll
die Gesetze machen? Wo leben wir eigentlich? Außerdem wird nicht gesagt, wie. Zudem wird vergessen, dass
- wie hier zu Recht gesagt wurde - auf Länderebene seit
jener Mitte der 80er-Jahre nachgearbeitet wurde, mit
Härtefallregelungen aufgefangen wurde, im Land Berlin
beispielsweise. All das müsste man berücksichtigen,
wenn man den Menschen wirklich helfen will. Da reicht
es nicht, agitpropmäßig einen Stein ins Wasser zu werfen.
({0})
Dennoch gebe ich dem Kollegen Korte recht: Das
Anliegen ist berechtigt. Die Täter haben nach 1945 eine
Rente bekommen, selbst die, die aus dem Beamtenverhältnis entlassen worden waren; sie sind in der Sozialversicherung nachversichert worden und bekamen dann
eben eine gesetzliche Rente. Freislers Witwe bekam die
Rentenerhöhungen bis zum Schluss.
Die Opfer wurden zum Teil gar nicht entschädigt. Im
Hinblick auf Sinti und Roma hieß es: Das waren asoziale
Landfahrer, das war keine politische Verfolgung. Im
Hinblick auf Zwangssterilisierte hieß es: Das Erbgesundheitsgesetz ist kein Unrechtsgesetz, ist nicht per se
rechtswidrig. Kommunisten und andere wurden ausgegrenzt, weil ihnen aktive Gegnerschaft gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung teils unterstellt,
teils nachgewiesen wurde. Der Fraktionsvorsitzende Renner, von dem in der Zwischenfrage die Rede war, musste
Entschädigungsleistungen in Höhe von 25 000 DM zurückzahlen, ohne dass er je verurteilt worden wäre. Es
hieß schlicht: Du bist als KPD-Vorsitzender aktiv gegen
die freiheitlich-demokratische Grundordnung. Bei anderen langte ein achtmaliges Verteilen der Zeitung Die
Wahrheit oder das Hissen einer roten Fahne am 1. Mai.
Ganz im Ernst stand das noch 1970 in einem Urteil des
Bundesgerichtshofes. Hier wäre enormer Aufarbeitungsund Änderungsbedarf. Ich sage auch: Heute würde man
es so nicht mehr sehen.
Selbst mit Menschen, die mit dem Regime der DDR
gebrochen hatten, ist man so umgegangen, mit Ernst
Niekisch beispielsweise, der acht Jahre im Zuchthaus
Brandenburg gesessen hat, bis er im April 1945 von der
Roten Armee befreit wurde. Er ist Professor in Ostberlin
geworden, hat später mit dem System gebrochen und ist
nach Westberlin gegangen. Zwölf Jahre musste Niekisch
prozessieren, bevor er, blind, partiell gelähmt, eine Entschädigung erhielt.
Dazu ein Zitat von Alfred Kantorowicz:
Der Fall Niekisch ist zu einem unauslöschlichen
Schandfleck und zu einer Belastung Berlins geworden, gerade in den Teilen der Welt, die wir die freie
nennen.
Kantorowicz wusste, worüber er schreibt, weil es ihm,
der nach dem Ungarn-Aufstand aus der DDR in den
Westen gegangen war, genauso ergangen ist. Auch er
musste den Klageweg beschreiten. Es war leider so
- auch da hat Herr Korte recht -, dass die Juristen, die
Richter, die in der NS-Zeit nicht im Traum daran gedacht hatten, selber Widerstand zu leisten, sich dazu aufschwangen, diese Entscheidungen zu treffen.
Fazit: Man muss etwas tun. Die Linksfraktion hat ihr
Pulver verschossen. Das heißt aber nicht, dass dieses Kapitel erledigt wäre. Wir können uns zu diesem schlechten
Antrag nur enthalten, meinen aber, dass wir, wenn sich
der Pulverdampf verzogen hat, wenn wir uns ruhig mit
der Sache befassen, zu einer Lösung kommen müssten.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Innenausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem
Titel „Entschädigung für Opfer nationalsozialistischer
Verfolgung“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/7950, den Antrag
der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/3536 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
und der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion
Die Linke und Enthaltung vom Bündnis 90/Die Grünen
angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 auf:
Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der
Bundesnotarordnung ({0})
- Drucksache 16/4972 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Innenausschuss
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll gegeben. Es handelt sich um die
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Reden der Kollegen Michael Grosse-Brömer, CDU/
CSU, Christoph Strässer, SPD, der Kollegin Mechthild
Dyckmans, FDP, der Kollegen Wolfgang Nešković, Die
Linke, und Jerzy Montag, Bündnis 90/Die Grünen, sowie des Parlamentarischen Staatssekretärs Alfred
Hartenbach.
Ausgangspunkt des vorliegenden Gesetzentwurfs zur
Neuregelung des Zugangs zum Anwaltsnotariat ist das
Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 20. April
2004. Darin hatte das Gericht die bisherige zu § 6 Abs. 2
u. 3 Bundesnotarordnung entwickelte Verwaltungspraxis
gerügt. Hauptkritikpunkt: Das Auswahlsystem werde
dem Prinzip der Bestenauslese nicht ausreichend gerecht,
deshalb sei es zumindest teilweise verfassungswidrig.
Notare sind für eine verlässliche und funktionstüchtige
Rechtspflege unentbehrlich. Deshalb ist das Eintreten des
höchsten deutschen Gerichts für die Bestenauslese im
Rahmen der Notarauswahl richtig und konsequent. Über
die Verwaltungsvorschriften der Länder ist ein verfassungskonformes Auswahlsystem nicht zufriedenstellend
zu regeln. Mit dem Bundesrat bin ich deshalb der Ansicht,
dass aufgrund des erwähnten Urteils gesetzgeberischer
Handlungsbedarf besteht.
Durch die derzeit vorhandenen Schwächen beim Zugang zum Anwaltsnotariat kommt es erfahrungsgemäß
auch immer wieder zu langwierigen Konkurrentenstreitverfahren. Dadurch können vakante Notarstellen oft längere Zeit nicht wiederbesetzt werden. Auch dieses Manko
soll durch den Entwurf abgebaut werden.
Der maßgebliche Lösungsansatz des Gesetzentwurfs
- eine stärkere Berücksichtigung notarspezifischer Leistungen - ist richtig. Den Rechtsanwälten, die den Wunsch
nach einer Bestellung als Anwaltsnotar haben, kann dadurch der Quasi-Rückfall in studentische Zeiten, das
heißt innerhalb möglichst kurzer Zeit möglichst viele
Fortbildungsnachweise anzusammeln, erspart werden.
Unter dem Druck, häufig notarielle Fortbildungskurse
zu besuchen, welche regelmäßig an Wochenenden stattfinden, leiden bislang wohl vor allem Frauen mit Kindern
bzw. Frauen mit Kinderwunsch. Das hat jedenfalls die
„Arbeitsgemeinschaft Anwältinnen“ des DAV in einem
Memorandum ausdrücklich bemängelt. Insoweit ist zu
hoffen, dass durch den Wegfall des „Zwangs zum Scheinesammeln“ sowohl der niedrige Anteil von Frauen bei
den Anwaltsnotaren als auch der Familienzusammenhalt
erhöht werden können. Künftig soll es de lege ferenda
neben dem Ergebnis der Zweiten Juristischen Staatsprüfung entscheidend auf das Ergebnis einer vor einem eigenständigen Prüfungsamt abzulegenden „notariellen
Fachprüfung“ ankommen. Auch dieses Konzept der Bestenauslese mittels einer fachspezifischen Prüfung erscheint vom Ansatz her überzeugend. Gleichwohl lässt
ein Blick auf den geplanten Prüfungsaufwand und Prüfungsumfang etwas Besorgnis aufkommen. Bereits die
umfangreichen Einzelbestimmungen über die notarielle
Fachprüfung - §§ 7a bis 7i der geänderten BNotO - lassen bei mir die Befürchtung entstehen, dass sich die notarielle Fachprüfung in der Praxis als „drittes juristisches
Staatsexamen“ darstellen könnte. So sollen die Prüfungskandidaten ihr Wissen in allen Rechtsgebieten der notariellen Amtstätigkeit in sechs jeweils fünfstündigen
Aufsichtsarbeiten sowie einer mündlichen Prüfung - bestehend aus einem Vortrag und einem Gruppenprüfungsgespräch mit drei Abschnitten - unter Beweis stellen.
Folglich werden sich die Notaraspiranten, nachdem sie
bereits zwei unzweifelhaft schwierige Staatsprüfungen
bestanden haben, de facto einem dritten juristischen
Staatsexamen stellen müssen. Das geht mir etwas zu weit!
Ich halte es für unerlässlich, dass die Vorbereitung für
die notarielle Fachprüfung berufsbegleitend erfolgen
kann und keine Auszeit erfordert. Dies auch vor dem Hintergrund, dass der freiberuflich tätige Kollege schließlich
nicht nur seinen Lebensunterhalt, sondern auch das Geld
für die Prüfung erarbeiten muss. Da für die Durchführung der Prüfung ein organisatorisch eigenständiges
Prüfungsamt bei der Bundesnotarkammer eingerichtet
werden soll und die hierfür anfallenden Kosten durch
Prüfungsgebühren ausgeglichen werden sollen, könnte
sich die notarielle Fachprüfung für die Prüflinge nämlich
nicht nur als fachlich schwierig, sondern auch als teuer
erweisen.
Neben dem zentralen Punkt der Einführung einer notariellen Fachprüfung sieht der Gesetzentwurf eine Reihe
von Änderungen und Ergänzungen der in § 6 Abs. 2
BNotO normierten Regelvoraussetzungen für die Bestellung vor. So soll es künftig auf eine tatsächlich ausgeübte
fünfjährige Rechtsanwaltstätigkeit statt auf einen bloßen
Zulassungsnachweis ankommen.
An anderen Voraussetzungen des Zugangs zum Anwaltsnotariat hält der Entwurf dagegen fest. Dies betrifft
etwa den Staatsangehörigkeitsvorbehalt oder die dreijährige örtliche Wartefrist. Bei dieser Frist soll künftig nicht
mehr der Amtsgerichts-, sondern der Landgerichtsbezirk
maßgebend sein.
Im Einzelnen werden wir die Notwendigkeit einiger im
Entwurf vorgesehener Änderungen des Zugangs zum Anwaltsnotariat noch im Verfahren diskutieren. So könnte
etwa für den Beibehalt der örtlichen Wartefrist das Vermeiden des „Ämter-Hoppings“ im Rahmen hoheitlicher
Tätigkeiten angeführt werden. Andererseits fragt es sich,
ob es in Zeiten der modernen Kommunikation und der
Einführung des elektronischen Rechtsverkehrs tatsächlich noch entscheidend auf das Vertrautsein mit den
örtlichen Gegebenheiten ankommt. Hier gibt es auch bei
den Verbänden und Rechtswissenschaftlern unterschiedliche Ansichten. Meiner Ansicht nach kann ebenfalls
hinterfragt werden, ob die von den Kandidaten nachzuweisende notarspezifische Praxisausbildung tatsächlich
160 Stunden umfassen muss.
Nach der ersten Lesung lassen sich sicherlich noch
weitere Details mit Experten aus Wissenschaft und
Rechtspflege diskutieren. Ich möchte hier auf eine bedeutsame Frage eingehen, der wir deutschen Parlamentarier in der Vergangenheit vielleicht nicht immer die erforderliche Aufmerksamkeit haben zukommen lassen. Die
Rede ist vom Europarecht. Wenn bei Gesetzesberatungen
im Bundestag teilweise erbittert um Details gerungen
wird, soll man Brüssel oder auch Luxemburg nicht aus
den Augen lassen. Das zeigt sich auch bei der Neuregelung des Zugangs zum Anwaltsnotariat.
Während auf nationaler deutscher Ebene über generelle Fragen wie die Bestenauslese oder spezielle Fragen
wie die örtliche Wartefrist gestritten wird, ist nach über
elfjährigem Streit zwischen Kommission und Bundesregierung am 12. Februar dieses Jahres als dritte Stufe eines Vertragsverletzungsverfahrens eine Klage der Kommission gegen die Bundesrepublik erhoben worden ({0}). Inhaltlich geht es um den deutschen Staatsangehörigkeitsvorbehalt des § 5 BNotO, der nach Ansicht
der Kommission gegen die in den Art. 43 und 45 EGV statuierte Niederlassungsfreiheit verstößt. Sollte die Kommission mit ihrer Klage obsiegen, hätten es deutsche Notare wohl bald mit europäischer Konkurrenz wie dem
solicitor und notary public Mark Kober-Smith aus Kent
zu tun. Dieser hatte - einen lukrativen Markt vor Augen das Vertragsverletzungsverfahren maßgeblich mitinitiiert.
Nun wäre die englische Konkurrenz aus meiner Sicht
nicht zu fürchten. Es könnte aber zu einer Inländerdiskriminierung kommen, wenn die deutschen Notare gemäß
§ 10a BNotO an ihren Amtsbereich gebunden wären, ihre
ausländischen Kollegen dagegen nicht. Dass mit diesem
Szenario das System der Bestenauslese und das Erfordernis der örtlichen Wartefrist aus einem ganz anderen
Blickwinkel zu bewerten wären, brauche ich hier wohl
kaum ausführlicher zu erläutern.
Worum es mir letztendlich geht, ist nicht vorauseilender Gehorsam gegenüber Europa. Der EuGH muss
schließlich erst noch entscheiden. Ich möchte lediglich
die Sensibilität dahin gehend erhöhen, dass eine wichtige
und weitreichende Entscheidung in Europa zum hier
maßgeblichen Thema noch aussteht. Deshalb halte ich es
für angebracht, im vorliegenden Fall der Neuregelung
des Zugangs zum Anwaltsnotariat die Entwicklung in Europa sehr genau zu verfolgen. Wenig wäre damit gewonnen, ein neues System des Zugangs zum Anwaltsnotariat
zu etablieren, nur um dieses dann anschließend nach dem
Urteil des EuGH wieder nachbessern zu müssen.
Nach allem unterstütze ich den Gesetzentwurf grundlegend und in seinen wesentlichen Regelungen. Ich erlaube mir aber auch die Mahnung zu einem aufmerksamen Blick nach Europa zu diesem Thema.
In der letzten Sitzungswoche haben wir uns einem Gesetzentwurf die Anwaltschaft betreffend gewidmet. In dieser Woche richten wir unser Augenmerk auf das Berufsbild des Notars. „Der Notar ist der weltliche Beichtvater.
Er ist Puritaner von Profession und Ehrlichkeit“, heißt es
bei Shakespeare. Dem Berufsbild des Notars werden
durch die Rechtsuchenden demnach einige herausragende Eigenschaften zugeschrieben. Und tatsächlich
kommt dem Notar in unserem Rechtssystem eine wichtige
Bedeutung zu. Der Notar ist Amtsperson und betreut die
Rechtsuchenden bei schwierigen und folgenreichen
Rechtsgeschäften. Notare sind besonders ausgebildete
und erfahrene Juristen. Dementsprechend sind nur qualifizierte Juristen mit spezifischen Fachkenntnissen als
Notare zu bestellen. In Deutschland gibt es etwa
1 600 hauptberufliche Notare und ungefähr 7 200 Anwaltsnotare. Um die Anwaltsnotare geht es in dem nun
vorgelegten Gesetzentwurf.
Mit dem Bundesratsentwurf soll der Zugang zum Anwaltsnotariat neu geregelt und damit auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts reagiert werden.
Das Bundesverfassungsgericht hat die bisherige Verwaltungspraxis zum Teil für verfassungswidrig erklärt. Die
individuelle Prüfung der fachlichen Eignung des einzelnen Bewerbers ist für den Bereich des Anwaltsnotariats
- anders als im Bereich des hauptberuflichen Notariats
mit mehrjährigem Anwärterdienst - wegen der eingeschränkten Erkenntnismöglichkeiten und der größeren
Stellen- und Bewerberzahlen praktisch nur schwer durchführbar. Bisher beschränkte man sich bei der Verwaltungspraxis im Auswahlverfahren neben dem Ergebnis des
zweiten Staatsexamens auf eine formalisierte Auswahl
nach eher quantitativ bestimmten Kriterien.
Das Bundesverfassungsgericht hat nunmehr festgestellt, dass diese Verwaltungspraxis und Rechtsprechung
dem Grundrecht auf freie Berufswahl nicht hinreichend
Rechnung tragen, und eine individuelle Prüfung und Prognose der fachlichen Eignung des einzelnen Bewerbers
gefordert. Dazu gehöre eben auch eine stärkere und differenziertere Gewichtung notarspezifischer Leistungen
gegenüber dem Ergebnis des oftmals zum Zeitpunkt der
Bewerbung lange zurückliegenden Staatsexamens. Sowohl das Interesse der Bürgerinnen und Bürger an einer
umfassenden Qualifikation der Anwaltsnotare als auch
das Interesse der Bewerber selbst, strikt nach ihrer Eignung und Befähigung für das Amt des Notars ausgewählt
zu werden, gebieten daher eine Neuregelung des Zugangs
zum Anwaltsnotariat. Eine länderübergreifende Arbeitsgruppe ist dieser Notwendigkeit nachgekommen und hat
unter Beteiligung des Justizministeriums und der Bundesnotarkammer den vorliegenden Gesetzentwurf erarbeitet.
Kernpunkt des Gesetzentwurfs ist der Vorschlag, für
Bewerber um ein Anwaltsnotariat eine notarielle Fachprüfung vor einem bei der Bundesnotarkammer unter Beteiligung der betroffenen Landesjustizverwaltung einzurichtenden Prüfungsamt vorzusehen. Darüber hinaus
muss der Bewerber seine Tätigkeit als Rechtsanwalt
nachweisen. Bisher galt sein Zulassungsnachweis als
ausreichend. Ferner muss er eine dreijährige hauptberufliche Tätigkeit im Landgerichtsbezirk statt bisher im
Amtsgerichtsbezirk sowie eine Reihe von Fortbildungsveranstaltungen und eine Praxisausbildung als Notar
nachweisen.
Wir sind sehr wohl der Meinung, dass eine notarielle
Zugangsprüfung zum Anwaltsnotariat eine geeignete
Maßnahme zur Verbesserung der Bestenauslese und der
Wahrung der Chancengleichheit der Bewerber ist. Die
Bundesregierung hat in ihrer Stellungnahme aber - meiner Meinung nach - zu Recht einige Änderungen vorgeschlagen und darauf hingewiesen, dass neben einer Qualitätssicherung und gerechten Bestenauslese auch
berücksichtigt werden muss, dass die erforderliche Berufsvorbereitung berufsbegleitend während der Anwaltstätigkeit geleistet werden muss. Sie regt an, im Laufe der
Zu Protokoll gegebene Reden
parlamentarischen Beratungen zu prüfen, ob die Prüfungsanforderungen nach dem Bundesratsentwurf der
durch die Berufsvorbereitung entstehenden Zusatzbelastung der Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte ausreichend Rechnung tragen. Entsprechendes gilt für die Praxisausbildung, die nach dem Gesetzentwurf vor der
Bestellung zum Notar nachgewiesen werden muss. Denn
es muss in jedem Fall bedacht werden, ob oder inwieweit
von einem Bewerber um das Amt als Anwaltsnotar mehr
verlangt werden kann als von Notarassessoren, die eine
in der Regel drei Jahre dauernde Anwärterzeit ohne
Fachprüfung absolvieren, bevor schließlich die Ernennung zum Notar erfolgt.
Konkret stellen sich daher Fragen im Hinblick auf die
Angemessenheit der Prüfungsanforderungen sowie der
Anforderungen an die Praxisausbildung. Ich möchte an
dieser Stelle einige Fragen aufwerfen, die wir in den anstehenden Verhandlungen für uns beantworten müssen.
Der Umfang der Fachprüfung dürfte nicht ganz unproblematisch sein, da neben notarspezifischen Themen annähernd der gesamte Bereich des Bürgerlichen Rechts
und das Gesellschaftsrecht umfasst werden. Es stellt sich
die Frage, ob wir wirklich eine Art drittes Staatsexamen
einführen wollen. Oder reicht es nicht vielmehr aus, die
Prüfung auf die notarspezifischen Themenbereiche zu beschränken, da ohnehin das zweite Staatsexamen nach wie
vor in die Gesamtbeurteilung für die Auswahl der Bewerber einfließt? Könnten nicht fünf statt sechs Aufsichtsarbeiten genügen? Der Deutsche Anwaltsverein warnt
nicht ganz zu Unrecht vor einem neuen komplizierten,
ressourcenverschlingenden System.
Könnte der Prüfungsstoff nicht außerdem in einer
Rechtsverordnung geregelt werden? Damit könnte der
Verordnungsgeber flexibel auf sich wandelnde Anforderungen an das Berufsbild reagieren. In vielen Bundesländern wird der Prüfungsstoff in einer Rechtsverordnung
geregelt.
Als letzten Punkt möchte ich die Residenzpflicht der
Bewerber problematisieren. Ich begrüße eine Lockerung
der Regelung zur örtlichen Wartefrist, wie sie mit dem
Bundesratsentwurf verbunden ist, nach dem die örtlichen
Grenzen der Wartefrist vom Amts- auf den Landgerichtsbezirk ausgeweitet werden sollen. Doch wir sollten diskutieren, ob im Zuge der modernen Kommunikation und des
elektronischen Rechtsverkehrs die örtliche Wartefrist
grundsätzlich noch beibehalten werden sollte. In einer
Zeit, in der der Ort der Rechtshandlung an Bedeutung
verliert, verliert auch die Beschränkung möglicherweise
ihre Berechtigung. Bei den hauptberuflichen Notaren gibt
es eine ähnliche Beschränkung jedenfalls nicht. In kleinen oder ländlichen Bezirken kann die bisherige Regelung jedenfalls im Einzelfall dazu führen, dass die örtliche Wartezeit Bewerbern mit besseren Qualifikationen
den Berufszugang verwehrt.
Im Rahmen einer Sachverständigenanhörung könnten
diese und weitere Fragen erörtert werden. Und ich bin
mir sicher, dass, wenn die weiteren Beratungen genau so
gut laufen wie die zu den Erfolgshonoraren, wir zu einem
guten Ergebnis kommen werden.
Das Anwaltsnotariat kann in Deutschland auf eine
lange Geschichte zurückblicken. Bereits im Staat Preußen
entwickelte sich die Verbindung von Notariat und Advokatur. Diese Tradition hat sich bis heute fortgesetzt. Die
Besonderheit beim Anwaltsnotariat ist, dass diese Tätigkeit nicht bundesweit in gleicher Weise ausgeübt werden
kann, sondern je nach den Bestimmungen des jeweiligen
Landesrechts. In den neuen Bundesländern ist beispielsweise eine Tätigkeit als Anwaltsnotar nicht vorgesehen.
Der Anwaltsnotar ist nur in den Ländern Berlin, Bremen,
Hessen, Niedersachsen und in Teilen von NordrheinWestfalen und Schleswig-Holstein bekannt.
Das Anwaltsnotariat hat sich grundsätzlich bewährt.
Obwohl Notare Träger eines öffentlichen Amtes sind und
vom Staat ernannt werden, üben sie ihre Tätigkeit unabhängig aus. Einer unzulässigen Vermischung von Anwaltstätigkeit und Ausübung des Notaramtes wird vorgebeugt, indem der Anwaltsnotar dem Mandanten
gegenüber klarzustellen hat, in welcher Berufsausübung
er ihm gegenüber tätig wird. Ist der Anwaltsnotar in seiner Eigenschaft als Notar tätig geworden, schließt dies
eine gleichzeitige Tätigkeit als Rechtsanwalt aus.
Der Zugang zum Anwaltsnotariat ist an strenge Voraussetzungen geknüpft. Die Bestellung als Anwaltsnotar
hängt wesentlich davon ab, ob in dem Amtsgerichtsbezirk, in dem der Rechtsanwalt zugelassen wird, grundsätzlich ein Bedarf für die Besetzung einer Notarstelle
besteht. Weitere Kriterien sind unter anderem die persönliche und fachliche Eignung des Bewerbers, das Alter sowie bestimmte allgemeine und örtliche Wartezeiten. Die
Voraussetzungen hierfür enthält die Bundesnotarordnung.
Das Bundesverfassungsgericht hat 2004 in einem Beschluss festgestellt, dass die Auswahlkriterien in § 6 der
Notarordnung unter Berücksichtigung der mit dem öffentlichen Amt der Notare verbundenen Besonderheiten
aus Art. 33 Abs. 2 Grundgesetz grundsätzlich den Anforderungen des Art. 12 Abs. 1 Grundgesetz entsprechen.
Die Berücksichtigung der Kriterien, insbesondere derjenigen zur fachlichen Eignung, seien verfassungsrechtlich
geboten. Das Gericht hat aber des Weiteren entschieden,
dass Auslegung und Anwendung der Normen nicht den
verfassungsrechtlichen Erfordernissen genügen. So sei
bei der Auswahl der Bewerber für das Amt des Anwaltsnotars nicht der Vorrang desjenigen mit der besten fachlichen Eignung gewährleistet. Das Gericht hat zudem kritisiert, dass es beim Zugang zum Anwaltsnotariat an
einer konkreten und einzelfallbezogenen Bewertung der
fachlichen Leistung des Bewerbers mangele.
Der Bundesrat hat die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Anlass genommen, einen Gesetzentwurf zur Änderung der Bundesnotarordnung mit dem
Ziel der Neuregelung des Zugangs zum Anwaltsnotariat
vorzulegen. Diese Initiative des Bundesrates ist grundsätzlich zu begrüßen.
Unabhängig von der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts haben sich die Notarkammern des Anwaltsnotariats bereits seit längerer Zeit für eine Neuregelung des Zugangs zum Anwaltsnotariat ausgesprochen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Der Gesetzentwurf führt ein Zugangs- und Auswahlsystem ein, das sowohl fachliche Mindeststandards sichern,
als auch eine den verfassungsrechtlichen Vorgaben entsprechende Auswahlentscheidung ermöglichen soll.
Dazu schlägt der Entwurf im Einzelnen die Einführung
einer notariellen Fachprüfung vor einem bei der Bundesnotarkammer einzurichtenden Prüfungsamt vor. Dadurch
soll gewährleistet werden, dass nur solche Bewerber zu
Notaren bestellt werden, die sich umfassend auf die notarielle Tätigkeit vorbereiten und unter Beweis gestellt haben, dass sie über die für die Ausübung dieses Amtes erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten verfügen und
diese praxisgerecht umsetzen können. Der Gesetzentwurf
unterlässt es jedoch, konkrete Vorgaben dazu zu machen,
wie der Erwerb dieser Kenntnisse und Fähigkeiten erfolgen soll.
Bei der Beratung über das Rechtsdienstleistungsgesetz
waren wir uns im Deutschen Bundestag einig darin, dass
das Gesetz dem Ziel dienen muss, die Qualität der Rechtsberatung im Interesse der Mandanten zu sichern. Dieser
Maßstab muss auch bei der Neuregelung des Zugangs
zum Anwaltsnotariat angelegt werden. Es ist daher zu
überlegen, ob der Zugang nicht darüber hinaus eine berufsbegleitende Vorbereitung während der Anwaltstätigkeit erfordern sollte. Dies kann beispielsweise durch die
Pflichtteilnahme an Grundkursen zur Vorbereitung auf
die notarielle Fachprüfung erreicht werden. Auf den
Nachweis von Praxiserfahrung sollte im Interesse einer
qualifizierten Rechtspflege nicht verzichtet werden. Die
Anwaltschaft und die Bundesregierung haben sich hierzu
ähnlich geäußert.
Fraglich ist darüber hinaus, ob es der in § 6 Abs. 2 des
Entwurfs vorgesehenen Wartezeit von drei Jahren in dem
Landgerichtsbezirk, in dem die in Aussicht genommene
Notarstelle zu besetzen ist, tatsächlich bedarf. Es ist vielfach darauf hingewiesen worden, dass heute in Zeiten des
elektronischen Rechtsverkehrs die in der Gesetzesbegründung geforderte Wartefrist, die den Bewerber mit
dem Umgang mit Rechtsuchenden, Gerichten und Behörden im Landgerichtsbezirk vertraut machen soll, entbehrlich geworden ist. Auch hier bedarf es einer näheren Prüfung, ob die Wartefrist tatsächlich geeignet ist, die
Qualität des Anwaltsnotariats zu sichern oder ob sie vielmehr ein bürokratisches Hindernis ist, das einer vergangenen Zeit angehört.
Ich bin zuversichtlich, dass es gelingen wird, einvernehmlich zu einer guten Lösung zu kommen. Die Hinweise und Vorschläge der Bundesregierung in ihrer Stellungnahme zu dem Gesetzentwurf sind dazu überwiegend
sachgerecht. Wir sollten uns daher zügig mit den Vertretern der entsprechenden Berufsverbände und Kammern
zusammensetzen, um gemeinsam nach einer akzeptablen
Regelung für den Zugang zum Anwaltsnotariat zu suchen.
Der Gesetzentwurf des Bundesrates bietet dafür eine gute
Beratungsgrundlage.
Im Jahre 2004 hatte das Bundesverfassungsgericht
entschieden, dass die Verwaltungspraxis der Bundesländer für die Zulassung zum Anwaltsnotariat verfassungswidrig ist und nachgebessert werden muss. Der Entwurf
des Bundesrates möchte diesen Vorgaben nun mit einer
Änderung der Bundesnotarordnung nachkommen. Bereits diese Herangehensweise überzeugt nicht. Denn das
Bundesverfassungsgericht hatte nicht die Bundesnotarordnung, also Bundesrecht, gerügt, sondern die Verwaltungspraxis der Länder. Es ist daher einigermaßen seltsam, dass die Länder nicht etwa ihre beanstandete
Verwaltungspraxis nachbesserten, sondern nun mit einem
Bundesratsentwurf die vom Gericht unbeanstandete Bundesnotarordnung verändern wollen. Anstatt zu tun, was
ihnen selbst möglich ist, rufen die Länder also nach der
Hilfe des Bundes.
Wir werden also im Gesetzgebungsverfahren erstens
diskutieren müssen, ob wir überhaupt eine bundesrechtliche Lösung wollen. Für eine bundesrechtliche Lösung
spräche immerhin das Ziel einer bundeseinheitlichen Regelung. Aber die Einheit der Rechtsordnung ist für sich
genommen noch kein Wert. Sie trägt - als Zielstellung sogar ein besonderes Risiko in sich. Es ist das grundsätzliche Risiko, es für 16 Länder auf einmal und zentral
falsch zu machen - bei gleichzeitigem Verzicht auf
16 Einzelchancen für die Landesgesetzgeber, es besser zu
machen. Bei sieben Bundesländern, die derzeit über ein
Anwaltsnotariat verfügen, ergäbe das für die vorliegende
Materie sogar eine Glückszahl an Chancen.
Mir scheint aber, der Entwurf verwirklicht eher das Risiko und nicht die Chance:
Er ist an den inhaltlichen Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes zu messen.
Im Kern lassen sich zwei Hauptvorgaben der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes entnehmen:
Zum einen war dafür zu sorgen, dass im Zulassungsverfahren die im Anwaltsberuf erworbenen notarspezifischen Kenntnisse und Fähigkeiten eines Bewerbers in einem angemessenen Verhältnis zu den Leistungen im
Zweiten Juristischen Staatsexamen bewertet werden.
Zum anderen war künftig sicherzustellen, dass im Zulassungsverfahren insgesamt aussagekräftige fachliche
Beurteilungsmaßstäbe zugrunde gelegt werden.
Wie geht der Entwurf des Bundesrates mit diesen Vorgaben um? Anstatt Kriterien zu liefern, nach denen die
notarspezifischen Kenntnisse und Fähigkeiten der Bewerber neben den Leistungen im Zweiten Staatsexamen
sachgemäß bewertet werden könnten, führt der Entwurf
mit der notariellen Fachprüfung gleichsam ein drittes
Staatsexamen ein. Nicht die langjährige juristisch praktische Tätigkeit eines Menschen ist danach von besonderem Belang, sondern dessen kurzfristiges Aufbäumen in
einer Prüfungssituation. Nach meinem Verständnis der
Entscheidung war es jedoch die Intention des Verfassungsgerichtes, die im Beruf erworbenen notarspezifischen Kenntnisse und Fähigkeiten - als Leistung in der
Praxis - mit einer stärkeren Gewichtung zu versehen.
Wir werden im Gesetzgebungsverfahren zweitens diskutieren müssen, ob wir überhaupt eine notarielle Fachprüfung wollen.
Zu Protokoll gegebene Reden
Wir werden dann drittens darüber reden müssen, ob
wir sie in der gewählten Art wollen. Die hierzu eingegangenen Stellungnahmen, insbesondere die des Deutschen
Anwaltsvereines, enthalten reichlich Kritik, mit der wir
uns dann im weiteren Beratungsverfahren auseinanderzusetzen haben.
Schließlich wird viertens der enorme organisatorische
und personelle Aufwand kritisch zu besprechen sein, den
diese neue Prüfung nach sich zieht.
Als Ergebnis will ich zusammenfassen: Wenn wir im
Gesetzgebungsverfahren gangbare Wege erkennen, wie
wir die Vorgaben des Bundesverfassungsgericht mit weniger Aufwand und besseren Ergebnissen umsetzen können, dann sollten wir einen dieser Wege tunlichst beschreiten und den vorgelegten Entwurf schreddern.
Mit seinem Beschluss vom 20. April 2004 hat das Bun-
desverfassungsgericht die bisherige Zulassungspraxis
zum Anwaltsnotariat in weiten Teilen gekippt und damit
zugleich auch dem bisher praktizierten Punktesystem
eine deutliche Rüge erteilt, denn das bisherige Auswahl-
verfahren, so das Gericht, misst der spezifischen fachli-
chen Eignung für das Amt des Notars nur eine unterge-
ordnete Rolle bei und überbetont im Gegensatz dazu die
allgemeine Befähigung für juristische Berufe und Erfah-
rungen aus dem Anwaltsberuf. Vor dem Hintergrund die-
ser Entscheidung ist es aus Sicht der Bundestagsfraktion
Bündnis 90/Die Grünen so notwendig wie richtig, die Zu-
gangsregelungen zum Anwaltsnotariat zu überarbeiten
und die Zulassungsentscheidung deutlich stärker als bis-
her an eine individuelle Prüfung und fachliche Eignungs-
prognose der einzelnen Bewerberinnen und Bewerber zu
knüpfen.
Es ist zu begrüßen, dass sich das Bundesjustizministe-
rium mit den Justizverwaltungen der Bundesländer mit
Anwaltsnotariat sowie der Bundesnotarkammer zusam-
mengesetzt hat, um zeitnah in den erforderlichen Diskus-
sionsprozess um Neuregelungen beim Zugang zum
Anwaltsnotariat einzutreten. Der vorliegende Gesetzent-
wurf ist das Ergebnis eben dieses - drei Jahre währen-
den - Diskussionsprozesses.
Ich meine, dass die nun auf dem Tisch liegenden Vor-
schläge zur Neuregelung des Zugangs zum Anwaltsnota-
riat im Grundsatz in die richtige Richtung gehen. Die aus
meiner Sicht zentrale Neuerung betrifft die Einführung
einer notariellen Fachprüfung zum Anwaltsnotariat. Eine
solche Prüfung sichert die persönliche und fachliche Eig-
nung der Bewerberinnen und Bewerber für die Arbeit im
Anwaltsnotariat, in dem es die notarspezifischen Kompe-
tenzen und Leistungen der Bewerber stärker als bisher
berücksichtigt. Die notarielle Fachprüfung trägt damit
ganz zentral dazu bei, dem Ziel der Bestenauslese auch
im Bereich des Anwaltsnotariates Rechnung zu tragen.
In der öffentlichen Diskussion über den Gesetzentwurf
wird nur in einzelnen, kleineren Punkten Kritik geäußert.
So wird die Frage aufgeworfen, ob der Umfang des
schriftlichen Teils der Fachprüfung angemessen ausge-
staltet worden ist. Es erscheint auch mir auf den ersten
Blick nicht unbedingt nachvollziehbar, warum es hierbei
sechs fünfstündiger Prüfungsklausuren bedürfen soll, in
denen zudem thematisch über die notarspezifischen Be-
reiche hinaus zum Beispiel auch Wissen zum Bürgerli-
chen, zum Handels- und zu verschiedentlichem Prozess-
recht geprüft werden soll. Ist es wirklich gewollt, dass die
schriftliche Fachprüfung zum Anwaltsnotariat - das ja
immerhin im Nebenberuf ausgeübt wird - den Umfang ei-
nes dritten juristischen Staatexamens erhält? Bei der Be-
antwortung dieser Frage sollte nicht unberücksichtigt
bleiben, dass der mit einer so umfänglichen Prüfung ein-
hergehende Vorbereitungsaufwand erheblich sein dürfte
und überdies die Bewerber ja zeitgleich auch noch als
Anwälte praktizieren. Von daher möchte ich anregen,
dass wir uns der Frage der Prüfungsdichte im Rahmen
der Beratungen im Rechtsausschuss noch einmal genauer
zuwenden.
Es gibt noch einen weiteren Punkt, den ich mit Blick
auf das Anwaltsnotariat an dieser Stelle ansprechen
möchte. Er betrifft den Anteil weiblicher Anwaltsnotarin-
nen, der bislang - immer noch - deutlich unter 10 Prozent
liegt, obgleich der Anteil weiblicher Rechtsanwältinnen
inzwischen bei über 30 Prozent angekommen ist. Ich
denke, dieser Umstand kann und darf uns nicht zufrieden
stellen. Auch der Gesetzgeber muss sich der Frage stel-
len, wie der Anteil weiblicher Anwaltsnotarinnen erhöht
werden kann. Dies sollten wir gerade auch in der Diskus-
sion um die veränderten Zulassungsvoraussetzungen zum
Anwaltsnotariat nicht aus dem Blick verlieren.
Ich plädiere dafür, dass wir die Beratungen zu dem
vorliegenden Gesetzentwurf zügig und zielorientiert füh-
ren. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts liegt in-
zwischen fast vier Jahre zurück. Die jetzigen Anwärter
zum Anwaltsnotariat sind unsicher, wie es weitergehen
wird. Die organisatorische Durchführung des Verfahrens
sei, so versicherte die Bundesnotarkammer, kurzfristig re-
alisierbar. Von daher denke ich, dass eine zeitnahe Verab-
schiedung des Gesetzentwurfes nicht nur richtig und
wünschenswert, sondern auch machbar ist. Wir Grünen
werden hieran konstruktiv mitarbeiten.
Wir beraten heute einen Gesetzentwurf des Bundesra-
tes zur Neuregelung des Zugangs zum Anwaltsnotariat.
Kern des Gesetzesvorschlags ist die Einführung einer no-
tariellen Fachprüfung, deren Benotung neben der Note
des zweiten Staatsexamens für die Bestenauslese bei der
Entscheidung der Landesjustizverwaltungen über den
Zugang zum Anwaltsnotariat entscheiden soll.
Die Bundesregierung unterstützt dieses Vorhaben.
Das bisherige Auswahlsystem für den Zugang zum An-
waltsnotariat ist nur noch schwierig zu handhaben. Das
Zählen von Punkten für die Dauer der Anwaltstätigkeit,
den Besuch von Fortbildungsveranstaltungen, die Zahl
der als Notarvertreter aufgenommenen Urkunden und
manch andere Tätigkeiten ist streitanfällig. Ein grundle-
gender Mangel des bestehenden Systems liegt zudem da-
rin, dass die genannten Kriterien nur quantitativer Art
sind: Die Dauer der Anwaltstätigkeit wird lediglich nach
Zu Protokoll gegebene Reden
Wolfgang NeškoviæWolfgang Nešković
Jahren bemessen. Der individuelle Umfang, die Art und
Qualität der Anwaltstätigkeit sind ohne Bedeutung. Ent-
sprechendes gilt für die weiteren genannten Zugangskri-
terien nach dem geltenden Recht. Echte Qualitätssiche-
rung sieht anders aus. Faire Chancen für alle Bewerber
erfordern eine Neuregelung.
Das Regelungsmodell einer notariellen Fachprüfung
ist geeignet, Qualitätssicherung und eine gerechte Bes-
tenauslese zu erreichen. Eine notarielle Fachprüfung si-
chert die für den Berufseinstieg erforderliche fachliche
Qualität der Berufsangehörigen. Sie ist geeignet, klare
und transparente Zugangskriterien zum Anwaltsnotariat
zu schaffen. Sie kann deshalb Rechtsstreitigkeiten ver-
meiden helfen. Sie ermöglicht eine gerechte Bestenaus-
lese. Ich verspreche mir von ihr auch deutlich mehr
Chancen für Rechtsanwältinnen, den Notarberuf zu er-
greifen, was Not tut. Bisher sind Notarinnen im Anwalts-
notariat deutlich unterrepräsentiert.
Die Einführung einer notariellen Fachprüfung ist da-
her gut. Bei den weiteren Beratungen zu ihrer Ausgestal-
tung im Einzelnen werden wir aber auch berücksichtigen,
dass die Bewerberinnen und Bewerber für den Zugang
zum Notaramt die erforderliche Vorbereitung auf den
Notarberuf berufsbegleitend während ihrer Anwaltstätig-
keit leisten müssen. Die neuen Anforderungen für die no-
tarielle Fachprüfung müssen den Erfordernissen der Pra-
xis entsprechen.
Wir wollen Leute, die in der Praxis erfahren sind und
gute Arbeit leisten, und wir müssen darauf achten, dass
wir nicht diejenigen bevorzugen, die es sich leisten kön-
nen, sich mit viel Zeit und Geld auf theoretische Prü-
fungsfragen vorzubereiten.
Ich denke, wir sind uns auch darin einig, dass in der
notariellen Fachprüfung nur notarspezifische Themen
abgefragt werden sollten. Einzelne Anforderungen des
Entwurfs können vielleicht reduziert werden. Vier an
Stelle von sechs Klausuren wären wohl auch ausreichend.
Einen zweiten mir wichtigen Punkt des Gesetzentwurfs
möchte ich noch ansprechen. Der Entwurf des Bundesra-
tes hält an der sogenannten örtlichen Wartezeit fest. Ört-
liche Wartezeit heißt, dass zum Anwaltsnotar nur bestellt
werden soll, wer zuvor drei Jahre in dem Ort als Anwalt
tätig war, in dem die Notarstelle zu besetzen ist. Die Bun-
desregierung hat vorgeschlagen, auf eine solche Rege-
lung zu verzichten. Auch auswärtige Bewerber können
ohne weiteres leistungsfähig sein. Wir sollten diese Frage
im parlamentarischen Verfahren besonders sorgfältig
prüfen.
Es ist an der Zeit, den Zugang zum Anwaltsnotariat zu
modernisieren. Lassen Sie uns eine Regelung aus einem
Guss schaffen, die die Qualität der Amtstätigkeit der An-
waltsnotarinnen und Anwaltsnotare auch in der Zukunft
sichert und die gleiche Chancen für alle Bewerberinnen
und Bewerber gewährleistet. Der Gesetzentwurf des Bun-
desrates bietet hierfür ein klares und richtiges Regelungs-
modell.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 16/4972 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13 a bis 13 c auf:
a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Marieluise Beck ({0}) und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Die europäische Zukunft Bosniens und Herze-
gowinas
- Drucksachen 16/4796, 16/6313 -
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Rainer Stinner, Michael Link ({1}),
Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Eigenverantwortung Bosnien-Herzegowinas
stärken - Amt des Hohen Repräsentanten abschaffen - Notstandsrecht international absichern
- Drucksache 16/8541 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({2})
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Marieluise Beck ({3}), Rainder Steenblock,
Dr. Uschi Eid, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Europäische Verantwortung für Bosnien-Herzegowina ernst nehmen
- Drucksache 16/9069 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten
soll. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Marieluise Beck vom Bündnis 90/Die
Grünen das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die Deutsch-Bosnische Parlamentariergruppe ist vor einigen Wochen in Bosnien unterwegs gewesen. Unsere Eindrücke waren sehr gemischt. Der Aufbau geht auch nach zwölf Jahren internationalen
Engagements doch nur schleppend voran. Die Zentrifugalkräfte sind in diesem kleinen Staat nach wie vor stark,
und die Institutionen sind äußerst ineffektiv. Das Staatsgebäude ist in sich so irrational und verschachtelt, dass
es in diesem Land 180 Minister gibt. Da kann man also
etwas werden.
({0})
Marieluise Beck ({1})
Dies alles ist nicht eine Folge der Inkompetenz der
Bosnier, sondern das ist eine Folge der Unentschiedenheit von Dayton. Wir wissen: In Dayton haben die
Kriegsverbrecher mit am Tisch gesessen.
({2})
Deswegen sage ich: Die internationale Gemeinschaft ist
nach wie vor verantwortlich für dieses Land.
({3})
Sie muss für das, was sie dort zusammengerührt hat, nun
auch die Verantwortung tragen.
Daraus folgt, dass die zeitliche Befristung des OHR,
die wir Jahr für Jahr von neuem vorgenommen haben,
immer falsch gewesen ist. Es ist sehr gut, dass der Peace
Implementation Council mit diesem Unsinn endlich
Schluss gemacht und im Januar 2008 gesagt hat: Wir
führen nicht alle sechs Monate eine Debatte darüber,
wann das OHR geschlossen wird, sodass die qualifizierten Leute weggehen, sondern wir setzen Benchmarks.
Anhand dieser Benchmarks wird entschieden, ob das
OHR weiter bestehen kann und ob die „Bonn Powers“
auch weiterhin gelten bzw. wann dies beendet wird. Ich
sage: Die Benchmark lautet, dass dieses Land eine Verfassung braucht, die demokratischen Standards genügt.
Es gibt Differenzen hinsichtlich dieser Frage. Es gibt
auch eine Fraktion, die es richtig finden würde, wenn das
OHR geschlossen und dem Land die Selbstständigkeit
gegeben wird. Das kann man als gut gemeinte Position
ansehen, aber ich finde, dass es uns doch sehr skeptisch
machen muss, dass in dem Landesteil, in dem vor einiger
Zeit noch damit gedroht wurde, ein Referendum durchzuführen, um sich abzuspalten, genau diese Forderung
getragen wird. Dort bekommt man Beifall für die Forderung, das OHR zu schließen. Das sollte uns sehr hellhörig machen, Herr Kollege Stinner.
({4})
Die Benchmark für die OHR-Reform ist eine Verfassungsreform nach europäischen Demokratievorstellungen. Auch wenn es in Bosnien drei konstitutive Völker
gibt, gehört zu den Kriterien der Demokratie, dass alle
Zugang zu allen Ämtern haben müssen und dass das passive und aktive Wahlrecht für jedermann und jede Frau
gilt. Man kann nicht die ethnischen Zuordnungen, die in
Bosnien in der Verfassung festgelegt sind, ignorieren.
Nach EU-Standards können wir erst dann von einer
EU-fähigen Demokratie sprechen, wenn ein Jude oder
eine Jüdin, ein Rom oder eine Romni oder ein Angehöriger gemischtreligiöser Gruppen, die sich nicht eindeutig
zuordnen können und wollen, weil vielleicht der Vater
kroatischer und die Mutter serbischer Herkunft ist, Zugang zu allen Ämtern bekommt.
Wer über Bosnien spricht, muss in diesen Tagen auch
über Serbien sprechen. Wir waren uns gestern im Auswärtigen Ausschuss darüber einig, dass die Politik der
Europäischen Union, noch einmal sehr deutlich die Einladung an die serbischen Bürgerinnen und Bürger
- sprich: Wählerinnen und Wähler - auszusprechen,
richtig ist, aber dass sie insofern am Rande des Erträglichen liegt, als sehr viele der ursprünglich vonseiten der
Europäischen Union gestellten Konditionen für die Unterzeichnung des SAA wieder eingesammelt worden
sind.
({5})
Es ist schwer auszuhalten, dass nach wie vor die Forderung, die mutmaßlichen Kriegsverbrecher Karadžić
und Mladić auszuliefern, nicht mehr als Voraussetzung
für die Unterzeichnung des SAA gilt. Wir sind immer
ein Stück weiter zurückgegangen.
({6})
Ich will das nicht brandmarken; denn die Situation in
Serbien ist sehr schwierig. Vielleicht ist es klug und gut,
ein Stück zurückzugehen. Aber es ist eine prekäre Strategie. Es wird dann unerträglich, wenn der Termin zur
SAA-Unterzeichnung am 26. Mai nicht haltbar ist, weil
sich die Europäische Union aus technischen Gründen
nicht in der Lage sieht, die Vorlagen zu übersetzen. Das
geht nicht an.
({7})
In diesen Tagen wurde Serbien der Verzicht auf Visagebühren für 80 Prozent der Serben angeboten. Die
Visaliberalisierung ist gut und richtig. Es soll gereist
werden. Die Menschen sollen sehen, wie westliche Demokratien und Freiheit funktionieren. Es geht aber nicht
an, das gleichzeitig den Bosniern vorzuenthalten, weil
sie sich sozusagen in politischer Hinsicht nicht schlecht
genug benommen haben.
({8})
Die Botschaft der EU darf nicht lauten: Wer mit extremem Nationalismus droht, bekommt zur Belohnung eine
Einladung, und die Standards werden gesenkt. Das ist
ein Armutszeugnis.
({9})
Ich bitte das Auswärtige Amt eindringlich, alles zu tun,
um dafür zu sorgen, dass das SAA am 26. Mai unterzeichnet werden kann. Der Umstand, dass angeblich
technische Gründe zu einer solchen Ungleichbehandlung
führen, ist schlichtweg skandalös.
Schönen Dank.
({10})
Das Wort hat der Kollege Holger Haibach von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Polizeiautos mit Blaulicht, eine Menschentraube
vor der Kirche, warmer Beifall. Die Ordensschwester an der Orgel kämpft um ein „Glory, glory halleluja“. Festmesse in Tuzla. Der Limburger Bischof
- gemeint ist Bischof Franz-Peter Tebartz-van Elst besucht am Samstag mit Sarajevos Kardinal Vinko
Puljic die ostbosnische Stadt, um drei Dutzend
junge Leute zu firmen. Noch nie, meinen einige Ältere, habe ein ausländischer Bischof die Stadt besucht.
Das berichtet die KNA über den Besuch des Limburger
Bischofs in Bosnien und Herzegowina.
Dieser Bericht ist bezeichnend. Er ist deshalb bezeichnend, weil Bosnien-Herzegowina gegenüber den
Nachbarstaaten Kosovo und Serbien - wenn man beide
als Entitäten bezeichnen will - bisweilen ein bisschen in
Vergessenheit zu geraten scheint und die öffentliche Debatte über diesen doch sehr wichtigen Staat hinweggeht.
Dabei sind die Vorgänge in der direkten Umgebung dieses Staates gerade für das sehr fragile Gleichgewicht
zwischen den Ethnien, Entitäten und religiösen Gemeinschaften in Bosnien-Herzegowina von immenser Wichtigkeit.
Es muss klar sein, dass gerade die EU mit ihrem Umgang mit Serbien und dem Kosovo dieses Gleichgewicht
stabilisieren oder destabilisieren kann. So hat die Entscheidung - die Kollegin Beck hat schon darauf hingewiesen -, das Abkommen der EU mit Serbien vor dem
mit Bosnien-Herzegowina zu unterzeichnen - und seien
dafür nur technische Gründe verantwortlich -, für entsprechende Reaktionen gesorgt. Einer der führenden Politiker in Bosnien-Herzegowina hat gefragt: Gelten diese
technischen Probleme - diese bestanden übrigens darin,
dass sich die EU nicht in der Lage sah, die Verträge in
alle Sprachen der EU-Staaten zu übersetzen - eigentlich
nicht auch für die Serben? Ich finde, diese Frage ist sehr
berechtigt. Man kann hieran sehen, dass es sich um einen
reinen Vorwand handelt. Ich will das deutlich anmerken.
({0})
Insofern bietet die heutige Debatte eine gute Möglichkeit, sich die Situation in Bosnien-Herzegowina genau
anzuschauen, sie kritisch zu überprüfen und zu kontrollieren, inwieweit die Politik der EU kohärent und zielgerichtet ausgerichtet ist.
Die beiden vorliegenden Anträge und die Antwort der
Bundesregierung auf die Große Anfrage zeigen deutlich,
wo Defizite bestehen: zu viel Macht in den Händen der
einzelnen Ethnien, kaum ausgebildete föderale Strukturen, Defizite in den Bereichen Polizei und Justiz, mangelnde Bereitschaft zur Kooperation untereinander und
vor allem ungenügende oder gar keine Zusammenarbeit
mit dem UN-Tribunal in Den Haag. FDP und Bündnis 90/
Die Grünen geben zwei quasi diametral entgegengesetzte Antworten auf die Frage, wie wir mit diesem Problem umgehen sollen. Die FDP betont in ihrem Antrag
- das zeigt schon der Titel - die Eigenverantwortung
Bosnien-Herzegowinas. Bündnis 90/Die Grünen wollen,
dass Europa seine Verantwortung für Bosnien-Herzegowina ernst nimmt. Vieles in dieser Debatte entzündet
sich an der Position des Hohen Repräsentanten und Sonderbeauftragten. Die FDP sieht seine Abschaffung als
notwendig an und möchte nur noch ein Notstandsrecht
international absichern. Dagegen will Bündnis 90/Die
Grünen dessen Position verstetigt sehen, wie Frau Beck
eben ausgeführt hat.
Bei allem Respekt vor den beiden Anträgen halte ich
diese Debatte bis zu einem gewissen Grade - ich bitte,
mich nicht falsch zu verstehen - für eine typisch deutsche Debatte. Wir diskutieren zu viel über Strukturen.
Ich weiß, dass hinter Strukturen auch Antworten auf Fragen stecken. Aber ich finde, wir sollten genauer hinschauen, was wir mit den Strukturen erreichen wollen
und welche Philosophie hinter diesen Strukturen steht.
Sonst laufen wir Gefahr, bei der Strukturdebatte stehen
zu bleiben und nicht wirklich zur Philosophie zu kommen.
Welches Ziel haben wir denn? Das Ziel muss sein,
Bosnien-Herzegowina zu einem Land zu machen, in
dem Rechtsstaatlichkeit und Demokratie herrschen und
in dem unterschiedliche Ethnien und Religionen friedlich miteinander leben können. Vor diesem Hintergrund
und den Verhältnissen, wie sie die Kollegin Beck richtig
beschrieben hat, ist es einigermaßen wagemutig, auf den
Hohen Repräsentanten zu verzichten, wie es die FDP
vorschlägt, und sozusagen von außen nur dann einzugreifen, wenn man sich schon auf halbem Weg zu einem
Bürgerkrieg befindet. Deshalb können wir diesem Antrag nicht nähertreten. Mir ist auch klar, dass vollständiges souveränes Handeln nur dann möglich ist, wenn eines Tages diese Position nicht mehr notwendig ist. Aber
gerade Christian Schwarz-Schilling hat deutlich gezeigt,
({1})
dass man dieses Amt auch so ausüben kann, dass auf der
einen Seite die Eigenständigkeit gewährleistet ist und
dass auf der anderen Seite die „Bonn Powers“ nur die
Ultima Ratio sind. Ich hätte mir gewünscht, dass er von
vielen Seiten mehr Unterstützung erfahren hätte, als es
tatsächlich der Fall war.
({2})
Bündnis 90/Die Grünen betonen in ihrem Antrag die
europäische Verantwortung; das ist auch richtig. Aber
wir dürfen diejenigen, die vor Ort handeln, nicht aus ihrer Verantwortung entlassen. Die Position des Hohen
Repräsentanten darf sozusagen nicht die Rückfallposition sein, wenn sich beide Seiten nicht einig werden.
Deswegen ist mir eine unendliche Perpetuierung dieser
Position ehrlich gesagt zu viel. Deswegen kann ich diesem Antrag ebenfalls nicht nähertreten.
Erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Beck?
Mit großer Freude.
Geschätzter Herr Kollege, Sie haben eben von einer
unendlichen Perpetuierung des OHR gesprochen. Ich
bitte Sie, genau zu sein. Ich habe von Benchmarking gesprochen und davon, dass es dann, wenn das Land eine
demokratische Verfassung hat, an der Zeit ist, den OHR
abzuschaffen.
Darf ich Sie bitten, zur Kenntnis zu nehmen, dass der
verehrte Kollege Schwarz-Schilling vor Ort ständig damit zu kämpfen hatte, dass qualifizierte Leute aus dem
OHR abgewandert sind, weil alle sechs Monate unklar
war, ob das OHR bleiben würde oder nicht? Es war unklar, ob es geschlossen würde; dann hat man es nochmals
für einige Zeit verlängert. Das hat zu einer riesigen Ineffektivität geführt. Was die Sparsamkeit der Anwendung
betrifft - ich bitte Sie, das zur Kenntnis zu nehmen -,
sind wir vollkommen d’accord.
Sehr geehrte Frau Kollegin, ich bin gerne bereit, das
zur Kenntnis zu nehmen, aber ich glaube, dass es neben
einem unbestimmten Mandat, wie es zurzeit besteht, und
einer halbjährlichen Verlängerung noch andere Möglichkeiten gibt. Man kann sich verschiedene Dinge überlegen. Aber dem Mandat in irgendeiner Form gar kein
Ende zu setzen, fördert nicht gerade den Willen aller Beteiligten, am Ende selbstständig zu handeln. Das ist das,
was ich ausdrücken wollte.
Die Frage bleibt nach wie vor: Ist die Politik, die die
Europäische Union auf dem Balkan insgesamt betreibt,
sinngerichtet, und zeigt sie wirklich - was wir alle
möchten - diesen Ländern eine europäische Perspektive
auf? Darüber sind wir uns, glaube ich, einig: Wir können
nur dann auf dem Balkan Frieden stiften, wenn diese
Länder eine wirkliche, eine wahrhaftige europäische
Perspektive haben.
({0})
Auch das hat die Kollegin Beck meines Erachtens
völlig zu Recht ausgeführt: Es ist ein bedenkliches Signal, wenn die Europäische Union zu Beginn der Verhandlungen Bedingungen aufstellt, die auch für andere
Staaten, die Mitglieder werden wollen, gelten, und dann
Stück für Stück hinter diese Bedingungen zurückfällt.
Ich glaube, dass das ein schwieriges Zeichen ist, und ich
halte das allein um ihrer Glaubwürdigkeit willen für extrem problematisch. Eines muss vollkommen klar sein:
Die allerletzte Reißlinie ist die Verfolgung von Kriegsverbrechen und die Zusammenarbeit mit dem UN-Tribunal. Jede Lösung, sei es eine in Bezug auf Serbien oder
auf Bosnien-Herzegowina, die das nicht berücksichtigt,
ist ein Rückschlag für die gesamte EU.
({1})
Es bleibt wichtig, festzustellen, dass es trotz aller
Widrigkeiten durchaus Hoffnung auf ein friedliches Zusammenleben in Bosnien-Herzegowina gibt und dass die
EU gerade solche Initiativen fördern sollte, die das zum
Ziel haben.
Ich möchte zum Bericht der KNA und dem Besuch
von Bischof Tebartz-van Elst zurückkommen.
Besonders beeindruckt zeigt sich der Gast aus
Limburg von der „Europa-Schule“ des Bistums.
1 200 Schüler besuchen Volksschule, Gymnasium
oder Krankenschwesternschule. Schwester Davorka
Saric berichtet, 45 Prozent davon seinen katholisch,
der Rest orthodox oder muslimisch. In einem Klassenraum holt die stellvertretende Schulleiterin Bibel, Talmud und Koran aus dem Regal. „Die Kinder
achten sich. Sie sind vernünftiger als die Erwachsenen.“
Das ist ein Signal der Hoffnung. Aber - so heißt es
weiter -:
Die Schule, berichtet Generalvikar Mato Zovkic,
bekommt … keine EU-Gelder.
Darin liegt - vielleicht manchmal mehr als in den großen
Fragen - ein Teil des Problems.
Herzlichen Dank.
({2})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Rainer Stinner von
der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Präsident, erlauben Sie mir, dass ich den Botschafter von Bosnien-Herzegowina heute Abend sehr herzlich
auf der Tribüne begrüße. Er wird uns in 14 Tagen verlassen. Herr Botschafter, ich danke Ihnen für Ihre Tätigkeit
in diesem Land und wünsche Ihnen für Ihre Zukunft und
für Ihr Land alles Gute im Namen des ganzen Hauses.
({0})
Herr Präsident, ich hoffe, ich durfte das tun.
„Wehe dem Staat, der Diplomaten in die Hände fällt.“
So hat die FAZ die Entscheidung des PIC im Februar dieses Jahres kommentiert, zum zweiten Mal entgegen den
ursprünglichen Planungen das Mandat des OHR zu verlängern, und dieses Mal, wie Frau Beck gesagt hat, ohne
zeitliche Begrenzung, aber mit Bedingungen verbunden,
die sehr einschränkend sind. Wenn jetzt gesagt wird, der
OHR werde erst nach der Verfassungsdebatte abziehen
können, dann können wir, verehrte Frau Beck, noch mindestens drei bis vier Jahre warten. Vorher wird das
nichts. Ich glaube, das wissen wir alle.
({1})
Diese Beschreibung der FAZ ist sicherlich etwas
pointiert - das will ich zugeben -, aber sie zeigt
einigermaßen, wie erratisch, phantasielos und konzeptionslos die europäische Balkan-Politik eigentlich ist.
Hier komme ich zum OHR. Gleichwohl ist es richtig:
Am Anfang hatte es eine wichtige Funktion, aber nach
13 Jahren - selbst wenn das OHR von Anfang an blendend funktioniert und vieles gebracht hätte; vieles hat es
ja gebracht - ist ein solches Instrument natürlich verbraucht.
Jetzt haben wir etwas Zusätzliches: Wir stehen davor
- Sie haben alles Notwendige gesagt, liebe Frau Kollegin Beck -, dass Bosnien das SAA-Abkommen, das
heißt einen gesicherten und klaren Pfad in Richtung
Europa hoffentlich am 26. Mai unterzeichnet.
({2})
Wir glauben allerdings immer noch, dass wir das OHR
brauchen. Das ist ein Oktroi im Hinblick auf Europa und
ein weiterer Grund, das OHR abzuschaffen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir waren vor wenigen Wochen bei Herrn Lajčák persönlich. Herr Lajčák
hat selber gesagt, er messe die Zeitdauer seines Mandates in Monaten und nicht in Jahren. Das heißt, sehr verehrter Herr Haibach, ich bin sehr gespannt, ob Sie als
Regierungsfraktion die Bundesregierung dazu bewegen
können, gegen das OHR zu stimmen und es weiterbestehen zu lassen, wenn mit Zustimmung des Peace Implementation Councils das OHR zum Jahresende geschlossen wird.
({3})
Das ist nicht realistisch.
Das OHR wird am Ende des Jahres, spätestens im
nächsten Frühjahr, nicht mehr da sein. Deshalb ist es
richtig, heute hier eine realistische Einschätzung abzugeben. Deshalb ist unsere Forderung nach meinem Dafürhalten konsequent, und deshalb können wir Ihrem Antrag, liebe Frau Beck, auch nicht zustimmen, so viel
Gutes auch in ihm steht.
In unserem Antrag haben wir - das hat Herr Haibach
gesagt - eine weitere, wie ich finde, kreative Idee. Denn
in der Tat gibt es Befürchtungen, dass es wieder zu
kämpferischen Handlungen kommen kann. Deutschland
hat zwischen 1952 und 1968 ein solches Eingriffsrecht
ohne große Probleme „erdulden“ müssen. Ich glaube,
das könnte ein Referenzpunkt sein.
({4})
Wir alle wissen: Die Polizeireform ist ein wesentlicher Prüfstein gewesen - und sie ist es immer noch - für
das, was in Bosnien-Herzegowina passiert. Meines Erachtens hat die internationale Gemeinschaft hier sehr unglücklich agiert. Erstens. Die Reihenfolge Polizeireform
vor Verfassung ist völlig falsch. Wir hätten uns zuerst
mit der Verfassung und dann darauf aufbauend mit einer
Polizeireform beschäftigen müssen.
Zweitens. Es gibt keine gemeinsame europäische
Polizeikultur und -philosophie. In Finnland ist die Polizei
sehr zentralistisch aufgebaut, in Deutschland hingegen
sehr föderal. Jetzt haben wir den Bosniern die Aufgabe
übertragen, die Polizei entsprechend zu reformieren.
({5})
- Das ist sicherlich richtig, sehr geehrter Herr Kollege
Brand, aber es gibt keine gemeinsame europäische Polizeikultur. Es gibt kein einheitliches europäisches Polizeimodell, sondern sehr viele verschiedene.
Drittens. Um des lieben Friedens willen hat die Europäische Union zunächst einmal hohe Hürden aufgebaut,
und um des lieben Friedens willen - und um einige Fortschritte zu zeigen - hat man jetzt - das haben uns die
Kollegen in Bosnien-Herzegowina letzte Woche berichtet - die Kriterien so weit gesenkt, dass der Schritt zum
SAA gemacht werden kann. Auch das ist unlogisch und
nicht besonders glücklich. Das erhöht nicht gerade die
Glaubwürdigkeit der Europäischen Union.
Von daher sage ich hinsichtlich der Polizeireform:
Der Rahmen muss von Europa gesetzt werden. Wie die
Polizei organisiert wird, ist am Ende des Tages Sache
von Bosnien-Herzegowina.
Es geht uns darum, dass wir Bosnien-Herzegowina
europafähig machen. Dafür sollen wir Rahmenbedingungen fordern, etwa Rechtsstaatlichkeit oder die Gleichbehandlung aller Bürger in diesem Land; keine Frage. Aber
wie das im Land im Einzelnen organisiert wird, ist Sache
der Bürger des Landes Bosnien-Herzegowina.
Damit komme ich abschließend kurz zur Verfassung.
Sie haben völlig recht und wir sind einer Meinung:
13 Jahre nach Dayton ist es dringend überfällig, dass wir
die Verfassung entsprechend ändern und fortschreiben.
Diesen Prozess können wir als Europäer auch nur begleiten und unterstützen. Wir sollten diesen Prozess allerdings nicht gestalten.
Liebe Frau Beck, hier liegt wohl der einzige Unterschied zwischen uns. Wir wehren uns gegen ein Mikromanagement der Europäischen Union und dagegen, dass
wir sagen, wie sie es machen sollen. Wir wollen den
Rahmen setzen, aber wie die Gesellschaft dieses Landes
ihre Dinge in diesem rechtsstaatlichen Rahmen gestaltet,
ist ihre Aufgabe.
Daher sage ich abschließend: Trotz der Meinungsunterschiede zwischen uns, die heute deutlich geworden
sind, sind sich der Bundestag und die hier vertretenen
Parteien in der Unterstützung Bosnien-Herzegowinas
auf dem Weg nach Europa einig. Wir sagen: Die Tür zu
Europa steht offen. Die Gesellschaft Bosnien-Herzegowinas muss den Weg durch diese geöffnete Tür allerdings selber gehen.
Schönen Dank.
({6})
Das Wort hat jetzt der Kollege Detlef Dzembritzki
von der SPD-Fraktion.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Einer meiner Vorredner hatte eben gesagt - ich habe es nicht mehr ganz
zuordnen können -, dass wir eine typisch deutsche Debatte führen.
({0})
Ich stimme dem zu, weil ein wenig die Gefahr besteht,
dass wir schon wieder in die Situation kommen oder den
Eindruck erwecken, von unserer Seite aus sollten Regelungsmechanismen erfunden werden, um die Probleme
in Bosnien-Herzegowina zu lösen. Meines Erachtens gilt
dies auch ein Stück weit für die Europäische Union, obwohl all das, was hier an Perspektive und Hoffnung formuliert worden ist, grundsätzlich richtig ist und auch
von mir unterstützt wird.
Wenn hier immer wieder von den „Bonn Powers“ gesprochen wird, dann will ich für die Zuhörerinnen und
Zuhörer, die in die Thematik nicht so gut eingeführt
sind, zumindest einmal den Versuch unternehmen, darauf hinzuweisen, dass es sich hierbei um eine Operationskompetenz des Hohen Repräsentanten der internationalen Gemeinschaft handelt. Die „Bonn Powers“
ermöglichen, in die Regierungsgeschäfte von BosnienHerzegowina einzugreifen.
Darin liegt nun tatsächlich ein Problem. Ich erinnere
in diesem Zusammenhang daran, dass wir im Dezember 2003 einmal den Versuch unternommen haben, auf
europäischer Ebene Fortschritte zu erreichen, und zwar
unter Beteiligung von Politikerinnen und Politikern aus
Ländern, die wirklich gute Beziehungen dorthin haben.
Ich denke an den ehemaligen Außenminister Geremek
von Polen, aber auch an Kollegen aus dem Europaparlament - seien sie von der Volkspartei, von den Sozialdemokraten oder von den Liberalen - und an Kollegen aus
diesem Haus. Herr Dr. Stinner und andere Kollegen haben am 16. Dezember 2003 eine gemeinsame Erklärung
zum Friedensprozess in Bosnien und Herzegowina
- Stichwort „Dayton überwinden“ - mit unterschrieben.
Eigentlich haben wir uns bemüht, den zehnten Jahrestag zu nutzen, um neue Impulse zu geben. Wenn man
sich die Leitlinien dieser Erklärung vor Augen führt, die
wir damals gemeinsam auf europäischer Ebene eingebracht haben, dann muss man feststellen, dass fünf Jahre
später leider immer noch gilt: Das friedliche Zusammenleben der verschiedenen Gruppen ist nach wie vor gefährdet. Der für die wirtschaftliche und politische Entwicklung notwendige Gesamtstaat ist zu schwach. Die
Rolle der internationalen Gemeinschaft ist zunehmend
ambivalent. Resignation und Stagnation sowie das
wachsende Armutsproblem untergraben die noch schwachen Fundamente des Friedens. Die Konstruktion von
Dayton ist an ihrer Grenze angelangt.
Ich sage dies wohl wissend, liebe Kolleginnen und
Kollegen,
({1})
dass damals diejenigen Diplomaten waren, lieber Kollege Dr. Stinner, die, wie wir schon so häufig festgestellt
haben, zumindest in der entscheidenden Sekunde Krieg,
Vertreibung und Verbrechen beendet haben. Deswegen
sollten wir hier mit dem Begriff „Diplomaten“ - Sie haben es zitiert; es war nicht Ihre eigene Aussage, sondern
die der Frankfurter Allgemeinen Zeitung - etwas vorsichtiger umgehen und zuerst einmal Respekt dafür bekunden, dass sie versuchen, etwas zu leisten.
({2})
Trotzdem muss man in Rechnung stellen, dass es
hierbei Probleme gibt, die zum Teil obskuren Charakter
haben. Ich freue mich, dass der Botschafter von Bosnien-Herzegowina hier ist. Ich weiß, dass in BosnienHerzegowina viele bemüht sind, die Dinge besser zu gestalten und voranzubringen, und dass dies ein schwerer
Weg ist.
Wir müssen auch von hier aus dem Botschafter die
Botschaft mitgeben, dass im Lande selbst die sogenannten Entitäten, die einzelnen Verantwortungsträgerinnen
und -träger, ein hohes Maß an Verantwortung dafür haben,
({3})
dass der Dayton-Prozess in Bosnien-Herzegowina überwunden wird.
({4})
Aber es ist und bleibt ein Prozess. Deswegen, lieber
Kollege Dr. Stinner, bin ich ein bisschen skeptisch, ob
der Antrag, den Sie eingebracht haben, nicht so etwas
wie das Ei des Kolumbus darstellt. Sie wissen ja, dass
dem Ei des Kolumbus der Kopf abgeschlagen wurde, damit es stehen konnte. Insofern bin ich ein wenig in
Sorge, ob das die Lösung ist. Ich glaube nämlich, dass
Ihr Notstandsprogramm dann, wenn es nicht funktionieren sollte, sehr problematisch wird. Dennoch besteht
Hoffnung. Möglicherweise schafft es der derzeitige
Hohe Repräsentant, die Zeit zu nutzen, um daraus ein
Monatsprogramm zu machen. Aber dazu ist ein Prozess
notwendig.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe eben noch
einmal unseren Staatsminister bezüglich der Sprachen
befragt. Liebe Kollegin Beck, was Sie dazu sagten, ist
einerseits richtig. Andererseits ist hier auch auf die besondere Situation hinzuweisen. Das richtet sich insbesondere an die Adresse unserer Freunde in Bosnien-Herzegowina. Wenn diese zum Beispiel darauf bestehen,
dass die Europäische Union für Übersetzungen in ihre
drei Sprachen sorgt, dann kommt es ein Stück weit zu einer Situation, die wir zumindest als merkwürdig empfinden. Meinetwegen sollen Übersetzungen stattfinden.
({6})
- Liebe Kollegin, ich möchte damit doch nur aufzeigen,
wie schwer bzw. leicht - je nachdem, wie Sie es sehen
wollen - es sich die Verantwortlichen in Bosnien-Herzegowina machen.
({7})
- Liebe Leute, seid doch einmal etwas kreativer und
überwindet den Rahmen, der gesetzt ist, und geht etwas
unkonventioneller an die Sache heran. Wir können doch
von ihnen Flexibilität verlangen, wenn sie Flexibilität
von der EU verlangen.
An dieser Stelle erlaube ich mir den Hinweis, dass sie
auch selber dafür Verantwortung tragen, einen Regelungsmechanismus im eigenen Land aufzubauen, in dessen Folge sie sich nicht immer wieder selbst im Wege
stehen. Manches könnte schon längst zur Normalität geworden sein, wenn die Realitäten als solche akzeptiert
würden. Ich halte es jedoch für problematisch, wenn aufgrund des Festhaltens an den bestehenden Konstruktionen von Entitäten oder aus Prestigegründen letztendlich
der Raum für eigenes flexibles Handeln immer wieder
eingeschränkt wird und der eigene Wille nicht stark genug ist, um sich eine eigene Verfassung zu geben. Es ist
doch ganz klar, dass diese im Land selbst erarbeitet werden muss. Letztendlich entsteht aus all dem Ungeduld.
Ich halte es auch nicht für fair, wenn Serbien und
Bosnien-Herzegowina verglichen werden. Die Serben
haben doch keinen Freibrief bekommen, indem ihnen
angeboten wurde, das SAA-Abkommen abzuschließen.
({8})
- Wo ist denn Herr Karadzic? Auch der internationalen
Gemeinschaft kommt in diesem Fall hohe Verantwortung zu. Zumindest haben die Serben ihren Staatschef
Milošević ausgeliefert.
({9})
Ich will hier jetzt gar nicht anfangen, zu richten. Ich will,
dass Mladic ausgeliefert wird. Aber Ihr Zwischenruf, lieber Kollege Brand, macht deutlich, dass wir es uns nicht
zu einfach machen dürfen. Wenn zum Beispiel die serbische Regierung nicht bereit ist, mit dem Internationalen
Strafgerichtshof zusammenzuarbeiten, dann wird auch
der Mechanismus des SAA-Abkommens nicht greifen.
({10})
- Aber Leute! Ich denke, dass solche Hinweise zu kurz
greifen, weil so der Verdacht aufkommen könnte, dass
wir unterschiedliche Positionen vertreten.
({11})
Es steht doch fest, dass Kriegsverbrecher ohne Wenn
und Aber ausgeliefert werden müssen.
({12})
Diese Position wurde auch von der Europäischen Union
nicht aufgegeben.
Von Bosnien-Herzegowina muss und kann man erwarten, dass es, wenn Dayton überwunden werden soll,
nicht nur abwartet, was die EU macht, sondern auch
durch eigenes Zutun im Lande seinen Beitrag leistet.
Manchmal habe ich den Eindruck, dass einige Verantwortungsträger in den Entitäten sich so gut eingerichtet
haben, dass sie im Grunde wenig Interesse an der Veränderung des bestehenden Status haben und dass die jungen Leute, die ja keine Chance auf ein visafreies Reisen
haben und nicht erleben können, wie eine Entwicklung
in Freiheit aussehen kann - das bedauere ich zutiefst -,
glauben, dass nicht das Problem der fehlenden Freiheit,
sondern die Probleme in ihrem Land die grundsätzlichen
sind.
Ich halte es deshalb für dringend notwendig, dass in
Bezug auf die Überwindung der bestehenden Entitäten
und der Parallelstrukturen mehr geschieht als bisher.
Hier kann ich grundsätzlich die Aussagen der Kollegin
Beck bezüglich des Zugangs zu öffentlichen Ämtern
usw. unterschreiben. Dieser Zugang ist im Augenblick
nicht in der Form gewährleistet, wie wir ihn in Europa
als Standard kennen.
Um Dayton zu überwinden, müsste all das in einer
Verfassung geregelt werden. Nur darin sehe ich eine
Chance für die Zukunft.
({13})
Herr Kollege Dzembritzki, erlauben Sie am Ende Ihrer Rede noch eine Zwischenfrage der Kollegin Beck?
Wenn die Kolleginnen und Kollegen mir das nicht
übel nehmen, bitte, Frau Kollegin.
Das werden sie nicht tun, wenn die Zwischenfrage
und die Antwort kurz ausfallen.
Herr Kollege Dzembritzki, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass wir von diesem Parlament aus etwas
zur Beantwortung der Frage, wo Herr Mladic ist, beitragen könnten? Es ist bekannt, dass Herr Mladic Diabetiker ist und ständige medizinische Begleitung braucht. Es
ist auch bekannt, dass es mitten in Belgrad ein großes
Marieluise Beck ({0})
Areal gibt, auf dem sich ein Armeeklinikum befindet.
Wenn man nun zwei und zwei zusammenzählt, sollte es
für eine Regierung, die Herrn Mladic wirklich finden
will, ein Leichtes sein, ihn zu finden.
Frau Kollegin, ich kann nur noch einmal deutlich unterstreichen, dass ich hundertprozentig der Meinung bin,
dass Herr Mladic vor den Internationalen Gerichtshof
gehört und dass jeder Hinweis auf seinen Aufenthaltsort
aufgegriffen werden sollte. Andererseits bin ich der Meinung, dass wir dann, wenn sich in Serbien Kräfte durchsetzen sollten, die ihre Kampagne auf eine europaunfreundliche Politik ausrichten - ich formuliere es sehr
vorsichtig -, wahrscheinlich noch weniger Chancen hätten, Herrn Mladic vor dem Internationalen Gerichtshof
zu sehen.
({0})
Die Unterstützung der europafreundlichen Kräfte ist also
ganz wichtig, um nicht nur in diesem Land, sondern
auch in Europa zu einem Rechtsfrieden zu kommen.
({1})
Als letzter Redner hat der Kollege Wolfgang Gehrcke
von der Fraktion Die Linke das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
beginne mit einer kleinen Polemik. Das brauche ich; anderenfalls fehlte mir etwas, Kollege Stinner. Es gehört ja
auch zum Ritual. Sie haben amüsant die FAZ zitiert:
Wehe dem Land, das Diplomaten in die Hände fällt. Es
ist nicht unbedingt meine Aufgabe, den deutschen diplomatischen Dienst zu verteidigen. Mir läge näher, zu sagen: Wehe dem Land, das Militärs in die Hände fällt.
Dann hätten wir es gleich ausgeglichen.
({0})
Möglicherweise gibt es friedfertige Militärs und vernünftige Diplomaten.
Mir ist wichtig, in dieser Debatte festzuhalten, dass
man an dem Ziel eines souveränen, sich selbst bestimmenden Staates Bosnien-Herzegowina festhält und dass
man das, was man von unserem Land und von Europa
aus tun kann, in diese Richtung unternimmt. Gleichzeitig
muss uns klar sein, dass ein Staat nur dann Bestand hat
und stabil ist, wenn die dort lebenden Menschen diesen
Staat wollen. Deswegen ist es vor allen Dingen ihr Problem. Die Menschen werden einen Staat dann wollen,
wenn er ihnen Schutzfunktionen, Rechtsstaatlichkeit,
Demokratie und soziale Sicherheit angedeihen lässt. Damit überzeugt man Menschen für einen Staat. Dies zu
unterstützen, könnte eine vernünftige Linie der deutschen Politik sein.
({1})
Leider muss man Entscheidungen immer in Raum
und Zeit treffen. Wir sollten daher nichts unternehmen,
was eine Stabilisierung auf dem Balkan zusätzlich gefährdet. Dies halte ich im Moment für das größte Problem. Natürlich darf nach meinen Vorstellungen und denen der Linken in keinem Staat eine Aufteilung von
Macht und Recht nach Ethnien erfolgen. Das darf keine
Verfassung bestimmen.
({2})
Aber ich habe die Sorge, dass wir erneut in einen Prozess der Destabilisierung hineingeraten. Deswegen halte
ich den Vorschlag der FDP gerade zum jetzigen Zeitpunkt für ungeeignet. Ich bin dafür, dass das Mandat des
Hohen Repräsentanten verlängert wird und dass man mit
diesem Mandat weiterarbeitet, obwohl ich anfangs eine
andere Zielprojektion hatte.
Ich sage Ihnen eines erneut: Die Kosovo-Entscheidung wird ihren Preis haben und, wie ich befürchte, in
der gesamten Region destabilisierend wirken. Ich habe
gelesen, dass der Exbundeskanzler Schröder diese Entscheidung für falsch und verfrüht hält. Daran sieht man,
dass es mehr Leute gibt, die sich darüber einen Kopf machen.
({3})
Es wurde von den Wahlen in Serbien gesprochen. Ich
bin sehr skeptisch, ob die Entscheidung der Europäischen Union in dem gewünschten Sinne Einfluss auf die
Wahlen in Serbien haben oder das Gegenteil befördern
wird, weil dort der Eindruck, man solle gekauft werden,
sehr stark ist. Auch darüber ist nachzudenken: Was machen wir denn, wenn die Wahlen in Serbien ganz anders
ausgehen, als wir es uns vielleicht wünschen? Welche
Auswirkungen wird dies auf die Nachbarländer haben?
Vielleicht ist es im Moment vernünftig, einen unerwünschten Zustand einzufrieren, weil ein eingefrorener
Zustand berechenbarer als ein Zustand ist, der wieder in
gewaltsamen Auseinandersetzungen eskalieren kann.
Aus diesem Grunde - nicht, weil ich den Zustand für
ideal hielte - glaube ich, im Moment ist es besser, beim
Amt des Hohen Repräsentanten zu bleiben und hier
keine Veränderungen vorzunehmen. Die Europäische
Union sollte ihrerseits all das, was sie Serbien angeboten
hat, auch Bosnien-Herzegowina anbieten - statt es mit
dummen Argumenten in der Art, dass man eine Übersetzung nicht hinbekomme, zu verweigern - und in Bezug
auf freien Reiseverkehr, Austausch und kulturelle Kooperation alle Türen öffnen. Das ist menschlich und vernünftig. In diese Richtung kann man ein Stück Politik
entwickeln.
Meine Sorgen sehen Sie mir bitte nach. Ich hoffe,
dass ich durch die Realität nicht bestätigt werde; aber es
sieht leider so aus.
Danke sehr.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/8541 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/9069
mit dem Titel „Europäische Verantwortung für BosnienHerzegowina ernst nehmen“. Wer stimmt für den Antrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Antrag
ist mit den Stimmen aller Fraktionen bei Zustimmung
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ergänzung der Bekämpfung der Geldwäsche und
der Terrorismusfinanzierung ({0})
- Drucksachen 16/9038, 16/9080 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Hier sollen die Reden zu Protokoll genommen werden. Es handelt sich um die Reden der Kollegen Helmut
Brandt, CDU/CSU, Frank Hofmann, SPD, Gisela Piltz,
FDP, Ulla Jelpke, Die Linke, und Wolfgang Wieland,
Bündnis 90/Die Grünen.
Heute diskutieren wir in erster Lesung den Entwurf des
Gesetzes zur Ergänzung der Bekämpfung der Geldwäsche und der Terrorismusfinanzierung. Grundlagen für
die Gesetzesinitiative sind das am 15. August 2002 in
Kraft getretene Geldwäschebekämpfungsgesetz und die
Richtlinien des Europäischen Parlamentes und des Rates
sowie der Kommission aus den Jahren 2005 und 2006.
Diese Richtlinien sind nunmehr umzusetzen und bilden
den Rahmen für das Ergänzungsgesetz.
Die Bedeutung der Bekämpfung der Geldwäsche und
der Terrorismusfinanzierung hat in den letzten Jahren
nicht abgenommen, sondern im Gegenteil zugenommen.
Die Änderung des bestehenden Geldwäschegesetzes mittels der Umsetzung der entsprechenden Richtlinien
bedeutet die notwendige Anpassung an die sich verändernden Gegebenheiten. Terroristen, aber auch die organisierte Kriminalität sind auf weltweite Geldflüsse angewiesen, um ihr verbrecherisches Tun zu finanzieren und
das gewonnene Kapital zu platzieren. Gelingt es mithin,
die Geldwäsche wirksam zu bekämpfen und den weltweiten Finanzfluss zur Finanzierung des Terrorismus einzudämmen, so würde dies einen bedeutenden Schritt zur Bekämpfung dieses Kriminalitätsfeldes darstellen und
zudem das organisierte Verbrechen empfindlich treffen.
Zu Recht bemüht sich der Gesetzesentwurf, möglichst
eine von uns gewünschte Eins-zu-eins-Umsetzung der
Richtlinien vorzunehmen. Dies ist angesichts der vielen
unterschiedlichen Positionen und Interessen schon allein
auf europäischer Ebene keineswegs eine einfache Aufgabe, die aber durch den vorliegenden Gesetzentwurf im
Wesentlichen gelungen ist. Dabei ist zu berücksichtigen,
dass im Zuge der geplanten Novellierung eine Vielzahl
von Gesetzen einer Änderung bedürfen. Zu nennen sind
hier die notwendige Änderung des Straftatbestandes der
Geldwäsche in § 261 StGB, Änderungen im Kreditwesengesetz, KWG, Änderungen im Versicherungsaufsichtsgesetz,VAG, Folgeänderungen im Zollverwaltungsgesetz,
ZollVG, und Änderungen des Investmentgesetzes, InvG.
Geldwäsche, das sind all die Methoden und Handlungen, die dem Einschleusen von illegal erworbenem Geld
oder anderen gleichwertigen Vermögenswerten in den legalen Finanz- und Wirtschaftskreislauf dienen und
gleichzeitig verhindern, die tatsächliche Herkunft der
Vermögenswerte aufzudecken. Betrachtet man diese Definition und bedenkt man, dass eine kaum in Zahlen zu
fassende Menge von entsprechenden Transaktionen potenziell unter diese Definition fallen, so wird deutlich,
dass die Bedeutung der Maßnahme unbestritten ist, die
wirksame Durchführung aber einen erheblichen Aufwand
bedeutet.
Die augenblickliche Sicherheitslage - sowohl global
als auch national betrachtet - zwingt uns aber, die entsprechenden Maßnahmen zu treffen. Nach wie vor steht
Deutschland und stehen auch die anderen europäischen
Länder ebenso wie die USA im Fokus der Bedrohung
durch den Terrorismus. Nach wie vor steigt auch die Gefahr durch die organisierte Kriminalität. Diese Gefahren
rechtfertigen die vorgesehenen Ergänzungen der bestehenden Gesetze. Sie sind notwendig und müssen auch von
den von der Umsetzung Betroffenen als notwendig erkannt werden. Dieser zweite Aspekt ist deshalb besonders
wichtig, weil es an der Aufmerksamkeit und an der Genauigkeit der Durchführung der Maßnahmen liegt, wie
erfolgreich letztlich die Bekämpfung insbesondere des
Terrorismus ist.
Durch das Gesetzesvorhaben ist auch das Ziel erreicht
worden, klare und übersichtliche Regelungsstrukturen zu
schaffen. Man mag dabei bedauern, dass es neben dem
Geldwäschegesetz auch notwendige Anpassungen und
Auslagerungen insbesondere in das Kreditwesen- und in
das Versicherungsaufsichtsgesetz gibt. Dies lässt sich
aber aufgrund der Gesetzessystematik in Deutschland
nach meiner Auffassung nicht verhindern. Die CDU/
CSU-Fraktion geht nach den Erfahrungen mit dem bisherigen Geldwäschegesetz davon aus, dass es nicht zu
Schwierigkeiten bei der praktischen Rechtsanwendung
führt, da diejenigen, an die sich das Gesetz wendet, auch
jetzt bereits sowohl mit dem Kreditwesengesetz wie auch
mit dem Versicherungsaufsichtsgesetz umzugehen verstehen und gewöhnt sind, die dortigen gesetzlichen Grundlagen zu beachten und umzusetzen.
Soweit dies zum jetzigen Zeitpunkt überhaupt schon
möglich ist, halten sich die Kosten für die Umsetzung in
Grenzen. Der mit dem Gesetz beschäftigte Normenkontrollrat hat insoweit keine Bedenken erhoben und ist von
der Einschätzung der Bundesregierung nicht abgewichen.
Zusammenfassend ist mithin zu betonen, dass diese
Gesetzesergänzung und Erweiterung notwendig ist und
im Kampf gegen die organisierte Kriminalität und den
weltweit agierenden Terrorismus Erfolg verspricht und
zwar im Wesentlichen durch folgende Maßnahmen: erstens durch die Ausweitung weiterer zur Geldwäschebekämpfung bereits bestehender Instrumente auf die Bekämpfung des Terrorismus und seiner Finanzierung,
zweitens durch die Verstärkung von Sorgfaltspflichten
und die bessere Differenzierung nach der Risikoträchtigkeit von Transaktionen, drittens durch eine Neudefinition
der tatsächlich hinter den Transaktionen stehenden Personen - Stichwort „wirtschaftliche Eigentümer“ - und
viertens durch die Möglichkeit für den Verpflichteten, die
sich für ihn aus dem Gesetz ergebende Verpflichtung zur
Erfüllung der Sorgfaltspflichten auch auf einen Dritten zu
übertragen.
Im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens wird man sicherlich noch zu Optimierungen kommen auch unter Berücksichtigung der Stellungnahme des Bundesrates in
seiner Sitzung vom 25. April 2008. Ich sehe niemanden,
der sich grundsätzlich gegen die Optimierung durch das
Geldwäschebekämpfungsergänzungsgesetz ausspricht.
Ich freue mich deshalb auf eine angeregte Diskussion.
In erster Lesung beraten wir den Regierungsentwurf
eines Gesetzes zur Ergänzung der Bekämpfung der Geldwäsche und der Terrorismusfinanzierung. Durch die
Richtlinie 2005/60/EG und die Richtlinie 2006/70/EG
sind die Grundlagen für die nationalen Gesetzgebungen
zur Bekämpfung der Geldwäsche und der Terrorismusfinanzierung umstrukturiert und erweitert worden. Ziel des
Gesetzentwurfs ist die Umsetzung der Vorgaben dieser
Richtlinien in nationales Recht. Durch die Neufassung
des Geldwäschegesetzes und durch Änderungen des Kreditwesengesetzes, des Versicherungsaufsichtsgesetzes
und des Strafgesetzbuches werden die zur Geldwäschebekämpfung entwickelten Instrumente auch auf die Bekämpfung der Terrorismusfinanzierung erstreckt.
Nach alledem, was wir bisher über den internationalen Terrorismus wissen, finanziert er sich sowohl aus legalen als auch aus illegalen Quellen. Phänomenologisch
liegt damit sowohl Geldwäsche, also die Umwandlung
von illegalem Geld in legales Geld, als auch umgekehrte
Geldwäsche vor, also die Umwandlung von Geld aus legalen Quellen zur Finanzierung terroristischer Zwecke.
Die Finanzierung des internationalen Terrorismus ist
international und global angelegt und kann deshalb auch
nur international und global bekämpft werden und nicht
nur von einzelnen Staaten. Es ist deshalb richtig, einen
EU-Bekämpfungsansatz zu verfolgen und gleiche Instrumente in der gesamten EU anzuwenden. Von Nachteil ist
dabei natürlich die geringe Möglichkeit der Rücksichtnahme auf nationale Eigenheiten und nationales
Eigenleben bei den Wirtschaftsunternehmen. Die bürokratischen Kosten der Unternehmen können sich unterschiedlich auswirken. Dies könnte zu einer Vernachlässigung der Sorgfaltspflicht vonseiten der Unternehmen
führen. Darauf müssen wir bei der Umsetzung achten:
effizient und effektiv bei möglichst geringen Bürokratiekosten.
Wer lediglich auf die direkte Finanzierung von terroristischen Anschlägen schaut, stellt fest, dass terroristische Anschläge keinen hohen finanziellen Aufwand erfordern. Beispiele - Quelle UNMonitoringTeamReport/
Aug2004 and NTFIU; Kosten geschätzt -: London Bombings - 7. Juli 2005 - 7 240 Pfund; Madrid Zugattentate
- 11. März 2004 - 10 000 Dollar; Istanbul - 15. und
20. November 2003 - 40 000 Dollar; Jakarta JWMarriot
Bombenanschlag - 5. August 2003 - 30 000 Dollar; Bali
Bombenanschlag - 12. Oktober 2002 - 50 000 Dollar;
World Trade Centre/Pentagon USA - 11. September
2001 - 303 672 bis 500 000 Dollar; USS-Cole Anschlag,
Yemen - 12. Oktober 2000 - 10 000 Dollar; Kenia Bombenanschlag - 7. August 1998 - 50 000 Dollar.
Es wäre allerdings falsch, nur diesen finanziellen Aufwand zu sehen. Al-Qaida und sein internationales Netzwerk beispielsweise benötigen immense Summen, um die
terroristischen Strukturen zu unterhalten und zu finanzieren. Die Bandbreite der Methoden, Einrichtungen und Instrumente, die bekanntermaßen von Terroristen genutzt
werden, ist enorm. Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung nutzen Schlupflöcher und Eigenheiten von Finanzsystemen aus, um Geld aus Aktivitäten zu waschen und im
Endeffekt den wahren Verwendungsgrund einer Geldsumme zu verschleiern.
Hier nur ein paar Beispiele, wie sich Terrorismus finanzieren kann: neben Banküberweisungen, Hawala
Banking, Strohfirmen, Edelmetall, Gold und Diamanten,
Fälschungen von Markenartikeln bis hin zur missbräuchlichen Ausnutzung von Geschäftsbeziehungen zu Stiftungen. Deshalb ist das Trockenlegen von Geldströmen der
wichtigste Ansatzpunkt zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus.
Insgesamt gehen supranationale Organisationen davon aus, dass so jährlich weltweit etwa 200 Milliarden
Dollar ohne staatliche Kontrolle oder Genehmigung geheim transferiert werden. Natürlich nicht nur für die Finanzierung des Terrorismus.Hier wollen wir EU-weit bei
der Bekämpfung einen Schritt weiter kommen. Dazu dient
dieser Gesetzentwurf. Er enthält sechs neue Informationspflichten für die Wirtschaft; sechs bestehende Informationspflichten werden geändert. Daneben gibt es eine
neue Informationspflicht für die Bürger. Vier Informationspflichten für die Verwaltungen sollen geändert werden.
Wir werden uns im Rahmen des weiteren Gesetzgebungsverfahrens intensiv mit dem Gesetzentwurf und den
zugrunde liegenden Richtlinien auseinandersetzen unter
Hinzuziehung des Sachverstands aller Beteiligten aus
Wirtschaft und Verwaltung.
Waschsalons, mit denen Al Capone illegale Gelder aus
seinen Mafia-Geschäften reingewaschen hat, sind längst
Geschichte. Geldwäsche geschieht heute im Rahmen des
globalen Finanzmarktes mit allen Mitteln, die dieser zur
Verfügung stellt. Gewinne krimineller Machenschaften
Zu Protokoll gegebene Reden
und verbrecherischer Geschäfte aufzuspüren und so der
organisierten Kriminalität das Wasser abzugraben, erfordert höchste Aufmerksamkeit und Sensibilität aller Beteiligten im Hinblick auf Transaktionen von Geld und anderen Wertgütern.
Ebenso stellen die Finanzströme des internationalen
Terrorismus eine Herausforderung für den Rechtsstaat
dar. Die Unterstützung terroristischer Netzwerke durch
die Bereitstellung von Mitteln stellt eine ernsthafte Gefahr für unsere freie Gesellschaft dar. Es ist daher dringend geboten, praktikable und effiziente Methoden zur
Bekämpfung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung zu finden.
Dass bei diesem wichtigen Thema vonseiten der sogenannten Großen Koalition zunächst geplant war, die erste
Lesung ohne Debatte durchzuführen, ist ebenso bezeichnend wie die Tatsache, dass der Gesetzentwurf dem Deutschen Bundestag am Montag dieser Woche, also vor vier
Tagen zuging. Im ersten Entwurf der Tagesordnung war
noch nicht einmal eine Drucksachennummer angegeben.
Die sogenannte Große Koalition zeigt wieder einmal eine
fast unverschämt zu nennende Geringschätzung der parlamentarischen Beratungen. Ihr ist nur noch daran gelegen, ihre Vorhaben möglichst schnell durchzudrücken,
am besten, ohne viel darüber zu debattieren und ohne die
kritischen Punkte anzusprechen.
Gerade im globalen Finanzmarkt ist eine enge Zusammenarbeit über nationale Grenzen hinweg erforderlich.
Die Initiative der EU für die dritte Geldwäscherichtlinie
ist daher vom Grundsatz her richtig und notwendig. Allerdings ist und bleibt das Strafrecht nationale Angelegenheit. Die EU-Richtlinie greift in nationale strafrechtliche Regelungen jedoch in Teilen sehr tief ein und erfasst
so beispielsweise einen breiten Straftatenkatalog. Der
deutsche Gesetzgeber muss daher strikt darauf achten,
dass die Richtlinie verfassungskonform und so grundrechtsschonend wie möglich in deutsches Recht umgesetzt wird.
Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel hat in ihrer Regierungserklärung vor dem Deutschen Bundestag am
30. November 2005 erklärt: „Wir haben uns vorgenommen, die EU-Richtlinien im Grundsatz nur noch eins zu
eins umzusetzen.“ Der vorliegende Gesetzentwurf der
Bundesregierung für ein Geldwäschebekämpfungsergänzungsgesetz geht jedoch in Teilen über die umzusetzenden
Richtlinien der EU hinaus. Von einer Eins-zu-eins-Umsetzung wird ohne ersichtlichen Grund abgewichen. Dies
führt zu einer Belastung von Unternehmen mit unnötiger
Bürokratie und stärkt zudem nicht die Rechtssicherheit.
Insbesondere die Sorgfaltspflichten, die Unternehmen
auferlegt werden, wenn es um die Identitätsfeststellung
ihrer Vertragspartner geht, sind nicht praktikabel und
nutzen Spielräume der EU-Richtlinien nicht aus, um den
bürokratischen Aufwand so gering wie möglich zu halten.
Es ist richtig, dass die Verschleierung der Herkunft
von Geldern dadurch vermieden werden soll, dass die
Identität der Vertragspartner festgestellt wird. Dass jedoch in dem Gesetz eine kontinuierliche Nachprüfung der
Identität gefordert wird, ist in der gewählten Ausgestaltung unverhältnismäßig. Hier müssen die Spielräume der
Richtlinie dahin gehend genutzt werden, dass eine angemessene Regelung gefunden wird. Banken müssten sich
aufwendige Kontroll- und Wiedervorlagesysteme anlegen, um die geplante Vorschrift zu erfüllen.
Bedenklich sind auch die ausufernden Verpflichtungen
zur Datensammlung und -aufbewahrung. Notwendig ist
eine Begrenzung auf die Daten, die zur Identifizierung erhoben werden. Insbesondere muss klargestellt werden,
dass nicht jedes Transaktionsdatum unter die Aufbewahrungspflicht von fünf Jahren fällt. Dies ist nicht nur mit einem erheblichen und kostspieligen Speicheraufwand bei
den Verpflichteten verbunden, sondern auch aus Sicht des
Datenschutzes äußerst bedenklich. Der Grundsatz bei der
Bekämpfung der Geldwäsche und der Terrorismusfinanzierung muss ein risikoorientierter Ansatz sein. Ein Generalverdacht für jeden Kunden einer Bank, für jeden
Versicherungsnehmer und für jeden Mandanten eines Notars oder Anwalts ist mit dem Rechtsstaat nicht vereinbar.
Daher muss das Gebot der Risikoorientierung strikt eingehalten werden. Es ist mithin völlig überzogen, dass
beim Fehlen auch nur des Vornamens des Minderheitsgesellschafters einer GmbH Kreditinstitute Geschäftsbeziehungen beenden bzw. Transaktionen nicht durchführen
dürfen, auch wenn überhaupt kein Anlass zum Geldwäscheverdacht besteht. Damit werden in Fällen, in denen
Unterlagen schwer zu beschaffen sind, oder bei bestehenden Geschäftsbeziehungen, zum Beispiel langfristigen
Krediten, Kunden von der Teilnahme am Geschäftsverkehr ausgeschlossen, ohne dass hierfür ein sachlicher
Grund besteht. Die noch über die Vorschläge der Bundesregierung hinausgehende Stellungnahme des Bundesrats
geht hier in die falsche Richtung. Jede noch weitere Verschärfung stellt eine unzumutbare Belastung für Banken
und andere Verpflichtete dar.
Besonders absurd ist die Regelung zu den „politisch
exponierten Personen“, den sogenannten PEPs. Alle
Kolleginnen und Kollegen sind nach diesem Gesetzentwurf der Geldwäsche oder der Terrorismusfinanzierung
verdächtig, weil sie Abgeordnete des Deutschen Bundestags sind und damit PEPs. Es ist ein unerhörter und vollkommen inakzeptabler Vorgang, dass eine bestimmte
Gruppe von Personen, nämlich alle, die politisch tätig
sind, die ein gewähltes Amt, ein Regierungsamt oder eine
hohe Funktion im Staatswesen innehaben, also eigentlich
gerade diejenigen, die den Staat tragen, die seine Verfassungsorgane besetzen, per se verdächtig sind - und nicht
nur diese Personen, sondern auch noch jeder, der ihnen
nahesteht. Die Ehefrau? Die Geliebte? Der Hausfreund?
Was für eine absurde, ja, was für eine geradezu groteske
Vorstellung, dass seitens der Banken nun aus den
Klatschblättern der ganzen Welt die Storys über die Geliebten der Politiker sorgsam zu den Akten genommen
werden müssen.
Es mag sein, dass die Intention richtig und gut war,
dass es auf diese Weise Diktatoren der ganzen Welt erschwert werden sollte, ihre schmutzigen Gelder in
Deutschland oder überhaupt in Europa zu waschen. Aber
die Definition erfasst eine derartig ausufernde Vielzahl
von Personen, unter anderem alle MdBs. Außerdem ist es
doch regelrecht absurd, zu glauben, dass ein Jahr nach
der Abdankung ein Diktator vom Schlage Idi Amins oder
Zu Protokoll gegebene Reden
Mugabes sein blutiges Geld nicht mehr anlegen will.
Dann ist er nicht mehr erfasst. Die gesamte Regelung ist
vollkommen abwegig. Bei einer risikoorientierten Prüfung bedarf es dieses speziellen Kriteriums überhaupt
nicht.
Mir ist es völlig schleierhaft, warum die Bundesregierung einer solchen Richtlinie in Brüssel nicht Einhalt geboten hat. - Damit betritt Deutschland aus meiner Sicht
rechtliches Neuland. Erschwerend kommt hinzu, dass die
Bundesregierung bei der Umsetzung noch über die Richtlinie, die schon schlimm genug ist, hinausgeht und zur
Einhaltung der Sorgfaltspflichten auch hinsichtlich im Inland ansässiger PEPs verpflichten will. Die Regelungen
sind ebenso unpraktikabel wie unbestimmt. Eine gesetzeskonforme Erfüllung der Vorgaben durch Banken oder
andere Verpflichtete ist quasi unmöglich.
Bei der Auflistung der beizubringenden Unterlagen
zum Zwecke der Identifizierung geht der Gesetzentwurf
ebenfalls über die Richtlinie hinaus. Während in der
Richtlinie nur von „Dokumenten, Daten oder Informationen, die von einer glaubwürdigen und unabhängigen
Quelle stammen“, die Rede ist, fordert der Gesetzentwurf
die Vorlage eines gültigen Ausweises oder Passes. Gerade bei ausländischen Kunden ist dies jedoch oftmals
schwierig. Zugleich werden aber unverständlicherweise
die Auslandsvertretungen der Bundesrepublik nicht mehr
als zuverlässige Dritte genannt, auf die die nach dem Gesetz Verpflichteten zum Zwecke der Identifizierung zurückgreifen können. Dies ist unverständlich und führt zu
praktischen Problemen bei den Banken und anderen Verpflichteten.
Die FDP-Bundestagsfraktion wird das nun vorgelegte
Gesetz daran messen, dass, erstens, die EU-Richtlinie
eins zu eins und nicht darüber hinausgehend umgesetzt
wird, dass, zweitens, bei jeder Regelung diejenige gefunden wird, die möglichst wenig neue bürokratische Belastungen mit sich bringt und die die Wirtschaft nicht mit
überbordenden Bürokratiekosten überzieht, dass, drittens, strikt der Datenschutz beachtet wird, wenn es um
Erhebung, Speicherung und Weitergabe von Daten geht,
und dass, viertens, vom Grundsatz der Risikoorientierung
nicht abgewichen wird.
Als Ziel des Gesetzentwurfes führt die Bundesregierung an, die Finanzquellen des internationalen Terrorismus auszutrocknen. Hierzu wird das Geldwäschegesetz
vollkommen neu gefasst und die Terrorismusfinanzierung
der Geldwäsche gleichgestellt. Das Grundanliegen, dem
internationalen Terrorismus die finanziellen Grundlagen
zu entziehen, mag dem naiven Betrachter durchaus begrüßenswert erscheinen.
Aber: Nicht zum ersten Mal soll der Krieg gegen den
Terrorismus dazu dienen, die Grundlagen einer freiheitlichen Gesellschaft weiter auszuhöhlen.
Der Gesetzentwurf baut praktisch den kompletten Bereich der Finanzdienstleistungen und -unternehmen in
die neue, repressive und freiheitsfeindliche Sicherheitsarchitektur Deutschlands ein. Von zwölf Kategorien von
Finanzdienstleistern und damit verbundenen Berufen wie
Rechtsanwälten wird verlangt, die Kunden zu überwachen und ihre Geschäftsbeziehung aus der Sicherheitsund Strafverfolgungsperspektive zu dokumentieren. Das
privatrechtliche Verhältnis der Parteien wird zu einem
nicht mehr staatsfreien, das Vertrauensverhältnis von Anfang an zerstört.
In die Berufsfreiheit bzw. Privatautonomie der Verpflichteten wird massiv eingegriffen. So müssen beispielsweise in bestimmten Fällen Geschäfte von den Vorgesetzten der Vertragspartner genehmigt werden. Die
Finanzdienstleister werden sogar gezwungen, Verträge
zu kündigen oder Vertragsabschlüsse zu unterlassen,
wenn die staatlich gewünschten Informationen nicht erhoben werden können.
Die Nachforschungen müssen heimlich erfolgen - Paragraf 12 -, und es besteht eine Anzeigepflicht gegenüber
den staatlichen Behörden. Die künftige Superbehörde
BKA erhält durch ihre Zuständigkeit als Datensammelstelle noch mehr informationelle Macht. Wie durch die
Vorratsdatenspeicherung Telefonunternehmen zu „Ermittlungshelfern“ wurden, werden Finanzdienstleister
jetzt zu Antiterroreinheiten. Nur am Rande: Wie soll denn
ein Bankangestellter in der Lage sein, „Tatsachen“ festzustellen, „die darauf schließen lassen“, dass eine Transaktion der Terrorismusfinanzierung dient, wenn noch
nicht einmal klar ist, ob beispielsweise eine ausländische
Organisation nun als legitime politische Vereinigung, Befreiungsbewegung oder Terrorbande gilt und sich diese
Kategorien ja mitunter schnell ändern können, wie das
Beispiel der afghanischen Islamisten zeigt?
Die Linke ist sehr dafür, wirkliche Geldwäsche zu bekämpfen und die bislang im Ausland versteckten Milliarden zu versteuern. Wir wollen auch, dass Anschläge verhindert werden. Das ist in einem Rechtsstaat aber
ausschließlich die Aufgabe staatlicher Behörden, die bei
Vorliegen eines Anfangsverdachts oder einer konkreten
Gefahr ermitteln müssen. Private Unternehmen sind für
den Service an ihren Kunden da, nicht für die Bekämpfung und Bespitzelung derselben.
Das bestehende Geldwäschegesetz knüpft an einen
strafrechtlichen Tatbestand an, der verfassungsrechtlich
höchst bedenklich ist, und ist daher bereits im Grundsatz
mehr als fragwürdig. Die Erweiterung zur Bekämpfung
der Terrorismusfinanzierung knüpft nicht einmal zwingend an strafrechtlich relevante Verhaltensweisen an. Ein
rechtmäßiges Verhalten wird somit zum Anknüpfungspunkt für Überwachungsmaßnahmen und etwaige Strafanzeigen. Auch soweit strafrechtlich relevantes Verhalten
betroffen ist - wie die Finanzierung von Taten nach Paragraf 129 a, auch in Verbindung mit 129 b - wissen wir
doch, dass Terrorismus ein Gummibegriff ist und es gerade bei Paragraf 129 b praktisch keine Grenzen mehr
gibt. Wer einmal auf der Terrorliste der UN gelandet ist,
hat keinerlei Rechtsbefehle. Daran lassen sich keine
rechtsstaatlich sauberen Regelungen anknüpfen.
Das Gesetz hat weitere Schwachstellen: Erstens. Die
Banken sollen ermitteln, ob ein Geschäftskunde eine „exponierte politische Person“ ist, was bis zum Offizier einer
fremden Streitmacht geht. Zweitens. Dass Strohmänner
Zu Protokoll gegebene Reden
aufgedeckt werden sollen, ist zu begrüßen, aber ob es
praktikabel ist, bei jeder Rechtsgesellschaft jeden einzelnen Gesellschafter unter Angabe von Dokumenten zu ermitteln, unabhängig von den Stimmrechtsanteilen, ist
zweifelhaft. Drittens. Genauso ist es nicht unbedingt sinnvoll, als wirtschaftlich Berechtigte im Falle von Stiftungen „die Gruppe von natürlichen Personen, zu deren
Gunsten das Vermögen hauptsächlich verwaltet oder verteilt werden soll“ zu bezeichnen. Man denke nur mal daran, was das im Falle etwa der Aktion Mensch bedeuten
würde.
Der Bundesregierung ist es also entgegen ihrer Ankündigung nicht gelungen, praxisgerechte und maßvolle Regelungen für die Verpflichteten - Banken, Kreditinstitute
und andere - zu schaffen. Noch weniger ist es ihr gelungen, bei ihrer Datensammelwut gegenüber den Bürgern
maßzuhalten. Die Fraktion Die Linke lehnt die Bestrebungen der Bundesregierung, die Privatwirtschaft im
Krieg gegen den Terrorismus zu verpolizeilichen, ab.
In der Terrorbekämpfung brauchen wir Augenmaß. Jedes neue Gesetz ist darauf abzuklopfen, wie hoch der Gewinn an Sicherheit wirklich ist, wie tief dafür in die
Rechte der Bürgerinnen und Bürger eingegriffen wird
und ob es Alternativen gibt. Und die gibt es fast immer, stellen wir fest. Dabei wissen wir um die Gefahr eines Terroranschlages in unserem Land. Es gibt keine 100-prozentige
Sicherheit. Die Gefahren des internationalen Terrorismus
darf man nicht ignorieren. Deswegen muss man auch die
noch unter Rot-Grün verabschiedete Geldwäschegesetzgebung immer wieder auf Lücken untersuchen. Die
Sicherheitsgesetze immer weiter auszuweiten, ist dabei
die ganz falsche Antwort, auch bei der Geldwäsche für
terroristische Zwecke.
Die Bundesregierung beteuert immer wieder, dass Sie
maßvoll handele. Dann aber legt sie mit dem Geldwäschebekämpfungsergänzungsgesetz ein 133 Seiten langes
Werk mit ungeahnten neuen Informations- oder besser
Schnüffelpflichten auf. Ihnen geht es dabei angeblich nur
um die Umsetzung mehrerer EU-Richtlinien zur Geldwäsche. Da sind der Bundesregierung natürlich die Hände
gebunden. Sie muss umsetzen, saß in Brüssel im Finanzministerrat aber mit am Tisch. Und ihre von der EU vermeintlich gefesselten Hände, wollen Sie jetzt gerne in
Unschuld waschen. Sie wollen lediglich eine „Eins-zueins-Umsetzung“ der Richtlinien.
Nur der verpflichtende Teil soll angeblich umgesetzt
werden. Leider stimmt das nicht. Der Regierungsentwurf
geht über die dritte EU-Geldwäscherichtlinie und die
Durchführungsrichtlinie hinaus.
Jetzt zu den Details: Der Umfang der Identifizierungspflichten soll deutlich ausgeweitet werden, um mehr Verdachtsfälle melden zu können. Früher beschränkte man
sich dabei auf natürliche Personen. Jetzt wird sie auch
auf juristische Personen ausgeweitet. Das ist an sich unproblematisch. Es kann ja nicht darauf ankommen, ob
Terroristen selbst handeln oder für ihr Treiben ein Unternehmen gründen. Im Detail ufern die Informationspflichten dann aber aus. Sie wollen den wirtschaftlich Berechtigten eines Rechtsgeschäfts erkennbar machen zur
Aufdeckung von sog. Strohmanngeschäften. Aber wollen
sie dazu wirklich jeden einzelnen Anteilseigner an einer
GbR erfassen? Es gibt in ihrem Gesetzentwurf nämlich
keine Beschränkung auf einen Mindestanteil. Wissen Sie
eigentlich, welcher Aufwand damit verbunden ist, auch
noch den kleinsten Gesellschafter aufzunehmen? Und
wenn bei einer Kapitalgesellschaft alle Mitglieder des
Vertretungsorgans herauszufiltern und aktenkundig zu
machen sind, dürfte die Schätzung von Bürokratiekosten
in Höhe von 195 000 Euro weit untertrieben sein. Eine
Eins-zu-eins-Umsetzung ist das nicht mehr. In den Richtlinien steht nichts über Vertreter, überhaupt nichts.
EU-Richtlinien sind häufig etwas unbestimmt. Wir
wissen das. Da gibt es Umsetzungsspielräume. Die nutzt
die Bundesregierung leider nicht aus. Es werden spezielle
Überwachungspflichten geschaffen. Bei „exponierten
Personen“ aus geldwäschegefährdeten Ländern treffen
mich als Anwalt verstärkte Sorgfaltspflichten. Da soll
man seinem Mandanten gegenüber offenbar zum Detektiv
werden. Ich versuche mir das ganz praktisch vorzustellen.
Als Anwalt in einem Asylverfahren geht es um die Verfolgung des Mandanten als Mitglied der Opposition. Die
Regierung des Herkunftslandes wirft dieser Opposition
Menschenhandel vor. Ist er damit eine exponierte Person? Was ist übrigens mit Liechtenstein? Ist das nicht
auch ein geldwäschegefährdeter Staat? Zugegeben, Sie
mussten diesen unbestimmten Rechtsbegriff aus der
Richtlinie übernehmen. Aber sie haben auch nichts dafür
getan, hier mehr Klarheit in die Regelung zu packen. Dafür lassen sie die Auskunftsverpflichteten im Regen stehen. Anwälte und Kreditinstitute etwa müssen nach eigenem Ermessen eine Risikoentscheidung treffen. Hat sich
ein Berufsgeheimnisträger dann falsch entschieden, hat
er also keine Anzeige erstattet, macht er sich unter Umständen strafbar. Und zwar auch dann, wenn ihm nur einfache Fahrlässigkeit vorzuwerfen ist.
Ich meine also, ganz so unschuldig wie Sie behaupten,
sind Sie nicht. Ihr Entwurf ist kein Spiegelbild der Richtlinie. Der Referentenentwurf war es noch eher. Da muss
noch reichlich geputzt werden, bis das schöne Antlitz des
Rechtsstaates wieder eins zu eins erscheint.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf den Drucksachen 16/9038 und 16/9080 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist
nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Joachim
Günther ({0}), Horst Friedrich ({1}),
Patrick Döring, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP
Einführung einer elektronisch lesbaren Chipkarte für den Baubereich - Wirksames Mittel
zur Bekämpfung der Schwarzarbeit
- Drucksache 16/4208
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Auch hier sollen die Reden zu Protokoll genommen
werden. Es handelt sich um die Reden der Kollegen Paul
Lehrieder, CDU/CSU, Andreas Steppuhn und Ernst
Kranz, SPD, Joachim Günther, FDP, Werner Dreibus,
Die Linke, und Peter Hettlich, Bündnis 90/Die Grünen.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/4208 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Vorlage
federführend vom Ausschuss für Arbeit und Soziales beraten werden soll. Sind Sie damit einverstanden? - Das
ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ältestenrates zu dem Antrag der Abgeordneten Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn, Sylvia
Kotting-Uhl, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Den Deutschen Bundestag zum Vorbild für die
sparsame und klimafreundliche Stromversorgung machen
- Drucksachen 16/7529, 16/8820 Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Norbert Lammert
Auch hier sollen die Reden zu Protokoll genommen
werden. Es handelt sich um die Reden der Kollegen
Bernhard Kaster, CDU/CSU, Iris Gleicke, SPD, Ernst
Burgbacher, FDP, Hans-Kurt Hill, Die Linke, und HansJosef Fell, Bündnis 90/Die Grünen.
In der heutigen Debatte haben wir uns mit einem An-
trag auseinanderzusetzen, der suggeriert, der Bundestag
habe erheblichen Nachholbedarf, was die sparsame und
klimafreundliche Stromversorgung für den Bundestag an-
geht. Tatsächlich ist dieser Antrag lediglich der durch-
sichtige Versuch, sich öffentlichkeitswirksam zu profilie-
ren. Ein typischer Schaufensterantrag. Der Deutsche
Bundestag ist längst ein Vorbild für sparsame und klima-
freundliche Stromversorgung.
Die Entscheidung Anfang der 90er-Jahre, mit Parla-
ment und Regierung von Bonn nach Berlin umzuziehen,
hat der damalige Deutsche Bundestag zum Anlass ge-
nommen, bei den Bundestagsneubauten zukunftswei-
sende, umweltpolitisch verantwortungsvolle und vorbild-
liche Energiekonzepte zu realisieren. Bereits in der
13. Wahlperiode, im November 1995, haben die Koali-
tionsfraktionen CDU/CSU und FDP gemeinsam mit der
SPD und Bündnis 90/Die Grünen den Antrag auf Bundes-
tagsdrucksache 13/3042 „Ökologische Konzepte für die
Parlaments- und Regierungsbauten in Berlin“ im Bun-
1) Anlage 6
destag eingebracht und im Januar 1997 einstimmig beschlossen. In dem Antrag heißt es unter anderem: „Die
Planung der Hauptstadt Berlin - mit dem Umbau des
Reichstagsgebäudes, den Neubauten in den Dorotheenblöcken und im Spreebogen … - ist eine einzigartige
politische Chance für ein beispielhaftes Signal für eine
umweltfreundliche Bauweise und Nutzung der Gebäude
sowie für eine architektonisch integrierte Nutzung erneuerbarer Energien.“
Die damalige unionsgeführte Bundesregierung als
Bauherr hat bereits 1994, das heißt vor 18 Jahren, erklärt, dass sie ihre Anstrengungen fortsetzen werde, in
den Liegenschaften der Bundesressorts den Energieverbrauch vorbildlich zu senken sowie den Einsatz erneuerbarer Energien zu verstärken. Bei den Bauvorhaben in
der Bundeshauptstadt Berlin widmete die damalige Bundesregierung dem Aspekt der rationellen Energienutzung
und dem Einsatz erneuerbarer Energien besondere Aufmerksamkeit.
Im Zuge der Neubauten des Bundestages in Berlin
wurden - parallel zur Sicherung einer hohen energetischen Qualität der Gebäude - bei der Anlagentechnik
moderne und innovative Lösungen verfolgt, die den Anforderungen der Zuverlässigkeit, Wirtschaftlichkeit, niedriger Schadstoffemissionen und eines hohen Regenerativanteils Rechnung tragen.
Der Bundestag betreibt seit dem Regierungsumzug
hauseigene Blockheizkraftwerke in Kraft-Wärme-Kältekopplung, die der Erzeugung regenerativer Energie dienen. Der Anteil des erzeugten Gesamtbedarfs aller Liegenschaften des Deutschen Bundestages beträgt in
Abhängigkeit von der Verfügbarkeit der Anlagen derzeit
jährlich bereits 30 bis 40 Prozent. Der Bedarf des Bundestages an Elektrizität, der nicht durch die Energieerzeugung gedeckt werden kann, wird über den Zukauf von
Strom aus dem Verbundnetz kompensiert. In diesem gelieferten Strommix ist auch ein Anteil regenerativ erzeugter
Energie enthalten, der für den Bundestag bei circa
17 Prozent liegt.
Mit der Fertigstellung der Verlängerung des MarieElisabeth-Lüders-Hauses ist eine Fortschreibung des bisherigen Energiekonzeptes vorgesehen. Das wird den Anteil an regenerativ erzeugtem Strom noch erhöhen. Die
weiter gehenden Vorschläge in dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen haben wir in der Raum- und Baukommission völlig zu Recht abgelehnt. Die Bundestagsverwaltung hatte zuvor die Vorschläge intensiv geprüft und
der Raum- und Baukommission eine ausführliche Stellungnahme vorgelegt. Darin kommt sie zu dem Ergebnis,
dass die von Bündnis 90/Die Grünen vorgeschlagenen
Maßnahmen entweder bereits umgesetzt sind, sich nicht
umsetzen lassen oder mit einem Kostenaufwand verbunden sind, der in keinem vertretbaren Verhältnis zum Ertrag stehen.
Die Parlamentarische Geschäftsführerin von Bündnis 90/Die Grünen; Dr. Thea Dückert, warf den anderen
Fraktionen nach der Entscheidung der Raum- und Baukommission in einer Pressemeldung dennoch vor, sie hätten immer noch so ihre Probleme, wenn es konkret darum
gehe, dass sie selbst Treibhausgase einsparen sollten.
Dies ist der gezielte und zugleich peinliche Versuch, die
Öffentlichkeit über die Realitäten zu täuschen. Es wird
verschwiegen, dass die weiter gehenden Forderungen
von Bündnis 90/Die Grünen aus sachlichen Gründen
schlichtweg nicht umsetzbar sind.
So fordern Bündnis 90/Die Grünen beispielsweise die
Einspeisung von überschüssigem Strom des Bundestages
in das Berliner Elektrizitätsnetz. Tatsächlich wird aber
die in den bundestagseigenen Blockheizkraftwerken produzierte Energie in vollem Umfang zur Bedarfsdeckung
des Deutschen Bundestages benötigt. Eine Einspeisung
von Strom in das Berliner Elektrizitätsnetz ist deshalb gar
nicht möglich. Bündnis 90/Die Grünen fordern weiter die
Umstellung der Gasversorgung auf Biogas. Für die Lieferung mit Gas besteht zwischen dem Deutschen Bundestag und dem örtlichen Netzbetreiber ein entsprechender
Vertrag. Über das Netz wird derzeit ausschließlich Erdgas bereitgestellt. Die vorhandenen Marktteilnehmer besitzen nach Auskunft des Fachverbandes Biogas e. V.
aber noch gar nicht genügend Kapazitäten, um eine
Grundversorgung mit Biogas sicherzustellen. Ein funktionierender Markt für den Handel von Biogas existiert
derzeit überhaupt nicht.
Bündnis 90/Die Grünen fordern schließlich noch, dass
die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Bundestages
regelmäßig über energiesparendes Verhalten im Büro und
Fahrdienst zu informieren und entsprechend zu schulen
sind. Offensichtlich trauen die Grünen den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Bundestages nur ein geringes
ökologisches Bewusstsein zu. Ich bin der festen Überzeugung, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dieses
Hauses nicht ständig Belehrungen über energiesparendes
Verhalten brauchen. Sie sind längst ausreichend sensibilisiert.
Die Bundestagsverwaltung hat im Mai 2006 eine Umweltfibel mit Tipps zu energiesparendem Verhalten veröffentlicht. Die Inhalte dieser Hausmitteilung sind jederzeit
über das Intranet des Bundestages abrufbar; im Übrigen
auch für die Damen und Herren Abgeordneten von Bündnis 90/Die Grünen. Sie scheinen sie ja noch nicht zu kennen.
Bündnis 90/Die Grünen hätten frühzeitig durch einfache Nachfrage bei der Bundestagsverwaltung klären können, wie realitätsfern die von Ihnen erhobenen Forderungen im Einzelnen sind. Offensichtlich wollte man das
nicht; dann hätte sich ihr Antrag nämlich erübrigt.
Lassen Sie mich zum Schluss noch darauf hinweisen,
dass der Deutsche Bundestag die Verwaltung beauftragen wird, den im Herbst auslaufenden Stromliefervertrag
neu auszuschreiben, und zwar auf der Grundlage des
Konzepts des BMU für die Lieferung von Ökostrom mit
der Laufzeit von einem Jahr und einer einjährigen Verlängerungsoption. Wir werden uns dabei sehr genau anschauen müssen, ob und gegebenenfalls welche zusätzlichen Kosten für den Bundestag für den Bezug von
Ökostrom entstehen. Daran werden wir unsere zukünftigen Entscheidungen zur Energieversorgung des Bundestages auszurichten haben. Der Bundestag hat sehr wohl
eine Vorbildfunktion, in ökologischer und ökonomischer
Hinsicht.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat sich im Herbst
2007 in einem Positionspapier zur Energiepolitik dafür
ausgesprochen, erneuerbare Energien kostenbewusst
auszubauen. Wir müssen auch bei der Energieversorgung
im Bundestag einen angemessenen Ausgleich zwischen
Ökonomie und Ökologie im Auge behalten. Dazu sind wir
gegenüber dem Steuerzahler verpflichtet. Davon müssen
wir uns auch in Zukunft leiten lassen.
Der Ältestenrat hat in seiner Sitzung am 10. April beschlossen, den externen Strombedarf des Deutschen Bundestages durch Strom aus erneuerbaren Energien, also
aus Wasser- und Windkraftkraft, Sonne oder Biomasse zu
decken. Das ist eine gute Entscheidung. Wir verbessern
damit erneut die Umweltbilanz des deutschen Parlaments
und bleiben bundesweit Vorbild. Zugleich tragen wir dem
unter der von Gerhard Schröder geführten Bundesregierung beschlossenen Atomausstieg weiter Rechnung.
Gerade auch vor dem Hintergrund der Klimaverhandlungen auf europäischer Ebene will die Bundesrepublik
Deutschland den Anteil erneuerbarer Energien am Endenergieverbrauch von 8,5 Prozent im Jahr 2007 bis auf
18 Prozent im Jahr 2020 erhöhen. Auch hier leisten wir
als Parlament unseren Beitrag.
Der Bundestag verfügt bereits jetzt über ein vorbildliches und einzigartiges zukunftsweisendes ökologisches
Energiekonzept. Von Anfang an wurde bei den Planungen
der Parlamentsbauten darauf geachtet, die neuesten
Energietechnologien zu nutzen. So ist der Bundestag unter anderem mit zwei Blockheizkraftwerken, die mit Biodiesel betrieben werden, ausgestattet. Außerdem sorgen
Wärme- und Kältespeicher für ein energiesparendes Heizen und Kühlen. Zusätzlich wurde seinerzeit eine Fotovoltaikanlage installiert. Mit dieser Anlage produziert
der Bundestag selber - auf seinem Dach - Ökostrom, der
in vollem Umfang in das hauseigene Netz eingespeist
wird.
Mit diesen Beispielen will ich deutlich machen: Der
Bundestag hat von Anfang an das Reichstagsgebäude und
seine umliegenden Bundestagsbauten mit umweltschonender und ressourcensparender Technik ausgestattet.
Und es ist vollkommen klar, dass mit dem Fortschreiten
der technischen Möglichkeiten diese positive Energiekonzeption überarbeitet wird und ständig weiterentwickelt werden muss. Es wird unsere Daueraufgabe auch in
der Baukommission des Ältestenrates bleiben, uns mit
diesen neuen Technologien auseinanderzusetzen und zu
prüfen, wie diese zusätzliche positive Effekte für unsere
Energiebilanz generieren können und ob und wie sie mit
vertretbarem Aufwand umgesetzt werden können.
Weil das so ist und weil wir uns alle dieser Verantwortung bewusst sind, konnten die über die Ökostromausschreibung hinausgehenden Teile des Grünen-Antrages
als erledigt abgelehnt werden.
Mit der nun geplanten Umstellung des Stromliefervertrages wird der Deutsche Bundestag - künftig jedenfalls zu 100 Prozent aus erneuerbaren Energien versorgt. Wir
setzen damit sowohl ökologisch als auch ökonomisch ein
Zu Protokoll gegebene Reden
Zeichen. Wir sind nämlich davon überzeugt, dass eine
nachhaltige Energieversorgung problemlos möglich und
auch wirtschaftlich umsetzbar ist. Der neue Stromliefervertrag wird auf der Grundlage des 2003 und 2006 erfolgreich umgesetzten Konzepts des Bundesministeriums
für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit mit der
Laufzeit von einem Jahr und einer einjährigen Verlängerungsoption für den Deutschen Bundestag ausgeschrieben. Diese europaweite Ausschreibung ist notwendig, um
einerseits die europarechtlichen Vorgaben einzuhalten.
Andererseits wird damit sichergestellt, dass nur Strom
aus erneuerbaren Energien eingespeist wird. Atomstromanbieter erhalten damit keine Chancen.
Übrigens: Pro Jahr spart das Bundesumweltministerium, welches seit 2004 Ökostrom bezieht, mit seinen
nachgelagerten Behörden rund 4 400 Tonnen Kohlendioxid ein. Lieferant ist hier nach der europaweiten Ausschreibung ein deutsches Unternehmen aus Hamburg. Es
zeigt sich also: Öko- oder auch grüner Strom ist wettbewerbsfähig. Die 13 in Bonn untergebrachten Institutionen der Vereinten Nationen, darunter auch das Klimasekretariat UNFCCC, beziehen seit dem 1. Januar 2007
ausschließlich Strom aus erneuerbaren Energien. Rechnerisch werden dadurch die CO2-Emissionen um 60 Prozent oder 3 100 Tonnen pro Jahr gesenkt. Dies im Übrigen auf Anregung und Beratung des BMU.
Neben dem Preis war bei dieser Ausschreibung auch
die Höhe der tatsächlichen CO2-Minderung maßgebend
für den Zuschlag. Das Angebot der Firma Lichtblick wies
mit der Lieferung von Strom aus Biomasse das beste
Preis-Leistungs-Verhältnis auf. Ein Preisvergleich mit
konventionell erzeugtem Strom zeigt darüber hinaus: Die
Kosten der reinen Stromlieferung ohne Netznutzungsgebühren für Ökostrom liegen nur wenig höher - im Fall
dieser Ausschreibung laut Umweltministerium bei knapp
2,2 Prozent. In der Ausschreibung von 2003 lagen die zusätzlichen Kosten noch bei etwa 10 Prozent.
Trotzdem: Mit der vorläufigen Begrenzung der Ausschreibung auf ein Jahr tragen wir auch unserer Verantwortung gegenüber den Steuerzahlern Rechnung. Trotz
der positiven Entwicklung müssen auch wir die Preisentwicklung der kommenden Jahre beobachten und daraus
Rückschlüsse für die weitere Sicherung des Energiebedarfes des deutschen Parlamentes gewinnen.
Ich sagte es bereits: Umweltschutz ist eine Daueraufgabe für uns alle. Deshalb ist es gut, dass es mehrere Initiativen aus den Reihen des Parlamentes gegeben hat. Mit
dem heutigen Beschluss, den zusätzlichen Strombedarf
zukünftig aus erneuerbaren Energien zu beziehen, setzt
der Bundestag, insbesondere auch auf Initiative der SPD,
ein deutliches Zeichen, seine Umweltbilanz stetig zu verbessern. Das ist das richtige Signal für unser Ziel der
nachhaltigen Energieversorgung. Und der Bundestag
bleibt seiner Vorbildfunktion im Klimaschutz treu.
Der Einkauf von erneuerbarer und somit saubererer
Energie heißt nicht, dass wir uns alle, ob Abgeordnete
oder Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, zufrieden zurücklehnen dürfen. Wir alle können weitere Beiträge zum effizienten Umgang mit Energie in diesem Hause liefern. Das
betrifft beispielsweise das ständig auf Stand-by stehende
TV-Gerät ebenso wie Kopierer oder Licht in leeren Büroräumen. Wir alle können hier mit ein wenig Achtsamkeit
und manchmal nur ganz kleinen technischen Hilfsmitteln
noch viel mehr tun. Wir wissen doch, dass es nicht nur die
großen Investitionen sind, sondern die vielen kleinen
Maßnahmen, die uns dem Klimaschutzziel auch an unserem Arbeitsplatz näher bringen.
Zum Schluss noch ein Tipp für alle, die darüber nachdenken, den Stromanbieter zu wechseln: Das Vorurteil,
Ökostrom sei nur etwas für Besserverdiener und deutlich
teurer, ist längst überholt. Schon heute gibt es zahlreiche
Beispiele dafür, dass Strom aus erneuerbaren Energien
wie Sonne, Wind, Wasser, Biomasse und der KraftWärme-Kopplung nicht teurer sein müssen als Strom aus
Atom- oder Kohlekraftwerken. Verbraucherzentralen und
Umweltverbände wie BUND oder Greenpeace beraten
und helfen gerne weiter.
In zumindest dreierlei Hinsicht sind wir uns wohl alle
einig. Erstens. Wir wollen die Treibhausgasemissionen
verringern und den Klimaschutz voranbringen; dem dient
unter anderem Strom aus erneuerbaren Energien.
Zweitens. Die Nutzung erneuerbarer Energien ist unterstützenswert, weil die erneuerbaren Energien zur Versorgungssicherheit beitragen, indem sie einseitige Abhängigkeiten bei der Energieversorgung verringern.
Außerdem handelt es sich um Zukunftstechnologien für
eine nachhaltige, also das Klima schonende Energieversorgung. Drittens verbindet uns wohl alle der Wunsch, einem Parlament anzugehören, das von den Menschen als
ein Vorbild wahrgenommen wird. In diesem Sinne stimmt
die FDP mit dem vorliegenden Antrag überein: Der
Deutsche Bundestag hat eine wichtige Vorbildfunktion auch beim Klimaschutz und beim Einsatz erneuerbarer
Energien.
Vorbild sein bedeutet allerdings mehr, als ein Symbol
guten Willens abzugeben. Im Lexikon steht: Ein Vorbild
ist ein bedingungslos gutes Beispiel, das die Menschen
zum Nachahmen einlädt und mit dem man sich identifizieren kann. Wer für andere ein Vorbild sein will, sollte sein
eigenes Verhalten deshalb mit besonderer Selbstkritik betrachten. Unkritische Prahlerei mit eigenen Ideen, Verliebtheit in eigene Konzepte und Eigenlob sind meist
keine Hilfe auf dem mühevollen Weg, ein Vorbild für andere zu werden. Wer anderen ein Vorbild sein will, sollte
mindestens zwei Dinge beherzigen. Erstens. Niemand
wird selbst schon allein dadurch zum Vorbild für andere,
indem er beschließt, dies sei nun so. Parlamentarisch beschließen können wir lediglich ein bestimmtes Verhalten.
Das letzte Wort darüber werden wir den Menschen schon
selbst überlassen müssen. Zweitens. Wir Abgeordnete beschließen über die Verwendung von Steuergeldern. Da ist
es leicht, eine Vorbildfunktion zu beschließen.
Als Vorbild wahrgenommen wird vor allem der, der
persönlich Verantwortung übernimmt und auch in treuhänderischer Verantwortung für die Interessen anderer
handelt. Deswegen müssen wir sehr genau darauf achten,
was wir mit dem Geld machen, dem Geld, das die Menschen zuvor erarbeitet und uns dann anvertraut haben.
Zu Protokoll gegebene Reden
Das Mindeste, was ein Bundestag mit Vorbildambitionen
leisten muss, ist, transparente und klare Entscheidungen
zu treffen, bei denen schon im Vorhinein eindeutig klar ist,
was eine Maßnahme kostet. Das ist bei den heutigen Ausschreiberegeln aber nicht klar. Die Mehrkosten sind nicht
genau bezifferbar, welche entstehen, wenn der Stromzusatzbedarf des Bundestages durch Ausschreibung unter
allen Umständen bei einem „Ökostrom-Anbieter“ gedeckt würde. Zweitens ist keineswegs sicher, dass die Nutzung jeder beliebigen Art von „Ökostrom“ wirklich zum
Klimaschutz beiträgt.
Die jüngste Debatte über die energetische Nutzung
von Biomasse hat gerade in diesen Tagen deutlich vor Augen geführt, dass hier eine gewisse Skepsis mehr als angebracht ist. Die gutgemeinte Symbolik des vorliegenden
Antrags wäre im schlechtesten Fall also nicht nur - auf
dem Rücken der Steuerzahler - teuer erkauft, sondern
möglicherweise und unter bestimmten Umständen noch
nicht einmal ein echter Vorteil für Umwelt und Klimaschutz, ganz zu schweigen von der Tatsache, dass der
Bundestag bereits über ein ökologisch außerordentlich
anspruchsvolles und international vielfach als mustergültig gewürdigtes Gesamtenergiekonzept verfügt. Einen
Teil unseres Stroms produzieren wir selbst mit erneuerbaren Energien. Darauf kann der Steuerzahler mit Recht
stolz sein.
Angesichts der genannten Bedenken werden wir uns
der Stimme enthalten.
Der Wechsel des Stromanbieters ist einfach. Die Wahlfreiheit hat große Vorteile. Ich kann mich nicht nur für ein
günstigeres Angebot entscheiden. Vielmehr kann ich auch
meine Macht als Verbraucher nutzen. So kann sich jede
Bürgerin und jeder Bürger gegen gefährlichen Atomstrom, für das heimische Stadtwerk oder für mehr Klimaschutz entscheiden, indem er Ökostrom nutzt. Dadurch
entsteht ein echter Wettbewerb zwischen den rund
930 Stromanbietern in Deutschland - nicht nur um
Preise, sondern auch um die Qualität der elektrischen
Versorgung. Diesem Prinzip folgt nun auch der Bundestag, er wird zukünftig ausschließlich Strom aus erneuerbaren Energien kaufen.
Dass sich ausgerechnet die FDP als einzige Fraktion
hier im Hause dieser Wettbewerbsentscheidung verweigern will, kann man nur als Witz bezeichnen. Dass sich
die Liberalen innovativen und zukunftsfähigen Entwicklungen im Energiemarkt entgegenstellen, ist aber nicht
neu. Sie lehnen das EU-weit wirksamste Klimaschutzinstrument, das Erneuerbare-Energien-Gesetz, genauso ab
wie die Förderung hocheffizienter Kraft-Wärme-Kopplung. Stattdessen reden sie der riskanten Atomenergie das
Wort, einer wettbewerbsfernen Technologie, die zwangsläufig zu Energiekartellen führt, nicht hantierbaren
Strahlenmüll erzeugt und zu militärischem Missbrauch
verleitet. Ich fordere die FDP deshalb auf, endlich ihre
Verweigerungshaltung aufzugeben und sich der vorliegenden Entschließung anzuschließen. Übrigens: In Berlin sind ganze acht Ökostromtarife billiger als der Standardtarif des Monopolisten Vattenfall.
Der Antrag der Grünen, der die Grundlage für diese
Diskussion lieferte, hat sich allerdings erledigt. Zum einen wird die Hauptforderung, Ökostrom zu beziehen, erfüllt. Zum anderen ließ der Antrag außer Acht, dass der
Bundestag bereits zahlreiche Maßnahmen zum Energiesparen und zum Klimaschutz umsetzt und stetig verbessert. So werden zunehmend Bewegungsmelder zur
Lichtschaltung und Energiesparleuchten installiert. Abschaltbare Steckdosen können problemlos bei der Hausverwaltung bestellt werden. Man muss also feststellen,
dass in vielen Bereichen einzelne Forderungen schon erfüllt werden.
Um die Vorbildfunktion des Bundestages bei Klimaschutz, Energieeffizienz und erneuerbaren Energien zu
verdeutlichen, sollte das aber besser kommuniziert
werden. Die Linksfraktion informiert übrigens über
www.linksfraktion.de/energie auch die Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter über Energieeffizienz und Stromwechsel.
Eine Ausrichtung der Ausschreibungen des Bundestages hin zum Klimaschutz ist ein zunehmend wichtiger
Aspekt. Der größte Fortschritt wäre - und das ist wohl eines der großen Defizite hier im Hause - sicherlich beim
spritschluckenden Fuhrpark zu erreichen. Hier könnte
der CO2-Ausstoß um ein Drittel gesenkt werden.
Wenn der Bundestag nun den Stromanbieter wechselt,
ist aber darauf zu achten, dass nicht Strom mit sogenannten RECS-Zertifikaten ins Angebot kommt. Diese „Persilscheine“ nutzen deutsche Stromversorger, um Kohle- und
Atomstrom an der Börse gegen Wasserkraft aus Skandinavien zu tauschen, ohne selbst erneuerbare Energien zu
erzeugen. Mindestvoraussetzung ist eine Orientierung
am „Grüner-Strom-Label“. Dieses garantiert, dass die
Erträge in den Ausbau heimischer erneuerbarer Energien fließen.
Die Linke stimmt der Beschlussempfehlung zu.
Der Bundestag wird vollkommen auf Ökostrom umgestellt. Das ist ein wichtiges Zeichen des Parlaments. Eine
100-prozentige Stromversorgung aus erneuerbaren Energien ist möglich. Dies haben bereits viele Bürger und einige Regionen bewiesen. Die vollständige Umstellung
des Bundestages auf Ökostrom ist ein wichtiger Teilerfolg
unseres Antrages „Den Deutschen Bundestag zum Vorbild für die sparsame und klimafreundliche Stromversorgung machen“, Drucksache 16/7529. Im Vergleich dazu
wurde letztes Jahr unser Antrag abgelehnt, sämtliche
Ministerien und das Kanzleramt auf Ökostrom umzustellen. Union, SPD und FDP hatten damals dafür gestimmt,
dass die Häuser der Bundesregierung ihren Strom weiter
aus Kohle- und Atomkraftwerken beziehen. Die Kanzlerin
geht wie die meisten ihrer Minister damit weiter mit
schlechtem Beispiel voran. Wir werden dranbleiben und
weiter einfordern, dass die Bundesregierung nicht nur
über Klimaschutz redet, sondern auch selbst handelt.
Bislang wurde bereits die Eigenversorgung des Bundestages mit erneuerbaren Energien bereitgestellt. Leider
verbraucht der Bundestag mehr Strom als er selbst herstellt. Es war höchste Zeit, dass auch der Strombezug aus
Zu Protokoll gegebene Reden
sauberen Quellen kommt. Jetzt ist es entscheidend, dass
der eingekaufte Ökostrom auch tatsächlich Ökostrom ist
und nicht nur im grünen Mäntelchen getarnter Kohleund Atomstrom. Ökostrom auf der Basis von RECS-Zertifikaten lehnen wir daher strikt ab. Wir werden da ganz
genau hinschauen. Die Bundestagsverwaltung muss bei
ihrer Ausschreibung strenge Maßstäbe anlegen. Nur
dann wird der Bundestag seiner Vorreiterrolle gerecht.
Die FDP hat die Umstellung auf Ökostrom abgelehnt.
Nun, die Ablehnung der erneuerbaren Energien durch die
FDP ist ja nichts Neues. Gespannt bin ich auf die Begründung in der Rede der FDP.
So schön die Botschaft ist, dass der Bundestag jetzt auf
Ökostrom setzt, so bedauernswert ist die Ablehnung der
anderen Punkte unseres Antrages. Anstatt diese Punkte
offen aufzugreifen, wurde einfach behauptet, dass man
das alles schon mache oder eben nicht machen könne.
Leider haben die anderen Fraktionen sich diese höchst
konservative Position der Verwaltung zueigen gemacht.
Ich möchte nicht auf jeden einzelnen Punkt eingehen,
sondern anhand einiger Beispiele zeigen, was möglich
gewesen wäre.
Der Antrag hatte vorgesehen, dass der Bundestag
seine Gasversorgung von Erdgas auf Biogas umstellt.
Hier hätte der Deutsche Bundestag die Möglichkeit, weltweit Vorreiter zu sein. So etwas gibt es in keinem anderen
Parlament. Es wurde nicht einmal versucht, an Biogas
ranzukommen. Dabei würde sich garantiert jeder Biogasanbieter über eine Anfrage des Bundestages freuen und
die Füße in die Hand nehmen, um dem Bundestag ein gutes Angebot machen zu können. Ich fordere die Bundestagsverwaltung auf, ihre Blockadehaltung zu überdenken.
Die Bundestagsverwaltung behauptet, alle möglichen
Einsparmaßnahmen schon getroffen zu haben. Das kann
ich überhaupt nicht nachvollziehen. Jeder Abgeordnete
und Mitarbeiter braucht doch nur unter seinen Schreibtisch zu schauen und wird feststellen, dass die Bundestagsverwaltung noch eine Menge Hausaufgaben vor sich
hat. Unter der Schreibtischplatte werden Sie einen Trafo
mit einem riesigen Stand-by-Verbrauch für die Schreibtischlampe entdecken. Diese total veralteten Trafos fressen immens viel Strom. Wir wettern im Umweltausschuss
und im Plenum fraktionsübergreifend jahrein, jahraus gegen Stand-by-Verluste und leisten uns ganzjährig eine
Sitzheizung mit dem Lampentrafo. Ein Trafoaustausch
würde sich bereits in ein, zwei Jahren amortisieren und
dem Bundestag schnell jährlich einige Zehntausend Euro
einsparen. Gewinner wären die Steuerzahler und die Umwelt.
Ich fordere Sie und Ihre Mitarbeiter auf: Ziehen sie
selbst den Stecker! Warten Sie nicht darauf, dass die Verwaltung neue Trafos einbaut! Gehen Sie mit gutem Beispiel voran! Die Grüne Fraktion hatte im Ältestenrat zugestimmt, den Antrag für erledigt zu erklären. Sonst wäre
der Antrag in Gänze abgelehnt worden. Hiermit wäre
auch der Punkt mit dem Ökostrom tot gewesen. Damit der
Bundestag sich ernsthaft auch mit den anderen Vorschlägen auseinandersetzt, werden wir den Antrag neu auflegen. Dann müssen die anderen Fraktionen Farbe bekennen. Wir müssen beim Klimaschutz Vorreiter sein.
Machen Sie mit. Schluss mit der Blockade!
Wir kommen zur Abstimmung.
Der Ältestenrat empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/8820, den Antrag
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache
16/7529 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/8820 empfiehlt der Ältestenrat, eine Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen aller Fraktionen bei Enthaltung der FDP-Fraktion angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Beschlussfassung Ausschusses für
Wirtschaft und Technologie ({0}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Dr. Kirsten
Tackmann, Kornelia Möller, Werner Dreibus,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Arbeitgeberzusammenschlüsse zur Stärkung
ländlicher Räume
- Drucksachen 16/4806, 16/8262 Berichterstattung:
Abgeordnete Andrea Wicklein
Die Reden sollen zu Protokoll genommen werden.
Es handelt sich um die Reden der Kollegen Philipp
Mißfelder, CDU/CSU, Andrea Wicklein, SPD,
Dr. Edmund Peter Geisen, FDP, Dr. Kirsten Tackmann,
Die Linke, sowie Ulrike Höfken, Bündnis 90/Die Grünen.
Bei der Betrachtung dieses Antrages drängt sich mir
unweigerlich der Eindruck auf, dass die Linke gerade
wieder auf dem Weg ist, die Kollektivierung in ländlichen
Räumen einführen zu wollen. Ich kann es zwar verstehen,
dass die Abgeordneten der Linkspartei den Kolchosen
und landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften,
LPGs, nachtrauern, nur wird sich durch solche planwirtschaftlichen Strukturen die Situation im ländlichen Raum
definitiv nicht verbessern lassen.
Deshalb haben wir den Antrag der Linkspartei abgelehnt. Und nicht nur wir sehen die Linke hier im Irrtum.
Auch die Bundesregierung hat in der Antwort auf deren
Kleine Anfrage zu Arbeitgeberzusammenschlüssen,
Drucksache 16/8936, unmissverständlich festgestellt,
dass es gar keine Notwendigkeit gibt, hier gesetzgeberisch tätig zu werden. Wenn es die Notwendigkeit geben
sollte, dass sich verschiedene Arbeitgeber zusammenschließen wollen, so können sie das bereits heute in der
Rechtsform einer Gesellschaft bürgerlichen Rechtes, einer GmbH oder einer eingetragenen Genossenschaft.
Deshalb ist dieser Antrag auch überflüssig und reaktionär.
Was wir brauchen, sind marktwirtschaftliche Strukturen. Beispiele wie Ostbayern oder das Oldenburger
Münsterland zeigen, wie ehemals unterentwickelte
Regionen durch eine richtige marktwirtschaftliche Ausrichtung von den Armenhäusern Deutschlands zu Boomregionen werden konnten. So ist beispielsweise das
Oldenburger Münsterland heute die am stärksten wachsende Region in Niedersachen. Das muss unser Weg sein,
nicht die Kollektivierung. Denn es wird auch der Linken
nicht entgangen sein, dass sich der ländliche Raum in einer Aufbruchs- und Investitionsstimmung befindet. Es findet derzeit eine „grüne Revolution“ statt, die sich durch
eine breite Auffächerung des Arbeitsspektrums auszeichnet. Heute ist der ländliche Raum nicht mehr ausschließlich für die Nahrungsmittelproduktion zuständig, sondern
ebenso als Energie- und Rohstofflieferant sowie als
Dienstleister für Freizeit, Erholung, Tourismus und Urlaub. Hier ergeben sich gerade ganz neue Erwerbsmöglichkeiten, die inzwischen dazu führen, dass die in Zeiten
der Lebensmittelüberproduktion stillgelegten Flächen
wieder reaktiviert werden.
Die Probleme ländlicher Räume sind in der Vergangenheit vielfältig gewesen und bieten deshalb heute auch
Anlass, aus früheren Fehlern zu lernen: Wenn früher
Kommunen geglaubt haben, eine Schule aus Kostengründen schließen zu müssen, hat dies häufig dazu geführt,
dass auch die Eltern irgendwann in Ballungsräume gezogen sind, weil sie nicht wollten, dass ihre Kinder täglich
über weite Strecken zur nächsten Schule befördert werden
mussten. Der Schlüssel für die Entwicklung des ländlichen Raumes ist demnach die Infrastruktur. Dazu gehört
besonders die Entwicklung des Mittelstandes und der Informationstechnologie, damit der ländliche Raum in Zukunft
nicht alleine ein Lieferant von Rohstoffen und Nahrungsmitteln, sondern ebenso von Ideen und Dienstleistungen
wird. Deshalb müssen wir dafür sorgen, mit einer flächendeckenden Breitbandnutzung die nötige Infrastruktur in der Informationsgesellschaft zu schaffen. Ich bin
der festen Überzeugung, dass durch die Breitbandversorgung bis in den letzten Winkel unseres Landes der ländliche Raum eine neue und bisher nicht gekannte Attraktivität bekommen wird, die alle Vorteile ländlicher Räume,
wie gesunde Natur und vergleichsweise günstigen Wohnraum, mit den rasanten Errungenschaften der modernen
Informationsgesellschaft verbindet.
Deshalb bin ich der Bundesregierung und insbesondere unserem Wirtschaftsminister Michael Glos dankbar,
dass er die Schließung der sogenannten weißen Flecken
in der Versorgung mit schnellem Internet zu einem
Schwerpunkt seiner Arbeit gemacht hat. Hier liegen noch
enorme Potenziale brach, die in den nächsten Jahren erschlossen werden können. Unser Ziel ist es dabei, dass in
Deutschland jede Person, egal wo sie lebt, Zugang zu
Downloads und Uploads im Megabitbereich erhält. Dies
ist ein ehrgeiziges Ziel, an dessen Umsetzung wir aber intensiv arbeiten. Immerhin reden wir von etwa 65 Prozent
der Bevölkerung, die in Deutschland im ländlichen Raum
wohnen und ganz selbstverständlich in die Lage versetzt
werden müssen, von ihrem Wohnzimmer aus Anschluss an
das weltweite Netz zu haben und ein Teil des globalen
Wirtschafts- und Arbeitsmarktes zu sein.
Ein wichtiger und aktueller Sachverhalt ist dabei die
Nutzung der sogenannten digitalen Dividende. Durch die
Abschaltung der analogen Rundfunkfrequenzen werden
sich Spielräume ergeben, die zwingend für die flächendeckende Funkversorgung mit breitbandigem Internet genutzt werden müssen. Hier sind sowohl die bisherigen Inhaber der Funkfrequenzen, vor allem der öffentlichrechtliche Rundfunk, als auch die Serviceprovider und die
Mobilfunkanbieter in der Pflicht, eine sinnvolle und wirtschaftliche Lösung zu finden. Wir plädieren ganz klar dafür, die frei werdenden Frequenzen für die dringend benötigte Breitbandversorgung des ländlichen Raums zu
verwenden. Ungeachtet dieser aktuellen politischen
Aufgabe, wie die digitale Dividende genutzt werden
kann, hat die Bundesregierung bereits ein ganzes Bündel von Maßnahmen auf den Weg gebracht und wird ihre
Anstrengungen weiter intensivieren. Ich möchte hier nur
als ein Beispiel die Mittel aus der Gemeinschaftsaufgabe
„Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“, GA,
nennen. Hier wird im Rahmen der Infrastrukturförderung
von Gewerbegebieten deren Anbindung ans Netz oder an
den nächsten Knotenpunkt gefördert. Bis zu 90 Prozent
der anfallenden Kosten sind förderfähig. Das sind die für
die Anbindung notwendigen Kosten, die über die eines
Anschlusses bei einem Breitbandanbieter hinausgehen.
Im Rahmen der gewerblichen Wirtschaftsförderung
wird außerdem auch der Breitbandzugang einzelner Unternehmen innerhalb eines Gewerbegebietes gefördert.
Förderfähig sind dabei die Anschlusskosten. Der Förderhöchstsatz hängt davon ab, in welcher Fördergebietskategorie sich das begünstigte Unternehmen befindet.
Dies soll nur eines von zahlreichen Beispielen sein, die
zeigen, dass wir die Entwicklung des ländlichen Raumes
sehr ernst nehmen und unsere Anstrengungen darauf konzentrieren, jeden Ort in Deutschland im internationalen
Vergleich konkurrenzfähig zu machen. Und das ist es
auch, worauf es ankommt: die Zukunftsfähigkeit unserer
ländlichen Räume. Dazu sagt der Antrag der Linken gar
nichts. Er propagiert kollektivistisches Gedankengut, das
eindeutig und nachvollziehbar in seiner Ausformung der
Kolchose oder LPG gescheitert ist. Wenn das die Zukunftsvision für unser Land sein soll, zeigt dies einmal
mehr, wie sehr die Linke eine fortschrittsfeindliche und
restaurative Partei ist. Die Konzepte der Linken sind bereits einmal gescheitert. Das hat jeder vor Augen. Sie
sollte uns deshalb in Zukunft mit derartigen rückschrittlichen und unzeitgemäßen Konzepten verschonen.
Die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, vor allem in
ländlichen, strukturschwachen Räumen ist ein sehr wichtiges Anliegen der Regierungskoalition. Deshalb haben
wir in unserem Antrag „Unsere Verantwortung für die
ländlichen Räume“ vom Juli letzten Jahres deutlich die
Probleme ländlicher Gebiete beschrieben. Wir haben die
Bundesregierung aufgefordert, gemeinsam mit den Bundesländern einen sektor- und ressortübergreifenden AnZu Protokoll gegebene Reden
satz zu wählen, der der breitgefächerten Problematik der
ländlichen Räume gerecht wird. Ziel muss es sein, die
Wirtschaftskraft und die Attraktivität ländlicher Regionen als gleichberechtigte und gleichwertige Lebensräume zu entwickeln.
Auch über die Gemeinschaftsaufgaben werden Bund
und Länder in Zukunft gemeinsam Verantwortung für die
Entwicklung der Regionen übernehmen. Wir haben sie
daher bei der Reform der bundesstaatlichen Ordnung erhalten. Wir haben bis 2011 die Bundesmittel für die Gemeinschaftsaufgabe „Regionale Wirtschaftsstruktur“ auf
jährlich rund 600 Millionen Euro festgeschrieben und sichern damit die Förderung von Investitionen in der gewerblichen Wirtschaft und in wirtschaftsnahe Infrastruktur.
Wir haben die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung
der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ weiterentwickelt. So ist inzwischen die Förderung der Breitbandversorgung in ländlichen Räumen möglich. Auch Investitionen von Erzeugergemeinschaften können unterstützt
werden.
Wir haben die Bedeutung der Biomasse für die Entwicklung ländlicher Räume erkannt. Durch unsere Klimapolitik und die darin enthaltene Schwerpunktsetzung
auf regenerative Energien bieten wir den ländlichen Regionen neue Perspektiven und Beschäftigungschancen.
Zum Beispiel sind in der Branche der erneuerbaren
Energien allein in Ostdeutschland bis 2006 235 000 Arbeitsplätze entstanden. Zahlreiche Initiativen stärken
ländliche Räume als Produktionsstätte der Biomasse und
ihre Verwertung für Energie und Kunststoffe.
Wir schenken dem Tourismus in ländlichen Räumen
große Beachtung. Wir haben daher bei der Investitionszulage Ost das Beherbergungsgewerbe förderfähig gemacht. Die Investitionszulage muss auch weiterhin als
wichtiges Förderinstrument für die ländlichen Räume erhalten bleiben.
Natürlich können solche Entwicklungsstrategien nicht
allein „von oben“ verordnet werden. Sie bedürfen der
Umsetzung und Koordination in den ländlichen Regionen
selbst. Regionale Entwicklungskonzepte sind notwendig,
um die Akteure vor Ort zusammenzubringen und Entwicklungschancen zu identifizieren. Auch Arbeitgeberzusammenschlüsse, wie sie im Antrag der Linksfraktion beschrieben werden, können Teil regionaler Strategien für
mehr Beschäftigung sein. Es ist ausdrücklich zu begrüßen, wenn regional verankerte landwirtschaftliche
Betriebe sich zusammentun und den Menschen in der
Region eine Beschäftigungsperspektive geben, auch
wenn der einzelne Betrieb dazu nicht in der Lage wäre. So
können tatsächlich ganzjährige, sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze entstehen. Die Erfahrungen in
Brandenburg zeigen jedoch, dass Arbeitgeberzusammenschlüsse zwar den landwirtschaftlichen Betrieben helfen,
indem sie die Zusammenarbeit fördern, dass die Wirkung
auf die Arbeitslosenzahlen aber eher gering ist.
Arbeitgeberzusammenschlüsse sind dann am erfolgreichsten, wenn sie von den landwirtschaftlichen Betrieben selbst ausgehen und auch von ihnen getragen werden. Auch müssen sie sich als Teil einer Gesamtstrategie
für die Region verstehen. Eine Lösung allein durch unabhängige und vom Staat geförderte Träger bietet weniger
Erfolgsaussichten.
Die Regierungskoalition hat bereits Vereinfachungen
beschlossen, die auch die Gründung von Arbeitgeberzusammenschlüssen erleichtern. Seit August 2006 ermöglicht das neue Genossenschaftsrecht auch Zusammenschlüsse, die sich sozialen Belangen widmen. Die Anzahl
der notwendigen Gründungsmitglieder ist von sieben auf
drei gesunken. Das Mindestkapital darf nun in der Satzung von den Gründern selbst festgelegt werden. Auch die
Landesregierung Brandenburg hat diese Veränderungen
im Hinblick auf Arbeitgeberzusammenschlüsse bereits
positiv hervorgehoben.
Aus Sicht der SPD-Bundestagsfraktion hat der Bund
damit bereits die Vorkehrungen getroffen, die zur erleichterten Gründung von Arbeitgeberzusammenschlüssen
nötig waren. Die rechtlichen Rahmenbedingungen zu ihrer Bildung sind ohnehin vorhanden. Ich möchte daran
erinnern, dass wir auch für die GmbH-Gründung Erleichterungen beschlossen haben. Des Weiteren besteht
eine Fördermöglichkeit über den Europäischen Sozialfonds, dessen Umsetzung Aufgabe der Länder ist.
Dass die derzeitigen Regelungen ausreichen, zeigen
die vielen Arbeitgeberzusammenschlüsse, die es bereits
gibt - nicht nur in Brandenburg, sondern auch in anderen
Bundesländern, zum Beispiel das Modellprojekt COOP+
in Jena oder die Kooperationsinitiative Maschinenbau in
Braunschweig.
Für uns besteht deshalb keine Notwendigkeit, Arbeitgeberzusammenschlüsse direkt und zusätzlich durch den
Bund zu fördern. Die notwendigen Rahmenbedingungen
sind bereits gegeben.
Die Idee von Arbeitgeberzusammenschlüssen zur Sicherung und Schaffung stark saisonal abhängiger Arbeitsplätze, wie sie von der Fraktion Die Linke im zu beratenden Antrag gefordert wird, ist in der Land- und
Forstwirtschaft sowie im Gartenbau nicht neu und nicht
schlecht; diverse Organisationen wie die Landwirtschaftskammern oder die Maschinen- und Betriebshilfsringe haben hierzu Modelle entwickelt. Neu hingegen ist
der Ruf nach staatlicher Reglementierung und Alimentierung. Das lehnt die FDP-Bundestagsfraktion entschieden
ab.
Erstens. Was staatliche Reglementierung bedeutet, erleben wir ja gerade bei den angesprochenen Erntehelfern: Da werden bürokratische Hürden sowohl für unsere
heimischen Sonderkulturbetriebe als auch für polnische
Erntehelfer aufgebaut, die beide Seiten verzweifeln lassen - und all das mit dem Verweis auf die hohe deutsche
Arbeitslosenrate. Ich bitte Sie: Es ist doch billiger Populismus, zu verkünden, auf den Obst- und Gemüsefeldern
würde das Problem der Arbeitslosigkeit in Deutschland
gelöst. Im Gegenteil: Sehenden Auges setzt die Bundesregierung die Existenz der heimischen Sonderkulturbetriebe aufs Spiel. Produktionsaufgabe und Verlagerung
Zu Protokoll gegebene Reden
ins Ausland sind die Folge. So ist dem deutschen Arbeitsmarkt erst recht nicht gedient. Daher fordert die FDP, die
Erntehelferregelung endgültig auslaufen zu lassen und
durch eine EU-weite Freizügigkeit für Arbeitnehmer im
Agrarbereich zu ersetzen. Zudem muss die Regierung unverzüglich bilaterale Verhandlungen mit osteuropäischen
Ländern wie etwa der Ukraine und Weißrussland aufnehmen, um den Bedarf der heimischen Landwirtschaft und
des Tourismus an Saisonarbeitskräften sicherzustellen.
Zweitens. Warum schon wieder eine neue Institution
zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit schaffen und mit
Geld ausstatten? Das heißt doch im Umkehrschluss, die
bestehenden arbeiten nicht effizient! Dann sollte man
aber konsequenterweise - wie von der FDP seit langem
gefordert - erst einmal bei den Zuständigen wie der Bundesagentur für Arbeit bzw. den Jobcentern und den
ARGEs ansetzen. Hier bietet sich echter finanzieller wie
konzeptioneller Spielraum.
Drittens. In den strukturschwachen ländlichen Regionen vor allem im Nordosten Deutschlands mögen solche
Maßnahmen vielleicht noch einige Langzeitarbeitslose
zur Arbeit in den Feldern motivieren. In den meisten ländlichen Räumen im Westen hingegen mit geringerer Arbeitslosigkeit sucht man vergeblich! Lassen Sie uns doch
den Realitäten ins Auge blicken: In unserer hochtechnologischen Gesellschaft findet man kaum noch motivierte
und auch entsprechend qualifizierte Erntehelfer; das belegen doch auch die Vermittlungszahlen.
Will man den ländlichen Raum und seine Bewohner
wirklich fördern, dann funktioniert das nicht mit Planwirtschaft, dann funktioniert das nur mit nachhaltigen Investitionsanreizen. Verlässlichster Partner sind hier die
Landwirte - sie produzieren vor Ort, sie schaffen Arbeitsplätze, nicht nur in ihrem Betrieb, sondern auch und vor
allem in vor- und nachgelagerten Bereichen, sie erhalten
und pflegen unsere Kulturlandschaften.
Deshalb mein Plädoyer: Geht es der Landwirtschaft
gut, geht es den ländlichen Räumen gut! Die Bundesregierung sollte alles daransetzen, diese Stütze der Gesellschaft zu unterstützen. Leider können wir häufig nur das
Gegenteil erkennen: ob Milchquote, Gesundheitscheck,
Biokraftstoffe, Grüne Gentechnik oder Erbschaftsteuerreform - Verlässlichkeit und Planungssicherheit sind für
Schwarz-Rot Fremdwörter.
Über die schwierige Lebenssituation und die Zukunft
vieler ländlicher Räume haben wir im Bundestag oft diskutiert, zuletzt vor wenigen Wochen, als Minister
Seehofer eine interministerielle Arbeitsgruppe ankündigte. Aber Problembewusstsein allein ändert nichts. Der
Ernst der Lage ist wohl im Ministerium noch gar nicht
angekommen. Es fehlt an vielem: Schulen, Ärztinnen und
Ärzten, Bussen und Bahnen, Post- und Bankfilialen. Und
vor allem fehlen existenzsichernde Arbeitsplätze! Es geht
nämlich nicht nur um Armut aufgrund von Langzeitarbeitslosigkeit, sondern um Niedrigstlöhne und die Tendenz, dass Beschäftigte zum Beispiel im Hotel- und Gaststättengewerbe oder in der Land- oder Forstwirtschaft
nur noch zeitweise gebraucht werden. Tage-, Wochenund Monatslöhnern fehlt das Geld aber nicht nur heute,
sondern auch im Alter.
Es ist also wichtig, darüber nachzudenken, wie diese
zeitweise verfügbare Arbeit so organisiert werden kann,
dass sie Menschen eine Perspektive bietet. Sie sollen in
ihrer Region bleiben können, wenn sie das wollen! Und
das geht alle an: Abwanderung ist ja nicht nur ein Problem der verlassenen Gegend, sondern auch eines der
Zuzugsregion.
Die Linke hat den Vorschlag gemacht, eine französische Idee aufzugreifen, die auch von der brandenburgischen SPD-CDU-Koalition unterstützt wird, während die
Koalition auf Bundesebene die gute Idee wohl noch ignoriert.
Die Linke redet nicht nur über Problem; sie stellt sich
dem Problem der nur noch saisonal oder zeitweise zur
Verfügung stehenden Arbeit, speziell in der Land- und
Forstwirtschaft. Auf der Suche nach neuen Wegen sind
wir auf eine Lösung gestoßen, die den Flexicurity-Ansatz
der EU auch im Interesse der Beschäftigten erfüllt: Arbeitgeberzusammenschlüsse ({0})! AGZ sind betriebliche Kooperationen vor allem kleiner und mittlerer Betriebe einer Region. Im Einzelbetrieb nur zeitweise oder
saisonal Beschäftigte werden im Arbeitgeberzusammenschluss ganzjährig sozialversicherungspflichtig eingestellt. Vorteil für die Betriebe: Sie können immer auf den
gleichen Pool qualifizierter, erfahrener Fachkräfte zugreifen.
Im Unterschied zur Leiharbeit bestehen feste Beziehungen der Betriebe untereinander und zu den Beschäftigten. Empfehlenswert sind AGZ aus verschiedenen
Branchen, sodass sich Arbeitsspitzen möglichst gut über
das Jahr verteilen. Die Betriebe werden von Personalmanagementaufgaben entlastet, was Kosten spart. Sie bekommen erfahrene Fachkräfte für die Zeit ihres erhöhten
Arbeitsaufkommens, auf die sie sich verlassen können.
Auch die Vorteile für die Beschäftigten sind vielfältig.
Sie sind ganzjährig beim AGZ beschäftigt und erfüllen
eine Vielzahl abwechslungsreicher Tätigkeiten. Unsichere Einzelarbeitsverhältnisse werden durch die AGZ
sozial abgesichert und in existenzsichernde Arbeitsplätze
umgewandelt. Zusätzlich werden durch die AGZ Aus- und
Fortbildung und andere Qualifizierungen organisiert.
Im EU-Nachbarland Frankreich wurden damit sehr
positive Erfahrungen gesammelt. 2004 gab es dort auf
der Grundlage eines Gesetzes aus dem Jahr 1985 allein
im landwirtschaftlichen Bereich 4 100 AGZ mit circa
40 000 Beschäftigten.
In Deutschland wird die gemeinsame, betriebsübergreifende Nutzung von land- und forstwirtschaftlichen
Maschinen oder die gemeinsame Vermarktung von Produkten schon lange erfolgreich organisiert. Daran lässt
sich anknüpfen. In Brandenburg wurden diese Chancen
erkannt. Die Landesregierung fördert seit einigen Jahren
gezielt den Aufbau von Arbeitgeberzusammenschlüssen.
Durch eine gerade erst veröffentlichte Kooperationsrichtlinie soll die schwierige Anfangsphase zur Einrichtung eines Arbeitgeberzusammenschlusses unterstützt
werden. Gleichzeitig macht die Brandenburger LandesZu Protokoll gegebene Reden
regierung auf bundespolitische Erfordernisse aufmerksam: „Für einen gesetzlichen Schutz, der sich speziell auf
den Schutz von Arbeitgeberzusammenschlüssen ausrichtet, sind bundesgesetzliche Regelungen maßgebend.“
Dagegen antwortete die Bundesregierung gerade auf
eine Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke ({1}):
„Aus Sicht der Bundesregierung sind die rechtlichen
Rahmenbedingungen zur Bildung von Arbeitgeberzusammenschlüssen ({2}) bereits vorhanden.“ Ist die Bundesregierung nur schlecht informiert oder ignoriert sie den
dringenden Regelungsbedarf? Der ist nämlich klar und
eindeutig: Erstens. Gebraucht wird eine Anschubfinanzierung, zum Beispiel über die Bundesagentur für Arbeit.
Zweitens. Wir brauchen die gesetzliche Klarstellung,
dass AGZ keine Leiharbeit sind, weil sonst zum Beispiel
die Beiträge für die Berufsgenossenschaft ungerecht hoch
sind.
Auch die EU-Ebene hat unterdessen erkannt, dass
AGZ zur Stärkung der ländlichen Räume beitragen können: EU-Kommissar Špidla hat Anfang des Jahres ein europäisches Ressourcenzentrum für AGZ gegründet! Bei
der Eröffnung im Februar 2008 gab er zu Protokoll, dass
die AGZ nach seiner Kenntnis das einzige Projekt wäre,
wo Flexibilisierung und soziale Sicherung wirklich gemeinsam gedacht, also die Forderungen an Flexicurity
erfüllt werden.
Es gibt also, liebe Kolleginnen und Kollegen, keinen
wirklichen Grund, den Antrag der Linken heute abzulehnen.
Die Erntezeit in den Sonderkulturen hat begonnen, und
damit stellt sich wieder die Frage, wer Erdbeeren und
Spargel, aber auch Äpfel und Beeren ernten soll. Die
Landwirte klagen, dass sie wegen der Erntehelferregelung nicht mehr ausreichend engagierte Erntehelfer finden und die Produkte auf dem Feld verschimmeln. Aber
die Probleme bei der Ernte sind auch hausgemacht: Die
Arbeitsbedingungen und Löhne sind häufig schlecht, darum finden die Betriebe weder inländische noch ausländische Helfer. Die jetzige Entwicklung zeigt, dass unsere
osteuropäischen Nachbarn nicht mehr als Billigarbeiter
auf Reisen gehen wollen. Deutschland ist für Arbeitskräfte aus Osteuropa unattraktiv. Die Politik der Bundesregierung wirkt abschreckend und hilft den Betrieben
nicht. Stattdessen sollte sie auf bessere Standards für einheimische und zugereiste Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer setzen. Mit Stundenlöhnen um 4 Euro und weniger kann man keine motivierten Arbeiter mehr anlocken.
Nur noch saisonal verfügbare und schlecht bezahlte Arbeitsplätze im ländlichen Raum haben aber noch eine
zweite Auswirkung: die Abwanderung junger Menschen
aus diesen Regionen. Wollen wir die Dörfer erhalten,
muss die Arbeit so organisiert werden, dass sie die Existenz der Arbeitnehmer im ganzen Jahr absichert. Wir
brauchen ein Anreizsystem für die grünen Berufe, eine
faire Entlohnung, faire Unterbringungs- und Arbeitsbedingungen, eine Verbesserung der Vermittlung von Saisonarbeitskräften und eine koordinierte, bedarfsgerechte
Aus- und Weiterbildung. Dazu können die vorgeschlagenen „grünen Agenturen“ besonders gut beitragen, wie
wir es in unserem Antrag bereits 2006 gefordert haben
({0}). Wir wollen eine branchenübergreifende Vernetzung saisonaler Arbeitsmöglichkeiten in
den Dörfern vom Forstbetrieb über Gartenbau und Landwirtschaft bis hin zu anderen gewerblichen Arbeitszweigen. So kann die Jahresgesamtarbeitszeit an verschiedenen Arbeitsstellen erbracht werden.
Die zweite Säule der EU-Agrarpolitik muss finanziell
besser ausgestattet werden, damit durch eine höhere
EU-Förderung, gemeinsam mit einer zusätzlichen Bundesförderung, Entwicklungen wie etwa der grünen Arbeitsmarktagenturen finanziert werden können. Darüber hinaus fordern wir einen fairen Mindestlohn für die
Beschäftigten in den grünen Berufen und unterstützen das
Projekt der Gewerkschaft IG BAU gegen Lohndumping
und schlechte Arbeitsbedingungen. Mehr Arbeitslose für
Tätigkeiten in den grünen Berufen zu vermitteln, kann nur
dann gelingen, wenn die Anforderungen der Betriebe an
motivierte, qualifizierte und zuverlässige Mitarbeiter auf
der einen Seite und der berechtigte Anspruch der Arbeit
suchenden Menschen nach einer beruflichen Perspektive
auf der anderen Seite zur Deckung gebracht werden. Die
heutige Agrarpolitik benachteiligt zudem Betriebe mit
vielen Arbeitsplätzen. Dies wollen wir im Rahmen der
jetzt anstehenden EU-Agrarreform ändern. Wir fordern,
dass die landwirtschaftlichen Direktbeihilfen auch an den
Faktor Arbeitskraftbesatz gebunden werden müssen. Die
Bundesregierung muss ihre Blockadehaltung gegen eine
zukunftsorientierte Weiterentwicklung der europäischen
Agrarpolitik endlich aufgeben.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/8262, den Antrag
der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/4806 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion
Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried
Nachtwei, Alexander Bonde, Markus Kurth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Oslo-Prozess zum Erfolg führen - Jegliche
Streumunition ächten
- Drucksache 16/8909 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({0})
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Auch hier werden die Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die Reden der Kollegen
Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg, CDU/CSU,
Andreas Weigel, SPD, Florian Toncar, FDP, Inge Höger,
Die Linke, Winfried Nachtwei, Bündnis 90/Die Grünen,
sowie Gert Winkelmeier, fraktionslos.
Lassen Sie mich gleich zu Beginn meines Redebeitrages zum Ausdruck bringen, als wie wohltuend ich das Engagement und die in den letzten Wochen und Monaten
entstandene ungemeine Dynamik empfinde, mit welcher
vonseiten des Parlamentes im Bereich der Streubombenthematik gewirkt wurde. Hierin offenbart sich nicht nur
ein hohes Maß an Unabhängigkeit, welche die Legislative bei ihrer Arbeit an den Tag legt sowie die beachtliche
inhaltliche Leistungsfähigkeit der parlamentarischen
Ausschüsse, sondern auch die große Bedeutung, welche
dem Oslo-Prozess als Impulsgeber zukommt. Unterstützt
von verdienstvollen Nichtregierungsorganisationen ist es
vor dem Hintergrund des Oslo-Prozesses gelungen, Parlamentarier und Regierungsvertreter gleichermaßen an
die komplexe Thematik heranzuführen, Zusammenhänge
aufzuzeigen, Positionen kritisch zu hinterfragen und vermeintliche Gewissheiten auf den Prüfstand zu stellen. Die
in den letzten Wochen offenbar gewordene, lebendige
parlamentarische und außerparlamentarische Debatte
hat gezeigt, dass der seinem Gewissen verpflichtete Abgeordnete nicht nur ein Postulat unseres Grundgesetzes
ist, sondern Realität. Das allein ist bereits bemerkenswert
und verdient eine ausdrückliche Würdigung in diesem
Rund.
Getragen von einer gemeinsamen Zielsetzung haben
sich Vertreter aller Parteien mit hohem Sachverstand, mit
zielgerichteter Konstruktivität aber vor allem mit einer
bemerkenswerten Unabhängigkeit in den zuständigen
Ausschüssen und Unterausschüssen beständig gemüht,
Fortschritte auf einem schwierigen, vielschichtigen und
komplexen Feld zu befördern. Nationale und internationale Prozesse und Abstimmungen gilt es, hierbei ebenso
abzuwägen wie - vielleicht erst auf den zweiten Blick
sichtbare - ökonomische und vor allem auch bündnispolitische Fragen. Ein von den Antragstellern gefordertes
nationales Moratorium, welches den Einsatz, die Entwicklung, die Herstellung, die Modernisierung, die Beschaffung, den Verkauf, die Vermittlung sowie die Ein-,
Aus- und Durchfuhr von Streumunition untersagt, wäre
hingegen bündnispolitisch nicht leistbar und drohte letztlich, die Bündnisfähigkeit Deutschlands zu unterhöhlen.
Ich gebe zu bedenken, dass solch ein Antrag wohl kaum
der grünen Regierungspartei gestellt worden wäre. Diese
sicherheitspolitischen Folgen einer Umsetzung ihrer
Forderungen stünden - und das wissen auch Sie - in keinem Verhältnis zum vielleicht erzielten Effekt.
Auch die von den Antragstellern gewählte Diktion der
„Terrorwaffe“ als Charakterisierung für Streumunition
erscheint mir in der Tat nur schwer erträglich und etwas
inspiriert von übersteigerter oppositioneller Dramatik.
Derartige Begrifflichkeiten dürfen gerade angesichts der
Thematik nicht leichtfertig verwandt und semantisch
verwässert werden. Ich nehme nicht an, dass die hier anwesenden Vertreter der Grünen Deutschland und seinen
Verbündeten den Besitz und die Produktion einer „Terrorwaffe“ unterstellen möchten. Die schrecklichen Auswirkungen von Streubomben bleiben Opfern wie Nutzern
gleichwohl wie in Stein gebrannt. Dies würde auch auf
Sie, meine Damen und Herren von der Fraktion der Grünen, zurückfallen.
Auch wenn die Antragsteller in ihren Forderungen und
Formulierungen weit über das eigentliche Ziel hinausgeschossen sind, so ist ihr Engagement, in der Sache selbst
zu einem befriedigenden Ergebnis zu kommen, dennoch
unbenommen. Letztlich sind auf dem Gebiet der Streubomben tatsächlich humanitäre Aspekte ausschlaggebend. Es sollte jedoch nicht verschwiegen werden, dass
bereits im Vorfeld der anstehenden Konferenz große Fortschritte erreicht werden konnten. So stellt es durchaus einen Erfolg dar, dass von der Union gemeinsam mit dem
Koalitionspartner im letzten Jahr ein Antrag bezüglich
gefährlicher Streumunition in den Bundestag eingebracht
und verabschiedet werden konnte. Dieser sah unter anderem vor, Streumunition der Bundeswehr außer Dienst zu
stellen, die eine Blindgängerquote von über einem Prozent hat, von der Neubeschaffung von herkömmlicher
Streumunition abzusehen und die Produktion als auch
den Export von Streumunition mit einer Blindgängerrate
von über einem Prozent zu verbieten. Dieser Antrag kann
jedoch nur einen ersten Schritt in die richtige Richtung
darstellen. An einer Fortentwicklung dieser Position
- auch und besonders im internationalen Rahmen - muss
gerade in diesen entscheidenden Tagen intensiv gearbeitet werden.
Bei allem Lob für die Arbeit der parlamentarischen
Gremien sollte jedoch auch die bisherige Rolle der Bundesregierung gelobt werden. Als zuständiger Berichterstatter der CDU/CSU begrüße und unterstütze ich ausdrücklich die grundsätzlich erklärte Zielsetzung der
Bundesregierung, auf internationaler Ebene ein umfassendes Verbot von Streumunition zu erreichen.
Diese Zielsetzung ist jedoch ein hoher Maßstab, den
die Bundesregierung selbst an sich angelegt hat und an
welchem sie sich stets messen lassen muss. Dies gilt insbesondere für den erfolgreichen Abschluss der Verhandlungen über ein internationales Abkommen, welches
Ende Mai im Rahmen des Oslo-Prozesses abgeschlossen
werden soll. Ein Erfolg des Oslo-Prozesses und eine Unterschrift Deutschlands unter den Ende Mai zu beschließenden Vertrag von Dublin, der sich die weltweite Ächtung von Streumunition zum Ziel gesetzt hat, erscheint als
Schritt hin zu einem globalen Abkommen nahezu unverzichtbar.
Bei aller Aufmerksamkeit, die der Oslo-Prozess momentan berechtigterweise bindet, sei jedoch daran erinnert, dass es für die Umsetzung einer globalen Ächtung
von Streubomben auch darauf ankommen wird, schrittweise die großen Halterstaaten miteinzubeziehen. Dies
ist mittels des Oslo-Prozesses bedauerlicherweise bisher
nicht gelungen. Die Ansätze des Oslo-Prozesses sind ambitioniert und bewusst weit gefasst. Sie werden daher
wohl in absehbarer Zeit nicht von allen Staaten geteilt
werden. Gleichwohl kommt dem Oslo-Prozess eine nicht
zu unterschätzende Bedeutung zu, da mittels dieses Unternehmens entscheidende Impulse und Problemlösungsvorschläge hervorgebracht wurden und dies durchaus
eine Strahlkraft für den tendenziell stockenden VN-Prozess hat.
Zu Protokoll gegebene Reden
Es ist daher zu begrüßen, dass sich die Bundesregierung - trotz durchaus frustrierender Erfahrungen - weiterhin aktiv an der Überprüfungskonferenz für das Waffenübereinkommen der Vereinten Nationen, CCW der VN,
beteiligt. Und es sollte in der laufenden Diskussion nicht
unterschlagen werden, dass auch auf dieser Ebene zumindest schüchterne Fortschritte gezeitigt werden. So hat
die dritte Überprüfungskonferenz des VN-Waffenübereinkommens am 17. November 2006 die Einsetzung einer
CCW-Expertengruppe zu Streumunition beschlossen, was
von der Bundesregierung als Vorstufe zu Verhandlungen
über ein flankierendes Abkommen zum Thema Streumunition gewertet wird.
Es ist bedauerlich, dass hinsichtlich eines konkreten
Vorgehens für allfällige Verhandlungen noch keine von
allen relevanten Streumunitionshaltern geteilte Einigung
erreicht werden konnte. Russland lehnt nach wie vor Verhandlungen jeder Art ab, die eine Ächtung von Streumunition zum Gegenstand haben. Auch andere Staaten wie
etwa die USA und China verhalten sich in dieser Frage
alles andere als kooperativ. Dennoch stellt die Befassung
der Überprüfungskonferenz einen ersten Beitrag hin zu
einem wirksamen Verbot von Streumunition dar. Es gilt
daher, den laufenden Diskussionsprozess in einen substanziellen Verhandlungsprozess im CCW-Rahmen zu
überführen, an dem die wichtigsten Besitzer und Anwender von Streumunition teilnehmen. Einseitig auf den
Oslo-Prozess zu setzen, mag aus Gründen konzeptioneller Orthodoxie befriedigender sein, doch mit Blick auf ein
anzustrebendes globales Abkommen wäre dies sicherlich
nicht zielführend.
Den Ansatz einer deutschen Beteiligung an beiden
Prozessen gilt es also weiterzuverfolgen. Zudem muss
Deutschland auch bei seinen Partnern in der Nato und
der EU energisch um Fortschritte in der Sache werben.
Dies gilt auch und insbesondere für die USA, die am
Oslo-Prozess bisher nur als Beobachterstaat teilnehmen.
Der Oslo-Prozess ist zum Motor der weltweiten Bemühungen geworden, eine weltweite Ächtung von Streubomben herbeizuführen. Vor dem Dubliner Treffen des OsloProzesses droht nun jedoch eine Situation, in welcher
Deutschland nicht an der Abschlusserklärung der Konferenz beteiligt sein könnte.
Die deutsche Delegation fordert nach wie vor Übergangsfristen für das Verbot und eine Ausnahme für bestimmte sensorengesteuerte Waffen. Die Haltung der
deutschen Regierung wurde auf der Konferenz aus diesem Grunde bereits scharf kritisiert. Ein Ausscheiden
Deutschlands aus dem Prozess erschien zeitweise möglich. Diese Gefahr ist ganz offensichtlich noch nicht gebannt, denn trotz verheißungsvoller und blumiger Proklamationen des federführenden Auswärtigen Amtes scheint
sich die Haltung Deutschlands bisher nicht flexibilisiert
zu haben. Das Auswärtige Amt scheint den eigens aufgestellten Maßstäben in Sachen Abrüstung im konkreten
Fall nicht vollumfänglich entsprechen zu können.
Bedauerlich muss auch erscheinen, dass es auf der
Konferenz zunehmend zu Konfrontationen zwischen den
Nichtregierungsorganisationen und der Bundesregierung gekommen ist. Offensichtlich hat das einst konstruktive Klima schwer gelitten. Eine in jüngsten Presseverlautbarungen des Auswärtigen Amtes angedeutete
Flexibilisierung der deutschen Haltung erschiene mir begrüßenswert. Vor diesem Hintergrund erscheint die
Frage relevant, ob und inwiefern die Bundesregierung
ihre Haltung in den anstehenden Verhandlungen von
Dublin zu ändern gedenkt. Den jüngsten Proklamationen
der Bundesregierung konnte leider nicht entnommen werden, ob hierauf tatsächlich substanzielle Positionsveränderungen folgen sollen. Für wohl alle in der Sache zuständigen Parlamentarier würde ich daher sehr gerne die
Frage aufwerfen, ob und inwiefern die deutsche Verhandlungsposition flexibilisiert werden soll und welchen weiteren Verhandlungsspielraum die Bundesregierung innerhalb des Oslo-Prozesses sieht.
Der Oslo-Prozess würde in gewisser Weise entwertet
werden, wenn die wenigen relevanten Teilnehmerstaaten
wie Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Kanada, aus einem anzustrebenden Abkommen herausfielen. Eine solche Entwicklung drohte, den gesamten Prozess irrelevant zu machen.
Die offizielle Position Deutschlands bedarf einer kritischen Revision unter Beteiligung des Parlamentes. Das
kategorische Festhalten der im Dreistufenplan dargestellten Haltung Deutschlands scheint mir in nicht allen
Punkten vollständig schlüssig zu sein. Zudem verbleiben
offene Fragen bezüglich der konkreten Umsetzung des
Dreistufenplanes. Gemeinsam mit meinem Kollegen
Andreas Weigel habe ich in diesen Tagen die zahlreichen
offenen technisch-militärischen wie auch politischen
Fragen in einem Schreiben an die Bundesminister
Steinmeier und Jung übermittelt. Im Folgenden möchte
ich in aller gebotenen Kürze auch in diesem Hohen Hause
einige der überwölbenden Fragen aufwerfen:
Offene Fragen bestehen beispielsweise bezüglich der
von der deutschen Delegation geforderten Übergangsfristen für sogenannte Streumunition mit einer Blindgängerquote von unter einem Prozent. Nach wie vor ist noch
erheblicher Klärungsbedarf hinsichtlich der zuverlässigen Erfüllung der vom Gesetzesantrag der Koalition geforderten Blindgängerquote von unter einem Prozent für
die Übergangsbestände der Bundeswehr gegeben. Es ist
Pflicht und Aufgabe des Parlaments, über die Einhaltung
der geforderten Maßstäbe für die übergangsweise erlaubten Streumunitionsbestände Klarheit zu erlangen.
Auch die von der Bundesregierung geforderten Ausnahmen für Alternativmunition, namentlich sensorengesteuerte Waffen, bedürfen meiner Auffassung nach einer
kritischeren Überprüfung als bisher. Es muss sichergestellt sein, dass die Alternativmunition tatsächlich die von
der Regierung und den Herstellern dargestellten Anforderungen erfüllt. Der deutsche „Dreistufenplan“ setzt die
technische Zuverlässigkeit aller Submunitionen voraus.
Unklar erscheint mir hierbei noch, auf welche Angaben
sich die Bundesregierung verlässt, um diese Zuverlässigkeit zu überprüfen.
Insgesamt muss seitens der Bundesregierung noch
schlüssiger als bisher der militärische Nutzen und konkrete Bedarf für die - mittelfristig in den Beständen der
Bundeswehr verbleibende - Streumunition und die anzuZu Protokoll gegebene Reden
schaffende Alternativmunition Erklärung finden. Sollte
dieser Bedarf nicht zwingend zum Schutz unserer Soldaten geboten sein, erschienen mir allzu großzügige Regelungen hinsichtlich Übergangsfristen und Alternativmunitionen als nicht notwendig und ganz im Gegenteil aus
humanitären Gesichtspunkten sehr bedenklich. In dieser
grundsätzlichen Conclusio stimme ich auch mit den Antragstellern überein.
Die Unterschrift Deutschlands unter den Vertragsentwurf von Dublin darf schlichtweg nicht an den aufgezeigten offenen Fragen und einer intransigenten deutschen
Verhandlungshaltung scheitern. Keinesfalls darf der Eindruck entstehen, dass sich die Bundesregierung auf diesem Feld von den Interessen der militärischen Industrie
unter Druck setzen lässt. Auch der scheinbaren Rücksichtnahme auf enge bilaterale Partner sind hinsichtlich
dieser Thematik gewisse Grenzen gesetzt. Eine flexiblere
Haltung - insbesondere hinsichtlich der von Deutschland
eingeforderten Übergangsfristen - sollte daher aus meiner Sicht ernsthaft erwogen werden.
Deutschland ist nicht der Bremser in den parallel laufenden multilateralen Verhandlungen über eine Ächtung
von Streumunition und wird das auch in den anstehenden
Verhandlungsrunden nicht sein - auch wenn der hier behandelte Antrag der Grünen diesen Eindruck zu erwecken versucht.
Ganz im Gegenteil: Die Bundesregierung hat im vergangenen Jahr eine viel beachtete Initiative für einen
schrittweise universellen Verzicht auf Streumunition ergriffen. An den internationalen Verhandlungen - sowohl
im UN-Rahmen wie auch im Oslo-Prozess - war
Deutschland nicht nur von Anfang an engagiert beteiligt,
sondern hat zudem bereits in einem sehr frühen Stadium
erste konkrete Vorschläge und Textbausteine für eine Völkerrechtsergänzung eingebracht.
Richtig ist, dass sich die Bundesregierung um eine
Einbindung möglichst vieler Staaten bemüht. Die deutsche Verhandlungsposition orientiert sich sowohl an
Empfehlungen des Internationalen Komitees vom Roten
Kreuz als auch an Vorgaben des Waffenübereinkommens
der Vereinten Nationen. Das macht deutlich, dass der
Vorwurf, Deutschland trete auf die Bremse, nicht zu halten ist. Vielmehr nimmt Deutschland bei den Verhandlungen - innerhalb und außerhalb des UN-Rahmens - eine
Vorreiterrolle ein.
Ich bin sehr zuversichtlich, dass bei der Weiterentwicklung humanitärer Rüstungskontrolle noch im Jahr
2008 ein Durchbruch gelingt. Auf Initiative der SPDFraktion hat der Bundestag die Bundesregierung bereits
im Jahr 2006 dazu aufgefordert, Schritt für Schritt auf
eine völkerrechtliche Ächtung von Streumunition hinzuarbeiten. Im Parlament haben wir die internationalen
Verhandlungen seitdem in mehreren Plenardebatten sowie in regelmäßigen Berichterstattungen und Anhörungen in den zuständigen Fachausschüssen eng begleitet.
Wir haben dabei stets betont, dass ein umfassendes
Verbot der Herstellung, Verwendung und Verbreitung dieser Munition aus unserer Sicht alternativlos ist. Streumunition verursacht unermessliches menschliches Leid
- insbesondere unter Zivilisten -, sie ist aber auch aus
militärischen Erwägungen schlichtweg überflüssig. Denn
sie ist unzuverlässig, gefährdet zudem die sie einsetzenden Militärs und schmälert darüber hinaus die Akzeptanz
militärischer Operationen bei der Zivilbevölkerung
Die von den Grünen verwendete Bezeichnung „Terrorwaffe“ halte ich aber für unglücklich. Im Fall von Streumunition sind wir schließlich nicht etwa mit dem Problem
konfrontiert, dass es in erster Linie transnational operierende, nichtstaatliche Terrornetzwerke sind, die diese
Waffe zum Einsatz bringen, sondern es geht darum, Streumunition als konventionelle Waffen aus den Beständen regulärer staatlicher Armeen auszumustern, zu vernichten
und ihren Einsatz zu ächten.
Ob das gelingt, hängt nicht zuvorderst vom konstruktiven Verhalten der Bundesregierung ab - so wie die Grünen suggerieren -, sondern schon eher von ihrem diplomatischen Verhandlungsgeschick. Entscheidend ist doch,
ob es gelingt, diejenigen Staaten in einen Vertragsabschluss einzubinden, die bislang bei den internationalen
Verhandlungen tatsächlich auf die Bremse treten. Denn
das sind ausgerechnet die Staaten mit den umfangreichsten Streumunitionsarsenalen - die USA, China und Russland, zudem Indien, Pakistan, Israel und Brasilien.
Was die Einbindung dieser Staaten betrifft, bleibt weiterhin noch erhebliche Überzeugungsarbeit zu leisten.
Denn in ihren Militärstrategien nimmt Streumunition
nach wie vor einen ungleich höheren Stellenwert ein als
beispielsweise die weltweit nicht mehr eingesetzten Antipersonenminen. Darum hat Deutschland von Beginn an
einen ausgewogenen Ansatz verfolgt, der auch aus militärischen Gesichtspunkten überzeugen soll.
Allerdings wird sich auch die deutsche Position in den
anstehenden Verhandlungen noch weiterentwickeln müssen. Die Grünen behaupten ja, die Bundesregierung unterscheide zwischen gefährlicher und ungefährlicher
Munition. Das ist so nicht zutreffend. Ungefährliche Munition gibt es nicht. Allerdings hat sich im Libanonkrieg
2006 in der Tat gezeigt, dass auch neuere, vermeintlich
zuverlässigere Streumunitionsmodelle die in sie gesetzten
Erwartungen nicht erfüllt haben.
Daraus sind nun auch seitens der Bundesregierung
Konsequenzen zu ziehen. Selbst wenn und gerade weil es
nie zu ihrem Einsatz durch die Bundeswehr gekommen
ist: Streumunition darf nicht weiterhin nach einer nicht
eindeutig belegten Blindgängerrate eingestuft, sondern
sollte ohne weitere Übergangsfristen unverzüglich außer
Dienst gestellt werden.
Aus militärstrategischer Sicht verlangen heutige Einsatzszenarien die Fähigkeit zur Punkt- und nicht zur Flächenzielbekämpfung. Dafür gibt es Punktzielmunition,
die bezüglich ihrer Bauart, ihrer Wirkweise und ihrer Zuverlässigkeit grundlegende Unterschiede zu Streumunition aufweist. Insofern sollte sie weder in engerem noch in
weiterem Sinne mit Streumunition gleichgesetzt werden.
Punktzielmunition ist mit einer erheblich geringeren
Anzahl an Explosivkörpern ausgestattet - weniger als
Zu Protokoll gegebene Reden
zehn im Vergleich zu den bis zu Tausend bei Streumunition. Bei neueren Modellen, die mittels kinetischer Energie funktionieren, wird gänzlich auf Explosivkörper verzichtet.
Wenn nun aber in den laufenden internationalen Verhandlungen neben der umfassenden Ächtung von Streumunition auch eine völkerrechtliche Eingrenzung des
Einsatzes von Punktzielmunition diskutiert wird, dann
geht es dabei nicht darum, einzelnen modernen Munitionsmodellen einen Persilschein auszustellen, sondern
es geht darum, eindeutige, von unabhängiger Seite nachprüfbare Kriterien zu definieren, die diese Munition erfüllen muss: erstens eine strikte Limitierung der durch diese
Munition verbrachten Sprengkörper; zweitens eine nachgewiesene hohe technische Zuverlässigkeit; drittens die
nachgewiesene Fähigkeit dieser Munition, militärische
Ziele tatsächlich punktgenau zu bekämpfen.
Die Bundesregierung steht dabei in der Pflicht, dem
Parlament als unabhängigem Kontrollorgan gesicherte
und detaillierte Nachweise über die Einhaltung dieser
Maßstäbe vorzulegen.
Ein entscheidender Aspekt kommt im hier diskutierten
Antrag der Grünen viel zu kurz: der Blick über den OsloProzess hinaus. Die vom Oslo-Prozess ausgehende Dynamik hat die Genfer Verhandlungen zur Ergänzung des
Waffenübereinkommens der Vereinten Nationen neu belebt. Im November 2007 haben sich die UN-Vertragsstaaten in Genf zur Aufnahme von Verhandlungen über ein
Zusatzprotokoll zur „dringlichen Frage der humanitären
Auswirkungen von Streumunition“ bereiterklärt. Dass
damit erstmals alle Vertragsstaaten des UN-Waffenübereinkommens in Verhandlungen eingebunden werden, ist
ein wichtiger Fortschritt. Es ist ein besonderer Verdienst
der am Oslo-Prozess beteiligten Staaten und zivilgesellschaftlichen Akteure, dass sie die Vertragsstaaten verstärkt für die humanitären Folgen des Einsatzes von
Streumunition sensibilisiert haben.
Unbedingt zu verhindern ist nun freilich, dass UN-Verhandlungen und Oslo-Prozess gegeneinander ausgespielt
werden. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass bei
den Verhandlungen im Rahmen des Oslo-Prozesses Ende
Mai ein präziser Textentwurf erarbeitet wird, der dann
den anschließenden UN-Verhandlungen als Vorlage dienen kann. Die Bundesregierung ist gefordert, die Impulse
des Oslo-Prozesses aufzugreifen und geeignete Maßnahmen für eine rasche Ratifizierung und Universalisierung
der dort erzielten Übereinkunft in die Wege zu leiten.
Zugegeben, der Spagat zwischen den beiden parallel
laufenden multilateralen Verhandlungsprozessen ist eine
komplizierte Übung, die wohl nicht ganz ohne Verrenkungen gelingen kann. Aber ich denke, wir sollten auf die
deutsche Verhandlungsführung vertrauen.
Heute beraten wir über ein Thema, das aus humanitären Gründen von großer Bedeutung ist: das Verbot von
Streumunition. Streumunition wird durch Bomben, Artillerie oder Raketen verschossen, die über dem Ziel eine
große Menge von Submunitionsladungen verteilen und
großflächig zur Explosion bringen. Ein großer Teil der
verschossenen Submunitionen detoniert jedoch nicht
beim Aufschlag, sondern bleibt als Blindgänger am Boden liegen. Auch Jahre nach dem Ende von Kampfhandlungen stellen diese Blindgänger ähnlich wie Landminen
eine Gefahr für die Zivilbevölkerung dar. Sie verletzen
oder töten Menschen, wobei es sich besonders oft um
spielende Kinder handelt. Ferner lähmt die von Blindgängern ausgehende Angst den Wiederaufbau und verhindert die Nutzung von Landwirtschaftsflächen, Wohnflächen und Verkehrswegen. Diese schlimmen Folgen von
Streumunition rücken immer weiter in das Blickfeld der
aktuellen Abrüstungsdebatte. Um den schrecklichen humanitären Folgen von Streumunition zu begegnen, muss
endlich gehandelt werden. Aus diesem Grund hat sich die
FDP bereits im September 2006 für die umfassende Ächtung von Streumunition ausgesprochen. Daneben fordert
die FDP die Ächtung der verbliebenen Landminen, denn
trotz des Verbots von Antipersonenminen sind Antifahrzeugminen weiterhin erlaubt. Diese Minen verfügen über
eine weitaus größere Sprengkraft und gefährden weiterhin Zivilisten in Konfliktgebieten. Besonders zynisch ist,
dass auch Antifahrzeugminen, die mit einer sogenannten
Aufhebesperre versehen sind, erlaubt bleiben, obwohl
diese Aufhebesperre bewirkt, dass die Mine von einer
Person ausgelöst werden kann und somit wie eine Antipersonenmine wirkt. Die Bundesregierung macht sich
diese in der Ottawa-Konvention enthaltene semantische
Lücke zunutze, um auch an Antifahrzeugminen mit Aufhebesperre festzuhalten.
Neben den Liberalen legten im Herbst 2006 auch die
Koalitionsfraktionen von CDU/CSU und SPD einen Antrag zum Umgang mit Streumunition vor. Der Antrag der
Koalitionsfraktionen sah nur die Abrüstung von „für Zivilisten gefährlicher“ Streumunition mit einer Blindgängerrate von über einem Prozent vor. Dies sollte der Bundesregierung erlauben, an einem Teil der deutschen
Streumunition festzuhalten. Diese Unterscheidung ist
nicht sinnvoll, da auch Streumunition mit einer prozentual niedrigen Blindgängerrate aufgrund der meist außerordentlich hohen Zahl verschossener Submunitionssprengkörper zu einer großen Gefahr werden kann. Die
Bundesregierung stieß mit ihrem Konzept sowohl hier im
Parlament als auch in der Öffentlichkeit auf Kritik. Auch
wir Liberale haben diesen Ansatz von Regierung und Koalitionsfraktionen hier im Deutschen Bundestag wiederholt als unzureichend abgelehnt. Es ist erfreulich, dass
dieser Druck Wirkung gezeigt hat. Die Bundesregierung
will nun mittelfristig auch auf die von ihr bisher als ungefährlich eingestufte Streumunition verzichten, sobald
Alternativen zur Verfügung stehen, die die entstehende
Lücke im Ausrüstungsportfolio der Bundeswehr schließen können. Auch wenn diese alternativen Waffen heute
noch nicht einsatzbereit sind, zeichnet sich schon ab, dass
diese nicht zu der humanitär problematischen Blindgängerbelastung führen werden wie dies bei der Streumunition der Fall ist.
Der heute zur Debatte stehende Antrag der Grünen befasst sich mit dem sogenannten Oslo-Prozess zur Aushandlung eines umfassenden Verbotsabkommens für
Streumunition. Im Mai 2008 gehen diese Verhandlungen
Zu Protokoll gegebene Reden
bei einer Konferenz in Dublin in ihre entscheidende
Phase. Dabei geht es darum, möglichst viele Staaten zu
einem Verbot dieser Waffen zu bewegen. Es dürfen keine
Ausnahmen vom Verbot der Streumunition gemacht werden, die schwerwiegende humanitäre Folgen haben. Auf
der anderen Seite muss ein Abkommen auch die Wege zur
Verwendung von Waffen offenhalten, die eben nicht dieselben gravierenden Folgen für die Zivilbevölkerung nach
sich ziehen wie die bisher verwendete Streumunition. Sonst
werden wichtige Prozenten- und Nutzerstaaten von Streumunition dem Verbotsabkommen nicht beitreten. Wenn
aber hauptsächlich Staaten die Oslo-Konvention unterschreiben, die niemals nennenswerte Bestände an Streumunition besessen haben, wäre das Abkommen nur eine
symbolische Geste. Dies würde das Verbot von Anfang an
schwächen. Viel wird daher vom Geschick der an den Verhandlungen beteiligten Diplomaten abhängen.
Insgesamt unterstützt die FDP daher die Stoßrichtung
des vorliegenden Antrags der Grünen. Gleichwohl wird
bei den Beratungen im federführenden Ausschuss noch
über einige Formulierungen näher zu sprechen sein.
Es wäre zu begrüßen, wenn der Deutsche Bundestag
ein starkes Signal für die Ächtung von Streumunition setzen würde. Die Verhandlungen müssen rasch zu einem erfolgreichen Ende geführt werden. Dabei muss Deutschland einen konstruktiven Beitrag leisten. Eines ist klar:
Die Bundesregierung muss in den Verhandlungen endgültig von ihrem Kriterium einer Blindgängerrate von 1 Prozent abrücken. Langfristig wäre eine solche Ausnahme
kontraproduktiv und unterliefe ein umfassendes Verbot.
Es bleibt zu hoffen, dass möglichst viele Staaten der OsloKonvention am Ende beitreten werden. Die hohe Zahl der
unschuldigen Opfer dieser grausamen Waffen können wir
nicht akzeptieren. Das Beispiel der Ottawa-Konvention
stimmt optimistisch. So ist der Handel mit Antipersonenminen nahezu zum Erliegen gekommen. Es wäre
wünschenswert, wenn ein umfassendes Verbot von Streumunition den gleichen Effekt hätte. Die Verhandlungen in
Dublin werden hierfür entscheidend sein.
In gut einer Woche, am 19. Mai 2008, beginnt in Dublin eine elftägige Konferenz, deren Ziel das völkerrechtlich verbindliche Verbot von Streumunition ist. Ob die
Vertreter der Bundesrepublik Deutschland dabei eine
konstruktive Rolle spielen werden, ist zu bezweifeln. Der
Handlungsbedarf zu diesem Thema ist auf jeden Fall
nicht zu ignorieren. Streumunition verseucht heute in
mindestens 25 Staaten ganze Landstriche. Mehr als
100 000 Menschen fielen bis heute dieser brutalen Technologie zum Opfer. Für die Bevölkerung stellen die unzähligen Blindgänger noch lange nach kriegerischen
Auseinandersetzungen eine Bedrohung dar. Die Gefährdung für die Zivilbevölkerung entspricht der durch Landminen, denn der Einsatz von Streumunition richtet sich
unterschiedslos gegen militärische und zivile Ziele. Diese
unterschiedslose Gefährdung von Zivilisten und Kombattanten ist durch das Völkerrecht verboten. Streumunition
ist grausam und unmenschlich.
Die Bundesrepublik hat sich mit ihrem Acht-PunktePlan immer wieder faktisch als Bremser für eine verbindliche und umfassende Lösung betätigt. Um die Zivilbevölkerung zu schützen, reicht es definitiv nicht, wie von der
Bundesrepublik gefordert, nur ein Teilverbot gegen bestimmte Munitionstypen umzusetzen. Die Unterscheidung
zwischen „guter“ und „schlechter“ Streumunition ist zynisch und sorgt dafür, dass die Tabuisierung von Streumunition schwieriger wird. Zum Glück sind es nur einige
wenige Staaten, die glauben, dass ein Teilverbot älterer
Munitionstypen ausreicht, um inakzeptablen Schaden von
der Zivilbevölkerung abzuwenden. Nicht zufällig sind
dies vor allem die Hersteller- und Anwenderstaaten von
Streumunition. Leider gehört die Bundesrepublik zu diesen Staaten, die Hightech-Streumunition als für Zivilisten
ungefährliche Alternativwaffe bezeichnen. Die Haltung
der Bundesregierung ist aus humanitärer Sicht nicht
nachvollziehbar. Für die Regierung sind militärische
Überlegungen inklusive der Möglichkeit gemeinsamer
militärischer Operationen mit Armeen, die Streumunition
einsetzen, ganz offensichtlich die oberste Priorität.
Die Bundesregierung möchte durch ihren AchtPunkte-Plan angeblich andere Länder wie die USA oder
Russland, die Streumunition produzieren und einsetzen,
mit integrieren. Dass dieses Vorhaben gescheitert ist, hat
sich spätestens im November 2007 gezeigt, als sich die
Vertragsstaaten des UN-Waffenübereinkommens für ihr
weiteres Vorgehen bezüglich Streumunition nur auf einen
unverbindlichen Meinungsaustausch einigen konnten.
Es geht der Bundesregierung leider in erster Linie darum, Rüstungstechnologien zu schützen und nicht die betroffenen Menschen. Vertreter des Aktionsbündnisses
Landminen formulierten deswegen treffend:
Es wundert uns nicht, dass die deutsche Rüstungsindustrie die Politik der Bundesregierung ausdrücklich unterstützt.
Im Gegensatz zur unehrlichen und halbherzigen Haltung der Bundesregierung unterstützen weit über
100 Staaten ein umfassendes Verbot. Diese Forderung
nach einem vollständigen Verbot, ohne Ausnahmen und
ohne Übergangsfristen, müssen wir auch hier im Bundestag unterstützen. Die Parlamente in Österreich und Belgien haben bereits vorgemacht, dass dies möglich ist.
Die Fraktion Die Linke hat mit dieser Absicht einen eigenen Antrag eingebracht. Heute steht ein Antrag von
Bündnis 90/Die Grünen auf der Tagesordnung, dessen
Anliegen wir weitgehend teilen. Mit geringfügigen Details haben wir Probleme. Warum etwa soll die Vernichtung der Altbestände von Streumunition insgesamt vier
Jahr dauern? Bei entsprechendem politischem Willen
geht das deutlich schneller. Das Gesamtziel des GrünenAntrags, inklusive der Forderung nach einem Moratorium für den Einsatz und die Produktion von Streumunition, ist aber auf jeden Fall unterstützenswert.
Die Verhandlungen über ein völkerrechtlich verbindliches Verbot von Streumunition im Rahmen des Oslo-Prozesses gehen mit der Dubliner Konferenz vom 19. bis
Zu Protokoll gegebene Reden
30. Mai in die voraussichtlich letzte und entscheidende
Phase. Der endgültige Vertrag soll in Dublin beschlossen
und das rechtsverbindliche Verbotsprotokoll dann im Dezember 2008 in Oslo von den beteiligten Staaten gezeichnet werden. Deutschland kommt dabei eine Schlüsselrolle
zu. Der Erfolg des von Norwegen initiierten Oslo-Prozesses wird nicht zuletzt entscheidend vom konstruktiven
Verhalten der Bundesregierung abhängen.
Weit mehr als zwei Drittel der UNO-Staaten, inklusive
Deutschland, unterstützen den Oslo-Prozess. Deutschland wird jedoch zunehmend als Bremser im Oslo-Prozess wahrgenommen. Auf der Vorbereitungskonferenz im
Februar dieses Jahres in Wellington/Neuseeland haben
85 der 140 Oslo-Staaten die „Declaration of the Wellington Conference on Cluster Munitions“ für ein weltweites
Verbot von Streumunition gezeichnet. Dieser breite internationale Konsens ist beeindruckend und ein wichtiger
Meilenstein auf dem Weg für ein rasches und vollständiges internationales Verbot dieser unterschiedslosen und
grausamen Waffen.
Auch Deutschland hat sich der „Wellingtoner Erklärung“ angeschlossen. Das ist ausdrücklich zu begrüßen.
Eine Unterzeichnung der Erklärung durch die Bundesregierung wäre jedoch fast gescheitert. Der Bundesregierung geht ein vollständiges Verbot von Streumunition zu
weit. Einige wenige Staaten, darunter Deutschland,
Großbritannien und Frankreich, wollten den Verbotsentwurf auf der Wellingtoner Konferenz abschwächen und
Ausnahmen durchsetzen. Angelehnt an den Acht-PunktePlan der Bundesregierung zur Streumunition vom Juni
2006 hat die Bundesregierung mit einem Dreistufenplan
operiert, der Übergangsfristen und noch zu entwickelnde
Alternativmunition vorsieht. Die Bundesregierung plädiert dafür, zunächst nur „gefährliche“ Streumunition mit
hohen Blindgängerquoten und ohne Selbstzerlegungsmechanismus zu ächten. Abgesehen davon, dass es keine
„ungefährliche Streumunition“ gibt, will die Bundesregierung im Kern lediglich eine Modernisierung der
Streumunitionsbestände und eine Begrenzung der Einsatzbedingungen. Streumunition mit angeblich geringer
Fehlerquote oder auch Streuminen sollen vom Verbot
ausgenommen bleiben. Diese Ermächtigung werden wir
der Bundesregierung nicht erteilen. Im Gegenteil: Wir
wollen ein sofortiges Einsatzmoratorium und ein vollständiges Verbot ohne Ausnahmen und Übergangsfristen.
Die Bundesregierung argumentiert, dass der von ihr
vorgeschlagene Stufenplan geeignet sei, „den humanitären Schutz vor Streumunition effektiv zu verbessern, ohne
dabei militärische Realitäten zu ignorieren“. Das ist eine
humanitäre Augenwischerei, die auf der Konferenz in
Wellington erfreulicherweise von der überwiegenden
Mehrheit der beteiligten Staaten nicht geteilt wurde. Am
Ende haben auch diejenigen, die für eine Revision des
Vertragstextes eingetreten waren, diesen unverändert gezeichnet, ihre Vorbehalte jedoch in den Anhang der Erklärung aufnehmen lassen. Damit ist klar, dass Deutschland weiterhin für einen abgeschwächten Vertragstext
eintreten wird. Das wollen wir der Bundesregierung nicht
durchgehen lassen. Ich frage mich: Welchen Schutz hat
die Bundesregierung eigentlich konkret vor Augen? Auch
technisch modernisierte Streumunition mit einer Blindgängerrate von unter 1 Prozent stellt eine permanente
tödliche Gefahr und Bedrohung für die betroffene Zivilbevölkerung dar. 98 Prozent aller registrierten Opfer von
Streumunition sind laut Nichtregierungsorganisationen
Zivilisten. Die Gefährlichkeit und Heimtücke dieser Waffen ändert sich auch dann nicht, wenn nur noch Streumunition mit angeblich geringer Fehlerquote eingesetzt
wird. Jede Berührung mit Streumunition kann tödlich
sein. Die Unterscheidung zwischen angeblich „gefährlicher“ und „ungefährlicher“ Streumunition kann kein
Ausweg sein. Ein Verbot muss sich an den Wirkungen und
nicht an technischen Bezeichnungen dieser Waffen orientieren.
Der Stufenansatz sei außerdem, so wurde von der Bundesregierung gesagt, geeignet, diejenigen Staaten mit
großen Streumunitionsarsenalen, wie die USA, China und
Russland, in den Verbotsprozess einzubinden. Diese Staaten lehnen eine Teilnahme am Oslo-Prozess ab. Ihre Politik ist ein Abrüstungshindernis sondergleichen. Ich
glaube aber nicht, dass man deren Verweigerungshaltung
durch Verwässerung aufweichen kann. Hier bricht das
weiche Wasser nicht den Stein. Hier ist vielmehr der Argumentation des ehemaligen Leiters des Planungsstabs
im Verteidigungsministerium, Franz H. U. Borkenhagen,
zu folgen, der am 19. April 2008 in der Süddeutschen Zeitung davor warnte, dass „militärische Erbsenzählerei zu
einem Scheitern der Verhandlungen“ führen könne.
„Eine eingehende militärische Beurteilung würde schnell
zu dem Schluss kommen, dass es einen Bedarf an dieser
Munition nicht gibt. ({0}) Verhandlungen über das Verbot
von Streumunition würden einen ungeheuren Schub erhalten, wenn es gelänge, mit einem einseitigen und sofortigen Verzicht einzelner oder mehrerer Staaten ein politisches Signal zu setzen. ({1}) Deutschland könnte jetzt ein
Zeichen setzen, dass es der Bundesregierung mit ihren
Bemühungen um Rüstungskontrolle ernst ist. Die Bundesregierung sollte ein Moratorium verkünden, das vorsieht,
nicht nur auf den Gebrauch, sondern auch die Produktion
von sowie auf den Handel mit Streumunition zu verzichten.“
Belgien und Österreich haben ein vollständiges Verbot
von Streubomben beschlossen. Sie haben ebenso wenig
wie Norwegen Bedenken, dass eine Vertragszeichnung
für ein vollständiges Verbot von Streumunition ihre internationalen Verpflichtungen im Rahmen der NATO und
EU entgegenstehen könnten.
Der Acht-Punkte-Plan der Bundesregierung zur Streumunition ist durch die internationale Entwicklung längst
überholt worden. Mehr als 100 Staaten unterstützen mittlerweile die Forderung nach einem umfassenden Verbot
von Streumunition. Inzwischen rumort es auch in den Reihen der Abgeordneten der Regierungskoalitionen. Einige
von ihnen möchten, dass die Bundesregierung ihre starre
Haltung in der Streumunitionspolitik aufgibt, und fordern
ein Einsatzmoratorium für Streumunition. Das weist in
die richtige Richtung.
Wir werden unseren Antrag in die Ausschussberatungen überweisen. Wir wollen, dass das Thema weiter im
Bundestag diskutiert wird. Ich finde, wir sollten als Abgeordnete des Deutschen Bundestages unsere parlamentaZu Protokoll gegebene Reden
rische Eigenverantwortung tragen und klar Farbe bekennen. Mit unserem Antrag liegt der Ball nun im Spielfeld
des Bundestages. Bis zur Dubliner Konferenz ist noch
Zeit, um die Bundesregierung dazu zu bewegen, ihre
Bremserhaltung im Verbotsprozess aufzugeben und alles
dafür zu tun, dass die Entwicklung, die Herstellung und
der Einsatz jeglicher Streumunition endlich der Vergangenheit angehört. Eine vollständige internationale Ächtung von Streumunition ist überfällig! Vielen Dank.
Ich kann mich nicht entsinnen, eine meiner bisherigen
Reden mit einem Lob für die Regierungsfraktionen eingeleitet zu haben. Aber beim Thema Streumunition erleben
wir erfreulicherweise so etwas wie einen zaghaften Ansatz von Revitalisierung des Parlaments. Das kann ich
nur begrüßen und hoffen, dass dies keine Eintagsfliege
bleibt. Denn allzu oft hatte nicht nur ich Anlass, die unkritische Übernahme von Regierungspositionen durch
die Mehrheitsfraktionen zu beklagen. Deswegen will ich
hier ausdrücklich den Kollegen Weigel und von
Guttenberg beipflichten, die sich mit der bisherigen Haltung der Bundesregierung zu einem internationalen Abkommen über ein umfassendes Verbot von Streumunition
nicht abfinden wollen. So entnehme ich das jedenfalls der
Presseberichterstattung.
Die Bundesregierung versucht zwar den Eindruck zu
erwecken, als habe sie sich an die Spitze dieses Teilabrüstungsprozesses gesetzt und lässt auf der Homepage des
Auswärtigen Amtes titeln:
Bundesregierung setzt sich für umfassendes Verbot
von Streumunition ein.
Liest man jedoch ihre sogenannte Acht-Punkte-Position zu Streumunition, wird schnell deutlich, dass sie bei
diesem Thema tatsächlich zu den Bremserstaaten gehört.
Offensichtlich haben sich nämlich die militärischen Argumente durchgesetzt; denn der Bundesaußenminister
hat die vom Führungsstab der Streitkräfte geschriebene
Punktuation eins zu eins übernommen. Schaut man beispielsweise in die Nr. 5 dieses Papiers, wird deutlich,
dass die Luftwaffe erst nach Ende der Nutzungsdauer des
Waffensystems Tornado auf Streumunition verzichten
will. Das ist also deutlich jenseits des Jahres 2020, kurz
vor dem Sankt-Nimmerleins-Tag sozusagen. Oder: In der
Nr. 4 steht, „langfristig“ soll geprüft werden, ob noch
vorhandene Streumunition durch alternative Wirkmittel
ersetzt werden kann. Was hat denn eine solche Wischiwaschi-Formulierung mit der Ankündigung eines „umfassenden“ Verbotes zu tun? Die Antwort kann sich wohl jeder selber geben.
Es kann bei dieser Munition auch nicht darum gehen,
einen völkerrechtlichen Disput über ihre Zulässigkeit zu
führen; das ist ein Streit um des Kaisers Bart und führt
überhaupt nicht weiter. Die Fakten liegen doch auf dem
Tisch und sprechen eine eindeutige Sprache: Streumunition trifft wegen ihrer Charakteristik überwiegend unbeteiligte Zivilisten und bleibt noch Jahrzehnte nach ihrem
Einsatz eine Dauergefahr für die Bewohner des Einsatzlandes, besonders für die Kinder. In Afghanistan erfahren
das unsere Soldaten doch jeden Tag!
Deswegen gibt es hier nur eine Lösung: ein sofortiges
Moratorium für die Verwendung, Lagerung, Herstellung,
Verbringung und Ausfuhr von Streumunition, wie es die
Resolution des Europäischen Parlaments vom 28. Oktober 2004 fordert. Auch der von der Bundesregierung favorisierte vermeintliche Königsweg, mit technischen Lösungen die Blindgängerrrate auf 1 Prozent zu begrenzen,
ist ein Irrweg, für den weitere Unschuldige weltweit zu
büßen hätten. Um das am Beispiel des Libanonkriegs im
Jahr 2006 zu erläutern: Wäre diese vorgebliche Hightech-Munition in gleicher Menge eingesetzt worden, hätte
es immer noch 40 000 Blindgänger gegeben.
Wir sollten uns hingegen an den Parlamenten Belgiens
und Österreichs ein Beispiel nehmen, die Gesetze zum
umfassenden Verbot von Streumunition verabschiedet haben, um den Abschluss eines internationalen Verbotsvertrags zu beschleunigen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/8909 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainder
Steenblock, Undine Kurth ({0}),
Cornelia Behm, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Einführung eines Europäischen Tags der
Meere
- Drucksache 16/8213 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Auch diese Reden sollen zu Protokoll genommen
werden. Es handelt sich um die Reden der Kollegen
Bernhard Kaster, CDU/CSU, Holger Ortel, SPD,
Angelika Brunkhorst, FDP, Eva Bulling-Schröter, Die
Linke, sowie Rainder Steenblock, Bündnis 90/Die Grünen.
Der vorliegende Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen bietet Gelegenheit, die Bedeutung der Meerespolitik für den Schutz der Umwelt sowie den verantwortungsvollen Umgang mit den ökonomischen Ressourcen
der Meere vertieft in den Blick zu nehmen. Denn von einem Grundsatz müssen wir ausgehen: Aus dem Meer
kommt im sprichwörtlichen Sinne das Leben. Ohne ein
gesundes maritimes Ökosystem ist das Leben auf unserem
blauen Planeten - unserem blauen Planeten - schlicht
unmöglich.
Der Antrag der Grünen ist sicherlich gut gemeint; freilich, gut gemeint genügt oft nicht. So auch hier: Die Bundesregierung folgt längst dem Grundanliegen dieses Antrags, den Meeren verstärkt politische Aufmerksamkeit zu
widmen. Bereits im vergangenen Jahr, während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft, sind mit der „Bremer Erklärung zur Zukunft der Meerespolitik in der EU“
wesentliche Impulse für eine integrierte Meerespolitik gegeben worden. Inzwischen hat auch die Europäische
Kommission eine Mitteilung zur integrierten Meerespolitik der EU vorgelegt, die eine Reihe von bedenkenswerten
Anstößen enthält. Zugleich gilt es, von deutscher Seite an
der mit der „Bremer Erklärung“ eingeleiteten Fortentwicklung einer integrierten und in sich stimmigen Politik
für die Zukunft unserer Meere weiter zu arbeiten.
Das Bewusstsein für die Gefährdung der Weltmeere
wie auch die Chancen, die sie bieten, betrifft uns Deutsche als Anrainer von Nord- und Ostsee ganz konkret. Angesichts eines im globalen Vergleich kleinen, aber etwa
mit Blick auf das Ökosystem Wattenmeer besonders verletzlichen Teils der Meere ist gerade an unseren Küsten
stets ein waches Bewusstsein für den Lebensraum Meer
vorhanden gewesen. Die Menschen vor Ort, die Bewohner der Küste, sind seit Jahrhunderten mit dem Meer in
all seiner Schönheit, zugleich jedoch auch all dem Schrecken seiner immer wieder spürbaren Naturgewalten aufgewachsen. Alle politischen Maßnahmen, die wir von nationaler Seite wie auch auf europäischer Ebene ergreifen,
sollten daher stets auf die aktive Kooperation der Küstenbewohner setzen, auf ihr unvergleichliches Erfahrungswissen zurückgreifen. Dazu gehören nicht zuletzt auch die
Fischer, die das Meer als täglichen Arbeits- und Lebensraum so gut wie kaum jemand sonst kennen.
Leider ist es freilich auch wahr: Manche Exzesse in
der Fischerei führen zu erheblichen ökologischen Schäden und ökonomischen Problemen bei der Nutzung der
Meere - ich nenne nur das Stichwort Überfischung. Dennoch sollten wir uns hüten, gleich alle Fischer per se unter Generalverdacht zu stellen und ihnen die Sensibilität
für die Belange des Schutzes der Meere abzusprechen.
Gesetze und Verordnungen, auch die Kontrolle bei der
Verfolgung von Verstößen, sind das eine; gemeinsame
Kooperation, Beachtung regional gewachsener Strukturen, die Zusammenarbeit mit den Nutzern der Meere vor
Ort, an den Küsten und in der Fischerei, müssen andererseits genauso Teil einer integrierten Meerespolitik sein.
Beispielhaft für den Beitrag insbesondere der deutschen Fischereiwirtschaft nenne ich etwa deren Engagement in Bezug auf Ökozertifikate für Fischprodukte.
Deutschland gehört inzwischen zu den Ländern mit dem
höchsten Anteil ökozertifizierter Fischprodukte; im Laufe
dieses Jahres wird voraussichtlich die Seelachsfischerei
der Erzeugerorganisation Nordsee als erste deutsche Fischerei nach den Kriterien des „Marine Stewardship
Council“ zertifiziert und damit demonstrieren, dass ökonomische Nutzung der Meere keineswegs gegen die umweltbewusste Bewahrung des maritimen Naturerbes verstoßen muss.
Meere zu schützen und Meere zu nützen: Das ist aus
meiner Sicht eben kein Widerspruch. Dies wird dann kein
Widerspruch sein, wenn es uns gelingt, in gemeinsamer
Anstrengung die Politik der deutschen Küstenländer vor
Ort, die Politik der Bundesregierung, Impulse der europäischen Ebene wie auch die globale Zusammenarbeit im
Rahmen der Vereinten Nationen noch stärker als bislang
zu koordinieren und zu intensivieren. Alles Leben beginnt
im Meer; es ist unsere gemeinsame Aufgabe, dafür zu sorgen, dieses Leben in seiner vielfachen Gefährdung zu
schützen, damit es uns auch in Zukunft nützen kann.
„Nachhaltige Meerespolitik beginnt in den Köpfen der
Menschen“. So oder so ähnlich können wir die Notwendigkeit eines Europäischen Tages der Meere auf einen
Nenner bringen. Dem stimme ich zu.
Bislang weiß der Großteil der Bevölkerung kaum etwas von unseren Meeren. Nur die Wenigsten kommen wie
ich von der Küste. Dabei ziehen wir alle einen unermesslichen Nutzen aus unseren Meeren, nicht nur aus Nordund Ostsee. Die Meere beeinflussen unseren Speiseplan,
unser Wetter, unsere Gesundheit und unsere Energieversorgung.
Sie bieten jedes Jahr Millionen Touristen Erholung.
Große Teile der Wertschöpfung an der Küste finden im
Tourismus statt. Wir können es uns also gar nicht leisten,
auf die Meere nicht achtzugeben; aber das tun wir ja auch
nicht. Was wir aber tun müssen, ist, die Bevölkerung für
unsere Meere zu sensibilisieren. Deshalb begrüße ich es
außerordentlich, dass Europäisches Parlament, Europäische Kommission und der Rat der Europäischen Union
die Einführung eines Europäischen Tags der Meere beschlossen haben, auch wenn der 8. Juni bereits der weltweite Tag des Meeres ist.
Dieser Tag soll das Bewusstsein für unsere Meere in
der Bevölkerung schärfen. Bislang hört die öffentliche
Wahrnehmung nämlich meist an der Basislinie auf. Und
was unterhalb der Wasseroberfläche passiert, ist den
meisten mehr oder weniger unbekannt. In Gesprächen
merke ich immer wieder, dass viele nur gerade so viel wissen, wie täglich durch die Presse geht. Diese Darstellungen sind aber in der Regel verkürzt und wenig sachlich.
Ein Bild davon, was im Meer wirklich passiert, kann man
sich durch solche Informationen nicht machen. Deshalb
müssen wir davon wegkommen und den Menschen die
Meere nahebringen. Die Menschen müssen das Meer erfahren. Heute reicht es meist, im Supermarkt an die Kühltruhe zu gehen und sich sein Mittagessen auszusuchen.
Selbst fangen oder ausnehmen muss man den Fisch schon
lange nicht mehr. Wo das Seelachsfilet aber eigentlich
herkommt, weiß heute kaum noch einer. Das ist ja beim
Schweinefleisch oder der Milch nicht anders.
Das heißt übrigens nicht, dass niemand weiß, was
heute in den Meeren passiert. Alle diejenigen - an Universitäten und Verwaltungen, in Brüssel und auch im
Deutschen Bundestag -, die sich schon viele Jahre mit
diesem Thema beschäftigen, haben Enormes für den Erhalt und die Verbesserung des guten Zustandes der Meere
erreicht. Selbstverständlich gehen die Ansichten je nach
Branche ein wenig auseinander. Aber insgesamt ist ein
enormes Wissen vorhanden.
Zu Protokoll gegebene Reden
Ich möchte an dieser Stelle nur grob skizzieren, was
wir in den letzten Jahren alles für die Meere getan haben.
Die Seeschifffahrt ist sicherer geworden - ich möchte
hier nur Doppelhüllentanker ansprechen -, die Schadstoffeinträge wurden verringert, die Eutrophierung ebenfalls. Die sehr oft - häufig zu Unrecht - gescholtene Fischerei unternimmt große Anstrengungen, ihre Tätigkeit
noch nachhaltiger zu gestalten. Projekte zur Vermeidung
von Discards, Ökozertifizierung, Maßnahmen zu verbesserter Kontrolle und gegen illegale Fischerei, auf allen
Ebenen werden enorme Anstrengungen unternommen.
Aber die Möglichkeiten sind noch längst nicht ausgeschöpft. Innovative Techniken zur Reduzierung von
Schadstoffemissionen, die Nutzung regenerativer Energien an Bord von Schiffen, die landseitige Energieversorgung von im Hafen liegenden Schiffen, die Reduktion
der schifffahrtsverursachten Schwefel- und CO2-Emissionen - es gibt noch viel zu tun. Wir müssen mit dem
technologischen Fortschritt auch den ökologischen Zustand des Meeres durch nachhaltigen Schiffbau- und betrieb beachten.
Die Kommission hat mit dem „Grünbuch Meerespolitik“ den Aufschlag zu einer integrierten Meerespolitik gemacht und den 20. Mai zum Tag des Meeres erklärt. Wir
brauchen unbedingt einen ganzheitlichen Ansatz, der die
verschiedenen Bereiche der Nutzung der Meere zu koordinieren vermag. Dazu gehört auch eine Raumplanung
auf dem Meer. Schon heute haben wir enorme Nutzungskonflikte zwischen verschiedenen Nutzungsformen: Fischerei, Offshorewindparks, Ölplattformen, Schutzgebiete. Alle aufgezählten und noch einige weitere
konkurrieren um den Raum auf See. Über die Raumplanung muss ein Weg gefunden werden, all diese Nutzungsformen zu vereinen, ohne eine auszuschließen.
In den Meeren existiert ein enormes Wachstumspotenzial. Unsere Werften haben wieder Aufträge für die
nächsten 15 Jahre. Im Schiffbau stehen wir weltweit an
vierter Position mit Umsätzen von über 6 Milliarden
Euro. Ganze Regionen sind zu großen Teilen vom Schiffsbau abhängig - direkt oder indirekt. Auf den Wasserstraßen und auf See nimmt die Anzahl der Containerschiffe
stetig zu. Das können wir nur begrüßen; denn wir brauchen die Wertschöpfung an unseren Küsten. Schon heute
ist die maritime Wirtschaft einer der Eckpfeiler der europäischen Volkswirtschaft. Auch Deutschlands Rolle als
Exportweltmeister ist von der maritimen Wirtschaft abhängig.
Die Schifffahrt boomt wie seit Jahren nicht mehr. Unsere Seehäfen werden ausgebaut, oder es entstehen sogar
neue. Leider hat das auch negative Auswirkungen durch
den zunehmenden Verkehr. Wir alle kennen die Bilder der
verunglückten Frachter „Pallas“ oder „Erika“ und die
verheerenden Folgen für die Umwelt.
Aber der Nutzen wird gewaltig sein. Ein einziges Containerschiff kann Hunderte Lastwagen ersetzen und Platz
auf deutschen Straßen schaffen. Eine große Anzahl von
Arbeitsplätzen entsteht hier und Zulieferer im weiten Umkreis werden davon profitieren. Die Hafenwirtschaft
wächst stetig. Sie wird dieses Jahr rund 300 Millionen
Tonnen in Deutschland umschlagen. In der Hafenwirtschaft sind unmittelbar und mittelbar rund 300 000 Menschen beschäftigt. Die Infrastruktur hin zu den Häfen
wird massiv ausgebaut. Ich sehe das bei mir im Wahlkreis.
Viel lesen können wir auch jeden Tag über die Auswirkungen des Klimawandels und die Erwärmung der
Meere. Zu beobachten ist die Erwärmung auch an der
Wanderung von Fischschwärmen. Der Kabeljau wandert
immer weiter Richtung Norden hin zu kälteren Gewässern. Konnte man vor hundert Jahren in der Nordsee
noch Thunfisch angeln, kann man vielleicht bald Sardinen fangen. In der Themsemündung tummeln sie sich
schon.
Abschließend möchte ich darauf hinweisen, dass ich
diesem Antrag große Sympathien entgegenbringe. Die
Meere sind dermaßen wichtig, dass wir alles unternehmen sollten, die Meere stärker in das Bewusstsein der
Menschen zu bringen. Ich halte allerdings nicht allzu viel
davon, diesen Tag hier im Deutschen Bundestag zu beschließen. Ein Tag des Meeres wird doch ausgefüllt von
den Menschen vor Ort. Wenn man von jetzt auf gleich einen solchen Tag veranstaltet, wird er keine Wirkung erzielen. Vielmehr muss sich dieser Tag über die Jahre entwickeln. Das kann nur eine Entwicklung über mehrere
Jahre sein. Sie können auch nicht das Bewusstsein der
Menschen von jetzt auf gleich verändern. Im Ausschuss
werden wir über die Umsetzung zu beraten haben. Ob die
Mehrheiten für diesen Antrag ausreichen, vermag ich an
dieser Stelle nicht zu sagen.
Das Ziel des Antrags zur Einführung des Europäischen Tags der Meere auch in Deutschland ist es, die
Sichtbarkeit der maritimen Sektoren zu stärken und so
den Blick der Bürgerinnen und Bürger auch in Deutschland auf maritime Angelegenheiten zu lenken und ihr Bewusstsein dafür zu schärfen.
Auf europäischer Ebene soll der Tag der Meere dieses
Jahr am 20. Mai erstmals begangen werden. Übrigens ist
die sogenannte Dreiererklärung am 14. Dezember 2007
nicht verabschiedet worden, wie es im Antrag heißt. Das
soll erst mit Unterzeichnung durch den Kommissionspräsidenten, den Parlamentspräsidenten und die slowenische Präsidentschaft am 20. Mai 2008 in Straßburg geschehen.
Der Europäische Tag der Meere soll die maritime Gemeinschaft Europas zusammenbringen. Die Rolle der
Meere und Ozeane und die zur See gehörenden Sektoren
sollen besser sichtbar gemacht und deren Bedeutung für
das tägliche Leben stärker ins Bewusstsein der Menschen
gerufen werden. Die Ankündigung des Europäischen
Tags der Meere soll also Aufmerksamkeit auf maritime
Belange richten.
Anlässlich des Tags der Meere findet dieses Jahr vom
19. bis 20. Mai in Brüssel eine Konferenz der Interessengruppen statt. Schwerpunkte der Konferenz sind die regionale Gestaltung und Umsetzung der Meerespolitik und
der Dialog mit Interessenvertretern. Jährlich sollen jene
ausgezeichnet werden, die zur Verbesserung der SichtZu Protokoll gegebene Reden
barkeit und des Images der maritimen Sektoren beitragen; es soll einen Jahresbericht über Fortschritte in maritimen Angelegenheiten sowie spezifische Kampagnen
zur Steigerung der Sensibilität für maritime Themen und
die Organisation einer Reihe von Veranstaltungen geben,
die Netzwerke bewährter Praktiken vereinen. Ein weiteres Ziel ist es, Verbindungen zwischen Einrichtungen zur
Pflege des maritimen Erbes, Museen und Aquarien für einen Erfahrungsaustausch zusammenzubringen. All diese
Aktionen sollen verbunden werden und im selben Zeitraum stattfinden, um so optimale Sichtbarkeit und Medienberichterstattung zu gewährleisten. Die EU-Kommission sieht sich in der Rolle eines Moderators und hofft
darauf, dass sich andere EU-Institutionen, Mitgliedstaaten und weitere Akteure diese jährliche Veranstaltung zu
eigen machen.
Die Bewusstseinsbildung gerade auch für maritime
Angelegenheiten, vom Schiffbau über Fischerei und ökologische Fragen bis hin zum Tourismus, ist sicherlich ein
berechtigtes Anliegen, das ich als Abgeordnete aus Niedersachsen grundsätzlich unterstütze. Ich frage mich allerdings, ob es Aufgabe gerade der deutschen Bundesregierung ist, ein Konzept vorzulegen, wie mit einem
Europäischen Tag der Meere ein Bewusstsein für das maritime Erbe auch auf europäischer Ebene geschaffen werden kann, wie dies im Antrag unter Ziffer 2 gefordert
wird. Darüber werden wir in den Ausschüssen beraten.
Um es kurz zu machen: Die Linksfraktion begrüßt den
Vorschlag der Europäischen Kommmission, des Rates
und des EU-Parlaments. Ein Europäischer Tag der
Meere, der festlich begangen wird, könnte dazu beitragen, ein Bewusstsein für das gemeinsame maritime Erbe
zu schaffen.
Ein solches Bewusstsein wäre auch mehr als notwendig. Schließlich ist die Bilanz der menschlichen Eingriffe
in die Meereswelt katastrophal. In den letzten hundert
Jahren sind die Bestände vieler Fischarten um fast
90 Prozent zurückgegangen, so schätzen Wissenschaftler.
Weil sich das Ganze jedoch fernab und unter der Wasseroberfläche abspielt, wird es für viele Menschen wenig
greifbar. Das ist beispielsweise beim Waldsterben anders.
Lichte Kronen und Mittelgebirge mit Baumstümpfen sind
sichtbar. Sie haben viele Bürgerinnen und Bürger für den
„Sauren Regen“ und Luftschadstoffe sensibilisiert.
Der öffentliche Druck war es vor allem, der zur Verschärfung der entsprechenden Grenzwerte für Industrieund Verbrennungsanlagen geführt hat.
Und genau solch ein öffentlicher Druck für den Schutz
der Meere fehlt, wenn ich mal von Walen und Delfinen absehe. Kabeljau, Sprotte und Thunfisch haben keine
Lobby. Sie werden gnadenlos überfischt.
Dabei geht es nicht nur um den Artenschutz, sondern
- wie beim Klimaschutz - auch um Solidarität. Denn
während Millionen Tonnen wertvoller Meerestiere als
Beifänge ungenutzt und tot über Bord gehen, sitzen Millionen von Küstenbewohnern in Afrika vor leeren Tellern.
Die Trawler der Industriestaaten saugen ihnen die Meere
leer. Legal und illegal.
Es geht aber nicht nur um Fische. Das Ökosystem
Meer als Ganzes zu begreifen und endlich behutsam zu
nutzen - das ist die eigentliche Aufgabe, die vor der
Menschheit steht. Schließlich sind die Ozeane neben der
Überfischung auch durch organische Überfrachtung und
Schadstoffeinträge bedroht. Die Überdüngung der Flüsse
aus der Landwirtschaft führt in den Meeren zu gefürchteten Algenblüten. Schwermetalle und hormonelle Stoffe,
neuerdings auch nukleare Belastungen, reichern sich in
den Organismen an. Zunehmend wird auch Lärm zu einem Problem, insbesondere für Großsäuger.
Wie mangelhaft die europäische Meeresschutzpolitik
ist, zeigen Grünbuch und Bluepaper der EU-Kommission
genauso wie die Entwicklung der europäischen Meeresschutzrichtlinie. Die Gesetzgebung und die Zuständigleiten in Bezug auf den Meeresschutz bleiben zersplittert.
Ein ganzheitlicher ökosystematischer Ansatz ist nicht erkennbar. Die Ozeane werden vorrangig als Wirtschaftsgut betrachtet.
Meeresschutz ist aber deutlich mehr, als konkurrierende Nutzungsansprüche aus Fischerei, Bergbau, Seefahrt und Tourismus abzugleichen.
Abschließend ein Blick nach vorn, der zeigt, dass moderner Meeresschutz und Meeresnutzung sich auch gegenseitig befruchten können. In Neuseeland waren die
Fischer einst die stärksten Gegner, als es darum ging,
Schutzgebiete einzurichten. Nunmehr gehören die
Fischer zu den Verteidigern dieser ökologischen Oasen.
Die dort rasant anwachsenden Bestände wandern nämlich aus den Schutzgebieten aus und füllen wieder die
Netze.
Greenpeace und andere fordern seit langem, auch in
anderen Teilen der Welt Meeresschutzgebiete einzurichten, in denen Fischerei und Rohstoffabbau verboten werden. Konkrete Vorschläge gibt es für Nord- und Ostssee
sowie für die außereuropäischen Meere.
Vielleicht kann ein „Europäischer Tag der Meere“
dazu beitragen, solche Visionen Wirklichkeit werden zu
lassen.
In der EU leben 40 Prozent der Bürgerinnen und Bürger in küstennahen Gebieten, wo fast die Hälfte des Bruttoinlandsprodukts erwirtschaftet wird. Wohlstand und Lebensqualität in der Europäischen Union sind direkt mit
dem Meer verbunden. Das gilt nicht nur für die Gebiete
nahe der Küste, sondern weit darüber hinaus.
Die Bedeutung der Meere liegt auch in ihrer Funktion
als Handels- und Transportrouten, Klimaregulierer und
Lebensraum für Tiere und Pflanzen. Wir alle haben die
Verantwortung, unser maritimes Erbe zu schützen und zu
erhalten. Doch der enorm steigende Schiffsverkehr, unsichere Öltanker, Überfischung, Überdüngung und vieles
mehr gefährden dieses Erbe.
Die Europäische Union hat mit dem Blaubuch zur Europäischen Meerespolitik und noch mehr mit der MeeresZu Protokoll gegebene Reden
strategie-Richtlinie erste Weichen zum Schutz der Meere
gestellt. Nun will die EU mit einem „Europäischen Tag
der Meere“ am 20. Mai jedes Jahres das Bewusstsein für
das maritime Erbe Europas schärfen. Wir von
Bündnis 90/Die Grünen unterstützen diesen Vorschlag
und fordern die Bundesregierung in unserem Antrag auf,
den Europäischen Tag der Meere am 20. Mai zu feiern.
Uns ist aber auch klar, dass der Tag der Meere nur der
Auftakt für weitere Initiativen sein kann. Wir brauchen
ein langfristiges Konzept, wie das Bewusstsein für das
maritime Erbe auf deutscher und europäischer Ebene
über die Küstenregionen hinaus gestärkt werden kann.
Darüber hinaus müssen auch Nicht-EU-Mitglieder in die
Feierlichkeiten einbezogen werden, wie Russland und die
Anrainer des Schwarzen Meeres und des Kaspischen
Meeres.
Denn unsere Meere bieten uns die Möglichkeit für
mehr regionale Kooperation. Die Ostsee ist eine zentrale
Handelsroute nach Osteuropa. Das Schwarze Meer und
das Kaspische Meer werden als Energietransitrouten und
Handelswege immer wichtiger. Daher sollten wir nicht
nur auf die Ostseekooperation schauen, sondern auch die
Kooperation mit den Anrainern des Schwarzen Meeres
und des Kaspischen Meeres stärken.
Wir dürfen uns nicht ausschließlich auf die Nutzung
der Meere konzentrieren. Besonderes Augenmerk müssen
wir auch auf den Schutz der Meere richten; denn ohne
Schutz keine Nutzung. Der Beschluss der Internationalen
Schifffahrtsorganisation, Schweröl in Schiffstreibstoffen
ab dem Jahr 2020 zu verbieten und nur noch schwefelarme Treibstoffe zuzulassen, ist ein wichtiger Beitrag für
mehr Meeresschutz. Für Nord- und Ostsee gelten sogar
noch höhere Standards. Hier ist noch Potenzial, dem Ziel
eines sauberen Schiffsverkehrs mit technischen Innovationen wie alternativen Antrieben ein Stück näher zu kommen. Darüber hinaus muss der Schiffsverkehr in den
Handel mit Emissionsrechten einbezogen werden. Weitere Forderungen können Sie in unserem Antrag nachlesen, den wir bereits Ende vergangenen Jahrs eingebracht
haben.
Ein ökologisch wie politisch fragwürdiges Projekt ist
die geplante Ostseepipeline. Insbesondere Polen und die
baltischen Staaten befürchten, dass Russland die Pipeline
als politisches Druckmittel missbrauchen und sie von der
Energieversorgung abschneiden könnte. Darüber hinaus
wachsen bei den Ostseeanrainern die ökologischen Bedenken angesichts mehrerer Hunderttausend Tonnen Munitionsaltlasten auf dem Grund der Ostsee - zu Recht,
denn auf dem Grund von Nord- und Ostsee liegen über
500 000 Tonnen konventioneller Munition und Kampfstoffe. Die Altlasten wurden zum Ende des Zweiten Weltkriegs von den USA, Großbritannien, der Sowjetunion
und der deutschen Marine versenkt. Noch heute gelangen
Munition und Blindgänger in die Meere, wenn Bundeswehr- und NATO-Verbände die Küstengewässer als Einsatzgebiete nutzen. Minen, Torpedos, Bomben und Granaten gefährden Strandbesucher, Fischer, Wassersportler
sowie Meerestiere- und -pflanzen. Von Hinweisschildern
an gefährdeten Stränden bis hin zur Klärung der Zuständigkeiten brauchen wir klare Regelungen. Wir Grüne haben hierzu einen Antrag in den Bundestag eingebracht.
Tonnenweise Plastikmüll gefährdet Seevögel und Meerestiere und macht Meere und Strände zu Mülldeponien.
Die Bundesregierung scheint sich für dieses wachsende
Problem nicht sonderlich zu interessieren. „Nichts hören,
nichts sehen, nichts wissen“ - so liest sich die Antwort auf
unsere Kleine Anfrage.
Ein Europäischer Tag der Meere ist ein deutliches Signal für die Glaubwürdigkeit der deutschen wie der
Europäischen Meerespolitik. Lassen Sie uns dieses Signal
am 20. Mai gemeinsam setzen. Die Parlamentarische
Staatssekretärin im Bundesverkehrsministerium, Karin
Roth, hat den Vorschlag eines Europäischen Tags der
Meere beim gestrigen Nautischen Abend aufgegriffen.
Ich freue mich über die Unterstützung durch die Parlamentarische Staatssekretärin und werbe bei allen Fraktionen um Zustimmung zu unserem Antrag zur Einführung eines Europäischen Tags der Meere.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/8213 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 9. Mai 2008, 9 Uhr,
ein.
Die Sitzung ist geschlossen.