Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Ich begrüße Sie herzlich.
Der Kollege Karl Diller hat am 27. Januar seinen
65. Geburtstag gefeiert.
({0})
Herr Kollege Diller, Herr Staatssekretär, im Namen des
ganzen Hauses gratuliere ich Ihnen zu Ihrem Geburtstag
nachträglich sehr herzlich. Alles Gute!
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene
Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte Pothmer,
Irmingard Schewe-Gerigk, Markus Kurth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN:
Ergebnisse der wissenschaftlichen Auswertung der HartzGesetze I bis III konsequent umsetzen
- Drucksache 16/547 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Laurenz Meyer
({2}), Ilse Aigner, Veronika Bellmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Rainer Wend, Christian Lange ({3}), Ludwig
Stiegler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD:
Neue Impulse für den Mittelstand
- Drucksache 16/557 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({4})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans Josef Fell,
Matthias Berninger, Anja Hajduk, Christine Scheel,
Dr. Gerhard Schick, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: ERP-Sondervermögen in seiner Vermögenssubstanz erhalten
- Drucksache 16/548 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({5})
Finanzausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
ZP 4 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der LINKEN:
Haltung der Bundesregierung zu den sozialen Auswirkungen der Erhöhung des gesetzlichen Renteneintrittsalters
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Gisela Piltz,
Dr. Max Stadler, Birgit Homburger, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP: Kein zusätzlicher Bundeswehreinsatz im Inneren - die Polizei kann durch die Bundeswehr nicht ersetzt werden
- Drucksache 16/563 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({6})
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Undine Kurth ({7}), Bärbel Höhn, Ulrike Höfken, Renate Künast, Fritz
Kuhn und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Tierschutzpolitik energisch fortführen und weiterentwickeln
- Drucksache 16/550 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({8})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Undine Kurth ({9}), Bärbel Höhn, Ulrike Höfken, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: EUKommission muss nationale Tierschutzbemühungen respektieren
- Drucksache 16/549 Redetext
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried Hermann,
Peter Hettlich, Cornelia Behm, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Den Schutz
der Anwohner vor Fluglärm wirksam verbessern
- Drucksache 16/551 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ekin Deligöz, Volker
Beck ({2}), Grietje Bettin, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Leben und
Arbeiten mit Kindern möglich machen
- Drucksache 16/552 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({3})
Finanzausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Jörg van Essen,
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Michael Kauch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Gleiche Rechte,
gleiche Pflichten - Benachteiligungen von Lebenspartnerschaften abbauen
- Drucksache 16/565 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({4})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried Hermann,
Peter Hettlich, Dr. Anton Hofreiter und der Fraktion des
BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Bestandssanierung der
Verkehrsinfrastruktur ausweiten und effektive Sanierungsstrategie vorlegen
- Drucksache 16/553 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({5})
Haushaltsausschuss
ZP 12 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Beitrag der deutschen Politik zur
Deeskalation des Konfliktes um den Karikaturenstreit
Die Tagesordnungspunkte 6 - Berufliche Bildung und 16 - Welthandelskonferenz - sollen getauscht werden.
Außerdem ist vorgesehen, den Tagesordnungspunkt 10 b abzusetzen.
Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll - soweit erforderlich - abgewichen werden. Sind Sie mit
diesen Vereinbarungen einverstanden? - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 sowie Zusatzpunkt 1 auf:
3 Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht 2005 der Bundesregierung zur Wirksamkeit moderner Dienstleistungen am Arbeitsmarkt
- Drucksache 16/505 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({6})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 1 Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte
Pothmer, Irmingard Schewe-Gerigk, Markus
Kurth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Ergebnisse der wissenschaftlichen Auswertung der Hartz-Gesetze I bis III konsequent
umsetzen
- Drucksache 16/547 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({7})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich
höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat für die Bundesregierung Herr Parlamentarischer Staatssekretär Gerd
Andres.
({8})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die derzeitige Situation auf dem Arbeitsmarkt
muss für uns alle vor allem Ansporn sein, mehr Menschen die Chance auf Arbeit zu geben. Dazu sind wir
entschlossen. Mit den Hartz-Gesetzen der Agenda 2010
sind bereits weit reichende Reformen im Bereich der Arbeitsmarktpolitik umgesetzt worden. Ihr Ziel ist es, verkrustete und ineffiziente Strukturen aufzubrechen: weg
von der Verwaltung von Arbeitslosigkeit hin zur entschlossenen und schnellen Vermittlung in Arbeit. Wir
wollen aktivieren statt alimentieren und die Arbeitsmarktreformen zum Erfolg führen. Die Bundesregierung
wird prüfen, was funktioniert, und ändern, was nicht
funktioniert.
Dazu dient der Zwischenbericht zur Evaluation der
ersten drei Gesetze für moderne Dienstleistungen am
Arbeitsmarkt, den die Bundesregierung nun vorgelegt
hat. Er folgt der Aufforderung des Bundestages vom
14. November 2002, die Wirkung der Hartz-Gesetze zu
evaluieren. Gegenstand ist zunächst die Evaluation der
Hartz-Gesetze I bis III. Die Grundsicherung für Arbeitsuchende, Hartz IV, ist erst später in Kraft getreten; die
Ergebnisse dieser Evaluation folgen frühestens Ende
2006.
Die ersten beiden Gesetze für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt enthalten eine Neuausrichtung aller zentralen Instrumente der aktiven Arbeitsmarktpolitik. Außerdem tragen sie zur Flexibilisierung der
Zeitarbeitsbranche bei und regeln die geringfügige Beschäftigung neu. So wurden in Hartz II die Mini- und
Midijobs erweitert und der Existenzgründungszuschuss,
die so genannte Ich-AG, eingeführt. Beide Gesetze traten am 1. Januar 2003 in Kraft, einzelne Instrumente erst
im Frühjahr 2003.
Das Dritte Gesetz für moderne Dienstleistungen am
Arbeitsmarkt mit Wirkung ab 1. Januar 2004 steuert die
Neuorganisation der Bundesagentur für Arbeit hin zu
mehr Kundenorientierung und Vermittlung sowie zu einer Erhöhung von Effektivität, Effizienz und Transparenz der Abläufe in der Agentur.
Der vorgelegte Evaluationsbericht ist Ausdruck eines
selbstkritischen und zielorientierten Politikstils. Im Mittelpunkt steht dabei das Interesse der Betroffenen an einer Steigerung ihrer Beschäftigungsfähigkeit und Autonomie. Daran müssen sich alle arbeitsmarktpolitischen
Strategien messen lassen. Wir lassen damit erstmals in
diesem Umfang begleitend die faktische Wirkung der
Arbeitsmarktpolitik untersuchen.
Was jetzt vorliegt, ist ein Zwischenfazit. Der Bericht
hat aufgrund des noch zu kurzen Beobachtungszeitraums
den Charakter einer ersten Bestandsaufnahme. Er basiert auf Erkenntnissen, die über Mitte 2005 nicht hinausgehen, weil ein Teil der von den Instituten zu erstellenden Gutachten im Juli des vergangenen Jahres
abgeliefert wurde. Seitdem wurde eine Reihe von Weiterentwicklungen und Änderungen insbesondere bei der
Umgestaltung der Bundesagentur vorgenommen. Einige
Regelungen, die sich als nicht wirksam erwiesen, wurden bereits modifiziert. Wir stehen also mitten in der
Umsetzung. Auf der Basis des Endberichtes, der bis
Ende 2006 vorzulegen ist, werden wir im nächsten Jahr,
wie in der Koalitionsvereinbarung vorgesehen, gesetzgeberische Konsequenzen für eine Neuausrichtung und
Bündelung der aktiven Arbeitsmarktpolitik ziehen; aber
einiges optimieren wir schon jetzt.
Die vorliegenden Zwischenergebnisse enthalten Kritik, aber auch Zustimmung. Eine ganz wichtige Nachricht ist, wie ich finde: Der Umbau der Arbeitsverwaltung ist auf einem guten Weg. Die Dienstleistungen der
Agentur unterliegen jetzt einer konsequenten Steuerung
und Kontrolle und erfolgen kostenbewusst. Bereits im
letzten Jahr hat die Bundesagentur für Arbeit einen fast
ausgeglichenen Haushalt vorgelegt. Diese Entwicklung
eröffnet die Möglichkeit, ab 2007 den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung zu senken und so ein Signal für
mehr Beschäftigung zu setzen.
Einige wichtige arbeitsmarktpolitische Instrumente
haben sich als erfolgreich erwiesen. Hierzu gehören die
Eingliederungszuschüsse an Arbeitgeber, die Existenzgründungsförderung mit dem Überbrückungsgeld und
dem Existenzgründungszuschuss - der so genannten IchAG - sowie die Förderung der beruflichen Weiterbildung. Sie unterstützen eine schnellere Eingliederung in
Erwerbstätigkeit. Auch die Beauftragung von Trägern
mit Eingliederungsmaßnahmen erweist sich als erfolgreich.
Die Reformen der Mini- und der Midijobs haben die
wirtschaftlichen Rahmenbedingungen durch ein Mehr an
Flexibilität für die Unternehmen und die Beschäftigten
verbessert: Beschäftigte können Beruf und Familie besser vereinbaren, Unternehmen können Auftragsspitzen
abfedern. Bis Mitte 2005 gab es 1,8 Millionen zusätzliche geringfügig Beschäftigte. Zwar - auch das weist der
Bericht aus - wurden damit so gut wie keine Übergänge
in voll sozialversicherungspflichtige Beschäftigung erreicht. Aber es gibt ganz deutliche Hinweise darauf, dass
Schwarzarbeit über dieses Instrument legalisiert wurde.
Arbeitslose benötigen eine dauerhafte und existenzsichernde Perspektive am Arbeitsmarkt. Deshalb ist es erfreulich, dass bis Mitte 2004 mit dem neuen Instrument
bzw. der neuen Regelung der so genannten Midijobs
- der Beschäftigung für zwischen 400 und 800 Euro 125 000 sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse gesichert bzw. geschaffen wurden.
Bei anderen Instrumenten zeigt sich, dass das Eingliederungsziel nicht oder nur ungenügend erreicht wurde.
So konnten Integrationswirkungen der Beauftragung
Dritter mit der Vermittlung und durch das Instrument der
Vermittlungsgutscheine bislang nicht festgestellt werden. Personal-Service-Agenturen verschlechtern im
Schnitt sogar die Chance auf Integration. Weil einzelne
PSA durchaus erfolgreich agieren, überlassen wir die
Entscheidung über die Weiterführung künftig den regionalen Akteuren.
Dass Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen die Eingliederung in den ersten Arbeitsmarkt selten unterstützen, war
vor der Evaluation bekannt. Der Bericht hat das bestätigt. Deshalb sind ABM bereits in der Vergangenheit auf
Agenturbezirke mit sehr schwierigen regionalen Arbeitsmärkten konzentriert worden. Generell sollten sie stark
marktbenachteiligten Arbeitslosen vorbehalten bleiben.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, unterschiedliche Reformelemente zielen auf eine verbesserte
Eingliederung älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Erwerbstätigkeit. Bislang blieben hier Erfolge
aus. Die Evaluation hat gezeigt: Diese Instrumente sind
noch wenig bekannt. Die Bundesregierung wird die Anstrengungen zur Integration älterer Arbeitsloser in
den Arbeitsmarkt noch einmal deutlich verstärken. Das
ist auch das Ziel der geplanten Initiative „50 plus“.
Wir wollen die Reformen zum Erfolg führen. Dazu
müssen die vorhandenen Mittel so effektiv und effizient
wie möglich eingesetzt werden. Wo Maßnahmen und
Förderinstrumente sich als unwirksam erwiesen haben
oder nicht mehr überschaubar sind, werden wir entsprechend handeln.
({0})
- Danke für den Zwischenruf. - Bei einigen Instrumenten ist dies bereits geschehen.
({1})
So ist, wie bereits gesagt, die Verpflichtung, in jedem
Agenturbezirk eine Personal-Service-Agentur einzurichten, abgeschafft worden. ABM wurden deutlich zurückgefahren. Die Zusammenführung von Überbrückungsgeld und Existenzgründungszuschuss - der so genannten
Ich-AG -, erfolgreiche Instrumente, die aber einfacher
gestaltet werden können, soll schon Mitte 2006 erfolgen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich will
noch einmal betonen: Wir sind gut beraten, auf die Ergebnisse des Endberichtes 2006 zu warten. Auf dieser
Basis werden wir weitergehende Entscheidungen für
eine Neuausrichtung und Bündelung der aktiven Arbeitsmarktpolitik treffen.
Die systematische Überprüfung der Wirksamkeit
arbeitsmarktpolitischer Gesetze, wie sie jetzt stattfindet, ist in Deutschland einzigartig. Sie ist Ausdruck einer
transparenten und rationalen Politik. Wir wollen dazulernen. Wir wollen damit aber auch Vorbild für andere Politikfelder sein.
Wir setzen in diesem Zusammenhang auf eine faire
Debatte. Dazu gehört, die differenzierten Untersuchungsergebnisse zur Kenntnis zu nehmen, sie entsprechend zu kommunizieren und darüber zu diskutieren.
Der größte Klopfer, den ich in diesem Zusammenhang
wahrgenommen habe, war die Berichterstattung einer
großen überregionalen Zeitung, die dem erlauchten Leserkreis mitteilte, die Evaluation dieser drei Gesetze beweise, dass Hartz IV gescheitert sei. Dass die ganze Evaluation mit Hartz IV überhaupt nichts zu tun hat, ist dem
beteiligten Journalisten offensichtlich nicht aufgefallen.
Es geht also um eine differenzierte Debatte. Es geht darum, zur Kenntnis zu nehmen, was ist und welche Wirkungen das, was wir getan haben, entfaltet.
Zugleich ist die begrenzte Reichweite der Arbeitsmarktpolitik zu beachten. Die Arbeitsmarktpolitik der
Bundesagentur für Arbeit unterstützt die Ausgleichsprozesse auf dem Arbeitsmarkt. Sie fördert die berufliche
Wiedereingliederung der Arbeitslosen. Sie kann aber nur
begrenzt die Schaffung von Arbeitsplätzen bewirken.
Die Lösung der Probleme auf dem deutschen Arbeitsmarkt ist und bleibt eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Unternehmen und Gewerkschaften sind mindestens so gefordert wie die Politik. In der Politik betrifft
das die Finanz-, Wirtschafts- und Sozialpolitik insgesamt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das Ziel
gilt: Wir wollen Politik für mehr Arbeit machen, mit Initiativen für mehr Wachstum, mit Investitionen in die
Zukunft und mit der Fortführung der Arbeitsmarktreformen. Die Evaluation der Wirklichkeit unserer Arbeitsmarktpolitik ist hierfür eine wichtige Orientierung. Stochern im Nebel oder die Behauptung, dieses oder jenes
wirke so oder so, können wir uns im Interesse der Betroffenen nicht leisten. Deshalb hat die Bundesregierung
diesen Zwischenbericht vorgelegt. Deshalb sind das Parlament und die entsprechenden Ausschüsse herzlich eingeladen, die Wirksamkeit dessen, was wir in der Arbeitsmarktpolitik tun, offen, fair und nach Kenntnisnahme
der Realitäten zu diskutieren.
Herzlichen Dank.
({2})
Das Wort hat nun der Kollege Dirk Niebel, FDPFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Man kann sich manchmal schon die Frage stellen, ob die grundlegende, umfassende Arbeitsmarktreform, durch die die Arbeitslosigkeit in Deutschland
signifikant gesenkt werden sollte, überhaupt stattgefunden hat.
({0})
Wenn man dem Herrn Staatssekretär zugehört hat, kann
man sich mit einem gewissen Maß an Berechtigung
durchaus auch die Frage stellen, warum wir im letzten
Jahr überhaupt gewählt haben, wo doch alles so gut ist.
Im letzten Monat wurden tatsächlich wieder über
5 Millionen Arbeitslose registriert. Wir alle wissen doch,
dass diejenigen, die eine Ich-AG betreiben, die einen
1-Euro-Job haben oder die sich in einer Arbeitsbeschaffungs-, Trainings- oder Bildungsmaßnahme befinden, in
dieser Statistik nicht registriert worden sind. Das heißt,
das tatsächliche Ausmaß der Unterbeschäftigung in
Deutschland spielt sich bei 6 bis 7 Millionen Menschen
ab. Trotzdem tut der Herr Staatssekretär so, als ob alles
gut sei.
({1})
Peter Hartz ist im August 2002 mit der Leitung einer
Reformkommission beauftragt worden. Die Freien Demokraten sind der festen Überzeugung, dass die Idee,
auch die Instrumente des Arbeitsmarktausgleiches neu
zu gestalten und zu überprüfen, grundsätzlich vernünftig
gewesen ist. Erinnern wir uns doch einmal daran, dass
die alte Bundesregierung im August 2002 nach einem
wirklich schönen Aufzug am Gendarmenmarkt im Französischen Dom zelebriert hat, dass die Arbeitslosigkeit
in zwei Jahren halbiert werden wird. Das muss man bitte
auch einmal mit den heutigen Zahlen vergleichen dürfen.
({2})
Der alte BA-Vorstand hat noch Anfang des Jahres gesagt: Die Wahrscheinlichkeit, dass die 5-MillionenGrenze in diesem Winter überschritten wird, liegt deutlich unter 50 Prozent. - Nachdem Schwarz-Rot Ende
letzten Jahres noch die Frühverrentungsregelung für
Arbeitslose verlängert hat, hat er wahrscheinlich damit
gerechnet, dass das wirkt; denn über 400 000 ältere Arbeitslose tauchen in der Statistik nicht auf. Lassen Sie
uns doch endlich einmal damit aufhören, die Statistik zu
verkleistern! Lassen Sie uns das tun, was wir im Wahlkampf gefordert haben, nämlich beim Beschreiben des
Ausmaßes der Unterbeschäftigung in Deutschland ehrlich sein.
({3})
Der vorliegende Bericht ist eine Dokumentation des
Misserfolges rot-grüner Arbeitsmarktpolitik. Die Bundesregierung will aber keine Konsequenzen daraus ziehen.
({4})
Sie sagt: Wir warten mal ab, bis der Abschlussbericht
Ende des Jahres vorgelegt wird. - Sie wollen die Gelder
der Beitragszahler ein ganzes Jahr lang für Maßnahmen,
bei denen schon heute klar erkennbar ist, dass sie nicht
zur Integration in den Arbeitsmarkt beitragen, weiter
verschleudern. Das ist unverantwortlich. Das ist eine
Politik der ruhigen Hand und die ruhige Hand haben Sie
doch eigentlich abgelöst.
({5})
Schauen wir uns die einzelnen Instrumente an:
Völlig zu Recht loben Sie die Möglichkeit der Integration von Arbeitslosen als selbstständige Unternehmer. Das Überbrückungsgeld wurde von Ihrem
früheren Arbeitsminister Wolfgang Clement immer als
ein Bestandteil der Hartz-Reform bezeichnet. Das Überbrückungsgeld gibt es aber schon seit 1986, also seit
20 Jahren. Seitdem funktioniert es gut.
Sie haben die Ich-AG eingeführt. Bei diesem Instrument konnte man sich hinstellen und sagen: Ich mache
mich selbstständig. - Dies war auch ohne Geschäftsidee,
Kostenplan und Kalkulation möglich. Dieses Instrument
ist erst auf dem Weg zum Erfolg, seitdem hier die Kriterien eingeführt worden sind, die beim Überbrückungsgeld schon seit 20 Jahren gelten, seitdem man also eine
Vorstellung davon haben muss, ob ein Unternehmen
überhaupt tragfähig ist. Deswegen ist es richtig, diese
beiden Förderinstrumente zusammenzuführen. Dabei
unterstützen wir Sie ausdrücklich. Das ist jedoch kein
Ergebnis der Hartz-Reform.
({6})
Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen führen, wie Sie
richtigerweise feststellen, nicht zu einer Integration in
den ersten Arbeitsmarkt. Nein, die Teilnehmerinnen und
Teilnehmer werden durch sie sogar stigmatisiert und die
Dauer der Arbeitslosigkeit wird verlängert. Warum fördern Sie so etwas mit den Mitteln der Beitragszahlerinnen und Beitragszahler weiter? Da könnten Sie das Geld
auch verbrennen.
({7})
Bei den Personal-Service-Agenturen ist es genau das
Gleiche. Das ist subjektiv ja auch verständlich. Die Menschen stellen ihre Suchprozesse ein, weil sie morgens irgendwohin gehen. Sie tun den Tag über dann ja auch etwas und gehen irgendwann nach Hause. Sie haben also
das Gefühl, sie hätten eine Arbeit.
Was war mit den Personal-Service-Agenturen bei
der Vorstellung der Ergebnisse der Hartz-Reform?
500 000 Dauerarbeitsplätze sollten geschaffen werden.
({8})
Ich sage Ihnen auch, warum das nicht funktioniert hat:
Steuer- und beitragsfinanziert haben Sie eine ungerechte
Konkurrenz zur privaten Zeitarbeitsbranche in diesem
Land aufgebaut. Private können das offenkundig besser;
denn sonst würde die Zahl der Beschäftigten im Bereich
der Zeitarbeit nicht so exorbitant ansteigen, während die
Personal-Service-Agenturen von Anfang an floppten.
Ungefähr 2 Millionen Menschen oder 39 Prozent der
Arbeitslosen sind nicht qualifiziert. Deswegen war es
richtig, dass die mit der Hartz-Gesetzgebung von der rotgrünen Bundesregierung abgeschafften Minijobs von
Ihnen wieder eingeführt worden sind. Aber es war schon
damals falsch, dass man sie teurer als den Vorgänger gemacht hat. Es ist doppelt falsch, dass die neue Bundesregierung sie noch einmal teurer machen will. Sie sind
eines der wenigen flexiblen Instrumente am Arbeitsmarkt. Auch wenn es oftmals „nur“ Nebenjobs sind, geht
das, was in der legalen Wirtschaft verdient wird, unmittelbar in den Konsum und fördert die Binnenkonjunktur
in Deutschland. Deswegen ist es ein großer Fehler, hier
eine weitere Verteuerung herbeizuführen.
({9})
Wir als Freie Demokraten fordern, die Obergrenze bei
Minijobs auf 600 Euro zu erhöhen und bis zu 40 Prozent
anrechnungsfrei als Hinzuverdienst zu ermöglichen. Das
gibt auch denjenigen, die heute gar keine Arbeit haben,
die Möglichkeit, auf diesem Wege den ersten Schritt in
den Arbeitsmarkt zu machen.
Das Thema ältere Arbeitnehmer ist heute auch in einem anderen Sinne hochaktuell. Die Instrumente, die Sie
dafür bei der Hartz-Gesetzgebung vorgesehen haben,
funktionieren bis auf den Eingliederungszuschuss
nicht. Den Eingliederungszuschuss - seien Sie ehrlich gab es auch schon vor den Hartz-Reformen. Was machen
Sie stattdessen zur Integration älterer Arbeitnehmer? Sie
verlängern die Vorruhestandsregelung für ältere Arbeitslose mit dem Wissen, dass im Februar der Leistungsbezug von Arbeitslosengeld richtigerweise verkürzt worden ist. Als Regierung hätten Sie sich auch auf den
Marktplatz stellen und rufen können: Entlasst eure älteren Arbeitnehmer!
Die Wirkung ist genau die gleiche. Wir sehen an der
Arbeitsmarktstatistik: Über 30 000 ältere Menschen sind
im vergangenen Monat zusätzlich entlassen worden, und
zwar weil Sie das falsche politische Signal gegeben und
den Betrieben suggeriert haben: Ältere Arbeitnehmer in
Betrieben sind mehr Kostenfaktor als Wettbewerbsvorteil. Damit haben Sie eine falsche Politik gemacht.
({10})
Sie versuchen das Ganze mit einer Diskussion über
Mindestlöhne zu kompensieren, die wir mit dem
Arbeitslosengeld II oder über die Kombilöhne faktisch
schon haben, die so, wie sie bisher diskutiert werden, zu
flächendeckenden Mitnahmeeffekten führen. Wir schlagen stattdessen vor - das hat auch der Herr Bundespräsident in einem Gespräch im „Stern“ Anfang dieses Jahres
für richtig befunden -, ein System der negativen Einkommensteuer einzuführen, einen Universaltransfer wie
beim Bürgergeldkonzept der Liberalen, bei dem das
Steuer- und Transfersystem zusammengefasst wird, damit auch Geringverdiener die Chance haben, in der legalen Wirtschaft wieder Beschäftigung zu finden.
Lassen Sie uns auf die Vermittlungsgutscheine zu
sprechen kommen. Die Freien Demokraten waren immer
der Ansicht, es ist ein guter Weg, Wettbewerb dadurch
herzustellen, dass der Arbeitssuchende mit Nachfragemacht ausgestattet wird. Aber wir haben auch von Anfang an gesagt, die Vermittlungsgutscheine in der Art,
wie Sie sie vorlegen, können nicht funktionieren. Sie
richten sich nur nach der Dauer der Arbeitslosigkeit.
Völlig unberücksichtigt bleibt, ob jemand qualifiziert ist,
welche beruflichen Erfahrungen er hat oder ob er gesundheitlichen Einschränkungen unterliegt.
Gestalten Sie die Vermittlungsgutscheine marktgerecht aus und geben Sie dem Arbeitssuchenden Nachfragemacht, damit er zum Vermittler seines Vertrauens
gehen kann. Das kann der private Vermittler, aber auch
der staatliche Vermittler sein. Dieser muss sich dann
durch die Einnahmen aus Gutscheinen bei den erfolgsabhängigen Lohnkomponenten refinanzieren, die eingeführt werden müssen.
In diesem Zusammenhang komme ich auf die gestrige
Ausschusssitzung zurück. Dort hat das BA-Vorstandsmitglied Herr Becker stolz erzählt, dass nach fünf Jahren
Verhandlungen über die Einführung erfolgsabhängiger
Lohnkomponenten bei den Angestellten der BA eventuell in diesem Jahr die Möglichkeit besteht, dass man
sich über einen entsprechenden Tarifvertrag verständigt.
Und da reden Sie von der Reform der Bundesagentur?
Über fünf Jahre hat es gedauert - das ist auch noch nicht
sicher -, bis man sich auf etwas verständigt, was im normalen Wirtschaftsleben gang und gäbe ist, nämlich erfolgsabhängige Lohnkomponenten einzuführen. Gleichzeitig tun Sie so, als sei der Reformprozess auf einem
positiven Weg, weil in dem Bericht steht, es sei nicht
mehr ganz so schlimm, wie es am Anfang war.
Bei einer Behörde, deren Kosten für den virtuellen
Arbeitsmarkt außerhalb jedes Controllings und außerhalb jedes Budgets explodiert sind, einer Behörde, bei
der die Kundenzufriedenheit nach Ihrem Evaluationsbericht zurückgegangen ist, einer Behörde mit über
90 000 Mitarbeitern, von denen sich gerade einmal ungefähr 12 500 im Kerngeschäft, nämlich der Arbeitsvermittlung, befinden, sagen Sie: „Alles ist gut“?
Die Bundesagentur hat im Jahre 2004 ein verantwortetes Budget, also nicht nur ihren eigenen Haushalt, sondern auch die Steuermittel, von 85 Milliarden Euro verwaltet. Wenn das ein Staatshaushalt wäre, wäre das im
Vergleich mit den 235 Ländern dieser Welt Platz 21, und
zwar vor der Russischen Föderation und gleich hinter Indien mit einem Staatshaushalt von 87 Milliarden Euro.
Diese Dimension sollte Ihnen deutlich machen ohne
Schaum vor dem Mund und ohne Böswilligkeit gesagt,
dass Mitteleinsatz und Ergebnis - im Jahr 2004 waren es
1,4 Vermittlungen pro Vermittler in ungeförderte Beschäftigungsverhältnisse pro Monat - in keinem vernünftigen Verhältnis stehen.
({11})
Wir schlagen daher vor, die Bundesagentur in ihrer
jetzigen Struktur aufzulösen und ein Dreisäulensystem
zu schaffen, das aus einer Versicherungsagentur für die
Lohnersatzleistung, einer schlanken Arbeitsmarktagentur, die sich um das überregional Notwendige, vor allem
die Transparenz des Stellenmarktes, kümmert - sie muss
nicht größer sein als das Bundeskartellamt, das mit seinen etwa 300 Mitarbeitern hoch effizient arbeitet -, und
der aktiven Arbeitsmarktpolitik vor Ort - weil vor Ort
die richtigen Entscheidungskompetenzen gebündelt
sind - in kommunaler Trägerschaft besteht.
({12})
Nachdem wir jetzt erfahren haben, dass Sie über fünf
Jahre brauchen werden, um beim Hauptpersonalrat
eine Selbstverständlichkeit durchzusetzen, sage ich Ihnen voraus, dass darin die einzige Möglichkeit besteht,
um eine Veränderung zu erreichen. Denn wenn eine Behörde aufgelöst wird, passiert etwas Bemerkenswertes:
Sie existiert zunächst einmal nicht mehr. Das heißt, Sie
können mit der Arbeit beginnen und die Struktur, die Sie
aus politischer Sicht für richtig halten, umsetzen, ohne
dass eine drittelparitätische Selbstverwaltung mit Frau
Engelen-Kefer an der Spitze oder ein Hauptpersonalrat
das Vorhaben blockieren kann.
Im Zusammenhang mit Frau Engelen-Kefer komme
ich auf die Förderung der Älteren zurück. Sie werden
mir nachsehen, dass es mir wehtut, dass die Dame jetzt
weggemobbt wird und deshalb in den Vorruhestand geht.
Die Dame wird uns wirklich fehlen; aber schließlich
kann ein Gewerkschaftsfunktionär nicht zusammen mit
einer stellvertretenden Vorsitzenden für die Frühverrentung argumentieren, wenn dieses Instrument nicht auch
von ihr selbst in Anspruch genommen wird.
({13})
Wir brauchen nicht nur die sozialpolitisch gut gemeinte Begleitung der Arbeitslosigkeit, wie sie in der
Hartz-Evaluierung festgestellt wurde; notwendig ist vielmehr ein wachstumsorientierter politischer Kurs bzw.
eine wachstumsorientierte Wirtschaftspolitik, die es ermöglicht, seinen Lebensunterhalt wieder durch eigene
Arbeit zu finanzieren. Dazu hat Rot-Schwarz aber nichts
vorgelegt.
Im Gegenteil: Statt die Menschen und Betriebe durch
ein einfaches und gerechtes Steuersystem mit niedrigen
Steuersätzen zu entlasten, erhöhen Sie die Steuern. Statt
die Liquidität der Betriebe zu unterstützen, indem Sie
auf das unsinnige Vorziehen der Fälligkeit der Sozialversicherungsbeiträge mit einem Volumen von 20 Milliarden Euro verzichten, kündigen Sie für das nächste Jahr
ein Investitionsprogramm mit einem Volumen von
25 Milliarden Euro an. Das heißt, Sie nehmen den Betrieben erst einmal 20 Milliarden Euro weg und kündigen an, ihnen später auf vier Jahre verteilt 25 Milliarden
Euro - aber bitte schön zweckgebunden - wieder zurückzugeben. Das ist kein wachstumsorientierter politischer Kurs. Es führt vielmehr dazu, dass sich die Arbeitslosigkeit weiter verfestigt und dass Sie - gemessen
daran, was Sie sich in der Regierungserklärung vorgenommen haben - im Endeffekt scheitern werden.
Wir wollen das gerne verhindern und bieten Ihnen an,
mit unseren Konzepten dafür zu sorgen, dass der Arbeitsmarktausgleich so organisiert wird, dass die Menschen in Deutschland wieder eine Chance haben.
Vielen Dank.
({14})
Das Wort hat nun der Kollege Dr. Ralf Brauksiepe,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Bericht der Bundesregierung, den wir heute debattieren, ist eine Zusammenfassung der Berichte von insgesamt 20 verschiedenen Forschungsinstituten, die sich
mit den Auswirkungen der Gesetze Hartz I bis III beschäftigt haben. Er stellt eine solide Grundlage für unser
weiteres politisches Handeln dar.
In diesen Berichten geht es insbesondere darum, wie
weit der organisatorische Umbau der Bundesagentur vorangeschritten ist und wie es mit der Neuausrichtung der
Arbeitsvermittlung, der Förderung beruflicher Weiterbildung und den Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen aussieht.
Es geht um Mini- und Midijobs, Eingliederungszuschüsse, Existenzgründungen und Arbeitnehmerüberlassung, um nur die wichtigsten Themen herauszugreifen.
Es ist klar, dass Teile des Berichts inzwischen nicht
mehr aktuell sind. So ist beispielsweise der Umstrukturierungsprozess innerhalb der BA, von dem niemand
sagt, er sei schon zu einem erfolgreichen Abschluss gekommen, seit der Erstellung des Berichts schon weitergekommen. Der Bericht stellt einen Zwischenstand dar
und verweist zu Recht darauf, dass erst Ende 2006 ein
Abschlussbericht mit endgültigen Handlungsempfehlungen vorliegen wird.
Für die Koalition ist es eine große Herausforderung,
in dieser Zeit in diesem Land Mitverantwortung in der
Regierung zu tragen. Wahr ist aber auch, dass der Bericht manchen Anlass bietet, den neuen Freunden von
der Sozialdemokratie etwas ins Stammbuch schreiben zu
wollen. Aber wahr ist auch: Uns geht es nun in erster Linie darum, nach vorne zu schauen. Deswegen haben wir
im Koalitionsvertrag - schon vor dieser Beratung und
den vorliegenden Handlungsempfehlungen - wichtige
Punkte aufgenommen, die jetzt durch die Studie bestätigt werden.
Lieber Kollege Niebel, unabhängig davon, wie man
zu einzelnen Maßnahmen steht, kann man nicht sagen,
Geld werde weiterhin verschleudert und Konsequenzen
würden nicht gezogen. Das ist nachweislich falsch. Wir
haben die Personal-Service-Agenturen als Obligatorium
zum Ende des letzten Jahres abgeschafft, weil sie zu
teuer waren und die Eingliederungschancen verschlechtert haben. Wir haben also Konsequenzen gezogen. Wir
verschleudern kein Geld. Das Gegenteil ist der Fall.
({0})
Das ist ein Instrument, bei dem wir gemeinsam mit unserem Koalitionspartner einen wesentlichen Kurswechsel
eingeleitet haben. Es war richtig und notwendig, dieses
Instrument als Pflichtleistung abzuschaffen.
({1})
Wir haben auch in anderen Bereichen genau das gemacht, was Sie, Kollege Niebel, gefordert haben, was Ihnen aber offensichtlich entgangen ist. Wir haben schon
Konsequenzen aus erkennbaren Fehlentwicklungen gezogen. Das gilt auch für den Bereich der Ich-AGs. Mich
verwundert es ein wenig, wie gut die Ich-AGs in der öffentlichen Berichterstattung über den Bericht der Bundesregierung gelegentlich wegkommen. In dem Bericht
der Bundesregierung - er ist ja quasi eine Kurzfassung
der rund 4 500 Seiten, die wir von den Instituten bekommen haben - werden die Ich-AGs nämlich ganz anders
dargestellt. Dort steht beispielsweise über die Ich-AGs,
von Existenzgründerinnen und -gründern sei die Kritik
geäußert worden, dass das Konzept zu Mitnahme und
Missbrauch verleite und dass eine stärkere Kontrolle der
Eignung potenzieller Gründerinnen und Gründer zu fordern sei. Genau auf diesen Weg haben wir uns begeben.
Wir debattieren heute auch über einen Antrag der
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen. Dem Antrag ist
der Schmerz über den Wählerwillen anzumerken, der
Sie, die Grünen, nur zur fünftstärksten Fraktion gemacht
hat. Dieser Schmerz ist menschlich verständlich.
({2})
Aber Sie sollten sich nicht nur an dem Instrument der
Ich-AG hochziehen und fordern, dort müsse alles so
bleiben, wie es ist. Ich möchte Ihnen in diesem Zusammenhang die Aussage in dem vorliegenden Bericht zu
den Ich-AGs und den Instrumenten der Existenzförderung aus der Arbeitslosigkeit zitieren: Die Zusammenführung beider Instrumente erscheint sinnvoll. Genau
das haben wir schon im Koalitionsvertrag festgelegt.
Das werden wir zum 30. Juni dieses Jahres machen. Ich
finde, diesen Weg sollten wir gemeinsam gehen; denn er
ist richtig.
({3})
Auf der anderen Seite erscheint mir, dass die Minijobs in der öffentlichen Darstellung sehr viel kritischer
betrachtet werden, als es aus dem vorliegenden Bericht
hervorgeht. Man muss sich natürlich ständig fragen, was
man mit einem solchen Instrument erreichen will. Es ist
wahr: Mit Minijobs wurden nicht in nennenswertem
Maße Brücken in die sozialversicherungspflichtige Vollzeitbeschäftigung geschlagen. Aber ich will deutlich sagen: Das ist für uns nicht in erster Linie Sinn und Zweck
dieses Instruments gewesen. Vielmehr haben wir zur
Kenntnis zu nehmen, dass es Millionen Menschen gibt,
die ein solches Beschäftigungsverhältnis eingehen, weil
sie in einer bestimmten Lebensphase ihre Konsummöglichkeiten verbessern wollen. Für die meisten sind Minijobs die einzige Einkommensquelle. Die Zahl der Fälle,
in denen sie als Nebenjobs ausgeübt werden, ist eher gering. Es ist beispielsweise in den Untersuchungen der
Bundesknappschaft nachzulesen, dass es keine Verdrängung der Vollzeitbeschäftigung durch den parallelen
Aufbau der geringfügigen Beschäftigung gegeben hat.
Dieses Instrument ist also erfolgreich und wir werden es
deshalb beibehalten.
({4})
Die Zeitarbeit bzw. die Leiharbeit wird in dem Bericht ebenfalls als ein sehr dynamisches Marktsegment
beschrieben, in dem seit der Reform des Arbeitnehmerüberlassungsrechts im Dezember 2002 mit Hartz I etwa
24 000 zusätzliche sozialversicherungspflichtige Stellen
entstanden sind. Es ist daher sinnvoll, darüber nachzudenken, wie man dieses Instrument noch attraktiver gestalten kann.
Nachdem bei den PSAs schon Konsequenzen gezogen worden sind, ist unsere konkrete Aufgabe bei der
Neuausrichtung der Arbeitsmarktpolitik in diesem Jahr,
ein sinnvolles, finanzierbares und einheitliches Instrument zur Förderung der Selbstständigkeit aus der Arbeitslosigkeit zu schaffen. Wir werden außerdem aus den
bestehenden Modellen betreffend die Kombination aus
Lohn und Transferleistungen ein stringentes und zielgruppengenaues Kombilohnmodell zu entwickeln haben. Auch dies werden wir in diesem Jahr tun. Da warten
wir keine Berichte ab, sondern wir lassen die Arbeit, die
wir machen, kritisch begleiten. Aber wo immer Konsequenzen gezogen werden können, werden sie auch gezogen.
({5})
Wir werden in diesem Zusammenhang den Instrumentenkasten der BA entrümpeln. Das werden Sie sehen.
Das, was im Moment alles darin ist - über 80 Instrumente -, ist selbst den Mitarbeitern der BA nicht bekannt.
({6})
Damit werden wir Schluss machen. Das werden wir zurückführen.
({7})
Wir werden selbstverständlich auch entschlossen die
Maßnahmen anpacken, die notwendig sind, um die Beschäftigung Älterer zu fördern. Das haben wir uns vorgenommen, weil es notwendig ist. Das geschieht nicht in
erster Linie im Hinblick auf Maßnahmen, die erst sehr
viel später greifen; wir müssen vielmehr jetzt anfangen,
die Beschäftigung Älterer zu erhöhen. Wir sind auf einem nach wie vor unbefriedigenden Niveau. Zur Wahrheit gehört aber auch: In der Tendenz ist die Beschäftigung Älterer leicht gestiegen. Diese Tendenz wird sich
aufgrund der Maßnahmen, die wir ergreifen, fortsetzen.
Der vorliegende Bericht der 20 Institute zeigt, dass
wir auf dem richtigen Weg sind. Wir bleiben im Plan und
wir werden diesen Weg mit der wissenschaftlichen Unterstützung entschlossen fortsetzen.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat nun die Kollegin Katja Kipping, Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Gesetz
für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt - ich
finde, dieser Gesetzestitel gehört in das Wörterbuch für
Euphemismus, in das Wörterbuch des Schönredens, und
zwar ganz weit nach vorne; denn was, bitte schön, haben
die Auswirkungen dieses Gesetzes mit modernen
Dienstleistungen am Arbeitsmarkt gemein?
({0})
Mit dem nun vorliegenden Bericht der Bundesregierung ist es amtlich: Die Hartz I-bis-III-Gesetze haben die
Situation von Millionen Erwerbslosen nicht nur nicht
verbessert; im Gegenteil: Durch manche Maßnahme ist
die Situation sogar noch verschärft worden. So haben
- um nur ein Beispiel von vielen zu nennen - die Personal-Service-Agenturen die Eingliederungschancen der
Teilnehmenden im Endeffekt verschlechtert. Ausgerechnet diejenigen, die am dringendsten Beratung brauchten,
die so genannten Betreuungskunden, bekommen so gut
wie gar keine Unterstützung. Aus so einer Bankrotterklärung müssen doch Konsequenzen gezogen werden,
und das ziemlich schnell.
({1})
Einst hieß es, man werde mit den Vorschlägen von
Peter Hartz die Zahl der Arbeitslosen halbieren. Davon
redet heute kaum noch jemand. Das ist auch verständlich. Wer gibt schon gerne zu, dass er auf einen Hallodri
hereingefallen ist, der inzwischen wegen des Verdachts
auf Veruntreuung in das Fadenkreuz der Ermittler geraten ist.
({2})
Um die von Gerhard Schröder im Zuge der
Agenda 2010 gemachten Versprechen ist es auch sehr
ruhig geworden. Die sind wohl zu Recht in dem Ordner
für Märchenstunden archiviert. Nun ist Peter Hartz weg
vom Fenster, Gerhard Schröder verdient sein Geld außer
Landes und Millionen Erwerbslosen geht es dreckiger
als je zuvor.
({3})
Nun gut, die Zahl der Minijobs stieg. Wer dies jedoch
als Erfolg verkaufen will, der muss wahrlich über große
ideologische Scheuklappen verfügen. Schließlich geht
der Anstieg der Minijobs immer Hand in Hand mit dem
Abbau von sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnissen.
({4})
Darüber hinaus sollte es uns schon zu denken geben,
dass gerade die Mini- und Midijobs überproportional
stark von Frauen nachgefragt werden. Leisten wir hier
nicht einer weiteren Verfestigung von überholten Geschlechterrollen Vorschub - der Mann als Haupternährer, die Frau als Zuverdienerin? Wir leben im
21. Jahrhundert. Solch mittelalterliche Formen der Arbeitsteilung gehören endlich überwunden.
({5})
Das allein schon deswegen, weil man als Zuverdienerin
im Minijob eben nicht genügend Rentenpunkte für ein
eigenständiges Auskommen im Alter ansammeln kann.
Minijobs führen zu Minirenten. Mit dieser Vorprogrammierung von Altersarmut sollte Schluss sein.
({6})
Zur Bundesagentur für Arbeit heißt es im Bericht,
Effektivität und Transparenz hätten sich erhöht. Dies ist
nun nicht unbedingt Ausdruck für die jetzige Qualität,
sondern eher ein Beleg dafür, dass es vorher noch verheerender war.
({7})
Das, was ich neulich von Erwerbslosengruppen über die
jetzige Beratungsqualität zu hören bekam, war alles
andere als erfreulich. Immer wieder bekommen Erwerbslose Sätze zu hören wie: Beraten werden Sie hier
nicht; dazu sind wir nicht da. Oder: Also, wie dieser Bescheid zustande kommt, das kann ich Ihnen nun auch
nicht erklären.
So mancher Erwerbslose dringt schon seit Monaten
auf einen Eingliederungsvertrag, und das vergeblich. Die
Tatsache, dass ihm bei jedem Beratungsgespräch ein anderer Vermittler gegenübersitzt, hat die Qualität der Beratung bestimmt nicht gehoben. Ich finde, das muss sich
ändern.
({8})
Dass in der Praxis solche Defizite auftauchen, liegt
wahrlich nicht an den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
der Agenturen. Sie haben in den letzten Jahren viel bewältigen müssen. Ich glaube, die Ursache dieser Probleme liegt vielmehr in einer katastrophalen personellen
Unterausstattung der Agenturen. Es gibt dort einfach
viel zu viel Arbeit für viel zu wenige Mitarbeiter.
({9})
Der Bericht selber bestätigt es: Die Relation von Kunden
und Vermittlern konnte kaum verbessert werden.
Meine Damen und Herren von CDU/CSU und SPD,
wenn Sie die Arbeitsagenturen auch nur ansatzweise in
die Nähe eines modernen Dienstleisters bringen wollen,
dann sollten Sie zuallererst die personelle Ausstattung
verbessern.
({10})
Doch was passiert stattdessen? Personelle Ressourcen
werden gebunden an so genannte Sozialdetektive. In
einem diffamierenden Bericht, bekannt als Clement-Bericht, wird auch noch stolz darüber berichtet, wie man in
den Schlafzimmern von allein erziehenden Erwerbslosen
nach Männern in Unterhosen fahndet und wie man die
Größe der Kuhle im Bett untersucht. Ich persönlich habe
gehofft, dass die Zeiten, wo man Schlafzimmer ausspioniert, vorbei sind.
Aber davon einmal ganz abgesehen, stellt sich mir
hier schon die Frage: Gibt es gegenwärtig nichts Wichtigeres zu tun, als in Schlafzimmern herumzuspionieren?
Angesichts der Überbelastung bei der Beratung von Erwerbslosen sollten wir jetzt alle personellen Kräfte auf
die Vermittlung konzentrieren und das Detektivspielen
einfach sein lassen. Das ist auch besser für den Schutz
der Privatsphäre.
({11})
- Ja, das müssen wir sagen. Wir haben nämlich aus den
Fehlern der Vergangenheit gelernt, während Sie dabei
sind, elementare Eingriffe in die Privatsphäre vorzunehmen.
({12})
Im Übrigen ist die finanzielle Inhaftnahme von Familienmitgliedern von vorgestern und sie sollte endlich
durch die schrittweise Einführung des Individualanspruches ersetzt werden.
({13})
Hinzu kommt, dass diese Herumschnüffelei auch aus
Haushaltssicht total ineffizient ist. Lassen Sie mich das
einmal an zwei Zahlen verdeutlichen. Für den gesamten
ALG-II-Bereich sind im letzten Jahr insgesamt
35 Milliarden Euro ausgegeben worden. Die Deutsche
Steuer-Gewerkschaft schätzt, dass uns allein durch Steuerbetrug 70 Milliarden Euro verloren gehen. Im Klartext
heißt das: Wenn wir nur jeden zweiten Euro Steuerbetrug verhindert hätten, dann hätten wir den kompletten
ALG-II-Bereich finanzieren können. Auf diesem Gebiet
müssen wir ansetzen.
({14})
Die Bilanz von Hartz I bis III ist eine Bilanz des
Scheiterns. Der Grund für dieses Scheitern liegt weniger
in handwerklichen Fehlern; schuld an diesem Scheitern
ist die hinter allen Hartz-Gesetzen stehende Ideologie.
Ihre Ideologie folgt der Vorstellung, die Ursache des
Problems liege bei dem Einzelnen. Angesichts von mindestens 6 Millionen fehlenden Stellen ist dieser Ansatz
geradezu absurd. Mit Ihrem Ansatz bewirken Sie vielleicht, dass sich der Einzelne in der langen Schlange der
Erwerbslosen etwas besser vordrängeln kann; aber an
der Länge der Schlange ändern Sie nichts. Sie bewirken
vielleicht, dass der einzelne Erwerbslose etwas schneller
rennt; aber an der Tatsache, dass man auf der Suche nach
Arbeit im Kreis rennt, ändern Sie nichts.
({15})
Wo ist eigentlich der Minister?
({16})
- Sie lachen. Ich finde es nicht selbstverständlich, dass
der zuständige Minister bei der Beratung eines so zentralen Berichts nicht anwesend ist. ({17})
Der Minister präsentierte den Bericht in der Öffentlichkeit mit der Aussage, es gebe Licht und Schatten.
({18})
Nachdem ich mittlerweile viele kritische Aspekte angesprochen habe, möchte ich nicht verschweigen, dass es
tatsächlich einen positiven Aspekt gibt. Auch wir sehen
etwas Licht, auch wenn es sich um einen etwas dünnen
Lichtstrahl handelt.
Wir finden es toll, dass es den Anspruch gibt, die
Wirksamkeit der Hartz-Gesetze zu evaluieren und sie bei
Misserfolg abzuschaffen. Nehmen Sie diesen selbst gestellten Anspruch ernst! Verabschieden Sie sich von dem
gescheiterten Ansatz Ihrer bisherigen Arbeitsmarktreform! Setzen Sie endlich auf eine Arbeitsmarktpolitik,
die gesellschaftlich sinnvolle Arbeit auch ordentlich
bezahlt! Das Motto sollte sein: Sozialarbeiterstellen statt
1-Euro-Jobs. Nehmen Sie endlich die wirklichen Ursachen der Massenarbeitslosigkeit in Angriff!
Besten Dank.
({19})
Frau Kipping, das war Ihre erste Rede in diesem
Haus. Ich gratuliere Ihnen dazu und verbinde das mit
den besten Wünschen.
({0})
Das Wort hat nun die Kollegin Dr. Thea Dückert,
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Die Koalition hat uns viel versprochen, zum Beispiel
dass sie ihre Mehrheit für strukturelle Reformen nutzen
wird, um Vertrauen bei den Menschen herzustellen. Herr
Andres sagt aber heute Morgen hier: Wir tun gut daran,
auf den Endbericht 2006 zu warten.
({0})
Lieber Kollege Andres, das ist genau falsch. Der Zwischenbericht, der hier vorgelegt worden ist, gibt uns
schon viel an die Hand,
({1})
um vor dem Hintergrund der hohen Arbeitslosigkeit die
richtigen Konsequenzen zu ziehen. Mir scheint, Sie wollen uns in Deutschland mit der schwarz-roten Koalition
in einen Wartesaal führen. Wenn man die Tickermeldungen heute liest, erkennt man, dass andere das jedenfalls
so sehen. Im „Economist“ - die Ausgabe kommt heute
heraus - gibt es eine neue Analyse, einen Deutschlandreport, der wie folgt überschrieben ist: „Waiting for a
Wunder“; also: Deutschland wartet auf ein Wunder. Was
heißt das? Darin wird etwas treffend beschrieben. Darin
wird beschrieben, dass sich die schwarz-rote Koalition
in einer ideologischen Lähmungsfalle befindet und auf
die Diagnosen, die auf dem Tisch liegen, nicht mit
Handlungen reagiert.
({2})
Das zeigt Ihre Aufforderung, zunächst auf den Endbericht zu warten, aber das zeigt auch Ihre „Handlungsfähigkeit“ bei allen großen Strukturreformen, die anstehen.
Die Diagnose in diesem Artikel lautet: Deutschland
ist für hoch qualifizierte Arbeitskräfte völlig unattraktiv
und hat Integrationsprobleme - darauf kommt ich gleich
noch zurück -; wenn Deutschland diese Probleme nicht
bald in den Griff bekommt, dann droht in diesem Land
das, was die meisten fürchten: amerikanische Verhältnisse. - Auch dieser Bericht ist eine Aufforderung,
schnell zu handeln. Sie, Herr Andres, haben hier gerade
das Gegenteil angekündigt.
({3})
Dafür, dass das so ist, gibt es viele Beispiele. Die
Evaluation durch die 20 wissenschaftlichen Institute, die
einen sehr detaillierten Zwischenbericht vorgelegt haben, bietet eine große Chance, schon an vielen Stellen
Reaktion zu zeigen. Herr Müntefering hat ja auch gesagt
- das wurde bereits angesprochen -: Der Bericht zeigt
Licht und Schatten auf. - Unsere große Sorge, Herr
Andres, ist, dass Sie genau da das Licht ausstellen wollen, wo es wirklich etwas Positives beleuchtet. Unsere
große Sorge ist, dass Sie nur das machen, was Sie sich
schon vorher ausgedacht und was Sie auch in Ihrem
Koalitionsvertrag niedergelegt haben, ohne dass Sie sich
mit dem auseinander setzen, was in dem Bericht zutage
gefördert wird.
Ich nenne ein Beispiel - Herr Brauksiepe hat es eben
schon angeführt -: In der Evaluation wird dargestellt,
dass die Ich-AGen und das Überbrückungsgeld den
anderen arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen überlegen
sind.
({4})
Sie haben in Ihrem Koalitionsvertrag festgelegt, dass
diese Instrumente zusammengeführt werden bzw. auslaufen; für die Ich-AG soll das 2006 der Fall sein. Sie sagen nicht, was dann kommen wird. Ich frage Sie im
Ernst, meine Damen und Herren: Will diese Regierung
eines der wenigen wirksamen Instrumente, nämlich ein
Instrument, das seit 2004 etwa 1 Million Menschen den
Mut und die Kraft gegeben hat, aus der Arbeitslosigkeit
selber wieder in eine Tätigkeit zu kommen, abschaffen?
({5})
Ihre gesamte Argumentation ist von vorn bis hinten
brüchig. Sie behaupten, dass das Überbrückungsgeld
und die Förderung der Ich-AGen ungefähr das Gleiche
sind. Die Evaluation belegt etwas ganz anderes, nämlich:
Es werden andere Zielgruppen erreicht. Mit der Ich-AG
werden überproportional Frauen, Menschen in Ostdeutschland und Langzeitarbeitslose erreicht. Wenn wir
hier lange Reden über die Probleme am Arbeitsmarkt
halten, dann reden wir genau über diese Gruppen.
({6})
Aber gerade dieses Instrument wollen Sie zurückführen.
Ich kann Ihnen nur sagen: Nehmen Sie Ihre schwarzroten Scheuklappen ab; dann können Sie auf diesen Bericht reagieren!
Ein weiteres Thema, das in diesem Bericht behandelt
wird: Auf der einen Seite führen Sie, vor allem Herr
Müntefering, eine große Debatte über die Hinausschiebung des Renteneintrittsalters, was ich verdienstvoll
finde, wenn man darüber zusammen mit der Forderung
diskutiert, dass - was Not tut - ältere Menschen eine
Chance am Arbeitsmarkt bekommen müssen. Aber was
zeigen uns die Ergebnisse in diesem Bericht? Die vielen
Instrumente unterschiedlichster Art, die es gibt, um
älteren Langzeitarbeitslosen wieder in den Arbeitsmarkt zu helfen, werden von der Bundesagentur für Arbeit faktisch boykottiert. Die Entgeltsicherung hat keinen strategischen Stellenwert und die Vermittler kennen
die Instrumente zum großen Teil nicht; deshalb werden
sie nicht in Anspruch genommen.
Ihre Schlussfolgerung, Herr Andres, ist - das ist übrigens im letzten Herbst schon von Herrn Brandner verkündet worden -, dass man die Instrumente ein bisschen
übersichtlicher gestalten sollte. Ich kann Ihnen an dieser
Stelle nur sagen: Es kann doch nicht wahr sein, dass Instrumente, die älteren Langzeitarbeitslosen als Hilfestellung dienen sollen, reduziert und zum Teil abgeschafft
werden sollen, weil die Vermittler sie nicht kennen. Ich
denke, der Arbeitsminister hat hier die „Oberhoheit“
über die Bundesagentur für Arbeit. Hier muss dafür gesorgt werden, dass das, was an Hilfestellungen für die älteren Langzeitarbeitslosen möglich ist, auch umgesetzt
wird.
({7})
Die Geringqualifizierten sind eines unserer zentralen Probleme am Arbeitsmarkt. Auch das wird in diesem
Bericht beschrieben. Dabei wird deutlich gemacht, dass
die Kundinnen und Kunden mit den schlechtesten Integrationschancen - das ist das, was auch der „Economist“
beschreibt - und dem höchsten Betreuungsbedarf von
der Bundesagentur für Arbeit nur wenig unterstützt werden, weil bei dieser Gruppe kein Erfolg erwartet wird.
Das steht dort schwarz auf weiß. Ich finde, das ist ein
ziemliches Armutszeugnis. Es zeigt, dass wir uns mit der
Steuerungslogik der Bundesagentur noch einmal auseinander setzen müssen.
({8})
Jedenfalls kann es nicht sein, dass auf Basis dieser
Steuerungslogik ein Weiteres passiert: Nicht nur, dass
die Betreuungsbedürftigsten schnell ins SGB II abgeschoben werden, sondern bei der Weiterbildung wird
auch so etwas wie eine Bestauslese betrieben. Auch das
wird in dem Bericht bescheinigt. Deshalb müssen wir
hier noch einmal neu nachdenken; denn Weiterbildung
und Qualifizierung müssen ja gerade für schlecht Ausgebildete und Geringqualifizierte zugänglich sein.
({9})
Gerade in der Auseinandersetzung mit den Arbeitsmarktproblemen zeigen sich ganz viele Beispiele für
eine schwarz-rote Selbstblockade. Ich will ein weiteres
Beispiel nennen, nämlich die Geringqualifizierten, denen die Hilfsinstrumente der Bundesagentur für Arbeit
nicht zur Verfügung stehen. Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, wissen, dass wir hier die stärksten
Probleme am Arbeitsmarkt haben. Was machen Sie? Sie
richten, auch weil Sie miteinander nicht klarkommen,
eine Arbeitsgruppe ein. Prost Mahlzeit!
({10})
- Nur, Herr Niebel, sind wir auch zu einem Ergebnis gekommen. Das ist genau mein Problem.
({11})
Die Evaluation zeigt, dass einige Instrumente, zum
Beispiel die Midijobs mit dem Ansatz geringer Lohnnebenkosten bei kleinen Einkommen, die Beschäftigung
erweitern. Das muss man doch einmal zur Kenntnis nehmen. Der Bericht zeigt weiter, dass die Minijobs zur
Senkung der Schwarzarbeit führen, aber keine Brücken
in den Arbeitsmarkt bauen.
({12})
Sie von der Bundesregierung sollten an dieser Stelle
keine Arbeitsgruppe einrichten, um lange über Kombilöhne zu diskutieren, sondern diese Ergebnisse des Berichts zur Kenntnis nehmen. Wir haben einen Vorschlag
gemacht. Für Sie ist es ganz einfach: Sie brauchen sich
diesem Vorschlag nur anzuschließen.
({13})
Dieser Vorschlag umfasst das so genannte Progressivmodell, in dem genau die erforderlichen Maßnahmen
enthalten sind: Minijobs, Midijobs und andere unübersichtliche Instrumente werden aufgelöst; Bezieher kleiner Einkommen zahlen geringe Beiträge und Bezieher
großer Einkommen zahlen hohe Beiträge in die Sozialversicherung. Das hat den Vorteil, dass die Senkung der
Lohnnebenkosten gezielt da wirkt, wo die meisten Jobs
geschaffen werden. Das hat den Vorteil, dass die Senkung der Lohnnebenkosten zu den höchsten Beschäftigungseffekten gerade in den Bereichen führt, in denen
Beschäftigung auch zukünftig möglich sein muss.
All dies kommt in Ihrer Politik nicht vor: Fehlanzeige
und Sitzen im Wartesaal. Es ist nichts anderes als ein
„Waiting for a Wunder“.
({14})
- Die Überschrift dieses Berichtes macht doch deutlich,
dass auf ein Wunder gewartet wird. Was darin beschrieben wird, ist zum Teil eine Persiflage auf die Zustände
am deutschen Arbeitsmarkt. Wir sitzen hier und warten
auf ein deutsches Wunder. Aber es wird ein solches
Wunder nicht geben, wenn die Bundesregierung nicht in
der Lage ist, auf das, was an Fakten auf dem Tisch liegt,
zu reagieren.
({15})
Fakt ist, dass wir in Deutschland Antworten brauchen
gerade auf die Herausforderungen im Bereich der Geringqualifizierten. Wir brauchen in Deutschland beispielsweise ein durchdachtes Konzept zur Senkung der
Lohnnebenkosten, das da ansetzt, wo es auch wirken
kann. Dieses Konzept muss finanzierbar sein. Seine
Finanzierung darf nicht durch eine Mehrwertsteuererhöhung erkauft werden, die im Nachgang dazu führen wird
- das ist vom DGB und anderen schon dargelegt worden -, dass die Konjunktur, die hoffentlich ein wenig anzieht, schon im Jahre 2007 zum Nachteil der Beschäftigten abgewürgt wird.
Wir sollten uns von dieser Politik der schwarz-roten
Koalition möglichst schnell verabschieden. Wir sollten
nicht im Wartesaal sitzen und auf ein Wunder hoffen,
sondern das Heft des Handelns in die Hand nehmen. Es
gibt viel zu tun. Der Bericht hat es dargelegt.
Danke schön.
({16})
Das Wort hat nun die Kollegen Katja Mast, SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen
und Kollegen! Wie Sie gehört haben, ist es eine Zwischenbilanz der Hartz-Gesetze I bis III. Die Evaluation
hat den Charakter einer ersten Bestandsaufnahme. Trotzdem sind einige Tendenzen bemerkenswert und verdienen unsere Aufmerksamkeit. Das gilt insbesondere für
die Existenzgründungen aus der Arbeitslosigkeit.
Sowohl das Überbrückungsgeld als auch die IchAG gehören zu den erfolgreichsten Instrumenten, um
Arbeitslose wieder in den Arbeitsmarkt zu integrieren.
Sogar das Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung, das nicht als Zuspitzer politischer Botschaften
bekannt ist, stellte fest, dass „beide Programme erfolgreich eine Rückkehr in die Arbeitslosigkeit vermeiden“.
Anderthalb Jahre nach Beginn der Förderung sind so
rund 70 Prozent der Empfänger von Überbrückungsgeld
und 80 Prozent der Menschen, die eine Ich-AG gegründet haben, noch immer selbstständig. Das sind deutliche
Anzeichen für eine - ich betone - nachhaltige Wirkung.
({0})
Gerade Frauen nutzen sowohl die Ich-AG als auch
das Überbrückungsgeld überdurchschnittlich oft. Circa
ein Drittel der neuen Selbstständigen ist weiblich; 2004
betrug im Bund der Anteil der Frauen an den Neuzugängen bei den Ich-AGs 43 Prozent. In meiner Heimat, in
der Region Pforzheim/Enzkreis, war es sogar 1 Prozentpunkt mehr, was mich besonders freut. In der Selbstständigkeit sehen also viele Menschen eine Chance, ihren
Berufs- und Lebensweg flexibel, eigenverantwortlich
und erfolgreich zu gestalten.
({1})
Unser Ziel in der Koalition ist es, die beiden Existenzgründungsinstrumente der Bundesagentur zusammenzuführen. Ich möchte ganz klar betonen, dass eine entsprechende Empfehlung im Evaluationsbericht zu finden ist.
Wir wollen den Erfolg dieser beiden Instrumente verstetigen und ausbauen.
({2})
Die Existenzgründungsförderung sollte als Pflichtleistung erhalten bleiben, das heißt als Anspruchsleistung
für gründungswillige und -fähige Arbeitslose; denn es
geht uns darum, dass die Arbeitslosen wissen, woran sie
sind.
({3})
Allerdings - auch dies wird im vorliegenden Bericht
deutlich; ich würde mir wünschen, dass meine Kolleginnen und Kollegen in ihren Statements ein bisschen mehr
beim Text des Berichts bleiben - müssen Mitnahmeeffekte besser verhindert und muss die Qualitätskontrolle der Businesspläne intensiviert werden.
Bemerkenswert an der Evaluierung der Hartz-Gesetze
sind für mich aber nicht nur die Förderinstrumente für
Existenzgründungen, sondern auch die Angebote, die
sich insbesondere an ältere Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer richten. Dies sind die Eingliederungszuschüsse - es existiert also schon heute gewissermaßen
ein Kombilohn -, die Entgeltsicherung, der Beitragsbonus und die Möglichkeit, ältere Arbeitnehmer ohne Kündigungsschutz einzustellen.
Ich fand es in den letzten Tagen wenig hilfreich, dass
immer wieder pauschal von guten und schlechten Instrumenten in den Hartz-Gesetzen gesprochen und geschrieben worden ist. Sowohl bei der Entgeltsicherung als
auch beim Beitragsbonus und den EingliederungszuKatja Mast
schüssen für Ältere lässt sich feststellen, dass die geringen Fallzahlen auf Unkenntnis sowohl bei den Vermittlern als auch bei Arbeitnehmern und Arbeitgebern
zurückzuführen sind. Hier ist eine Aussage darüber, ob
es sich um gute oder schlechte Instrumente handelt, noch
nicht möglich und daher nicht sinnvoll. Bis zum Abschlussbericht in circa einem Jahr wird es unter anderem
notwendig sein, die weit verbreitete Unkenntnis über die
Instrumente ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer betreffend zu verringern.
Leider muss aber auch festgestellt werden, dass sich
Unternehmen trotz Anreiz in der Tendenz schwer damit
tun, ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einzustellen. Ich erhoffe mir von der Initiative „50 plus“ wesentliche Impulse und eine stärkere öffentliche Debatte
darüber. Es muss unser Ziel sein, dass es nicht nur Einzelbeispiele wie die Firma Sixt oder aus Pforzheim die
Kramski Putter GmbH gibt, die die Leistungsfähigkeit
älterer Arbeitnehmer schätzen.
Deutlich wird das Gutachten bei den Sonderregelungen zu befristeten Einstellungen älterer Arbeitnehmer
- ich zitiere wörtlich -:
In einer quantitativen Analyse konnte bis Mai 2003
kein Effekt auf die Zahl der Einstellungen nachgewiesen werden.
Hier sprechen die Zahlen eine deutliche Sprache: In der
Altersgruppe der 48- bis 65-Jährigen hatten 3 Prozent einen befristeten Arbeitsvertrag. Dies ist nur wenig höher
als bei den angrenzenden jüngeren Altersgruppen. Ein
Effekt ist also nicht spürbar. Hier bin ich auf das Abschlussgutachten und auf die Debatte darüber gespannt,
ob eine Verringerung des Kündigungsschutzes tatsächlich zu mehr Beschäftigung in Deutschland führt.
({4})
Unser Leitbild des aktivierenden Sozialstaates, der
seine Bürgerinnen und Bürger fordert und fördert,
kommt gerade in den evaluierten Hartz-Gesetzen zum
Ausdruck. Die Beispielinstrumente für Existenzgründungen und die Förderung älterer Arbeitnehmer machen
deutlich, dass wir es mit dem Fördern ernst nehmen. Der
mit dieser Evaluierung angestoßene Prozess ist aus meiner Sicht dazu geeignet, die Hartz-Instrumente an den
Bedürfnissen der Menschen und den Gegebenheiten des
Arbeitsmarktes weiterzuentwickeln, sich von nicht effizienten Instrumenten zu lösen und erfolgreiche auszubauen.
Ich freue mich auf diesen Prozess gemeinsam mit Ihnen, werte Kolleginnen und Kollegen.
({5})
Frau Kollegin, das war auch für Sie die erste Rede in
diesem Haus. Herzlichen Glückwunsch dazu, verbunden
mit den besten Wünschen!
({0})
Nun hat das Wort der Kollege Stefan Müller, CDU/
CSU-Fraktion.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich will zunächst einmal feststellen, dass ich es für sehr
positiv erachte, dass wir diese Evaluation vornehmen.
Die Union hat dies seinerzeit in ihrem Entschließungsantrag im November 2002 gefordert. Alle Fraktionen - ich
glaube, auch die FDP; ich bin mir da nicht so sicher ({0})
waren sich darin einig, dass es diese Evaluation geben
soll. Wir waren der Meinung, dass es sinnvoll ist, die
Gesetze über moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt zu überprüfen und daraufhin zu sehen, inwieweit
das eine oder andere Modell oder das eine oder andere
Instrument zeitnah entsprechend modifiziert werden
sollte. Deshalb haben wir im Koalitionsvertrag vereinbart, alle arbeitsmarktpolitischen Instrumente auf den
Prüfstand zu stellen und gegebenenfalls zu verändern.
Hierfür stellt der Bericht, auch wenn es nur ein Zwischenbericht ist, eine gute Basis dar.
Wir wollen bis zum Jahr 2007 die aktive Arbeitsmarktpolitik durch die Zusammenführung und Vereinfachung von Instrumenten neu ausrichten. Es geht uns insbesondere darum, die Beitrags- und Steuermittel
effizienter und effektiver einzusetzen.
Wenn wir uns den Zwischenbericht einmal genauer
ansehen, dann stellen wir schon fest - es muss erlaubt
sein, das an dieser Stelle einmal vorzutragen -, dass die
Erwartungen, die die Hartz-Kommission seinerzeit geweckt hat, nicht erfüllt werden konnten. Es war Herr
Hartz selbst, der diese Erwartungen geweckt hat; es war
Herr Hartz, der von der Halbierung der Arbeitslosenzahl
gesprochen hat. Es lohnt sich an der einen oder anderen
Stelle durchaus, sich die Pressemeldungen von damals
noch einmal zu vergegenwärtigen. Ich muss das hier
nicht im Einzelnen vortragen.
({1})
Herr Hartz hat beispielsweise erklärt, mit dem Konzept
der Kommission, beginnend heute, 11 Uhr - das war am
16. August 2002 -, werde die Arbeitslosigkeit in den
nächsten drei Jahren um 2 Millionen gesenkt werden.
Das ist aus meiner Sicht mit ein Grund dafür, dass wir in
Zukunft sehr viel genauer hinsehen müssen, inwieweit
es überhaupt sinnvoll ist, solche Kommissionen einzurichten.
({2})
Ich glaube schon, dass die Erwartungen, die von solchen
Kommissionen geweckt werden, vor allem wenn sie von
entsprechenden Zitaten flankiert werden, letztendlich ein
Stück weit dazu beitragen, dass wir eine verhältnismäßig
Stefan Müller ({3})
schlechte Stimmung in diesem Lande haben. Wir sollten
also mit solchen Zielvorgaben sehr vorsichtig sein.
Die Zahlen selbst sind uns allen bekannt. Wir hatten
damals 4 Millionen Arbeitslose; heute sind es 5 Millionen. Das zeigt im Übrigen, dass die Skepsis der Union
damals durchaus angebracht war. Ich sage das überhaupt
nicht mit Schadenfreude. Mir wäre es lieber, wir hätten
nicht Recht behalten und hätten heute 2 Millionen Arbeitslose weniger in diesem Land. Wenn wir 2 Millionen
Arbeitslose weniger hätten, dann hätten wir an vielen anderen Stellen nicht die Probleme, mit denen wir es heute
zu tun haben, und würden wirtschaftlich insgesamt sehr
viel besser dastehen. Insofern sollten wir diesen Bericht
zum Anlass nehmen, zu überprüfen, inwieweit bei den
Instrumenten gegengesteuert werden muss. Zu verschiedenen Punkten ist schon einiges gesagt worden.
Lassen Sie mich eines festhalten: Natürlich zeigt der
Bericht der Forschungsinstitute sowohl Schattenseiten
als auch helle Seiten auf. Positiv ist auf jeden Fall der
begonnene und in Teilen schon durchgeführte Umbau
der Bundesagentur für Arbeit zu bewerten. Auf dem
Weg von einer traditionellen Arbeitsverwaltung hin zu
einem modernen Dienstleister ist die BA in den letzten
Jahren schon ein ganzes Stück weit vorwärts gekommen.
({4})
Der Bericht bestätigt im Übrigen, Herr Kollege Niebel,
dass die BA in dieser Beziehung ein ganzes Stück weiter
gekommen ist und dass der Umbau in die richtige Richtung geht. Wir sind ja durchaus der gleichen Auffassung,
wenn wir sagen, dass es noch nicht zu einem erfolgreichen Abschluss gebracht worden ist.
Die Ergebnisse des Berichts sind nicht gänzlich zufriedenstellend; das ist doch keine Frage. Das Herzstück
der Organisationsreform ist die Einrichtung von Kundenzentren. Im Bericht heißt es, dass es hier offenbar
noch Probleme bei der Umsetzung gibt. Auch die angestrebte Verbesserung der Kundenzufriedenheit durch
eine bessere Relation der Zahl der Kunden zu der Zahl
der Vermittler ist noch nicht erreicht. Da ist sicherlich
noch einiges zu verbessern; auch das ist keine Frage.
Nur müssen wir uns ehrlicherweise vergegenwärtigen,
dass der Berichtszeitraum Anfang 2005 endet. Einiges,
was danach erreicht worden ist, kann in dem Bericht also
noch gar nicht enthalten sein. Die Institute attestieren
aber, dass die BA auf ihrem Reformkurs ein ganzes
Stück weiter gekommen ist, dass sie sich weiterentwickelt hat und dass sich auch die Kundenwahrnehmung
geändert hat. Wenn es aber um die Bewertung der Arbeit
und der Reformen der BA geht, müssen wir auf den Abschlussbericht warten.
Ich möchte trotzdem feststellen, dass die Arbeit der
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bundesagentur für
Arbeit hervorragend war. Wir sollten das, was dort geleistet worden ist, nicht schmälern.
({5})
Man muss sich schließlich vor Augen halten, dass die
gesamte Umorganisation der BA parallel zum Betrieb,
zur Kundenbetreuung lief. Insofern können wir durchaus
von gewissen Erfolgen sprechen.
Das wird im Übrigen auch deutlich, wenn man sich
einmal den Haushalt der Bundesagentur für Arbeit
ansieht. Durch die neuen Steuerungsmodule konnten innerhalb von knapp zwei Jahren insgesamt 7 Milliarden
Euro eingespart werden, und das ohne negative Effekte
auf die Eingliederungsquote. Die BA geht davon aus,
dass in diesem Jahr ein Überschuss erwirtschaftet werden kann. Es ist doch zwingend, liebe Kolleginnen und
Kollegen, den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung im
kommenden Jahr zu senken, wenn dort Überschüsse erwirtschaftet werden. Genau das haben wir uns vorgenommen.
Wir tun gut daran, die Bundesagentur für Arbeit auf
ihrem Weg zu einem modernen Dienstleister zu begleiten. Nur mit einer modernen und dienstleistungsorientierten Arbeitsverwaltung werden sich tatsächlich Vermittlungserfolge am Arbeitsmarkt einstellen. Es ist
wichtig, klar zu machen, dass Arbeitslose in den Agenturen nicht als Bittsteller behandelt werden. Sie sind Kunden, denen geholfen werden muss. Es geht um die Unterstützung der Menschen, die arbeiten wollen, und nicht
schlicht um Fürsorge.
({6})
Liebe Kollegin Dückert, ich möchte noch ein paar
Worte zum Antrag der Grünen verlieren. Ihr Antrag liest
sich ein Stück weit wie ein Lobgesang auf das Instrument der Ich-AG. Dabei berufen Sie sich auf den Bericht. Ganz so einfach ist es meines Erachtens aber nicht;
der Kollege Brauksiepe hat dazu schon das eine oder andere gesagt. Ich möchte aus dem Bericht vortragen:
Viele der Gründer haben sich offenbar weniger aus echter Überzeugung, sondern vor allem wegen fehlender
Alternativen auf dem Arbeitsmarkt für die Selbstständigkeit entschieden.
An anderer Stelle heißt es: Nur wenige der Geförderten haben eine detaillierte Gründungsberatung von der
Bundesagentur erhalten und hatten „kein wirklich durchdachtes und durchgerechnetes Konzept für ihre Gründung“.
({7})
Es geht weiter: Bei der Förderung liegen zugleich auch
Hinweise auf Mitnahme vor. „Systemimmanente Fehlanreize der Förderung können also nicht ausgeschlossen
werden.“
Im Bericht wird geschlussfolgert, dass eine systematische Verzahnung mit anderen Förderinstrumenten
ebenso wie die Zusammenführung der beiden Instrumente Ich-AG und Überbrückungsgeld sinnvoll ist. Als
Stefan Müller ({8})
Beleg für das, was Sie in Ihrem Antrag fordern, dient der
Bericht also nicht.
Sie kommen in Ihrem Antrag weiter zu der Erkenntnis, dass durch die Minijobs die Schwarzarbeit zwar ein
wenig zurückgedrängt werden konnte, sich aber gleichwohl keine richtigen Erfolge eingestellt haben. Richtig
ist, dass auch wir uns hätten vorstellen können, dass sie
eine Brücke in reguläre, sozialversicherungspflichtige
Beschäftigungsverhältnisse bilden. Aber, meine Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, ich finde, dass allein die Tatsache, dass durch Minijobs die Schwarzarbeit
zurückgedrängt worden ist, als großer Erfolg gewertet
werden kann; denn dem Staat gehen jedes Jahr
17 Milliarden Euro durch die Schattenwirtschaft verloren. Wenn wir es mit einem solchen Instrument schaffen,
die Schattenwirtschaft zurückzudrängen, dann kann man
mit Fug und Recht von einem Erfolg sprechen.
Wir werden sicherlich weiterhin intensiv um gute Lösungen ringen, damit wir das, was wir uns alle vorgenommen haben und was im Interesse des ganzen Hauses
ist, auch umsetzen können. Wir alle wollen die Arbeitslosigkeit in dieser Legislaturperiode signifikant senken.
Die Opposition ist natürlich herzlich eingeladen, uns auf
diesem Weg konstruktiv zu begleiten.
({9})
Ich erteile das Wort dem Kollegen Werner Dreibus,
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Herr Staatssekretär Andres,
trotz aller persönlichen Wertschätzung und alter Verbundenheit hätte ich erwartet, dass zu diesem ehemals als
Herzstück der Agenda 2010 bezeichneten Komplex der
Arbeitsmarktreformen heute Morgen der verantwortliche Minister und damalige SPD-Vorsitzende selbst vor
diesem Hohen Haus Verantwortung für das übernimmt,
was in diesem Bericht niedergelegt ist.
({0})
Wir haben die Ankündigung des Ministers im Ausschuss für Arbeit und Soziales, die Arbeitsmarktpolitik
auf den Prüfstand zu stellen und dann das abzuschaffen,
was ineffizient ist, und das beizubehalten und auszubauen, was sich als erfolgreich erwiesen hat, mit großer
Aufmerksamkeit gehört. Wenn man diesen Zwischenbericht als das ansähe, was er wirklich ist, nämlich als ein
Dokument, das das Scheitern dieser Arbeitsmarktreformen belegt, dann wäre es notwendig und richtig, den Minister heute dazu aufzufordern, seinen Worten Taten folgen zu lassen.
({1})
Wir erwarten von Ihnen als großer Koalition, dass aus
den Erkenntnissen in diesem Bericht zügig Konsequenzen gezogen werden. Die grundsätzliche Konsequenz
muss sein, die Förderung der Arbeitslosen zu stärken
statt die Arbeitslosen mit allerlei nutzlosen Forderungen
weiter zu schikanieren.
({2})
Ich will mich ausdrücklich bei den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die an diesem Bericht mitgewirkt haben, bedanken, weil sie ein für meine Begriffe
wirklich wichtiges, wenn auch nur ein vorläufiges Dokument zustande gebracht haben, das wie ein Offenbarungseid des so genannten Herzstückes der
Agenda 2010, wie ich es bereits in meinen Einleitungsworten genannt habe, ist.
Wir erwarten, dass die Koalition zur Kenntnis nimmt,
dass die ausgewiesene Zunahme geringfügiger Beschäftigungsverhältnisse keine Erfolgsgeschichte ist. Im Bericht wird zu Recht die Zunahme so genannter reformierter Beschäftigungsverhältnisse, der Mini- und
Midijobs, gelobt. Verschwiegen wird aber, dass diese
Zunahme mit dem Verlust regulärer, versicherungspflichtiger Beschäftigungsverhältnisse erkauft wurde.
({3})
Ich will auf Folgendes hinweisen: Die neuesten Zahlen der Bundesknappschaft für das zweite Halbjahr 2005
belegen, dass auch die Anzahl der Mini- und Midijobs,
also der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse, drastisch zurückgeht, laut diesen Zahlen um knapp 700 000.
Diese Zahl ist beim besten Willen kein Beleg dafür, dass
man die Entwicklung in diesem Bereich als Erfolg verkünden könnte, wie Herr Andres in seiner Einleitungsrede versucht hat, es uns glaubhaft zu machen. Herr
Andres, ich unterstelle Ihnen einmal, dass Sie im Moment mit sehr viel Arbeit eingedeckt sind, was dazu geführt hat, dass Sie diesen Bericht nicht allzu aufmerksam
lesen konnten. Jedenfalls hatte Ihre Art der Zusammenfassung aus meiner Sicht relativ wenig mit dem Inhalt
des Berichtes zu tun.
({4})
Der Bericht der Bundesregierung sagt aber noch etwas viel Bedeutenderes aus. Er sagt aus, dass Arbeitsmarktpolitik nur dafür gut ist, den Ausgleich zwischen
Arbeitsnachfrage und Arbeitsangebot zu verbessern. Sie
ist nicht dafür geschaffen, die Nachfrage nach Arbeit zu
erhöhen. Insofern ist weiterhin Herzstück unserer Position, dass wir ein solides Beschäftigungsprogramm brauchen, ein solides Zukunftsinvestitionsprogramm mit
deutlich anderen Größenordnungen, als sie bisher vorgelegt wurden. Für einen nachhaltigen Beschäftigungsaufbau brauchen wir ordentlich Wasser auf die Mühlen, und
zwar deutlich mehr als 6 Milliarden Euro jährlich, wie es
in Ihrer Planung vorgesehen ist.
({5})
Das ist aus unserer Sicht die Quintessenz dieses Berichtes. Sie haben jetzt schwarz auf weiß, dass ein grundlegender Wechsel Ihrer Politik hin zu mehr Beschäftigung und zur Förderung von Arbeitslosen und keine
weiteren Schikanen geboten sind.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat nun der Kollege Wolfgang Meckelburg,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Für mich ist dies der erste Auftritt in Zeiten der
großen Koalition, und zwar zu einem, wie ich glaube,
nicht ganz einfachen Thema, weil wir dazu bisher sehr
unterschiedliche Auffassungen hatten. Meiner Meinung
nach kann man an dieser Debatte den Übergang von RotGrün zur großen Koalition erkennen. Denn nun müssen
wir gemeinsam überlegen, was wir an der bisherigen Arbeitsmarktpolitik, die wir sehr kritisch beurteilen, ändern
können, um sie in eine gute Zukunft zu führen.
Da ich im Jahr 2002, als vieles von dem entstanden
ist, was im vorliegenden Bericht behandelt wird, dabei
war, will ich an die Situation erinnern: Im Job-AQTIVGesetz wurden von Rot-Grün die Grundsätze vom Fördern und Fordern in den Vordergrund gerückt. Es kam
zur Vermittlungskrise bei der Bundesagentur. Daraufhin
war bei Rot-Grün eine hektische Aktivität zu erkennen.
Durch ein relativ schnelles Verfahren wurde die Einführung von Vermittlungsgutscheinen ermöglicht. Aus
heutiger Sicht kann man sagen: Dass das nicht funktioniert hat, war eine logische Konsequenz dieser Hektik.
Wir haben damals den Umbau der Arbeitsverwaltung
eingeleitet - hier sind wir auf einem guten Weg - und
den Beschluss gefasst, eine Kommission einzusetzen,
die die Ergebnisse ihrer Beratungen am 16. August 2002
präsentierte.
Um den Koalitionsfrieden nicht zu gefährden, werde
ich nicht an all die Versprechen erinnern, die Peter Hartz
damals, am 16. August 2002, gegeben hat. Sein Hauptversprechen lautete:
Ziel des Masterplans ist es, die Zahl der Arbeitslosen in drei Jahren um 2 Millionen zu reduzieren.
Ich glaube, ich störe den Koalitionsfrieden nicht, wenn
ich feststelle: Ein so großer Masterplan ist das offensichtlich nicht gewesen. Die Hauptbotschaft, die sich aus
dieser Feststellung für die große Koalition ergibt, lautet:
Wir müssen den gescheiterten Masterplan von Hartz in
eine erfolgreiche Politik kleiner Schritte am Arbeitsmarkt umwandeln.
({0})
Das ist das Interesse, das wir als große Koalition verfolgen.
({1})
Es ist wichtig, dass wir in kleinen Schritten vorgehen,
statt, wie es bisher der Fall war, in Hektik zu verfallen.
({2})
- Hier unterscheiden wir uns vielleicht von Ihnen, Herr
Niebel. Sie wissen ja immer ganz genau, wie die Welt
funktioniert.
Ich finde, wir sollten uns ruhig Zeit nehmen und mit
der nötigen Sorgfalt und Ehrlichkeit vorgehen. Wir brauchen Zeit,
({3})
dürfen aber nicht - da haben Sie Recht - in eine Politik
der ruhigen Hand verfallen.
({4})
Ich möchte nun auch den Abgeordneten der SPD die
Möglichkeit geben, Beifall zu klatschen, und das aufgreifen, was Karl-Josef Laumann zwei Jahre nach der
Arbeit der Hartz-Kommission im Französischen Dom
gesagt hat - dem können wahrscheinlich auch Sie von
der FDP an vielen Stellen zustimmen -: Zu einer seriösen Bewertung der vier Hartz-Gesetze gehört natürlich
auch, zu sagen, dass sich dadurch in Deutschland in den
vergangenen zwei Jahren - jetzt sind es bereits drei Jahre etwas bewegt hat.
({5})
Wir haben erste strukturelle Reformen, zum Beispiel die
Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe
und Veränderungen bei der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes, vorgenommen
({6})
und für die Stärkung des Unternehmergedankens gesorgt.
({7})
- Ja, natürlich. Das ist ein Ergebnis der Einführung der
Ich-AG, das ich positiv finde; ansonsten ist dieses Instrument sicherlich sehr kritisch zu sehen. ({8})
Wir haben mit dem Umbau der Bundesanstalt begonnen
und insbesondere bei den Mini- und Midijobs durchaus
Erfolge erzielt.
Nun führen wir eine Diskussion über die Bewertung
all dieser Maßnahmen und müssen zu tragfähigen Ergebnissen kommen. Wir befinden uns mitten in diesem Prozess. Wir haben bereits erste Schritte auf den Weg gebracht und die Befristung einiger Maßnahmen
verlängert; manches ist schon am 1. Januar 2006 Gesetz
geworden. Befristungen waren vor allem bei der Förderung der Weiterbildung älterer Arbeitnehmer, der Beauftragung von Trägern mit Eingliederungsmaßnahmen
- das wird im vorliegenden Bericht übrigens positiv bewertet - und der Entgeltsicherung für ältere Arbeitnehmer zu beachten. Durch diese Maßnahmen unterstützen
wir vor allen Dingen diejenigen, die am ersten Arbeitsmarkt Schwierigkeiten haben. Das bedeutet nicht, dass
alles so bleibt, wie es ist. Vielmehr wollen wir Luft gewinnen, um eine ehrliche Diskussion führen zu können.
Zurzeit befinden wir uns in einem zweiten Gesetzgebungsverfahren, das nächste Woche zum Abschluss gebracht werden wird. Dabei geht es um das Arbeitslosengeld II; das hat nicht direkt mit dem vorliegenden
Bericht zu tun, aber schon mit dieser Problematik. Wir
werden das Ostniveau an das Westniveau anpassen und
weitere Korrekturen vornehmen, was den Erstbezug von
Wohnungen bei unter 25-Jährigen angeht und was die
Frage betrifft, inwieweit 25-Jährige zu den Bedarfsgemeinschaften gehören.
Lassen Sie mich uns alle auffordern, die heutige Debatte über den Zwischenbericht als Einstieg in eine offene und ehrliche, in eine gründliche und gewissenhafte
Analyse zu nehmen. Lassen Sie uns möglichst gemeinschaftlich Konsequenzen ziehen, was die Einzelmaßnahmen angeht. Ein Weniger an Maßnahmen ist für die Betroffenen möglicherweise ein Mehr. Wir müssen die
Maßnahmen stärker bündeln; das hat auch der Arbeitsminister erkannt.
Die PSA, die Personal-Service-Agentur, ist durch
das, was wir beschlossen haben, bereits seit dem
1. Januar 2006 praktisch abgeschafft; denn es besteht
nicht mehr der Zwang für jedes Arbeitsamt, jeden Arbeitsamtsbezirk, eine Personal-Service-Agentur einzurichten. Dies ist, wie man nachlesen kann, nicht erfolgreich gewesen. Die Vermittlung dieser Arbeitslosen
muss die gewerbliche Zeitarbeit übernehmen, eine Branche, die immer Hilfestellung geleistet hat.
Ich nenne ein weiteres Stichwort, die Minijobs, bei
denen es eine rasante Entwicklung gegeben hat. Sie sind
sicherlich keine Hilfe, um aus der Arbeitslosigkeit in den
ersten Arbeitsmarkt zu kommen. Es zeigt sich aber, dass
es einen entsprechenden Bedarf gibt. Was kann man daraus lernen? Offensichtlich wird Arbeit insbesondere
dann interessant, wenn sie nicht zu stark mit Steuern und
Abgaben belastet ist. Das heißt, wir müssen den Blick
auf die Midijobs richten und dringend zu einer Entlastung kommen. Deswegen haben wir miteinander beschlossen, zum 1. Januar des nächsten Jahres den Arbeitslosenversicherungsbeitrag um 2 Prozentpunkte zu
senken.
Zum Abschluss möchte ich etwas sagen, was in dieser
Diskussion bisher niemand gesagt hat, was aus meiner
Sicht aber sehr wichtig ist: Wir müssen immer im Blick
behalten, dass die Politik, auch die Arbeitsmarktpolitik,
keine Arbeitsplätze schaffen kann.
({9})
Wir können nur Hilfestellung leisten, damit die Betroffenen in den ersten Arbeitsmarkt kommen. Was wir dringend brauchen, ist eine parallele Politik, die die Wirtschaft voranbringt und die Unternehmen in die Lage
versetzt, Arbeitsplätze zu schaffen.
({10})
Dazu werden wir als Koalition unseren Beitrag leisten.
Wir sind auf einem guten Weg.
({11})
Das Wort hat nun der Kollege Klaus Brandner, SPDFraktion.
({0})
Verehrte Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen
und Herren! Die Evaluation der arbeitsmarktpolitischen
Gesetzgebung bietet die Gelegenheit zum Rückblick auf
Zielsetzung und Zielerreichung.
({0})
Ich habe heute gehört, dass das eine oder andere Instrument nicht so gewirkt hat. Das ist schnell gesagt, Herr
Kolb.
({1})
Aber ich glaube, gerade in der Arbeitsmarktpolitik brauchen wir weniger Schlaumeier und mehr Menschen, die
bereit sind, Verantwortung zu tragen.
({2})
Mit der Kritik an einzelnen Instrumenten ist es nicht getan. Die Arbeitsmarktreformen sind nämlich mehr als
die Einführung einzelner Instrumente.
Wir haben heute Morgen Standardreden gehört, angefangen mit der von Herrn Niebel,
({3})
die wir zum 23. Mal, vielleicht auch schon öfter, gehört
haben. Natürlich kann man eine solche Rede auswendig
lernen; auch das ist natürlich eine Leistung, Herr Niebel.
Das will ich gar nicht bestreiten.
({4})
Aber ich finde es beschämend, wie Sie über die stellvertretende Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes gesprochen haben - das kann man so nicht hinnehmen ({5})
und dass Sie den Personalrat, der von der Mehrheit der
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der Bundesagentur für Arbeit gewählt worden ist, um ihre Interessen
wahrzunehmen, als Blockierer und Verhinderer hingestellt haben.
({6})
Ausgerechnet ihn haben Sie als Übeltäter dafür ausgemacht, dass die Reformen nicht wirken.
({7})
Das spiegelt Ihr demokratisches Verständnis wider: Weg
mit den Arbeitnehmerrechten, zurück zum Herrschaftsrecht! Das ist Ihr Stil; das muss hier ganz offen gesagt
werden.
({8})
Die heutige Debatte ist sehr spannend. Kollegin
Dückert hat davon gesprochen, dass man nicht auf den
Abschlussbericht warten darf.
({9})
Nun haben wir gemeinsam sehr engagiert und, wie ich
glaube, auch sehr erfolgreich die Gesetzgebung auf den
Weg gebracht. Dabei hat sie gemerkt, dass wir gar keine
Lame Ducks sind, sondern diesen Evaluationsbericht auf
den Weg gebracht haben.
Herr Müller, mir war ganz neu, dass die CDU damals
schon mit im Boot war. Ich erinnere mich noch gut daran, dass wir von Rot-Grün den Antrag gestellt haben.
Wir hatten den Mut, sicherzustellen, dass diese umfangreiche Reform wissenschaftlich begleitet wird, die Ergebnisse öffentlich präsentiert werden und dann auch die
Konsequenzen gezogen werden.
({10})
Insofern will ich hier ganz klar sagen: Im Kern setzen
wir die Arbeitsmarktpolitik, die Rot-Grün mit der
Agenda 2010 begonnen hat, mit Schwarz-Rot fort.
Dabei haben wir einen großen strategischen Vorteil,
nämlich dass die Blockadepolitik, die die wirksame Umsetzung beschäftigungspolitischer Facetten verhinderte,
jetzt endlich beendet ist.
({11})
Wir haben die Chance, zum Beispiel die Gebäudesanierungsprogramme, die Programme für die Handwerker,
die beschäftigungspolitischen Initiativen zur Verbesserung der Infrastruktur, aber auch die Maßnahmen zur
Ganztagsbetreuung umzusetzen. Zur Umsetzung dieser
strukturellen politischen Maßnahmen hatten wir in
der Vergangenheit wegen der Blockade im Bundesrat
wenig Gelegenheit.
({12})
Das ist ein strategischer Vorteil für die Menschen in diesem Lande. Sie haben das gemerkt. Deshalb stehen sie
zur großen Koalition.
({13})
Am Ende werden wir natürlich auch über einzelne
Maßnahmen streiten. Aber ich setze darauf, dass die
Kraft der Argumente siegt. Die Bereitschaft und die Fähigkeit zum Kompromiss sind die Voraussetzungen für
ein gedeihliches Zusammenwirken. Das habe ich bisher
erlebt. Ich baue darauf, dass wir genau diesen Weg auch
mit dem Kollegen Brauksiepe und anderen, die in der arbeitsmarktpolitischen Debatte Verantwortung übernehmen, fortsetzen werden.
({14})
Herr Meckelburg hat sehr offen darüber gesprochen,
dass er aus Gründen des Koalitionsfriedens an das eine
oder andere in der Vergangenheit nicht unbedingt erinnern mag. Aber darüber können wir sprechen, sogar offensiv.
({15})
Die Präsentation von Herrn Hartz hat große Erwartungen
bezüglich der Arbeitsmarktpolitik in diesem Land geweckt, die so nicht erfüllt werden konnten und die sich
die SPD-Bundestagsfraktion auch in der Vergangenheit
nicht zu Eigen gemacht hat. Aber dass wir einen Aufbruch, eine Veränderung brauchen, hat doch nie in
Zweifel gestanden.
({16})
Wenn wir über die Vergangenheit reden - Herr Kolb,
da wäre ich nicht so vollmundig -, dann werden wir natürlich auch über die AB-Maßnahmen reden müssen,
von denen Sie - Sie sind ja lange genug dabei gewesen Hunderttausende organisiert haben, um die Arbeitsmarktstatistik zu schönen. Wir haben am Ende gemeinsam daraus gelernt. Wir haben auch aus den Erfahrungen
mit dem Vorruhestand gelernt, den nicht die SPD eingeführt hat, sondern den Sie mit Ihrem alten Koalitionspartner gemacht haben.
({17})
Wir haben daraus gelernt, dass nicht wirksame arbeitsmarktpolitische Instrumente nicht fortgeführt werden
können. Dazu hat Rot-Grün die Kraft gehabt. Das müssen Sie sich ins Stammbuch schreiben lassen.
({18})
- Natürlich ist es so.
Deshalb will ich hier ganz deutlich sagen: Die Stigmatisierung muss beendet werden. Wir haben sie beendet. Das ist gut für die Menschen in diesem Land. Wir
werden jetzt darangehen, die weitreichendsten Reformen am Arbeitsmarkt, die wir mit dem Ziel einer
schnelleren, passgenauen Vermittlung und der Schaffung
neuer Beschäftigungspotenziale, aber auch der Neustrukturierung der Bundesagentur für Arbeit und der
Förderinstrumente angegangen sind, systematisch fortzusetzen.
Wir, die Sozialdemokraten, sind stolz, dass wir die
Kraft gehabt haben, dieses große Reformpaket voranzubringen. Alle wissenschaftlichen Institute im wirtschaftspolitischen Bereich - national und international bestätigen, dass wir mit diesen Reformprojekten richtig
liegen. Sie haben erkannt, dass wir Arbeitslosigkeit nicht
weiter verwalten wollen, sondern mehr Chancen für arbeitslose Menschen brauchen. Daran müssen wir zielgerichtet arbeiten.
Wir lassen uns den Erfolg nicht durch Kritik der Opposition am Tempo der Umsetzung nehmen.
({19})
Wir haben bisher weder von der rechten noch von der
linken Seite Schritte erleben können, die dazu beigetragen hätten, dass es mehr Beschäftigung in diesem Land
gibt.
Die Hartz-Gesetze haben die Strukturen der Vermittlung verändert. Sie haben neue Förderinstrumente
entstehen lassen und ein völlig neues Denken in die Arbeitsmarktpolitik gebracht. Arbeitslose sind Kunden, um
die man sich kümmert, die man betreut, und nicht Nummern, die man einfach nur versorgt. Das ist eine ganz wesentliche inhaltliche Änderung. Hier sind wir auf einem
guten Weg. Ich finde, eine Missachtung der Leistung der
Beschäftigten der Bundesagentur, die diese Prozesse und
Maßnahmen so offensiv vorangetrieben haben, ist nicht
hinzunehmen. Man kann ihnen nicht genügend dafür
danken, dass sie es geschafft haben, wesentliche Veränderungen auf den Weg zu bringen. Innerhalb eines Umbauprozesses werden die Bearbeitungsprozesse bezüglich der Langzeitarbeitslosigkeit im SGB II und der
Arbeitslosigkeit im SGB III durch Strukturreformen angegangen. Dabei sind wir ja erst am Anfang dieses Weges. Dafür brauchen wir die Motivation dieser Menschen
und wir können ihnen an dieser Stelle ganz herzlich dafür
danken, was sie auf diesem Gebiet bisher schon geleistet
haben.
({20})
Der Grundsatz Fördern und Fordern ist das Leitmotiv unserer modernen Arbeitsmarktpolitik geworden:
Fordern durch klare Regeln der Zumutbarkeit und Fördern durch einen Strauß von angepassten Instrumenten
für einzelne Zielgruppen. Die schnelle und passgenaue
Vermittlung steht dabei im Vordergrund. Ich will es ganz
deutlich sagen: Bei uns steht das Fördern vornan. Dem
Fordern geht das Fördern voraus. Ich will ganz deutlich
sagen, dass wir dabei auf einem guten Weg sind.
Wir wissen, dass noch nicht überall die erforderliche
Anzahl an Menschen vorhanden ist, die diesen Prozess
gestalten müssen. Wir wissen auch, dass die erforderliche Qualifikation bei einzelnen Vermittlerinnen und Vermittlern noch nicht gegeben ist. Wir sehen aber doch die
systematischen Maßnahmen sowohl bezüglich der Anzahl derjenigen, die sich dieser Arbeit widmen, als auch
bezüglich des Qualitätsaufbaus bei denjenigen, die die
Menschen sachkundig beraten. Das müssen wir unterstützen und positiv herausstellen. Es geht nicht um
„Wünsch dir was“, es geht darum, das Machbare zügig
voranzubringen. Das heißt überhaupt nicht, dass wir die
Hand in den Schoß legen, sondern das ist ein Zeichen
der Akzeptanz, dass Reformen Zeit und Kontinuität
brauchen. Dem stellen wir uns.
({21})
Ich habe deutlich gemacht, dass die Reformen am Arbeitsmarkt in den Prozess der Agenda 2010 zur Modernisierung unseres Landes eingebunden sind. Sie sind mit
Strukturreformen verbunden, bei denen Innovation und
soziale Balance Kernelemente des Reformprozesses
sind. Um es ganz deutlich zu sagen: Arbeitsmarktreformen, die nicht in beschäftigungspolitische Reformen
eingebunden sind, können ihre Wirkungen nicht entfalten.
Genau das ist die Erkenntnis, die beide großen Koalitionspartner im Kern gewonnen haben. Wir wissen, dass
man die Strukturkrisen am Arbeitsmarkt nicht dadurch
beseitigt, dass man nur neue Instrumente organisiert,
sondern dadurch, dass man den gesamten Rahmen organisiert. Diesem Ziel sind wir gemeinsam verpflichtet. Ich
denke, das ist auch die gemeinsame Leitbasis, von der
aus wir unsere Politik für die Zukunft gestalten werden.
Insofern darf ich Ihnen sagen: Die Arbeitsmarktreformen sind in gesamtwirtschaftliche Reformen eingebettet. Durch sie allein können wir keine arbeitsmarktpolitischen Erfolge erzielen. Dies wird nur gelingen, wenn wir
auch in der Wirtschafts-, Finanz- und Innovationspolitik
Erfolge erreichen. Deshalb kann ich nur dazu aufrufen,
dass wir den gesamten Reformprozess in diesen Bereichen nutzen. Die Chancen dazu haben sich in der großen
Koalition verbessert.
({22})
Ich darf sie alle um konstruktive Mitarbeit bitten;
denn nur dann helfen wir den arbeitslosen Menschen in
diesem Lande.
({23})
Wir helfen ihnen nicht dadurch, dass wir das Schlechtreden der Vergangenheit fortsetzen. Dadurch ist noch kein
Arbeitsplatz entstanden. All diejenigen, die jetzt versuchen, irgendwo ein Härchen in der Suppe zu finden,
sollten sich merken: Das hilft dem Land und den Menschen nicht weiter.
({24})
Ich fordere Sie zur Zusammenarbeit auf.
({25})
Ich erteile dem Kollegen Eckhardt Rehberg, CDU/
CSU-Fraktion, das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Abgeordnete! Durch das Gutachten werden ja nicht nur kleine
Härchen zutage gefördert,
({0})
sondern an der einen oder anderen Stelle wird ein kleines
Büschelchen daraus. Ich glaube aber, dass man hier die
Schadenfreude beiseite packen und wirklich nach vorne
schauen sollte.
Das, was man im arbeitsmarktpolitischen Bereich tut,
sollte man auch mit Blick darauf betrachten, wie das am
Beispiel der Ich-AGs auf die kleinen und mittelständischen Unternehmen gerade im Osten Deutschlands
wirkt. Dort sind die Wurzeln für sie nicht so tief wie in
den alten Ländern. Kollegin Mast, Sie haben davon gesprochen, dass 80 Prozent der Existenzgründer noch immer selbstständig sind. Wenn ich das richtig in Erinnerung habe, war der Starttermin für diese Art von
Existenzgründungen der 1. Januar 2003. Das heißt, wir
können erst jetzt prüfen, wie die Lage im Jahr 2006,
vielleicht sogar im Jahr 2007 aussieht, insbesondere vor
dem Hintergrund der Absenkung des Zuschusses um insgesamt 14 400 Euro, übrigens ohne monetäres Risiko.
Schauen Sie sich einmal vor Ort um. Sie werden feststellen, dass die Situation im Osten ein Stück weit anders
ist als im Westen, weil das Angebot an Arbeit und Aufträgen viel geringer als im Westen ist. Bei Ausschreibungen gehen viele folgendermaßen vor: So mancher Malermeister - ich sage Ihnen, dieser gehört auch dazu fordert seine fünf Gesellen auf, Ich-AGs zu gründen.
Diese müssen dann als Unternehmen einschließlich Subunternehmen sehen, wie sie an die Aufträge herankommen. Wir müssen uns fragen: Warum ist es im
Jahre 2004 bei den Ich-AGs zu einem Einbruch gekommen? Der Grund ist, dass Coaching und ein Businessplan eingeführt worden sind. Jetzt einfach den Pflock
einzuschlagen und die Zuschüsse zu den Ich-AGs weiterhin verpflichtend zu machen, kann nicht der richtige
Ansatz sein.
({1})
Hier muss man weiter schauen, und zwar nicht nur mit
Blick auf die Arbeitsmarktstatistik. Diese mag zwar gut
aussehen, aber die Frage ist: Wie wirkt sich das auf den
wirtschaftlichen Bereich aus?
Meine sehr verehrten Damen und Herren von der
FDP, was wir Ihnen voraushaben, ist,
({2})
dass wir uns dieses Gutachten gründlich durchlesen und
uns überlegen, wie man die bestehenden Instrumente
neu ausrichten kann, besonders mit Blick auf den Mittelstand und die Wirtschaft, nicht nur im Osten, sondern
auch im Westen. Deswegen sollte man an dieser Stelle
eine offene, ehrliche und ideologiefreie Debatte ohne
Scheuklappen führen. Das sollte am heutigen Tage der
Ansatz sein.
({3})
Wir brauchen schon Existenzgründungen aus der Arbeitslosigkeit heraus. Deswegen müssen wir uns fragen:
Warum ist das Überbrückungsgeld seit 20 Jahren relativ erfolgreich?
({4})
- Sehr geehrter Herr Kollege Niebel, ich habe in Erinnerung, dass 1986 der Bundesarbeitsminister Norbert
Blüm hieß.
({5})
Weiterhin habe ich in Erinnerung - ich konnte das nur
im Fernsehen erleben -, dass der Bundeskanzler Helmut
Kohl hieß. Man sollte also so fair sein, festzustellen,
dass dies von Union und FDP eingeführt worden ist.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Niebel?
Herzlich gerne.
({0})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Stimmen Sie mir demnach zu, dass 1986 Union und FDP gemeinsam regiert
haben und dass von daher mein Zwischenruf „Weil wir
es gemeinsam eingeführt haben!“ richtig ist?
Ich antworte Ihnen folgendermaßen: Das Überbrückungsgeld ist ein gutes Instrument und wirkt bei Höherqualifizierten ganz offenkundig besser, die auf diese
Weise mit einem relativ hohen Einkommen aus der Arbeitslosigkeit herauskommen. Die Ich-AG wirkt bei Geringqualifizierten gut, die mit einem nicht so hohen
Überbrückungsgeld aus der Arbeitslosigkeit heraus eine
Existenz gründen wollen.
({0})
Wir müssen uns überlegen, wie wir mit diesen beiden
Instrumenten verbunden - möglicherweise mit einer
Darlehensförderung - einen gewissen Zeitraum überbrücken können. Existenzgründer, die das Überbrückungsgeld in Anspruch genommen haben, haben nach ein oder
zwei Jahren finanzielle Probleme. Wir müssen eine längerfristige Förderung dieser Unternehmen mit einem
monetären Risiko für den Existenzgründer einführen.
({1})
Da sind wir, Herr Kollege Niebel, gemeinsam auf dem
richtigen Weg. Machen wir aus zwei interessanten Instrumenten ein richtig gutes Instrument. Dann kommen
wir weiter voran.
({2})
Ein Satz zu den Mini- und Midijobs. Diese Jobs sind
nie als Brücke in den ersten Arbeitsmarkt gedacht gewesen. Aber Menschen, die fünf oder zehn Jahre lang überhaupt keine Beschäftigung hatten und dann die Möglichkeit erhalten, einen Mini- und Midijob zu bekommen
und damit in einem sozialen Umfeld beschäftigt zu sein,
erwächst daraus die Chance, eine unbefristete Beschäftigung zu erhalten. Deswegen ist dieses Instrument gut
und richtig.
({3})
Besonders interessant - ich glaube, das kann wohl
nicht anders sein - sind die Vorschläge, die die Kollegin
Kipping von der Linkspartei heute vorgetragen hat, wie
wir in der Arbeitsmarktpolitik in Deutschland vorankommen. Frau Kollegin, ich habe noch nie erlebt, dass
mehr Verwaltung - sprich: mehr Bürokratie; es war doch
Ihr Vorschlag, mehr Personal in der Bundesagentur einzustel-len - dazu geführt hat, dass irgendein Problem in
Deutschland gelöst worden ist. Notwendig sind vielmehr
Effizienzkontrolle bzw. Controlling und auch politische
Kontrolle, statt einen Ansatz zugunsten von mehr Verwaltung in der Bundesagentur für Arbeit zu verfolgen.
Es ist im Gegenteil noch viel mehr Druck auf dem
Kessel notwendig, damit die Bundesagentur einschließlich der Argen noch viel effizienter arbeitet. Ich meine,
dass nur dieser Weg nach vorne führt.
({4})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Frau Kollegin Kipping?
Ja, bitte.
Herr Kollege, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass ich mich nicht für mehr Verwaltung, sondern
für eine bessere personelle Ausstattung im Bereich der
Vermittlung ausgesprochen habe?
({0})
Sind Sie auch bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass die
zugrunde liegende Analyse, dass sich die Relation zwischen Vermittler und Kunden nicht verbessert hat, auf
den Bericht Ihrer Bundesregierung zurückgeht, den Ihre
Bundesregierung im Kabinett verabschiedet hat?
({1})
Frau Kollegin, wenn Sie mehr Personal für eine Behörde fordern, dann bedeutet das auch mehr Verwaltung.
({0})
- Ich glaube, dass jeder, der das Innenleben von Behörden ein bisschen kennt, weiß, worauf das letztendlich hinausläuft.
({1})
Vielleicht haben Sie nicht zur Kenntnis genommen,
dass in der Bundesagentur und in den Argen bereits jetzt
mehr Personal vorhanden ist als vor den Hartz-Reformen. Das heißt, es gibt im gesamten Bereich der Arbeitsverwaltung deutlich mehr Personal als zuvor. Die Argen,
die allerdings auch für die Betreuung und Vermittlung
der ALG-II-Empfänger mit zuständig sind, haben nämlich deutlich mehr Personal eingestellt. Mehr Personal
kann aber nicht die Lösung der arbeitsmarktpolitischen
Probleme in Deutschland sein.
({2})
Gestatten Sie eine Zusatzfrage?
Gerne.
Habe ich Sie richtig verstanden, dass Sie sich hiermit
von dem ursprünglichen Ziel, die Relation zwischen
Vermittler und Kunden zu verbessern, verabschiedet haben?
Nein, ich bin fest davon überzeugt, dass die Relation
zwischen Vermittlern und Kunden - sprich: ALG-IIEmpfängern im Bereich der Bundesagentur - deutlich
günstiger wird, wenn dort effizienter gearbeitet wird und
mehr Controlling erfolgt.
({0})
- Aber natürlich geht das, Frau Kollegin. Wenn wir die
Bundesagentur von der stetig zunehmenden Verwaltungsarbeit entlasten, wird mehr Zeit für die Vermittlung
zur Verfügung stehen.
({1})
Ich bin fest davon überzeugt, dass dieser Weg gegangen
werden kann.
Wir werden sicherlich auch noch eine Debatte über
die Evaluierung von Hartz IV führen müssen, um zu klären, inwieweit die Argen oder die 69 optierenden Kommunen im Bereich von Hartz IV effektiver sind.
Lassen Sie mich zum Schluss einen letzten Teilbereich ansprechen: die Weiterbildung. Herr Staatssekretär, hier wird ein Zeugnis ausgestellt, demzufolge
gerade längerfristige Maßnahmen durchaus zum Erfolg
führen können. Nach meiner festen Überzeugung muss
gerade in den neuen Ländern gemeinsam mit den IHKs
dafür gesorgt werden, sektoral ausgerichtete Weiterbildungsmaßnahmen voranzubringen, die die Motivation
erhöhen, wieder in reguläre Beschäftigungsverhältnisse
zu kommen.
Erlauben Sie mir eine abschließende Bemerkung:
Arbeitsmarktpolitik kann Beschäftigung fördern. Die
entscheidende Komponente wird sein, dass wir mit vielfältigen Maßnahmen dafür sorgen, dass die Wirtschaftspolitik in Deutschland mehr Beschäftigung schafft. Ich
bin fest davon überzeugt, dass weder Hektik noch Aktionismus gefragt sind. Notwendig ist vielmehr ein gewisses Maß Ruhe; wir sollten uns die nötige Zeit lassen.
Danke schön.
({2})
Herr Kollege Rehberg, das war Ihre erste Rede in diesem Haus. Ich gratuliere Ihnen dazu sehr herzlich, verbunden mit den besten Wünschen.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 16/505 und 16/547 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b sowie
die Zusatzpunkte 2 und 3 auf:
4 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer
Brüderle, Paul K. Friedhoff, Dr. Karl Addicks,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Unternehmen statt Unterlassen - Vorfahrt für
den Mittelstand
- Drucksache 16/562 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({1})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Martin
Zeil, Jens Ackermann, Dr. Karl Addicks, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP
ERP-Vermögen ungeschmälert für Mittelstandsförderung erhalten
- Drucksache 16/382 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({2})
Finanzausschuss
Haushaltsausschuss
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Laurenz
Meyer ({3}), Ilse Aigner, Veronika Bellmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Rainer
Wend, Christian Lange ({4}), Ludwig
Stiegler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Neue Impulse für den Mittelstand
- Drucksache 16/557 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({5})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans
Josef Fell, Matthias Berninger, Anja Hajduk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
ERP-Sondervermögen in seiner Vermögenssubstanz erhalten
- Drucksache 16/548 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({6})
Finanzausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich
höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Rainer Brüderle von der FDP-Fraktion.
({7})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!
Schwarz-Rot hofft auf den Aufschwung. Wirtschaftsminister Glos hofft auf den Erfolg von Jürgen Klinsmann,
damit die Wachstumszahlen besser werden. Vielleicht ist
das auch Kernstück der Glosonomics, der neuen wirtschaftspolitischen Wunderwaffe aus dem Bayerischen
Wald. Wir alle hoffen auf besseres Wetter. Mit dem Prinzip Hoffnung kann man ein Nonnenkloster führen und
leiten, nicht aber die Wirtschaftsnation Deutschland.
({0})
Ich finde, es ist bezeichnend, dass kein einziger Minister an der heutigen Mittelstandsdebatte teilnimmt. Auch
der Wirtschaftsminister ist nicht anwesend, genauso wenig wie sein Vertreter. Das zeigt, mit welchem Interesse
sich diese Regierung dem Mittelstand widmet. Ich halte
das für keinen guten Stil im Parlament.
({1})
Die Bundeskanzlerin hat in ihrer Regierungserklärung das Motto „Mehr Freiheit wagen“ ausgegeben.
Richtig, mehr Freiheit für den deutschen Mittelstand,
damit er mit seiner Tüchtigkeit und seinem Engagement
für mehr Erfolg sorgen kann und wir vorankommen!
„Unternehmen statt unterlassen“ rufen wir den Unternehmern zu. Das muss aber auch für die Politik gelten.
Schwarz-Rot sind aber die Unterlassungssünder der Nation. Sie unterlassen es nämlich, die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands zu verbessern.
({2})
Die Bundeskanzlerin flüchtet in die Außenpolitik.
Angie goes outside. UNO statt deutscher Mittelstand!
Unsere politische Eisprinzessin für die Olympiade in
Turin absolviert draußen ihre Kür, vergisst aber, zu
Hause ihre Pflichten zu erfüllen. Die angekündigten
kleinen Schritte sind nichts anderes als Flickschusterei:
Rente mit 67 - aber nicht für Dachdecker und Krankenschwestern! - und eine Dienstleistungsrichtlinie ohne
Herkunftslandsprinzip; Monopoly als Leitbild der Wettbewerbspolitik - das ist die Realität; denn das Briefmonopol besteht weiter - und monopolartige Strukturen
auf dem Gasmarkt, ein Erbe noch der alten Regierung.
Nichts ändert sich. Die Telekom bekommt ein Sondergesetz. So wird ein wettbewerbsfreier Raum erhalten. Das
ist keine Strategie zugunsten des Mittelstands.
({3})
An die Adresse unserer christdemokratischen
Freunde in der Regierung sage ich: Sie haben offensichtlich nichts aus dem rot-grünen Konkurs gelernt. Hände
weg vom Kartellrecht und vom Bundeskartellamt! Die
Ersten faseln schon davon, wir müssten das Wettbewerbsrecht reduzieren, um Großfusionen zuzulassen.
Dieser industriepolitische Ansatz ist Steinzeitwirtschaftspolitik. Den Wettbewerb stärken und den kleinen
und mittleren Unternehmen eine Chance geben, das ist
der Erfolgskurs für mehr Wachstum und Beschäftigung
in Deutschland. Diesen Weg müssen wir gehen.
({4})
Geben Sie dem Mittelstand doch mehr Freiheiten! Es
gibt allein 160 Schwellenwerte, die Mittelständler beachten müssen. Ein Beispiel ist die Einrichtung getrennter Toiletten für Männer und Frauen in Betrieben mit
mehr als fünf Mitarbeitern. Ich darf Ihnen verraten: Wir
haben zu Hause keine getrennten Toiletten. Trotzdem
sind meine Frau und ich noch immer gesund. Aber dem
Mittelstand wird die Beachtung von 160 Schwellenwerten verordnet. Das soll dann ein Beitrag zum Abbau von
Bürokratie sein.
Beim Kündigungsschutz sollte man kleinen Betrieben die Chance geben, mehr Beschäftigte einzustellen,
und ihnen die Angst nehmen, sich von neu eingestellten
Mitarbeitern nicht mehr trennen zu können, wenn einmal
die Aufträge wegbleiben. Das haben die Wirtschaftspolitiker der Union mit bebender Stimme ständig gefordert.
Aber tatsächlich gibt es keine Veränderungen, sondern
nur Kosmetik. In diesem Jahr müssen dreizehnmal Sozialversicherungsbeiträge abgeführt werden. Die Folge
für die Wirtschaft ist ein 20-Milliarden-Euro-Liquiditätsentzug. Aber die Mittelständler der Union schweigen
dazu. Wahrscheinlich schämen sie sich dafür, dass der
deutsche Mittelstand so einseitig und hart belastet wird.
({5})
Angesichts dessen hilft es nichts, ein Minikonjunkturprogramm mit einem Volumen von 25 Milliarden
Euro über vier Jahre und einem Sammelsurium an Maßnahmen auf den Weg zu bringen. Konjunkturprogramme
haben noch nie funktioniert. Sie werden auch jetzt nichts
bringen. Ihr Programm ist nichts anderes als ein Placebo,
als weiße Salbe.
Man soll nicht merken, wie Sie ab 2007 durch die Erhöhung der Mehrwertsteuer gewaltig abkassieren wollen. Man hofft, dass man mit der Mehrwertsteuerkeule,
also der Erhöhung um 3 Prozentpunkte im Jahr 2007, so
viel Nachfrage in diesem Jahr erzeugt, dass man die harten Eingriffe im nächsten Jahr ohne Einbruch in der
Wirtschaft überstehen kann. Genau das ist aber eine
Politik gegen den deutschen Mittelstand.
({6})
Die Erhöhung der Mehrwertsteuer um 3 Prozentpunkte
ist ein Schwarzarbeiterförderprogramm. Das führt genau
in die falsche Richtung. Das führt zu noch mehr Schattenwirtschaft in Deutschland, aber nicht zu mehr Arbeitsplätzen. Die Konzeption Ihrer Politik ist falsch.
Deshalb haben wir den Mittelstand zum Thema gemacht. Der Antrag, den die schwarz-roten Kartellbrüder
zusammengeschrieben haben, zeigt doch, wie notwendig
diese Debatte ist. Sie haben den Mittelstand vergessen.
Im Zuge der Sozialdemokratisierung der Unionsparteien
haben Sie den deutschen Mittelstand aus den Augen verloren.
({7})
Selbst der Wirtschaftsminister räumt ein, dass die
Unternehmensteuerbelastung in Deutschland zu hoch
ist. Er sagte von diesem Podium aus, dass wir mit über
37 Prozent deutlich über dem europäischen Durchschnitt
liegen. Nur, Sie machen nichts. Ihr Konzept ist: Umbuchen, Erleichterungen streichen, aber keine Nettoentlastung.
Arbeitsplätze entstehen ganz einfach: Sie müssen den
Menschen Vertrauen und Geld geben. Sie müssen die
steuerliche Belastung zurückführen, damit die Menschen
in ein Geschäft, zu einem Handwerksbetrieb, zu einem
Mittelständler, in eine Bäckerei oder Konditorei gehen
und etwas kaufen. Wenn die Menschen, Herr Hinsken,
am Tegernsee mehr Kuchen essen, dann können die
Konditoreien jemanden einstellen. So entstehen Arbeitsplätze. Aber Sie machen es nicht.
({8})
Sie machen eine andere Politik. Sie sind auf die Großkonzerne orientiert, wie es die SPD war. Wir werden in
Deutschland von zwei sozialdemokratischen Parteien regiert, die dem Mittelstand keine Chance geben. Deshalb
kriegen wir die grundlegende Wende in Deutschland
nicht hin. Das ist die traurige Bilanz dieses Kartells von
Schwarz und Rot.
({9})
Ich erteile dem Kollegen Laurenz Meyer, CDU/CSUFraktion, das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Brüderle, ich
habe zunächst gedacht, Ihr Antrag sollte als Unterstützung für unsere Bemühungen um den Mittelstand gedacht sein. Ich glaubte, Sie wollten uns zur Seite springen.
({0})
Aber was Sie dann anschließend gemacht haben und was
Sie auch im Antrag gemacht haben, ist zu wenig, insbesondere dann, wenn man das mit dem vergleicht, was in
der Koalitionsvereinbarung steht. Wenn es einen
Schwerpunkt in dieser Legislaturperiode in der Wirtschaftspolitik gibt, dann ist es eine Politik zur Stärkung
des Mittelstandes in Deutschland, weil da die Arbeitsplätze entstehen. Darin sind wir uns einig.
({1})
Wir sind uns auch darin einig - das wäre allerdings
bei einer Koalition mit Ihnen nicht anders gewesen -,
dass wir nicht alles rückgängig machen können, was in
der letzten Legislaturperiode oder vorher beschlossen
worden ist. Das betrifft etwa die Sozialversicherungsbeiträge. Da hätten Sie sich genauso schwer getan. Wir werden bei nächster Gelegenheit darüber sprechen und haben es auch schon gestern im Ausschuss getan. Das
sollten wir in aller Ruhe abhandeln. Wir sollten das so
einfach wie möglich regeln.
({2})
Damit kommen wir zum Stichwort Bürokratie, das
schon angesprochen worden ist.
Herr Kollege Meyer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Westerwelle?
Aber gerne doch.
Herr Kollege Meyer, wenn es ein Schwerpunkt der
neuen Bundesregierung ist, den Mittelstand zu fördern,
können Sie sich als Parlamentarier dann erklären, wieso
kein einziger Bundesminister während der Kernzeit der
Sitzung des Deutschen Bundestages an dieser Debatte
teilnimmt?
Das kann ich Ihnen sagen, Herr Kollege Westerwelle.
Das liegt daran, dass der Antrag, der hier vorliegt und
der Grundlage dieser Plenardebatte ist, leider Gottes so
schwach und fehlerhaft ist,
({0})
dass ich der Regierung nicht raten kann, sich mit diesem
Thema in der Form zu beschäftigen, wie es die FDP versucht. Das muss ich in allem Ernst sagen.
({1})
Darf der Kollege Westerwelle noch eine Zusatzfrage
stellen?
Wenn das nicht auf meine Zeit angerechnet wird,
dann gerne.
Nein.
Sie wissen doch als langjähriger Parlamentarier, dass
das nicht auf Ihre Zeit angerechnet wird. Deswegen
freuen Sie sich auch.
Herr Kollege Meyer, sind Sie denn der Überzeugung,
dass Ihre weltbewegenden Ausführungen es nicht wert
wären, auch von Bundesministern verfolgt zu werden?
({0})
Ich bin fest davon überzeugt, dass Minister Glos
Herrn Schauerte deshalb hergeschickt hat, damit er
schnellstmöglich erfährt, was ich hier vortrage.
({0})
Herr Kollege Westerwelle, im Übrigen gehen wir fest
davon aus, dass die Protokolle dieser Sitzung in den Ministerien am nächsten Tag unverzüglich nachgelesen
werden.
({0})
Ich will noch einmal in aller Klarheit sagen: Die Koalitionsvereinbarung hat die Förderung des Mittelstands
zum Schwerpunkt. Die Vorwürfe, die dem Wahlkampf
geschuldet sind, können wir getrost beiseite lassen; denn
in diesem Punkt, Herr Brüderle, gebe ich Ihnen völlig
Recht: Mittelstand, also kleine und mittlere Unternehmen in Deutschland, ist etwas völlig anderes als große
Aktiengesellschaften. Der Unterschied zwischen großen
Aktiengesellschaften und Mittelstand ist vielleicht größer als der zwischen Wirtschaft und Politik. Das muss
man begreifen.
Schauen Sie sich einmal an, was im Koalitionsvertrag
zur Steuerpolitik steht: rasche Änderung der Abschreibungsbedingungen, damit es später zu mehr Investitionen kommt. Stichwort „Umsatzsteuer“: Verlängerung
der derzeitigen Regelung der Istbesteuerung im Osten,
Verdoppelung der Umsatzgrenzen im Westen, was ausschließlich den kleinen und mittleren Betrieben zugute
kommt. Ich verweise auch auf das, was wir mit der Erbschaftsteuer vorhaben: Erleichterung des Übergangs, damit keine Arbeitsplätze abgebaut werden. Auch die Investitionszulage ist ein unbürokratisches Instrument,
damit der Mittelstand im Osten gefördert wird.
Sie behaupten in Ihrem Antrag, die Koalitionsvereinbarung bedeute eine Bestandsgarantie für die Gewerbesteuer. Das ist schlicht falsch. Ich bitte Sie, diese Vereinbarung doch wenigstens einmal zu lesen. Da heißt es,
dass wir eine „wirtschaftskraftbezogene kommunale Unternehmensbesteuerung mit Hebesatzrecht“ wollen. Natürlich wollen wir sicherstellen, dass die Kommunen,
was ihre Ausstattung und Ähnliches angeht, möglichst
genauso gut dastehen wie heute. Dass das auch in der
Koalitionsvereinbarung steht, ist richtig.
Noch keine Koalitionsvereinbarung hat das Thema
„Unternehmens- bzw. Mittelstandsfinanzierung“ in dieser Intensität behandelt: angefangen bei Basel II über
Förderprogramme der KfW-Mittelstandsbank bis hin zu
Beteiligungskapital und Risikokapitalfinanzierung. Sie
behandelt also alles, was hier angesprochen wird.
In diesen Zusammenhang gehört unser Bemühen um
das ERP-Vermögen. Wir setzen damit im Grunde einen
Prozess fort, der auf die CDU/CSU-FDP-Regierung zurückgeht. Die Wirtschaftspolitiker müssen dauerhaft darauf achten, dass dieses Vermögen für die Förderung des
Mittelstandes in Deutschland zur Verfügung steht.
({0})
Herr Kollege Meyer, darf der Kollege Brüderle noch
eine Zwischenfrage stellen?
Bitte schön.
Herr Kollege Meyer, Ihr Zitat hat die Richtigkeit unserer Aussage belegt. Bei der Gewerbesteuer kommt lediglich hinzu, dass sie durch die Anrechnungstechnik
einen viel zu großen bürokratischen Aufwand mit sich
bringt. Der richtige Weg wäre - deshalb war unsere Vorhaltung durchaus richtig -, die Gewerbesteuer abzuschaffen. Kein anderes europäisches Land hat diese
Form der Besteuerung. Anders als bei der Mehrwertsteuer, wo ein Grenzausgleich erfolgt, diskriminiert sie
einseitig deutsche Produktionsleistungen. Die einzig logische Konsequenz wäre deshalb, sie abzuschaffen. Das
haben Sie eben nicht vereinbart. Deshalb war die Aussage der FDP-Fraktion richtig, dass ein grundlegend falsches System - der deutsche Weg ist singulär - abgeschafft werden muss.
Ich sehe es nicht so wie Sie. Hier steht, dass sie ersetzt werden soll, natürlich unter der Bedingung einer
gleichartigen Finanzierung. Das ist ein riesiges Vorhaben
dieser Koalition. Darüber brauchen wir uns keine Illusionen zu machen.
Der Kollege Milbradt - er ist einer der Sachkundigsten in diesem Bereich - hat mir erzählt, dass die Abschaffung der Gewerbesteuer 1929 zum ersten Mal verkündet worden ist. Seitdem beschäftigt man sich immer
wieder damit, diese - aus meiner Sicht störende - Zusatzbelastung für die Unternehmen abzuschaffen. Wir
haben uns vorgenommen, einen Weg zu finden, diese
Steuer zu ersetzen. Dazu wird es allerdings nur kommen,
wenn es uns gemeinsam - daran werden Sie sich hoffentlich beteiligen - gelingt, eine seriöse und verlässliche Möglichkeit zu finden, die Finanzierung der Kommunen sicherzustellen.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden morgen
über Ausbildung sprechen. Wir wollen den Pakt für Ausbildung fortsetzen. Wir wissen, dass die Vielzahl der
Lehrstellen im mittelständischen Bereich ist. Wir wollen
in der Forschungs- und Entwicklungspolitik die Unternehmen stärker an die entsprechenden Möglichkeiten
heranführen. „Zusammenarbeit mit den Universitäten
und Fachhochschulen“, „Förderprogrammzugang“,
„Forschungskooperationen“ sind die Stichworte, die in
dem Zusammenhang auftauchen. Dass der Forschungsetat aufgestockt worden ist, hat auch etwas mit dem Mittelstand zu tun.
Was Sie zur Bürokratie gesagt haben, die Sie in
das Zentrum Ihrer Ausführungen gestellt haben, sehen
wir ganz genauso. Was denken Sie eigentlich, Herr
Brüderle, weshalb in dieser Regierung erstmalig die
Laurenz Meyer ({1})
Bundeskanzlerin selbst die Zuständigkeit für dieses
schwere Thema übernommen hat? Daran haben sich
schon viele die Zähne ausgebissen. Sie können mir glauben, dass die Bundeskanzlerin weiß, welche Verantwortung sie damit übernommen hat. Das ist die größte Aufgabe. Wir können durch Bürokratieabbau ohne Kosten
für Staat und Bevölkerung erreichen, dass die Unternehmen wesentliche Kosten einsparen. Deshalb ist das ein
Weg, den wir unbedingt gehen wollen.
Ganz wunderbar finde ich übrigens - Herr Schauerte,
wenn Sie das dem Minister ausrichten würden! -,
({2})
dass schon der Titel „Mittelstandsentlastungsgesetz“
Klartext ist und man nicht wieder in eine Ausdrucksweise verfällt, die niemand versteht.
Dass wir das Standardkostenmodell einführen - das
haben wir uns vorgenommen -, ist ein großer Schritt
nach vorn. Gleiches gilt für den unabhängigen Normenkontrollrat. Auch manches von dem, was Sie früher mit
uns beschlossen haben, muss auf den Prüfstand. Es gilt,
festzustellen, wie sich das, was an Statistiken zu führen
ist usw., kostenmäßig in den Unternehmen auswirkt.
Nun zu einem ganz wichtigen Punkt, der bisher noch
gar nicht angesprochen worden ist. Ich setze große Hoffnung darauf, dass die Passage im Koalitionsvertrag, in
der es heißt, dass strukturschwache Länder für eine bestimmte Zeit die Möglichkeit erhalten sollen, von Bundesgesetzen abzuweichen, umgesetzt wird und auf diese
Weise ein Teil der Bürokratie geknackt wird. Ich will
ganz offen sagen: Niemals hätte es in Westdeutschland
das Wirtschaftswunder gegeben, wenn wir schon damals
eine solche Bürokratie wie heute gehabt hätten. Dem Osten muten wir zu, unter den Bedingungen der heutigen
Bürokratie den Anschluss zu finden. Wir wollen das
knacken. Dieses große Vorhaben sollten Sie unterstützen, statt es zu kritisieren.
({3})
Zu den Entbürokratisierungsbestrebungen gehört ein
zweiter Punkt. Sie behaupten in Ihrem Antrag schlicht
und einfach, dass wir den Kündigungsschutz unverändert lassen. Lesen Sie doch wenigstens einmal den Koalitionsvertrag!
({4})
Wir haben doch gerade gesagt: Wir wollen Neueinstellungen leichter möglich machen. Wir wollen, dass die
Unternehmen leichter einstellen können und dass Menschen in Deutschland so einen Arbeitsplatz finden, wenn
auch möglicherweise manchmal nur für eine begrenzte
Zeit. Mit 55 Jahren für zwei Jahre einen Arbeitsplatz zu
finden, ist besser, als nie mehr einen zu finden.
({5})
- Herr Westerwelle, an der Reaktion gerade konnten Sie
den Unterschied zu früher ganz genau sehen. Dass überhaupt geklatscht worden ist, ist der Unterschied zu früher; das hätte es früher nicht gegeben.
({6})
Zur Umwelt- und Energiepolitik. Das Ausrichten
auf eine kostengünstige Energieversorgung ist als neues
Ziel zu nennen. Da muss der Blick stärker auf den Mittelstand gerichtet werden. Wir müssen schauen, dass wir
energieintensive Betriebe in Deutschland halten können
und dass wir den Mittelstand mit den entsprechenden
Arbeitsplätzen nicht weiter mit hohen Energiekosten belasten. Das geht bis hin zur Außenwirtschaftspolitik.
Wenn Sie dieses umfängliche Programm betrachten
- Herr Brüderle, ich will Ihnen gern eine schöne gebundene Ausgabe des Koalitionsvertrags zur Verfügung stellen -,
({7})
dann können Sie erkennen, welcher Schwerpunkt hier
gerade für diese Legislaturperiode gesetzt worden ist.
Ich betrachte jetzt im Nachhinein Ihren Antrag versöhnlich als Unterstützung für dieses große Vorhaben für
die nächsten Jahre und hoffe, dass Sie daran ganz konkret mitarbeiten werden. Dann werden wir sicherlich zu
guten Ergebnissen kommen.
({8})
Das Wort hat nun die Kollegin Sabine Zimmermann,
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Zuerst zu Herrn Brüderle:
Herr Brüderle, wenn Sie den Mittelstand an der Anzahl
der Toiletten festmachen wollen, dann ist das etwas sehr
kurz gegriffen.
({0})
Ich denke, dass der Mittelstand doch etwas mehr ist.
Die in dem Antrag der FDP „Vorfahrt für den Mittelstand“ enthaltenen Forderungen sind aus unserer Sicht
wenig geeignet, vor allem die hohe Arbeitslosigkeit zu
bekämpfen, was ja eine zentrale politische Aufgabe ist,
und die Lage des Mittelstandes zu verbessern. Man
könnte diesen Antrag überschreiben mit „Alter Wein in
neuen Schläuchen“. So würde ich das formulieren.
Wir, die Linke, sind für eine gezielte Förderung von
Mittel- und Kleinbetrieben, damit diese in die Lage versetzt werden, bestehende Arbeitsplätze zu sichern und
vor allen Dingen neue zu schaffen. Aber dieses Ziel
kann nur erreicht werden, wenn in der Wirtschaftspolitik
der Grundsatz beachtet wird: Ohne verstärkte Nachfrage
kein Wachstum und ohne stärkeres Wachstum keine
neuen Arbeitsplätze.
({1})
Deshalb muss vor allem die Kaufkraft der Bevölkerung
in diesem Land erhöht werden. Das geschieht überhaupt
nicht, schon gar nicht mit Hartz IV.
Niedriglohnstrategien, meine lieben Kollegen von der
FDP, und die Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen stehen diesem Ziel entgegen, ebenso die von der
Bundesregierung geplante Erhöhung der Mehrwertsteuer, die wir ebenfalls konsequent ablehnen.
({2})
Die Nachfrage muss vor allem durch verstärkte öffentliche Investitionen erhöht werden; öffentliche Daseinsvorsorge und Dienstleistungen sind zu verbessern. Sehen
Sie sich doch einmal den miserablen Zustand mancher
öffentlicher Einrichtungen wie Kindergärten, Schulen
oder Krankenhäuser an! Deshalb sind wir entschieden
gegen die Privatisierung der öffentlichen Daseinsvorsorge.
Insgesamt sind die meisten Ihrer Forderungen für uns
inakzeptabel, so die Heraufsetzung des Kündigungsschutzes von zehn auf 20 Beschäftigte. Nach einer Untersuchung des Nürnberger Instituts haben Veränderungen des gesetzlichen Kündigungsschutzes auf die
Beschäftigung keinen messbaren positiven Effekt. Sie
würden aber den sozialen Schutz der Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer wesentlich verschlechtern.
Meine Damen und Herren von der FDP, wir glauben
eben nicht, dass die Probleme des Mittelstandes dadurch
gelöst werden, dass man sie auf den Rücken der dort Beschäftigten abwälzt. Die jüngsten sozialen Unruhen in
Frankreich zeigen, dass die Menschen nicht mehr bereit
sind, sich immer weiter in soziale Unsicherheit abschieben zu lassen.
({3})
Auch die Forderung nach gesetzlichen Öffnungsklauseln für betriebliche Bündnisse ist doch ein alter Hut,
den Sie immer wieder herauskramen. Zum einen geht
aus der Untersuchung hervor, dass die Zahl der Abschlüsse von betrieblichen Bündnissen für Arbeit
Ende 2003 ein Rekordniveau erreicht hat. Zum anderen
gibt es in zahlreichen Tarifverträgen Öffnungsklauseln,
Härtefallregelungen usw. Wir haben den begründeten
Verdacht, dass es Ihnen bei dieser Forderung vor allem
um die Durchsetzung von Lohnsenkungen auf der betrieblichen Ebene geht. Dafür stehen wir als Linke nicht
zur Verfügung.
({4})
Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP,
ich kann Ihnen einen Rat geben; ich denke, Sie nehmen
ihn sehr gerne an. Von Februar bis Mai dieses Jahres laufen Betriebsratswahlen in Deutschland. Helfen Sie einfach den Gewerkschaften, in jedem Betrieb einen Betriebsrat zu installieren! Denn gerade im Zuge der
Globalisierung brauchen die Betriebsräte mehr Rechte,
vor allem vor dem Hintergrund der Verlagerung von Arbeitsplätzen.
({5})
Man wird es Ihnen danken.
Da hilft es auch nicht, wenn einzelne Forderungen in
Ihrem Antrag vernünftig sind, etwa der Verzicht auf die
Mehrwertsteuererhöhung oder die drastische Einschränkung von 1-Euro-Jobs. Wir teilen auch die Einschätzung, dass bei Schwarz-Rot ebenso wie bei ihrer Vorgängerregierung die Großunternehmen im Mittelpunkt der
wirtschaftspolitischen Strategie stehen. Hier sind die
kleinen und mittelständischen Unternehmen systematisch schlechter gestellt.
Ein solcher Antrag wie Ihrer, der glauben machen
will, man müsse alles dem Markt überlassen, die Steuern
senken und der Sozialstaat und die Arbeitnehmerrechte
seien ein Hindernis, wird niemals die Zustimmung der
Linken finden.
Aber auch der Beitrag der Bundesregierung hat leider
unsere Meinung bestätigt, dass es in dieser Koalition
überhaupt kein Konzept gibt, mit dem die Lage der kleinen und mittelständischen Unternehmen spürbar verbessert werden könnte. Angesichts der Tatsache, dass am
kommenden Samstag wenige Straßen von hier Zehntausende Menschen gegen die geplante Dienstleistungsrichtlinie auf die Straße gehen werden, hätte man von
der Regierung zumindest eine Stellungnahme zu diesem
aktuellen Problem erwartet. Aber still ruht der See.
({6})
Schließlich sind es nicht nur die Gewerkschaften, die
gegen die so genannte Bolkestein-Richtlinie Einspruch
erhoben haben. Auch zahlreiche Handwerkskammern
haben sich gegen diese Richtlinie ausgesprochen. Gerade viele kleine Unternehmen würden hier wieder die
Verlierer sein.
Aber wir begrüßen es natürlich - da wende ich mich
an die Kollegen der SPD -, dass die SPD zur Demonstration vor dem Bundeswirtschaftsministerium, einem
Ministerium der eigenen Regierung, mit aufruft.
({7})
Wir werden da sein. Ich freue mich schon jetzt, mit
Herrn Platzeck Schulter an Schulter Position zu beziehen. Ich hoffe, der Minister Müntefering wird ebenfalls
da sein.
({8})
Diese Dienstleistungsrichtlinie dürfe so nicht verabschiedet werden, so die Handwerkskammer Dresden.
Sie meint, diese Richtlinie sei akut eine der größten
Bedrohungen für die kleinen Handwerks- und Dienstleistungsunternehmen und für die dort beschäftigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
Nein, wir brauchen eine grundsätzlich andere Mittelstandspolitik in diesem Land. In kleineren und mittleren
Unternehmen arbeiten etwa 70 Prozent aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Die Tatsache, dass wir im
letzten Jahr fast 38 000 Insolvenzen zu verzeichnen hatten und eine halbe Million Arbeitsplätze verloren gingen, zeigt doch die Dramatik dieser Lage.
Wegen zahlreicher Steuererleichterungen, von denen
in der Vergangenheit vor allem größere Unternehmen
profitiert haben, liegen die öffentlichen Haushalte am
Boden. Es gibt kaum noch Aufträge für die KMUs, Insolvenzen sind die Folge.
Ich komme zum Schluss. Wir fordern ein Zukunftsprogramm, das diesen Namen wirklich verdient. Die damit verbundenen Investitionen können auch dem Mittelstand nützen. Dafür werden wir in den nächsten Wochen
und Monaten streiten. Gegen einen ruinösen Wettbewerb, der vor allem kleinen Unternehmen schadet, werden wir am Samstag vor dem Bundesministerium demonstrieren. Wer es mit dem Mittelstand in diesem
Hause wirklich ehrlich meint, der müsste dort am Sonnabend zu finden sein.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Frau Kollegin Zimmermann, ich gratuliere Ihnen zu
Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag, verbunden
mit allen guten Wünschen für die weitere parlamentarische Arbeit.
({0})
Ich erteile nun dem Kollegen Christian Lange das
Wort für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lieber Kollege Brüderle, der Mittelstand ist in der
Tat das Rückgrat unserer Wirtschaft. Aber ich sage Ihnen auch klar und deutlich: Der Mittelstand hat Besseres
verdient als Ihr Zehn-Pünktchen-Programm, das Sie uns
heute Mittag hier vorlegen.
({0})
Der Mittelstand hat auch mehr verdient als manche Ihrer
Stammtischparolen, Herr Kollege Brüderle. Gestatten
Sie mir deshalb, auf den einen oder anderen Punkt Ihres
Antrages etwas näher einzugehen.
Es wundert nicht, dass gleich zu Beginn Ihres Antrages Ihr Lieblingsthema Kündigungsschutz wieder einmal aufgegriffen wird. Der Kollege Meyer hat zu Recht
auf das hingewiesen, was sich die Koalition vorgenommen hat. Ich will Ihnen aber auch sagen, worauf die Koalition aufbauen kann. Bereits die alte Bundesregierung
hatte den Mittelstand bei der Frage, wie wir den Kündigungsschutz gestalten können, voll im Blick. Bei betriebsbedingten Kündigungen wurde die Sozialauswahl
einfacher und rechtssicherer gestaltet.
Wir haben es außerdem geschafft, für ältere Arbeitnehmer die Eintrittsschwelle in den Arbeitsmarkt abzusenken. Herr Kollege Brüderle, ab dem 52. Lebensjahr
kann dauerhaft eine sachgrundlose Befristung erfolgen.
Hierdurch wird gerade den älteren Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmern der Eintritt in die Unternehmen erleichtert. Das ist ein Beispiel dafür, wie wir kleine und
mittlere Unternehmen im Handwerk fördern wollen.
Denn Sie wissen genau: Diese Unternehmen haben
Angst vor den Kosten, die bei Arbeitsprozessen möglicherweise auf sie zukommen werden. Wir können ihnen
heute sagen: Stellen Sie 52-jährige und ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ein! Sie brauchen nicht die
Befürchtung zu haben, dass Sie vor den Kadi gezogen
werden.
Meine Damen und Herren, ein Zweites: Es wundert
mich schon, dass ausgerechnet die FDP in den Chor derer einstimmt, die Kleinunternehmer schlecht reden. Ihrem Antrag kann ich entnehmen, dass Sie ausgerechnet
die Ich-AGs, die zu den wenigen erfolgreichen Instrumenten gehören, abschaffen wollen. Darüber wundere
ich mich. Bis zum Dezember 2005 haben rund
362 000 ehemals Arbeitslose eine solche Ich-AG gegründet. Nach anderthalb Jahren kann man feststellen
- das ist interessant -: 74 Prozent der Gründer einer IchAG haben einen Ausweg aus der Arbeitslosigkeit gefunden und sind noch heute am Markt. Jede achte Ich-AG
war schon im ersten Jahr nach ihrer Gründung erfolgreich und das Einkommen lag über der zulässigen Fördergrenze von 25 000 Euro. Wer hätte das gedacht? Es
ist doch nichts Neues: Jeder fängt einmal klein an. Die
Ich-AG ist ein solcher Weg. Wir sollten stolz darauf sein,
dass Menschen den Mut zur Selbstständigkeit haben,
und sie nicht diskreditieren und ihnen diesen Weg verschließen.
({1})
Was macht die neue Bundesregierung darüber hinaus?
Diesen Mut zu stärken, ist ein ganz wichtiger Ansatz.
Als Gesellschaft sind wir auf die Gewährleistung ausreichender Spielräume zur Umsetzung Erfolg versprechender Geschäftsideen ebenso angewiesen wie die Existenzgründer selbst, die sich noch im Wartestand befinden.
Denn nur wenn es uns in den kommenden Jahren gelingt, eine höhere wirtschaftliche Dynamik zu entfalten,
können wir unser Wohlstandsniveau auch in Zeiten immer schärfer werdenden Wettbewerbs aufrechterhalten.
Wir haben also keine Wahl. Denn so abgedroschen es
klingt: Ohne dass wir in die Köpfe der Menschen investieren und zugleich sicherstellen, dass sie ihre Ideen
auch umsetzen können, geht es nicht. Deshalb macht es
uns auch besorgt, dass Deutschland im Rahmen des
„Global Entrepreneurship Monitor“ nur auf Platz 23 von
35 untersuchten Ländern kommt. Dabei ist es richtig,
dass es einen direkten Zusammenhang zwischen der
Gründungsaktivität in einem Land und dessen wirtschaftlichem Wachstum gibt.
Christian Lange ({2})
Genau deshalb setzen wir auf die Stärkung des
Gründergeistes und entsprechende Rahmenbedingungen. Ich meine, dies sind zum Ersten die Finanzierung
von Gründungsunternehmen, zum Zweiten angemessene
steuerliche und abgaberechtliche Rahmenbedingungen
und zum Dritten die Schaffung entsprechender Werte
und der Mentalität innerhalb der Gesellschaft dahin gehend, dass es sich lohnt, sich selbstständig zu machen.
Dies sollte nicht als Ausweg verstanden werden. Vielmehr sollte es ein Grundwert in unserer Gesellschaft
sein, Eigeninitiative zu zeigen und den entsprechenden
Mut aufzubringen.
({3})
Deshalb ist es auch kein Wunder, dass wir uns bei den
öffentlichen Förderinfrastrukturen in den vergangenen
sieben Jahren sehr gut positioniert haben. Die Politik hat
ihre Hausaufgaben in diesem Bereich gemacht. Bei der
privaten Finanzierung hingegen besteht nach wie vor erheblicher Nachholbedarf, wie jeder von uns aus vielen
Gesprächen in seinen Wahlkreisen weiß.
Ich meine, wir dürfen gerade die Geschäftsbanken
nicht aus der Verantwortung entlassen und die Verantwortung allein den Gründern, dem Handwerk und dem
Mittelstand, den Volksbanken und den Sparkassen aufhalsen. Hier stehen auch die großen Geschäftsbanken in
der Verantwortung. Es ist die Aufgabe der Politik, darauf
hinzuweisen und darauf zu drängen.
Was heißt das konkret? Wir werden für Existenzgründer beispielsweise One-Stop-Anlaufstellen schaffen und
die Statistikpflichten gerade am Anfang der Gründungsphase erleichtern, in der sie meist Chefsache sind und
wertvolle Kapazitäten binden. Außerdem werden wir dafür sorgen, dass die Buchführungsgrenze von 350 000
auf 500 000 Euro Umsatz erhöht wird.
Die Sozialversicherungsbeiträge, die Handwerk und
Mittelstand immer wieder belasten - das wissen wir -,
sind ein großes Thema. Sie fordern, auf die in diesem
Jahr vorgesehene 13-malige Einziehung zu verzichten.
Wir haben gestern darüber im Ausschuss diskutiert. Sie
wissen, dass die Bundesregierung zugesagt hat, dass die
Ausgestaltung der Einziehung der Sozialversicherungsbeiträge unbürokratischer gestaltet wird. Dies ist ein
richtiger Weg. Denn wir alle sind uns darin einig, dass
wir die Lohnnebenkosten senken wollen. Von daher
kann der Verzicht auf unser Vorhaben, so wie Sie ihn
fordern, nicht der richtige Weg sein. Dies würde nur das
Gegenteil bewirken, nämlich die weitere Erhöhung der
Lohnnebenkosten. Das kann nicht unser Ziel sein.
Meine Damen und Herren, dazu gehört auch, dass wir
angesichts der guten Aussichten, die im Jahreswirtschaftsbericht prognostiziert wurden, die Verbesserung
der Finanzierungsbedingungen im Auge haben. Denn
nach wie vor haben vor allem kleine und mittelständische Unternehmen, aber auch Unternehmerpersönlichkeiten, die den Schritt in die Selbstständigkeit wagen,
ein zu geringes Eigenkapitalpolster oder Probleme bei
der Fremdfinanzierung.
Deshalb ist es uns ein Anliegen - ich sage das deutlich und klar -, dass wir Parlamentarier beim ERP-Vermögen zusammenhalten. Im ERP-Sondervermögen
stehen besonders Finanzierungsmittel für kleine und innovative Unternehmen und technologieorientierte Existenzgründer bereit. Wir haben im Koalitionsvertrag festgeschrieben, dass die Förderung durch das auf den
Marshallplan zurückgehende European Recovery Program vollständig erhalten bleiben soll.
Im Gegensatz zur FDP sind wir nicht auf bestimmte
haushalterische Zuordnungen des ERP-Sondervermögens fixiert; wichtig für uns ist, dass das ERP-Sondervermögen weiterhin der parlamentarischen Kontrolle unterliegt. Nur so kann es gelingen, die aus dem Vermögen
zur Verfügung stehenden Mittel für wirtschaftspolitische
Zwecke zu nutzen. Das ist unser Ansatz. Wenn wir in
dieser Frage einen gemeinsamen Weg finden, dann,
denke ich, sind wir auf der richtigen Seite. Der Sachverstand des Parlaments sollte dabei nicht außen vor bleiben. In diese Richtung wollen wir gehen.
({4})
Wir wollen mit dem im Koalitionsvertrag verabredeten Programm einen entsprechenden Nachfrageschub in
Deutschland auslösen. Dazu gehören die 9,5 Milliarden,
die zur Förderung des Mittelstands eingesetzt werden;
dazu gehört das Vorhaben, private Haushalte als Arbeitgeber und auch Familien als Arbeitgeber mit rund 3 Milliarden zu fördern. Dazu gehören ferner die schon erwähnten zusätzlichen Ausgaben für Forschung und Entwicklung und schließlich gehört dazu die Erhöhung der
Verkehrsinvestitionen um 4,3 Milliarden. All dies führt
dazu, dass Handwerk und Mittelstand in Deutschland
besser dastehen, als es bislang der Fall gewesen ist. Wir
erwarten, dass dieses Programm weitere Investitionen
von Ländern, Kommunen und Privaten auslösen wird,
sodass das Potenzial ein Vielfaches des Programmvolumens beträgt.
Lassen Sie mich jetzt die konkreten Maßnahmen
benennen, die wir durchführen wollen. Wir glauben,
dass ein wesentlicher Teil dieses 25-Milliarden-Paktes,
nämlich ungefähr 14 Milliarden, unmittelbar kleinen und
mittleren Unternehmen und Handwerksbetrieben zugute
kommt. Sie profitieren einmal insbesondere durch die
Verbesserung der Abschreibungsbedingungen; 4,4 Milliarden Euro werden für die vom 1. Januar 2006 bis zum
31. Dezember 2007 befristete Anhebung der degressiven
AfA bei beweglichen Wirtschaftsgütern eingesetzt. Zum
Zweiten profitieren sie durch die Neuregelung der Umsatzsteuer. Die Liquidität insbesondere der kleinen und
mittleren Unternehmen wird zusätzlich durch die Anhebung der Umsatzgrenzen bei der Umsatzbesteuerung in
den alten Bundesländern von 125 000 auf 250 000 Euro
verbessert. Die Maßnahme wird ergänzt durch die Verlängerung der derzeitigen Regelung in den neuen Ländern bis 2009. Insgesamt verzichtet der Bund hierbei auf
Steuereinnahmen in Höhe von rund 750 Millionen Euro
zugunsten von Handwerk und Mittelstand.
Aber auch mit den Bereichen Gebäudesanierung und
Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur wollen wir entsprechende Beiträge leisten. Das CO2-Gebäudesanierungsprogramm ist das beste Beispiel dafür. Ich kann
Christian Lange ({5})
Ihnen sagen, dass es dankbar aufgegriffen wird. In meinem Wahlkreis beispielsweise wirbt die Kreishandwerkerschaft mittlerweile mit dem CO2-Gebäudesanierungsprogramm, und zwar sowohl bei den Kolleginnen und
Kollegen im Handwerk als auch bei den Kunden, indem
sie betont: Das CO2-Gebäudesanierungsprogramm wird
die energetische Gebäudesanierung intensivieren und damit nachhaltige Impulse für die Baukonjunktur und den
Klimaschutz auslösen. Wir wollen mit Hilfe der KfWGebäudesanierungsprogramme ein Darlehensvolumen
von 17 Milliarden Euro und ein Investitionsvolumen von
28 Milliarden Euro in Deutschland erreichen. In den Jahren 2004 und 2005 konnten durch das CO2-Gebäudesanierungsprogramm 30 000 Arbeitsplätze in Deutschland
zumindest gesichert werden.
Deshalb ist es kein Wunder, dass die Wirtschaftsweisen und die Gutachter zu dem Ergebnis kommen, dass
wir im Jahre 2006 mit einer guten Konjunktur rechnen
können. Denn dies gehört alles zusammen: die Impulse,
die wir auslösen, und die steuerlichen Rahmenbedingungen, die wir setzen. Das alles sind gute Aussichten für
Handwerk und Mittelstand. Bitte stimmen Sie unserem
Antrag zu und lehnen Sie den der FDP ab!
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Das Wort hat nun der Kollege Dr. Gerhard Schick,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Überschrift ist ja ganz schön gewählt: „Unternehmen statt
Unterlassen - Vorfahrt für den Mittelstand“. Aber meine
Erfahrung ist, dass die Überschriften die Unternehmerinnen und Unternehmer herzlich wenig interessieren. Vielmehr kommt es darauf an, was jenseits der schönen
Worte für das Herzstück der deutschen Wirtschaft oder
das Rückgrat der deutschen Wirtschaft - vielleicht könnten Sie sich einmal darauf verständigen, welcher Körperteil es sein soll ({0})
konkret getan wird.
Wenn ich mit Unternehmerinnen und Unternehmern
gerade auch über Gründungen von Unternehmen spreche, dann sagen sie mir: Das zentrale Problem ist die
Finanzierung. Dazu finden sich in dem FDP-Antrag drei
dürre Sätze zum ERP-Sondervermögen. Die Sätze sind
richtig - unsere Anträge weisen in die gleiche Richtung,
mein Kollege Hans Josef Fell wird das später noch genauer vorstellen -, aber lediglich ein Förderprogramm
kann doch nicht alles sein. Ich habe mehr von der FDP
beim Thema Finanzierung erwartet.
Wir haben in den letzten Jahren einiges in Angriff genommen - Stichwort: Verbriefung -, damit auch kleine
Unternehmen an den Kapitalmarkt kommen. Natürlich
muss hierzu noch Weiteres in der Seed-Phase, der Anfangsphase der Unternehmensgründung, passieren. Wir
müssen in einer Situation, in der immaterielle Wirtschaftsgüter eine immer größere Rolle spielen, den Unternehmen etwas bieten. Der zentrale Ansprechpartner
bei der Finanzierung der kleinen und mittleren Unternehmen in Deutschland sind nach wie vor die Sparkassen und Genossenschaftsbanken, weil diese in der Fläche, aus der sich die Großbanken gern zurückziehen,
immer noch die Basis der Finanzierung der kleinen und
mittleren Unternehmen sind.
({1})
Ich fände es richtig, wenn in diesem Haus ein klares Bekenntnis zum Drei-Säulen-Modell abgelegt würde. Sagen Sie doch deutlich, wie sich die kleinen Unternehmen
in der Fläche sonst finanzieren sollen. Wenn die Sparkassen und Genossenschaftsbanken das in den letzten
Jahren nicht geleistet hätten, stünden wir übel da.
({2})
Ich möchte auf den Antrag der großen Koalition eingehen. Auch er hat eine schöne Überschrift: Neue Impulse für den Mittelstand. Dass er einige gute Punkte
enthält, will ich gar nicht in Abrede stellen.
({3})
So beinhaltet er zum Beispiel das CO2-Gebäude-Sanierungsprogramm, ein grüner Impuls, den Sie weiterentwickeln. Dieses Programm muss aber solide finanziert
sein. Wenn Sie nicht auf das, was wir als rot-grüne Regierung gemeinsam vorgelegt haben, zurückgreifen
könnten, stünden Sie im Moment mit völlig leeren Händen da.
Material- und Energieeffizienz sind weitere richtige
Punkte in Ihrem Programm, die auf grüne Impulse zurückgehen. Aber kommen Sie doch zum Kern dessen,
was eine Wirtschaft ausmacht, die sich auf kleine und
mittlere Unternehmen stützen muss: den Wettbewerb.
Zum Wettbewerb steht im Antrag der großen Koalition
nichts. Dabei muss man gar nicht die Freiburger Schule
heranziehen, denn entscheidend ist doch, dass die kleinen und mittleren Unternehmen das Herzstück unserer
Wirtschaft sind. In diesem Bereich weisen Ihre Entscheidungen in die völlig falsche Richtung. Deswegen haben
Sie auch ganz bewusst nichts zu diesem Thema in Ihrem
Antrag geschrieben.
Weitere Stichworte für Ihre Schwäche in diesem Bereich sind Breitband, Medienfusion und Energiemarkt.
Es ist interessant, dass sich im Bereich erneuerbarer
Energien eine unwahrscheinliche Wettbewerbsdynamik
gerade bei den kleinen und mittleren Unternehmen entwickelt hat. Ich denke, Herr Meyer, auch bei den größeren Unternehmen, bei den Oligopolisten im Energiemarkt müsste angekommen sein, dass durch mehr
Wettbewerb interessante Sachen entstanden sind. Greifen Sie das auf und legen Sie ein klares Bekenntnis zu
mehr Wettbewerb in diesem Bereich ab.
({4})
Meine Damen und Herren von der FDP, dazu gehört
auch, Zugänge zu neuen Märkten zu eröffnen. Wir hätten
uns bezüglich des Handwerks eine deutlichere Unterstützung der FDP gewünscht. Ich nenne das Stichwort
„Meisterbrief“, bei ihm haben Sie sich nicht für mehr
Wettbewerb ins Zeug gelegt.
({5})
Ich möchte noch einmal auf die Wettbewerbsdefizite
in der großen Koalition zurückkommen. Es gibt jetzt die
spannende Debatte darüber, ob es nicht doch besser
wäre, nationale Champions zu fördern. Die gestrige
Diskussion im Wirtschaftsausschuss hat Ihren Standpunkt nicht klar erkennen lassen. Deshalb hätte ich gern
heute in der Debatte über die Mittelstandsförderung ein
klares Bekenntnis der großen Koalition dazu gehört.
Denn es kann nicht darum gehen, den Wettbewerb zu beschränken, vielmehr muss es darum gehen, durch Wettbewerb neue Märkte zu erschließen und auf den Weltmärkten präsent zu sein. Dass das möglich ist, ist im
Bereich Umwelttechnik und erneuerbarer Energien deutlich geworden. Ich würde mich daher freuen, wenn Sie
bei einer klaren Wettbewerbsorientierung bleiben würden.
({6})
Wir sind für mehr Wettbewerb. Wir wollen das Kartellamt stärken und deshalb die Ministererlaubnis abschaffen. Wir stützen die Europäische Kommission in
ihrer Eigenschaft als Wettbewerbsbehörde, damit sie
sich klar für mehr Wettbewerb engagieren kann. Klären
Sie das noch einmal mit Ihrem Kollegen Söder: Ist es
wirklich der richtige Weg, nationale Champions zu fördern? Dazu möchte ich gern noch etwas mehr in den folgenden Redebeiträgen hören.
Hier wohlfeile Mittelstandsrhetorik zu pflegen und
anschließend am Kartellrecht herumzufingern, passt
nicht zusammen, wenn wir uns für die kleinen und mittleren Unternehmen in unserem Land engagieren wollen.
Danke schön.
({7})
Das Wort hat nun der Kollege Otto Bernhardt für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Botschaft unseres Antrages lautet: Der Mittelstand kann sich auf die große Koalition verlassen.
({0})
Wir wissen, dass für die wirtschaftliche Entwicklung
Deutschlands der Mittelstand eine besondere Bedeutung
hat. Vor diesem Hintergrund sind wir entschlossen, die
Rahmenbedingungen für den Mittelstand weiter zu verbessern. Sie haben völlig Recht, Herr Kollege Brüderle:
Vertrauen schafft Arbeitsplätze.
({1})
Deshalb sind wir von der großen Koalition so froh, dass
diese Regierung inzwischen ein so breites Vertrauen in
der Bevölkerung hat und dass sich die Stimmung in den
letzten Wochen und Monaten deutlich verbessert hat.
({2})
Als Christdemokrat freue ich mich natürlich besonders,
dass unsere Kanzlerin inzwischen so hervorragende
Werte bei allen Meinungsumfragen hat.
({3})
Ich habe gesagt, dass die Rahmenbedingungen für
den Mittelstand verbessert werden müssen. Ich möchte
in aller Kürze zwei Punkte herausstellen:
Erstens die Steuern. Mit nominell 39 Prozent Steuern
bei Kapitalgesellschaften und bis zu 45 Prozent bei Personengesellschaften haben wir inzwischen die höchste
Gewinnbesteuerung in Europa; das wissen wir. Aber
das liegt nicht daran, dass wir die Steuern erhöht haben.
Im Gegenteil, die Steuern sind bei uns sogar laufend gesenkt worden. Aber die anderen Länder haben stärker
gesenkt. Wir müssen heute feststellen, dass in den alten
EU-Ländern die durchschnittliche Belastung für Gewinne im Bereich von 30 Prozent und in den neuen EULändern im Bereich von 20 Prozent liegt.
({4})
Da es ein entscheidendes Ziel der großen Koalition
ist, den Haushalt zu sanieren, können wir natürlich nicht
in Richtung 20 Prozent gehen. Aber wir wollen einen
deutlichen Schritt von 39 Prozent in Richtung 30 Prozent machen. Dafür haben wir unsere Ziele formuliert.
Ein ganz wichtiges Ziel für uns ist - das, was die Stiftung „Marktwirtschaft“ vorgelegt hat, zeigt, wie schwierig es ist, dieses Ziel zu verwirklichen -, dass in Zukunft
Unternehmensgewinne unabhängig von der Rechtsform
besteuert werden.
Wir haben in der Tat ein weiteres Ziel: Wir wollen erreichen, dass die Gewerbesteuer durch andere ähnlich
hohe Ertragsteuern ersetzt wird. Nur so können wir das
unseren Kommunen zumuten. Auch dies ist eine sehr
schwierige Operation.
Letztlich wollen wir für eine begrenzte Zeit die Abschreibungssätze reduzieren, um den wirtschaftlichen
Aufschwung zu verfestigen.
Herr Kollege Bernhardt, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Otto Solms?
Aber gerne.
Herr Kollege Bernhardt, wenn Sie eine Unternehmensteuerreform für so dringend erforderlich halten
- das tun im Übrigen auch wir -: Warum hat dann die
große Koalition die Anstrengungen auf das nächste Jahr
verschoben? Die Diskussion hat nicht erst mit der Bildung der großen Koalition begonnen, sondern seit Jahren diskutieren wir - die Fachleute genauso wie die
breite Öffentlichkeit - über die Notwendigkeit einer Unternehmensteuerreform, insbesondere um internationale
Wettbewerbsfähigkeit zu erreichen. Nun beginnt die
große Koalition damit, diese zentrale, wichtige Aufgabe
für den deutschen Mittelstand erst einmal auf die lange
Bank zu schieben.
Herr Dr. Solms, wir haben uns - ich habe gerade ein
paar Ziele genannt - eine große Unternehmensteuerreform vorgenommen. Die Probleme in diesem Zusammenhang sind sehr groß; Sie als Fachmann wissen das.
Wir wollen nicht den Fehler machen, den wir in der Vergangenheit häufig gemacht haben, mit zu heißer Nadel
so wichtige Gesetze zu machen, um sie dann anschließend wieder ändern zu müssen. Daher brauchen wir den
Zeitraum bis Ende 2007. Wir werden sicherstellen, dass
das neue Unternehmensteuerrecht am 1. Januar 2008 in
Kraft tritt.
({0})
Bezogen auf den Mittelstand wollen wir, die große
Koalition, noch in einem anderen Bereich etwas verändern, und zwar wollen wir den Übergang von mittelständischen Betrieben auf die nächste Generation erleichtern, indem wir für diese Fälle die Steuern senken
wollen. Auch das ist eine schwierige und umfangreiche
Aufgabe. Wir müssen sie aber lösen. Denn jeder weiß
aus Einzelfällen, dass mancher Betrieb nicht fortgeführt
wird, weil die Steuerlast, die im Erbfall auf die Nachfolger zukommt, so hoch ist, dass sie einfach nicht getragen
werden kann. Deshalb sagen wir: Diese Steuerlast müssen wir reduzieren, um die Arbeitsplätze im Mittelstand
zu erhalten.
Der zweite Aspekt, den ich ansprechen möchte,
wurde schon von einigen meiner Vorredner genannt: die
Mittelstandsfinanzierung und Basel II. Brüssel hat seine
Aufgaben gemacht. Die entsprechende Richtlinie liegt
vor. Jetzt stehen wir vor der schwierigen Aufgabe, diese
Richtlinie in nationales Recht umzusetzen. An dieser
Stelle sage ich: An etwa 100 Punkten haben wir nationalen Spielraum. Die große Koalition wird sicherstellen,
dass wir diesen nationalen Spielraum dort, wo es möglich ist, zugunsten der mittelständischen Firmen nutzen.
Ich hoffe sogar, dass wir zu einer einheitlichen Lösung
kommen werden, der das gesamte Haus zustimmt. Ich
erinnere Sie nur daran, dass wir hier im Bundestag in der
letzten Legislaturperiode zweimal einstimmige Entschließungen zu Basel II gefasst haben, wodurch wir auf
das Ausgangswerk Einfluss in Richtung Mittelstandsfreundlichkeit nehmen konnten. Ich denke, wir werden
auch diesmal eine gemeinsame Lösung finden.
({1})
Natürlich muss ich noch etwas zu einem meiner Lieblingsthemen sagen, zu dem ich von dieser Stelle aus sicher schon ein halbes Dutzend Mal gesprochen habe:
zum ERP-Vermögen. Denn wer sich mit dem ERP-Vermögen beschäftigt, der sollte auch einen Satz dazu sagen, wo es herkommt. Das tue ich sehr gerne. Das ERPVermögen ist nach dem Zweiten Weltkrieg durch die
Marshallplanhilfe der Amerikaner entstanden. Im Rahmen dieser Hilfe wurden Gelder gezahlt, auf deren
Rückführung die Amerikaner verzichteten. Wir konnten
diese Gelder bei uns immer wieder neu einsetzen. Inzwischen ist daraus ein Vermögen von deutlich über
12 Milliarden Euro geworden. Ich stelle fest - diese
Feststellung teilt das ganze Haus -: Das ERP-Vermögen
ist heute das wichtigste Instrument zur Mittelstandsförderung in Deutschland.
({2})
Wenn ein Finanzminister, der gezwungen ist, den Haushalt zu sanieren, von einem Betrag in Höhe von 12 Milliarden Euro hört,
({3})
dann muss man aufpassen.
({4})
Nach all dem, was ich in den vorliegenden Anträgen gelesen habe - mit diesem Thema setzen sich ja alle Fraktionen auseinander -, kann ich nur sagen: Unser gemeinsames Ziel muss sein, dass sich die Erträge aus dem
ERP-Vermögen - denn nur diese können wir einsetzen nicht verringern. Des Weiteren müssen wir sicherstellen,
dass wir als Parlament - in welcher Form auch immer Einfluss darauf haben, wofür diese Erträge in Zukunft
verwendet werden. Nur so kann aus meiner Sicht und
aus Sicht der großen Koalition gewährleistet werden,
dass das ERP-Vermögen auf Dauer ein wichtiges Instrument der Mittelstandsförderung bleibt.
({5})
Ich sage mit aller Deutlichkeit: Hier liegt ein hartes
Stück Arbeit vor uns. Allerdings betone ich auch:
12 Milliarden Euro sind eine verlockende Größenordnung.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich abschließend Folgendes feststellen: Die große Koalition ist entOtto Bernhardt
schlossen, die Rahmenbedingungen für den Mittelstand weiter zu verbessern.
({6})
In diesem Sinne ist unser Antrag zu verstehen. Viel Arbeit liegt vor uns. Aber ich glaube, es macht Spaß, sich
für die Verbesserung der Rahmenbedingungen für den
Mittelstand aktiv einzusetzen.
({7})
Herr Kollege Bernhard, der Kollege Brüderle würde
Sie gerne noch etwas fragen. Würden Sie diese Zugabe
trotz Ihrer eindrucksvollen Schlusspassage noch gestatten?
({0})
Gerne, selbstverständlich.
Herr Kollege, Sie haben zu Recht betont, dass das
Marshallplan- bzw. ERP-Vermögen einen besonderen
Charakter hat, auch mit Blick auf unsere amerikanischen
Freunde. Diese Auffassung teile ich voll und ganz. Aber
Ihre Aussage, dass es uns darum gehen muss, die Erträge
aus dem ERP-Vermögen zu erhalten, ist ein bisschen
verräterisch. Sind Sie im Zusammenhang mit dieser entscheidenden Hilfe, die Deutschland nach dem Krieg erfahren hat und die nach all dem, was geschehen war,
wahrlich nicht selbstverständlich war, rückblickend
nicht auch der Auffassung, dass es zum Anstand gehört,
dieses Vermögen des deutschen Mittelstands in seiner
gesamten Substanz zu erhalten, statt durch Hilfskonstruktionen einen Teil dieses Vermögens zu plündern?
({0})
Politik, Herr Kollege Brüderle, ist bekanntlich die
Kunst des Möglichen. Als große Koalition haben wir natürlich mehrere Ziele gleichzeitig zu erreichen. Ein
wichtiges Ziel ist die Mittelstandsförderung. Deshalb
sage ich: Die Erträge aus dem ERP-Vermögen dürfen
nicht geschmälert werden. Ich sage aber genauso deutlich: Wenn es uns nicht gelingt, den Haushalt zu sanieren, werden wir kein nachhaltiges Wirtschaftswachstum
in Deutschland bekommen.
({0})
Alle Länder der Welt, die die Haushaltssanierung nicht
in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen gestellt haben,
mussten feststellen, dass ein Konjunkturaufschwung bei
maroden Staatsfinanzen nicht möglich ist. Wir müssen
und werden also sicherstellen, dass die Erträge nicht geringer werden, damit die Mittelstandsförderung im bisherigen Umfang betrieben werden kann. Man kann aber
nicht sagen: Alles kann so bleiben, wie es ist. Ich vermute, es wird leider nicht so bleiben können - Politik ist
eben die Kunst des Möglichen.
({1})
Herr Kollege Bernhardt, das Bedürfnis, mit Ihnen in
einen Dialog einzutreten, ist auf allen Seiten des Hauses
vorhanden und nur noch schwer zu überbieten.
({0})
- Das vertiefen wir bei anderer Gelegenheit.
({1})
Ich will jetzt zur Geschäftsordnungslage nur darauf
hinweisen, dass ich Zwischenfragen naturgemäß dann
nicht zulassen kann, wenn sie nach Ablauf der vereinbarten Redezeit angezeigt werden. Da der Kollege
Bernhardt mit seinem Beitrag erfreulicherweise unterhalb der gemeldeten Redezeit geblieben ist, ist es, glaube
ich, nur fair, die eine wie die andere Zusatzfrage zuzulassen, sofern er selber das gestattet. ({2})
Das ist so. Bitte schön, Herr Kollege Dehm.
Wenn Ihr Blick rechtzeitig auch zur Linken geschweift wäre, hätten Sie gesehen, dass ich mich zuvor
zu Wort gemeldet habe.
Meine Frage an Sie, Kollege Bernhardt: Können Sie
sich vorstellen, dass ein hessischer Bäckerbetrieb in den
letzten zwei Jahrzehnten mehr Körperschaftsteuer bezahlt hat als die Deutsche Bank?
({0})
Wenn das so ist, ist die Frage: Warum haben alle Parteien außer der Linkspartei daran mitgewirkt: auf der
Ebene der Bundesregierung, auf der Ebene der Landesregierungen und auch, was die Aufsicht über die Finanzämter, die für Großbetriebsprüfungen zuständig sind, anbetrifft?
({1})
Ich kann von hier natürlich nicht auf Einzelfälle eingehen. Ich weiß nur so viel: dass im Zusammenhang mit
bestimmten Veränderungen der Körperschaftsteuer ein
paar Probleme entstanden sind, die beim Staat zu
erheblichen Einbußen geführt haben; wir haben hier wiederholt darüber diskutiert. Diese Zeit ist aber vorbei. Wir
werden jetzt als große Koalition sicherstellen - wir haben gemeinsam schon viele Schlupflöcher gestopft -,
dass ab 1. Januar 2008 alle Firmen in Deutschland unabhängig von ihrer Rechtsform die gleiche Steuer zahlen.
({0})
Ich habe schon darauf hingewiesen: Diese kann, auch
wenn das wünschenswert wäre, nicht bei 20 Prozent liegen, das schaffen wir nicht. Sie muss aber deutlich niedriger liegen als heute. Dafür werden wir uns einsetzen.
({1})
Das Wort hat nun der Kollege Paul Friedhoff für die
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Nach einer freiwilligen dreijährigen Pause vom
Parlamentsbetrieb bin ich sehr stolz darauf, dass ich
heute wieder in diesem Hohen Hause reden darf.
({0})
Mit dem Antrag „Unternehmen statt Unterlassen - Vorfahrt für den Mittelstand“ wollen wir Liberalen dazu beitragen, dass die Situation des Mittelstands in Deutschland auf die Tagesordnung kommt. In den sieben Jahren
von Rot-Grün wurde den Unternehmern das Arbeiten in
unserem Land erschwert: durch höhere Steuern, höhere
Abgaben, viel mehr Bürokratie. Aber, Herr Meyer, hier
hat auch die Koalition von Schwarz-Rot außer Hoffnung
zurzeit nicht viel zu bieten; ich komm nachher noch darauf.
({1})
Ich habe meine Parlamentspause genutzt und während dieser Zeit erneut einen mittelständischen Betrieb
mit aufgebaut. Dies konnte ich mir nicht etwa deswegen
leisten, weil sich die Rahmenbedingungen in der letzten
Zeit so verbessert hätten, sondern weil ich dafür die Erlöse aus meinem ersten Betrieb, den ich vor meiner Parlamentszeit in den 80er-Jahren aufgebaut habe, verwendet habe. Ich kann also aus eigener Anschauung
vergleichen, was sich in diesen 20 Jahren bei Unternehmensgründungen, aber auch bei der Schaffung von Arbeitsplätzen in diesem Land verändert hat. Ich möchte
das an vier Stellen festmachen.
Erstens. Vor 20 Jahren waren Banken und Sparkassen an Erfolg versprechenden Unternehmensgründungen
durchaus interessiert. Die Banker vor Ort hatten Entscheidungsbefugnisse. Unternehmerpersönlichkeit, Produkt und Marktchancen standen im Vordergrund. An deren Stelle ist heute ein fast umfassendes, ganz
kompliziertes, computergetriebenes Ratingsystem getreten, das mit immensen Dokumentationspflichten eine
Megabürokratie verlangt, die kaum individuelle Spielräume bei den Entscheidungsträgern zulässt.
({2})
Bei den Banken sind die Bürokratiekosten mittlerweile
höher als die Margen. Hier erlebte man über Jahre eine
rot-grüne Regulierungswut. Die Kreditversorgung des
Mittelstandes ist weitestgehend zum Erliegen gekommen. Rot-Grün hat erreicht, dass nur noch derjenige ein
Unternehmen gründen kann, der das entsprechende Geld
mitbringt.
Vor 20 Jahren war die Situation anders. Damals
konnte ich mit relativ wenig eigenen Mitteln, aber mit
überzeugenden Konzepten etwas erreichen. Das geht in
diesem Land nicht mehr, und wir wundern uns, dass wir
dabei Arbeitsplätze verloren haben.
({3})
Was allerdings wohl geht - ich habe eben gehört, dass
das so toll sei -, sind geförderte Ich-AGs. Ich glaube, wir
in Deutschland sind ein ganzes Stück zurückgefallen.
Zweitens. Auch in den 80er-Jahren waren wir schon
ein Hochlohnland, ganz ohne Frage. Allerdings waren
die Zuschläge für unsere sozialen Sicherungssysteme
nicht so hoch wie heute. Wir waren von den übrigen Industrieländern nicht so weit entfernt. Ich spreche nicht
von China, nicht von den Ländern, mit denen - dieses
Totschlagargument wird oft gebracht - wir uns sowieso
nicht messen könnten. Nein, ich vergleiche mit den konkurrierenden Industrieländern. Diese Zuschläge wirken
nun einmal wie eine Sondersteuer auf Arbeit. Wir haben
sie laufend nach oben getrieben. Hier ist kein Ende abzusehen. Die Abgaben für Rente, Krankheit, Pflege, Arbeitslosigkeit, Berufsgenossenschaft und die sonstigen
Zwangsversicherungen sind in den letzten 20 Jahren um
mehr als 50 Prozent gestiegen. Dies hat die Löhne in
Deutschland erheblich verteuert.
Dieser Trend hat sich in den letzten Jahren noch beschleunigt und setzt sich auch unter der schwarz-roten
Koalition durchaus fort. Am 1. Januar dieses Jahres
wurde die Zwangsversicherung für die Lohnfortzahlung
im Krankheitsfall auf Betriebe mit bis zu 30 Mitarbeitern
- statt früher 20 - ausgedehnt. Darüber hinaus gilt sie
jetzt nicht mehr nur für gewerbliche Arbeitnehmer, sondern auch für Angestellte. Nicht „Zurück“, sondern
„Vorwärts“ heißt die Devise. Herr Meyer, dieses Gesetz
ist nicht unter Rot-Grün entstanden, sondern unter
Schwarz-Rot.
In der Rentenkasse fehlt Geld. Ich habe gestern im
Wirtschaftsausschuss vernommen, dass man sich die
Mittel durch einen vorgezogenen Zahlungstermin für die
Sozialversicherungsbeiträge beim Mittelstand abholt. Es
kann doch nicht wahr sein, dass das von der schwarz-roten Koalition weitergeführt wird. Lesen Sie einmal in Ihrem Wahlprogramm nach! Lesen Sie nicht so viel im
Koalitionsprogramm, sondern im Wahlprogramm, was
Sie alles vorhatten!
({4})
Drittens. In jedem Produktionsunternehmen benötigt
man gut ausgebildete Spezialisten, aber auch geringer
qualifizierte Mitarbeiter. Die Nettolohnspreizung zwischen beiden Gruppen ist in den 20 Jahren zulasten der
hochgradig spezialisierten Mitarbeiter erheblich verringert worden. Dies hat zu einem Verlust an Motivation
bei vielen Spezialisten geführt. Erhöhungen der Bruttolöhne wirken sich kaum bei den Nettolöhnen aus. Es
lohnt sich immer weniger, bei der Arbeit Höchstleistungen zu vollbringen. Vom Engagement dieser Spitzenkräfte hängen viele niedriger qualifizierte Arbeitskräfte
ab. Wir sollten uns einmal überlegen, ob wir dies so weiterführen wollen. In Deutschland kann man die fatalen
Folgen der Sockelpolitik der Tarifparteien und der falschen Steuerpolitik bewundern.
Viertens. In diesen 20 Jahren hat sich die Bürokratie
enorm erhöht. Die Kontrollen der Behörden haben sich
vervielfacht. Die von der Bundesvereinigung Liberaler
Mittelstand bestätigten Bürokratiekosten in Höhe von
circa 4 000 Euro jährlich pro Mitarbeiter im Mittelstand
haben sich seit den 80er-Jahren mehr als verdoppelt.
Diese hohen Bürokratiekosten könnten in den Unternehmen viel besser investiert werden. Die enormen staatlichen Kontrollen könnten abgebaut und dafür die Steuern
gesenkt werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, alle Unternehmer
werden Ihnen Folgendes bestätigen: Nur wenn Unternehmen Aufträge erhalten, können sie auch Arbeitsplätze schaffen. Aufträge bekommt man nur, wenn man
international wettbewerbsfähig ist. Dazu gehört nicht
nur die gute Qualität der Produkte, dazu gehört natürlich
auch deren Preis. Wenn die Arbeitskosten zu hoch sind,
dann betrifft dies vor allem die Unternehmen, die ihre
Produkte mit vielen Beschäftigten herstellen; denn je
teurer die Arbeit ist, desto teurer sind die Produkte.
Im Mittelstand sind viele Menschen beschäftigt. Deshalb muss man es immer wieder sagen: Wir benötigen
eine Abkopplung der Sozialkosten von den Arbeitskosten, wir benötigen ein einfaches, gerechtes und niedrigeres Steuersystem und wir benötigen die Absenkung der
Arbeitskosten durch den Abbau der bei uns viel zu hohen Bürokratiekosten, was gleichzeitig dann auch zu
mehr Flexibilität führt.
Dies haben alle Industrieländer, die beim Abbau der
Arbeitslosigkeit erfolgreich gewesen sind, so getan.
Auch wir werden nicht darum herumkommen, das zu
tun. Lasst uns an die Arbeit gehen! Mit dem Koalitionsvertrag werden Sie dieser Lage aber überhaupt nicht gerecht. Hier wird noch ein ganzes Stück nachgearbeitet
werden müssen. Herr Meyer, dabei würden wir Ihnen
natürlich sehr gerne helfen, damit Sie hier wirklich in die
Puschen kommen und keinen Standfußball spielen.
Herzlichen Dank.
({5})
Herr Kollege Friedhoff, das war nun zweifellos nicht
Ihre parlamentarische Jungfernrede, aber ich möchte
doch gerne die Gelegenheit nutzen, für diejenigen, die
Sie aus früherer langjähriger parlamentarischer Zusammenarbeit kennen, die Freude zum Ausdruck zu bringen,
dass Sie wieder dabei sind.
({0})
Nun hat die Kollegin Andrea Wicklein für die SPDFraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wenn wir heute über Mittelstand und Wirtschaftsförderung reden, dann müssen wir auch 15 Jahre
nach der deutschen Vereinigung - leider, so sage ich über Mittelstand Ost und Mittelstand West reden. Es gibt
zwar mehr und mehr wirtschaftliche und wirtschaftspolitische Gemeinsamkeiten, in wichtigen Punkten unterscheiden sich Ost und West aber nach wie vor erheblich.
Ostdeutscher und westdeutscher Mittelstand spüren
die konjunkturelle Belebung gemeinsam. Es ist überaus
erfreulich, dass das verarbeitende Gewerbe die
Geschäftsaussichten auch im laufenden Jahr positiv beurteilt. Vier von fünf Unternehmen erwarten in diesem
Jahr ein eher gutes oder ein gutes Geschäft. Der ostdeutsche Mittelstand steuert in diesem Jahr damit ein neues
Fünfjahreshoch an. Die „Berliner Zeitung“ weist in ihrem Kommentar allerdings darauf hin, dass Freud und
Leid hier sehr eng beieinander liegen. Deshalb will ich
auch die gewaltigen wirtschaftlichen Probleme ganz ungeschminkt benennen, die große Teile Ostdeutschlands
nach wie vor haben.
In zahlreichen Regionen führen Arbeitslosenquoten
von 20 Prozent und mehr dazu, dass viele junge und gut
ausgebildete Menschen ihre Heimat verlassen und in die
westdeutschen Bundesländer abwandern. Ein drohender
Mangel an Fachkräften und ein erheblicher Rückgang
der Zahl der erwerbsfähigen Menschen und der Gesamtbevölkerung sind die Folgen. Nach einer aktuellen Umfrage von TNS Infratest ist die Suche nach qualifiziertem
Nachwuchs schon heute die größte Sorge der mittelständischen Unternehmen, und das übrigens nicht nur im Osten. Schätzungen gehen von einem Bevölkerungsrückgang in einigen ostdeutschen Bundesländern von bis zu
17 Prozent bis zum Jahre 2020 aus. Dieser Bevölkerungsrückgang würde in den betroffenen Regionen nicht
zuletzt zu weiter sinkenden Steuereinnahmen und zu einer erhöhten Pro-Kopf-Verschuldung führen.
Aber auch die Struktur der mittelständischen Wirtschaft in Ostdeutschland unterscheidet sich von der in
den alten Bundesländern immer noch signifikant. Wenn
wir uns vor Augen führen, dass sich von den 500 größten
deutschen Unternehmen des verarbeitenden Gewerbes
nur sieben in den neuen Bundesländern und 144 allein in
Nordrhein-Westfalen befinden, dann wissen wir, vor
welchen Problemen wir in den neuen Ländern nach wie
vor stehen. Auch die Anzahl der Beschäftigten im Forschungsbereich der Unternehmen beträgt, bezogen auf
1 000 Erwerbstätige, in den alten Ländern durchschnittlich 9,1; in Ostdeutschland dagegen sind es nur 3,3. Gerade den kleinen und mittleren Unternehmen in den
neuen Ländern fehlen somit eigene Potenziale, um neue
Verfahren und neue Produkte zu entwickeln und diese
erfolgreich am Markt zu platzieren.
Aber auch innerhalb der neuen Bundesländer ist die
Situation durch große regionale Unterschiede gekennzeichnet. Hier liegen Licht und Schatten nahe beieinander. In einigen Regionen wie in Jena, Dresden, Leipzig
oder Halle konnten ganz erhebliche Fortschritte erzielt
werden. Dort bilden sich Wachstumszentren heraus,
die sich zu selbsttragenden Wirtschaftseinheiten entwickeln. Es entstehen dort regionale Kompetenzfelder mit
wettbewerbsfähigen und innovativen Branchenschwerpunkten. Diese Wachstumskerne müssen wir auch in Zukunft mit sehr differenzierten Förderinstrumenten und
Fördermaßnahmen unterstützen, damit die von ihnen
ausgehende wirtschaftliche Dynamik stabilisiert und
weiter angeregt wird.
Andererseits ist es jedoch unumgänglich, dass wir in
struktur- und wachstumsschwachen Regionen neue Perspektiven eröffnen. Jede Region hat Stärken und Entwicklungspotenziale, sei es in der Erzeugung und Verarbeitung von landwirtschaftlichen Produkten, in der
Energiegewinnung durch Biomasse oder auch im Tourismus. Diese Wertschöpfungspotenziale müssen vor Ort
identifiziert werden, und auch für wirtschaftsschwache
Regionen müssen Entwicklungskonzepte erarbeitet und
mit möglichst professionellen regionalen Managementmethoden umgesetzt werden.
({0})
Grundsätzlich gilt - ich glaube, darin sind wir uns alle
einig -, dass die Zeit der Gießkannenförderung ein für
alle Mal vorbei ist. Es muss darum gehen, die vorhandenen Mittel in den ostdeutschen Bundesländern gezielt
und effizient einzusetzen. Mit konkreten Förderprogrammen wie Inno-Watt, NEMO und Pro Inno hat die alte
Bundesregierung den besonderen Bedürfnissen der ostdeutschen Unternehmen bereits Rechnung getragen.
Diese Programme gleichen die vorhandenen Defizite im
Management, beim Technologietransfer, bei der Markteinführung und bei der Vernetzung aus.
Dass der hier eingeschlagene Weg richtig ist, zeigen
die begleitenden Untersuchungen. So haben sich der
Umsatz, die Beschäftigung und die Produktivität der
durch Inno-Watt geförderten Unternehmen weit besser
entwickelt als der Durchschnitt der gewerblichen Wirtschaft. Mit jedem Euro Zuschuss konnte ein wirtschaftlicher Effekt von 14 Euro bewirkt werden. Von 2000 bis
2004 hat sich der Export bei den geförderten Unternehmen fast verdreifacht.
Alles in allem zeigt sich: Die gezielte Innovationsund Technologieförderung ist erfolgreich. Deshalb
müssen wir diese Programme zur Förderung der kleineren und mittleren Unternehmen fortsetzen.
({1})
Das zweite Standbein der mittelstandsorientierten
Förderpolitik für die neuen Bundesländer ist die Investitionsförderung. Noch immer sind Eigenmittel ein Engpass bei der Finanzierung von Investitionen. Trotz
umfangreicher staatlicher Hilfen lagen die Anlageinvestitionen in Ostdeutschland 11 Prozent unter denen in
Westdeutschland. Während im Westen Investitionen fast
zu zwei Dritteln aus Eigenmitteln finanziert werden können, liegt diese Quote im Osten knapp unter 50 Prozent.
Diese Lücke wird derzeit durch Fördermittel geschlossen.
Unsere wichtigsten Instrumente sind hier die Investitionszulage und die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“. Beide Instrumente wollen wir als Regierungskoalition fortführen.
({2})
Die Investitionszulage ist eine wichtige Basisförderung. Wir sollten sie allerdings effizienter gestalten und
den Realitäten in den neuen Ländern besser anpassen.
Beispielsweise spricht viel dafür, mit dieser Zulage auch
touristische Vorhaben zu unterstützen; denn für Regionen wie das Erzgebirge, den Harz, den Spreewald oder
die Küste in Mecklenburg-Vorpommern bietet der Fremdenverkehr das wichtigste Wachstumspotenzial. Deshalb
sollten wir eine Ausweitung der Förderung in diesem
Bereich in Erwägung ziehen.
({3})
Außerdem werden wir die Gemeinschaftsaufgabe auf
hohem Niveau fortsetzen. Sie ist und bleibt ein unverzichtbares Instrument für die Investitionsförderung. Die
Gemeinschaftsaufgabe hat die nötige Flexibilität, um regionale Potenziale sehr gezielt zu fördern.
Lassen Sie mich zum Schluss noch einen anderen
Punkt herausgreifen. Bekanntlich reicht ein Instrument
allein nicht aus, um ein Orchesterstück zu spielen. Ähnlich verhält es sich in der Mittelstandsförderung. Wichtig
ist es, die verschiedenen Instrumente, die uns zur Verfügung stehen, zusammen und vor allem auch koordiniert
einzusetzen. Innovations- und Investitionsförderung gehören zusammen.
Es ist deshalb gut, dass die wichtigsten Förderinstrumente auch von einem Ministerium begleitet und koordiniert werden. Bekanntlich machen mehrere Dirigenten
das Musizieren nicht leichter. In diesem Sinne tun wir alles für die weitere Entwicklung des Mittelstandes auch
im Osten.
Vielen Dank.
({4})
Ich erteile das Wort nun dem Kollegen Dr. Herbert
Schui, Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das ERPSondervermögen muss dort bleiben, wo es zurzeit ist.
Dieses Sondervermögen ist ein Mittel allgemeiner Wirtschaftsförderung, und zwar nicht nur für das Kleingewerbe - den Begriff Mittelstand möchte ich eher
vermeiden; denn er umfasst vieles -, sondern auch zur
Förderung von Innovation. Ich erinnere daran, dass auch
das Airbus-Konsortium auf der Grundlage des ERP-Sondervermögens erhebliche Kredite bekommen hat.
Statt öffentliches Eigentum zu erhalten, zu nutzen und
für eine umfassendere Wirtschaftspolitik einzusetzen,
wird von den Regierungen seit vielen Wahlperioden eine
andere Tradition begründet, nämlich die Senkung von
Unternehmen- und Gewinnsteuern im Allgemeinen - dadurch sinken die Einnahmen - und die Kürzung von öffentlichen Dienstleistungen und Sozialleistungen. Dennoch bleibt ein Defizit. Wie soll es angesichts der
Maastricht-Kriterien ausgeglichen werden? Also wird
öffentliches Eigentum verkauft - und so weiter und so
fort.
Dabei müssen wir uns aber das Problem vor Augen
führen, dass in vielen Fällen das öffentliche Eigentum,
das aus Gründen eines ungefähren Ausgleichs des öffentlichen Haushalts nun verkauft werden soll, von denen erworben wird, die reicher geworden sind, weil sie
weniger Steuern zahlen müssen. Alles in allem ist das
eine geniale Politik.
({0})
In diese Tradition des Verkaufs öffentlichen Eigentums gehört auch, dass von den insgesamt 12 Milliarden
des ERP-Sondervermögens 2 Milliarden zur Finanzierung des Bundeshaushalts eingesetzt werden sollen und
im Rahmen der so genannten Neuordnung des ERP-Sondervermögens offensichtlich weitere 10 Milliarden Euro
als Eigenkapital der Kreditanstalt für Wiederaufbau
zugeführt werden sollen. Diese Neuordnung wird aber
nicht das Ende eines Prozesses sein, in dem sich der
Staat zum armen Mann macht, sein Vermögen veräußert
und damit bedeutende Möglichkeiten aufgibt, eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik zu betreiben.
({1})
10 Milliarden Euro sollen also dafür verwendet werden, das Eigenkapital der Kreditanstalt für Wiederaufbau
zu erhöhen. Wie zweckmäßig auch immer, für sich genommen, mehr Eigenkapital ist für ein staatliches Spezialkreditinstitut -und das ist die Kreditanstalt für Wiederaufbau, so bedenklich ist es, wenn das vermehrte
Eigenkapital für die Kreditanstalt für Wiederaufbau nun
aus dem ERP-Sondervermögen herausgenommen werden soll, um Telekomanteile oder Bahnaktien rascher zugunsten des Bundeshaushaltes zu liquidieren. Mit dem
ERP-Sondervermögen als zusätzlichem Eigenkapital der
KfW soll also die Privatisierung von Bundeseigentum
finanztechnisch reibungslos gestaltet werden. Die KfW
wird damit - das ist nicht ihre Aufgabe - zur Privatisierungsagentur des Bundes.
Was ist zu erwarten, wenn alles bedeutende Bundesvermögen verkauft ist, wenn also die KfW ihren Dienst
getan hat? Es ist wahrscheinlich, dass sie dann ebenfalls
verkauft wird und damit auch dasjenige zusätzliche Eigenkapital, das aus dem ERP-Sondervermögen stammt.
Man könnte der Regierung und der Koalition nur dann
zustimmen, wenn sie eine unabdingbare Bestandsgarantie zugunsten der KfW formulierten, die Aufgaben
genau definierten und überdies eine demokratische
Kontrolle dieser reformierten Kreditanstalt für Wiederaufbau auf kurzem Weg ermöglichten. Insgesamt reicht
das aber nicht aus, um den Mittelstand zu fördern. Eines
muss bedacht werden: Wenn es - wie vorhin angekündigt - weitere Steuererleichterungen zugunsten des
Mittelstandes gibt, dann ist angesichts der ungleich verteilten Marktmacht auf der Grundlage der Gestaltung
der Absatz- und Beschaffungspreise zu erwarten, dass
diese Steuererleichterungen in Kürze zu Gewinnen der
Großwirtschaft werden.
Gestatten Sie mir bitte noch einen abschließenden
Satz. Wir schließen uns im Zusammenhang mit dem
ERP-Vermögen durchaus dem Antrag der FDP an und
sind - genauso wie die Kollegen von der FDP-Fraktion gegen eine Liquidierung dieses öffentlichen Eigentums.
Damit könnte sich allerdings eine Entente cordiale aus
FDP und der Linken anbahnen.
Herr Kollege, ich befürchte, dass die Implikationen
einer solchen heimlichen Koalition im Rahmen Ihrer
überschrittenen Redezeit nicht mehr vollständig darzustellen sein werden.
({0})
Meine Damen und Herren von der FDP, damit es so
weitergeht, werden Sie in Zukunft sicherlich gemeinsam
mit uns die Privatisierung von allem öffentlichen Eigentum nach Kräften zu verhindern versuchen.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat nun der Kollege Hans Josef Fell, Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Das ERP-Sondervermögen ist das wichtigste Instrument der Innovationsförderung, der Mittelstandsförderung und der Umwelttechnologieförderung. Allein im
Jahre 2005 wurden mit dem ERP-Wirtschaftsplan
3,8 Milliarden Euro bereitgestellt. Frau Wicklein, in den
neuen Bundesländern sind mittlerweile 169 000 Vorhaben in den Bereichen Gründung und Festigung von Unternehmen gefördert worden. Der Aufbau dieser mittelständischen Unternehmen wäre ohne die gezielten
Finanzierungshilfen häufig nicht möglich gewesen, wie
es im Subventionsbericht der Bundesregierung herausgestellt wird. Wir alle wissen, dass die Mittelstandskreditförderung nie wichtiger war als heute, da sich vor
allem die großen Banken leider zunehmend vom Mittelstand entfernt haben.
Der Deutsche Bundestag war sich der besonderen Bedeutung dieses Finanzierungsinstruments immer bewusst und hat es über viele Jahrzehnte verteidigt. Auch
jetzt ist wieder der Mut des ganzen Hauses gefragt, da
das Finanzministerium das ERP-Sondervermögen kürzen und an die KfW schlicht verschenken will. Wir
freuen uns, dass auch die FDP mit ihrem Antrag die Tradition der Vermögenserhaltung und die parlamentarische
Kontrolle verteidigt.
Ich würde mich auch freuen, wenn die Union und die
SPD dieser Tradition folgen würden. Herr Kollege
Lange, Herr Kollege Bernhardt, ich habe mich gefreut,
dass Sie die Aufrechterhaltung der demokratischen
Kontrolle betont haben. Aber Sie müssen auch wissen:
Entweder gibt es diese demokratische Kontrolle oder die
Eigenkapitalübertragung an die KfW. Beides zusammen
ist nicht machbar und dies müssen wir ganz klar wissen.
({0})
Ich befasse mich seit zwei Jahren mit dem Ansinnen
des Finanzministeriums. Mir wurde bis heute kein stichhaltiger Grund genannt, der für eine Übertragung an die
KfW spricht. Die genannten Effizienzgewinne sind sehr
umstritten und wären bei anderen Anlageformen vermutlich sogar höher. Erst gestern hat mir die Parlamentarische Staatssekretärin des BMF Barbara Hendricks in der
Fragestunde bestätigt, dass die KfW keine ERP-Mittel
benötigt, um die Platzhaltergeschäfte im Rahmen der
Privatisierung realisieren zu können.
Das ERP-Sondervermögen ist vor allem ein Innovationsprogramm. Es ist das wichtigste Instrument, welches der Bundesregierung für ihre Innovationsoffensive
zur Verfügung steht; denn es stellt genau dort Kapital zur
Verfügung, wo andere das Risiko scheuen. Ohne das
ERP-Sondervermögen mit Mut zu Investitionen wäre
jede Innovationsoffensive zum Scheitern verurteilt. Ich
will das anhand der jüngsten Innovationsbausteine darstellen. Ohne das ERP-Sondervermögen gäbe es keinen
Dachfonds für Venture Capital. Ohne diesen Dachfonds
würde das Eigenkapital des European Investment Fund
nicht in Deutschland investiert werden. Ohne die Beteiligung des ERP-Sondervermögens gäbe es auch keine
Chance, das Venture Capital in Deutschland wieder zu
beleben.
({1})
Den Dachfonds wollte übrigens die KfW nicht mitfinanzieren, da ihr das Risiko zu hoch erschien. Das ist
das gute Recht der KfW. Umgekehrt ist es aber auch das
gute Recht des Bundestages, andere Prioritäten zu verfolgen. Die Verfolgung dieser Prioritäten ist aber nur so
lange möglich, wie über das ERP-Sondervermögen vom
Bundestag und nicht von der KfW entschieden wird.
({2})
Dies zeigt auch das Beispiel des ERP-Startfonds, der
ebenfalls im Risikokapitalbereich aktiv ist. Er wird zu
90 Prozent über das ERP-Sondervermögen finanziert.
Dieses war als einziges Vermögen bereit, so viel Geld
überhaupt in die Hand zu nehmen, um Start-ups kozufinanzieren. Die durchführende KfW war nur zu eher
symbolischen 10 Prozent zu bewegen. Wäre das ERPSondervermögen im KfW-Besitz gewesen, gäbe es folglich auch keinen Startfonds und somit weit geringere
Chancen für junge Technologieunternehmen, an Geld zu
gelangen.
({3})
Der Deutsche Bundestag hat nicht nur mutig in die
Zukunft investiert; er hat dabei auch das Vermögen erhalten - und das über Jahrzehnte hinweg. Mit diesem
Vermögen konnten zugleich Dutzende Milliarden in die
Zukunft des Landes investiert werden. Da der Deutsche
Bundestag und die Bundesregierung eine große Verantwortung für das ERP-Sondervermögen und damit auch
für die Zukunft unseres Landes tragen, müssen sie größten Wert darauf legen, wie das Geld angelegt wird. Hier
muss selbstverständlich auch in der Zukunft das
Substanzerhaltungsgebot gelten. Ansonsten würden
wir Gefahr laufen, in eine Innovationsdefensive zu geraten. Der Vertrag mit den USA bietet hierzu eine wichtige Gewährleistung; denn in diesem Vertrag ist die
Substanzerhaltung als oberstes Gebot festgeschrieben.
Die Substanzerhaltung spricht übrigens nicht dagegen,
dass der Bundesfinanzminister 2 Milliarden Euro im
Haushalt verwenden kann. Den 2 Milliarden Euro müssen dann aber logischerweise Beteiligungswerte in gleicher Höhe gegenüberstehen und schon sind zwei Fliegen
mit einer Klappe geschlagen: Verringerung der Neuverschuldung und Substanzerhaltung des Sondervermögens. Diesen Weg gibt es und wir halten ihn für den
richtigen und einzigen gehbaren angesichts der internationalen Vertragslage.
Neben dem Substanzerhaltungsgebot muss die Effizienz im Vordergrund stehen, mit der das Geld angelegt
wird. Folgerichtig muss wie bei jeder Geldanlage verglichen werden, was der Markt anbietet. Wer das beste Angebot macht, soll dann auch den Zuschlag erhalten. Dies
ist ein selbstverständliches Vorgehen, das wir in unserem
Antrag einfordern. Wir wissen, die Haushaltslage ist
mehr als schwierig. Umso mehr gilt: Der Bund hat kein
Geld zu verschenken, auch nicht an die KfW.
({4})
Das Wort hat nun der Kollege Franz Obermeier,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Es ist schon amüsant, welche Allianzen sich in dieser
Debatte ergeben. Man muss einmal schauen, wie sich die
Dinge in den nächsten Tagen und Wochen weiterentwickeln.
Was die Zielsetzungen angeht, besteht in diesem
Hause eigentlich Einigkeit: Mittelstandsförderung hat
Priorität. Sie steht nicht zuletzt in unserem Koalitionsvertrag ganz oben. Gleichzeitig wird fast täglich der Abbau von Arbeitsplätzen in unserem Land, insbesondere
in der Industrie, gemeldet.
({0})
Das bringt mich dazu, zu fragen: Wie fangen wir diese
Arbeitsplatzverluste auf? Im vergangenen Jahr sollen
400 000 Arbeitsplätze im sozialversicherungspflichtigen Bereich abgebaut worden sein. Das muss uns
äußerst nachdenklich machen.
Lassen Sie mich versuchen, eine Bilanz zu ziehen.
Wir werden im Dienstleistungsbereich weiterhin sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze bekommen. Ich
bin allerdings der Auffassung, dass die Verluste im
industriellen Bereich dadurch bei weitem nicht ausgeglichen werden. Insofern haben wir die Aufgabe, alles
dafür zu tun, dass im produktiven Bereich Arbeitsplätze
entstehen. Dieses Ziel können wir nur erreichen, wenn
wir die mittelständische Wirtschaft entsprechend fördern.
({1})
Dafür haben wir zu arbeiten.
Nun möchte ich ein Wort zu Herrn Brüderle sagen,
nachdem er sich hier über unsere Arbeit und unsere Absichten so deutlich ausgelassen hat. Herr Brüderle, Sie
können die Besteuerung im mittelständischen Bereich
gern anprangern. Auch wir haben da einige Defizite festzustellen. Wenn Sie sich aber über die Gewerbesteuer
in dieser Form auslassen, dann erwarte ich von Ihnen als
erfahrenem Politiker, dass Sie den Kommunen ein
Signal geben, wie sie einen adäquaten Ausgleich für die
Abschaffung der Gewerbesteuer bekommen.
({2})
Ein solcher Ausgleich ist für meine Begriffe für die
Kommunen deswegen wichtig, weil wir den Kommunen
in der Zukunft weitere Aufgaben übertragen werden.
Wir müssen den Kommunen sagen, wie sie die Dinge zu
finanzieren haben. Wir stellen bei den Kommunen einen
Investitionsstau von erheblichem Ausmaß fest. Dieses
Thema dürfen wir nicht hintanstellen.
Ich bin froh, dass sich die neue Regierung die Zeit
nimmt, um in diesem und im nächsten Jahr ein vernünftiges, umfassendes Steuerrecht zu entwickeln. Wir Politiker im Allgemeinen und die alte und die neue Bundesregierung im Besonderen werden gerade vom
gewerblichen Bereich mit einiger Skepsis gesehen: Man
ist sich noch nicht so ganz sicher, ob diese Konstruktion
das notwendige Vertrauen verdient. Wir dürfen uns deshalb in der Steuerpolitik nichts leisten, was dazu führt,
dass nachgebessert werden muss. Wir müssen gute Arbeit leisten. Wir müssen alle zusammenstehen, damit
dieses Land ein umfassendes, vernünftiges und gutes
Steuerrecht bekommt.
({3})
Dieser Tage gab es eine Veranstaltung des Deutschen
Verkehrsforums. Hier im Parlament werden wir demnächst das Infrastrukturplanungsbeschleunigungsgesetz
behandeln. Der Investitionsstau im Verkehrsbereich hat
eine Größenordnung von 160 Milliarden Euro. Über den
Haushalt werden wir die notwendigen Investitionen in
einer angemessenen und überschaubaren Frist nicht vornehmen können. Deswegen ist es wichtig, dass wir uns
in absehbarer Zeit mit alternativen Finanzierungsmethoden, insbesondere was den Verkehr angeht, befassen.
({4})
- Nein, ich rede nicht der Maut das Wort.
({5})
Ich rede von Finanzierungsmethoden im Privatkapitalsektor. Dem müssen wir näher treten, weil wir, was den
gesamten Verkehrsbereich betrifft, von der Substanz leben. Das ist alles andere als vertretbar.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch ein
paar Punkte benennen, die neben den Verkehrsinvestitionen - im Bahnbereich finden überwiegend mittelständische Unternehmen Aufträge - tatsächlich mittelstandsfördernd sind. Zum Gebäudesanierungsprogramm:
Gerade für das Handwerk ist es äußerst vorteilhaft, wenn
wir diese 1,4 Milliarden Euro jetzt sinnvoll einsetzen.
({6})
„CO2-Gebäudesanierungsprogramm“ ist vom Begriff
her vielleicht ein bisschen einfach. Es geht darum, dass
für den Bereich Wärme 1,4 Milliarden Euro jährlich
zielgerichtet für den Mittelstand zur Verfügung stehen.
Damit geben wir gerade den kleinen und mittelständischen Unternehmern das Signal, dass wir etwas für sie
tun.
({7})
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich die restlichen Minuten noch zu einer Bemerkung über das ERPSondervermögen nutzen. Wir sind uns in diesem Hause
darüber einig - das ergibt sich, wenn man die Debatte
verfolgt -, dass es sich dabei eigentlich um ein Juwel in
der bundesdeutschen Geschichte handelt.
({8})
Die Frage ist: Welche Zielsetzung steckt dahinter, wenn
die Übertragung an die KfW betrieben wird? Die
Eigenkapitalausstattung ist ein Aspekt. Wir haben aber
gerade gehört, dass es darum eigentlich gar nicht gehen
kann. Wenn die Effizienz der Bewirtschaftung dieses
Kapitals der Punkt ist, dann muss uns jemand hier im
Parlament erklären, wo denn Defizite liegen. Ist das Kapital in der Vergangenheit nicht effizient angelegt worden? Wo können Effizienzgewinne liegen? Oder geht es
etwa um die Forderungsabtretung? Auch das könnte ein
interessanter Aspekt sein. Wer sich damit befasst, sollte
aber gleichzeitig sagen, dass das für das ERP-Sondervermögen langfristig auf alle Fälle zu einem Verlust führt.
({9})
Auch diese Variante ist für meine Begriffe also höchst
fragwürdig.
({10})
Insgesamt können wir uns über die Thematik unterhalten. Auch wir - da spreche ich schon für die CDU/
CSU-Bundestagsfraktion - sind für das Substanzerhaltungsgebot. Das darf unter gar keinen Umständen ausgehöhlt werden. Dagegen werden wir uns mit Händen
und Füßen wehren. Auch sollte man darüber reden, wie
die Finanzierung des deutschen Anteils bei Airbus durch
das ERP weitergeht. Immerhin hat man dem Bund dadurch im Prinzip 1,1 Milliarden Euro gespart.
Als Letztes möchte ich sagen, dass wir unsere Außenbeziehungen zu den Vereinigten Staaten mit Bedacht gestalten sollten.
Wir sollten uns also sehr wohl über den weiteren Fortgang der Dinge unterhalten - das aber mit Bedacht, mit
Vernunft und letztlich mit dem Ziel, das ERP-Sondervermögen für unsere mittelständische Wirtschaft zu erhalten, wenn nicht sogar zu vermehren.
Herzlichen Dank.
({11})
Das Wort hat nun der Kollege Reinhard Schultz,
SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! In der Geschichte der Bundesrepublik hat es
selten eine Koalitionsvereinbarung gegeben, in der sich
diejenigen, die sich anschicken, zu regieren, dermaßen
breit dem Thema Mittelstandspolitik zugewandt haben.
Das gilt für alle Facetten des Themas: ordnungspolitische Fragen, Fragen der Förderung und der Finanzierung, steuerrechtliche Kulisse, bürokratische Hürden
und vieles andere mehr. Es ist ein sehr systematischer
Ansatz. Wenn es der großen Koalition und der Regierung gelingt, diese Themen innerhalb der nächsten Jahre
abzuarbeiten, dann verbessern sich die Möglichkeiten
für mittelständische Unternehmen und Existenzgründer
drastisch. Das ist unser gemeinsames Ziel.
({0})
Es wird zwar immer sehr technisch über den Mittelstand geredet; aber in der Wirklichkeit verbirgt sich hinter diesem Begriff eine ungeheure Vielfalt. Es sind sehr
unterschiedliche Größenordnungen von Unternehmen,
über die wir in diesem Zusammenhang reden. Viele erscheinen dem Außenstehenden und Unvoreingenommenen als große Industrieunternehmen, die aber statistisch
gesehen noch zum Mittelstand gehören. Es gibt viele
Kleinunternehmen, in denen nur eine, zwei oder drei
Personen arbeiten. Es gibt sehr große Unternehmen, die
Gesellschaften bürgerlichen Rechts sind, und es gibt
kleine Aktiengesellschaften. Es gibt eine ungeheure
Branchenvielfalt, vom produzierenden Gewerbe über die
Dienstleister bis hin zum industriellen Bereich. Manche
mittelständischen Unternehmen arbeiten praktisch ausschließlich in regionalen, örtlichen Kreisläufen, andere
sind in hohem Maße exportorientiert und unterliegen
denselben weltweiten Standortbedingungen wie große
Industrieunternehmen.
Insofern muss auch die Mittelstandspolitik differenziert angegangen werden. Dabei spielen zwei wichtige
Fragen, die heute schon angesprochen worden sind, eine
große Rolle: Erstens. Wie finanziert sich der Mittelstand
und wie sind die Standortbedingungen im Vergleich zu
anderen unter Wettbewerbsgesichtspunkten? Zweitens.
Was ist die steuerliche Bemessungsgrundlage? Welche
Steuern zahlen Unternehmen unabhängig von ihrer
Rechtsform?
Bei der Finanzierung ist die Lage differenziert zu
betrachten. Die stärkeren mittelständischen Industrieunternehmen haben inzwischen eine deutlich gestiegene
Eigenkapitalquote und eine wesentlich höhere Eigenfinanzierungsquote als noch vor einigen Jahren. Sie sind
auf dem Weg, sich von den Banken abzunabeln, sich von
ihnen unabhängig zu machen, indem sie andere Möglichkeiten der Finanzierung suchen, aus dem Kreis der
Gesellschafter oder in Form von Beteiligungskapital
Dritter.
Die kleinen Unternehmen hingegen haben oft schon
große Probleme, ihre Aufträge zu finanzieren, und müssen möglicherweise eine Auftragsbürgschaft hinterlegen,
um überhaupt an einen Auftrag zu kommen. Sie haben
nach wie vor eine bescheidene Kapitalausstattung. Sie
haben nicht die Sicherheiten, die man vorlegen muss,
wenn man einen Bankkredit bedienen will, sodass sie
häufig nicht einmal in der Lage sind, eine Auftragsbürgschaft, die ja auch Geld kostet, zu hinterlegen.
Insofern muss die Zuwendung der Politik gegenüber
den mittelständischen Unternehmen beide Wirklichkeiten im Auge haben: die der starken, wettbewerbsorientierten, auch international operierenden Mittelständler
und die der Kleinen, die im Wesentlichen für den eigenen Binnenmarkt sowie für die Existenz der Eigentümer
und die Finanzierung des Unternehmens arbeiten. Ich
persönlich bin nicht der Auffassung, dass die Kritik bezüglich des Umgangs der drei Säulen unseres Bankwesens mit den Unternehmen ausschließlich an den großen
Geschäftsbanken anzubringen ist. Auch bei Volksbanken
und Sparkassen ist es für einen kleinen Bauunternehmer
oder einen Unternehmer aus einer Branche, in der die
Lage allgemein als kritisch angesehen wird, zum Teil
ausgesprochen schwierig geworden - wenn man nicht
seine Schwiegermutter als Sicherheit mit dabeilegt -,
eine Finanzierung zu bekommen.
Reinhard Schultz ({1})
Als Freund des dreigliedrigen Bankwesens sage ich:
Gerade der öffentlich-rechtliche Sektor, der ursprünglich
entwickelt worden ist, um die regionale Geldversorgung
zu organisieren, ist da in einer ganz besonderen Verantwortung. Aber wir müssen es ihm auch möglich machen,
dieser Verantwortung nachzukommen.
Risikomanagement ist zwingend erforderlich, sowohl
in Bezug auf die Banken, weil wir keinen Bankencrash
wollen, als auch in Bezug auf die Unternehmen. Die Unternehmen müssen sich durch Vermögensvergleich darüber klar werden, wo sie eigentlich stehen. Aber die
Hürden dürfen nicht so hoch gesetzt werden, dass nur
noch risikolose Darlehen vergeben werden; denn das
würde null wirtschaftliche Dynamik bedeuten.
({2})
Dann würde nur noch dem gegeben, der schon hat; dann
würde nicht Risikofreudigkeit belohnt, sondern im
Grunde genommen der Status quo erhalten werden. Darin liegt das Problem bei der Mittelstandsfinanzierung.
Wir müssen uns ganz schnell daranmachen, Basel II umzusetzen und die Regeln für die Aufsicht über die kreditvergebenden Bankinstitute im Rahmen der wirtschaftlichen Erfordernisse auszugestalten.
Ich sehe aber auch die Notwendigkeit, dass das, was
besser gestellte Mittelständler schon nutzen können,
auch kleineren Unternehmen zugute kommt. Ich meine
das Zur-Verfügung-Stellen privaten Kapitals Dritter.
Das muss sicher steuerrechtliche Konsequenzen haben,
weil natürlich nicht jedes Engagement beispielsweise im
Bereich Private Equity immer mit der Erzielung eines
Gewinns belohnt werden kann. Es besteht natürlich auch
das Risiko, dass ein Engagement einmal sozusagen in
die Hose geht. Unter dem Strich gesehen muss auch für
die privaten Kapitalgeber das Nettobesteuerungsprinzip
gelten, das in anderen Zusammenhängen ebenfalls gilt.
Darüber müssen wir im Rahmen der Unternehmensteuerreform dringend nachdenken.
Wir müssen auch darüber nachdenken - ich sage das
ganz bewusst, weil wir in der vergangenen Legislaturperiode darüber schon kritische Diskussionen hatten -,
wie wir eigentlich mit der Tatsache umgehen, dass im
mittelständischen Bereich ein großer Teil der Finanzierung der Investitionsgüter inzwischen über Leasing erfolgt. Das ist zwar grundsätzlich nicht schlecht, aber
man muss sich schon darüber unterhalten, welche Implikationen sich daraus ergeben und wie die Leasingkosten
steuerlich behandelt werden sollen.
({3})
Zur Unternehmensteuerreform selbst. Herr
Bernhardt hat es klar auf den Punkt gebracht. Wir wollen
alle Unternehmen - unabhängig von ihrer Rechtsform gleich besteuern.
({4})
Damit heben wir die einzelnen Rechtsformen nicht auf.
Wir erreichen damit aber eine systematische Trennung
zwischen der unternehmerischen Sphäre und der steuerlichen Sphäre der Unternehmenseigentümer. Dies ist
richtig; denn diese sollen steuerlich genauso behandelt
werden wie jeder Arbeitnehmer. Wir wollen dadurch erreichen, dass die Chancen, Eigenkapital für das Unternehmen anzusammeln, durch die entsprechende steuerliche Behandlung von Unternehmensgewinnen erleichtert
wird, solange diese Gewinne nicht ausgeschüttet werden.
Vorhin habe ich die nach wie vor zu geringe Eigenkapitalausstattung beklagt. Hier bietet die Unternehmensteuerreform die Chance, dass dieses Defizit gerade in
Bezug auf die bisherigen Personengesellschaften, die
unter Eigenkapitalknappheit leiden, gründlich und in
kürzerer Zeit abgebaut wird.
Wir müssen natürlich erreichen, dass es für Mittelständler, die im starken internationalen Wettbewerb stehen, eine steuerliche Kulisse gibt, die wettbewerbsfähig
ist - wohl wissend, dass Steuern nicht der einzige Gesichtspunkt sind, unter dem internationaler Wettbewerb
stattfindet. Dazu gehören natürlich auch die Infrastruktur
und die Ausbildung der Mitarbeiter. Wir müssen deswegen nicht die niedrigsten Steuersätze erreichen. Mit unseren Steuersätzen müssen wir aber im Mittelfeld liegen,
sodass es für die Unternehmen lohnend ist, in Deutschland ihren Standort zu halten oder sogar noch neue
Standorte aufzubauen. Das ist das Ziel der Unternehmensteuerreform.
Es handelt sich um eine hoch komplizierte Materie.
Deswegen brauchen wir ein paar Monate Zeit. Diese
Zeit überbrücken wir - kreativ wie wir nun einmal sind ({5})
mit dem Angebot an die Unternehmen, insbesondere an
die mittelständischen Unternehmen, Investitionen in diesem und im nächsten Jahr vorzuziehen, indem wir die
Abschreibungsbedingungen deutlich verbessern. Wir
machen ein Angebot für den Binnenmarkt, indem wir
die energetische Gebäudesanierung fördern. Wir entbürokratisieren den Verwaltungsaufwand gerade für kleinere Unternehmen, indem wir die Kriterien für die
Buchführungspflichten herabsetzen.
Außerdem werden wir die Grenzen für die Istbesteuerung bei der Umsatzsteuervorauszahlung heraufsetzen,
die gerade für kleine Unternehmen immer den Charakter
eines kostenlosen Darlehens an den Fiskus hat. Ich
kenne viele Unternehmen, die zwischendurch Darlehen
bedienen mussten, um ihre Umsatzsteuervorauszahlung
leisten zu können. Das kann im Falle von kleinen Unternehmen kein hinnehmbarer Zustand sein. Wir senken die
Grenze deutlich. Dies ist eine Sofortmaßnahme, die
schnell wirkt und gut für die Stimmung ist.
Wir müssen eine optimistische Stimmung verbreiten
und die Botschaft aussenden, dass sich zumindest der
größte Teil des Bundestages überzeugend um den Mittelstand kümmert. Dann fassen die Unternehmen auch Vertrauen, nehmen Geld in die Hand, machen sich Gedanken über nächste Schritte und entwickeln die
Gesellschaft und die Wirtschaft nach vorne.
Vielen Dank.
Reinhard Schultz ({6})
({7})
Zu einer Kurzintervention erhält das Wort der Kollege
Westerwelle.
Herr Kollege Schultz, ich möchte zunächst einmal
ausdrücklich feststellen, dass Sie in weiten Teilen - das
betrifft insbesondere das, was Sie zur Bankenpolitik und
zu der Frage gesagt haben, ob Unternehmen überhaupt
noch in der Lage sind, für ihre Unternehmensstrategien
entsprechendes Risikokapital zu bekommen - unsere
Zustimmung haben.
({0})
Erst während Sie, Herr Kollege Schultz, gesprochen
haben, hat der erste Bundesminister dieser Regierung
- es war um 12.29 Uhr - den Weg in den Deutschen
Bundestag gefunden. Es war der erste Bundesminister
während der gesamten Debatte. Ich halte es für eine
Missachtung des Deutschen Bundestages, dass ein Bundesminister meint, bis 12.30 Uhr fernbleiben zu können.
Keiner der Minister ist hier gewesen.
({1})
Ich möchte für die Opposition ausdrücklich sagen
- das betrifft auch künftige Fragen -: Frau Bundeskanzlerin, als Sie selbst vor wenigen Monaten noch in der
Opposition gewesen sind, hätten Sie es sich nicht bieten
lassen, dass kein Bundesminister an einer solchen Debatte teilnimmt. So viel Respekt, wie Sie damals für die
Opposition verlangt haben, erwarten auch wir heute für
die Opposition.
({2})
An dieser Stelle muss klar gesagt werden: Kein Bundesminister nimmt an einer solchen Debatte teil. Es handelt sich um eine Kernzeitdebatte. Wir alle haben andere
Aufgaben zu erfüllen; wir alle haben viel zu tun. Wenn
einzelne Abgeordnete und Minister sich entschuldigen,
ist das selbstverständlich in Ordnung. Aber dass kein
Bundesminister teilnimmt, wollen wir in keiner Weise
durchgehen lassen. Das kann auch nicht im Sinne der
Parlamentarier der Regierungsparteien sein.
({3})
Zur Erwiderung Kollegin Krogmann.
Sehr geehrter Kollege Westerwelle, die Regierung
war während der gesamten Debatte durch den zuständigen Parlamentarischen Staatssekretär vertreten, der den
gesamten Geschäftsbereich Mittelstand im Bundeswirtschaftsministerium vertritt. Die Bundesregierung war
außerdem während der gesamten Debatte durch die zuständige Staatsministerin im Bundeskanzleramt vertreten.
({0})
Die Bundesregierung war zudem durchgängig von
Staatssekretären aus acht Ressorts vertreten.
Wir freuen uns umso mehr, dass im letzten Drittel der
Debatte
({1})
auch der Bundesarbeitsminister anwesend war und jetzt
die Bundeskanzlerin da ist. Sie sollten zur Kenntnis nehmen, dass die Präsenz der Bundesregierung während der
Debatte sehr gut war.
({2})
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, ich
glaube, dass man über alle spontane Aufregung hinaus
gemeinsam festhalten darf, dass wir uns bei den damaligen Vereinbarungen über die Gestaltung der Kernzeit
wechselseitig besondere Präsenzerwartungen auferlegt
haben.
({0})
Das muss dann auch von allen Seiten mit gleicher Ernsthaftigkeit betrieben werden.
Nun erteile ich als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt das Wort dem Kollegen Andreas
Lämmel für die CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordneten! Schade, dass die Debatte, die kurz
vor ihrem Abschluss stand, ein solches Ende gefunden
hat! Herr Westerwelle, ich kann Ihre Argumente durchaus nachvollziehen. Aber vielleicht wollten Sie mit Ihrer
Wortmeldung nur darüber hinwegtäuschen, dass Ihr Antrag, den wir heute debattieren mussten, doch nicht so
gut gewesen ist.
({0})
Meine Damen und Herren, die Debatte hat klar gezeigt: Die CDU und die CSU sind die Parteien der sozialen Marktwirtschaft. Die soziale Marktwirtschaft ist
ohne einen starken, innovativen und wirtschaftlich gesunden Mittelstand überhaupt nicht denkbar. Unser Engagement für den Mittelstand in den letzten Jahren war
keine allgemeine politische Phrase. Wir mussten heute
feststellen, dass in diesem Saal nur Freunde des Mittelstandes sitzen. Nur frage ich mich, warum in den letzten
Jahren so wenig dafür getan wurde, dass der deutsche
Mittelstand vorankommt.
Kleine und mittlere Unternehmen in Deutschland beschäftigen durchschnittlich 70 Prozent der Beschäftigten. Wenn Sie in Richtung Ostdeutschland schauen, dann
stellen Sie fest, dass dort im Mittelstand sogar über
90 Prozent der Beschäftigten tätig sind. Deswegen ist
der Mittelstand das Rückgrat der deutschen Wirtschaft.
Herr Kollege Lämmel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Wend?
Ja, bitte.
Herr Kollege Lämmel, Sie meinten feststellen zu
müssen, dass in den letzten Jahren nichts für den Mittelstand getan worden sei. Darf ich Sie dann fragen, wie Sie
sich erklären, dass sich die Gewinne der Unternehmen in
den Jahren 2000 bis 2004 von 133 Milliarden Euro auf
156 Milliarden Euro erhöht haben und die Zahl der Existenzgründungen in diesem Zeitraum von 3,91 Millionen
auf 4,23 Millionen gestiegen ist? Können Sie mir erklären, wie Sie die Behauptung aufrechterhalten wollen,
dass für den Mittelstand nichts getan worden sei?
({0})
Wir wollen ja eigentlich nach vorn schauen und nicht
zurück. Die Antwort wäre aber: Das kann man damit erklären, dass die Unternehmer eben findig sind. Trotz der
schlechten Politik haben sie dieses gute Ergebnis erzielt.
({0})
Von daher kann man der Unternehmerschaft in Deutschland nur hohe Kompetenz zuschreiben.
Ich möchte auf zwei Aspekte des Antrags der Koalitionsfraktionen eingehen und mich dabei erstens auf das
Thema Forschung und Technologie beziehen, das bisher nur am Rande eine Rolle gespielt hat. Wenn man
sich die Investitionsquote in Deutschland anschaut, dann
erkennt man, dass im Jahre 2004 die Nettoanlageinvestitionen den niedrigsten Stand seit 1970 erreicht haben. Es
gibt einen Zusammenhang zwischen einer teilweise festzustellenden Investitionsschwäche des deutschen Mittelstands und der Innovationsquote. Das Anliegen der
Koalition - das ist aus dem Koalitionsvertrag, dem Jahreswirtschaftsbericht und dem vorliegenden Antrag der
Koalitionsfraktionen zu ersehen - ist es, den Mittelstand
von den zusätzlichen Mitteln für die Forschung überproportional profitieren zu lassen. Es ist ein wichtiger Aspekt in diesem Paket, neben steuerlichen Fragen und den
Fragen des Bürokratieabbaus: Es soll gerade die Innovationskraft der Wirtschaft gestärkt werden.
Lassen Sie mich zweitens den Blick nach Ostdeutschland werfen. Letzte Woche flatterte uns eine interessante Untersuchung der Sparkassen-Finanzgruppe
unter dem Titel „Diagnose Mittelstand 2006“ auf den
Tisch. Dort wurden fast 200 000 Bilanzen kleiner und
mittlerer deutscher Unternehmen ausgewertet. Es lässt
sich sehr wohl feststellen: In Ostdeutschland ist mehr
Licht als Schatten. Wenn wir über die Wirtschaft in Ostdeutschland sprechen, dann müssen wir uns immer vor
Augen halten, dass das älteste Unternehmen in Ostdeutschland gerade einmal 16 Jahre alt ist. Es ist eigentlich ein Teenager.
({1})
- Es konnten erst 1990 Unternehmen gegründet werden,
Frau Kollegin.
({2})
Demgegenüber sind Unternehmen in den alten Bundesländern teilweise 50 oder 60 Jahre alt; sie sind also
gut situiert. Ich will damit nur sagen, dass man sich,
wenn man die Wirtschaft Ostdeutschlands betrachtet,
immer wieder vor Augen halten muss, dass es sich dabei
um eine junge Wirtschaft handelt und dass die Kapitalausstattung der ostdeutschen Wirtschaft erst 73 Prozent
des Kapitalstocks der Unternehmen in Westdeutschland
erreicht hat. Die mit den bisher eingesetzten Instrumenten wie Wirtschaftsförderung, Technologieförderung
und anderen in Gang gesetzte Entwicklung zeigt, dass
das Wort von den „blühenden Landschaften“ eben doch
nicht verkehrt war.
Im überregionalen Vergleich wird deutlich, dass die
F-und-E-Potenziale in Ostdeutschland zu sehr im öffentlichen Sektor konzentriert sind und dass die private
Wirtschaft über zu geringe eigene Entwicklungskapazitäten verfügt. Hier muss man ansetzen. Das Programm
„Inno-Watt“ der letzten Regierung hat hervorragend gewirkt;
({3})
Frau Wicklein hat ja schon darauf hingewiesen. Wenn
mit dem Einsatz geringer Fördermittel der Umsatz und
der Export erhöht werden können und die Beschäftigung
steigt, dann sind wir auf dem richtigen Weg. Mit dem
Antrag der Koalitionsfraktionen gehen wir genau diesen
Weg weiter.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Herr Kollege Lämmel, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer
ersten Rede hier im Deutschen Bundestag und wünsche
Ihnen alles Gute für die weitere Arbeit.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf der
Drucksache 16/562 zur Federführung an den Ausschuss
für Wirtschaft und Technologie und zur Mitberatung an
den Ausschuss für Arbeit und Soziales vorgeschlagen.
Präsident Dr. Norbert Lammert
Die Vorlagen auf den Drucksachen 16/382, 16/557 und
16/548 sollen an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse überwiesen werden. Die Fraktion der Grünen hat darum gebeten, dass ihr Antrag auf der Drucksache 16/548 wie auch die anderen zwei Anträge an den
Haushaltsausschuss überwiesen werden. Ich vermute,
darüber wird es Einvernehmen geben. Darf ich das förmlich feststellen? - Das ist offenkundig der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen nun zu den Tagesordnungspunkten 5 a
bis 5 c, Wahlen zu Gremien. Ich weise darauf hin, dass
wir diese Wahlen mittels Handzeichen durchführen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 a auf:
Beirat für Fragen des Zugangs zur Eisenbahninfrastruktur ({1})
- Drucksache 16/538 Dazu liegen Wahlvorschläge aller Fraktionen auf der
Drucksache 16/538 vor. Wer stimmt für diese Wahlvorschläge? - Wer stimmt dagegen? - Möchte sich jemand
der Stimme enthalten? - Damit sind die Wahlvorschläge
einstimmig angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 b auf:
Beirat bei der Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen
- Drucksache 16/539 Hierzu liegen Wahlvorschläge der Fraktionen der
CDU/CSU und Die Linke auf Drucksache 16/539 vor.
Wer stimmt für diese Wahlvorschläge? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Auch diese Wahlvorschläge
sind einstimmig angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 c auf:
Kuratorium der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“
- Drucksache 16/540 Hierzu gibt es Wahlvorschläge der Fraktionen der
SPD und Die Linke auf Drucksache 16/540. Wer stimmt
für diese Wahlvorschläge? - Stimmt jemand dagegen? Möchte sich jemand der Stimme enthalten? - Die Wahlvorschläge sind einstimmig angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 20 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Jürgen Gehb, Dr. Günter Krings, Günter
Baumann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Joachim Stünker, Dr. Peter Danckert, Klaus Uwe
Benneter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Speicherung mit Augenmaß - Effektive Strafverfolgung und Grundrechtswahrung
- Drucksache 16/545 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({2})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf
der Drucksache 16/545 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 21 a und 21 b auf.
Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen,
zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 21 a:
- Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Protokoll vom
22. Oktober 1996 zum Übereinkommen
Nr. 147 der Internationalen Arbeitsorganisation über Mindestnormen auf Handelsschiffen
- Drucksache 16/151 - Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Übereinkommen
Nr. 180 der Internationalen Arbeitsorganisation vom 22. Oktober 1996 über die Arbeitszeit der Seeleute und die Besatzungsstärke der
Schiffe
- Drucksache 16/152 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses
für Arbeit und Soziales ({3})
- Drucksache 16/475 Berichterstattung:
Abgeordneter Wolfgang Grotthaus
Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf der
Drucksache 16/475, den Gesetzentwurf auf Drucksache
16/151 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Damit
ist der Gesetzentwurf einstimmig angenommen. - Ich
weiß gar nicht, ob das der erste in dieser Legislaturperiode ist, und dann ist er gleich einstimmig angenommen.
Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt
unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf
der Drucksache 16/475, den Gesetzentwurf auf Drucksache 16/152 ebenfalls anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dieser Empfehlung folgen wollen, sich zu
erheben. - Möchte jemand dagegen stimmen? - Möchte
sich jemand der Stimme enthalten? - Das ist nicht der
Fall. Auch dieser Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Präsident Dr. Norbert Lammert
Tagesordnungspunkt 21 b:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Ausnahme von dem Verbot der Zugehörigkeit
zu einem Aufsichtsrat für Mitglieder der Bundesregierung
- Drucksache 16/524 Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Auch dies ist offenkundig mit
breitem Einvernehmen und einstimmig angenommen.
Wir kommen nun zum Zusatztagesordnungspunkt 4:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der LINKEN
Haltung der Bundesregierung zu den sozialen
Auswirkungen der Erhöhung des gesetzlichen
Renteneintrittsalters
Bevor ich als erstem Redner dem Kollegen Oskar
Lafontaine das Wort erteile, möchte ich noch einen technischen Hinweis geben. Aus - man könnte es fast so
nennen - der Frühzeit des deutschen Parlamentarismus
stammt die bis heute tradierte Gewohnheit, Aktuelle
Stunden vom Thema her mit dem Ansinnen zu begründen, dass die Haltung der Bundesregierung zu diesem
oder jenem Thema erläutert werden müsse. Nach der inzwischen längst geltenden Geschäftsordnung lassen sich
solche Themen auch ohne ausdrückliches Erbitten der
Haltung der Bundesregierung selbstverständlich zum
Gegenstand einer Aktuellen Stunde machen.
({4})
- Aber letzte denkbare Zweifel, Frau Kollegin
Enkelmann, sind mit dieser Mitteilung nun ein für allemal ausgeräumt, was uns demnächst noch schlanker formulierte Themen der Aktuellen Stunden in Aussicht
stellt.
Nun hat der Kollege Oskar Lafontaine das Wort.
({5})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Bundesregierung hat beschlossen, das Renteneintrittsalter anzuheben. Viele Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer stellen sich die Frage, welches Ansinnen
die Bundesrepublik damit verfolgt und ob die Bundesregierung noch weiß, was in Wirklichkeit im Land passiert.
({0})
Während die Bundesregierung beschließt, das Renteneintrittsalter anzuheben, werden immer mehr ältere
Arbeitnehmer arbeitslos und finden keine neue Beschäftigung. Daraus schließen sie logischerweise, dass dies
kein Beschluss ist, das Renteneintrittsalter anzuheben,
sondern lediglich ein Beschluss ist, die Renten zu kürzen.
({1})
Dieser steht im Gegensatz zu all dem, was die großen
Koalitionäre den Wählerinnen und Wählern im Wahlkampf versprochen haben. Es ist eine schlimme Entwicklung, dass nach den Wahlen immer wieder völlig
andere Entscheidungen getroffen werden als die, die vor
den Wahlen angekündigt worden sind.
({2})
Sie setzen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
mit dieser Entscheidung einer doppelten Angst aus. Zunächst einmal sind sie mit der Tatsache konfrontiert,
dass sie, wenn sie arbeitslos werden, nur noch zwölf Monate lang Arbeitslosengeld bekommen und dann auf
Hartz IV zurückfallen. Diese unglaubliche Enteignung
der Arbeitnehmerschaft, insbesondere der älteren Arbeitnehmerschaft, ist bis zum heutigen Tage nicht zurückgenommen. Abgesehen davon, dass Arbeitnehmer,
wenn sie älter geworden sind, keinen Arbeitsplatz mehr
bekommen, konfrontieren Sie sie jetzt auch noch mit der
Tatsache, dass sie aber gleichzeitig qua Gesetz länger arbeiten sollen, was kräftige Abschläge bei den Renten zur
Folge hat. Diese Entwicklung haben wir uns nicht so
vorgestellt, Ihre Wählerinnen und Wähler auch nicht.
({3})
Hier offenbart sich ein fundamental anderes Verständnis von Freiheit im Vergleich zu dem, was die Bundeskanzlerin in ihrer ersten Regierungserklärung vorgetragen hat. Sie wandelte das Wort Willy Brandts „Lasst uns
mehr Demokratie wagen“ in „Lasst uns mehr Freiheit
wagen“ um. Aber Freiheit von Kündigungsschutz, Freiheit von Tarifverträgen, Freiheit von sozialer Sicherheit - das ist nicht die Freiheit, die wir wollen. Wir wollen eine Freiheit von Existenzangst und sozialer Not.
({4})
Willy Brandts Verständnis von Demokratie verband sich
nicht mit dem erstgenannten Freiheitsbegriff, sondern
mit einem Freiheitsbegriff, der besagt, dass die Menschen von sozialer Not und von Existenzangst befreit
werden sollen. Denn nur dann können sie frei sein und
ihr Leben selbst gestalten.
({5})
Die Entscheidung, das Renteneintrittsalter zu erhöhen, ist auch deshalb falsch, weil Sie von Voraussetzungen ausgehen, die nicht haltbar sind. Über die Entwicklung der Rente entscheidet nicht die Zahl der Kinder und
der Älteren, auch wenn das pausenlos immer wieder verkündet wird.
({6})
Über die Entwicklung der Rente entscheidet in erster Linie die Produktivität einer Volkswirtschaft.
({7})
Ihre ganze Entscheidung ist dadurch gekennzeichnet,
dass Sie dieser Schlüsselgröße nicht den Stellenwert beimessen, der ihr zukommen sollte.
Ich erläutere das am Beispiel der Landwirtschaft. Früher, vor 100 Jahren, hat der Landwirt sich selbst ernähren können. Es mussten alle mitarbeiten: die Älteren, so
lange sie konnten, und die Kinder. 50 Jahre später stieg
die Produktivität so stark an, dass die Älteren den Lebensabend genießen und die Kinder zu Schule gehen
konnten. Heute kann ein Landwirt Hunderte andere
Menschen ernähren.
In dieser Zeit kommen Sie mit einem schwarz-roten
Schal und sagen: Du musst wieder länger arbeiten, wir
sind nicht mehr wettbewerbsfähig und deine Rente ist
nicht mehr gesichert. - Das ist ein fundamentales Missverständnis von Produktivitätsentwicklung und Reichtumsverteilung in unserer Volkswirtschaft.
({8})
Dieses fundamentale Missverständnis haben Sie auch
auf die Entwicklung der Löhne übertragen, die in
Deutschland so katastrophal wie in keinem anderen Industriestaat verlaufen ist. Man kann es nicht oft genug
sagen: Während die Reallöhne in mit Deutschland konkurrierenden Staaten in den letzten zehn Jahren um
20 Prozent, teilweise sogar um 25 Prozent, gestiegen
sind, ist bei uns seit über zehn Jahren aufgrund einer völlig verfehlten Politik eine Stagnation der Reallöhne zu
verzeichnen. Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
könnten viel freier über die Rentenentwicklung diskutieren, wenn sich die Einkommen auch bei uns so wie in
den anderen Industriestaaten entwickelt hätten. Das ist
der zweite Fehler, den Sie gemacht haben.
({9})
Der dritte Fehler betrifft die Entwicklung der Arbeitszeit. Auch darüber entscheidet die Produktivität einer
Volkswirtschaft. Ich muss Ihnen schon sagen: Wer auf
einen Anstieg der Produktivität mit einer Verlängerung
der Wochen- und Lebensarbeitszeit antwortet, ist
schlicht schwachsinnig.
({10})
Ich muss dieses Wort in aller Klarheit gebrauchen. Denn
die Beschäftigten im öffentlichen Dienst in den Ländern
haben Recht, wenn sie sagen, dass die Forderung nach
einer Verlängerung der Arbeitszeit nicht nachzuvollziehen ist. In unserem Land suchen 5 Millionen Menschen
Arbeit. Aber die einzige Antwort, die Sie geben, ist, dass
diejenigen, die einen Arbeitsplatz haben - zum Beispiel
im öffentlichen Dienst, der bekanntlich in gewaltiger internationaler Konkurrenz steht -, länger arbeiten müssen,
({11})
weil sonst unsere internationale Wettbewerbsfähigkeit
dahin ist. Das kann so nicht weitergehen; denn so ruiniert und zerstört man das Vertrauen des Volkes in die
staatlichen Systeme und Organe.
({12})
Mit Ihrer Sozialgesetzgebung haben Sie den entscheidenden Faktor unserer sozialen Sicherungssysteme beschädigt: die Zahl der Beitragszahler. Wer durch die eigene Gesetzgebung dazu beiträgt, dass immer mehr
Minijobs und Ich-AGs entstehen, der reduziert die Zahl
der Beitragszahler und ruiniert dadurch letztendlich unsere sozialen Sicherungssysteme. Es ist an der Zeit, dass
Sie diese verhängnisvolle Arbeitsmarktpolitik aufgeben.
({13})
Meine Schlussbemerkung: Es gibt ein Konzept, das
für die Weiterentwicklung unserer sozialen Sicherungssysteme richtungweisend ist: die Bürgerversicherung
bzw. Volksversicherung. Die Grundlage dieses Konzepts
ist, dass in einer Gesellschaft, in der die Arbeitseinkommen eine immer geringere Bedeutung und die Vermögens- und Unternehmenseinkommen eine immer größere
Bedeutung haben, alle Einkommensarten zur Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme herangezogen werden, sodass sich der gut verdienende Teil unseres Volkes
nicht aus der Solidarität verabschieden kann.
({14})
Herr Kollege Lafontaine, Sie müssen nun tatsächlich
zum Schluss kommen.
Ja. - Man kann zwar versuchen, auf Dauer gegen die
Mehrheit des Volkes anzuregieren. Aber irgendwann
merkt die Mehrheit das und dann wird sie entsprechend
reagieren. Das Volk kann sich gegen diese Enteignung
nur dadurch wehren, dass es Ihnen das Vertrauen entzieht.
({0})
Aus gegebenem Anlass weise ich darauf hin, dass der
Großzügigkeit des amtierenden Präsidenten hinsichtlich
der Bewirtschaftung der Redezeit in Aktuellen Stunden
engere Grenzen gesetzt sind als bei vereinbarten Debatten, weil in der von Ihnen allen gemeinsam beschlossenen Geschäftsordnung festgelegt ist, dass die Beiträge in
einer Aktuellen Stunde nicht länger als fünf Minuten
sein dürfen.
Nun hat die Kollegin Ilse Falk das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
verstehe die Aufgeregtheit aufseiten der Antragsteller
nicht. Statt die Sorgen und Ängste der Menschen in unserem Land wirklich ernst zu nehmen, führen sie eine
virtuelle Debatte, die an der Lebenswirklichkeit vorbeigeht.
({0})
Mir ist klar, dass auch außerhalb des Parlaments einige
dieser Versuchung nicht widerstehen können und dieses
Thema emotionalisieren und Ängste schüren. Das macht
die Sache aber nicht besser, sondern schlimmer.
({1})
An dieser Stelle ist es hilfreich und erforderlich, die
Sorgen der Bürger ernst zu nehmen und ihnen Lösungen
anzubieten. Genau das hat die Koalition mit ihrem Vorstoß getan. Nun weiß der Bürger frühzeitig, was die Regierung vorhat, und kann sich daran orientieren. Deswegen bin ich Ihnen, Herr Minister Müntefering, dankbar,
dass Sie dieses Thema beherzt angegangen sind und an
dieser Stelle für Klarheit gesorgt haben.
({2})
Ich gebe zu: Der eingeschlagene Lösungsweg ist mit
Belastungen verbunden. Gleichwohl ist er notwendig,
und zwar aus den allseits bekannten Gründen der demografischen und gesellschaftlichen Entwicklung.
Die Klaviatur unserer Möglichkeiten ist aber nun einmal nicht so groß, dass wir jedem seine Lieblingsmelodie spielen können. Angesichts der extrem schwierigen
finanziellen Lage, in der sich die Rentenkasse befindet,
halte ich die Form für unverantwortlich, in der die Diskussion geführt wird. Diese extrem schwierige Lage
liegt an der demografischen Entwicklung und wird in absehbarer Zeit nicht einfacher werden.
({3})
Dass Sie jetzt hier mit einem Kuschelsozialismus kommen und meinen, man könnte es allen recht machen,
ohne jemandem etwas zuzumuten, kann man wirklich
nur verurteilen!
({4})
Wir haben nur wenige Stellschrauben. Zu diesen wenigen Stellschrauben gehört: Wollen wir höhere Beiträge? Dann haben wir zwar höhere Einnahmen in der
Rentenkasse, aber auch hohe Lohnzusatzkosten, die den
Arbeitsmarkt belasten. Genau das können wir nicht gebrauchen. Wollen wir niedrigere Renten? Dann hätten
wir weniger Ausgaben. Aber das wollen Sie so mit Sicherheit ebenfalls nicht. Oder wollen wir noch mehr
Staat, wollen wir den Bundeszuschuss immer weiter anheben und die Belastung für die zukünftigen Generationen immer weiter steigern? Ich denke, da haben wir einen Feldversuch hinter uns; denn irgendwie hat das
sozialistische Modell ja nicht so ganz geklappt. Dafür
zahlen wir noch heute, das belastet unsere Kassen noch
heute.
({5})
Wir müssen auch darüber diskutieren, inwiefern die
längere Lebensarbeitszeit zumutbar ist. Wir erleben
- und das ist schön -, dass die Menschen immer älter
werden, und sie werden immer älter bei guter Gesundheit. Viele - auch das sollte man hier vielleicht einmal
betonen - arbeiten sogar gerne und es fällt ihnen schwer,
mit 65 in den Ruhestand zu gehen; auch das sollte man
nicht vergessen. Dass man dabei diejenigen im Auge behält, die körperlich stark belastet sind und sich in einer
außergewöhnlichen persönlichen Situation befinden,
halte ich für selbstverständlich; ich glaube, dafür ist unser soziales System sehr gut gerüstet.
Außerdem - auch das ist nicht zu vergessen - wird
das, worüber wir jetzt diskutieren, 2012 gerade einmal
eingeleitet und die Umsetzung dauert bis 2029. Sie sollten nicht bei den rentennahen Jahrgängen Ängste schüren und ihnen das Gefühl geben, sie wären unmittelbar
betroffen! Bis zur vollständigen Umsetzung werden sich
die Berufsbilder, wie es schon in der Vergangenheit war,
ändern: Körperliche Arbeit wird weiter zurückgedrängt
werden. Auch an dieser Stelle ist die Zumutbarkeit also
durchaus gegeben. Außerdem ist zu unserer Zufriedenheit ins Auge gefasst, dass man - er oder sie - nach
45 Beitragsjahren auch mit 65 in Rente gehen kann.
({6})
In Wirklichkeit müssen wir die Diskussion darüber
führen, wie die Rahmenbedingungen aussehen müssen,
damit die Wirtschaft sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze schafft; das ist der Dreh- und Angelpunkt.
Dabei wird der Staat helfen müssen: mit Maßnahmen zur
Eingliederung in den Arbeitsmarkt, um die Menschen
aus der Arbeitslosigkeit zu holen. Wir müssen die älteren
Arbeitnehmer im Blick haben und sollten ihnen Angebote machen, dass sie tatsächlich bis 67 arbeiten können
und nicht vorher arbeitslos werden und unzumutbare
Härten erfahren müssen.
({7})
Daneben dürfen wir nicht vergessen, die ergänzenden
Säulen, die neben der gesetzlichen Rentenversicherung
nötig sind, zu stärken: betriebliche Alterssicherung - nur
als Stichwort - und Eigenvorsorge. Wir wollen die Familien fördern, damit sie diese Eigenvorsorge besser
treffen können. Wir suchen nach Lösungen zur besseren
Einbeziehung selbst genutzten Wohneigentums und für
ähnliche Fragen. Wir werden uns die Zeit dafür nehmen,
eine intensive Debatte über dieses Thema zu führen, und
die Fragen, die berechtigterweise gestellt werden, zu klären. Ich fordere alle auf, diese Debatte gut und nicht so
emotional miteinander zu führen.
Danke schön.
({8})
Ich erteile das Wort Kollegen Heinrich Kolb, FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn ich mir die Diskussion ansehe, die in den letzten
Tagen in und zwischen den Koalitionsparteien, vor allen
Dingen aber in der SPD über das Thema Rente mit 67
geführt worden ist, bekomme ich den Eindruck, dass
eine neue Variante der Echternacher Springprozession
zur Vorführung gebracht werden soll. Nur ging es in
Echternach damals nach dem Muster „Zwei Schritte vor,
einer zurück“. Bei Ihrer Variante folgen auf zwei
Schritte in die eine Richtung gleich zwei in die Gegenrichtung. Auch das ist vielleicht eine Form von Bewegung. Aber richtig von der Stelle kommt man damit
nicht.
({0})
Genauso ohne Konzept und ohne Ziel ist die Rentenpolitik dieser Bundesregierung. Wenn Sie, Herr
Müntefering, ehrlich sind, müssen Sie zugeben, dass es
nicht die Einsicht ist, die Sie und die Koalition beim
Thema Rente mit 67 jetzt zum Handeln treibt, sondern
die blanke Not. Bei der Aufstellung des seit Monaten
überfälligen Rentenversicherungsberichts haben Sie
festgestellt, dass alles nicht mehr zusammenpasst, dass
offensichtlich eine große Lücke zwischen den im Rentenversicherungs-Nachhaltigkeitsgesetz vorgesehenen
Beitragsniveauzielen und der rentenpolitischen Realität
klafft.
Die rentenpolitische Realität sieht so aus, dass zu Beginn des nächsten Jahres bereits eine Anhebung der Beiträge auf 19,9 Prozent eintritt, obwohl nach der Planung
bei der Verabschiedung des Rentenversicherungs-Nachhaltigkeitsgesetzes eigentlich bis 2010 die Beiträge auf
18,5 Prozent hätten sinken sollen. Herr Müntefering, damit ist bereits zu Beginn des nächsten Jahres der Zielwert von 20 Prozent erreicht, der eigentlich erst 2020
hätte eintreten sollen. Das lässt bei Ihnen die Alarmglocken klingen.
({1})
Diese Entwicklung ist am kurzen Ende durch die
rückläufige Zahl von sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, also Beitragszahlern, geprägt. Aber die demografische Herausforderung, die ab 2010 beitragstreibend wirkt, kommt noch unausweichlich auf uns zu.
Deswegen dieser Aktionismus in der Bundesregierung,
der dazu geführt hat, dass unter TOP „Verschiedenes“
der Kabinettssitzung den Jahrgängen ab 1964 mal eben
mitgeteilt wird, dass sie sich auf eine Rente mit 67 einzustellen haben.
In diesem Zusammenhang kritisiere ich an der Politik
der großen Koalition, dass - das haben wir auch bei RotGrün oft genug erlebt - die langfristigen Ziele zwar hoch
gesteckt sind - die Beitragszahler sollen um bis zu
0,5 Beitragssatzpunkte entlastet werden, je nachdem,
wie viele Ausnahmen man durch Berufslisten im Sinne
von Herrn Beck zulässt -, aber kurzfristig genau entgegengesetzt gehandelt wird. Herr Müntefering, Ihre Reformen wirken sich ganz unmittelbar belastend aus: Die
Verlängerung der teuren Frühverrentung, die Absenkung
der Beitragszahlungen für die Empfänger von Arbeitslosengeld II um rund 2 Milliarden Euro, der Ausschluss
von Rentenkürzungen selbst bei negativer Entwicklung
der Einkommen von Erwerbstätigen, das Einfrieren des
Bundeszuschusses zur Rentenversicherung, also seine
Entdynamisierung, das alles sind Maßnahmen, die die
ohnehin strapazierte Rentenkasse - ihr haben Ende letzten Jahres schon 1,2 Milliarden Euro gefehlt, um die
Nachhaltigkeitsrücklage aufzubauen - zusätzlich belasten.
({2})
Das kann man, wie Sie es getan haben, für ein Jahr
kaschieren, indem man 13 anstelle von zwölf Monatsbeiträgen zur Sozialversicherung von den Unternehmen
fordert. Eine zielführende Politik ist das allerdings nicht.
Ich wundere mich zumindest, dass die Kollegen von
CDU und CSU nicht erkennen wollen, dass all dies nicht
zusammenpasst.
Wer A sagt, muss auch B sagen. Wenn ältere Arbeitnehmer länger arbeiten sollen, müssen sie auch länger
arbeiten können; ansonsten reden wir hier über Rentenkürzung.
({3})
Wo sind aber die notwendigen begleitenden Arbeitsmarktreformen, mit denen überhaupt erst die Voraussetzungen für die längere Beschäftigung älterer Arbeitnehmer geschaffen werden müssten? Warum trauen Sie sich
mit Ihrer breiten Mehrheit nicht, entsprechende Strukturveränderungen vorzunehmen?
({4})
Warum kommen Sie - um das Reizthema zu nennen beim Kündigungsschutz über eine Placeboreform nicht
hinaus? Es ist doch anscheinend nur Herr Pofalla, der
glaubt, dass man mit einer vertraglichen Verlängerung
der Probezeit bei gleichzeitiger Einschränkung der Befristungsmöglichkeiten Unternehmen dazu bewegen
könnte, zusätzliche Arbeitsplätze zu schaffen.
({5})
Das alles trauen Sie sich nicht. Solange das so ist, ist
die Erhöhung des gesetzlichen Renteneintrittsalters
nichts anderes als eine verdeckte Rentenkürzung. Das ist
die Wahrheit.
({6})
Wenn gerade einmal 39 Prozent der über 55-Jährigen
noch in einem Unternehmen beschäftigt sind, dann läuft
die längere Lebensarbeitszeit für die allermeisten auf
Zwangsruhestand mit hohen Rentenabschlägen hinaus.
({7})
Dann droht verbreitet Altersarmut in unserem Land,
wenn nicht jetzt, wie die FDP im Übrigen fordert, unverzüglich damit begonnen wird, die private und die betriebliche Säule der Altersversorgung verstärkt auszubauen.
Isolierte Reformansätze und großkoalitionäre Flickschusterei bringen uns nicht voran. Wir brauchen ein GeDr. Heinrich L. Kolb
samtkonzept zur Lösung der Probleme. Dies vorzulegen
fordere ich Sie hiermit nachdrücklich auf.
Vielen Dank.
({8})
Ich erteile das Wort Bundesminister Franz
Müntefering.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wenn sich Oskar Lafontaine, eine der größten
Ich-AGs, die ich in meinem Leben je kennen gelernt
habe,
({0})
hier über Ich-AGs mokiert, dann bekomme ich eigentlich Lust, über etwas ganz anderes zu reden. Ich konzentriere mich aber mal auf das Thema, das hier aufgerufen
wurde.
Die Bundesregierung und die Koalition haben sich
vorgenommen, große Aufgaben anzupacken. Zu den
großen Aufgaben gehört: Arbeit und Alterssicherung für
eine älter werdende Gesellschaft. Das ist ein ganz zentraler Punkt. Dazu gehören die beiden Kapitel Arbeit für
50 plus und Stabilität der sozialen Sicherungssysteme, in
diesem Fall der Rentenversicherung.
({1})
Diese beiden großen Dinge stehen in unserem Koalitionsvertrag. Beide werden in diesem Jahr mit allem
Nachdruck vorangetrieben werden. Wir wollen mehr Arbeit für diejenigen, die 50, 55 und älter sind, wir wollen
dafür sorgen, dass sie nicht so früh herausgeschoben
werden, wie das derzeit geschieht, und wir wollen, dass
sie wieder hinein können, wenn sie draußen sind.
({2})
- Ihre Frage „Wie denn?“ zeigt Ihr Resignieren. Sie von
der PDS und Co. können nichts anderes, als sich darüber
zu mokieren, dass wir eine schwere Situation haben. Das
wissen wir auch. Wir bereiten uns darauf vor, dafür zu
sorgen, dass die 50-, die 55- und die 60-Jährigen in dieser Gesellschaft wieder eine Chance haben. Das, was
sich in dieser Gesellschaft aufgebaut hat, muss ein Ende
haben.
({3})
Wir werden diese Debatte in diesem Jahr 2006 zu führen
und im Verlauf des Jahres Entscheidungen zu treffen haben.
Die Lebenszeit hat sich verändert. Wir leben sechs bis
sieben Jahre länger als die, die 1960 vergleichbar alt waren; aber wir arbeiten im Schnitt nicht sechs oder sieben
Jahre länger, sondern fünf Jahre kürzer. Es ist eine ganz
einfache Rechnung: Das kann nicht aufgehen, wenn man
hier nicht eingreift und das systematisch verändert.
Die Lebensarbeitszeit ist kürzer, als sie je war. Wir
gehen im Schnitt mit 21 Jahren in den Beruf und mit
60 Jahren heraus. Dazwischen liegen 39 Lebensarbeitsjahre. Von den 55-Jährigen und Älteren sind in Deutschland noch 42 Prozent berufstätig. In Skandinavien sind
es 70 Prozent. Ich kann das nicht einer Partei oder
Gruppe zuordnen. Wir alle miteinander haben seit den
80er-Jahren in der Vorstellung gelebt: „Lasst die Alten
früh raus, damit die Jungen rein können. Das ist eine
saubere Lösung“. - Die großen Betriebe haben das nach
folgender Melodie organisiert: kurzer Sozialplan, lange
Zahldauer Arbeitslosengeld, mit Abschlag in die Frühverrentung hinein. So ist das gelaufen. Durch die sozialen Sicherungssysteme wurden die personalpolitischen
Entscheidungen der großen Unternehmen mit organisiert.
({4})
Darüber müssen wir sprechen. Zusammen mit den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und den gutwilligen Betrieben müssen wir eine gemeinsame Linie finden, um dieses unvernünftige Handeln wieder ein Stück
vernünftiger zu machen.
Im letzten Jahr haben wir 30 000 Älteren mit Eingliederungszuschüssen eine Chance gegeben. Das ist eine
Art Kombilohn und eine Sache, die man verbreitern
kann und müsste. Ältere Menschen müssen ja nicht
zwingend auf dem Bau arbeiten, sie können auch eine
altengerechte Arbeit ausüben. Hier wird sich auch etwas
finden lassen. Das muss man nur wollen. 62 der Argen
und der optierenden Gemeinden sind dabei und kümmern sich ganz besonders um die Eingliederung von Älteren. 250 Millionen Euro stehen dafür zur Verfügung.
Das alles werden wir aber noch systematisieren.
Ganz wichtig werden die Entwicklung der Löhne und
die Balance im Finanzierungssystem überhaupt sein.
Was machen wir mit der Riester-Rente? Wie bauen wir
das weiter auf, damit wir den Dreiklang zwischen versichert durch Beiträge, versichert durch die Staatskasse
- aus der Bundeskasse werden in diesem Jahr 78 Milliarden Euro für die Rente gezahlt - und der Frage, was der
Einzelne privat vorsparen kann, vernünftig organisieren?
Einige Aspekte dieses Gesamtpakets sind in diesen
Tagen schon öffentlich geworden. Das war unvermeidlich. Wir haben gestern im Kabinett den Beschluss gefasst, dass die Renten zum 1. Juli dieses Jahres nicht gesenkt werden.
({5})
Das ist eine vernünftige Entscheidung. Diese Koalition
hat entschieden, dass wir bei allen vorhandenen Schwierigkeiten und unter Würdigung dessen, was wir den
Rentnerinnen und Rentnern in den letzten Jahren zugemutet haben, dafür sorgen, dass die Renten in dieser Legislaturperiode nicht sinken. Das werden wir für dieses
Jahr 2006 mit diesem Gesetz festschreiben.
Wir werden die Rentenversicherungsbeiträge von
19,5 Prozent auf 19,9 Prozent erhöhen. Das hat Herr
Kolb richtig gesagt. Er hat aber vergessen, dazuzusagen,
dass wir gleichzeitig die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung von 6,5 auf 4,5 Prozent senken. Das heißt, dass
im Ergebnis im nächsten Jahr die Beiträge zur Sozialversicherung um 1,6 Prozentpunkte sinken: 0,8 Prozentpunkte für die eine und 0,8 Prozentpunkte für die andere
Seite. Das ist die Wahrheit. Das machen wir, weil wir
eine stabile Situation herbeiführen wollen.
({6})
Nun wird in diesen Tagen der Rentenversicherungsbericht mit den anderen Ministerien und den Sozialverbänden, die das alles schon kennen, abgestimmt. Deshalb musste ich mich an dieser Stelle entscheiden und
musste sich das Kabinett entscheiden. Die Frage war:
Schreiben wir in den Rentenversicherungsbericht etwas
hinein, was wir in zwei oder drei Monaten wieder korrigieren müssen, oder schreiben wir das hinein, was in unserem Koalitionsvertrag steht? Gemeint ist, dass wir das
Renteneintrittsalter von 65 auf 67 Jahre erhöhen und
dies über einen längeren Zeitraum, aber bis spätestens
2035 machen.
Wir im Kabinett haben entschieden, dass in den
Jahren 2007 bis einschließlich 2011 nichts passiert. Im
Jahre 2012 beginnt der Anstieg um einen Monat pro
Jahr. Wer dann 65 Jahre alt ist, bekommt seine Rente mit
65 Jahren und einem Monat. Das wird so über 12 Jahre
gehen. Dann ist das erste Jahr aufgearbeitet. Anschließend geht es in einem schnelleren Tempo mit zwei Monaten pro Jahr weiter. Das haben wir vereinbart.
Dabei haben wir deutlich gemacht: Diejenigen, die
lange berufstätig sind und deshalb lange in die Sozialversicherung eingezahlt haben, sollen auch in Zukunft
mit 45 Versichertenjahren im Alter von 65 die Rente
ohne Abschlag bekommen. Das heißt, der Maurer, der
mit 18, 19 oder 20 Jahren seine Lehre oder, wie es heute
heißt, Ausbildung beginnt und anschließend arbeitet, hat
mit 63, 64 oder 65 Jahren seine 45 Versicherungsjahre
erreicht und bekommt jetzt und in Zukunft mit 65 Jahren
seine unreduzierte Rente. Das war eine wichtige Entscheidung. Das betrifft etwa 40 bis 45 Prozent all derer,
die in diese Situation kommen.
({7})
Ich empfehle all denen, die eben schon gesprochen
haben, sich einfach einmal sachkundig darüber zu machen, worüber sie reden. Die üblichen Propagandareden
außerhalb dieses Hauses helfen überhaupt nicht. Wir
müssen uns anschauen: Wie ist die Situation und was
können wir an dieser Stelle tun? Ich bin sicher, dass wir
die Situation hinsichtlich der Feststellung der Erwerbsminderung genau unter die Lupe nehmen müssen. Wir
wollen das nicht zulasten derer machen, die aus objektiven Gründen in ihrer Arbeitsfähigkeit im Alter vielleicht
gehemmt sind. Aber dazu gehören auch Arbeitsschutz,
Weiterbildung und Qualifizierung für die älteren Arbeitnehmer.
({8})
Dazu gehört auch, dass wir dann, wenn uns die Verbände
erklären, dass 10 000 oder 20 000 Ingenieure fehlen und
wir das Tor aufmachen sollen, damit sie sich die fehlenden Arbeitskräfte in der Welt suchen, sagen: Nein, das
gibt es nicht. Ihr dürft nicht nur die 25- oder 30-Jährigen
hereinholen.
({9})
Wir sorgen dafür, dass diejenigen im Land, die heute
keinen Arbeitsplatz haben, die 45- bis 55-Jährigen, Qualifizierungsmöglichkeiten erhalten, um wieder im Erwerbsleben dabei zu sein. Das wollen wir erreichen. Dafür streiten wir mit unserer Politik.
({10})
Diese große Koalition hat sich - das zeigt sich an diesem Punkt; das wird sich aber auch an anderen zeigen Aufgaben vorgenommen, die nicht leicht sind. Ich behaupte nicht, dass jeder Akzent, den wir setzen, immer
gleich gelingen wird. Aber die Intention, die dahintersteckt, nämlich in dieser Legislaturperiode die Situation
für die älter werdenden Menschen am Arbeitsmarkt zu
verbessern, damit sie wieder dabei sind und nicht als unbrauchbar ins Abseits gedrängt werden, und gleichzeitig
so viel Stabilität wie nur möglich in die Rentenversicherungssysteme hineinzubringen, treibt uns an. Ich sage Ihnen: Dem werden wir gerecht werden. Mag da kommen,
was will: Wir sind auf dem richtigen Weg. Wir werden
ihn bei der Gesetzgebung so gestalten, wie es für die
Menschen am vernünftigsten ist. Das werden wir in dieser Koalition miteinander erreichen.
Vielen Dank.
({11})
Das Wort hat nun Irmingard Schewe-Gerigk,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Minister Müntefering, Gratulation, anders als Ihr Exkollege Lafontaine sind Sie in der Realität angekommen.
Noch vor drei Jahren haben Sie behauptet, in der Rente
bedürfe es keiner weiteren Reform. Auf Druck der Grünen wurde dann die Rürup-Kommission eingesetzt. Sie
hat vorgerechnet, dass eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit um zwei Jahre bis zum Jahre 2035 unabdingbar ist. Die Rentner protestierten, obwohl nicht sie betroffen waren, sondern die heute 40-Jährigen, die sich
aber noch ganz schön still verhalten. Sie erwarten nicht
mehr viel.
Die Erhöhung des Renteneintrittsalters ist eine Reaktion darauf, dass die Menschen inzwischen erfreulicherweise älter werden und durchschnittlich 16 Jahre lang
Rente beziehen. Früher waren es nur sechs Jahre.
Heute kommen zwei Erwerbstätige für einen Rentner
auf. Würden wir keine Veränderungen durchführen, Herr
Kollege Lafontaine, wären wir im Jahr 2050 bei einem
Erwerbstätigen pro Rentner. Damit würde das System
zusammenbrechen.
({0})
Insofern unterstützen wir ausdrücklich das Vorhaben
des Ministers. Allerdings enden damit unsere Gemeinsamkeiten. In den vergangenen Tagen hat sich in der
SPD und der großen Koalition das blanke Chaos abgespielt.
({1})
Alles gackert durcheinander. Ein Hühnerhof ist dagegen
ein Ort der Stille.
Erst verzögern Sie den Rentenversicherungsbericht.
Dann treffen Sie im Koalitionsvertrag Vereinbarungen,
die der Quadratur des Kreises entsprechen: Sie wollen
die Rente nicht kürzen, den Beitragssatz stabil halten,
aber den Bundeszuschuss einfrieren. Die versammelte
Wissenschaft hat Ihnen bescheinigt, dass das alles nicht
zusammenpasst.
({2})
Wenn Sie den Bundeszuschuss einfrieren und die
Rente nicht kürzen, werden die Beiträge schon bald über
20 Prozent steigen. Das wissen Sie genau. Darum gibt es
nämlich bei Ihnen auch schon erste Absetzbewegungen
vom Koalitionsvertrag.
({3})
Das Absurdeste allerdings ist, dass Sie den zweiten
Schritt vor dem ersten tun. Wer bis 67 arbeiten soll,
braucht auch einen Arbeitsplatz. Den haben aber heute
nur 40 Prozent der über 55-Jährigen. Wir haben uns im
Lissabonprozess darauf verständigt, dass es bis 2020
50 Prozent sein sollen. Haben Sie, Herr Minister, sich
denn klar gemacht, welches Signal Sie aussenden, wenn
Sie den Menschen sagen, sie sollen künftig länger arbeiten, während Sie gleichzeitig die 58-Jährigen mit dem
Arbeitslosengeld I dazu bringen, dem Arbeitsmarkt endgültig Ade zu sagen, damit sie aus der Statistik herausfallen? Haben Sie die Auswirkungen berücksichtigt,
wenn Sie die Weiterbildung für Ältere bei der Agentur
für Arbeit zum Jahresende auslaufen lassen? Wie wollen
Sie damit bei den Menschen Vertrauen schaffen?
({4})
Ich wundere mich nicht, dass bei einer solchen Politik
über drei Viertel der Menschen gegen die Heraufsetzung
des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre sind. Eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit setzt die Integration Älterer
auf dem Arbeitsmarkt voraus. Anderenfalls entspräche
sie einer gigantischen Rentenkürzung.
Wer wie Sie den zweiten Schritt vor dem ersten
macht, kann dabei ganz schön ins Stolpern kommen;
denn die Rentenfrage gehört zu den wichtigsten Zukunftsfragen. Eine Fortsetzung des bisherigen Hin und
Her
({5})
trägt zur Verunsicherung bei und führt zu einer sinkenden Akzeptanz der gesetzlichen Rentenversicherung.
Wer will es den Jüngeren verdenken, wenn sie nach Wegen suchen, wie sie die gesetzliche Rentenversicherung
umgehen können?
Nun komme ich zu der hilflosen Debatte über die
Ausnahmeregelungen, etwa für Krankenschwestern oder
Dachdecker. Das Einfallstor dafür ist die Regelung, nach
45 Beitragsjahren weiterhin die Rente ab 65 ohne Abschläge zu erhalten. Ich behaupte: All diese Ausnahmeregelungen tragen im Kern zu neuen Ungerechtigkeiten
bei. Die Sonderregelung mit 45 Pflichtbeitragsjahren
wird nämlich zulasten von berufstätigen Frauen - insbesondere mit Kindern - finanziert. Unter ihnen gibt es
nicht viele, die so lange arbeiten.
({6})
Sie haben nämlich so gut wie keine Chance, abschlagsfrei in Rente zu gehen, müssen aber ihrerseits alle Ausnahmeregelungen mitfinanzieren.
Nach meinem Eindruck dient die Regelung in Bezug
auf 45 Pflichtbeitragsjahre eher zur Beruhigung des
schlechten Gewissens. Denn diejenigen, die diese Politik
vertreten, wissen genau, wie wenig glaubwürdig die Erhöhung des Renteneintrittsalters ohne flankierende Maßnahmen in anderen Politikfeldern ist.
Ausnahmeregelungen für verschiedene Berufe, wie
sie der Wahlkämpfer Kurt Beck derzeit verlangt, sind
nicht geeignet, Benachteiligungen individuell und gerecht aufzulösen.
({7})
Stattdessen sollten wir darüber nachdenken, wie das bereits vorhandene Instrument der Erwerbsminderungsrente weiterzuentwickeln ist.
Ich kann mir vorstellen, dass Menschen nach 45 Versicherungsjahren über eine Erwerbsminderungsrente mit
65 Jahren abschlagsfrei in Rente gehen, wenn ihr Erwerbsleben belastend war und sie deshalb unter gesundheitlichen Einschränkungen leiden. Das wäre ein anderer
Weg. Dringend notwendig ist allerdings eine fundierte
Debatte auf der Grundlage des Rentenversicherungsberichts.
Im Interesse der Menschen fordere ich Sie auf, das
derzeitige Chaos alsbald zu beenden. Wir Grüne jedenfalls werden unseren Beitrag zur Versachlichung der Debatte leisten.
Recht herzlichen Dank.
({8})
Ich erteile das Wort Kollegen Ralf Brauksiepe, CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nur
ein Wort zum Antragsteller: Herr Kollege Lafontaine,
Sie haben uns vorgeworfen, gegen die Mehrheit des Volkes anzuregieren. Ich meine nicht Sie persönlich, aber
ich finde, es ist schon ein starkes Stück, wenn Sie das als
Vertreter einer Partei sagen, die die Nachfolgerin einer
Partei ist, die 40 Jahre lang in brutaler Weise gegen die
Mehrheit des Volkes anregiert und ein Land ruiniert hat.
({0})
Nun zu dem Problem, mit dem wir es zu tun haben.
Im Koalitionsvertrag haben CDU/CSU und SPD festgelegt, dass das Renteneintrittsalter auf 67 Jahre steigen
soll, und zwar bis spätestens 2035. Der zuständige Minister hat eine Konkretisierung der Formulierung „bis
spätestens 2035“ vorgenommen und den Vorschlag in
die Diskussion eingebracht, bis 2029 das Renteneintrittsalter auf 67 Jahre zu erhöhen. Wenn eine solche Diskussion aufkommt, macht es sicherlich Sinn, sich schnell zu
verständigen und für Klarheit zu sorgen. Das hat das
Bundeskabinett klugerweise getan, indem es sich auf die
von Minister Müntefering vorgeschlagene Konkretisierung verständigt hat. Darum geht es nun.
Gerade ist der Bericht der Rürup-Kommission angesprochen worden. Dieser Bericht hat uns schon im Jahr
2003 deutlich gemacht, dass die Lebenserwartung von
65-jährigen Frauen und Männer bis zum Jahr 2030 um
fast drei Jahre steigen wird. Das heißt, wenn wir das
Renteneintrittsalter bis dahin um zwei Jahre erhöhen,
dann haben wir den erwarteten Anstieg der Lebenserwartung noch nicht einmal ganz kompensiert. Wir werden auch dann eine im Durchschnitt etwas längere Rentenlaufzeit zu verkraften haben. Das macht deutlich, dass
wir angesichts der demografischen Entwicklung, des
günstigen Umstandes, dass die Menschen immer älter
werden, keine Alternative dazu haben, dass diejenigen,
die dazu in der Lage sind, länger arbeiten müssen. Der
Vorschlag von Herrn Müntefering ist alternativlos und
deswegen unterstützen wir ihn.
({1})
Selbstverständlich darf eine Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters nur mit verbesserten Beschäftigungschancen älterer Arbeitnehmer einhergehen; das
ist völlig klar. Wenn wir es uns aber nicht zutrauten, in
einem Zeitraum von 23 Jahren die Beschäftigungschancen älterer Arbeitnehmer massiv zu verbessern, dann
hätten wir als Politiker versagt.
({2})
Ich bin sicher, dass diese Regierung die notwendigen
Rahmenbedingungen für eine bessere Erwerbsbeteiligung älterer Menschen in diesem Land schaffen wird.
Wir haben die ersten Weichen in diese Richtung gestellt.
Die Tendenz geht bereits nach oben. Diesen Weg werden
wir weitergehen, weil wir keine Rentenkürzungen vornehmen wollen. Jetzt, wo eigentlich welche anstünden,
schließen wir Rentenkürzungen gesetzlich aus. Wie gesagt, wir werden die Rahmenbedingungen für ältere Arbeitnehmer auf dem Arbeitsmarkt verbessern. Das ist
notwendig und deswegen packen wir es an.
({3})
Wir haben darüber hinaus schon im Koalitionsvertrag
festgelegt, dass Versicherte, die mindestens 45 Pflichtbeitragsjahre durch Beschäftigung, Kindererziehung und
Pflege erreicht haben, weiterhin mit 65 Jahren abschlagsfrei in Rente gehen können. Der Union war es
wichtig, dass sich die Koalition darauf verständigt und
dass das im Koalitionsvertrag festlegt wird. Es bedarf
dazu keiner Forderungen von Wahlkämpfern mehr.
({4})
Was bereits im Koalitionsvertrag klar geregelt ist, ist nun
bekräftigt worden.
Angesichts der Diskussion über Sonderregelungen
lohnt ein Blick in den Bericht der Rürup-Kommission.
Dort ist festgestellt worden, dass eine gerechte und zugleich missbrauchsichere Abgrenzung bestimmter Personenkreise nicht möglich ist. Ich bedanke mich ausdrücklich beim Minister, dass er das noch einmal
klargestellt hat. Wir brauchen andere Regelungen. So haben wir festgelegt - das ist ganz wichtig -, dass man mit
45 Pflichtbeitragsjahren abschlagsfrei in Rente gehen
kann. Das heißt, für die Personengruppen, die klassischerweise nicht erst mit 20 beginnen, Sozialversicherungsbeiträge zu entrichten, sondern bereits nach zehn
Jahren Schule in die Systeme einzahlen, ändert sich
praktisch nichts. Wer den normalen Weg eines Dachdeckers oder anderer gesundheitsbelastender Berufe geht,
der hat, wenn er mit 16 Jahren zu arbeiten beginnt, etwa
49 Jahre Zeit, um 45 Pflichtbeitragsjahre zu erreichen.
Für alle, die dies gesundheitlich nicht schaffen, gibt es
das Instrument der Erwerbsminderungsrente. Schon
heute kann jemand, der aufgrund von Erwerbsminderung
mit 63 aus dem Arbeitsprozess ausscheidet, abschlagsfrei
in Rente gehen. Jeder, der mit 60 oder früher ausscheidet,
hat keine höheren Abschläge als 10,8 Prozent, also für
drei Jahre, hinzunehmen. Das heißt, wir haben solidarisch finanzierte Systeme und Möglichkeiten, um denjenigen zu helfen, die es gesundheitlich nicht schaffen.
Es gehört aber auch zur Wahrheit: Wenn die Menschen immer älter werden und wenn alle Sozialsysteme
solidarisch beitragsfinanziert sind, dann bedeutet das,
dass die Renten derjenigen, die Erwerbsminderungsrenten erhalten und die mit 65 Jahren ausscheiden, von denen finanziert werden müssen, die zu diesem Zeitpunkt
die Arbeitsleistung erbringen und die Sozialversicherungsbeiträge bezahlen. Deswegen müssen diejenigen,
die es können, im Interesse der Solidarität in diesem
System bis 67 arbeiten.
Wir sind gefordert, die entsprechenden politischen
Rahmenbedingungen zu setzen. Daran arbeiten wir. Es
ist eine langfristige Zielsetzung, die richtig und sozial
ausgewogen ist. Diesen Weg werden wir gemeinsam gehen.
Vielen Dank.
({5})
Ich erteile das Wort Kollegen Klaus Ernst, Fraktion
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Eben wurde uns von Herrn Müntefering der
Vorschlag gemacht, man solle sich doch sachkundig machen.
({0})
- Bei euch vielleicht.
({1})
Ich lese heute im „Tagesspiegel“:
Das Vorziehen der Rente mit 67 ist zum jetzigen
Zeitpunkt entweder überflüssig oder nicht besonders sozial.
Ich zitiere weiter:
Wenn es uns nicht gelingt, Ältere in Arbeit zu bringen, ist das für Arbeitslose eine Rentenkürzung.
Und für Einkommensschwache, die früher sterben,
verkürzt sich die Rentenbezugsdauer.
Das ist von eurem Experten, nicht von unserem Experten.
({2})
Vielleicht machen Sie sich, Herr Müntefering, einfach
einmal die Mühe, sich mit Ihren eigenen Experten zu unterhalten. Dann werden Sie nicht solche Vorschläge machen, wie Sie sie gegenwärtig auf die Tagesordnung
bringen.
({3})
Wir haben als Ergebnis der Politik der letzten sieben
Jahre die Situation in diesem Lande - das nehmen Sie
offenbar nicht zur Kenntnis -, dass die Bürger dann,
wenn sie das Wort Reform hören, die Geldbörse zuhalten. Sie haben Recht und sie haben Anlass dazu.
({4})
Denn alles, was Sie ihnen zumuten, sind Belastungen,
die nicht für Sie selber, aber immer für die anderen wirksam werden. Die Renteneingriffe der letzten Jahre waren
enorm: Kürzung von anrechenbaren Zeiten, zusätzliche
Abgaben auf Renten, Nullrunden über mehrere Jahre
und jetzt das Heraufsetzen des Rentenalters. Ich kenne
all diese Vorschläge und Sie auch, Herr Müntefering.
Alle können Sie in den Konzepten des Bundesverbands
der Deutschen Industrie nachlesen. Genau in dessen Interesse machen Sie Politik, aber nicht für das Volk. Das
mit aller Klarheit.
({5})
Eins zu eins haben Sie die Forderungen des Bundesverbands der Deutschen Industrie in Ihren Koalitionsvertrag
übernommen.
Nun zu Ihrer Glaubwürdigkeit. Im Wahlprogramm
der SPD von 1998 hieß es:
Die Kürzung des Rentenniveaus würde viele Rentnerinnen und Rentner zu Sozialhilfeempfängern
machen … So darf man mit Menschen, die ein Leben lang hart gearbeitet haben, nicht umgehen.
({6})
Im Wahlprogramm 2005 heißt es:
Unser Ziel ist, das faktische Renteneintrittsalter an
das gesetzliche Eintrittsalter von 65 Jahren heranzuführen.
Jetzt, gut vier Monate nach der Wahl, gilt nichts mehr,
was Sie Ihren Wählern versprochen haben.
({7})
Da muss ich in Richtung CDU/CSU sagen: Sie waren
wenigstens ehrlich. Sie haben es vorher gesagt. Die anderen aber nicht.
({8})
Das ist das, was die Bürger an unserem jetzigen System
verurteilen. Sie können Ihnen nicht mehr glauben. Ihre
Aussagen haben die Halbwertszeit von Einwegunterwäsche. Das ist das Problem, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({9})
Nun zur Union: Im Wahlprogramm heißt es:
Sobald es die Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt
erlauben, kommt auch eine schrittweise Anhebung
des Renteneintrittsalters in Frage.
({10})
5 Millionen Arbeitslose stellen wohl eine tolle Lage auf
dem Arbeitsmarkt dar. Die haben wir nämlich gerade.
({11})
Aber jetzt beschließen Sie es. Sind Sie so prophetisch,
um jetzt schon zu wissen, was in zehn Jahren los ist? Ich
kann nur sagen: Wenn man so Politik macht und die
Aussagen von vor zwei Jahren, vor einem Jahr und sogar
drei Monaten nicht mehr ernst nimmt, dann kann ich nur
noch sagen: Furchtbar.
({12})
Im Koalitionsvertrag heißt es, nachdem ein Renteneintrittsalter von 67 Jahren angekündigt wird:
Dies gibt sowohl den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern als auch den Unternehmen Planungssicherheit.
Diese Planungssicherheit haben Sie in Ihrem Koalitionsvertrag vom 11. November 2005 versprochen.
({13})
Mittlerweile sind drei Monate vergangen und schon gilt
das nicht mehr, weil sich das neue Traumpaar Merkel/
Müntefering verständigt hat, die Erhöhung des Renteneintrittsalters um sechs Jahre vorzuziehen. Das ist die
Planungssicherheit, die Sie diesem Volk zumuten.
({14})
Die Wirkungen, die Sie erzielen, sind doch ganz einfach - jeder weiß es -: Nur 39 Prozent der über 55-Jährigen haben einen Job; von den über 60-Jährigen haben
nur 20 Prozent einen Job. Wenn Sie das Renteneintrittsalter jetzt heraufsetzen, dann heißt das nichts anderes, als
dass Sie die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes II verlängern. Jeder weiß, dass ein über 55-Jähriger in diesem
Land heutzutage eher das Bundesverdienstkreuz bekommt, als dass er einen Job findet.
({15})
Das liegt übrigens nicht daran, dass der Kündigungsschutz nicht schwach genug ist. Die allermeisten über
55-jährigen Arbeitslosen haben früher gearbeitet und haben ihren Arbeitsplatz irgendwann verloren, offensichtlich deshalb, weil der Kündigungsschutz nicht ausreicht.
Das sage ich auch Ihnen von der FDP. Was Sie vorhaben
- Rente mit 67 -, heißt nichts anderes als Kürzung der
Einkommen eines großen Teils der Bevölkerung.
Viele halten längere Arbeitszeiten nicht aus. Sie
müssten sich vielleicht wieder einmal in die Betriebe zu
den Nacht- und Schichtarbeitern begeben. Ich habe gedacht, dass es in der SPD noch den einen oder anderen
geben müsste, der das tut. Leider ist das nicht so.
Ich komme zum Schluss. Was Sie machen, ist keine
Generationengerechtigkeit. Ich halte Ihr Vorhaben für
sehr schwierig. Ein Kirchenlehrer im vierten Jahrhundert, der heilige Augustinus
({16})
- das freut euch, nicht wahr; es täte euch gut, einmal
nachzulesen -, hat folgenden Satz geprägt:
Ein Staat, der nicht durch die Gerechtigkeit definiert wäre, wäre nur eine große Räuberbande.
Wir müssen aufpassen, dass unser Staat dazu nicht verkommt.
Ich danke Ihnen fürs Zuhören.
({17})
Kollege Ernst, dies war Ihre erste Rede in diesem
Hause. Herzliche Gratulation und alles Gute für Ihre
politische Arbeit.
({0})
Ich erteile das Wort Kollegin Elke Ferner, SPD-Fraktion.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das, was wir soeben gehört haben, ist an Populismus nicht mehr zu
überbieten.
({0})
Der Kollege Ernst sollte sich einmal ein paar Zahlen
zu Gemüte führen. Ich habe mir heute Morgen die Mühe
gemacht, die Zahlen des Statistischen Bundesamtes herauszusuchen: Im Jahr 2004 war die Beschäftigungsquote
der Älteren höher, als Sie eben angegeben haben. Die der
über 60-jährigen Männer lag nämlich bei 37,7 Prozent
und die der über 60-jährigen Frauen bei 19,7 Prozent.
({1})
Man sollte keine Zahlen in die Welt setzen, die mit der
Realität nichts zu tun haben.
Das Thema, über das wir heute diskutieren, ist sicherlich nicht einfach. Das braucht man überhaupt nicht zu
bestreiten. Dabei geht es aber um mehr als um die Erhöhung des Renteneintrittsalters um zwei Jahre. Dazu gehört auch, dass das Bundeskabinett gestern beschlossen
hat, keine Rentenkürzungen - sie wären nach der jetzigen Rechtslage wahrscheinlich notwendig - vorzunehmen. Wenn ich Herrn Kolb eben richtig verstanden habe
- Herr Kolb, Sie haben genau das kritisiert -, muss ich
wohl annehmen, dass die FDP der Meinung ist, man
müsse jetzt Rentenkürzungen durchführen.
({2})
- Sie können das gern richtig stellen. Sie haben eben
ganz deutlich gesagt, dass Sie diesen Punkt kritisieren.
Eigentlich vertreten Sie doch eher die Auffassung, dass
die Renten gekürzt werden müssen.
({3})
Natürlich müssen die Beschäftigungschancen älterer
Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen verbessert werden. Das ist überhaupt keine Frage. In den 70er-Jahren
war die Beschäftigungsquote der Älteren deutlich höher
als heute. Sie ist heute allerdings etwas besser als vor
vier oder fünf Jahren. Diesen Prozess müssen wir forcieren.
Ich füge hinzu: Es bedarf besonderer Maßnahmen,
um die Beschäftigungsquote über 50-jähriger Frauen zu
erhöhen. Wegen Kindererziehungszeiten und wegen
häufiger Teilzeitbeschäftigung haben viele aus dieser
Gruppe besondere Schwierigkeiten, wieder in eine Vollerwerbstätigkeit hineinzukommen.
Ich glaube, dass wir auch bei der Verbesserung der
Arbeitsbedingungen in den Betrieben weiter vorankommen müssen;
({4})
denn die Probleme, die einige Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen aufgrund besonders schwerer Arbeitsbedingungen in den Betrieben haben, ließen sich auch
durch besseren Arbeitsschutz - Stichwort: Humanisierung der Arbeitswelt - abstellen. Daran müssen wir zusätzlich arbeiten.
({5})
Wenn man sich ansieht, wie die Beschäftigungsquoten in den anderen europäischen Ländern sind, insbesondere in den skandinavischen Ländern, stellt man fest,
dass es da mit einer Erwerbsquote der über 55-Jährigen
von knapp 70 Prozent deutlich besser ist als bei uns. Das
sind nun nicht Länder, denen man ein schlechtes soziales
Schutzniveau nachsagen könnte oder in denen es höhere
Arbeitslosenquoten gibt; im Gegenteil: Die Arbeitslosenquoten dort sind niedriger. Deshalb ist es notwendig,
insbesondere mit dem Programm „Perspektive 50 plus“
voranzukommen und das zeitgleich zu machen.
({6})
Der Kollege Ernst hat eben gesagt: Und jetzt wird die
Rente mit 67 eingeführt. Wir reden heute über das
Jahr 2029, nicht über morgen, nicht über übermorgen
und eben nicht über das Jahr 2006.
({7})
- Im Jahr 2012 beginnt die Erhöhung um jeweils einen
Monat.
({8})
Frau Kollegin Schewe-Gerigk hat eben gesagt, die
45 Versicherungsjahre seien für Frauen nur schwer zu
erreichen. Das ist richtig. Aber wir sollten jetzt nicht so
tun, als ob das erst dann zum Problem wird.
({9})
Das ist nämlich bereits heute ein Problem. Der Skandal
ist eigentlich, dass sich niemand anschaut, wie die Versicherungszeiten der Frauen heute,
({10})
auch die der heutigen Rentnerinnen, im Vergleich zu den
Männern sind. Das sind natürlich Generationen, die eine
deutlich niedrigere Frauenerwerbsquote haben, als sie
die künftigen Generationen haben werden. Es kommt
aber auch nicht nur auf die Anzahl der Versicherungsjahre, sondern natürlich auch auf die Entgeltpunkte an.
({11})
In dem Zusammenhang müssen wir auch noch einmal
schauen, dass wir bei der eigenständigen Alterssicherung der Frauen besser vorankommen,
({12})
indem wir eine durchgängigere Erwerbstätigkeit ermöglichen, indem wir die Lohndiskriminierung beseitigen,
indem wir den Frauen vor allem eine Vollzeit- statt Teilzeiterwerbstätigkeit als Regelerwerbstätigkeit ermöglichen und mehr Chancen der Karriereteilhabe eröffnen.
({13})
Die Antragsteller dieser Aktuellen Stunde haben
heute nur gesagt, was sie nicht wollen. Ich habe nichts
dazu gehört, was denn die Alternative ist,
({14})
ob man stattdessen die Rente kürzen will, ob man den
Beitragssatz oder den Bundeszuschuss erhöhen will oder
ob man das Rentenniveau für künftige Rentner und
Rentnerinnen weiter nach unten fahren will. Wer hier
kritisiert - das mag ja alles so sein -, sollte bitte schön
auch sagen, wie es anders gemacht werden soll.
({15})
Das Wort hat der Kollege Max Straubinger, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die
heutige Aktuelle Stunde befasst sich mit den rentenpolitischen Beschlüssen der Koalition und vor allem auch
mit dem Vorschlag von Herrn Bundesminister Franz
Müntefering. Wir bringen hier in der Gesamtheit zum
Ausdruck, dass wir eine verantwortungsbewusste und
vor allem eine zielorientierte und den Generationen gerecht werdende Rentenpolitik betreiben. Ich danke dem
Bundesminister sehr herzlich dafür, dass er dieses
Thema ins Blickfeld der Öffentlichkeit gerückt und diese
mittlerweile intensive Diskussion herbeigeführt hat.
({0})
Es schadet nicht, etwas zurückzuschauen und sich
darüber klar zu werden, warum diese Beschlüsse so gefasst worden sind. Sie sind Ausdruck einer großartigen
demographischen Entwicklung. 1871 betrug die Lebenserwartung der Männer 35,6 Jahre und die der Frauen
38,4 Jahre. 1926 war sie bei den Männern auf 56 Jahre
und bei den Frauen auf 58,8 Jahre gestiegen. Erst 1970
wurde eine Lebenserwartung von über 65 Jahren erreicht, nämlich bei den Männern eine Lebenserwartung
von 67,4 Jahren und bei den Frauen eine von
73,8 Jahren. Heute beträgt die Lebenserwartung der
Männer 75,9 Jahre und die der Frauen 81,6 Jahre. Für
das Jahr 2030 rechnen wir mit einer Lebenserwartung
von 83,4 Jahren bei den Männern und von 87,6 Jahren
bei den Frauen.
Diese Zahlen zeigen sehr deutlich, dass wir auf die
Entwicklung, die ja für die Menschen großartig ist, auch
eine generationengerechte Antwort finden müssen. Ich
habe heute bei den Antragstellern jedoch nicht erkennen
können, dass sie bereit wären, hier eine positive
Mitarbeit zu leisten. Mehr als Polemik war von den Linken in diesem Haus nicht zu hören.
({1})
Auffallend ist, dass auf der einen Seite zwar kritisiert
wird, dass ab dem Jahr 2029 ein Renteneintrittsalter von
67 Jahren gelten soll, auf der anderen Seite aber der Kollege Lafontaine für sich bereits jetzt entschieden hat,
über das 65. Lebensjahr hinaus zu arbeiten. Herr
Lafontaine ist ja Geburtsjahrgang 1943 und ich nehme
an, dass er den Wählerinnen und Wählern versprochen
hat, uns die ganze Legislaturperiode erhalten zu bleiben;
am Ende dieser Zeit hätte er dann das 66. Lebensjahr erreicht.
({2})
Das zeigt sehr deutlich, dass aufgrund der neuen Möglichkeiten der Gesunderhaltung und der Fitness bis ins
Alter durchaus eine längere Lebensarbeitszeit ins Auge
gefasst werden kann. Das wird heute auch dargelegt.
({3})
Verehrte Damen und Herren, ausdrücklich zurückweisen möchte ich, dass wir im Koalitionsvertrag und in den
Wahlaussagen Wählertäuschung betrieben hätten. Im
Regierungsprogramm der CDU/CSU steht wörtlich - ich
zitiere -:
Zur langfristigen Stabilisierung der Rentenversicherung ist eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit
notwendig.
Dies macht deutlich, dass wir den Wählerinnen und
Wählern schon vor der Wahl schwierige Entscheidungen
angekündigt haben, die in dieser Regierungskoalition
zum Tragen kommen.
({4})
Die Linke stellt hier die soziale Ausgewogenheit infrage. Bereits einige Vorredner, auch der Herr Bundesminister, haben darauf hingewiesen, dass wir verstärkte
Anstrengungen unternehmen werden, um ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Arbeit zu bringen.
Ein entscheidender Gesichtspunkt dazu ist auch im Koalitionsvertrag niedergelegt, und zwar ab Zeile 4 057
- ich zitiere -:
Zu Beginn des nächsten Jahrzehnts wird der Gesetzgeber darüber zu befinden haben, ob die Anhebung der Regelaltersgrenze unter Berücksichtigung
der Arbeitsmarktlage sowie der wirtschaftlichen
und sozialen Situation älterer Arbeitnehmer vertretbar ist und die getroffenen gesetzlichen Regelungen
bestehen bleiben können.
Das zeigt sehr deutlich die sozialpolitische Verantwortung dieser Koalition. Vor allen Dingen bringt es
zum Ausdruck, dass wir für eine verlässliche Rentenpolitik stehen, die auch den Generationenausgleich
sucht. Das funktioniert nicht so, wie es die Linken wollen: möglichst eine hohe Rente, aber wer das bezahlt, ist
Ihnen völlig egal. Das müssen dann alle Erwerbstätigen
in unserem Land bezahlen. Auf die Frage, wer das bezahlen soll, haben wir von Ihnen heute jedenfalls keine
Antwort erhalten. Das zeigt: Unsere Rentenpolitik ist alternativlos.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({5})
Ich erteile das Wort Kollegen Anton Schaaf, SPDFraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Lafontaine, Sie haben von Vertrauen gesprochen.
Vertrauen bedingt für meine Begriffe Seriosität und Ehrlichkeit, allerdings nicht nur in den rückwärts gewandten
Debatten, sondern vor allen Dingen heute.
({0})
Das gilt besonders, wenn wir über das Thema Rente
reden, wenn wir darüber reden, dass zukünftige Generationen höhere Belastungen haben werden, jeder Einzelne, aber auch die Gesellschaft. Deshalb müssen wir
sie anders in die Verantwortung nehmen. Nur wer beim
Thema Rente die neuen Herausforderungen, nämlich
den veränderten demografischen Aufbau - der Aufbau
der Gesellschaft ist völlig anders als noch vor 30 Jahren,
als der eine oder andere in der PDS seine politischen
Konzepte kennen gelernt hat - und den wirtschaftlichen
Druck durch Europäisierung und Globalisierung, ignoriert, kann über Rentenpolitik so diskutieren wie Sie,
nämlich als wären wir völlig isoliert, als stünde um ganz
Deutschland eine Mauer.
Wir, diese Koalition, tun das nicht.
({1})
Wir analysieren den bestehenden Zustand und versuchen, zu gestalten und auch zu verändern. Wir tun nicht
so, als sähe die Welt anders aus, als sie ist, sondern wir
nehmen sie so, wie sie ist. Daraus leiten wir unser Politikverständnis ab. Das ist bei Ihnen etwas anders.
Herr Kollege Ernst, auch wenn Sie Ihre erste Rede im
Deutschen Bundestag gehalten haben, hätten Sie Ihrem
Namen alle Ehre machen und dieses Thema ernst behandeln können und nicht so populistisch, wie Sie es getan
haben. Das hilft niemandem weiter und ist der Sache
nicht dienlich.
({2})
Lassen Sie mich auf einen Punkt eingehen, den Herr
Kolb angeführt hat. Sie haben gesagt, das, was wir an
dieser Stelle machen, sei eine Bankrotterklärung. Nein,
Herr Kolb, das sehe ich völlig anders. Ich kann für meine
Fraktion sehr deutlich sagen: Wir wollen die sozialen
Sicherungssysteme, wie wir sie heute kennen - nämlich
solidarisch aufgebaut und paritätisch finanziert -, auf
Dauer erhalten.
({3})
Das bedingt, dass wir grundsätzlich bereit sind, strukturelle Veränderungen vorzunehmen. Die rot-grüne Koalition hat es getan. Wir haben in den vergangenen Tagen
schon über die private Säule, über die Riesterrente, diskutiert. Jetzt gehen wir einen Schritt weiter.
Ich will etwas zur Verlässlichkeit sagen. Wenn wir
strukturelle Veränderungen, wie sie die Koalition vereinbart hat, vornehmen müssen, dann ist es doch seriös,
schon jetzt zu sagen, was auf die Menschen ab 2012 zukommt und wie lange dieser Prozess dauern wird. Im
Koalitionsvertrag steht: bis maximal 2035. Wir haben
uns darauf verständigt - den entsprechenden Vorschlag
hat der Minister gemacht -, dass wir diesen Zeitraum
verkürzen. Es ist also verlässlich, wenn wir jetzt der jüngeren Generation sagen, bis wann welche Prozesse abgeschlossen sind.
Lassen Sie mich auch etwas zur Verantwortung sagen.
Ich glaube, die Politik muss nicht jede Verantwortung
übernehmen. Inwieweit die Beschäftigungsquote älterer
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer tatsächlich erhöht
werden kann, ist keine Frage, deren Beantwortung man
ausschließlich auf die Politik abwälzen kann.
({4})
Es ist aber auch keine Frage, deren Beantwortung man
ausschließlich auf das Individuum abwälzen kann.
({5})
Dieser Frage müssen sich auch die Unternehmerinnen
und Unternehmer in diesem Lande stellen. Die schlechte
Beschäftigungsquote älterer Arbeitnehmer hat unmittelbar mit der Vorruhestandsregelung zu tun, die damals
von der schwarz-gelben Koalition - von uns allen gemeinsam getragen - eingeführt worden ist. Wir haben ältere Arbeitnehmer aus dem Arbeitsprozess herausgenommen, um jüngere verstärkt hineinzubringen. Das
Prinzip hat nie funktioniert.
({6})
Herr Lafontaine, es ist übrigens eine ökonomisch
wichtige Frage, wie hoch die Beschäftigungsquote der
älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ist. Wir
wissen schon jetzt, dass qualifizierte Facharbeiterinnen
und Facharbeiter in vielen Branchen fehlen. Es ist doch
völlig klar, dass es vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklung so nicht weitergehen kann. Daher
ist Weiterbildung, die übrigens auch in der Verantwortung
der Unternehmen in diesem Lande liegt, ganz wichtig.
({7})
Der Minister hat sehr deutlich auf das Problem bei
den Ingenieuren hingewiesen. Es ist geradezu grotesk,
das Wissen der Ingenieure 20 Jahre zu nutzen, aber sie
dann zu entlassen, wenn ihr Wissen nicht mehr ausreicht, und anschließend nach neuen Ingenieuren aus
dem Ausland zu rufen. Auch die Unternehmen tragen,
was die Qualifizierung und Weiterbildung angeht, Verantwortung.
({8})
Verantwortung muss man richtig zuordnen. Man kann
der Politik nicht für alles die Verantwortung zuschieben.
Zum Schluss möchte ich sagen: Ökonomische Entwicklung hat, wie gesagt, mit der Beschäftigungsquote
älterer Arbeitnehmer zu tun. Sie hat mit Qualifizierung
und Weiterbildung und auch - da gebe ich Ihnen völlig
Recht, Frau Schewe-Gerigk - mit der Frauenerwerbsquote zu tun. Wer an welcher Stelle auch immer die Diskussion darüber führt, dass die Lebenserwartung ein Kriterium für das Renteneintrittsalter sein könnte, der
müsste gleichzeitig sagen, dass Frauen aufgrund ihrer
höheren Lebenserwartung höhere Rentenbeiträge zahlen
müssten. Um es ganz deutlich zu sagen: Ich halte eine
solche Diskussion für absoluten Unfug und nicht zielführend.
({9})
Zur Frage, ob man das Renteneintrittsalter nicht nach
der Arbeitsbelastung und damit branchenspezifisch regeln sollte, sage ich - Herr Brauksiepe hat schon sehr
deutliche Worte dafür gefunden -: Die Erwerbsminderungsrente ist ein gutes Instrument. Wir sollten allerdings angesichts dessen, dass wir den Menschen mehr
abverlangen müssen, darüber nachdenken, ob wir bei
diesem Instrument nicht noch an der einen oder anderen
Stelle nachsteuern sollten. Darum würde ich in der Diskussion, die jetzt ansteht, werben.
Die Initiative „50 plus“ geht mit einem höheren Renteneintrittsalter einher; das ist deutlich gesagt worden.
Wir sollten das kommunizieren, damit die Menschen
keine Angst bekommen.
Ich danke.
({10})
Das Wort hat nun Kollege Marco Wanderwitz, CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Titel dieser von der PDS beantragten Aktuellen Stunde
kommt zwar recht harmlos um die Ecke. Er lautet: „Haltung der Bundesregierung zu den sozialen Auswirkungen der Erhöhung des gesetzlichen Renteneintrittsalters“. Wenn man sich diesen Titel aber im Kontext der
Aussagen von der linken Seite dieses Hauses zu diesem
Thema anschaut - ähnliche Aussagen wurden leider
auch heute wieder gemacht -, stellt man fest: Es sieht
ganz anders aus. Ihnen geht es nicht darum, konstruktiv
an der seit Jahrzehnten überfälligen Debatte zur Sicherung der sozialen Systeme mitzuarbeiten. Ihnen geht es
um eines: Sie wollen den sozialen Unfrieden und den
Neid in unserem Land schüren, um Ihr politisches Überleben zu sichern.
({0})
Sie schaden damit unserem Land und mittelfristig nützen
Sie nicht einmal Ihrer eigenen Klientel.
Die Debatte über die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme ist seit Jahrzehnten überfällig. Lange Jahre
wurde sie tabuisiert. Verantwortungsbewusste Politiker
wurden von allen Seiten, von der Politik und von Lobbygruppen, die Besitzstände wahren wollen, angefeindet.
Es gab sie, die Rufer im Walde. Niemand darf sich heute
beschweren, dass wir, wenn alles viel früher gemacht
worden wäre, heute nicht diese Auswirkungen hätten. Es
gab eben lange Jahre keine Mehrheiten dafür in diesem
Land. Auch ein Kartell der Desinformation der Menschen stand zusammen.
Nun endlich wird in unserem Land breit darüber diskutiert, dass die sozialen Sicherungssysteme kollabieren - und der gesamte Staatshaushalt gleich mit. Auslöser der Debatte ist wohl der aktuelle Handlungsdruck
durch die hohe strukturelle Arbeitslosigkeit und deren
Folgen für die Umlagesysteme.
Mir ist aber an dieser Stelle genauso wichtig, auf die
anstehenden demografischen Probleme hinzuweisen.
Wenn die geburtenstarken Nachkriegsjahrgänge verstärkt das Rentenalter erreichen, wird das derzeitige Problem uns allen wie ein laues Sommerlüftchen vorkommen. Man kann über dieses Thema sachlich diskutieren,
obgleich es großes Verhetzungspotenzial hat. Das erfordert aber Verantwortungsbewusstsein für das Gemeinwesen. Genau das erwarte ich hier im Deutschen Bundestag von jedem Einzelnen.
({1})
Ich möchte die Gelegenheit nutzen, einige Worte zur
Darstellung des Ernstes der Lage zu verwenden. Dazu
möchte ich aus dem Bericht des Bundesrechnungshofs
zur Wirtschaftsführung des Bundes für 2004 und 2005,
uns im Dezember 2005 zugegangen, zitieren:
Erstmals in der Geschichte des Bundeshaushalts
entfällt mehr als die Hälfte des veranschlagten
Haushaltsvolumens auf den Sozialbereich.
Weiter heißt es:
Fast 31 % der Gesamtausgaben des Bundeshaushalts entfallen auf den Rentenbereich. Die Rentenleistungen des Bundes haben sich damit innerhalb
von zehn Jahren verdoppelt.
({2})
Zudem ist zu lesen:
Im Haushaltsjahr 2005 verschlingen die Gesamtausgaben für die Alterssicherung mit rund
93 Mrd. Euro etwa die Hälfte der Steuereinnahmen
des Bundes.
Und schließlich:
Wenn nicht unverzüglich gegengesteuert wird,
droht dem Bund eine weitgehende finanzielle Handlungsunfähigkeit …
Ich kann nicht verstehen, woran es liegt, dass man das
immer noch negieren will. Können oder wollen Sie es
nicht begreifen?
Istzustand: Wir haben eine alternde Gesellschaft mit
seit Jahrzehnten zu wenigen Kindern. Der Altersquotient
entwickelt sich dadurch ungünstig. Unsere sozialen Sicherungssysteme in Form eines umlagefinanzierten Generationenvertrages ohne kapitalbildende Elemente sind
dem nicht gewachsen. Die Sozialbeiträge steigen ständig. Wir tun seit Jahren zu wenig für Familien. Wir investieren seit Jahren zu wenig in Bildung, Forschung
und Innovationen, um damit als rohstoffarmes Land die
Chance auf unsere künftige Teilhabe am Wohlstand einer globalisierten Welt zu wahren.
({3})
Stattdessen machen wir exzessiv Schulden, die die
neuen Belastungen von morgen sind, und betreiben
kurzfristige Haushaltsschönung mit Privatisierungserlösen. Stattdessen erhöhen wir ständig die konsumtiven
Sozialausgaben der gegenwärtigen Generationen zulasten der Zukunftsfähigkeit des Landes und der zukünftigen Generationen.
({4})
So geht das nicht mehr weiter. Wir brauchen eine
neue Definition von Gerechtigkeit, die sich nicht mehr
nur eindimensional auf die Ihnen bekannte Verteilungsgerechtigkeit ausrichtet, sondern auch andere Elemente
einbezieht, insbesondere das der Generationengerechtigkeit.
({5})
Die neue Bundesregierung hat die Herausforderungen
angenommen und ist auf dem richtigen Weg. Wir dürfen
dabei aber nicht jede ausgetretene Wegschleife mitgehen, sondern müssen auch einmal Schneisen schlagen
und direkte Wege gehen; ansonsten läuft uns nämlich die
Zeit davon und wir können das Ziel nicht mehr erreichen. Das kann dann eben auch einmal wehtun.
Die notwendige Ausweitung der Lebensarbeitszeit
durch die Verschiebung des Renteneintrittsalters nach
hinten ist eine richtige Stellschraube, mit der man dieser
Herausforderung begegnen kann. Bundesminister
Müntefering hat für seinen Ansatz nicht nur die Rückendeckung der Kanzlerin, sondern auch die Unterstützung
der jungen Abgeordneten der CDU/CSU.
({6})
Ich füge an dieser Stelle gleich hinzu: Das ist eine der
notwendigen Maßnahmen auf diesem Weg, aber nicht
die einzige.
({7})
Ich erteile das Wort nun Kollegin Gabriele HillerOhm, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im
Koalitionsvertrag steht, dass wir das Renteneintrittsalter
auf 67 Jahre heraufsetzen wollen.
({0})
Jetzt macht der Arbeits- und Sozialminister Ernst und
alle sind überrascht. Mir ging es übrigens genauso, obwohl ich den Koalitionsvertrag natürlich genau kenne.
Woran liegt das? Bisher war es doch so, dass viel über
die Notwendigkeit der Rentenreform lamentiert wurde
- wie auch heute hier von der Opposition -, sich aber
letztlich keiner tatsächlich an tief greifende Reformen
herangetraut hat. Franz Müntefering hat jetzt einen Paradigmenwechsel eingeleitet. Das ist mutig; denn eines ist
klar: Mit der Heraufsetzung der Lebensarbeitszeit wird
man keine Begeisterungsstürme in der Bevölkerung auslösen.
Ich glaube nicht, dass wir um eine Verlängerung der
Lebensarbeitszeit herumkommen, wenn wir unser solidarisches Rentensystem langfristig absichern wollen.
Natürlich gibt es Alternativen. Sie führen uns aber entweder in Zielkonflikte - zwei Stichworte sind hier die
Entwicklung der Lohnnebenkosten und die Generationengerechtigkeit - oder sie sind politisch nicht durchsetzbar.
Es ist richtig, dass wir das Thema jetzt, zu Beginn der
Legislaturperiode, anpacken und den Menschen an dieser wichtigen Stelle die nötige Sicherheit für ihre Lebensplanung geben.
({1})
Noch einmal: Die Rente mit 67 gilt nicht ab morgen; sie
wird stufenweise, von 2012 bis 2029, eingeführt. Die
Menschen können sich also sehr langfristig auf die neue
Situation einstellen.
Alles deutet darauf hin, dass sich die Arbeitsmarktsituation in den kommenden Jahren entspannen wird und
wir gute Chancen haben, von der hohen Arbeitslosigkeit
herunterzukommen. Das ist ganz wichtig. Denn wenn es
uns nicht gelingt, die Perspektive gerade für ältere Menschen am Arbeitsmarkt zu verbessern, wird die Erhöhung
des Rentenalters wenig Akzeptanz in der Bevölkerung
finden, und das zu Recht. Es ist doch nachvollziehbar,
wenn die Menschen sagen: Wenn ich heute über 50 bin
und arbeitslos werde, dann bin ich weg vom Arbeitsmarkt. Wenn ich nun auch noch zwei Jahre länger arbeiten soll, dann bin ich ja zwei Jahre länger arbeitslos und
werde eine noch kleinere Rente erhalten. - Eine Politik
nach dem Motto „Rentenalter rauf und das war es dann“
geht nicht. Das wäre unsozial und käme einer Rentenkürzung gleich. Deshalb machen wir das auch nicht.
({2})
Wir werden parallel zur Aufstockung der Lebensarbeitszeit Maßnahmen zur Verbesserung der Beschäftigungssituation gerade auch für ältere Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer auf den Weg bringen - Stichwort:
„50 plus“ - und damit die Rahmenbedingungen deutlich
verbessern. Wir haben schon in den letzten Jahren wichtige beschäftigungspolitische Weichen für ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gestellt. Wir haben
Lohnzuschüsse eingeführt, Arbeitgeber bei den Sozialbeiträgen entlastet und Weiterbildungsmöglichkeiten für
ältere Beschäftigte gestärkt.
Unsere bisherigen Bemühungen zeigen Wirkung: Das
tatsächliche Renteneintrittsalter hat sich in den letzten
fünf Jahren um fast ein Jahr nach hinten verschoben. Das
ist gut; das ist der richtige Weg. Mit der Initiative
„50 plus“ werden wir weitere wichtige Schritte zur Verbesserung der Arbeitsmarktchancen von Älteren vollziehen.
Noch ein Wort zur privaten Altersvorsorge. Die Botschaft scheint allmählich anzukommen: Wer im Alter
gut auskommen will, muss auch privat vorsorgen. Unter
Rot-Grün haben wir mit der Riesterrente ein wirkungsvolles Instrument zur Stärkung der privaten Altersvorsorge geschaffen. Die aktuellen Zahlen belegen: Die
Riesterrente wird immer besser angenommen. Bis heute
wurden knapp 5 Millionen geförderte Verträge zur privaten Altersvorsorge abgeschlossen.
Ich fasse zusammen: Wir stellen das solidarische
Rentensystem auf gesunde Füße. Wir schlagen eine Anhebung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre vor und
schaffen die richtigen Rahmenbedingungen dafür, indem
wir dies so ausgestalten, dass sich alle rechtzeitig darauf
einstellen können. Ergänzend stärken wir die private Altersvorsorge.
Wir werden in den nächsten Monaten noch viel Zeit
haben, ausführlich über diese Vorschläge zu diskutieren.
Heute war der Auftakt. Ich freue mich auf weitere spannende Debatten.
({3})
Ich erteile das Wort Kollegen Klaus Brandner, SPDFraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Einsicht der Menschen in
Deutschland ist in Bezug auf die Rentenpolitik weiter
gediehen, als die Politik meint. Wir alle freuen uns darüber, dass sich die Lebenserwartung positiv entwickelt
hat. Gleichzeitig aber wissen wir, dass durch diese wunderbare Entwicklung die Rentenlaufzeiten deutlich länger werden und damit Verpflichtungen einhergehen. Wir
haben weniger Kinder und mehr Rentner, die über einen
immer länger werdenden Zeitraum Rente beziehen. Ein
weiterer entscheidender Faktor ist, dass es weniger Beitragszahler und eine Stagnation bei den Löhnen gibt.
Diese Situation erfordert von uns allen Reformbereitschaft und den Willen, diese auch umzusetzen. Populismus und Angstmacherei sind hier die völlig falsche Botschaft; dies dürfen wir den Menschen in unserem Land
nicht vermitteln.
({0})
Lassen Sie mich ganz bewusst sagen: Von einer zunehmenden Altersarmut, von der in diesem Zusammenhang oft genug gesprochen wird, kann hier keine Rede
sein. Die Einkommens- und Vermögenssituation gerade
der Älteren ist vergleichsweise günstig. Seit 1998 ist das
Armutsrisiko für Ältere rückläufig; die Rentenreform hat
dazu beigetragen. Die soziale Grundsicherung, die wir
eingeführt haben, hat ein Übriges geleistet. Ausweislich
des Armuts- und Reichtumsberichts ist das Risiko der
Einkommensarmut für diese Gruppe zwischen 1998 und
2003 von 13,3 Prozent auf 11,4 Prozent gefallen und
liegt damit deutlich niedriger als bei der Gesamtbevölkerung.
Wenn wir uns ernsthaft über dieses Thema unterhalten, müssen wir auch darauf hinweisen, dass für die
Gruppe der 16- bis 24-Jährigen viel eher ein Armutsrisiko besteht. Wenn wir eine wirklich solidarische Gesellschaft gestalten wollen, müssen wir heute die Bedingungen für die jungen Menschen gestalten, damit diese
nicht im Alter von Armut betroffen sind.
({1})
Heute wird die Debatte über die Rente immer im Zusammenhang mit den Ängsten bezogen auf den Arbeitsmarkt geführt. Die Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt
sind heute ungünstig; das kann keiner leugnen. Aber
„Rente mit 67“ ist ein Thema, das uns mindestens
23 Jahre begleitet. Deshalb ist es nicht verantwortungsbewusst, die jetzige Arbeitsmarktsituation zu nutzen und
die Angst der Menschen, die sich auf eine Veränderung
einstellen müssen, zu instrumentalisieren, um sein eigenes politisches Süppchen zu kochen.
({2})
Verantwortungsbewusst ist es vielmehr, daran zu arbeiten, wie der Verbleib in Arbeit und die Bedingungen
bei der Arbeit verbessert werden können. Da haben wir
viel zu tun. Wir wissen, dass die Altersquote in den Betrieben in Deutschland im europäischen Vergleich unterdurchschnittlich ist. Wir wissen, dass die Unternehmen
in der Vergangenheit einen großen Fehler begangen haben, indem sie sich von Fachkräften gelöst haben. Wir
wissen, dass die Gewerkschaften dadurch, dass sie Regelungen mitgetragen haben, die nicht den Verbleib, sondern den Ausstieg aus dem Arbeitsverhältnis - auch
wenn er gut gemeint war - zum Inhalt hatten, den Fachkräftemangel mitverantworten. Wir wissen, dass wir bezüglich der systematischen Weiterbildung große Mängel
in diesem Land haben. Deshalb haben wir Sozialdemokraten zusammen mit der CDU/CSU dafür gestritten,
dass wir dem lebenslangen Lernen im Koalitionsvertrag
ein wesentliches Augenmerk widmen. Wir wollen dies
durch gesetzlich geschützte Lebensarbeitszeitkonten unterstützen, damit Instrumente zur Umsetzung in die Praxis organisiert werden.
({3})
Es muss uns darum gehen, die Qualität der Arbeit zu
verbessern und die Belastungen zu reduzieren. Eine intelligente Zielrichtung kann doch nur sein, die Bedingungen jetzt zu verbessern, statt gesundheitliche Einschränkungen später durch Zulagen auszugleichen. Es
sollte nicht so sein, dass finanzielle Zulagen - sei es im
Tarifgeschehen, sei es im Arbeitsmarktprozess - für Erschwernisse geleistet werden. Wir müssen die Arbeitszeit verkürzen, damit die Belastungen geringer werden,
damit die Zahl der Erwerbsunfähigkeitsrenten sinkt und
damit man gesund und in Würde das Renteneintrittsalter
erreicht.
({4})
Deshalb unterstützen wir Programme, die genau diesen
Prozess organisieren. Eines ist die Initiative „Neue Qualität der Arbeit“.
Ich finde, es wäre des Schweißes der Edlen wert, daran zu arbeiten, gleitende Übergänge aus dem Arbeitsverhältnis wieder zu einem Thema zu machen und zu
vermeiden, dass - im Jahr 2029 - inklusive Überstunden
bis zu einem Alter von 67 Jahren gepowert wird, um
dann auf null zu fahren. 2012 soll der erste Schritt der
Verlängerung der Arbeitszeit um einen Monat stattfinden. Wir haben also Zeit, eine inhaltliche Debatte darüber zu führen und die Voraussetzungen zu schaffen,
damit die Humanität im Arbeitsleben an Bedeutung gewinnt. Das wünsche ich mir statt einer Debatte, mit der
den Menschen Angst gemacht wird, ab 2012 langsam
länger arbeiten zu müssen, damit ein soziales Rentenversicherungssystem erhalten werden kann.
({5})
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 16 a bis 16 d
auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Erich G.
Fritz, Laurenz Meyer ({0}), Dr. Christian
Ruck, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Dr. Ditmar Staffelt, Dr. Sascha Raabe, Dr. Rainer
Wend, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Erfolgreichen Abschluss der laufenden Doha-
Welthandelsrunde bis Ende 2006 sicherstellen
- Drucksache 16/556 -
Vizepräsident Wolfgang Thierse
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gudrun
Kopp, Hellmut Königshaus, Hans-Michael
Goldmann, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der FDP
Multilaterales Handelssystem retten - WTO
stärken
- Drucksache 16/564 -
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Lötzer, Hüseyin-Kenan Aydin, Heike Hänsel,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
LINKEN
WTO-Liberalisierungsrunde stoppen
- Drucksache 16/449 -
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Cornelia Behm, Dr. Thea Dückert,
Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Hongkong als Zwischenschritt einer fairen
und entwicklungsorientierten Welthandelsrunde
- Drucksachen 16/86, 16/572 Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Ditmar Staffelt
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Erich Fritz, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Das Ergebnis der 6. WTO-Ministerkonferenz in Hongkong ist aus Sicht der CDU/CSU-Fraktion
sicherlich nicht ein Gipfel des multilateralen Prozesses,
aber ein zufrieden stellendes Ergebnis. Der WTO-Prozess geht weiter; er ist nicht ins Stocken geraten. Es gibt
die Chance, im Jahr 2006 zu einem Abschluss zu kommen. Das ist eine gute Meldung.
Der Anspruch, die Doharunde abzuschließen und daraus eine Entwicklungsrunde zu machen - sie heißt ja
schließlich Doha-Entwicklungsrunde -, ist in Hongkong
zu einem guten Stück eingelöst worden. Es ist gelungen,
für die ärmsten Entwicklungsländer zoll- und quotenfreien Zugang zu den Märkten der Industrieländer zu
vereinbaren; das ist jedoch noch nicht beschlossen. Es
gibt Zusagen für „Aid for Trade“ und den geplanten Abbau der Baumwollsubventionen. Diese Forderungen sind
in dem Entwicklungspaket zusammengefasst und bringen erhebliche Erleichterungen, sowohl im Verhältnis
zwischen den Industrieländern und den Entwicklungsländern als auch im Rahmen des südlichen Handels, also
zwischen den Entwicklungsländern. Wenn die Schwellenländer in vergleichbarer Weise mitziehen, ist das für
die Entwicklungsländer ein wichtiger Schritt.
Es bleiben viele Hürden. Um tatsächlich zu einem
Abschluss kommen zu können, muss sich bis Ende April
dieses Jahres in den Bereichen Zollsenkung - da geht es
um konkrete Prozentsätze - und Subventionsabbau noch
einiges tun. Alle Beteiligten wissen, dass die Doha-Welthandelsrunde in diesem Jahr abgeschlossen sein muss.
Vielleicht bleibt noch Zeit bis zum Beginn des nächsten
Jahres. Mitte 2007 aber muss sie abgeschlossen sein,
weil die USA dann handelspolitisch nicht mehr handlungsfähig sind.
Als vereinfachte Bilanz der WTO-Ministerkonferenz
in Hongkong könnte man zusammenfassen: Die Europäer haben eine Reihe von Vorleistungen erbracht und
weitere Zusagen gemacht, selbst aber keine Gegenleistung erhalten. Das muss für uns Anlass sein, über die Art
und Weise nachzudenken, wie wir diesen Prozess organisieren. Während andere Länder alles bis zum Schluss
mehr oder weniger im Verborgenen halten und dann mit
geringen Gegenleistungen provozieren, ist bei uns alles
transparent. Wir neigen sogar dazu, noch vor dem Verhandlungssaal unsere eigenen Interessen zu bekämpfen,
nicht nur dadurch, dass wir durch Nichtregierungsorganisationen vor Ort stark vertreten sind und auch noch
solche aus anderen Ländern finanzieren, sondern auch
dadurch, dass wir Kollegen haben, deren wichtigste Aufgabe offensichtlich darin besteht, auf solchen Konferenzen nicht die eigenen Interessen zu vertreten, sondern
die Interessen anderer.
({0})
Diejenigen, die wie ich in diesem Bereich eine kohärente Politik und ein auf Dauer angelegtes Welthandelssystem wollen, in dem ökonomische und soziale Faktoren und Umweltbelange gleichermaßen berücksichtigt
werden, müssen sich im Klaren darüber sein, dass es im
Rahmen der Verhandlungen um die Vertretung von harten Interessen geht. Zudem hat sich die Situation innerhalb der WTO in den letzten Jahren völlig verändert.
Die Gewichte haben sich verschoben. Aber das haben
manche, die auf der Straße und im Internet unterwegs
sind, noch nicht gemerkt.
Es handelt sich nicht mehr um marginale, nicht organisierte und deshalb auch nicht verhandlungsfähige Länder, die am Verhandlungstisch vertreten sind und innerhalb der WTO die Mehrheit bilden. Im Gegenteil: Diese
Länder haben schnell dazugelernt. Sie haben sich zusammengetan - nicht nur zur G-20-Gruppe, sondern,
wenn es um andere Themen geht, auch in anderen Gruppierungen -, ungewöhnlich schnell an Kompetenz gewonnen und sind nun bereit und willens, ihre Interessen
ganz deutlich zu vertreten. Wir müssen das ins Kalkül
ziehen und unsere Interessen genauso klar vertreten.
Die USA haben es vermieden, auf der Konferenz Zugeständnisse zu machen. Dadurch haben sie keine Nachteile erlitten. Aber durch ihre Signale haben sie vielleicht
die Fortsetzung des Prozesses ermöglicht. Nun müssen
sie bis April dieses Jahres deutlich Stellung beziehen:
zur Nahrungsmittellieferung, zur indirekten Subventionierung im Agrarbereich usw. Dann müssen auch die
Vorleistungen, die die Europäer erbracht haben, honoriert werden.
({1})
Die Entwicklungsländer und die Schwellenländer
sind ohne Zweifel die Gewinner der Konferenz. Das
WTO-Entwicklungspaket mit seinen Zusagen im Agrarbereich ist ein deutliches Signal dafür. Man hätte sich
auch ein anderes Ergebnis vorstellen können, aber das ist
bei solchen Verhandlungen immer so. Ich denke, dass
Deutschland bzw. Europa einen wirklich wichtigen Beitrag zur Fortsetzung dieses multilateralen Prozesses geleistet hat. Auf diesen multilateralen Prozess werden
große Hoffnungen gesetzt; denn viele meinen, im Rahmen der WTO in mehrere Themen gleichzeitig Bewegung bringen zu können. Machen wir uns also nichts
vor: Die Frage, ob ein Abschluss dieser Runde erreicht
wird oder nicht, hat ganz wesentlichen Einfluss darauf,
ob die Fortsetzung dieses Prozesses gefährdet ist und er
vielleicht sogar zum Stillstand kommt.
Die Konsequenzen hätten übrigens nicht nur die starken Industrieländer, sondern in zunehmendem Maße
- man muss nur nach Asien schauen - auch die Schwellenländer zu tragen, da ihr Vorgehen bilateral und regional geprägt ist und sie ihr Heil dort suchen, wo sie im
Rahmen von Einzelvereinbarungen Vorteile für sich erzielen können. Dabei handelt es sich um Regelungen,
von denen immer der Stärkere profitiert, weil dort anders
entschieden wird als im multilateralen Bereich und ein
Schutz kleinerer Länder nicht existiert.
Deutschland muss auch weiterhin substanzielle
Marktöffnungen der Schwellenländer und weitere
Liberalisierungen im Bereich der Industriegüter und
Dienstleistungsmärkte einfordern; denn diese Themen
berühren ein Land wie die Bundesrepublik Deutschland,
in dem der Anteil des Exports am Bruttoinlandsprodukt
40 Prozent beträgt, existenziell. Bei allen Neigungen
und allen Bestrebungen, alles zu unterstützen, wodurch
die Entwicklungsländer in den multilateralen Handelsprozess sinnvoll integriert werden, dürfen wir diese Interessen nicht vergessen.
({2})
Ich erteile nun das Wort Kollegin Gudrun Kopp,
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Herren und Damen! Ich finde, wir sollten das Ergebnis der letzten
WTO-Konferenz in Hongkong realistisch einschätzen.
Lieber Kollege Fritz, nach meiner Einschätzung steht die
Doha-Entwicklungsrunde unter keinem guten Stern.
Wenn wir realistisch auf das Ergebnis blicken, können
wir eigentlich nur feststellen, dass das zustande gebrachte Ergebnis ein Minimalergebnis ist. Es ist so eben
gelungen, dass diese Konferenz nicht geplatzt ist, wie
die zuvor in Cancún. Das muss uns alle mit Sorge erfüllen.
Dieser große Tanker WTO mit seinen 150 Mitgliedstaaten und dem Konsensprinzip ist anscheinend nur
noch schwer zu manövrieren. Die Frage ist, wie wir zu
substanziellen Ergebnissen kommen, zu Ergebnissen,
die über das hinausgehen, was sich immer wieder auf einen Agrarpoker - ich glaube, man kann das so nennen reduziert. Sollte es bei den Nachverhandlungen, die dieses Jahr in Genf stattfinden, zu einem wirklich substanziellen Ergebnis kommen, müssen wir überlegen, ob es
wirklich sinnvoll ist, Mammutkonferenzen mit 6 000 Delegierten abzuhalten, ohne dass tatsächlich zum Kern der
Probleme vorgestoßen wird. Immer häufiger sind wir
mit länderspezifischen Egoismen konfrontiert. So kann
es eigentlich nicht weitergehen.
({0})
Es ist notwendig, zu überlegen, wie wir diese multilateralen Handelsbeziehungen stärken können; das muss
unser gemeinsames Anliegen sein. Wir haben heute lesen können, dass wir auch 2005 Exportweltmeister waren mit einem Volumen von mehr als 786 Milliarden
Euro, was verglichen mit 2004 einem Plus von 7,5 Prozent entspricht.
({1})
Das sage ich an all diejenigen gerichtet, die das multilaterale Handelsprinzip in Deutschland immer wieder infrage stellen und es auf die Frage reduzieren: Was nützt
uns das?
Was haben wir als Deutsche, als Europäer von dieser
Konferenz mitgenommen? Ich kann nur sagen: In den
Nachverhandlungen ist eine riesengroße Agenda abzuarbeiten. Es ist zum Beispiel notwendig, transparente
Regeln für Investitionen zu schaffen. Wir müssen im Bereich Good Governance, also bei der Korruptionsbekämpfung, weiterkommen. Wir brauchen dringend niedrigere Zölle, für die Industrieländer genauso wie für die
Entwicklungsländer. Wir brauchen weniger Zollbürokratie. Diese Bürokratie macht in etwa 5 bis 10 Prozent des
gesamten Warenwertes aus. Hier gilt es eine Menge
mehr zu erreichen. Dies gilt auch für die Verhandlungen
über die nicht agrarischen Produkte, NAMA, und bezogen auf TRIPS, wo es um das geistige Eigentum geht.
Das ist für die hoch entwickelten Länder ein ganz wichtiger Punkt.
({2})
Wir müssen auch die weitere Öffnung der Dienstleistungsmärkte dringend voranbringen. Nach meiner
Wahrnehmung haben die Europäer nicht gut verhandelt.
Die Zugeständnisse in der Agrarpolitik, die im Vorfeld
gemacht wurden - bei der Reform der Zuckermarktordnung und in vielen anderen Bereichen -, waren auf der
Konferenz nichts mehr wert. Die Europäer haben nicht
so verhandelt, dass dies ein Pfund hätte werden können.
Genauso verhält es sich mit dem Ende der Agrarsubventionen. Ich habe festgestellt, dass die europäische Verhandlungsführung es versäumt hat, eine nach innen und
außen tragfähige Kommunikations- und Verhandlungsstrategie aufzubauen.
({3})
Lieber Herr Kollege Fritz, das konnten Sie heute nicht
sagen, aber vielleicht sehen auch Sie es so: Es reicht
nicht, dass unsere deutschen Minister auf Stippvisite zu
solchen Konferenzen kommen und nicht bis zum Ende
bleiben, wenn die Verhandlungen tatsächlich wichtig
werden. Es darf nicht sein, dass unser Minister bei Handelsministertreffen nicht an Bord ist.
({4})
Das ist gegenüber den Verhandlungspartnern ein Zeichen dafür, dass das Interesse nicht wirklich vorhanden
ist.
Wir als FDP legen Wert auf eine Stärkung des multilateralen Handelssystems. Wir werden alles dafür tun, es
auch in Zukunft zu unterstützen.
Herzlichen Dank.
({5})
Ich erteile das Wort Kollegen Ditmar Staffelt, SPDFraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Zunächst möchte ich festhalten, dass gerade
Deutschland mit seinen Interessen im Bereich der Weltwirtschaft gehalten ist, alles nur Erdenkliche und in seiner Macht Stehende zu tun, um möglichst viele Länder
dieser Erde in die WTO aufzunehmen und sie sukzessive
in die WTO-Standards einzufügen. Man überlege sich
einmal, welchen Kraftakt es bedeutet hat, China in die
WTO zu bringen und es jetzt an die Vorgaben heranzuführen, die es in der WTO gibt. Ich erinnere hier nur an
das leidige Thema „Intellectual Property“, das uns bei
jeder Reise nach China, bei jedem Gespräch mit den
Verantwortlichen in China sowohl im Bereich der Wirtschaft als auch im Bereich der Politik beschäftigt.
Ein Land wie Deutschland, das wiederum - Sie haben
es richtig gesagt - an der Spitze der Exportnationen dieser
Welt steht, muss natürlich bei aller Verantwortung für die
Entwicklungsländer auch schauen, dass es seine Interessen gegenüber den anderen Industrienationen innerhalb
der EU, die mit dem Verhandlungsmandat ausgestattet
sind, aber auch gegenüber den USA und zunehmend auch
gegenüber den so genannten Schwellenländern gut vertritt.
Wenn wir hier von Schwellenländern sprechen, dann
müssen wir sehen, dass sie sehr ambivalent definiert
sind.
({0})
China ist ein Schwellenland. China ist aber gleichzeitig
auf dem Weg zu einer umfassenden, wirtschaftlich hoch
aggressiven Macht. China ist mittlerweile mit sehr viel
mehr Potenzialen ausgestattet, als es bei uns möglich ist.
Im Übrigen agiert es noch auf der Plattform eines politischen Systems, das diesem Land Möglichkeiten eröffnet,
die in den Ländern, die demokratisch strukturiert sind,
undenkbar wären.
Machen wir uns nichts vor - auch das ist hier angedeutet worden -: Deutschland muss seine Rolle finden,
weil sich die Kräfteverhältnisse in der Welt im ökonomischen Bereich im Moment erheblich verändern. Hier
sind wir, glaube ich, gut beraten, unsere Ansprüche zu
formulieren. Die liegen eben auch im Bereich der Industrieproduktion und im Bereich der Dienstleistungen,
die wir in das Geschehen der WTO einbringen müssen.
({1})
Das alles heißt nicht, dass es nicht auch eine besondere Verantwortung für die Entwicklungsländer gibt
- das will ich hier ganz ausdrücklich unterstreichen -,
insbesondere für die ärmeren Entwicklungsländer. Es
kann und darf nicht sein, dass alle Limits aufgegeben
werden und damit diesen Entwicklungsländern die
Chance genommen wird, überhaupt erst eigene Strukturen aufzubauen.
({2})
Dies müssen wir meines Erachtens respektieren. Ich
sage das auch aus einer ökonomischen Vernunft heraus,
weil nur der dauerhaft ein guter Partner sein kann, der
eigene ökonomische Ressourcen entwickelt und der damit ein wirklicher Handelspartner unseres Landes oder
der Europäischen Union wird.
({3})
Sie haben Recht: Das, was erreicht worden ist, ist
noch nicht das, was wir uns alle vorstellen, aber es ist
doch ein wichtiger weiterer Schritt in die Richtung getan
worden, den Entwicklungsländern den Zugang zu den
europäischen Märkten zu verschaffen. Insbesondere bezogen auf landwirtschaftliche Produkte sei hier angemerkt: Deutschland hat sich bei den Partnern in Frankreich, in Italien und in Spanien, also den Ländern, die
über große landwirtschaftliche Kapazitäten verfügen,
dafür stark gemacht, dass in Europa die Toleranz gegenüber der Einführung der Produkte aus den Entwicklungsländern nach Europa größer wird.
Wann immer wir in der vergangenen Wahlperiode in
den Ländern unterwegs waren, habe ich selbst darauf
verwiesen, dass sie mit Deutschland einen Partner haben, der ihr Interesse respektiert, eigene Produkte in die
Europäische Union einzubringen, was insbesondere für
die Ärmeren auch zugangs- und zollfrei geschehen soll.
Ich finde, hier spielt Deutschland eine wichtige Rolle.
({4})
- Ich werde Ihnen sagen, was wir dafür bekommen. Das
ist auch das Anliegen, das ich eingangs ansprach: Selbstverständlich wollen wir damit auch erreichen, dass die
Schwellen bzw. Hürden in den genannten Bereichen Industrieproduktionen und Dienstleistungen weiter gesenkt werden. Ich habe es so verstanden, dass darum
nicht nur in den letzten Jahren, sondern auch bei letzter
Gelegenheit in Hongkong gestritten worden ist.
Ich finde jedenfalls, dass dieser Weg, hier eine gewisse Balance zu finden, richtig ist, wobei ich noch
einmal betone: Es stellt sich die Frage, wer ebenso belastbar ist, wie wir es sein könnten, und wer es nicht ist.
Deshalb geht es hier immer auch um ein sehr differenziertes Bild, das sich je nach dem Entwicklungsstand
einzelner Länder, mit denen wir innerhalb der WTO über
Vorzugskonditionen - so nenne ich es einmal - wegen
ihrer noch nicht entsprechenden strukturellen Entwicklung reden, ständig ändern muss.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, in diesem
Zusammenhang will ich auch noch einmal ein Wort zu
Ihrem Ausdruck „der große Tanker WTO“ sagen. Die
Alternative wäre ein Sammelsurium bilateraler Abkommen, bei dem jeder in dieser Welt täte, was er wollte,
ohne dass es die entsprechenden Auflagen gäbe, Bürokratie abzubauen, in die Richtung von Good Governance
zu gehen und insbesondere auch gegen Korruption und
für Transparenz einzutreten. Wenn ich sehe, was alleine
im Bereich der deutschen Entwicklungshilfe auf diesem
Wege getan wird, dann muss ich sagen, dass das eine
ganz hervorragende Arbeit ist, die nur denkbar ist, weil
wir den Fuß auch über die WTO und nicht nur über bilaterale Abkommen der Bundesrepublik Deutschland mit
diesen Ländern in der Tür haben.
Die internationale Staatengemeinschaft spielt auch im
Bereich der Weltwirtschaft eine ganz wichtige und, wie
wir alle hoffen, auf Dauer auch demokratisierende Rolle:
Soziale Marktwirtschaft und Demokratie gemeinsam
müssen dazu führen, dass auch in diesen Ländern Prosperität möglich wird. Dazu wollen wir allesamt einen
wichtigen Beitrag leisten.
Ich betone an dieser Stelle noch einmal ganz ausdrücklich: Wir wünschten uns, dass sich auch unsere
amerikanischen Freunde mal ein bisschen stärker auf
den Weg machen würden. Das, was wir bei der Baumwolle erleben, ist eben auch wieder nur ein kleiner
Schritt in die richtige Richtung. Man muss ein befreundetes Land mit einer solchen Verantwortung, wie es die
Vereinigten Staaten von Amerika darstellen, immer
wieder beim Portepee fassen und sagen: Leute, ihr könnt
Dritten nicht immer die ganz hohen Standards abfordern
und selbst minimalistisch nur das tun, was in eurem Interesse liegt. - Das kann nicht die Politik eines so großen
Landes in dieser Welt bleiben. Hier brauchen wir Bewegung.
({5})
Reden wir mal gar nicht über die Vorbildfunktion der
Amerikaner in Sachen Klimaschutz. Wenn ich mir das
ansehe, frage ich mich, wie ich einem kleineren Entwicklungsland eigentlich vermitteln soll, dass es von
großer Bedeutung ist, etwas für das Klima und den Umweltschutz zu tun, während sich der große Vorzeigemeister in allen Bereichen an nichts hält und das genaue
Gegenteil dessen tut, was von den übrigen großen Staaten und Industrienationen dieser Welt getan wird.
({6})
Das muss klar gesagt werden. Unter Freunden lässt sich
vieles noch klarer aussprechen als gegenüber Staaten, zu
denen wir ein schwierigeres Verhältnis haben.
({7})
Klaus Uwe Benneter meint, wenn ich das als Kind des
amerikanischen Sektors von Berlin sage, dann will das
etwas heißen.
In jedem Fall sind das Schritte in die richtige Richtung gewesen. Wir alle freuen uns, dass wir schon im
letzten Jahr beim TRIPS-Abkommen zu Ergebnissen
gekommen sind. Auch das ist ein entscheidender Punkt.
Die Orientierung auf „Everything but arms“ ist ein genauso wichtiger Fixpunkt in der weiteren Entwicklung.
Wir haben also schon Pflöcke eingeschlagen, wenn wir
auch noch nicht die Ziele erreicht haben, die wir uns alle
wünschen.
Aus der Sicht der Wirtschaftspolitiker unserer Fraktion sage ich: Wir dürfen bei aller Verantwortung für die
Staaten der Dritten Welt nicht vergessen, dass bei allem,
was mit WTO und Export zu tun hat, unsere Arbeitsplätze und unsere Interessen betroffen sind. Dafür müssen wir in einer geeigneten Weise offensiv eintreten. Ich
glaube, dafür hat jeder in der Welt Verständnis. Jedenfalls sollten wir die WTO nicht schlechtreden, sondern
wir müssen all unseren Verstand, unser Geschick und
auch all unsere Anerkennung in der Welt einbringen,
hier als eine treibende Kraft in die richtige Richtung weiterzumachen.
Schönen Dank.
({8})
Ich erteile das Wort Kollegen Hüseyin Aydin, Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kollegen und Kolleginnen! Nach den Zahlen der UNOrganisation für Landwirtschaft und Ernährung, FAO,
leiden in der Welt mehr als 850 Millionen Menschen an
chronischer Unterernährung. Jährlich sterben bis zu
30 Millionen Menschen an Hunger und dessen Folgen.
Hinter diesen Zahlen verbirgt sich unbeschreibliches
Leid; darin sind wir uns hoffentlich einig. Doch worin
findet es seine Ursachen? Fallen die Hungernden Missernten und Heuschreckenplagen zum Opfer? Die Antwort lautet in aller Regel: Nein!
Tatsache ist, dass heute nicht einmal 10 Prozent der
Hungernden in so genannten Katastrophengebieten leben. Es ist die Armut, die tötet. Über die Hälfte der
Weltbevölkerung lebt von weniger als 1,72 Euro pro
Tag. Es gibt genug Nahrungsmittel auf der Welt. Aber zu
viele Menschen haben schlichtweg nicht das Geld, um
sie sich kaufen zu können. Nein, die Hungertoten fallen
nicht Naturkatastrophen zum Opfer. Ihr Elend hat einen
Namen: Kapitalismus.
({0})
Nehmen wir das Beispiel Niger, wo im vergangenen
Jahr der Hunger grassierte. Uns wurde erzählt, eine Heuschreckenplage sei daran schuld gewesen. In Wirklichkeit betrug der Ernteausfall gerade einmal 11 Prozent.
Doch diese Verknappung reichte aus, um die Preise für
das Getreide in die Höhe zu treiben. Die Grundnahrungsmittel wurden für viele Einwohner unerschwinglich. Folge: Das Getreide wurde in das benachbarte Nigeria exportiert, wo die Kunden die höheren Preise
zahlen konnten. Das ist die Logik des freien Marktes.
Diese Logik hat eine Kehrseite. Dem unbeschreiblichen Elend steht ebenso unbeschreiblicher Reichtum gegenüber. Die drei reichsten Personen verfügen über mehr
Reichtum als alle afrikanischen Länder südlich der Sahara zusammen. Ein Ölmulti wie BP macht einen Jahresumsatz, der hundertmal höher ist als der Staatshaushalt
des Ölförderlandes Tschad. Die neoliberale Globalisierung treibt den Gegensatz zwischen Arm und Reich auf
der Welt in immer obszönere Dimensionen.
Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung hat die so genannten Millenniumsziele zu seinem Leitmotiv erklärt. Das ist gut
so. Dafür werden sie unsere Unterstützung bekommen.
Ein Millenniumsziel ist die Halbierung von Hunger
und extremer Armut bis zum Jahr 2015. Leider sind wir
aber zehn Jahre, nachdem die FAO dieses Ziel zum ersten Mal formuliert hat, nicht weitergekommen. Im Gegenteil: Seit 1995 hat sich nach Angaben der FAO die
Zahl der Hungernden um weitere 28 Millionen Menschen erhöht. Diese Tatsache wirft einen dunklen Schatten auf die bestehende Welthandelsordnung. Die WTO
besteht seit zehn Jahren, aber der Hunger nimmt weiter
zu. Dieser Zusammenhang ergibt sich aus der Rolle, die
die WTO bislang spielt. Die WTO ist ein System, in dem
Länder gezwungen werden, Mechanismen zum Schutz
der heimischen Wirtschaft abzubauen. Die Wirkungen
sind verheerend.
Nehmen wir etwa das Beispiel Burkina Faso. Burkina Faso hat seine Zölle auf Milchprodukte auf
5 Prozent gesenkt. Das hat zu dem Ergebnis geführt,
dass die einheimische Landwirtschaft gegenüber dem
exportsubventionierten Milchpulver aus Europa nicht
mehr konkurrenzfähig ist. Obwohl 10 Prozent der Bevölkerung von Burkina Faso Milchviehhirten sind, trinkt
die Bevölkerung in der Hauptstadt Ouagadougou nur
noch Milch aus dem Pulver von Nestlé, Cowbell oder
anderen Multis.
Das ist gut für die Profite der großen Konzerne, aber
es vernichtet die Existenzgrundlage der afrikanischen
Viehhirten. Die einzige Lösung besteht darin, den Zoll
auf Milchprodukte dort wieder anzuheben.
In Kenia etwa werden auf Milcheinfuhren und andere
agrarische Produkte Zölle in Höhe von 60 Prozent erhoben. Doch was fordert die laufende WTO-Runde? Entwicklungsländer wie Kenia haben bei landwirtschaftlichen und nicht agrarischen Gütern eine pauschale
Zollsenkung vorzunehmen.
Die Bundesregierung will uns weismachen, derzeit
verhandele man eine Entwicklungsrunde. Was für eine
Farce! Die vorliegenden Anträge der Regierungsparteien
- von der FDP ganz zu schweigen - wiederholen in monotoner Weise die alte Leier: Marktöffnung, Privatisierung und Freihandel würden den Entwicklungsländern
nützen.
Der Punkt ist: Selbst im reichen Europa zerrüttet
diese Politik den Sozialstaat und verschärft die Armutsprobleme.
({1})
In Afrika zerstört diese Politik Menschenleben.
Nur der Antrag der Linksfraktion macht deutlich, dass
die ganze Richtung der Welthandelspolitik falsch ist. Die
Grünen sagen, die WTO-Ministerkonferenz von Hongkong solle ein Zwischenschritt zu einer fairen und entwicklungsorientierten Welthandelsrunde sein. Bei allem
Respekt, liebe Kollegen: In welcher Welt leben wir?
In Hongkong ging es um wirtschaftliche Interessen
und Absatzmärkte. Entwicklungspolitik ist mit der gegenwärtigen Welthandelsrunde unvereinbar. Sie muss
gestoppt werden.
({2})
Wir als Linke sind mit dieser Meinung nicht allein.
Ich war zusammen mit anderen Kollegen der Linksfraktion beim Weltsozialforum in Caracas. Wir wurden dort
Zeuge einer anderen Form der Globalisierung, nämlich
der Globalisierung von unten. In seiner Abschlusserklärung verurteilte das Weltsozialforum die WTO-Konferenz von Hongkong als einen Schritt zu einer umfassenden Liberalisierung der Märkte.
Der antineoliberale Widerstand, der 1999 in Seattle
das erste Mal eine WTO-Konferenz zum Scheitern
brachte, trägt Früchte. Die Bewegung ermutigt die ärmsten Länder, sich nicht jedem Diktat der großen Mächte
zu beugen. Der Beschluss von Hongkong, die europäischen Exportsubventionen auslaufen zu lassen, ist ein
Erfolg der globalisierungskritischen Bewegung. Auch
das müssen Sie zur Kenntnis nehmen.
Die bitteren Pillen, die das Freihandelsregime der
WTO den armen Ländern verschreiben will, sind weltweit längst als Verarmungsprogramm durchschaut worden. In Mali wurde das Wassersystem Gott sei Dank
wieder verstaatlicht. In Burkina Faso wurde die Zerschlagung des staatlichen Eisenbahnwesens abgewendet.
Auch das ist gut. Auf diesen Erfolgen bauen wir auf.
Zusammen mit der außerparlamentarischen Bewegung - auch wenn Sie sie geißeln - gilt es nun, die von
der WTO geforderte pauschale Absenkung der Zölle in
den Entwicklungsländern zu stoppen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Kollege Aydin, das war Ihre erste Rede. Herzlichen
Glückwunsch dazu und alles Gute für Ihre Arbeit.
({0})
Ich erteile nun das Wort Kollegen Thilo Hoppe, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
bin mit einigen von Ihnen gemeinsam auf der WTOKonferenz in Hongkong gewesen. Trotz aller politischen
Unterschiede herrschte in der Delegation eine angenehme, kollegiale Atmosphäre. Doch wenn ich nun die
Reden höre und die Anträge lese, dann frage ich mich,
ob wir auf der gleichen Konferenz gewesen sind. Keine
Frage, es hat in Hongkong Licht und Schatten gegeben.
Es gab kleine Ergebnisse. Einige der Ergebnisse gehen
unserer Meinung nach in die richtige Richtung, zum Beispiel das definitive Auslaufen der Agrarexportsubventionen, leider erst bis 2013. Aber sehr viele Probleme sind
gar nicht gelöst, sondern sind nur vertagt worden und
werden nun unter enormem Zeitdruck in Genf auf die
Tagesordnung kommen. Dort droht durchaus Chaos,
weil der Zeitrahmen sehr eng ist.
An die Adresse derjenigen, die die Rolle der Europäischen Union und der Bundesregierung sehr positiv
dargestellt haben, sage ich: Ihnen wird doch nicht entgangen sein, dass in fast allen Statements der Vertreter
aus den Entwicklungs- und Schwellenländern die Europäische Union auf die Anklagebank gesetzt wurde. Die
EU ist - teils zu Unrecht, teils aber auch zu Recht - in
die Schusslinie geraten, weil sie das, was sie ohnehin
aufgrund von WTO-Schiedsgerichtsurteilen tun muss,
nämlich ihre Agrarexportsubventionen abzubauen, in einen Verhandlungschip ummünzen wollte nach dem
Motto „Okay, als Vorleistung bauen wir unsere handelsverzerrenden und ungerechten Agrarexportsubventionen ab, aber wir machen das nur - die Frage, was wir
dafür bekommen, wurde ja auch hier gestellt -, wenn ihr,
die Entwicklungs- und Schwellenländer, im Gegenzug
dazu bereit seid, eure Zölle im Dienstleistungs- und Industriegüterbereich abzubauen.“ Genau diese Verhandlungstaktik, also das, was man sowieso tun muss, wozu
man bereits verurteilt ist und was sich durch nichts rechtfertigen lässt, zu einem Verhandlungschip, einem Hebel
bzw. - noch drastischer ausgedrückt - einer Brechstange
zu machen, um eine sehr weit gehende Liberalisierung in
anderen Bereichen zu erzwingen, ist in nahezu allen
Statements der Vertreter der Entwicklungs- und Schwellenländer zu Recht sehr scharf verurteilt worden.
Wir Grüne hatten als einzige Fraktion bereits vor der
Konferenz in Hongkong einen Antrag eingebracht. Der
erklärende Teil ist nun natürlich nicht mehr aktuell, wohl
aber - leider - die von uns erhobenen Forderungen. Inzwischen haben auch alle anderen Fraktionen Anträge
bzw. einen gemeinsamen Antrag eingebracht. Wenn man
die Anträge - quasi wie im Rahmen einer Synopse miteinander vergleicht, dann stellt man fest, dass besonders der FDP-Antrag aufgrund seiner Radikalität - das
muss man Ihnen lassen - aus dem Rahmen fällt. Man
könnte ihn auf den einfachen Nenner bringen: Der Markt
löst alle Probleme; je mehr Freihandel, desto besser sowohl für den Exportweltmeister Deutschland als auch
für die Armen auf der Welt.
({0})
- Wie ich an Ihrem Beifall sehe, habe ich Ihren Antrag
richtig verstanden. - Es grenzt schon an so etwas wie
eine Behauptungstheologie, ein Begriff aus dem kirchlichen Bereich, wenn man einfach schreibt:
Alle empirischen Untersuchungen belegen: Die
Öffnung eigener Märkte führt zu mehr Wohlstand,
Bildung, Gesundheit und Rechtssicherheit.
Ich kenne viele andere Untersuchungen - unter anderem
der UNCTAD -, die zu ganz anderen Schlussfolgerungen und zu einer sehr viel differenzierteren Sichtweise
kommen. Ich selber habe mehrere Länder bereist, die
sich aufgrund vorschneller, übereilter und undifferenzierter Marktöffnung selber in den Ruin getrieben haben,
wie Haiti, Sambia und - das Beispiel wurde schon genannt - Niger.
Im Antrag der Linkspartei werden viele Probleme
und Schattenseiten der Liberalisierung zutreffend beschrieben. Aber dort fällt man nun wieder auf der anderen Seite vom Pferd und stellt unterschwellig grenzüberschreitenden Handel in einer globalisierten Welt unter
den Generalverdacht, schädlich für die armen Länder
dieser Welt zu sein.
Die Koalition bemüht sich in ihrem Antrag um Differenzierung. Er enthält in der Tat viele Forderungen, die
wir unterschreiben könnten. Aber die Koalition umschifft sehr elegant die Klippen vieler Interessenkonflikte.
({1})
- Ich weiß nicht, ob das eine Kunst ist. - Auch hier wird
einfach eine Behauptung in die Diskussion geworfen.
Für die Wirtschaftspolitiker steht in dem Antrag, dass
die Interessen Deutschlands als Exportweltmeister - wir
haben erst gestern vernommen, dass Deutschland wieder
einen neuen Exportrekord aufgestellt hat; die Exporte
sollen noch weiter gesteigert werden - ohne Probleme
mit den Millenniumszielen, mit der Bekämpfung von
Armut und Hunger, in Einklang zu bringen seien. Das
passe alles zusammen und da würden sich überhaupt
keine Widersprüche ergeben. Das ist Schönfärberei, das
ist die Soße der Harmonisierung. Das ist eine sehr gute
Forderung, aber das passt nicht wirklich zusammen.
Es ist ehrlich - das tun wir auch -, über deutsche
Interessen zu sprechen, etwa über die Vereinfachung
sehr bürokratischer und sehr kostspieliger Zollverfahren.
Das ist für alle Seiten von Vorteil. Aber wenn wir es
wirklich mit den Millenniumszielen ernst meinen und
diese nicht nur in Sonntagsreden betonen - Halbierung
der Zahl der extrem Armen und der Hungernden -, dann
müssen wir auch über aufholende Entwicklung reden.
Dann kann der Exportweltmeister nicht auf allen Gebieten Ehrgeiz entfalten und in alle Gebiete expandieren.
Dann darf man auch nicht der Schweizer allgemeinen
Zollreduzierungsformel das Wort reden, laut der überall radikal die Zölle gesenkt werden sollen. Man räumt
zwar Ausnahmen für die LDCs, die allerärmsten Länder,
ein. Aber gerade bei Ländern wie zum Beispiel Kenia,
die gerade nicht mehr zu diesen allerärmsten Ländern
gehören, würde es zur Deindustrialisierung führen, wenn
man die radikale Schweizer Zollsenkungsformel anwenden würde. Ich bitte daher um eine differenzierte Sichtweise und warne vor der Soße der Harmonie.
Im Gegensatz zu den radikalen Gegnern der WTO,
die den ganzen Prozess stoppen und die WTO zerschlagen wollen, und zwar in einem Moment, in dem sich die
Entwicklungsländer zur G 110 zusammenschließen und
dieses Forum nutzen, um mehr Einfluss zu gewinnen,
wollen wir, dass die WTO grundlegend reformiert
wird. Sie muss sich von dem viel zu einseitigen Liberalisierungsdogma und dem Freihandelsprinzip, das nicht
differenziert, befreien. Sie sollte sich viel stärker mit
dem UN-System verzahnen, mit den Institutionen, die
die soziale und ökologische Dimension der Globalisierung regeln wollen. Sie muss dem Leitbild - da könnte
man sich treffen - einer ökologischen und sozialen
Marktwirtschaft folgen. Dazu brauchen wir aber einen
viel stärkeren Ordnungsrahmen. Den setzt die WTO zurzeit nicht. Sie folgt einseitig einem Liberalisierungsdogma.
({2})
Sie müsste stärker mit den anderen UN-Organisationen
verzahnt werden, mit der UNCTAD, der ILO und mit
den internationalen Umweltabkommen. Dann würde
man nicht einer Liberalisierung per se folgen, sondern
einer sozialen und ökologischen Marktwirtschaft, einer
Globalisierung mit menschlichem Antlitz. In diese Richtung geht unser Antrag. Ich bitte Sie um Zustimmung.
({3})
Das Wort hat der Kollege Dr. Georg Nüßlein, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Tatsache, dass die Medien nach den WTOVerhandlungen in Hongkong insbesondere in den Vordergrund gestellt haben, dass diese Verhandlungen nicht
gescheitert sind, zeigt, wie schwierig das Ganze ist. Es
handelt sich in der Tat um eine Politik der kleinen
Schritte.
({0})
Das ist etwas, was bei uns in der großen Koalition nichts
Neues ist.
Wir haben auf diese Art und Weise die Chance auf einen erfolgreichen Abschluss der Doha-Welthandelsrunde gewahrt. Wir bewegen uns in einem Spannungsverhältnis - das ist heute schon dargestellt worden zwischen Entwicklungspolitik, Landwirtschaft, Industrie
und Dienstleistungen. Bisher ging es schwerpunktmäßig
immer um die Frage, wer sich als erster bewegt und wer
in Vorleistung geht. Deshalb ist es ein kluger Schritt,
dass bei dem Ministertreffen in Davos vereinbart
wurde, simultan über Agrarhandel sowie über Industriezölle und Dienstleistungen zu sprechen.
({1})
Das ist der Ansatzpunkt, um das strikte do ut des zurückzustellen und das Ganze vielleicht etwas zu befördern.
Nun sage ich aber auch in Richtung der Opposition:
Man macht es sich zu einfach, wenn man die Präsenz der
Minister und das Auftreten der Deutschen kritisiert.
Wir könnten gern auch eine Debatte über unsere Verhandlungskompetenz führen oder darüber, wie wir aufgestellt sind: an dieser Stelle europäisch. Vielleicht hat
unsere Nation schon viel zu viele Themen aus der Hand
gegeben. Aber das wäre eine andere Debatte. Ich bin der
Überzeugung, dass sich die EU an diesem Punkt entscheidend bewegt hat. Was sich im Bereich der Landwirtschaft getan hat - der Abbau von Exportsubventionen bis zum Jahr 2013 -, ist ebenfalls kein einfacher
Schritt. Man muss sehen, dass unsere Landwirte natürlich einen Anspruch auf Planungssicherheit haben.
Ich komme auf das Thema „Exportinteressen und Exportnation Deutschland“ zu sprechen. Als Entwicklungspolitiker bitte ich, primär nach der entwicklungspolitischen Weiterentwicklung zu fragen. Es geht nicht
darum, dass die armen Länder ärmer und die reichen
Länder reicher werden; vielmehr müssen wir das Wohlstandsgefälle, das auf dieser Welt besteht, im Auge behalten. Das muss auch ein Anliegen der WTO sein.
({2})
Dieses Wohlstandsgefälle gefährdet den Frieden. Entwicklungspolitik ist in diesem Zusammenhang eine
Frage der politischen Vernunft, eine Frage der Sicherheitspolitik und ein Thema für jeden Christen.
Ich war vor kurzem mit Kollegen in Washington
und habe dort den Eindruck gewonnen, dass sich die
US-Entwicklungspolitik tatsächlich in unserem Sinne
bewegt. „Staaten statt Brunnen“, „Samen statt Brot“, mit
diesen Schlagworten kann man das umschreiben, was
sich da tut. Ich hoffe, dass den Worten dann auch Taten
folgen: dass auf bloße Lebensmittelhilfen, die dem Abbau von Überschüssen dienen, verzichtet wird. Ich hoffe,
dass auch im Rahmen der US-Baumwollpolitik konsequent gehandelt wird, sodass Exportsubventionen und
Anbausubventionen abgebaut werden. Dieses Thema ist
von zentraler Bedeutung für Afrika und für Schwellenländer wie Brasilien und Indien.
Natürlich müssen die Schwellenländer im Gegenzug
ihre Märkte öffnen. Dabei tragen sie Verantwortung für
die Entwicklung anderer. Was die ärmsten Länder angeht, so muss man bei der Liberalisierung differenziert
vorgehen. Man muss aufpassen, dass man die zarten
Pflänzchen, die sich entwickeln, nicht durch eine Liberalisierung des Marktes zerstört, und darauf achten, dass
sich die wirtschaftliche Entwicklung in den LDCs sinnvoll vollzieht. Das muss das zentrale Anliegen der Entwicklungspolitik sein, der eine wohl überlegte und ausgewogene Marktliberalisierung durchaus gut tut.
Mit dem, was man gewinnt, muss man einen Beitrag
zur Reduzierung von Armut leisten. Das gelingt nur
dann, wenn man darauf dringt, dass Sozial- und Umweltstandards eingeführt werden und dass so etwas wie ländliche Entwicklung stattfindet. Dabei geht es um die so
genannte Stadt-Land-Verteilung: In den entsprechenden
Ländern tut sich in den Städten, was Armutsbekämpfung
angeht, leider mehr als auf dem Land. Good Governance, so lässt sich zusammenfassen, ist der entscheidende Ansatzpunkt für die Entwicklungspolitik der Zukunft.
Noch einen Satz zum Kollegen Aydin von der linken
Seite, den ich vorhin zwar gehört, aber nicht vollständig
verstanden habe. - Mir hat vor kurzem jemand die reichlich naive Frage gestellt: Sind Sie eigentlich für oder gegen die Globalisierung? - Ich habe ihm mit einer Gegenfrage geantwortet: Sind Sie eigentlich dafür oder
dagegen, dass die Zeit voranschreitet?
({3})
Die Realitätsverweigerung, die da links stattfindet,
schlägt sich auch in Ihrem Antrag „WTO-Liberalisierungsrunde stoppen“ nieder. Es gibt an der Stelle keine
Alternativen. Die wirtschaftspolitischen Ansätze und die
Kompetenz dieser Seite kennen wir zur Genüge; wir haben sie beim Scheitern der DDR am Schluss erlebt.
({4})
- Nein, nein, hier geht es um etwas anderes.
({5})
- Ja, gut. „SED-Nachfahren“ sage ich an der Stelle.
Wenn man sich vor Augen führt, was von dort gerade
zum Thema Weltwirtschaft vorgetragen worden ist, kann
man auch nichts anderes sagen als: Das ist der Rückschritt in den Sozialismus, nichts anderes.
({6})
Den haben Sie hier heute gefordert. Offenbar meinen Sie
es auch wirklich so.
Im Übrigen würde die Kolleginnen und Kollegen
auch interessieren, Herr Aydin, was auf Ihrem Schal
steht. Wir wissen nicht, ob das eine Provokation sein
soll.
Wir müssen einen Weg suchen, mit der Globalisierung umzugehen, sodass möglichst viele davon profitieren und damit leben können. Dafür ist die WTO ein entscheidender Ansatzpunkt, zu dem es keine Alternative
gibt.
Vielen Dank.
({7})
Nächster Redner ist der Kollege Hellmut Königshaus,
FDP-Fraktion.
({0})
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Schon gestern Abend hat uns der Antrag der
großen Koalition zur Doha-Runde erreicht. Diejenigen,
die so Anträge stellen, würde man in der Kirche - um es
mit dem Kollegen Hoppe zu sagen, der das auf eine theologische Ebene gehoben hat - „Spätberufene“ nennen.
Die inhaltliche Bewertung hat uns heute Morgen der
Kollege Meyer gegeben. Er hat gesagt, gute Anträge erkenne man daran, dass der zuständige Minister da sei.
Sie können daran also die Bewertung Ihres eigenen Antrags erkennen. Auch der Kollege Meyer, der in dem Antrag als Zweiter genannt ist, ist nicht da. Sie können daran sehen, wie tief Sie das Thema auch inhaltlich schon
durchdrungen haben.
({0})
Zur Sache selbst steht auch nichts Neues darin. Ein
bisschen findet sich zur Agrarwirtschaft. Es ist positiv,
dass auch Sie das erkennen. Das unterscheidet Ihren Antrag von den Anträgen der anderen Fraktionen.
Die Grünen schreiben in ihrem Antrag, Handelsliberalisierung sei kein Selbstzweck. Jawohl! „Heureka!“
will man rufen; endlich haben sie begriffen, dass es kein
Selbstzweck ist. Aber sie haben es nicht begriffen. Sie
haben insbesondere nicht begriffen, dass Handelsliberalisierung die Voraussetzung für jeden Fortschritt, für die
Entwicklung und auch für Wohlstand ist.
({1})
Was war die Grundlage dafür, dass wir, nachdem das
Land am Boden lag, wieder Wohlstand errungen haben?
Das war die damalige Welthandelsliberalisierung, von
der wir ganz besonders profitiert haben, indem wir die
Volkswagen exportieren konnten usw. Davon leben und
profitieren wir bis heute.
({2})
Das Gegenteil dieser globalisierungskritischen Thesen
ist also richtig. Die Öffnung eigener Märkte führt zu
Wohlstand, Bildung, Gesundheit und Rechtssicherheit,
und zwar überall auf der Welt, auch und gerade in den
Entwicklungsländern.
Wenn ich das richtig verstanden habe, Herr Kollege
Aydin, möchte die Linke offenkundig den Welthandel
gleich ganz einstellen,
({3})
um, wenn ich das einmal zitieren darf, „Importfluten“ zu
verhindern. Entwicklungsländer, so sagen Sie, bräuchten
die Zölle, um sich durch die Einnahmen zu finanzieren.
Dazu kann ich nur sagen: Heilige Einfalt! Um wie viel
höher wären denn die Einnahmen dieser Länder, wenn
sie auf solche Zölle verzichteten und sich endlich dem
freien Handel öffneten, und zwar auch zwischen den
Entwicklungsländern? Alles dies sagen Sie nicht.
({4})
Interessant ist auch, dass nach Ihrer Analyse vom
Welthandel offenbar überhaupt niemand mehr profitiert,
sondern langfristig alle verarmen. Da fehlen einem
schon die Worte. Früher hatten Sie in Ihrem Weltbild
wenigstens noch Schurken. Jetzt haben Sie nur noch
Deppen. Das ist wirklich unter Ihrem ideologischen Niveau, meine Damen und Herren.
({5})
Auch die Grünen sind sehr apart. Sie fordern, Handelshemmnisse abzuschaffen - das finde ich sehr nett -,
aber nur für Umwelttechnologie und Umweltdienstleistungen. Warum eigentlich nur dort? Überall - das ist das
Gebot der Stunde - müssen wir den Freihandel verstärken.
Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. - Wir meinen, dass für den Handel freie Bahn geschaffen werden
soll. Damit ermöglichen wir Wohlstand und Prosperität,
nicht durch Gängelei und kleinlichen Aufbau von Handelshemmnissen.
Vielen Dank.
({6})
Nächster Redner ist der Kollege Sascha Raabe, SPDFraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Lieber Kollege Königshaus, Sie haben gerade
gesagt, gute Anträge erkenne man daran, dass ein Minister anwesend sei. Unsere Ministerin Heidemarie
Wieczorek-Zeul ist anwesend. Das zeigt Ihnen, dass unser Antrag und unsere Ministerin gut sind.
({0})
Es geht hier nicht - daran sollten wir uns erinnern um einen rein wirtschaftspolitischen Antrag, für den nur
die Wirtschaftspolitik zuständig wäre. Ein wichtiges Zeichen dafür ist, dass auch unsere Ministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung anwesend
ist. Die Doha-Handelsrunde ist eine Entwicklungsrunde.
Dieser Anspruch ist bei den Wirtschaftsmächten im
September 2001, nach den Anschlägen auf das World
Trade Center, entstanden - zu Recht, hatte man doch das
Gefühl: Terrorismus in dieser Welt kann auch etwas damit zu tun haben, dass manche nicht viel zu verlieren haben. Arme Menschen sind für Extremismus und für
Menschen, die sie für ihre Zwecke missbrauchen, anfälliger.
An diesem Anspruch einer Entwicklungsrunde müssen wir auch die laufenden Verhandlungen und ihr Ergebnis messen. Es ist eigentlich traurig, dass immer erst
die Angst um uns selbst uns dazu bringt, solche Themen
prominent auf die Agenda zu setzen. Vorhin haben wir
im Deutschen Bundestag über die geplante Erhöhung
des gesetzlichen Rentenalters von 65 auf 67 Jahre diskutiert, weil wir Deutschen zum Glück immer älter werden
und ein Lebensalter von 90 oder gar 100 Jahren mittlerweile keine Ausnahme mehr ist. In Teilen Afrikas liegt
die durchschnittliche Lebenserwartung bei 40 Jahren.
Armut, Mangelernährung, einfachste Krankheiten, HIV
und Aids lassen die Menschen früh und elendig sterben.
Diese Menschen wären froh, wenn sie unsere Probleme
hätten.
({1})
Dort geht es nicht um die Rente ab 65, sondern um das
Überleben von Geburt an. Wenn 30 000 Kinder täglich
an den Folgen von Hunger und Armut, an vermeidbaren
Krankheiten sterben, dann ist es höchste Zeit, dass wir in
allen Politikbereichen sehen, was man dagegen tun kann.
Dazu gehört nicht nur die klassische Entwicklungshilfe;
denn es geht nicht darum, nur Almosen an Menschen zu
verteilen. Die Menschen müssen in die Lage versetzt
werden, sich selbst zu helfen.
Dafür brauchen wir gerechte Handelsbedingungen.
Drei Viertel der ärmsten Menschen leben im ländlichen
Raum und von der Landwirtschaft. In Westafrika hängt
das Leben von 15 Millionen Kleinbauern von der Baumwollproduktion ab. In Europa und den USA hingegen
gibt es nur ein paar Tausend Baumwollfarmer. Trotzdem
erhalten diese vergleichsweise wenigen Baumwollfarmer 5 Milliarden US-Dollar an Subventionen pro Jahr.
In den USA wird so jedes Kilo Baumwolle mit 50 Cent
subventioniert, während in Benin, in Afrika, ein Farmer
nur 40 Cent pro verkauftes Kilo Baumwolle erhält. Da
ist es doch ganz klar, dass diese Menschen keine Chance
haben, ihre Produkte auf dem Weltmarkt zu verkaufen.
Deswegen müssen wir das Thema Baumwolle weiter
auf die Tagesordnung setzen. Es war Heidemarie
Wieczorek-Zeul, die das Thema in Cancún 2003 nach
vorne gebracht hat. Dafür möchten wir der Ministerin
von hier aus ganz herzlich danken; denn da geht es um
Lebenschancen für die ärmsten Menschen auf dieser
Erde, meine Damen und Herren.
({2})
Während fast die Hälfte der Menschheit von weniger
als 2 US-Dollar pro Tag leben muss, wird jede Kuh in
Europa mit mehr als 2 US-Dollar pro Tag subventioniert.
Aber - auch das muss man sagen - nachdem die Konferenz in Cancún im Jahr 2003 noch an diesen Agrarexportsubventionsfragen gescheitert ist, hat die
Europäische Union aus ihren Fehlern ein Stück weit gelernt. Mit Unterstützung des Deutschen Bundestages
durch die Beschlüsse in der letzten Legislaturperiode,
aber auch durch das Engagement unserer Bundesregierung, nicht zuletzt in Genf im Juli 2004, hat man sich
erstmals darauf geeinigt, die Exportsubventionen auslaufen zu lassen. langes Ringen. Schließlich hat man ein
Datum für das Ende der Agrarexportsubventionen festgelegt.
Frau Kopp, Sie haben den Einsatz der Minister bemängelt. Ich will Ihnen sagen, dass Frau WieczorekZeul vor Ort war und dass sie für das Ende der Baumwoll- und Agrarexportsubventionen gekämpft hat. Ich
bin froh, dass die Bundesregierung ihr Ziel erreicht hat
und man übereingekommen ist, die Agrarexportsubventionen bis 2013 endgültig abzuschaffen.
Ich mache keinen Hehl daraus, dass dieser Zeitpunkt
aus entwicklungspolitischer Sicht natürlich etwas früher
eintreten könnte. Auf der anderen Seite haben wir jahrzehntelang diese Forderung erhoben. Man sollte daher
das, was erreicht worden ist, würdigen. Die Baumwollexportsubventionen sollen bereits ab diesem Jahr gestrichen werden. Leider sind die internen Baumwollstützungen davon nicht betroffen, die ein Vielfaches ausmachen
und für die wir jetzt noch Regelungen finden müssen.
Ebenso positiv ist es, dass wir die USA und Schwellenländer wie Brasilien dazu gebracht haben, den ärmsten Entwicklungsländern im Rahmen der Initiative
„Alles außer Waffen“ den quoten- und zollfreien
Marktzugang einzuräumen. Hier gibt es noch eine 3-Prozent-Ausnahmeregelung. Diese Lücke hätten wir gerne
geschlossen, damit davon am Ende nicht gerade die Produkte betroffen sind, die für Entwicklungsländer besonders wichtig sind. Es ist trotzdem ein Fortschritt, dass
wir diese Regelungen haben.
Vor Hongkong haben wir auch noch eine Einigung
bei TRIPS erreicht, nach der die ärmeren Länder einen
verbesserten Zugang zu Generika haben. Die Idee, Patienten und nicht Patente zu schützen, hat sich durchgesetzt. Das ist ein Meilenstein im Kampf gegen die AidsPandemie. Diesen Fortschritt können wir gar nicht hoch
genug einschätzen.
({3})
Wir haben es in Hongkong mit dem „Aid for Trade“Paket geschafft, die Handelsinfrastruktur der Entwicklungsländer zu stärken. Auch wenn ein Kollege vorhin
meinte, dass die Handelskapazitäten der Entwicklungsländer schon ausreichen, muss ich sagen: Es gibt noch
viele Entwicklungsländer, die zusätzliches Know-how
brauchen, um bei den Verhandlungen mitreden zu können. Die Bundesregierung leistet hier eine der höchsten
Beitragszahlungen im internationalen Bereich. Auch das
ist ein wichtiger Schritt.
({4})
Was ist jetzt noch zu tun? Beim Marktzugang haben
wir - das betrifft nicht nur Deutschland - in Bezug auf
die Schwellenländer und auf die Entwicklungsländer
noch viel Nachholbedarf. Was für die ärmsten Entwicklungsländer im Rahmen des „Alles außer Waffen“Abkommens erreicht wurde, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die 50 ärmsten Länder nur das Handelsvolumen von Korea haben. Man muss also auch den etwas weiterentwickelten Ländern die Möglichkeit des
Marktzugangs geben. Ich glaube, in diesem Punkt und
auch hinsichtlich der internen handelsverzerrenden
Agrarsubventionen müssen wir noch zu Nachbesserungen kommen.
Ich will nun auf die Anträge der anderen Fraktionen
eingehen.
An dem Antrag der Grünen zu diesem Thema kann
ich nicht viel kritisieren, weil es sich um einen alten Antrag handelt, den wir schon beschlossen hatten. Er ist
aber nicht mehr auf dem neuesten Stand. Deswegen halten wir unseren neuen Antrag für besser.
Zum Antrag der Linkspartei. Natürlich macht es Probleme - in diesem Punkt unterscheiden wir uns ja auch
von der FDP -, wenn man alle Zölle der Entwicklungsländer sozusagen absägt. Deswegen ist in Hongkong
vereinbart worden - so steht es auch in unserem Koalitionsantrag -, dass wir den Entwicklungsländern je nach
Entwicklungsstand die Möglichkeit geben wollen, die
eigene Industrie und den landwirtschaftlichen Bereich zu
schützen. Aber, Herr Kollege Aydin, was mich an Ihrem
Antrag wirklich aufregt, ist, dass Sie in dem Teil über
den Agrarsektor lediglich schreiben, man müsse die
Exportsubventionen abschaffen, die eigene Landwirtschaft aber weiterhin schützen. Kein Wort darüber, dass
der Export von Agrarprodukten für Entwicklungsländer - auch in die USA und nach Europa - ungemein
wichtig ist! Das ist typisch für Sie: links reden und immer möglichst solidarisch tun. Aber Maßnahmen, mit
denen man die eigenen Wähler verprellen könnte, klammern Sie aus. Da müssen Sie einmal Farbe bekennen.
Nach Ihrem Weltbild müsste man alle Märkte abschotten
und die bald 9 Milliarden Menschen würden subsistenzwirtschaftend auf ihren Schollen leben. Nein, das geht
nicht, da würden alle verhungern.
({5})
Die Entwicklungsländer brauchen Handel. Nur durch
Handel und Marktzugang können sich Menschen entwickeln. Das sollten auch Sie einmal zur Kenntnis nehmen.
({6})
Lassen Sie mich zum Schluss noch etwas zum Antrag
der FDP sagen. Sie schreiben in Ihrem Antrag, dass Sie
die Umwelt- und Sozialstandards nicht festgeschrieben
haben wollen. Zum einen gibt es sicherlich die Angst der
Entwicklungsländer vor Protektionismus. Zum anderen
halten wir als Sozialdemokraten - da spreche ich auch
für die Christdemokraten - es für ganz wichtig, dass es
Sozialstandards gibt. Denn wir wollen, dass nicht nur
den Eliten in den Entwicklungsländern Handelsgewinne
zugute kommen, sondern auch den ärmsten Menschen.
Deswegen und damit es auf der ganzen Welt keine SklaDr. Sascha Raabe
ven- und keine Kinderarbeit mehr gibt, brauchen wir Sozialstandards.
({7})
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.
Ich komme jetzt zum Ende. - Folgendes möchte ich
noch sagen: Herr Hoppe hat mit Blick auf unseren Antrag ausgeführt, dass die Interessen Deutschlands nur
schwer mit den Interessen der Entwicklungsländer zu
verbinden seien.
Herr Kollege, Sie können nur noch einen Schlusssatz
sagen.
Kollege Staffelt hat genau das Richtige gesagt: Wenn
wir Hunger und Armut in aller Welt überwinden, dann
hilft das uns als Exportnation, weil die Menschen nicht
mehr arm sind und sich endlich mehr als nur das tägliche
Brot, also auch unsere Produkte, kaufen können. So können sie fair am Handel teilhaben und einen besseren Lebensstandard erreichen. Deswegen: Gerechter Handel
nutzt allen!
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({0})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Erich
Fritz, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Liebe Frau Präsidentin! Ich habe mich extra deshalb
ein zweites Mal gemeldet, weil Sie jetzt präsidieren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dass ich zum zweiten
Mal in dieser Debatte am Rednerpult stehe, hat einen
einfachen Grund: Man muss auf das reagieren, was Herr
Aydin vorgetragen hat.
Was den Vorwurf angeht, den Sie, Herr Königshaus,
mit Blick auf den Minister vorgebracht haben: Es geht
uns mit unseren Anträgen gerade darum, die Debatte ins
Parlament und damit in die Öffentlichkeit zu tragen. Internationale Verhandlungen sind nämlich per definitionem gouvernementale Prozesse. Dass wir zu einer
solchen Konferenz mitfahren, hat damit zu tun, dass wir
deutlich erklären wollen, dass dieses Parlament an diesen Prozessen beteiligt ist. Denn wir wissen: Daraus entsteht eine internationale Rechtsetzung. Wir haben sie zu
verantworten und die Folgen gegenüber den Bürgern zu
vertreten. Deshalb müssen wir hier diskutieren und daher ist es gut, dass von allen Seiten Anträge gestellt wurden.
Die Linke also will den WTO-Prozess gänzlich stoppen. Herr Trittin hat vorhin mit Recht eingeworfen - Sie
haben das wahrscheinlich nicht mitbekommen -, Karl
Marx hätte sich im Grabe herumgedreht. Der wusste natürlich um die Wohlstandswirkungen des Handels. Wenn
es nicht gelingt, die Entwicklungsländer in das Welthandelssystem zu integrieren, dann werden sie arm bleiben.
({0})
Dann werden die Menschen keine Chance bekommen,
an dem teilzuhaben, was der Mensch braucht über das
Sattwerden hinaus - und selbst dazu werden sie nicht
kommen.
Das alles aber der Welthandelsorganisation zu überlassen, ist eine Überforderung dieser Organisation. Es
ist keine Weltregierung. Sie hat einen kleineren Stab als
das Kanzleramt. Es ist eine Mitgliederorganisation. Es
kann dort nur das beschlossen werden, wozu zum
Schluss alle Ja sagen. Jedes einzelne Mitglied - ob es
USA, Europäische Union oder Guinea-Bissau heißt - hat
die gleiche Stimme. Das ist gleichzeitig eine Schutzfunktion, die wir nicht außer Acht lassen dürfen.
Wenn wir über die Frage reden, wie wir es schaffen,
die Entwicklungsländer in die Welthandelsordnung einzubinden, dann geht es nicht nur um WTO-Regeln. Dann
geht es an erster Stelle um Good Governance. Denn die
Fähigkeit, sich in ein solches System einzuordnen und
dadurch Wohlstand für die Menschen zu generieren, hat
zunächst einmal damit zu tun, ob ein System an die
Menschen denkt, in die Menschen, das Gesundheitssystem, die Bildung und andere Dinge investiert.
({1})
Erst dann hängt es vom Regelsystem ab.
Natürlich wissen wir, dass wir Raum für die eigene
Entwicklung geben müssen, dass es dafür Special and
Differential Treatments, also angepasste Regeln, geben
muss. Natürlich haben wir die Beispiele der Länder, die
heute Schwellenländer sind oder bereits einen gewissen
Wohlstand erreicht haben, vor Augen. Natürlich haben
die Koreaner erst Schutzmauern gebaut und sich dahinter entwickelt. Aber sie haben dann auch gemerkt: Entwicklung vollzieht sich nur, wenn man in Menschen investiert. Das koreanische Wunder - wenn man es so
bezeichnen will - ist nur deshalb möglich, weil Menschen durch Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie, ein besseres Gesundheitssystem und Freiheit die
Voraussetzungen dafür bekommen haben, dass sie sich
selbst entwickeln konnten.
({2})
Als sie wirtschaftlich frei wurden, haben sie sich auch
die politische Freiheit erstritten.
({3})
Weltmarktfähig sind die Produkte Koreas erst in dem
Augenblick geworden, als sich Korea dem internationalen Wettbewerb geöffnet hat. Deshalb geht es um die
richtige Balance zwischen den einzelnen Aspekten. Die
WTO ist dabei nur ein Aspekt. Der Nachteil für uns dabei ist, dass die internationalen Organisationen mit Blick
auf eine soziale Marktwirtschaft, wie sie von Herrn
Hoppe angesprochen wurde, oder auf eine Politik der
Nachhaltigkeit zu unterschiedlich aufgestellt sind.
({4})
Die WTO kann Gott sei Dank Vorgaben durchsetzen; die
ILO kann Sozialstandards nicht durchsetzen.
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist überschritten.
Entschuldigung, Frau Präsidentin. - Die UN-Umweltorganisation ist gespalten. Das heißt, die für die angesprochenen Aspekte zuständigen internationalen Organisationen sind nicht gleichwertig. Deshalb muss das
international zusammengeführt werden. Daran lassen
Sie uns arbeiten, anstatt solche populistischen Reden zu
halten, wie Sie es getan haben!
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 16/556
mit dem Titel „Erfolgreichen Abschluss der laufenden
Doha-Welthandelsrunde bis Ende 2006 sicherstellen“.
Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen von
SPD und CDU/CSU bei Gegenstimmen der FDP, des
Bündnisses 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke
angenommen.
Abstimmung über den Antrag der Fraktion der FDP
auf Drucksache 16/564 mit dem Titel „Multilaterales
Handelssystem retten - WTO stärken“. Wer stimmt für
diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen von CDU/CSU,
des Bündnisses 90/Die Grünen, der SPD und der Fraktion Die Linke abgelehnt.
Abstimmung über den Antrag der Fraktion Die Linke
auf Drucksache 16/449 mit dem Titel „WTO-Liberalisierungsrunde stoppen“. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen von SPD, des Bündnisses 90/
Die Grünen, von CDU/CSU und FDP abgelehnt.
Tagesordnungspunkt 16 d: Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und
Technologie auf Drucksache 16/572 zu dem Antrag der
Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel
„Hongkong als Zwischenschritt einer fairen und entwicklungsorientierten Welthandelsrunde“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung, den
Antrag auf Drucksache 16/86 abzulehnen. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen der Fraktion Die Linke, von SPD,
CDU/CSU und FDP angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Sondergutachten des Rates von Sachverständigen für Umweltfragen: Umwelt und Straßenverkehr - Hohe Mobilität - Umweltverträglicher Verkehr
- Drucksache 15/5900 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Michael Müller.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir begrüßen sehr, dass sich der Sachverständigenrat für Umweltfragen so intensiv mit dem Thema einer künftigen
Verkehrspolitik beschäftigt hat. Wir sehen in der künftigen Organisation der Mobilität in der Tat ein Schlüsselthema. Es gilt, wie in anderen Bereichen auch, Mobilität mit dem Gedanken der Nachhaltigkeit zu verbinden,
also soziale Aspekte, die ökonomische Innovationskraft
und Umweltverträglichkeit in einer Gesamtstrategie zusammenzuführen. Damit wird schon am Anfang deutlich, dass es bei den Vorschlägen nicht darum geht, einfach eine Fachpolitik ins Zentrum zu stellen; vielmehr
geht es hier um ressortübergreifende, gesamtgesellschaftliche Prozesse, wenn wir zu einem zukunftsfähigen Verkehrssystem, zu einer zukunftsfähigen Mobilität
kommen wollen.
Ich erinnere mich noch sehr gut daran, als wir Umweltpolitiker die Firma Bosch besucht haben. Am Beginn des Treffens wurde uns von Vertretern von Bosch
gesagt: Vor ein paar Jahren haben wir furchtbar auf die
Umweltpolitiker geschimpft, weil wir den Eindruck hatten, sie blockierten und verhinderten alles. Dann haben
wir aber, unter anderem veranlasst durch europäische
Vorschriften, insbesondere im Bereich der Antriebstechniken Innovationsprozesse vorangetrieben. Und - so
Bosch - hätte es die ökologisch beeinflussten Innovationsstrategien nicht gegeben, würden wir heute ökonomisch viel schlechter dastehen. Das ist in der Tat so:
Ökologie kann ein Innovationstreiber sein. Deshalb ist
eine Spaltung nicht sinnvoll: hier die Umweltpolitik,
dort die Verkehrspolitik. Vielmehr muss es zu einer ZuParl. Staatssekretärin Michael Müller
sammenführung kommen; denn nur, wenn man in der
Zukunft einen umweltverträglichen Verkehr hat, wird
man auch zu einer zukunftsfähigen Mobilität kommen.
Das muss als Zusammenhang gesehen werden.
({0})
Wir begrüßen es sehr, dass dieses Gutachten vorgelegt
wurde; denn es zeigt, dass mehr Mobilität für alle mit
weniger Verkehr möglich ist. Das ist übrigens auch logisch; denn sonst würde jeder zusätzliche Umweg zu
mehr Mobilität und damit mehr Lebensqualität führen.
Man kann mit weniger Verkehr auch mehr Mobilität erreichen. Dies ist eine Frage der technischen Potenziale,
der intelligenten Vernetzung und insgesamt auch des Bewusstwerdens darüber, was Mobilität ist. Insofern sollten wir dieses Gutachten nicht einfach nur hier zur
Kenntnis nehmen, sondern sollten auch sehr intensiv
über die Möglichkeiten der Umsetzung beraten.
Das Gutachten beinhaltet eine Vielzahl von Einzelpunkten, die uns sehr wichtig sind.
Erstens. Wir haben beispielsweise bei der unzureichenden Einführung von Rußfiltern für Dieselfahrzeuge durch deutsche Unternehmen erlebt, dass gerade
ökologische Innovationen ein ganz wichtiger Punkt sind,
um wirtschaftliche Stärke und Absatzmärkte zu erhalten.
Wer nicht begreift - gerade auch als eine Industrie wie
die bundesdeutsche Automobilindustrie -, dass es ganz
stark darauf ankommt, durch Innovationskraft auf den
Märkten führend zu sein, hat die Zeichen der Zeit nicht
erkannt. Wir müssen die Effizienzpotenziale nutzen und
weiter ausbauen.
({1})
Zweiter Punkt. Wir müssen die Mobilitätsfrage sehr
viel stärker in die Raumordnung, in die Siedlungspolitik
integrieren. Vieles ist eine Frage der intelligenten Planung und der intelligenten Vernetzung. Das ist der
zweite wichtige Punkt.
Drittens. Ich glaube, dass die Informations- und Kommunikationstechnologien viele Chancen für eine intelligente Ressourcenwirtschaft, also für eine Umweltverträglichkeit eröffnen. Auch hier kann man mehr tun. Ich
sehe hier übrigens einen der größten Märkte in der Welt.
Eine ökologisch ausgerichtete Industrieproduktion in
Europa hat gewaltige Chancen in der Globalisierung, die
wir nutzen sollten. Es ist kein Gegensatz, es ist eine
Chance.
({2})
Viertens und letztens sollten wir immer darüber nachdenken, ob nicht all die Mechanismen, die Anreize zur
Verkehrserzeugung, korrigiert werden können. Einen
ersten Schritt haben wir in der Koalitionsvereinbarung
mit der Streichung der Eigenheimzulage getan. Es gibt
hier weitere Punkte, über die wir nachdenken sollten.
Meine Damen und Herren, ich glaube, die wichtigste
Botschaft ist: Wir sind nicht gegen Mobilität. Mobilität
ist ein ganz wichtiges Merkmal einer modernen Gesellschaft. Aber die eigentliche Frage ist: Welche Mobilität
ist notwendig und wie organisieren wir Mobilität? Darüber nachzudenken ist eine politische Aufgabe, die wir
auf der Basis dieses Gutachtens sehr gut führen und erweitern können.
({3})
Nächster Redner ist der Kollege Horst Meierhofer,
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Um gleich an das anzuknüpfen, was der Herr Staatssekretär gesagt hat: Es ist aus unserer Sicht eine Frage
der Ehrlichkeit, einzugestehen, dass der Mobilitätsbedarf
in unserer Gesellschaft steigen wird. Unsere Gesellschaft verlangt wahrscheinlich auch mehr Mobilität, als
es in der Vergangenheit der Fall war. Es hilft nicht, so zu
tun, als könnte man durch irgendwelche staatlichen Interventionen versuchen, das zu reduzieren. Das würde
keinen Sinn machen und würde uns auch nicht gelingen.
({0})
Die Mobilität ist ein wichtiges Gut; das haben Sie angesprochen. Sie ist auch einfach nötig. Wir verlangen
von den Menschen schließlich, dass sie mobil bleiben,
wenn es darum geht, ihrem Beruf nachzugehen. Daher
können wir ihnen auf der anderen Seite auch keine
Steine in den Weg legen.
Die Mobilität hat aber - das will keiner bestreiten natürlich auch ihre Schattenseiten. Natürlich bedeutet
die Bereitstellung der verkehrlichen Infrastruktur Eingriffe in die Umwelt. Der CO2-Ausstoß führt zu Schäden. Wegen der Witterungsverhältnisse in den letzten
Wochen ist auch die Feinstaubbelastung gerade in den
Großstädten wieder mehr in den Blickpunkt gerückt.
Wir sind, genauso wie Sie, dem Sachverständigenrat
für Umweltfragen sehr dankbar für seine Denkanstöße.
Erst vorgestern hat sich auch beim Thema Föderalismusreform gezeigt, wie wichtig die offene Kritik ist. Wir
hoffen mit dem Sachverständigenrat, dass im Umweltbereich endlich Inhalte bei der Entflechtung der Zuständigkeiten zwischen Bund und Ländern, die insgesamt dringend notwendig ist, entscheidend sein werden.
({1})
Im Gegensatz zu den Ausführungen im hier vorgelegten Gutachten „Umwelt und Straßenverkehr“ haben wir
allerdings nicht die Illusion, dass der Trend zu zunehmender Mobilität in der Bevölkerung aufzuhalten sein
wird. Wir wollen das auch gar nicht. Entscheidend wird
sein, dass wir diesen Prozess nachhaltig mitgestalten und
uns daran beteiligen, dass möglichst wenige Nachteile
daraus entstehen.
Unser Ziel muss sein, dass der steigende Bedarf nach
Mobilität nicht noch mehr zulasten der Umwelt und auch
nicht zulasten der Lebensqualität geht. Effizienzsteigerungen, neue Verkehrskonzepte, ein leistungsfähiger
ÖPNV, Raumordnungsplanungen, aber vor allem - das
kommt mir im Gutachten ein wenig zu kurz - alternative
und neue Antriebstechnologien können uns helfen,
dem gerecht zu werden.
({2})
Dies hätten wir uns als einen deutlicheren Schwerpunkt
in diesem Sondergutachten gewünscht, und zwar auch,
weil es deutlich in die Zukunft zeigt. Mit den Möglichkeiten, die wir jetzt haben, werden wir die Probleme
nicht in den Griff bekommen. Deswegen müssen wir uns
auf einen neuen Weg machen.
Die Minderung der CO2-Belastung müsste eigentlich
unser aller Ziel sein - das gilt nicht nur aus ökologischer,
sondern auch aus ökonomischer Sicht -, genauso wie die
Tatsache - auch da sind wir uns, glaube ich, alle einig -,
dass wir nicht nur wegen der momentanen politischen
Probleme die Abhängigkeit vom Öl reduzieren müssen.
Dafür ist es eben wichtig, dass wir alternative Kraftstoffe und Antriebstechnologien nutzen und diese Lösungen annehmen. Ich meine nicht nur die Biokraftstoffe. Es geht vor allem um langfristige Perspektiven,
die durch den Einstieg in die Wasserstoff- und Brennstoffzellentechnologie eröffnet werden.
({3})
Die Bundesregierung war bei der Förderung der Wasserstofftechnologie halbherzig. Darauf sollten wir einmal
hinweisen, damit in diesem Bereich ein bisschen mehr
getan wird.
Wir müssen den Schwerpunkt auf Forschung und
Entwicklung legen. Nur so werden wir die Ziele erreichen, die wir parteiübergreifend teilen. Wir als FDPFraktion sind der Meinung, dass man auf mehr Vertrauen
in die Technologiefähigkeit unserer Unternehmen setzen
und nicht immer nur das Konzept der Intervention und
staatlichen Gängelung bemühen sollte.
({4})
Im Verkehrsbereich liegen die größten wirtschaftlich
sinnvollen CO2-Einsparungspotenziale. In diesem Zusammenhang sei nur am Rande die Frage erwähnt, ob
die Besteuerung von Biodiesel der richtige Weg ist. Hier
grundsätzlich den Umweltschutz nach vorn zu bewegen,
ist ein ganz anderer Punkt.
({5})
Aber die Antwort sollte nicht lauten - da bieten wir als
FDP einen anderen Ansatz -, dass wir die Steuern erhöhen oder die Bemessungsgrundlage ändern, wie im Fall
einer vorgeschlagenen CO2-bezogenen Kfz-Steuer. Wir
sollten uns vielmehr ganz grundlegende Gedanken machen. Die Kfz-Steuer wirft grundsätzlich Fragen auf. Sie
stellt zurzeit nur darauf ab, ob man ein Auto besitzt oder
nicht. Aber sie stellt nicht darauf ab, wie sehr man dieses
Auto nutzt. Es macht keinen Unterschied, ob es sich um
ein Rentnerehepaar handelt, das das Auto in der Garage
stehen hat, oder ob das Auto zum Fahren von
100 000 Kilometern im Jahr genutzt wird.
({6})
Man zahlt dieselbe Steuer. Auch mit der CO2-bezogenen
Steuer wird sich das nicht ändern. Deswegen bringt es
uns leider gar nichts.
({7})
Das heißt, die Kfz-Steuer - in welcher Form und mit
welcher Bemessungsgrundlage auch immer - hat keinerlei Lenkungsfunktion. Deswegen machen wir den Vorschlag, die Kfz-Steuer abzuschaffen und gleichzeitig
aufkommensneutral auf die Mineralölsteuer umzulegen.
({8})
Das wäre ein Schritt hin zu mehr Umweltverantwortung
und dahin, wo wir alle hinwollen, nämlich zur Minimierung des CO2-Ausstoßes.
Ich möchte noch kurz etwas zum Thema Lärm sagen
und hier zwei Bereiche ansprechen. Eines der großen
Umweltprobleme und auch eine ernsthafte Gefahr für
die Gesundheit ist der Fluglärm. Ein neues, sachgerechtes Lärmschutzgesetz ist überfällig. Der Gesetzentwurf
der Bundesregierung, den wir morgen im Plenum debattieren werden, stellt keinen sachgerechten Ausgleich
zwischen den Interessen von Anwohnern, Nutzern, Fluggesellschaften und Betreibern her. Ich würde Ihnen empfehlen, dass Sie sich den FDP-Antrag noch einmal „einverleiben“ und wir ihn dann morgen gemeinschaftlich
beschließen.
({9})
Auch auf der Schiene muss mehr passieren. Die Bahn
wird grundsätzlich als sehr umweltfreundliches Verkehrsmittel anerkannt. Aber gerade bei der Lärmbekämpfung gibt es noch einigen Nachholbedarf. Wir müssen den Lärm an der Quelle reduzieren. Das werden wir
mit öffentlichen Mitteln allein nicht schaffen. Der Lärmschutz muss sich für die Bahnunternehmen rechnen.
Aber die DB Netz AG blockiert die Einführung von
lärmabhängigen Trassenpreisen und der Bund als Eigentümer schaut zu. Auch hier gilt: Die marktwirtschaftlichen Anreize sind die Lösung und nicht staatlicher Dirigismus. Die Verkehrspolitik sollte diese Devise
grundsätzlich mehr im Auge haben.
({10})
Das bedeutet konkret die Einbeziehung des Verkehrs in
den Emissionshandel - da sind wir im Grundsatz mit
dem Sachverständigrat einig - und das betrifft insbesondere den nicht besteuerten Luftverkehr.
Herr Kollege, schauen Sie einmal auf die Uhr auf Ihrem Rednerpult.
Ich bin gleich fertig.
Die FDP teilt die kritische Einschätzung von Selbstverpflichtungen nicht. Ganz im Gegenteil, wir sind davon überzeugt, dass die deutschen, die europäischen und
die japanischen Automobilhersteller auf einem sehr guten Weg sind.
({0})
- Vor allem die bayerischen natürlich; genau. - Dadurch
könnte der CO2-Ausstoß deutlich reduziert werden.
Selbstverpflichtungen müssen auch weiterhin genutzt
werden. Wir haben hier nicht die Ängste, die die Bundesregierung und der Sachverständigenrat haben.
Herr Kollege, Sie müssen jetzt Ihren Schlusssatz sagen.
- Ich bin dabei, Frau Präsidentin.
({0})
Marktwirtschaftliche Anreize und Innovationen, nicht
Dirigismus und staatliche Vorgaben werden die Mittel
sein, die uns im Sinne einer ökologischen und nachhaltigen Entwicklung voranbringen.
Herzlichen Dank und Entschuldigung dafür, dass ich
meine Redezeit überzogen habe.
({1})
Herr Kollege Meierhofer, auch wenn Sie Ihre Redezeit weidlich ausgenutzt haben, sage ich Ihnen herzlichen Glückwunsch zu Ihrer ersten Rede, die Sie heute in
diesem Hohen Hause gehalten haben. Ich wünsche Ihnen
alles, alles Gute!
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Jens Koeppen, CDU/
CSU-Fraktion.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zunächst einmal darf ich mich ganz herzlich bei Professor Koch und dem Sachverständigenrat für Umweltfragen bedanken, der das Sondergutachten „Umwelt und
Straßenverkehr“ vorgelegt hat. Das Thema „Umwelt und
Straßenverkehr“ ist in der Tat eines der spannendsten
Themen im Bereich der Umweltpolitik und auch das
Thema, bei dem die meisten Spannungen bestehen.
Herr Staatssekretär Müller, Sie haben es gesagt: Bereits im Titel „Hohe Mobilität - Umweltverträglicher
Verkehr“ ist ein viel versprechender Ansatz formuliert,
sozusagen ein Dauerbrenner jeder verkehrs- und umweltpolitischen Debatte, der für jede Regierung eine
echte Herausforderung darstellt. Es geht um die Frage,
wie wir es schaffen, die Mobilität zu stärken und die
Umweltverträglichkeit dabei nicht nur auf dem gleichen
Niveau zu halten, sondern sie sogar zu verbessern.
Meine Damen und Herren, Straßenverkehr resultiert
aus dem Mobilitätsbedürfnis der Menschen wie auch aus
wirtschaftlichem Wachstum. Er leistet somit einen wichtigen Beitrag zu unserem hohen Lebensstandard in
Deutschland. Zugleich ist der Verkehr freilich mit einer
ganzen Reihe von Umweltauswirkungen wie CO2-Emissionen, Lärm und einer ständig steigenden Flächenversiegelung verbunden. All das sind bekannte Größen, die
als solche auch im vorliegenden Gutachten zu finden
sind.
Grundsätzlich muss man sagen, dass in dem Sondergutachten eine klare und fundierte Analyse der verkehrsbezogenen Umweltsituation in Deutschland vorgenommen wurde. Die daraus resultierenden Empfehlungen
geben sehr wohl Anlass zum Nachdenken und sie bieten
ohne Frage Anstöße und Reibungspunkte für die weitere
umweltpolitische Arbeit. Aber es darf keine Abkopplung
der Verkehrs- und Umweltpolitik von der Wirtschaftspolitik geben. Mit anderen Worten: Gute Umweltpolitik
ist immer auch gute Wirtschaftspolitik.
({0})
Wir müssen uns ernsthaft fragen, inwieweit die Umweltpolitik zur Überwindung der wirtschaftlichen Probleme
unseres Landes beitragen kann. Denn Umweltpolitik
kann das leisten, vor allen Dingen dann, wenn es uns gelingt, sie effektiv und unbürokratisch zu gestalten.
Der eine oder andere von Ihnen wird sich vielleicht
fragen, was ich als Abgeordneter der CDU wohl zu einem Gutachten sage, das unter Führung der Vorgängerregierung bzw. unter Umweltminister Trittin erarbeitet
wurde und nun von einem SPD-geführten Ministerium
vorgestellt wird.
({1})
Zu diesem Thema zu sprechen, ist in der Tat eine sehr
anspruchsvolle Aufgabe. Aber grundsätzlich kann ich
sagen: Die CDU/CSU hat die Umweltpolitik zu keiner
Zeit als ideologischen Spielball verstanden, was bei Ihnen leider allzu oft der Fall war.
({2})
Darüber wundern wir uns zwar nicht, aber kompliziert wird es dann, wenn Ihre ideologischen Forderungen
Bestandteil eines Regierungsprogramms werden sollen.
Denn statt die unterschiedlichen Interessen auszugleichen, wurden in den vergangenen sieben Jahren laufend
Konflikte zwischen Ökologie und Ökonomie geschürt
und Umweltschutz und Wirtschaftspolitik gegeneinander ausgespielt. Wer glaubt, damit Umweltschutz
betreiben zu können, der irrt sich. Denn deutsche Unternehmen und Wissenschaftler haben sich große Kompetenzen erworben. Sie sind in der Umwelttechnik weltweit führend. Das sollte an dieser Stelle auch von Ihnen
einmal ganz deutlich gewürdigt werden.
({3})
Der Schutz unserer natürlichen Lebensgrundlagen
und ein hohes Niveau des Umweltschutzes gehören in
Deutschland und übrigens auch für die CDU/CSU seit
langem zum gesellschaftlichen Selbstverständnis. Es ist
nur so, dass die Umweltpolitik in Deutschland in den
vergangenen Jahren oftmals als Wachstums- und Innovationshemmnis wahrgenommen wurde. Für viele Bürger und Unternehmen ist die Umweltpolitik einfach zu
kompliziert, zu teuer und zu bürokratisch geworden.
Umweltpolitik muss aber effektiv und vor allen Dingen
bürgerfreundlich sein.
({4})
Wenn wie im vorliegenden Gutachten Empfehlungen
ausgesprochen werden wie ein generelles Tempolimit
von 120 km/h auf Autobahnen und 30 km/h innerhalb
von Städten, wenn die Forderung nach einer weiteren
Erhöhung der Ökosteuer erhoben wird und auch die
PKW-Maut salonfähig gemacht wird, dann muss es erlaubt sein, den wirtschaftlichen, aber auch den umweltpolitischen Nutzen solcher Ideen zu hinterfragen.
({5})
Die Umweltpolitik war konfrontativ ausgerichtet.
Worauf es dagegen ankommt, hat der neue Bundesumweltminister gesagt:
Man kann aus der Atomenergie aussteigen, aber
eben nicht aus der Industriegesellschaft und dem
globalen Wettbewerb.
Das kann ich nur unterstreichen. Tatsache ist erstens,
dass ein wichtiger Standortvorteil Deutschlands in einer gut ausgebauten und funktionierenden Infrastruktur
besteht. Tatsache ist zweitens, dass wir - ob wir es nun
wollen oder nicht - mit einer stetigen Zunahme des Verkehrsaufkommens konfrontiert sind. Tatsache ist drittens, dass jede Milliarde Euro, die für den Verkehrswegebau eingesetzt wird, rund 24 000 Arbeitsplätze schafft.
Hier und heute geht es vorrangig um die Umwelt. Doch
selbst der Bau einer Autobahn kann einen Umweltaspekt
haben, wenn dadurch Stauschwerpunkte aufgelöst werden.
({6})
Nehmen Sie als Beispiel die A 20, die vielen Städten und
Gemeinden in Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg erhebliche Verbesserungen in Bezug auf Lärm und
Abgase gebracht hat.
({7})
Ich begrüße es ausdrücklich, dass die neue Bundesregierung verkehrspolitisch die richtigen Weichenstellungen vorgenommen hat. Nur ein paar Beispiele: das Gesetz zur Beschleunigung von Planungsverfahren für
Infrastrukturvorhaben, die Einführung hocheffizienter
Antriebe, eine am Schadstoffausstoß orientierte KfzSteuer, die Förderung der Entwicklung alternativer
Kraftstoffe und nicht zuletzt das Programm zur Minderung von Lärm entlang von Bundesfernstraßen und
Schienen.
Der Sachverständigenrat trifft mit dem Titel „Hohe
Mobilität - Umweltverträglicher Verkehr“ sehr wohl den
Kern der Sache. Wer aber glaubt, dass man Umweltpolitik gestalten kann, indem man eine Flut von Vorschriften
und Gesetzen verabschiedet und ausschließlich auf staatliches Handeln setzt, wird damit nichts erreichen.
({8})
Es müssen wirkungsvolle Konzepte entwickelt werden für wirtschaftliches Wachstum und - das gehört zusammen - für den Schutz der Natur. Der Bundesumweltminister hat es auf den Punkt gebracht - ich zitiere
wieder -: Umweltpolitik
kann … nicht bedeuten, … bei uns exzellente Anforderungen zu formulieren, wenn dann der CO2Ausstoß in anderen Ländern der Welt stattfindet
und in Deutschland Arbeitsplätze abgebaut werden.
Genau das ist seit langem die Position der CDU/CSU.
({9})
Wir brauchen die Partnerschaft mit der Wirtschaft.
Wir dürfen die Wirtschaft nicht aus der Verantwortung
entlassen. Wir müssen die Leistungen, die von den Unternehmen erbracht worden sind und täglich neu erbracht
werden, aber auch anerkennen.
Mein Fazit ist ganz einfach: Es muss uns darum gehen, durch eine sinnvolle Umweltpolitik vernünftige
Rahmenbedingungen für mehr Flexibilität und mit größeren Handlungsspielräumen zu schaffen, und das alles
in Zusammenarbeit mit der Wirtschaft.
Vielen Dank.
({10})
Auch Ihnen, Herr Kollege, herzlichen Glückwunsch
zu Ihrer ersten Rede hier in diesem Hohen Hause! Persönlich und politisch alles Gute!
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Lutz Heilmann,
Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Das Gutachten des Sachverständigenrates benennt sämtliche Probleme, die durch den Straßenverkehr entstehen
und die zum Teil eine massive Einschränkung der Lebensqualität der Menschen zur Folge haben. Ich appelliere an die Bundesregierung, sich diese Probleme zu
Herzen zu nehmen und sich deren Lösung zu einem ureigenen Anliegen zu machen. Die Menschen werden es Ihnen danken.
Leider verkümmert die Verkehrspolitik aber immer
mehr zu einem Wurmfortsatz der Wirtschaftspolitik.
Wichtige Probleme werden im Verkehrsministerium
ganz ausgeblendet oder nur halbherzig angegangen.
Lassen Sie mich zwei Themen des Gutachtens herausgreifen.
Über den Klimawandel wurde in diesem Hohen Haus
bereits viel gesprochen. Wo allerdings ist der Beitrag des
Straßenverkehrs zur Senkung der Kohlendioxidemissionen? Hier geht es nicht um Peanuts, sondern um immerhin 20 Prozent der deutschen Emissionen. Der
leichte Rückgang der letzten Jahre ist mehr auf den
Tanktourismus und die hohe Arbeitslosigkeit als auf die
Ökosteuer zurückzuführen. Diese wurde gerade nicht in
eine Gesamtstrategie mit einer Vielzahl sich ergänzender
Maßnahmen eingebettet, was für eine wirksame Vermeidung der Probleme erforderlich wäre, wie der Sachverständigenrat feststellt.
Die Liste der Versäumnisse von Rot-Grün ist entsprechend lang. Einige Beispiele:
Erstens. Beim Bundesverkehrswegeplan 2003 wird
fröhlich dem Verkehrsbedarf hinterhergebaut. Anhaltend
hohe CO2-Emissionen werden billigend in Kauf genommen.
Zweitens. Die EU-Richtlinie zur Verbrauchskennzeichnung bei PKW wurde so unverständlich wie nur
möglich umgesetzt, sodass es so gut wie keine Auswirkung auf die Kaufentscheidung der Bürgerinnen und
Bürger für sparsame Fahrzeuge gibt.
Drittens. Besonders blamabel für die Grünen ist es,
wenn nun ausgerechnet die neue schwarz-rote Regierung
die längst überfällige Kfz-Steuerreform durchsetzt und
den CO2-Ausstoß als Bemessungsgrundlage einführt.
({0})
Werte Kolleginnen und Kollegen, ein erschreckenderweise in der Öffentlichkeit fast völlig vergessenes Problem ist die Verkehrssicherheit. Zu Recht beklagen wir
die Opfer von Katastrophen wie kürzlich beim Fährunglück im Roten Meer. Aber ich frage Sie: Wer tut etwas
gegen die Umstände, die fast 6 000 Menschen in der
Bundesrepublik Deutschland jährlich im Straßenverkehr
das Leben kosten? Nicht zu vergessen sind ebenso die
450 000 Verletzten, darunter 80 000 Schwerverletzte, deren Leben teilweise dauerhaft beeinträchtigt wird.
So begrüßenswert es auch ist, dass diese Zahlen rückläufig sind: Jeder Verkehrstote ist einer zu viel! Deshalb
fordere ich die Bundesregierung auf, sich ein Beispiel an
Staaten wie Schweden und der Schweiz zu nehmen, die
mit Erfolg das anspruchsvolle Konzept einer Vision Zero
verfolgen. Eine solche Vision von null Toten und
Schwerverletzten im Straßenverkehr müsste eigentlich
eine Selbstverständlichkeit sein. Alle politischen Entscheidungen und bestehenden Gesetze müssen im Hinblick auf den Schutz des menschlichen Lebens geprüft
und angepasst werden.
({1})
Auch ein allgemeines Tempolimit von 130 Stundenkilometern, das übrigens ein Beitrag zum Klimaschutz
wäre, darf kein Tabu sein, auch wenn es dem einen oder
anderen freiheitsliebenden Autofahrer nicht gefällt. Die
Regierung beschränkt sich indes darauf, gelassene Elefanten zu plakatieren, und verfolgt ansonsten weiter die
Vision eines maximalen Verkehrswachstums.
Werte Kolleginnen und Kollegen, das Gutachten des
Sachverständigenrates ist eine dankenswerte Anregung.
Ich möchte aber nicht verhehlen, dass wir mit den vorgeschlagenen Maßnahmen nicht immer völlig übereinstimmen. Ich begrüße es aber, dass darin - wie beispielsweise bei den Vorschlägen zur Entfernungspauschale ausdrücklich auch die sozialen Folgen bedacht wurden.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Auch Ihnen, Herr Kollege Heilmann, wünsche ich anlässlich Ihrer ersten Rede in diesem Hohen Hause politisch und persönlich alles Gute.
({0})
Das Wort hat der Kollege Winfried Hermann,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir befassen uns heute mit dem Gutachten des
Sachverständigenrates für Umweltfragen zum Straßenverkehr. Wenn der Kollege Koeppen sagt, das sei noch
ein Gutachten der rot-grünen Regierung, dann muss ich
sagen: Nein, das ist ein Gutachten von unabhängigen
Experten, die in ihrem Feld die besten sind. Das ist ein
Gutachten des ganzen Hauses, des ganzen Parlaments.
({0})
Rot-Grün hat die Gutachter nicht nach ihrem Parteibuch,
sondern nach ihrer Kompetenz ausgesucht. Ich hoffe
sehr, dass Sie es nicht anders machen.
Schauen wir, was die Gutachter sagen, und nehmen
wir es zur Kenntnis! Das Mindeste, was man in dieser
Debatte tun kann, ist, die wichtigen Sachen zur Kenntnis
zu nehmen. Unübersehbar ist die Botschaft dieser Gutachter, wenn sie schreiben: Der Straßenverkehr und
seine Auswirkungen auf die Gesundheit der Menschen
sind so, wie sie heute sind, „unzumutbar“. Das ist der
Kernsatz zu Beginn. Es ist unzumutbar, weil es zu viele
Verkehrstote gibt. Wie wir heute gehört haben, sind es
europaweit 44 000 Menschen. Unzumutbar sind die Belastungen durch Luftschadstoffe und Feinstaub sowie
Lärm, die verminderte Lebensqualität in den Städten, die
Auswirkungen auf das Klima und der Flächenverbrauch.
Nehmen wir das Beispiel Klima; das haben auch die
anderen zum Teil angesprochen: Im Bereich des Verkehrs haben sich die klimaschädlichen Treibhausgase
seit 1960 verfünffacht. In keinem anderen Sektor gibt es
so dramatische Wachstumsraten, die so problematisch
sind. Daran kann man nicht vorbeischauen. Das muss
man zur Kenntnis nehmen, wenn man dieses Gutachten
bespricht.
({1})
Welche Einsichten gibt es noch? Ich glaube, der Kollege Müller hat es zu Recht angesprochen - das ist in der
Debatte etwas untergegangen -: Es geht nicht um den
Verkehr, sondern um die Herstellung von umweltverträglicher Mobilität. Das geschieht in der Regel nicht
durch mehr Verkehr, der womöglich mehr Staus bedeutet, sondern durch eine umweltverträgliche, geschickte
Abwicklung. Mehr Straßen bedeuten nicht automatisch
mehr Mobilität. Ein Beitrag zur Mobilität ist auch, sich
vielleicht ab und zu weniger bewegen zu müssen und die
Wege zu verkürzen. Kollege Koeppen, auch das haben
Sie leider übersehen.
Die Experten sagen: Die Politik braucht klare Ziele,
wenn sie in der Verkehrspolitik etwas bewegen will, zum
Beispiel die Halbierung der Zahl der Verkehrstoten bis
2015 oder eine deutliche Absenkung der Belastung
durch Klimagase oder auch eine klare Vorgabe dafür,
wie viel Lärm wir in wie vielen Jahren reduzieren wollen. Sie sprechen zum Beispiel von 10 Dezibel, was
wirklich eine dramatische Verringerung bzw. auch dramatische Erleichterung für die Anwohner bedeuten
würde. Sie loben das Ziel der alten Regierung, den Flächenverbrauch auf nur noch 30 Hektar pro Tag im Jahr
2020 zu senken.
Hier wurden also einige Beispiele gegeben und Vorgaben gemacht. Die Experten sagen aber auch: Das Setzen von Zielen nützt nichts, wenn wir sie nicht endlich
strategisch angehen. Ich glaube, hier muss man die jetzige und auch - das sage ich hinzu - die vorige Regierung kritisieren. Es ist im Verkehrssektor nicht gelungen,
das zu erreichen, was in anderen Feldern, zum Beispiel
im Energiesektor, auch geschafft wurde, nämlich eine
Strategie zu entwickeln, durch die deutlich und nachvollziehbar gemacht wird, dass wir aus der hohen Abhängigkeit vom Öl aussteigen, dass wir mit den hohen
Umweltbelastungen Schluss machen und wie wir das
tun. Es gibt noch keinen durchschlagenden strategischen
Ansatz. Das vermissen wir noch bis heute. Das fehlt übrigens auch im Koalitionsvertrag.
Die Experten empfehlen uns, dass wir nicht nur auf
eine Strategie setzen, sondern bewusst mehrere Strategien angehen und sie miteinander vernetzen, weil eine
Richtung alleine nicht ausreichen wird. Sie empfehlen die
Optimierung der technischen Möglichkeiten. Auch hier
meine ich, dass der Kollege von der CDU das nicht richtig
gelesen hat. Das ist ein ausdrücklicher Schwerpunkt in
diesem Gutachten: Die technischen Möglichkeiten müssen ausgeschöpft werden, um die Umweltbelastungen zu
reduzieren. Gerade darin liegt die ökonomische Chance
einer umweltverträglichen Verkehrspolitik. Man muss
Automobile entwickeln, die umweltverträglich und deswegen weltweit besser verkäuflich sind. Das eigentliche
Problem ist doch, dass die deutsche Automobilindustrie,
wenn man nichts tut, Ladenhüter produziert, die niemand
mehr kaufen kann, weil sie zu belastend sind und zu viel
Energie und Sprit verbrauchen. Das ist doch das Risiko.
Eine ökonomisch vernünftige Umweltpolitik ist also
eine ambitionierte Umweltpolitik, weil sie die Wirtschaft
nach vorne treibt und exportfähig macht.
({2})
Herr Kollege, ich erinnere Sie an Ihre Redezeit.
Ich komme zum Schluss. Der Überziehungskredit gilt
offensichtlich nicht mehr für die Altredner. Deswegen
komme ich jetzt zu meinen zwei Schlusssätzen.
So ist es, Herr Kollege.
Hier wird deutlich gemacht: Wir schaffen mehr Umweltverträglichkeit mit technischer Optimierung. Zugleich müssen wir aber auch eine Strategie dafür entwickeln, wie man Verkehr vermeiden und verlagern kann;
denn sonst werden alle technischen Errungenschaften
durch mehr Straßenverkehr aufgefressen, wie das in den
letzten Jahren der Fall war.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat der Kollege Martin Burkert, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit mehr als
30 Jahren beschäftigen wir uns jetzt mit den Auswirkungen des Straßenverkehrs auf Natur, Umwelt und vor allem auf die Gesundheit der Menschen. Konzepte für eine
nachhaltige Mobilität wurden seitdem von zahlreichen
Institutionen entwickelt, unter anderem hier im Hause
1994, vom Umweltbundesamt 1995. Sie war auch
Thema der Europäischen Umweltagentur und der
OECD 2004.
Die Bilanz nach mehr als 30 Jahren praktischer umweltorientierter Verkehrspolitik ist allerdings ambivalent. Die Erfolge waren und sind: Die Autos machen weniger Lärm und ihre Motore blasen weniger Schadstoffe
in die Luft. Viel Geld wurde in den Ausbau von Schallschutzeinrichtungen investiert. Auf der anderen Seite
sind sowohl der Güter- als auch der Individualverkehr
ungebremst gewachsen und tun dies auch weiterhin.
2005 gab es einen Zuwachs bei der Zahl der Zulassungen von Kraftfahrzeugen von sage und schreibe
11 Prozent. Am 17. Februar will der Verband der Automobilindustrie darauf die Antwort unter dem Stichwort
„weg vom Öl“ geben. Wir sind gespannt und man darf
auch gespannt sein.
Die Lärm- und die CO2-Belastung sind für Mensch
und Natur gravierend hoch. Die mit dem Feinstaub verMartin Burkert
bundenen Risiken führen zu Verkehrsbeschränkungen.
Der Flächenverbrauch für Straßen zerstört Lebensräume
der Tier- und Pflanzenwelt ebenso wie Erholungsräume
der Menschen. Wir müssen feststellen: Die negativen
Auswirkungen des Straßenverkehrs sind nach wie vor
hochproblematisch. Allein ein Fünftel der gesamten
CO2-Emissionen, die das Klima zerstören, geht auf das
Konto des Straßenverkehrs. Technische Neuerungen,
wie zum Beispiel der Katalysator, haben den Ausstoß
zwar immer wieder reduziert. Das wurde aber durch gestiegene Fahrleistungen bei weitem aufgehoben. Wie gesagt: ein Plus von 11 Prozent bei den Kfz-Zulassungen
im Jahr 2005.
Wir werden nicht verhindern können, dass der Verkehr, und zwar der Güter- wie der Individualverkehr,
weiter wächst. Wir wollen den Verkehr weder verhindern noch behindern. Auch wir Umweltpolitiker wollen,
dass der Verkehr fließt. Mobilität für die Bürger und für
die Wirtschaft ist ein unverzichtbares Gut in unserer Gesellschaft.
({0})
Wenn aber der Verkehr ungebremst und unkoordiniert
wächst, ist die Mobilität gefährdet. Der Kollaps droht.
Mobilität ist daher das Ziel einer dauerhaften umweltgerechten Verkehrspolitik. Wir begrüßen daher das Gutachten, in dem schlüssig nachgewiesen wird: Hohe Mobilität und auch das Wachstum von Mobilität sind mit
weniger Verkehr möglich, so wie Staatssekretär Müller
es vorhin ausgedrückt hat.
({1})
Dies ist die Richtschnur unseres politischen Handelns. Wenn wir den motorisierten Straßenverkehr deutlich umweltverträglicher gestalten wollen, müssen wir
also dafür sorgen, dass das unkoordinierte Wachstum
des Straßenverkehrs möglichst gering bleibt und vor
allem in geordnete Bahnen gelenkt wird. Dafür brauchen
wir zum Beispiel Siedlungsstrukturen, die es den Menschen ermöglichen, auch ohne eigenen fahrbaren Untersatz vom Wohnort zur Arbeit zu gelangen.
Mit der Abschaffung der Eigenheimzulage und der
Begrenzung der Pendlerpauschale haben wir - das sage
ich ganz bewusst - den nicht einfachen, aber richtigen
Weg bereits beschritten. Mit dem CO2-Gebäudesanierungsprogramm, das dem vorhandenen Raum zugute
kommt, sei er privat oder gewerblich genutzt, verhindern
wir eine weitere Zersiedlung und Zerstörung von Landschaft und Natur. Frau Dött, auch das schafft Arbeitsplätze; so viel zu Ihrem Hinweis von vorhin.
({2})
Dies bedeutet weniger Verkehr, weniger Belastung für
Umwelt und Gesundheit und weniger Mobilitätshindernisse, etwa in Form von Staus.
Wir sind uns bewusst: Es gibt keinen Königsweg, der
uns zu dem Ziel eines umweltverträglichen Straßenverkehrs führt. Verkehrsvermeidung, Verkehrsverlagerung und technische Innovationen sind wichtige Bausteine, um dem Ziel einer lebenswerten Umwelt näher zu
kommen. Das große Erfolgspotenzial des technischen
Fortschritts vom Katalysator bis zur Telematik ist uns allen bekannt und bewusst. Solche Neuerungen schaffen
immer wieder eine so genannte Win-win-Situation, und
zwar für Umweltschutz und Ökonomie.
({3})
Frau Präsidentin, ich möchte noch kurz auf die Möglichkeiten von Verkehrsverlagerungen, zum Beispiel
- wen wundert es - von der Straße auf die Schiene, eingehen. In dem Gutachten wird hier insgesamt weniger
umweltentlastende Wirkung bescheinigt, aber ausdrücklich auf die Bedeutung in bestimmten Bereichen hingewiesen, zum Beispiel durch den Ausbau des europäischen Eisenbahnhochgeschwindigkeitsnetzes. Er kann
bis zum Jahr 2020 im Personenfernverkehr einen Umstieg von sage und schreibe 67 Prozent bewirken. Der
Vizepräsident der EU-Kommission, Herr Barrot, hat sich
kürzlich im Europasaal erneut für die Verbindung Paris-München-Budapest ausgesprochen.
Insgesamt bleibt festzuhalten, dass der Bahn- und der
öffentliche Personennahverkehr gegenüber dem Straßenverkehr wesentliche Vorteile für die Umwelt aufweisen. Eine Verlagerung ist nicht nur grundsätzlich möglich, sondern auch anzustreben. Wirksam wird sie aber
nur im Zusammenspiel mit den anderen Instrumenten einer Verkehrspolitik, die an Umweltzielen orientiert ist.
Der wichtigste Faktor ist nach wie vor der Bürger,
und zwar jeder einzelne.
Herr Kollege!
Dies beginnt bei der Wahl des mobilen Fortkommens
und endet beim umweltpolitischen Denken hinsichtlich
jeglicher Fortbewegung.
Zum Schluss ({0})
Danke, Herr Kollege.
- meiner ersten Rede vor diesem Hohen Hause
möchte ich anmerken, dass ich sehr optimistisch bin,
was die künftige Verträglichkeit von Verkehrs- und Umweltpolitik angeht. Beide Ministerien werden nun in sozialdemokratischer Verantwortung geführt, was sicherlich zu erheblichen Synergieeffekten führen wird.
Herzlichen Dank.
({0})
Herr Kollege, Sie haben schon darauf hingewiesen:
Es war Ihre erste Rede in diesem Hohen Hause. Herzlichen Glückwunsch und alles Gute!
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 15/5900 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Erste Beratung des von der Fraktion der LINKEN
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Fünften Buches Sozialgesetzbuch
- Drucksache 16/451 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Frank Spieth, Fraktion Die Linke.
({1})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Wir wollen mit dem vorliegenden Antrag eine
Debatte über Fehlsteuerungen im Gesundheitswesen eröffnen und mit der Eintrittsgebühr, der so genannten
Praxisgebühr, beginnen. Die Gebühr für die Inanspruchnahme eines an der ambulanten ärztlichen, zahnärztlichen oder psychotherapeutischen Versorgung teilnehmenden Leistungserbringers, also die Praxisgebühr,
verursacht nach unserer Auffassung eine vom Gesetzgeber nicht beabsichtigte Fehlsteuerung im Gesundheitswesen.
Insbesondere die Nichtinanspruchnahme von notwendigen medizinischen Leistungen durch sozial schwächere Bürgerinnen und Bürger - dies wird durch eine
Reihe von Studien belegt - erscheint als problematisch,
weil in dieser Bevölkerungsgruppe die Todes- und die
Erkrankungsraten überproportional hoch sind. Zwar
werden - in absoluten Zahlen - die notwendigen Arztbesuche weiterhin gemacht; die Arztkontakte zur Prävention und bei so genannten Bagatellerkrankungen sind jedoch bei den unteren Einkommensklassen stark
zurückgegangen. Dies führt allen Untersuchungen zufolge zu einer unzureichenden Früherkennung und zur
Verschleppung von Krankheiten, was wiederum langfristig zu deutlich erhöhten Kosten im Gesundheitssystem führen wird. Darüber hinaus wird nach unserer Auffassung durch die Praxisgebühr der Gleichheitsgrundsatz
zum Nachteil von Bürgern in niedrigen Einkommensklassen verletzt.
Das Prinzip der solidarischen Krankenversicherung, wonach junge für alte, gesunde für kranke und reiche für arme Versicherte solidarisch eintreten, wird mit
der Praxisgebühr von den Füßen auf den Kopf gestellt.
Die Versichertengemeinschaft hat einen Anspruch darauf, dass durch Krankheit entstehende Kosten durch die
Versicherung gedeckt werden. Diese Versicherungspflicht wurde vor über 100 Jahren mit gutem Grund eingeführt. Mit der Versicherungsprämie wurde dem Arbeiter damals mehr Sicherheit gegeben. So wurden die
Lebensrisiken Krankheit, Pflege, Alter, Arbeitslosigkeit
und Unfall durch die Sozialversicherungen abgefangen.
Mit diesem Prinzip ist Deutschland über 130 Jahre gut
gefahren.
Nun ein Sprung: 1998 begründeten Sie, meine Damen
und Herren von der SPD, die Abschaffung bzw. die Verminderung von Zuzahlungen im Gesundheitswesen als
Politik zur Stärkung der Solidarität in der gesetzlichen
Krankenversicherung, so der Titel des ersten von der rotgrünen Koalition dem Bundestag vorgelegten Entwurfs
eines Reformgesetzes, das diese Bezeichnung noch verdiente. Das Gesundheitsreformgesetz von 2003 wurde
dann von Ihnen vor allem damit begründet, dass die
Wiedereinführung von Zuzahlungen eine positive Wirkung auf den Arbeitsmarkt habe. Sie beschlossen vor
zwei Jahren eine milliardenschwere Kostenverlagerung
von den Arbeitgebern auf die Arbeitnehmer durch Leistungsausgrenzungen, Änderungen bei der Finanzierung
von Zahnersatz und Krankengeld sowie die Einführung
von Zuzahlungen wie beispielsweise der Praxisgebühr.
Gleichzeitig entlasteten Sie die Arbeitgeber bei den
Lohnnebenkosten. Nur so, wurde damals behauptet,
gebe es die Chance, wettbewerbsfähige Arbeitsplätze
in Deutschland entstehen zu lassen. Nach knapp zwei
Jahren muss man bilanzieren: Dieses Ziel wurde nicht
erreicht.
Im Gegenteil, Sie verlangen fortgesetzt Opfer von den
Menschen und bürden ihnen Lasten auf, ohne dass die
versprochenen positiven Wirkungen eintreten.
({0})
Ihre Politik basiert auf fehlerhaften Annahmen. Sie ziehen völlig falsche Schlüsse. Mir graust schon etwas vor
dem, was auf uns in den nächsten Tagen und Wochen zukommt. Die Hauptprobleme der sozialstaatlichen Sicherungssysteme bestehen nicht in der Leistungsinanspruchnahme, sondern in der Finanzierung und in der
Tatsache, dass die Arbeitslöhne zunehmend sinken, während gleichzeitig die Vermögenseinkommen steigen.
Herr Kollege, Sie haben Ihre Redezeit deutlich überschritten.
Ich komme zum Ende. - Wir meinen, dass die Abschaffung der „Eintrittsgebühr“ ein erster Schritt zurück
zu einer sozialen und solidarischen Krankenversicherung ist. Wir bitten Sie deshalb um Zustimmung zu unserem Gesetzentwurf.
Besten Dank.
({0})
Das Wort hat der Kollege Dr. Rolf Koschorrek, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine
Herren! Die Linken stellen hier einen Antrag, der wieder
einmal ihre erhebliche Distanz zu Wirklichkeit und
Machbarkeit unterstreicht,
({0})
und das noch nicht einmal konsequent. Warum nicht
gleich alle Zuzahlungen auf einmal abschaffen? Das
Geld dafür druckt sich ja bekanntlich von allein.
Die Fraktion der Linken fordert in dem vorliegenden
Antrag die Streichung der Praxisgebühr in Höhe von
10 Euro pro Quartal für gesetzlich versicherte Patienten.
Sie fordert dies mit der Behauptung, dass die Praxisgebühr Patienten mit schlechtem Gesundheitszustand und
mit besonders geringem Einkommen von der medizinischen Versorgung ausgrenze. Dies ist in meinen Augen
flachster Populismus in postsozialistischer Reinkultur.
({1})
Die Realität ist: Niemand braucht in Deutschland auf
den Arztbesuch und die Inanspruchnahme qualifizierter
medizinischer Hilfe zu verzichten, weil er das Geld für
die Praxisgebühr nicht aufbringen kann.
({2})
Im Jahre 2004 waren 6 643 362 erwachsene Patienten
von der Praxisgebühr und den Zuzahlungen, die über die
gesetzlich festgelegte Belastungsgrenze hinausgingen,
befreit.
({3})
Hinzu kommen über 12 Millionen Kinder, die gänzlich
von Gebühren und Zuzahlungen befreit sind.
Die Linken beziehen sich zur Begründung ihres Antrags auf Abschaffung der Praxisgebühr auf den so genannten Gesundheitsmonitor der Bertelsmann-Stiftung
von September 2005. Die Ergebnisse lauten: In den untersten Einkommensgruppen ist der Anteil der Menschen
am größten, die sich ohne ärztliche Hilfe selbst kurieren.
Befragte mit den höchsten Einkommen zeigten die Tendenz, Arztbesuche zeitlich aufzuschieben. Vor allem die
sehr große Gruppe der Befragten mit entzündlichen Gelenkerkrankungen reduzierten die Zahl ihrer Arztbesuche seit dem Frühjahr 2004 um 16 Prozent. Es wird das
Fazit gezogen:
Das Ziel, die Wirkung der Praxisgebühr weitgehend
vom Einkommen unabhängig zu gestalten, scheint
nicht vollständig erreicht worden zu sein.
Zu einem ganz anderen Ergebnis kommt allerdings
die Studie des Wissenschaftlichen Instituts der AOK, das
bekanntlich nicht wirklich in dem Verdacht steht, regierungsfreundliche Äußerungen zu veröffentlichen. Diese
Untersuchung wurde ebenfalls im September 2005 veröffentlicht. Sie beruht auf repräsentativen Befragungen
von jeweils 3 000 GKV-Versicherten in den Frühjahren
der Jahre 2004 und 2005. Hier lauten die Ergebnisse
durchaus anders: Die unmittelbar nach Einführung der
Praxisgebühr zu beobachtende soziale Verzerrung ist
verschwunden. Die Praxisgebühr hat dazu geführt, dass
sich deutlich mehr Patienten als zuvor an Fachärzte
überweisen lassen. Die Praxisgebühr hat die Stellung des
Hausarztes im GKV-System deutlich gestärkt. Die anfänglichen Unsicherheiten haben sich gelegt, vermutlich
nicht zuletzt durch die inzwischen eingespielte Härtefallpraxis. Die Qualität der ärztlichen Leistungen wird positiver als je zuvor beurteilt. Seit 2003 hat der Prozentsatz
der Patientinnen und Patienten, die sich durch ihren Arzt
schlecht versorgt fühlen, erheblich abgenommen.
Wenn wir die Ergebnisse dieser Untersuchung ernst
nehmen und es zutrifft, dass Patientinnen und Patienten
mit besonders geringem Einkommen nicht zum Arzt gehen, weil sie die Praxisgebühr nicht zahlen wollen oder
nicht zahlen können, stellen sich für mich allerdings
ganz andere Fragen. Warum lassen sich die Betroffenen
dann nicht von der Gebühr und den Zuzahlungen befreien?
({4})
Warum machen sie keinen Gebrauch von ihrem gesetzlich verbürgten Anspruch? Für mich stellt sich auch die
Frage: Wie können wir den Betroffenen besser informieren, damit er sich von seiner Krankenkasse von der Praxisgebühr und anderen Zuzahlungen befreien lassen
kann? Hier besteht aus meiner Sicht bestenfalls Aufklärungsbedarf, aber kein Zuschussbedarf der staatlichen
Seite.
({5})
Unter Umständen müssen wir auch darüber nachdenken,
welche weiteren Hilfestellungen die Krankenkassen den
Betroffenen geben können. Eines ist aber unbestreitbar:
Wir haben im GMG dafür gesorgt, dass niemand durch
die Zahlung von Praxisgebühr oder anderen Zuzahlungen für die medizinische Versorgung überfordert wird.
({6})
Ich will noch einmal in Erinnerung rufen: Vorsorgeuntersuchungen sind ebenso wie Untersuchungen und
Behandlungen von Kindern gänzlich von der Praxisgebühr ausgenommen. Es ist daher kein Grund gegeben,
auch nicht für Geringverdiener, den Arztbesuch zu unterlassen oder auch nur hinauszuzögern. Die Belastungsgrenzen für die Praxisgebühr und Zuzahlungen
liegen pro Jahr bei 2 Prozent des jährlichen Bruttohaushaltseinkommens. Für chronisch Kranke beträgt die Belastungsgrenze - auch für alle mitversicherten Familienangehörigen - lediglich 1 Prozent des jährlichen
Bruttohaushaltseinkommens abzüglich aller Freibeträge.
Wie die Fraktion der Linken in ihrem Vorschlag zur
Streichung der Praxisgebühr feststellt, betrugen die Einnahmen durch die Praxisgebühr im Jahr 2005 1,68 Milliarden Euro. Das sind 1,68 Milliarden Euro Entlastung
für die Krankenkassen. Das heißt auch: Eine Abschaffung der Praxisgebühr würde eine Finanzierungslücke
in der Höhe ebendieser 1,68 Milliarden Euro reißen. Da
greifen Sie zu dem verantwortungslosen und immer wieder gern gehörten Patentrezept: Sie wollen das Geld einfach aus dem Bundeshaushalt nehmen. Der Steuersäckel
ist ja bekanntlich unerschöpflich.
({7})
- Tabaksteuer. - Neue und erhöhte Abgaben sind sicher
nicht das, was unser Land am dringendsten benötigt. Ein
wesentliches und wichtiges Ziel unserer Bundesregierung ist es, den hoch verschuldeten Bundeshaushalt in
Ordnung zu bringen. Die Linken wollen erneut ein Loch
aufreißen, neue Schuldenaufnahmen oder neue Steuererhöhungen notwendig machen. Es interessiert sie wie gehabt nicht, woher das Geld letztlich kommt. Um hier
nicht durchdachte, populistische Forderungen vorzubringen, ignorieren sie, was jedem Verantwortungsbewussten in diesem Land klar ist. Wir müssen die Staatsschulden, vor allem im Interesse unserer Kinder, reduzieren.
({8})
Wieder einmal zeigt sich deutlich, dass Sozialismus
überhaupt nichts mit sozialer Politik zu tun hat.
({9})
Die Praxisgebühr ist auch zwei Jahre nach ihrer Einführung weder bei Patienten noch bei Ärzten beliebt.
({10})
Sie ist eine Gebühr, die niemand gerne zahlt und die
auch kein Arzt gerne von seinen Patienten einzieht.
Nach anfänglichen Schwierigkeiten, Widerständen und
organisatorischen Problemen haben sich aber die Abläufe inzwischen sehr gut eingespielt. In der Anlaufphase gab es eine ganze Reihe von schwierigen Fällen,
für die im Laufe weniger Wochen praktikable und akzeptable Lösungen gefunden wurden. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung hat festgestellt, dass die Zahl
der Arztbesuche nach Einführung der Praxisgebühr um
10 Prozent gesunken ist. Da die Patientinnen und Patienten in Deutschland eine sehr hohe, im internationalen
Vergleich überdurchschnittlich hohe Kontaktfrequenz zu
den Ärzten haben, muss diese Entwicklung für uns
durchaus kein Anlass zur Sorge sein.
({11})
Festgestellt wurde auch, dass die Versicherten zunehmend den Hausarzt als zentrale Anlaufstelle aufsuchen
und die Zahl derjenigen, die direkt einen Facharzt aufsuchen, geringer wurde.
({12})
Auch dies ist ein durchaus gewünschter und beabsichtigter Effekt, Kollege Parr, der zur Kostensenkung im Gesundheitswesen erheblich beiträgt.
Gestatten Sie mir ein Fazit: Die Praxisgebühr hat wesentliche Ziele, die mit ihrer Einführung verbunden waren, erreicht. Die gesetzlichen Krankenkassen wurden
entlastet - dies ist eine Tatsache -, auch wenn die Entlastung nicht zu den ursprünglich gewünschten Beitragsreduzierungen führte, sondern allenfalls weitergehende
Beitragserhöhungen verhindert hat. Die Eigenverantwortung des mündigen Patienten wurde gestärkt. Die
Überforderungsregelungen gewährleisten, dass Patienten mit geringem Einkommen nicht überfordert werden.
In der augenblicklichen Situation ist die Praxisgebühr
für die Finanzierung unseres Gesundheitswesens unverzichtbar. Wir werden in den anstehenden Ausschussberatungen deutlich machen, dass der von Ihnen angedachte
Weg in eine weitere Staatsverschuldung mit uns nicht zu
gehen ist.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({13})
Herr Kollege Koschorrek, auch Ihnen herzlichen
Glückwunsch zu Ihrer ersten Rede hier in diesem Hohen
Hause. Alles Gute!
({0})
Das Wort hat der Kollege Detlef Parr, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch
ich möchte dem Kollegen Koschorrek noch gratulieren.
Ich hätte meinen Zwischenruf nicht gemacht, wenn ich
gewusst hätte, dass es Ihre Jungfernrede ist.
({0})
Heute haben wieder Tausende von Arztpraxen hier in
Berlin und bundesweit geschlossen. Die Ärzteschaft hat
die Nase voll. Sie hat die Nase voll, im Krankenhaus
weiter unbezahlte Überstunden zu machen, sie hat die
Nase voll, in den Praxen zeitweise zum Nulltarif zu arbeiten, und sie hat die Nase voll, zunehmend mehr Zeit
vor dem Computer als mit ihren Patienten zu verbringen.
({1})
Das verstehen mittlerweile alle Betroffenen. Die Proteste finden in der Öffentlichkeit breite Zustimmung.
Manche von Ihnen erinnern sich an den Sommer 2003
({2})
- ja, ich war auch dabei, Annette -, an die Allparteienkonsensrunde für eine nachhaltige Gesundheitsreform. Horst Seehofer und Ministerin Schmidt forderten damals vehement zum einen soziale Balance; zum
anderen sollte jede gesetzliche Maßnahme auf ihre bürokratischen Auswirkungen hin überprüft werden. VereinDetlef Parr
bartes Ziel: weniger Bürokratie, weniger Reglementierung. Herausgekommen ist aus den für Horst Seehofer
und Ulla Schmidt erklärtermaßen schönsten Nächsten
ihres Lebens ein Kind: die Praxisgebühr.
({3})
Damit wir uns nicht falsch verstehen, Herr Spahn:
Zuzahlungsregelungen in der gesetzlichen Krankenversicherung sind notwendig, um Kostenbewusstsein zu
schaffen, um Anreize zu setzen, sich möglichst wirtschaftlich und sparsam zu verhalten. Doch muss das auf
dem Rücken der Ärzteschaft ausgetragen werden? Darf
eine Praxis zu einem Inkassounternehmen der Krankenkassen missbraucht werden?
Die FDP hat diese Fragen mit ihrem Antrag schon vor
zwei Jahren mit einem klaren Nein beantwortet. Wir haben uns in der Konsensrunde - wir tun das bis heute für eine praktikable, unbürokratische Zuzahlungsregelung im ambulanten Bereich im Rahmen der Kostenerstattung eingesetzt.
({4})
Wenn wir unser Gesundheitssystem transparenter machen wollen, wenn wir Verhaltensänderungen in Gang
setzen wollen, dann müssen wir von der anonymen
Chipkarte, vom Sachleistungsprinzip Abschied nehmen.
({5})
Es muss endlich Schluss sein mit einer Vollkaskomentalität, die Finanzierungsströme in falsche Richtungen
lenkt.
({6})
Herr Spahn, Ärzte müssen, wie alle anderen Berufssparten auch, ihre Leistungen in Euro und Cent ausweisen
dürfen - ich denke, da sind wir einer Meinung - und
Versicherte müssen präzise wissen, welche Kosten durch
Inanspruchnahme ärztlicher Leistungen entstehen.
Ich wiederhole heute gern unsere Forderung, mit sozial angemessenen Härtefallregelungen - Herr Kollege
Koschorrek hat darauf hingewiesen, in welcher Weise
das schon genutzt wird - im Rahmen der Kostenerstattung - hier unterscheiden wir uns - ein wirkungsvolles
Steuerungselement zu etablieren, zum Beispiel über prozentuale Zuzahlungen, die einen Bezug zu den in Anspruch genommenen Leistungen haben.
({7})
Auch die Linke fordert jetzt die Streichung des Arztpraxeneintrittsgeldes, wie wir vor zwei Jahren. Ziehen
unsere beiden Fraktionen nun etwa am gleichen Strang?
({8})
Natürlich nicht! Wenn man sich unsere Begründungen
im Einzelnen anschaut, sieht man: Die Linke will die
Praxisgebühr ersatzlos streichen und begründet dies mit
der übermäßigen Belastung für die sozial Schwachen.
Sie fordert, dies gegenzufinanzieren, indem die Zuweisungen aus dem Bundeshaushalt bestehen bleiben und
nicht, wie im Koalitionsvertrag beschlossen, zurückgeführt werden. Diese beiden Ziele kann man durchaus als
unterstützenswert bezeichnen. Die Streichung der Mittel
aus dem Bundeshaushalt - da kommt der Zwischenruf
von Herrn Spieth in Richtung Tabaksteuer zu Recht - ist
ein Beispiel für die geringe Verlässlichkeit der Politik einer großen Koalition;
({9})
denn diese Mittelzuweisung war ein Kernstück des großen Kompromisses der alten Regierung mit der CDU/
CSU, des GMG, das man eigentlich besser ein gemeinsames Mittelmaßgesetz nennen könnte.
Das bis ins Jahr 2007 berechnete Finanztableau
baute unter anderem auf den für dieses Jahr beabsichtigten Zuwendungen von immerhin 4,2 Milliarden Euro
auf. Es galt als Garant für Beitragssatzsenkungen und
eine stabile Finanzlage der Kassen über Jahre hinweg.
Wie sehr wurden wir seinerzeit gescholten, weil wir diesem Finanztableau mit all seinen Hochrechnungen misstraut haben,
({10})
und wie sehr haben wir mit unserem Misstrauen Recht
behalten! Gesundheitsversorgung nach Haushaltslage
darf es nach unserer Überzeugung nicht geben.
Nun aber ein Wort an die Linke: Wer Zuzahlungen als
vorangetriebene Teilprivatisierung diskreditiert und damit das Prinzip der Eigenverantwortung völlig ausblendet, kann nicht mit der Zustimmung der Liberalen
rechnen.
({11})
So richtig der Einsatz für ärmere Bevölkerungsgruppen
ist - wir dürfen darüber nicht vergessen, dass sich eine
Gesundheitsreform nicht in gleichmachender Sozialromantik verlieren darf. Gezielte Hilfen für bedürftige
Menschen - ja, aber nicht ohne angemessene Eigenbeteiligung der stärkeren Schultern unserer Gesellschaft.
({12})
- Herr Spieth, Bismarck ist tot. Wir brauchen dringend
andere Vorstellungen zur Gesundheitsreform als die bismarckschen Grundsätze.
({13})
Herzlichen Dank fürs Zuhören.
({14})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Carola
Reimann, SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir haben mit der letzten Gesundheitsreform
einen umfassenden Erneuerungsprozess für unser Gesundheitssystem eingeleitet. Unser Ziel war und ist, das
solidarische Gesundheitssystem zukunftsfähig zu machen. Die Praxisgebühr war Teil dieser Reform. Sie
trägt nicht nur dazu bei, die Gesundheitskosten und die
Kassenbeiträge stabil zu halten, sondern sie entfaltet
auch wichtige steuernde Wirkungen, die ein gesundheits- und kostenbewusstes Verhalten der Versicherten
fördern.
({0})
Leider scheint das Prinzip der Praxisgebühr im Detail
nicht überall so bekannt zu sein, wie wir uns das wünschen. Das legt zumindest der in Teilen sehr populistisch
formulierte Antrag der Linken zur Abschaffung der Praxisgebühr nahe. Deswegen möchte ich noch einmal kurz
skizzieren, worum es eigentlich geht.
Alle gesetzlich Versicherten haben seit dem 1. Januar
2004 pro Quartal beim Erstbesuch eines Arztes, eines
Zahnarztes oder in der ambulanten Versorgung jeweils
10 Euro Praxisgebühr zu entrichten. Ich möchte an dieser Stelle kurz daran erinnern, dass diese Regelung ein
Kompromiss zwischen den Vorstellungen der Union und
der SPD ist; sie ist kein Kind, sondern ein Kompromiss.
Die Union wollte seinerzeit eine 10-prozentige Beteiligung der Patienten für alles.
({1})
Wir dagegen wollten ursprünglich den Hausarztbesuch
gebührenfrei stellen, um die Lotsenfunktion des Hausarztes zu stärken. Herausgekommen ist die derzeitige
Regelung zur Praxisgebühr mit den schon angesprochenen Sozialklauseln. So sind Kinder bis zu 18 Jahren, die
Schwangerenvorsorge und alle Vorsorgeuntersuchungen
von der Praxisgebühr ausgenommen. Es existiert außerdem eine Zuzahlungsgrenze, die dafür sorgt, dass die
Summe der Zuzahlungen nicht mehr als 2 Prozent des
jährlichen Bruttoeinkommens beträgt. Für chronisch
kranke Menschen liegt die Belastungsgrenze bei 1 Prozent.
Zudem gab es für die Krankenkassen die Option, ihren Versicherten Bonusprogramme oder eine Ermäßigung der Praxisgebühr anzubieten, wenn die Versicherten an integrierten Versorgungsprogrammen - Stichwort:
Disease-Management-Programme, DMP - oder an der
hausarztzentrierten Versorgung teilnehmen. Die Krankenkassen haben diese Programme angeboten und sie
werden von den Versicherten angenommen. Damit wird
bei den Versicherten verstärkt gesundheitsbewusstes
Verhalten gefördert. Liebe Kolleginnen und Kollegen
von der Linken, das sind schon gewünschte Steuerungswirkungen der Praxisgebühr, die Sie in Ihrem Antrag bewusst unterschlagen.
({2})
Sie entwerfen stattdessen ein Schreckensszenario, in
dem Sie die medizinische Grundversorgung ärmerer
Teile unserer Bevölkerung durch die Praxisgebühr gefährdet sehen oder sogar teilweise nicht mehr gewährleistet sehen.
Aber kehren wir doch einmal zur Realität zurück und
kommen zu den Auswirkungen der Praxisgebühr. Zwei
Jahre nach Einführung kann man da schon einiges sagen.
Zunächst einmal ist festzustellen, dass die Krankenkassen Einnahmen verbuchen konnten, und zwar mehr als
2 Milliarden Euro im Jahr; das entspricht immerhin einer
Größenordnung von etwa 0,2 Beitragssatzpunkten. Der
in Ihrem Gesetzentwurf bezifferte Betrag ist deutlich zu
gering und entspricht damit nicht den Tatsachen.
Natürlich hatte die Einführung der Praxisgebühr - darauf habe ich schon hingewiesen - nicht nur finanzielle
Auswirkungen, sondern auch Auswirkungen auf das Verhalten der Versicherten. Inzwischen ist durch Studien
des Zentralinstitutes der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und durch das Wissenschaftliche Institut der AOK
belegt worden, dass die Zahl der Arztbesuche durch die
Praxisgebühr um etwa 10 Prozent gesunken ist. Angesichts der im internationalen Vergleich sehr hohen Zahl
der Arztkontakte in Deutschland vor der Einführung der
Praxisgebühr ist das, glaube ich, durchaus vertretbar.
Viel wichtiger aber ist die Tatsache, dass die Versicherten zunehmend zunächst den Hausarzt als zentrale
Anlaufstelle aufsuchen, der dann seine Lotsenfunktion
wahrnehmen kann. Die Versicherten überlegen sich also
genauer, wann sie welchen Arzt aufsuchen, und gehen
zunächst zu ihrem Hausarzt. Gerade das ist medizinisch
sinnvoll und war auch politisch so gewollt.
({3})
Die Regelung hat an dieser Stelle eine positive Steuerungswirkung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der PDS, Sie
begründen Ihren Gesetzentwurf damit, dass durch die
Praxisgebühr die gesundheitliche Versorgung ärmerer
Bevölkerungsgruppen gefährdet sei. Dafür gibt es jedoch keine wissenschaftlichen Belege. Richtig ist zwar,
dass Anfang 2004, kurz nach Einführung der neuen Regelung, Geringverdiener infolge der teils heftigen, auch
öffentlich geführten Debatten in Befragungen angaben,
auf den Arztbesuch zu verzichten. Aber inzwischen hat
sich die Aufregung gelegt und die Zahlen derer, die auf
den Arztbesuch verzichten wollen, sind wieder zurückgegangen, wie sich ebenfalls in Befragungen herausgestellt hat. Diese Entwicklung belegt auch die von Ihnen
zitierte Bertelsmann-Studie. Leider zitieren Sie nur unvollständig aus diesem Werk und berücksichtigen das in
Ihrer Begründung nicht. Es hat in den letzten zwei Jahren folgende Entwicklung gegeben: Die Versicherten gehen zuerst zum Hausarzt. Sie versuchen, Arztbesuche
gezielter quartalsweise zu organisieren und die Behandlung, wenn das möglich ist, in dem jeweiligen Quartal
zum Abschluss zu bringen. Das ist der gewünschte Effekt, der letztlich geblieben ist.
Lassen Sie mich abschließend noch ein Wort zu den
Kosten sagen, die der Gesetzentwurf verursachen
würde, wenn er umgesetzt würde. Das Streichen der
Praxisgebühr würde für die gesetzliche Krankenversicherung zu Einnahmeausfällen in Höhe von 2 Milliarden Euro führen. Wie gesagt, Ihre 1,68 Milliarden Euro
liegen deutlich zu niedrig. Da Sie aber auch keine höheren Beiträge wünschen, muss das Geld also aus dem
Bundeshaushalt kommen. Nun ist es aber so, dass man
dem Bundeshaushalt bei der momentanen Finanzlage
nicht einfach 2 Milliarden Euro entnehmen kann, wenn
man eine solide und seriöse Haushaltspolitik fortsetzen
möchte. Aber diese Frage scheint bei Ihrem Entwurf
nicht so sehr im Vordergrund gestanden zu haben.
Kolleginnen und Kollegen, für uns gibt es keinen
Grund, die Praxisgebühr zu streichen und ein wichtiges
Steuerungselement aus der Hand zu geben. Die Praxisgebühr wirkt, und zwar anders, als Sie es beschreiben.
Ihr Vorschlag, die Praxisgebühr ersatzlos zu streichen,
ignoriert nicht nur konsequent die sinnvollen Funktionen
der Praxisgebühr; er offenbart meiner Ansicht nach
ebenso ein sehr eindimensionales Verständnis von Gesundheitspolitik, denn er dient letztlich lediglich als Vehikel für eine populistische Einzelforderung.
({4})
Eine Ausgrenzung von Menschen mit geringem Einkommen, die Sie hier attestieren, können Sie nicht belegen.
Vielmehr haben wir mit der Gesundheitsreform die
Voraussetzungen geschaffen, dass unser solidarisches
Gesundheitssystem weiterhin zuverlässig funktioniert.
Denn nur - auch das muss man sagen - ein solidarisches
Gesundheitssystem garantiert allen, auch den weniger
Wohlhabenden, den Zugang zu medizinischen Leistungen, und zwar auf dem neuesten Stand der medizinischen Forschung.
Ich danke.
({5})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Birgitt Bender, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Spieth, ich könnte es mir einfach machen und sagen,
dass der Antrag Ihrer Fraktion billiger Populismus ist;
dafür gibt es Hinweise. Ich denke da beispielsweise an
Ihre Vorschläge zur Gegenfinanzierung.
({0})
Sie schlagen vor, Zuzahlungen abzuschaffen, die für
einen Einnahmezufluss im Gesundheitswesen in Höhe
von 1,7 Milliarden Euro sorgen. Was schlagen Sie als
Gegenfinanzierung vor? Die von der Koalition beabsichtigte Streichung des Steuerzuschusses zurückzunehmen.
Ich teile zwar die Kritik, dass es der nackte Wahnsinn ist,
4 Milliarden Euro Steuergelder, die wir einmal gemeinsam beschlossen haben, aus der GKV einfach herauszunehmen.
({1})
Aber zu sagen, das sei eine mögliche Gegenfinanzierung
für Mehrausgaben, Herr Spieth, ist wirklich ein Witz.
({2})
Ich will mich mit Ihrem Gesetzentwurf aber weiterhin
ernsthaft befassen. Sie sagen, die Praxisgebühr führe zur
Unterversorgung ärmerer Bevölkerungsschichten. Die
Bertelsmann-Studie, auf die Sie sich berufen, legt diesen
Schluss in der Tat nahe. Aber es gibt auch andere Studien. Herr Koschorrek und Frau Reimann haben bereits
auf die Studie des Wissenschaftlichen Instituts der AOK
hingewiesen. Ich will kurz ausführen, was dabei herausgekommen ist.
Zu Beginn des Jahres 2004 haben tatsächlich viel
mehr Menschen mit einem Einkommen unter 1 000 Euro
Arztbesuche unterlassen als etwa Menschen mit einem
Einkommen über 3 000 Euro. Die Befragung wurde ein
Jahr später, Anfang 2005, wiederholt. Siehe da: Es gab
annähernd die gleiche Anzahl von Menschen mit höherem wie mit niedrigerem Einkommen - es waren noch
etwas mehr bei den höheren Einkommen -, die gesagt
haben, dass sie Arztbesuche unterlassen haben. Das
WIdO schließt daraus, dass die soziale Verzerrung, die
es in der Tat zu Beginn der Gesundheitsreform gab - das
beruhte wahrscheinlich auf Informationsmängeln -, inzwischen beseitigt ist. Zu einem ähnlichen Ergebnis
kommt eine Studie von DIW und TU Berlin. Diese Studie zeigt, dass die Zahl der Arztbesuche abgenommen
hat und dass dieses Verhalten über alle Einkommensgruppen hinweg einheitlich ist.
Wenn wir seriös über dieses Thema diskutieren wollen, müssen wir doch eines beachten: Ob tatsächlich notwendige Arztbesuche unterlassen werden, können wir
erst einschätzen, wenn Längsschnittuntersuchungen
durchgeführt worden sind. Die Ergebnisse von solchen
Untersuchungen können aber erst nach sieben bis acht
Jahren vorliegen.
({3})
Ich weiß gar nicht, ob Sie an diesen Ergebnissen
wirklich interessiert sind, Herr Spieth. Schauen Sie sich
einmal genau an, was die Menschen, die im Rahmen der
Bertelsmann-Studie befragt wurden, geantwortet haben.
Sie haben gesagt, dass sie vor der Reform 23-mal im
Jahr zum Arzt gegangen sind, also fast jede zweite Woche. Das ist auch für chronisch kranke Menschen sehr
viel. Wenn diese Menschen nach der Reform 16-mal
zum Arzt gehen, ist das immer noch nicht wenig. Wir
wissen, dass Menschen in Frankreich, in den Niederlanden und in Dänemark viel weniger häufig zum Arzt gehen als Menschen in Deutschland, dass sie aber nicht
kränker sind. Man könnte also einmal darüber nachdenken, ob nicht die Menschen, die in Deutschland so oft
zum Arzt gehen, Ressourcen blockieren, die für andere
kranke Menschen dann nicht zur Verfügung stehen.
Auch die Frage der Ressourcenverteilung im Gesundheitswesen unter den Kranken, Herr Spieth, ist eine
Frage sozialer Gerechtigkeit.
({4})
Für die Grünen kann ich nur sagen: Wir wollen, dass
es keine Unterversorgung gibt. Wir wollen aber auch
Überversorgung im Gesundheitswesen abbauen. Wir
wollen, dass das Geld im Gesundheitswesen an der richtigen Stelle ausgegeben wird. Auch das gehört zur sozialen Gerechtigkeit. Wenn wir da Ihre Partei an unserer
Seite hätten, dann würde das den kranken Menschen in
diesem Land vielleicht mehr dienen als Ihre Vorschläge.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/451 an den Ausschuss für Gesundheit vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl und die
Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union ({0})
- Drucksache 16/544 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Innenausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Herr Parlamentarischer Staatssekretär Alfred Hartenbach.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir wollen einen europäischen Raum der Freiheit,
der Sicherheit und des Rechts schaffen. Dazu gehört,
dass die Mitgliedstaaten der Europäischen Union zum
Schutz vor Terrorismus und Kriminalität und zur Sicherheit ihrer Bürgerinnen und Bürger enger bei der Strafverfolgung zusammenarbeiten. Der Europäische Haftbefehl bringt hier ganz wichtige Fortschritte.
Neu beim Europäischen Haftbefehl ist die grundsätzliche Verpflichtung, auch eigene Staatsangehörige auszuliefern. Wer sich in der Europäischen Union frei bewegt und außerhalb seines Heimatstaates Straftaten
begeht, der muss sich auch außerhalb seines Heimatstaates vor Gericht verantworten. Das gilt für EU-Ausländer,
die bei uns Straftaten begehen. Das gilt auch für Deutsche, die im Ausland Straftaten begehen. Neu ist zudem
der Wegfall der Prüfung der beiderseitigen Strafbarkeit
bei den 32 Listendelikten. Neu ist schließlich - darauf
möchte ich besonders hinweisen - die Verkürzung des
Auslieferungsverfahrens.
Das alles gibt der Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl vom 13. Juni 2002 zur Umsetzung
vor. Wir haben damals in ausgiebigen Beratungen und
sorgfältigen Prüfungen vor allem unter Beachtung unseres Grundgesetzes und unter Heranziehung des § 73 des
Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen, des Ordre public, das Gesetz zur Umsetzung des
Europäischen Haftbefehls geschaffen, das im Juli 2004
in Kraft getreten ist. Wir haben dabei auch die mahnenden Stimmen sorgfältig und gewissenhaft ausgewertet.
Ich betone das besonders im Namen derjenigen Kolleginnen und Kollegen, die an dem Gesetz mitgewirkt haben.
Für einige war dann allerdings der 18. Juli 2005
({0})
in Karlsruhe ein Gang nach Canossa. Sie demonstrieren
das heute noch, manchmal im härenen Gewand. Für
mich ist dies eine Entscheidung des obersten Verfassungsorgans gewesen wie viele andere vorher auch, mit
der wir nicht übereinstimmten, die wir aber respektieren
und umsetzen werden. Deswegen brauchen wir aber
nicht im Büßerhemd aufzutreten.
({1})
Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung das europarechtliche Instrument des Europäischen Haftbefehls nicht beanstandet. Es hat aber eine
Neuregelung des Europäischen Haftbefehlgesetzes in
zwei Punkten gefordert:
Erstens. Die Entscheidung der Bewilligungsbehörde
muss künftig justiziabel sein, also von einem Gericht
überprüft werden können. Diese Forderung ist im vorliegenden Gesetzentwurf so gelöst, dass die Bewilligungsbehörde vorab mitteilen muss, ob und warum sie den
Betroffenen ausliefern wird. Die Entscheidung der Bewilligungsbehörde wird dann vom Oberlandesgericht im
Zuge des Zulässigkeitsverfahrens überprüft. Damit ist
nicht nur dem Auftrag des Verfassungsgerichts Genüge
getan.
({2})
Vielmehr vermeiden wir auch Verfahrensverzögerungen.
Die Auslieferungsentscheidung muss nämlich beim Europäischen Haftbefehl spätestens 60 Tage nach der Festnahme des Betroffenen erfolgen.
Zweitens hat das Bundesverfassungsgericht gefordert: Die Auslieferung deutscher Staatsangehöriger ist
nur zulässig, wenn die Tat, deretwegen um Auslieferung
ersucht wird, einen maßgeblichen Auslandsbezug aufweist. Mit anderen Worten: Tatort und Erfolgseintritt
müssen im Wesentlichen im Ausland liegen.
Dieser Forderung wird mit der Neuregelung in § 80
des Entwurfs entsprochen. Danach ist die Auslieferung
unzulässig, wenn die Tat einen maßgeblichen Inlandsbezug hat. Wenn also ein deutscher Staatsangehöriger sein
möglicherweise strafbares Verhalten im Wesentlichen
nur hier, in Deutschland, begeht und es sich im Wesentlichen auch nur hier auswirkt, dann soll er nicht damit
rechnen müssen, dass er deswegen an einen anderen
Staat ausgeliefert wird.
In so genannten Mischfällen, also in solchen Fällen,
in denen weder der Inlands- noch der Auslandsbezug
überwiegt, muss eine Abwägung stattfinden. Bei dieser
Abwägung sind den Vorgaben aus Karlsruhe entsprechend - ich zitiere … die praktischen Erfordernisse und Möglichkeiten
einer effektiven Strafverfolgung und die grundrechtlich geschützten Interessen des Verfolgten unter Berücksichtigung der mit der Schaffung eines
Europäischen Rechtsraums verbundenen Ziele zu
gewichten und zueinander ins Verhältnis zu
setzen …
Weiter ist zu berücksichtigen, ob es ein Straf- oder Ermittlungsverfahren in Deutschland gibt oder gegeben
hat. Wenn also hier zum Beispiel ein Verfahren anhängig
war und wenn es eingestellt wurde, ist völlig klar, dass
eine Auslieferung in der Regel nicht mehr in Betracht
kommen kann.
Mit dieser Neuregelung genügen wir auch dem Prüfungsauftrag des Bundesverfassungsgerichtes, das verlangt hat, dass die staatsanwaltschaftliche Einstellungsentscheidung durch die Justiz überprüfbar sein müsse,
soweit es um die Auslieferung von eigenen Staatsangehörigen geht. Die Entscheidung darüber, ob die Tat einen
In- oder Auslandsbezug hat oder ob es sich um einen
Mischfall handelt und wie dieser Mischfall zu lösen ist,
trifft das zuständige Oberlandesgericht.
Weitere Nachbesserungen hat Karlsruhe trotz der Erklärung der Gesamtnichtigkeit nicht gefordert. Insbesondere ist es, verehrte Kolleginnen und Kollegen der CSULandesgruppe im Deutschen Bundestag, nicht erforderlich, die in Ihrer heutigen Pressemitteilung erhobene
Forderung, deutsche Staatsangehörige nicht wegen
Bagatellen auszuliefern, explizit in den Gesetzestext
aufzunehmen. Das Verfassungsgericht hat in seiner Entscheidung - dies völlig zu Recht - betont, dass die Verhältnismäßigkeit ohnehin und selbstverständlich zu beachten ist. Diese Selbstverständlichkeit ist übrigens auch
in der Gesetzesbegründung mehrfach betont worden. Sie
finden im Gesetzestext ihre Stütze unter anderem in dem
bereits von mir erwähnten Ordre public des § 73 IRG.
Dieser wird von einem Oberlandesgericht, also von drei
Berufsrichtern, geprüft. Seien Sie also versichert: Kein
Deutscher wird künftig wegen Nichtigkeiten an das Ausland ausgeliefert werden. Diese Selbstverständlichkeit
im Gesetz klar zu stellen, ist unnötig. Wenn wir nicht
Freunde wären, würde ich vielleicht noch härtere Worte
finden.
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat bei
unseren europäischen Partnern natürlich zu Nachfragen
geführt. In der Praxis laufen wir in der derzeitigen
Schwebephase sogar Gefahr, am Auslieferungsverkehr
innerhalb der EU nur noch in eingeschränktem Umfang
teilzunehmen. Wir haben sofort im Anschluss an die
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes einen
Entwurf vorgelegt. Ich biete Ihnen, meine sehr geehrten
Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, an,
auch diesen Entwurf, der heute von den Fraktionen der
CDU/CSU und der SPD vorgelegt wird, im Verfahren
ernsthaft zu beraten, wie das ja üblich ist. Wir sind gern
bereit, Sie bei diesen Beratungen zu unterstützen, sofern
Sie unsere Unterstützung und Hilfe haben wollen.
Ich glaube, dass wir ein an den Grundrechten orientiertes und gleichwohl effektives und dem Rahmenbeschluss entsprechendes Gesetz schaffen werden.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat die Kollegin Sabine LeutheusserSchnarrenberger, FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Deutsche Bundestag hat sich zuletzt 2004 mit
dem Europäischen Haftbefehl befasst. Wir alle wissen
noch zu gut, dass die Beratungen über den damaligen
Gesetzentwurf der Bundesregierung nicht gerade zu den
parlamentarischen Sternstunden gehört haben.
({0})
- Das sage ich Ihnen gleich.
Der Deutsche Bundestag sah sich mit einem Gesetzentwurf konfrontiert, mit dem der Rahmenbeschluss
zum Europäischen Haftbefehl umgesetzt werden sollte und das möglichst schnell. Sachliche Kritik führte seitens der Bundesregierung und Vertretern der damaligen
rot-grünen Koalitionsfraktionen schnell zu dem Vorwurf,
mit einer Verzögerung der Beratungen dem internationalen Terrorismus und der organisierten Kriminalität Vorschub zu leisten. Schließlich hat der Gesetzentwurf aufgrund erheblichen Drucks im Bundestag eine Mehrheit
gefunden. Alle Fraktionen - das werden Sie feststellen,
wenn Sie sich die damaligen Beratungen und Reden ansehen - haben darauf hingewiesen, dass ihnen die Zustimmung sehr schwer fällt.
Das Ergebnis dieses Gesetzgebungsverfahrens ist ja
nun bekannt: ein vernichtendes Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das das gesamte Gesetz zum Europäischen Haftbefehl für nichtig erklärt hat. Das war keine
Sternstunde für das Bundesministerium der Justiz als
Verfassungsressort.
({1})
Wir als Abgeordnete haben natürlich unsere Lektion
gelernt: nicht nur die, dass wir uns bei Rahmenbeschlüssen künftig sehr viel früher einzubringen haben - das
werden wir tun -, sondern auch, dass eine sorgfältige
Beratung erfolgen muss und dass Sachverstand auch außerhalb des Ministeriums einzuholen ist. Das ist in diesen schwierigen rechtspolitischen Fragen unverzichtbar.
Deshalb hat der Rechtsausschuss bereits gestern eine
Sachverständigenanhörung beschlossen. Es gibt viele
Aspekte in diesem Gesetzentwurf, die wirklich noch der
Hinterfragung durch Sachverständige bedürfen.
Sie alle wissen noch, welche Bedenken es damals gegen den Gesetzentwurf gegeben hat. Natürlich stellt sich
die ganz schwierige Frage, wie wir in dem Bereich Innen- und Justizzusammenarbeit in der Europäischen
Union vorgehen; denn wir haben nicht in allen Mitgliedstaaten gleiche Rechtsstandards und Rechtsschutzmöglichkeiten. Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung,
das in Tampere und auch in den Haager Beschlüssen vereinbart wurde, ist eben nicht der Weg zur Anpassung
von Standards. Vielmehr wird eine Anerkennung justizieller Entscheidungen auf unterschiedliche Standards
aufgesetzt, was mit großen Problemen verbunden ist.
Deshalb, Herr Staatssekretär, bin ich froh, dass Ihre
Ministerin - ich hätte sie gerne heute hier zu dem Gesetzentwurf gehört - gestern im Rechtsausschuss angekündigt hat, dass es demnächst Rahmenbeschlussentwürfe geben wird, die endlich einheitliche Standards für
die Rechte von Beschuldigten enthalten werden. Das ist
genau das, was wir von Anfang an immer eingefordert
haben.
({2})
Das Bundesverfassungsgericht hat mit der Nichtigerklärung des gesamten Gesetzes zum Europäischen
Haftbefehl ohne Übergangsregelung ein klares Signal an
den Gesetzgeber gegeben, nämlich sich noch einmal
grundlegend mit diesem Gesetzgebungsvorhaben zu befassen und nicht nur einige wenige Detailänderungen
vorzunehmen. Das Gericht hat ausgeführt, dass das Gesetz auf unverhältnismäßige Weise in das Grundrecht der
Auslieferungsfreiheit gemäß Art. 16 Abs. 2 Satz 2
Grundgesetz eingegriffen hat.
Bei sorgfältiger Lektüre des Gesetzentwurfes der Koalitionsfraktionen blickt man etwas erstaunt. Es ist wie
bei dem Gesetzentwurf zur akustischen Wohnraumüberwachung vorgegangen worden, indem zentrale Aussagen
des Bundesverfassungsgerichtes ignoriert wurden. Das
Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung
klar ausgeführt, dass das Europäische Haftbefehlsgesetz
aufgrund der fehlenden Anfechtbarkeit der Auslieferungsbewilligungsentscheidung gegen die Rechtswegegarantie nach Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz verstößt.
({3})
Daher verwundert es, dass die Bewilligungsentscheidung auch weiterhin nachträglich nicht anfechtbar sein
soll. Dadurch, dass die Bewilligungsentscheidung faktisch vor die Zulässigkeitsentscheidung durch das OLG
verlagert wird, gewinnt der Beschuldigte wenig: nämlich
die Einführung des Richtervorbehalts, nicht aber die
Rechtswegeröffnung nach Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz.
({4})
Deshalb muss das noch einmal in den Beratungen überprüft und hinterfragt werden. Denn eines kann sich weder das Ministerium noch das Parlament leisten: dass wir
hier wieder einen Gesetzentwurf mit Mehrheit beschließen, der dann wiederum in einigen Punkten, die jetzt klar
angesprochen werden, beim Bundesverfassungsgericht
nicht Bestand hat.
({5})
Das wäre die größte Blamage, die überhaupt passieren
kann. Dann bestünde zu Recht eine große Verunsicherung in anderen europäischen Mitgliedstaaten über das,
was hier im Rahmen der deutschen Gesetzgebung im
Bereich Innen- und Justizzusammenarbeit in der Europäischen Union passiert.
Ich hoffe, dass in den Beratungen gerade auch die
Vertreter des Ministeriums ernsthaft aufnehmen, was
Fachleute zu vielen anderen Aspekten in dem Gesetzentwurf sagen. Ich glaube auch nicht, dass alle Länderjustizminister schon in allen Punkten sehr glücklich mit
dem Gesetzentwurf sind. Manches ist schwammig, ist
nicht korrekt abgegrenzt und viel zu unklar. Dazu gehört
mit Sicherheit § 80 zum Inlandsbezug und Auslandsbezug von Taten. Auch da muss noch einmal deutlich
nachgebessert werden.
Vielen Dank.
({6})
Nächster Redner ist der Kollege Siegfried Kauder,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich korrigiere ungern eine Kollegin. Frau Kollegin
Leutheusser-Schnarrenberger, erlauben Sie mir dennoch
festzuhalten, dass wir zwar alle aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts gelernt haben, aber wohl noch
nicht genug. Denn das Europäische Haftbefehlsgesetz
gibt Anlass zu grundlegenden Erwägungen. Der Bundestagspräsident hat es bei seiner Antrittsrede zutreffend gesagt: Wir sind nicht Befehlsempfänger der Bundesregierung, sondern umgekehrt deren Auftraggeber. Wir, die
Mitglieder des Deutschen Bundestages, verabschieden
Gesetze und sind der Gesetzgeber. So steht es in Art. 77
des Grundgesetzes. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, gilt dies uneingeschränkt und insbesondere bei europäischen Rechtsetzungsakten?
({0})
Siegfried Kauder ({1})
Schauen Sie sich einmal Art. 23 Abs. 3 des Grundgesetzes an, dann wissen Sie, welche Mitwirkungsmöglichkeiten der Deutsche Bundestag bei europäischen
Rechtsetzungsakten hat. Wir haben das Recht, angehört
zu werden, und die Bundesregierung hat unsere Erwägungen zu berücksichtigen. Die Qualität, wie das, was
wir vortragen, zu berücksichtigen ist, ergibt sich sehr
schnell aus Art. 23 Abs. 5 des Grundgesetzes. Hat nämlich ein europäischer Rechtsetzungsakt föderale Bezüge,
sind die Erwägungen des Bundesrates maßgeblich zu berücksichtigen. Was föderalen Bezug hat, ist also maßgeblich zu berücksichtigen, was nur Bundesbezug hat,
ist Makulatur.
({2})
- Herr Kollege Stünker, ich bin Ihnen sehr dankbar. Da
sind wir, die Mitglieder des Deutschen Bundestages,
aufgerufen. Wie gesagt, wir sind der Gesetzgeber. Nach
Art. 23 Abs. 3 Satz 3 des Grundgesetzes kann die Frage,
wie unsere Erwägungen zu berücksichtigen sind, durch
ein Gesetz geregelt werden. Das heißt, der Deutsche
Bundestag kann die Bundesregierung viel mehr, als es
jetzt der Fall ist, binden.
Ein Ansatz hierzu wurde in der letzten Legislaturperiode mit einem Vorschlag der CDU/CSU-Bundestagsfraktion gemacht: ein Gesetzentwurf zur Besserstellung der Rechte der Abgeordneten bei europäischen
Bezügen. Dieser Gesetzentwurf ist gescheitert. Er kann
aber jederzeit wieder aufgerufen werden.
Es genügt nicht, unsere Rechte bei Rechtsakten mit
europäischen Bezügen zu wahren. Es gilt, sie deutlich zu
verbessern. Dazu sind alle aufgerufen.
({3})
Die Rechte zu verbessern, ist auch dringend geboten,
wenn man die Entwicklung des europäischen Rechts betrachtet. Es gibt eine Entscheidung des Europäischen
Gerichtshofs vom 16. Juni 2005, unter Juristen als die so
genannte Pupino-Entscheidung bekannt. Es geht um die
Geltung eines Rahmenbeschlusses über die Stellung der
Opfer im Strafverfahren. Der Europäische Gerichtshof
hat - das lassen Sie mich bitte zitieren - im letzten Satz
dieser Entscheidung festgehalten:
Das nationale Gericht muss sämtliche Vorschriften
des nationalen Rechts berücksichtigen und ihre
Auslegung so weit wie möglich an Wortlaut und
Zweck des genannten Rahmenbeschlusses ausrichten.
Es geht hier um einen Rahmenbeschluss, den Italien
noch nicht in nationales Recht umgesetzt hatte. Wirkt
auf einmal nicht umgesetztes Recht aus einem Rahmenbeschluss wie nationales Recht?
Aber das ist nur eine der Leitentscheidungen des
Europäischen Gerichtshofes zur Wirkung europäischen
Rechts auf nationales Recht. Es gibt eine weitere Entscheidung vom 13. September 2005 zum Umweltstrafrecht. Die Kommission hatte zum Umweltstrafrecht eine
Richtlinie initiiert und parallel dazu hatte der Rat einen
Rahmenbeschluss erlassen. Es bestand Konkurrenz zwischen Richtlinie und Rahmenbeschluss. Nun gehört der
justizielle Bereich nicht in die erste Säule, sondern in die
dritte, sodass in aller Regel nur Rahmenbeschlüsse zulässig sind.
Weit gefehlt: Der Europäische Gerichtshof hat diesen
Rahmenbeschluss zum Umweltstrafrecht auf Antrag der
Kommission kassiert, aber nicht mit dem Hinweis, dass
für den Erlass dieses Rahmenbeschlusses keine Gesetzesgrundlage gegeben ist, sondern mit einem ganz anderen Hinweis: dass der strafrechtliche Bereich als Annexkompetenz in die erste Säule hineingezogen werden
kann.
Meine Damen und Herren vom Rechtsausschuss, das
muss man sich einmal ganz deutlich vor Augen führen.
Denn das heißt, in Zukunft müssen wir damit rechnen,
dass wir im justiziellen Bereich keine Rahmenbeschlüsse mehr erhalten, die wir ausfüllen können, sondern Richtlinien und Verordnungen, die wir dann entweder eins zu eins umsetzen müssen oder die unmittelbar
als nationales Recht gelten. Daher sind wir dringend aufgerufen, unsere Rechte als Parlament zu wahren, indem
wir endlich ein vernünftiges Ausführungsgesetz zu
Art. 23 Abs. 3 Grundgesetz auf den Weg bringen oder
- dazu haben wir das Recht und auch die notwendige
Mehrheit - den meines Erachtens unglücklich geratenen
Art. 23 Abs. 3 Grundgesetz ändern.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wären nicht die
ersten und auch nicht die einzigen. Denn in fünf europäischen Ländern gibt es den so genannten Parlamentsvorbehalt: Die Minister ziehen in den Rat, hören sich an,
welche Empfehlungen für einen Rahmenbeschluss dort
gegeben werden, und reisen nach Hause. Dann muss ihr
nationales Parlament darüber abstimmen, ob man dem
jeweiligen Rahmenbeschluss zustimmt oder nicht. Warum funktioniert das eigentlich in nur fünf europäischen
Ländern und warum nicht auch in Deutschland, im Deutschen Bundestag?
({5})
Ich möchte Sie bitten: Helfen Sie dabei, diese Lücke im
Interesse unserer nationalen Demokratie zu schließen.
({6})
Es ist nun einmal so, dass wir den Rahmenbeschluss
zum Europäischen Haftbefehl umzusetzen haben. Die
Kommission hat ganz eindeutig erklärt, dass sie den
Rahmenbeschluss zum Europäischen Haftbefehl auf der
Grundlage der Entscheidung zum Umweltstrafrecht
nicht wird kassieren lassen. Wir müssen ihn also umsetzen. Für diese Umsetzung hat uns das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 18. Juli 2005
ein Gerüst an die Hand gegeben.
Siegfried Kauder ({7})
Professor Dr. Schünemann aus München hat in seiner
Besprechung dieses Urteils in der Fachzeitschrift „Strafverteidiger“, Heft 12 aus 2005 auf Seite 681 die Überschrift „Markiges Ergebnis, enttäuschende Begründung“
gewählt. Meine Damen und Herren, auch das darf man
einmal sagen; denn wir sind nicht der Büttel des Bundesverfassungsgerichts, sondern selbst aufgerufen, das Verfassungsrecht auszufüllen.
Warum spricht Schünemann von einer enttäuschenden Begründung? Das Bundesverfassungsgericht hat
eine dogmatische Erfindung präsentiert, die bisher in
der Rechtstheorie unbekannt war: Die Richter haben uns
vorgegeben, zwischen Fällen mit Auslandsbezug, Fällen
mit Inlandsbezug und Mischfällen zu differenzieren.
Wenn ein dominierender Inlandsbezug vorliegt, besteht
der Auslieferungsschutz des Art. 16 Abs. 2 Grundgesetz.
Wenn ein dominierender Auslandsbezug besteht, soll
ausgeliefert werden können. Bei den Mischfällen bedarf
es einer besonderen Prüfung. Schünemann hat zu Recht
darüber sinniert, wie man die Fälle, in denen der Auslandsbezug dominiert, von den Fällen abgrenzt, in denen
der Inlandsbezug dominiert, und er hat darüber nachgedacht, was eigentlich ein Mischfall ist.
Hinzu kommt, dass das Bundesverfassungsgericht in
Kenntnis der Gefahrenlage nicht einmal seine eigene
Dogmatik konsequent durchgehalten hat. Denn hinsichtlich der Differenzierung zwischen Inlandsbezug, Auslandsbezug und Mischfällen hat man bei der organisierten Kriminalität - ich frage mich: warum eigentlich? einen Ausnahmefall konstruiert. Das bedeutet, dass uns
das Bundesverfassungsgericht einen dürren Rahmen
vorgegeben hat, den wir normativ ausfüllen müssen. Das
ist die Schwäche, die auch der vorliegende Gesetzentwurf aufweist. Allerdings weiß ich nicht, wie wir die
Aufgabe anders hätten lösen können; denn die Vorgabe
des Bundesverfassungsgerichts müssen wir ja erfüllen.
Das Bundesverfassungsgericht hat uns eine weitere
Vorgabe gemacht - das ist schon erwähnt worden -: Die
Bewilligungsentscheidung muss dem Rechtsweg zugänglich sein. Auch hierzu darf man sagen, dass die
Frage, ob die Bewilligungsentscheidung dem Rechtsweg
zugänglich sein muss, in der Rechtslehre schon sattsam
debattiert worden ist. Die überwiegende Mehrheit der
Rechtslehrer ist zu dem Ergebnis gekommen: Es ist nicht
notwendig, dass die Bewilligungsentscheidung einer gerichtlichen Überprüfung zugeführt werden kann.
Aber es ist nun einmal, wie es ist. Der Gesetzgeber
musste also einen Weg suchen, um dieser Anforderung
gerecht zu werden. Die im vorliegenden Gesetzentwurf
gefundene Konstruktion, die Bewilligungsentscheidung
der Zulässigkeitsentscheidung vorzuschalten, ist zugegebenermaßen nicht besonders elegant.
Denn logische Voraussetzung ist, dass zuerst der Auslieferung zugestimmt wird und die Bewilligung dann
durch die Justizbehörde geprüft wird; also einmal um die
Ecke herum nach hinten gedacht. Aber wenn Sie, liebe
Damen und Herren von der Opposition, eine elegantere
Lösung finden - um die auch ich ringe -, sind wir Ihnen
außerordentlich dankbar.
({8})
Sie sehen, man hat uns Steine statt Brot gegeben, aber
wir sind aufgerufen, auf diese Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu reagieren. Wenn wir allerdings
schon die Chance haben, nachzubessern, sollten wir
auch kritische Stimmen aus der Rechtsanwaltschaft und
aus den Ländern aufnehmen. Es gibt zwei Kritikpunkte,
die ich aufgreifen möchte und die ich in der Regierungsbefragung schon erwähnt habe. Ein Kritikpunkt kommt
zu Recht aus der Anwaltschaft: Bei Mischfällen muss für
eine Auslieferung die Gegenseitigkeit der Strafbarkeit
gegeben sein - warum bei klarem Auslandsbezug nicht?
Darüber sollten wir noch einmal nachdenken. Der zweite
Kritikpunkt kommt aus Bayern. Es wird zu Recht darauf
hingewiesen, dass ein Ausländer, der einen Bezug nach
Deutschland hat, zur Strafvollstreckung leichter nach
Russland ausgeliefert werden kann als in das EU-Ausland. Auch da ist noch nachzubessern.
Deswegen ist es richtig, dass wir uns im Rechtsausschuss entschieden haben, eine Sachverständigenanhörung durchzuführen. Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, auch da sollten wir aus der Vergangenheit lernen:
Wir brauchen nicht nur Praktiker des Auslieferungsrechts, wir benötigen auch Sachverständige aus dem Bereich des Europarechts und aus dem Verfassungsrecht.
Darum würde ich Sie bitten.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat die Kollegin Petra Pau von der Fraktion
Die Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir reden heute über ein Gesetz, das vom Bundestag vor
knapp zwei Jahren beschlossen wurde. Es geht um den
Europäischen Haftbefehl, der jede Bürgerin und jeden
Bürger betreffen oder auch treffen kann. Dieses Gesetz
wurde vom Bundesverfassungsgericht für null und
nichtig erklärt: Es sei mit dem Grundgesetz nicht vereinbar, so das Urteil.
Ich merke an: Es gibt - was ich schlimm finde - immer mehr solcher Gesetze, die uns vom Bundesverfassungsgericht zurückgegeben werden. Heribert Prantl
titelte damals in der „Süddeutschen Zeitung“: „Aufklärung per Ohrfeige“. Mit der Ohrfeige meinte er den Bundestag und mit der Aufklärung meinte er das Urteil.
Denn das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Begründung zugleich festgestellt: Der Bundestag muss mitnichten nachvollziehen, was die Regierung ihm über den
Umweg EU auf den Tisch legt. Ich finde, das war ein guter Spruch, den wir uns zu Herzen nehmen sollten.
Interessant waren allerdings die Reaktionen darauf:
Bundesjustizministerin Zypries kommentierte das Urteil
mit dem Satz: Das ist ein Rückschlag im Kampf gegen
den internationalen Terrorismus. - Ich finde das bezeichnend: Eine Justizministerin kritisiert das BundesverfasPetra Pau
sungsgericht dafür, dass es das tut, wofür es da ist, nämlich das Grundgesetz und die Rechte der Bürgerinnen
und Bürger zu schützen. Sie hätte dem Bundesverfassungsgericht besser danken sollen!
({0})
Ebenso interessant war der Kommentar des Kollegen
Bosbach von der Union. Er meinte, wenn das Gesetz
über den Europäischen Haftbefehl nicht zum Grundgesetz passe, müsse man halt das Grundgesetz ändern. Ich
fürchte, gemessen am dieser Tage viel zitierten und diskutierten Fragebogen für Muslime in Baden-Württemberg hätten beide - die Ministerin wie der Kollege - bei
Grundrechtsfragen sehr schlechte Karten.
Im Kern geht es darum: Unter welchen Bedingungen
müssen bzw. dürfen Bürger in ein anderes EU-Land ausgeliefert werden, wenn sie dort einer Straftat verdächtigt
werden. Das Bundesverfassungsgericht sah hierfür engere Grenzen als die Mehrheit des Bundestages, es hat
sich also schützend vor seine Bürgerinnen und Bürger
und deren Rechte als Staatsbürger gestellt.
Nun liegt der überarbeitete Entwurf zum Europäischen Haftbefehl vor und die einzige Frage, die wir beantworten müssen, lautet: Erfüllt der neue Gesetzentwurf die Kriterien, die das Bundesverfassungsgericht
vorgegeben hat? Ich meine: Nein. Und Sie wissen, mit
dieser Auffassung steht die Linksfraktion nicht allein.
Der Deutsche Anwaltverein und die Bundesrechtsanwaltskammer haben schon prophezeit: Wird dieses Gesetz eins zu eins beschlossen, wird es wieder vor dem
Bundesverfassungsgericht landen und wohl verworfen
werden. Die Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger hat
ja noch einmal einen ganzen Katalog von Fragen vorgestellt, die weder in der Regierungsbefragung vor
14 Tagen aufgelöst werden konnten noch jetzt im Gesetzentwurf beantwortet sind.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sollten beachten: Es gibt nicht nur hierzulande mahnende Stimmen.
Belgien hat den Europäischen Gerichtshof angerufen,
weil es grundlegende Zweifel hegt, ob der Europäische
Haftbefehl überhaupt mit EU-Rechten vereinbar ist. Das
Urteil steht noch aus. Auch insofern sollten wir nicht
aufs Tempo, sondern auf Nachhaltigkeit achten. Das
wäre jedenfalls souveräner als der Weg, das Gesetz jetzt
möglichst schnell umzusetzen.
Ich möchte noch zwei grundsätzliche Schlussgedanken vorstellen.
Erstens. Der Europäische Haftbefehl dient angeblich
einem neuen, EU-weiten Recht. Genau dieses Recht aber
wird im Moment ausgeblendet; es wird nicht definiert,
was wir damit meinen. Stattdessen soll künftig alles
strafbar sein, was irgendwo zwischen Spanien, Estland
und der Türkei strafbar ist. Das ist jedenfalls die innewohnende Tendenz. Genau diese lehnen wir ab.
({1})
Zweitens. Beim Europäischen Haftbefehl geht es um
eine politische Abwägung zwischen Sicherheitsbelangen
und Bürgerrechten. Seit Jahren verlieren leider in aller
Regel die Bürgerrechte, wenn es um diese Abwägung
geht. Das ist aus meiner Sicht auch beim vorliegenden
Gesetzentwurf der Fall.
({2})
Ein letztes Wort: Ich finde, der Kollege Kauder hat
völlig Recht, dass wir als nationales Parlament in der
Europäischen Union uns nicht nur aus Anlass der Beratungen zum Europäischen Haftbefehl mit der Frage befassen sollten, wie es nicht nur zu einer Verständigung
mit den Kolleginnen und Kollegen in Europa, sondern
zu einem Gesetzgebungsverfahren, das weder die eine
noch die andere Seite überfährt, kommen kann. Meine
Fraktion wird sich gern an dieser Debatte und an der
Ausgestaltung dieser Regeln beteiligen.
({3})
Das Wort hat der Kollege Wolfgang Wieland, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes, die
uns hier nun zum zweiten Anlauf zwingt und die der
Kollege Kauder sehr kritisch kommentiert hat, verdient,
denke ich, eine andere Bewertung.
({0})
Sie ist weder, wie seinerzeit in der Presse zu lesen war,
deutschenfixiert noch europafeindlich. Für mich ist diese
Entscheidung ein Hohes Lied auf Rechtssicherheit, auf
Vertrauensschutz oder, wie es das Gericht selber in einem Leitsatz formuliert hat, die „Beziehung des Bürgers
zu einem freiheitlichen demokratischen Gemeinwesen“.
Aus dem soll er eben nicht einfach so - hopplahopp! herausgerissen werden können.
({1})
Das Gericht spricht sogar von einem „Grundrecht“ auf
„den Verbleib in der eigenen Rechtsordnung“.
Da kann man sagen, das sei alles neu vom Gericht gestrickt worden, das hätten wir nicht voraussehen können.
Das mag ja sein. Dennoch muss man diese ziemliche
Ohrfeige ernst nehmen, die das Gericht weniger der
Bundesregierung als dem Gesetzgeber, dem Parlament,
gegeben hat und in einer, wie ich zugebe, sehr süffisanten Formulierung zusammengefasst hat - Zitat aus den
Entscheidungsgründen -:
… die Abgeordneten des Deutschen Bundestages,
an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und
nur ihrem Gewissen unterworfen …, ({2}) nunmehr … Gelegenheit haben, ihrer Verfassungspflicht … zu genügen …
Ich denke nicht, dass man aufgrund dieser Worte beleidigt sein sollte. Vielmehr denke ich, dass wir verpflichtet
sind, nunmehr ein europäisches Auslieferungsrecht zu
schaffen, das uns nicht wieder blamiert, das uns nicht
wieder nach Karlsruhe führt,
({3})
sondern von dem wir guten Gewissens sagen können,
dass die Abwägung zwischen dem Schutz des Einzelnen
und den Notwendigkeiten einer Beschleunigung und
Vereinfachung des Auslieferverkehrs gelungen ist.
({4})
- Ja. Die sind auch nötig, lieber Kollege Kauder.
Dieser Gesetzentwurf ist, das hat Frau LeutheusserSchnarrenberger völlig richtig gesagt, schwammig. Er
hat einfach einen Teil der Entscheidungsgründe des Gerichtes sozusagen in den Gesetzestext fotokopiert.
Die Bundesrechtsanwaltskammer hat zu § 80 Abs. 2
des Gesetzentwurfes, der sich wie Realsatire liest, völlig zu Recht gesagt, dass so etwas nicht in einen Gesetzestext, sondern bestenfalls in die Richtlinien für das
Straf- und Bußgeldverfahren gehört. Wenn mich beispielsweise ein Mandant als Anwalt fragt, was eine Inlandstat ist, dann muss ich nachlesen und ihm sagen: Na
ja, das hängt von einer Gesamtabwägung ab. In diese
Gesamtabwägung fließt unter anderem die Effizienz und
die Möglichkeit der Strafverfolgung ein. Dann wird man
irgendwann einmal sehen.
Das alles bliebe, wenn es so Gesetzestext würde, der
Auslegung durch die Gerichte überlassen. Das kann es ja
wohl nicht sein. Das ist zum Teil Wortnebel und es
herrscht keine Normenklarheit. Das muss vom Parlament wirklich gründlich verändert und nachgebessert
werden.
({5})
Ein Wort auch zur Integration. Die einzige Stelle, an
der dieser Gesetzentwurf von den Voraussetzungen, die
das Bundesverfassungsgericht genannt hat, abgewichen
ist, ohne dass ein Grund dafür erkennbar ist, ist die
Frage, wie der rechtliche Status der so genannten faktischen Inländer ausgestaltet wird. Hier hat das Bundesverfassungsgericht einen Rückfall hin zu dem Gesetz gemacht, das damals hier beschlossen wurde. Ausländer,
die mit Deutschen zusammenleben - und sei es auch nur
kurz -, sollen geschützt werden, aber nicht diejenigen,
die seit Jahrzehnten hier leben. Das ist nach dem Rahmenbeschluss nicht notwendig. Hier wäre eine viel größere Umfassung der Personengruppe möglich. Wir werden sie einfordern und Änderungsanträge dazu vorlegen.
Dieser Entwurf darf integrationspolitisch kein Rückfall
sein.
({6})
Frau Präsidentin, abschließend und möglicherweise
unter Ausnutzung meines Überziehungskredites, den
hier auch andere erhalten haben,
({7})
noch ein sehr persönliches Wort zur rechtlichen Anfechtungsmöglichkeit der Bewilligungsentscheidung.
({8})
- Nein, noch nicht, Herr Kollege. Ich habe vorgebeugt,
wie man das immer tun sollte.
({9})
Ich habe in der Entscheidungsbegründung von einer
Bezugnahme des Bundesverfassungsgerichtes auf eine
Entscheidung vom 16. März 1983 gelesen, die mir sehr
bekannt vorkam, weil ich sie seinerzeit erwirkt hatte. Es
ging um einen Nichtannahmebeschluss in Sachen des
sehr jungen, 23-jährigen Türken Kemal Altun, der hier
in Berlin aus dem sechsten Stock des Gebäudes des Verwaltungsgerichtes in den Freitod sprang, weil er keine
Rechtsweggarantie hatte, weil er also weder die Zulässigkeitsentscheidung des Kammergerichtes als Berliner
Sache noch den Bewilligungsbescheid, der dann von der
Bundesregierung ergangen war, in Karlsruhe anfechten
konnte. Er sah für sich nur noch den Weg in den Freitod.
Ich gebe zu, dass das ein äußerst zugespitztes Beispiel
ist. Ich hoffe, so etwas wird sich nicht wiederholen. Dennoch muss ich sagen: Das, was hier jetzt als scheinbare
Möglichkeit vorgelegt wurde, den Rechtsweg zu beschreiten, indem man die Bewilligung irgendwie vorzieht, kann nicht überzeugen. Herr Kauder, Sie haben
den Wunsch geäußert, die Opposition solle hier eine bessere Lösung anbieten. Wir werden Ihrem Wunsch diesmal entsprechen.
Es muss eine volle Rechtsweggarantie geben. Das
verlangt das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung und es sollte unter Demokratinnen und Demokraten auch eine Selbstverständlichkeit sein, dass es sie
gibt.
({10})
Herr Kollege Wieland, in diesem Parlament war das
Ihre erste Rede. Nur deswegen gibt es auch einen Überziehungskredit. Wir alle gratulieren Ihnen herzlich dazu.
({0})
Als Nächstes hat der Kollege Axel Schäfer von der
SPD-Fraktion das Wort.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der vorliegende Gesetzentwurf muss von uns in doppelter Hinsicht beurteilt werden. Zum einen geht es darum,
dass die im Urteil des Bundesverfassungsgerichts gemachten Umsetzungsvorgaben erfüllt werden. Sie wisAxel Schäfer ({0})
sen, dass die Regelung zur Auslieferung deutscher
Staatsbürger so gestaltet werden muss, dass die Einschränkung des Grundrechts nach Art. 16 Abs. 2 dem
Prinzip der Verhältnismäßigkeit entspricht. Hier geht es
insbesondere um Rechtssicherheit und Vertrauensschutz.
Zum anderen muss die Bewilligungsentscheidung gerichtlich nachprüfbar sein, Stichwort Art. 19 Abs. 4 des
Grundgesetzes; darüber haben wir gesprochen.
Es ist gut, dass wir hier in der Diskussion, während
der Ausschussberatungen und dann auch in der abschließenden Gesetzgebung Zeit haben, darüber zu debattieren, um sicherlich zu der einen oder anderen Erkenntnis
zu kommen. Es wäre schlecht, wenn wir am Anfang des
Prozesses meinten, es sei schon alles entschieden.
({1})
Ich möchte in diesem Zusammenhang noch einmal
ausdrücklich darauf hinweisen, dass es beim Thema Europäischer Haftbefehl aus deutscher Sicht nicht nur um
das neuere Problem von Terrorismusverdächtigen geht,
sondern auch um viel ältere Menschenrechtsverletzungen aus der Zeit des Dritten Reiches, nämlich Naziverbrecher. Das wird leider oft vergessen.
({2})
Wir kommen mit diesem Gesetzentwurf der Schaffung
eines europäischen Raums für Freiheit, Sicherheit
und Recht ein Stück näher. Das ist nach den Europäischen Verträgen von 1992 bzw. 1998 eben nicht nur ein
gemeinsames politisches Ziel, sondern für uns rechtlich
bindend.
Ich möchte an dieser Stelle sehr bewusst meine Erfahrungen als Parlamentarier bei der mündlichen Verhandlung des Bundesverfassungsgerichts einbringen. Dort
hatte ich ebenso wie die Kollegen Kauder, LeutheusserSchnarrenberger und Ströbele überraschend die Gelegenheit, Position zu beziehen. Der Vorsitzende Richter
des Zweiten Senats, Professor Hassemer, hat unter anderem sinngemäß ausgeführt, dass das oberste Gericht
auch nicht alle Details der europäischen Rechtsetzung
überblickt. Da es zu unseren Gepflogenheiten als Gesetzgeber gehört, Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts nicht zu kritisieren, nehme ich die Selbstkritik des Zweiten Senats zum Anlass, etwas zum
Verhältnis von europäischer und nationaler Rechtsetzung zu sagen.
Wenn Rahmenbeschlüsse oder Richtlinien in der EU
verabschiedet werden, sind wir als Parlamentarier nicht
erst bei der Umsetzung gefordert. Lassen Sie uns deshalb selbstkritisch feststellen: Wir haben uns in der
Phase der Willensbildung im Europäischen Parlament
nicht rechtzeitig eingeklinkt. Wir müssen eben nicht nur
fragen, ob wir die Bundesregierung konkreter hätten
festlegen müssen. Wir alle wissen doch: Es geht darum,
dass die Bundesregierung bei Entscheidungen in Europa
handlungsfähig sein muss. Vielmehr haben wir die Meinungsbildung im Europäischen Parlament zu wenig beeinflusst. Es zeigt sich, dass wir das jetzt gelernt haben;
das sollten wir hier durchaus darlegen.
({3})
Wir praktizieren zurzeit bei der europäischen
Dienstleistungsrichtlinie - das ist, zugegeben, ein
wichtiges europäisches Gesetz, das uns national eine
Reihe von Änderungen bringen wird - ein Verfahren, bei
dem sich viele Ausschüsse in diesen Willensbildungsprozess einbringen, bei dem der Dialog zwischen Berlin
und Brüssel, die vielfachen Gespräche und Informationen in einer Weise intensiviert worden sind, dass wir bereits jetzt bei der in der nächsten Woche anstehenden
Entscheidung des Europäischen Parlaments inhaltlich
ein Stückchen mit dabei sind, wohl wissend, dass es
dann zu einer gemeinsamen Entscheidung des Rates
kommen muss und erst danach die Entscheidungen zur
Umsetzung auf nationaler Ebene fallen werden.
Zugleich ist es an dieser Stelle notwendig, darauf hinzuweisen, dass wir - dafür brauchen wir den europäischen Verfassungsvertrag - darauf dringen müssen, dass
diese Dinge in Zukunft, gerade was den sensiblen Bereich der Justiz anbelangt, von Rat und Europäischem
Parlament gleichberechtigt entschieden werden müssen,
damit es an genau dieser Stelle nicht zu einem Demokratiedefizit kommt.
({4})
Wenn wir über unsere Europäisierung reden, möchte
ich ein bisschen was zum Thema Europäisierung der
Judikative sagen. Es reicht eben nicht, wenn viele Richter dieses Europa eher als Touristen denn als Juristen
kennen.
({5})
Deshalb sollte Weiterbildung von Staatsanwälten, Richtern und anderen künftig gefördert werden, damit wir bei
der europäischen Zusammenarbeit in Strafrechtssachen
besser werden. So steht es auch im Verfassungsentwurf.
Das Problem dieses Themas ist, dass für viele Europa
immer noch zu sehr eine Wirtschaftsgemeinschaft ist,
obwohl wir uns Gott sei Dank auch zu einer Rechtsgemeinschaft entwickelt haben. Deshalb müssen wir die
Begrifflichkeiten ein Stück ändern. Die anderen EUStaaten sind eben für uns vor allem ein Teil einer Staatengemeinschaft, eines Staatenverbundes und erst in
zweiter Linie Ausland.
Die Balance zwischen Freiheit und Sicherheit im
Rechtsstaat muss bekanntlich immer wieder konkret definiert und - wie wir aus jüngeren leidvollen Erfahrungen wissen - auch aktualisiert werden. Eines sollte dabei
gerade für uns unumstritten sein: Den Rechtsstaat in
Deutschland zu erhalten und zu gestalten ist im
21. Jahrhundert nur dann möglich, wenn wir auch mehr
Europa wagen.
Vielen Dank.
({6})
Damit schließe ich die Aussprache.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 16/544 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Dazu
gibt es offensichtlich keine weiteren Vorschläge. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe auf den Tagesordnungspunkt 10 a sowie
Zusatzpunkt 5:
10 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wolfgang Wieland, Volker Beck ({0}), Jerzy
Montag, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Keine Bundeswehr vor öffentlichen Gebäuden
und Stadien für die Fußballweltmeisterschaft
- Drucksache 16/359 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Gisela
Piltz, Dr. Max Stadler, Birgit Homburger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Kein zusätzlicher Bundeswehreinsatz im Inneren - die Polizei kann durch die Bundeswehr
nicht ersetzt werden
- Drucksache 16/563 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({2})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Hierfür ist interfraktionell eine Aussprache von einer
halben Stunde vorgesehen. - Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe zu seiner zweiten Rede das Wort dem Kollegen Wolfgang Wieland,
Bündnis 90/Die Grünen.
({3})
Frau Präsidentin! Es ist zwar sehr nett, dass Sie meine
Reden mitzählen. Es war allerdings nicht ganz richtig:
Ich hatte schon als Justizsenator des Landes Berlin die
Ehre, vor diesem Hohen Haus zu sprechen.
({0})
Wir werden sehen, wie sich das weiterentwickelt.
„Die Welt zu Gast bei Freunden“ prangt als freundliches Motto auf vielen Plakatsäulen. Was allerdings die
Diskussion über die innere Sicherheit betrifft, entspricht die Werbung wie so oft wenig der Realität. Die
Freunde, um die es dabei geht, führen eine Diskussion
über die Sicherheit, als ständen nicht Gäste, sondern eine
Art neuer Mongolensturm ins Haus.
Den Vogel hat gestern wieder einmal der bayerische
Innenminister Beckstein abgeschossen, der selbst den
Karikaturenstreit mit den WM-Vorbereitungen in Zusammenhang gebracht hat. Herr Beckenbauer - von
Beckstein bis Beckenbauer - hielt es auch gleich für nötig, den Einsatz des Militärs zur WM zu fordern. Statt
dieses anschwellenden Bocksgesangs von Sicherheitsfanatikern wären im Gegenteil Augenmaß und ein kühler
Kopf nötig.
({1})
Wir wollten doch einen heiteren Start ins WM-Jahr
erleben. Stattdessen wurde die Eröffnungsfeier in Berlin
abgesagt. Stattdessen reagierte ebenjener Franz
Beckenbauer mit der ihm eigenen Arroganz auf den
Mängelbericht der Stiftung Warentest und meinte, Stiftung Warentest sollte - nach dem Motto „Schuster, bleib
bei deinem Leisten“- lieber weiter Olivenöl testen. Dabei ist es auch kein Trost, dass man wie immer feststellen muss: Bei Franz Beckenbauer sind die Pässe deutlich
besser als seine Kommentare.
Ihm ist aber mildernd zugute zu halten, dass der Vorstoß zum Militäreinsatz bei der Weltmeisterschaft aus
diesem Hause, nämlich von Herrn Schäuble, gekommen
ist, der - wie der Kollege Edathy festgestellt hat - offenbar einer Obsession folgt und dies als eine Art Dauerlutscher seit gut 15 Jahren - ({2})
- Gut. Trennen wir die beiden Bilder: Sie haben von einer Obsession gesprochen. Ich meine, dass sein Vorschlag seit gut 15 Jahren - seit er, damals angesichts der
wachsenden Zahl der Asylbewerber den kuriosen Vorschlag machte, Feldwebel als Entscheider einzusetzen sozusagen eine Art Dauerlutscher ist. Nun schlägt er vor
- er bleibt aber wenig konkret, wenn es darum geht, was
die Bundeswehrsoldaten tun sollen -, man könne zum
Beispiel Feldjäger bei der Verkehrsregelung einsetzen.
Wir halten das alles für wenig durchdacht. Es soll offenbar nur der Langfriststrategie folgen, dass die Bundeswehr irgendwann als vollwertiger Ersatz der Polizei
im Inneren eingesetzt werden kann. Dies lehnen wir
- weil aus historischen Gründen die innere Sicherheit in
den Händen der Polizei und die äußere Sicherheit in den
Händen des Militärs liegen muss - eindeutig ab.
({3})
Wir freuen uns, dass der Bundesverteidigungsminister
das genauso sieht. Ihm geben wir nicht gerne Recht.
Wenn er aber sagt - ein Zitat aus der „Welt“ -, „ich
werde Soldaten nicht in Kämpfe mit Hooligans schicken“, dann hat er natürlich Recht. Das Berufsbild des
Soldaten ist völlig anders. Der Soldat muss im Fall der
Fälle, also im Ernstfall, den Feind vernichten. Der Polizist hingegen soll festnehmen und, wenn es möglich ist,
sein ganzes Berufsleben keinen einzigen Schuss abgeben. Das ist der grundsätzliche Unterschied zwischen
diesen beiden Uniformträgern. Das ist gute Tradition in
unserem Lande.
Die Polizeien der Bundesländer haben - bedauerlicherweise - jahrzehntelange Erfahrungen mit Hooliganismus. Sie sind in der Lage, ihn zu bewältigen. Bei der
Abwehr terroristischer Gefahren helfen doch nicht ernsthaft Bundeswehrsoldaten vor den Stadien. Was soll das
alles? Wir, die Grünen, unterstützen sinnvolle Maßnahmen. So kann die Bundeswehr technische Hilfe leisten
und AWACS-Flüge durchführen. Das kann die Polizei
nicht. Niemand will eine Luftwaffe der Polizei aufbauen.
Das kann die Bundeswehr im Wege der Amtshilfe schon
jetzt leisten und das soll sie auch machen. Mehr ist nicht
nötig. Was soll ein Bundeswehrsoldat denn tun, wenn
eine Horde Hooligans auf ihn einstürmt?
Beenden wir diese Debatte! Folgen Sie unserem Antrag! Fangen wir an, uns auf die Fußballweltmeisterschaft zu freuen!
({4})
- Sie schildern ständig nur apokalyptische Szenarien und
das, was über unser Land hereinbrechen wird.
({5})
Ich befürchte, für die Apokalypse ist keine Zeit mehr.
Man bekommt beinahe Angst, liebe Kolleginnen und
Kollegen von der CDU/CSU, wenn man Ihnen zuhört.
Daher noch einmal mein Appell: Nehmen wir die Fußballweltmeisterschaft als ein freudiges und spannendes
Ereignis! Aber Spannung sollte es bitte nur auf dem
Spielfeld geben.
({0})
Als Nächster hat das Wort der Kollege Binninger,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! In wenigen Monaten sind wir Gastgeber des weltweit größten Sportereignisses im Jahr 2006. Ich glaube,
es besteht Konsens zwischen allen Fraktionen im Hohen
Hause, dass wir die Sicherheit aller, die zu uns kommen
werden, der Sportler und der anderen Gäste, aber auch
der Menschen, die hier leben, gewährleisten wollen.
Darüber darf es keinen Streit geben.
Das Bundesinnenministerium und alle nachgeordneten Behörden arbeiten bereits seit vielen Jahren - im
Prinzip seit der Vergabeentscheidung zugunsten
Deutschlands - daran, die Sicherheit während der Fußballweltmeisterschaft zu gewährleisten. Dazu gehört
aber auch, dass man Szenarien im Blick hat, bei denen
wir vielleicht an unsere Grenzen stoßen. Wir brauchen
eine vorurteilsfreie und sachliche Diskussion und keinen
Antrag, mit dem Ihre Fraktion, Herr Wieland, nur Klischees pflegt. Das Motto der WM lautet: „Die Welt zu
Gast bei Freunden.“ Ihre Rede hingegen war in weiten
Teilen kein Beweis dafür, dass Sie ein Freund der Fußballweltmeisterschaft sind.
({0})
Es ist an der Zeit, ein paar Dinge klar zu stellen. Niemand will Soldaten vor Stadien einsetzen. Niemand will
die Aufgabentrennung zwischen Bundeswehr und Polizei aufheben, niemand will, dass sich Soldaten mit Hooligans auseinander setzen müssen.
({1})
Sie sollten von Ihren Klischees wegkommen. Dann können wir eine sachliche Diskussion führen. Angesichts
dessen, was Sie in Ihrem Antrag fordern, scheint das
aber nicht möglich zu sein.
({2})
Sie von den Grünen tun so, als ob der Einsatz der
Bundeswehr im Innern etwas ganz Exotisches und fast
schon Unanständiges wäre. Dabei verkennen Sie die
Realität. Sie haben heute sicherlich in der „Welt“ oder
der „FAZ“ gelesen, dass nach derzeitigem Stand etwa
2 000 Soldaten für die Erfüllung unterschiedlicher Aufgaben bei der Fußballweltmeisterschaft eingeplant sind.
({3})
Schon bei der Olympiade in Athen und beim Weltjugendtag in Köln wurden Soldaten eingesetzt. Das wird
auch bei der Olympiade in Turin der Fall sein. Der Einsatz von Soldaten im Innern ist also durchaus etwas
Selbstverständliches. Sie sollten deshalb nicht so tun, als
ob wir hier in rechtswidrige Bereiche vordringen wollten.
Sie heben ständig in ganz starkem Maße auf den
Objektschutz ab. Wer wie die Grünen aufgrund des
Luftsicherheitsgesetzes den Abschuss eines zivilen Passagierflugzeuges durch die Luftwaffe zulässt, aber beim
Objektschutz Probleme hat, der argumentiert nicht
glaubwürdig. Das tun Sie in diesem Fall.
({4})
Wenn wir über den Einsatz der Bundeswehr im Innern
reden, dann sollten wir uns die Szenarien vor Augen halten, die denkbar sind. Es gibt die Amtshilfe, in deren
Rahmen die Bundeswehr Gerät oder Personal in einem
ganz eng begrenzten Bereich zur Verfügung stellt. Es
gibt die Hilfe bei Naturkatastrophen oder bei einem großen Unglücksfall, bei denen die Bundeswehr eigenständig gewisse Maßnahmen durchführen kann. Schließlich
gibt es die Bedrohungslage, die alleine zu bewältigen
die Polizei, sei es personell oder technisch, nicht mehr in
der Lage ist. Sie haben versucht, das im Luftsicherheitsgesetz zu regeln.
Die Amtshilfe ist durch Art. 35 Abs. 1 GG gedeckt,
die Katastrophenhilfe durch Art. 35 Abs. 2 und 3.
({5})
Aber ob die Bewältigung der Bedrohungslage, die Sie
im Luftsicherheitsgesetz geregelt haben, durch den
Art. 35 Abs. 2 gedeckt ist, ist strittig. Das wissen Sie.
Das hat eine Sachverständigenanhörung zutage gefördert. Es wird darum gehen, ob man für Bedrohungslagen, die alleine zu bewältigen die Polizei personell oder
technisch nicht in der Lage ist, eine Verfassungsergänzung braucht.
({6})
Darum geht es im Kern und um nicht mehr. Deshalb
sollten Sie mit Ihren Horrorgeschichten von Soldaten,
die alles Mögliche machen, aufhören. Sie sollten zu einer sachlichen Diskussion zurückkommen. Das würde
der Sache deutlich mehr dienen.
({7})
Heute war von Herrn Beck von den Grünen, der leider
nicht da ist - er ist offensichtlich auch ein großer Polizeiund Sicherheitsexperte -,
({8})
zu hören, dass die Polizei schon über viele Mittel verfüge und alles könne. Ich will daran erinnern, wie sich
der Art. 35 GG entwickelt hat. Art. 35 bestand ursprünglich nur aus einem Absatz, der Amtshilfe. 1962
kam es zur Flutkatastrophe in Hamburg. Bis dahin war
nicht vorgesehen, die Bundeswehr bei Naturkatastrophen einzusetzen. Der Innensenator Helmut Schmidt hat
gehandelt,
({9})
weil er gesehen hat, dass die Polizei bei der Sicherheitslage am Ende ihrer Möglichkeiten war, die Menschen
aber in Gefahr waren. Da kann niemand ernsthaft behaupten, man könne die Menschen in der Gefahr alleine
lassen. Er hat die Bundeswehr ohne verfassungsrechtliche Grundlage eingesetzt. In der Folge hat man dann
Art. 35 um zwei Absätze ergänzt.
({10})
Vor genau der gleichen Situation stehen wir jetzt.
Auch jetzt sagen viele, die Polizei könne alles tun. Aber
was machen wir, wenn wir eine große Bedrohungslage
bekommen, wir die Polizei überall dort einsetzen, wo
wir sie brauchen, aber sie irgendwann personell nicht
mehr in der Lage ist, ihren Auftrag zu erfüllen? Wir sollten darüber nachdenken, ob wir die Verfassung für diesen eng umgrenzten Bereich der Bedrohungslage anpassen und eine Möglichkeit schaffen, dass die Bundeswehr
im Innern unter ganz engen Voraussetzungen eingesetzt
werden kann. Was gibt es dagegen zu sagen?
({11})
Ich will Ihnen die Alternative nennen, vor der Sie offensichtlich stehen.
({12})
Wenn wir eine Bedrohungslage haben, die die Bevölkerung in diesem Land gefährdet, und die Polizei zugestehen muss, dass sie weder technisch noch personell die
Möglichkeit hat, diese Lage zu bewältigen, dann können
Sie nicht einfach sagen, wir machen nichts. Das wäre
doch Ihre Alternative. Deshalb sagen wir: Lassen Sie
uns darüber nachdenken, ob wir in diesem Bereich die
Bundeswehr im Interesse der Sicherheit der Menschen
dieses Landes einsetzen! Das ist verantwortungsvolle Sicherheitspolitik und nicht Polemik und Klischees, wie
Sie sie pflegen.
({13})
Um beim Thema Luftsicherheitsgesetz zu bleiben:
Wir werden nächste Woche hören, was uns das Bundesverfassungsgericht ins Stammbuch schreibt. Wir sollten
entlang dieses Urteils ganz vorurteilsfrei diese Frage betrachten. Ich glaube, dass wir unserer Bevölkerung eines
nicht vermitteln können: dass wir die Bundeswehr für
alle möglichen Sicherheitsaufgaben in allen Krisenherden auf der ganzen Welt einsetzen - Sie haben als Grüne
immer daran mitgewirkt -, dass das aber zum Schutz der
eigenen Bevölkerung im eigenen Land nicht möglich ist.
An dieser Stelle müssen wir darüber nachdenken, ob wir
eine Ergänzung des Grundgesetzes brauchen, weil wir
die Menschen in der Unsicherheit nicht alleine lassen
können.
({14})
Wenn Sie das wollen, müssen Sie es sagen.
({15})
Wir sind nicht dafür. Deshalb sagen wir: Im eng begrenzten Rahmen muss es möglich sein, die Bundeswehr
einzusetzen.
Die ganze Diskussion krankt an Folgendem: Sie streiten nur über einzelne Maßnahmen, was ich für falsch
halte. Es geht nicht um die Frage, was die Bundeswehr
im konkreten Einzelfall macht.
({16})
- Nein. - Es geht um die Frage: Unter welchen Voraussetzungen soll und darf die Bundeswehr bei Bedrohungslagen eingesetzt werden? Welche Maßnahmen
dann notwendig sind, ergibt sich aus dem konkreten Einzelfall.
({17})
Das kann man vorher nicht sagen. Insofern hat es Herr
Gertz vom Bundeswehr-Verband heute treffend beschrieben. Er sagt, er sei zwar nicht für den Einsatz der
Bundeswehr vor Stadien - das will auch keiner -, aber er
selber behauptet sinngemäß: Wir sind dann da, wenn die
Polizei aus personellen Gründen oder wegen fehlender
Gerätschaften - Stichwort: Bedrohung aus der Luft oder
von der See - dazu nicht mehr in der Lage ist. Um genau
diese Fälle geht es.
Wir sollten nicht über Objektschutz streiten. Wir sollten streiten, unter welchen Voraussetzungen die Bundeswehr bei einer Bedrohungslage zum Schutz der
Menschen in unserem Land während der Fußballweltmeisterschaft eingesetzt werden kann.
Herr Wieland, Sicherheitspolitik macht man ganz
oder gar nicht. Die Grünen haben sich offensichtlich für
„gar nicht“ entschieden.
({18})
Das Wort hat die Kollegin Birgit Homburger, FDPFraktion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte zunächst einmal festhalten, was in der
öffentlichen Diskussion vielfach untergeht: Dass die
Fußballweltmeisterschaft in Deutschland stattfindet, ist
ein Glücksfall für dieses Land und kein Katastrophenfall, wie einige Innenpolitiker meinen.
({0})
Ich sage auch ganz klar: Die Sicherheit bei der Fußball-WM soll und muss in vollem Umfang gewährleistet
werden. Deshalb gibt es auch ein nationales Sicherheitskonzept, das von der Innenministerkonferenz im Mai
letzten Jahres beschlossen worden ist. Dieses Konzept
sah keinen Bundeswehreinsatz im Innern vor. Ich frage
mich, was sich seither eigentlich verändert hat.
({1})
Ich sage Ihnen ganz klar: Die FDP unterstützt alle
Maßnahmen, die zur Gewährleistung der Sicherheit nötig sind. Aber wir vertreten dabei den Grundsatz: Die
Polizei gewährleistet die innere Sicherheit und die Bundeswehr ist für die äußere Sicherheit zuständig. Folgt
man diesem Grundsatz, ist der im Augenblick geplante
Einsatz der Bundeswehr im Rahmen der WM - technische Unterstützungsmaßnahmen, Unterstützung im
Sanitätsbereich und auch zur ABC-Abwehr - akzeptabel. Ich sage klipp und klar: Die FDP-Bundestagsfraktion trägt den Einsatz der AWACS-Flugzeuge mit, weil
das die Sicherheit deutlich erhöht. Keine Polizei der
Länder hat die Möglichkeit, für Luftsicherheit zu sorgen.
Deswegen tragen wir all diese Maßnahmen mit.
({2})
Dies alles, Herr Kollege Binninger, ist schon im Rahmen der Amtshilfe möglich, im Übrigen bisher auch üblich. Bei allen Großveranstaltungen, beispielsweise beim
Papstbesuch, ist es so gemacht worden. Es erschließt
sich überhaupt nicht, warum Sie der Meinung sind, dass
wir jetzt eine Grundgesetzänderung brauchen.
({3})
Die FDP ist allerdings der Meinung, dass es einen generellen Einsatz der Bundeswehr im Innern nicht
braucht, und wir lehnen ihn auch ab.
({4})
Für uns ist die Grenze da, wo es um originäre polizeiliche Aufgaben geht, beispielsweise dort, wo es um
Objektschutz geht. Herr Kollege Binninger, Sie haben
hier gerade eine Vernebelungstaktik gefahren.
({5})
Auch der Objektschutz ist nämlich sehr wohl im Gespräch.
({6})
Das, was Sie zitiert haben, hat nicht irgendjemand gesagt, sondern Ihr eigener Verteidigungsminister, der sich
ablehnend geäußert hat. Vor diesem Hintergrund muss
ich Ihnen sagen: Die FDP-Fraktion bleibt bei ihrer Haltung. Die Trennung der Aufgaben von Polizei und Bundeswehr hat gute Gründe und muss bestehen bleiben.
({7})
Es ist im Übrigen absurd, die Bundeswehr für Objektschutzaufgaben heranziehen zu wollen. Immer mehr
Bundeswehrliegenschaften werden aus Kapazitätsgründen von privaten Wachdiensten bewacht.
Ein Polizeieinsatz ist etwas anderes als ein Bundeswehreinsatz; deswegen kann man keinen Vergleich mit
einem Auslandseinsatz der Bundeswehr ziehen.
({8})
Deswegen ist die Ausbildung der Polizei zu Recht eine
andere als die der Bundeswehr.
({9})
Was bei der Polizei zur Ausbildung gehört, beispielsweise Deeskalationsstrategien, ist bei der Bundeswehr
nicht im Ausbildungskonzept enthalten. Deswegen können Sie das nicht vergleichen. Deswegen sagen wir: Wir
sollten die Bundeswehr nicht zu Aufgaben heranziehen,
für die sie nicht ausgebildet ist.
({10})
Es macht die Sache im Übrigen nicht besser, dass
Herr Schäuble, Herr Beckstein und andere ihre Forderung jahrelang wiederholen. Man fragt sich geradezu:
Wie haben wir eigentlich all die letzten Jahre die Großereignisse überstanden, ohne dass sie diese Forderung
durchgesetzt hatten?
({11})
Es werden Ängste geschürt in der Hoffnung, dass man
öffentlich Druck erzeugt. Das ist genau das, was Sie tun.
Das ist unverantwortlich. Das ist der Versuch, die Weltmeisterschaft zur Durchsetzung Asbach-uralter ideologischer Forderungen zu missbrauchen. Das ist inakzeptabel.
({12})
Uns ist gestern im Verteidigungsausschuss ein Konzept zu der Frage vorgelegt worden, zu welchen Aufgaben die Bundeswehr herangezogen werden soll, und
zwar im Rahmen der Verfassung. Das tragen wir auch
mit. Demgegenüber bietet die Bundesregierung ein peinliches öffentliches Schauspiel. Der eine sagt hü, der andere hott.
({13})
Der Bundesinnenminister ist für einen Einsatz der Bundeswehr im Innern. Der Bundesverteidigungsminister
({14})
hat gerade heute noch einmal ausdrücklich erklärt, er
lehne das ab. Vor dem Hintergrund sagen wir: 120 Tage
vor Beginn der Weltmeisterschaft sollte man sich über
das Sicherheitskonzept einmal im Klaren sein. Sorgen
Sie für Klarheit und nicht weiter für Verunsicherung!
({15})
Ich möchte eine letzte Bemerkung machen. Wenn wir
im Rahmen der Amtshilfe hierfür die Bundeswehr einsetzen und das mitgetragen wird, dann sollten der Bundeswehr auch die Kosten erstattet werden. Es sollen
Aufwendungen in Höhe von 5 Millionen Euro entstehen.
Der Bundeswehr sollen aber nur 1,4 Millionen Euro erstattet werden. Vor dem Hintergrund dessen, dass wir um
jeden Euro zur Verbesserung der Ausrüstung der Bundeswehr kämpfen müssen,
({16})
ist es für mich nicht akzeptabel, dass die FIFA aus dem
Bundeswehrhaushalt subventioniert werden soll. Sie
sollten auch darüber nachdenken und in Verhandlungen
darüber eintreten. Es wäre gut, wenn diese unsinnige Debatte, die da teilweise geführt wird, endlich beendet
wird.
Vielen Dank.
({17})
Das Wort hat der Kollege Wolfgang Gunkel von der
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Behandlung dieses Themas, das von den
Fraktionen des Bündnisses 90/Die Grünen und der FDP
in den Bundestag eingebracht worden ist, ist deshalb
notwendig, weil der Herr Bundesinnenminister nicht
müde wird, immer wieder festzustellen, dass die Einsatzkräfte der Länderpolizeien und der Bundespolizei nicht
ausreichen, um insbesondere bei terroristischen Angriffen die Sicherheit unseres Landes während der Fußballweltmeisterschaft zu gewährleisten. Dies sagt Herr
Schäuble bei jeder Gelegenheit, die wir im Innenausschuss oder andernorts zur Diskussion haben.
Man kann natürlich verstehen, dass die mit der inneren Sicherheit befassten Innenminister der Länder und
auch der Bundesinnenminister ein Höchstmaß an Absicherung anstreben, weil sie bei sicherheitsrelevanten
Vorkommnissen die politische Verantwortung übernehmen müssen. Aber Stühle von Innenministern sind nun
einmal härter als vielleicht andere. Das ist ihr politisches
Risiko.
Gleichwohl scheint die immer wieder vorgetragene
Gefahrenprognose bezüglich der Sicherheit in den Stadien sowie des Public-Viewing-Bereichs - auch das ist
ein Hobby von Herrn Dr. Schäuble - etwas überzogen zu
sein. Ich will die Sache einmal von der praktischen Seite
angehen.
Wenn man die zwölf Spielorte betrachtet, so stellt
man fest, dass sechs Bundesländer überhaupt nicht betroffen sind; sie können ihre Polizeikräfte zunächst ausschließlich für die Bereiche öffentlicher Veranstaltungen
bereitstellen. Die anderen Bundesländer, die sich im
Umfeld der Stadien höchstwahrscheinlich mit dem Hooligan-Problem befassen müssen - dazu liegen jahrelange umfangreiche Erfahrungen vor -, werden jedoch
nicht bei allen Fußballspielen mit dem höchstmöglichen
Einsatz fahren müssen. Mir kann niemand glaubhaft darlegen, dass bei einem Spiel wie Togo gegen Südkorea
massenhaft Fans und Konfliktpotenzial speziell im öffentlichen Straßenraum vorhanden sein werden. Von den
48 Spielen der Vorrunde benötigen vielleicht zwölf die
höchste Sicherheitsstufe. Beim Einsatz von 250 000 Beamten der Länderpolizeien und 30 000 Beamten der
Bundespolizei muss es doch möglich sein, eine solche
Lage zu bewältigen.
({0})
Ich kann mir nicht vorstellen, dass man dort zusätzlich
massenhaft Soldaten oder Ähnliches benötigt.
Aber bei dem Einsatz der übrig bleibenden Kräfte hat
Herr Dr. Schäuble Schwierigkeiten mit dem so genannten Public-Viewing-Bereich. Das sind öffentliche Orte,
an denen Großbildleinwände aufgestellt werden, die zu
abgeschlossenen Veranstaltungsräumen gehören, wo der
Veranstalter finanziellen Gewinn erzielen möchte. Deshalb wird die Polizei diese Veranstalter in die Pflicht
nehmen, einen hervorragend funktionierenden Ordnerdienst einzurichten, der in Zusammenarbeit mit den eingesetzten Beamten dafür sorgen wird, Störpotenzial von
vornherein auszuschließen. Auch hier ist ein ausufernder
Kräfteeinsatz der Länderpolizeien nicht erforderlich.
Durch die Vielzahl der öffentlichen Übertragungen
werden höchstwahrscheinlich viele Orte in allen Bundesländern betroffen sein; aber ein unlösbares Problem
stellt das nicht dar, weil die Sondernutzung von öffentlichem Straßenland bei den Kommunalbehörden angemeldet werden muss und man mit Sicherheitsauflagen vorweg einen großen Teil des Problems in den Griff
bekommen kann.
Kurz zusammengefasst, kommt man zu dem Ergebnis, dass ein polizeilicher Notstand auf keinen Fall vorliegt.
({1})
- Herr Binninger, Sie sind selber einmal mit der Sache
befasst gewesen. Ich glaube, man kann mir das schon abnehmen, wenn ich das sage.
Nun zu den erwarteten terroristischen Angriffen. Es
ist natürlich nicht wegzudiskutieren, dass die allgemeine
Gefahrenlage schwierig ist. Aber derartige Angriffe
wehrt man nicht ab, indem man Soldaten zum Objektschutz von öffentlichen Behörden, Stadien oder Botschaften einsetzt.
({2})
Vielmehr sind im Rahmen der Prävention intensive Aufklärung, Observation und Fahndungen erforderlich. In
Zusammenarbeit aller Länderpolizeien, der Bundespolizei und auch der Nachrichtendienste können ein umfassendes Lagebild erstellt und unter Umständen im Vorfeld
terroristische Aktivitäten erkannt und somit Anschläge
verhindert werden.
Aber selbst wenn man Derartiges nicht verhindern
kann, ist die Polizei immer noch in der Lage, ihren Auftrag zu erfüllen. Es würde wenig bringen, das Land mit
einem uniformierten Schleier zu überziehen. Das müsste
man als Alibismus bezeichnen, weil es nicht der Sicherheit dient.
({3})
Erforderlich wird sein, alle möglichen Ermittlungskapazitäten beim Bundeskriminalamt und bei den Landeskriminalämtern bereitzustellen, um größtmögliche Aufklärung und Umfeldermittlung zu betreiben.
Zusammenfassend komme ich zu dem Ergebnis, dass
die Polizei - das muss man den Polizeiführern der jeweiligen Länder durchaus zutrauen dürfen - sehr wohl in
der Lage ist, das Großereignis Fußballweltmeisterschaft
zu bewältigen.
({4})
Die Ausnahmen bezüglich eines Einsatzes der Bundeswehr nach dem gegenwärtigen Stand des Grundgesetzes,
die hier schon von meinen Vorrednern genannt worden
sind, will ich nicht wiederholen. Auch dazu steht meine
Fraktion. Luftüberwachung und Ähnliches muss natürlich durch die Bundeswehr erfolgen dürfen. Aber dazu
bedarf es keiner Grundgesetzänderung; das ist im Grundgesetz bereits so vorgesehen.
Abschließend noch ein Satz zum Koalitionsvertrag,
da wir unseren Koalitionspartner ja einbeziehen müssen.
({5})
Die Lacher gehen auf Ihre Redezeit.
Ich komme zum Schlusssatz. - Ich weise darauf hin,
dass dem Koalitionsvertrag zu entnehmen ist, dass wir
gemeinsam abwarten wollen, wie das Bundesverfassungsgericht sich zum Luftsicherheitsgesetz stellt
({0})
und in welchem verfassungsrechtlichen Rahmen es den
Einsatz der Bundeswehr sieht. Dann wird darüber neu zu
diskutieren sein.
Die SPD-Fraktion hält jedenfalls an der bewährten
Trennung von Landesverteidigung durch die Streitkräfte
und Gewährleistung der inneren Sicherheit durch die Polizei fest. Das möchte ich zum Abschluss ausdrücklich
betonen.
Schönen Dank.
({1})
Herr Gunkel, das war Ihre erste Rede im Deutschen
Bundestag. Deswegen war sie auch etwas länger. Wir
gratulieren Ihnen herzlich und wünschen Ihnen viel Erfolg.
({0})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Paul Schäfer von der
Fraktion Die Linke.
({1})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Worum geht es bei dem
Großereignis Fußball-WM? Es geht um fairen Wettstreit,
es geht um Spaß am Spiel und es geht um Völkerverständigung. Wir, die Linke, wollen, dass der schöne Slogan „Die Welt zu Gast bei Freunden“ mit Leben erfüllt
wird.
({0})
Gerade deshalb sind wir nicht nur kritisch gegenüber der
überbordenden Kommerzialisierung, sondern wir wollen
auch nicht, dass dieses Ereignis zu einer Militarisierung
im Innern missbraucht wird.
({1})
Wir erleben doch seit einiger Zeit eine merkwürdige
Situation. Der Verteidigungsminister möchte nicht, dass
die Bevölkerung verunsichert wird. Der Innenminister
wird nicht müde, ständig neue Katastrophengefahren zu
wittern und daran seine Uraltforderung zu knüpfen, das
Einsatzspektrum der Bundeswehr im Innern müsse erweitert werden und notfalls müsse dazu das Grundgesetz
verändert werden.
Das Thema Objektschutz - da hilft auch alle Nebelkerzenwerferei nichts - ist weiterhin in der Debatte. Man
hört von abstrusen Ideen - heute von Herrn Beckstein -,
die Bundeswehr könne vorübergehend auch Bundesgrenzschutzaufgaben übertragen bekommen. Gegen die
Gefahr eines Terrorangriffs mit ABC-Waffen müsse
die Bundeswehr gerufen werden. Ich entnehme der letzten Ausgabe der Sonntagszeitung der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ Folgendes:
Beim Bundesnachrichtendienst gibt es im Jahr der
Fußball-WM keine alarmistische Einschätzung bezüglich eines Terrorangriffs mit ABC-Waffen.
Man merkt einfach, dieses Sportereignis soll politisch
instrumentalisiert werden, und man ist verstimmt.
Herr Binninger, Ihr Vergleich sprach Bände: Weil die
Bundeswehr im Ausland für Sicherheit sorge, müsse sie
das auch im Inland tun. Wenn ich es richtig sehe, geschieht dies im Ausland in einem hochgradig gewalttätigen und militarisierten Umfeld. Wenn Sie das auf die
Bundesrepublik übertragen wollen, dann gute Nacht.
({2})
Lassen Sie es mich ganz eindeutig sagen: Es sollte
mit diesem alarmistischen Gerede, mit dem ständig neue
Ängste geschürt werden, Schluss sein. Wir sollten uns
von dieser fixen Idee verabschieden, die Streitkräfte mit
Polizeiaufgaben zu betrauen. Das passt einfach nicht zu
der Idee freundlicher und friedlicher Sportwettkämpfe.
Das ist auch nicht weltmeisterlich, sondern provinziell.
Lassen Sie mich noch Folgendes hinzufügen. Wir
sind dafür, dass die Sicherheit gewährleistet wird und
dass alles Nötige dafür getan wird. Aber erstens gilt,
dass das, was für diesen Schutz vorgesehen ist, strikt im
Rahmen unseres Grundgesetzes geschehen muss. Art. 35
bleibt maßgeblich; er darf nicht angetastet werden.
Zweitens gilt nach wie vor: Die Ordnungs- und Gewaltinstrumente der inneren und äußeren Sicherheit sind fein
säuberlich auseinander zu halten.
({3})
Für polizeiliche Aufgaben ist die Polizei zuständig, niemand sonst. Das gilt auch für den Objektschutz. Hier
sind wir im Übrigen voll im Einklang mit der Gewerkschaft der Polizei und mit dem Bundeswehrverband.
Wir halten das, was in den Anträgen der Grünen und
der FDP steht, für unterstützenswert. Wir erlauben uns
als Linke, an einer Stelle über diese Anträge hinauszugehen. Wir wollen uns nicht einfach daran gewöhnen, dass
es bei Großereignissen Usus wird - egal ob es sich um
den Papstbesuch oder um die Fußball-WM handelt -,
AWACS-Flugzeuge der NATO zur Luftraumüberwachung einzusetzen. Wahrscheinlich soll dies demnächst
auch bei unseren beliebten Rosenmontagsumzügen geschehen. Wir ziehen die Sinnhaftigkeit eines solchen
Einsatzes in Zweifel, weil wir keine plausiblen Gründe
dafür erkennen.
Vor allem aber geht es uns darum, deutlich zu machen, dass wir § 14 des neuen Luftsicherheitsgesetzes
für nicht grundgesetzkonform halten und ablehnen. Aber
nur in diesem Zusammenhang ist der AWACS-Einsatz
zwingend, weil die Flugzeuge dort als Führungsinstrument und Feuerleitzentrale gebraucht werden. Wir teilen
hier die grundlegenden Bedenken, die in Karlsruhe formuliert worden sind, nicht zuletzt von Piloten der zivilen
Luftfahrt.
Lassen Sie mich zum Ausgangspunkt zurückkommen. Angstmache und Verunsicherung müssen aufhören.
Jetzt geht es um die Vorfreude auf ein lebendiges Sportfest und um die Möglichkeit der Begegnung mit Menschen aus vielen Kulturen und Regionen. Nur so können
wir gewinnen.
Danke.
({4})
Das Wort hat die Kollegin Gabriele Fograscher, SPDFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Ich glaube, es ist deutlich geworden: Es besteht ein breiter Konsens in diesem Hause, dass wir eine attraktive
und vor allem auch sichere Fußballweltmeisterschaft
ausrichten wollen. Das Motto - es wurde schon häufiger
genannt - „Die Welt zu Gast bei Freunden“ wollen und
werden wir in die Tat umsetzen.
Die Fußballweltmeisterschaft ist eine großartige
Chance, unser Land zu präsentieren und sich vor allen
Dingen als weltoffener und toleranter Gastgeber zu zeigen. Voraussetzungen für ein Gelingen sind die gute Vorbereitung und Organisation des reibungslosen Ablaufs
und die Gewährleistung von größtmöglicher Sicherheit.
Die Polizeien der Länder und des Bundes sind hervorragend auf diese sicherheitspolitische Herausforderung vorbereitet. Der schon mehrfach zitierte Innenminister Beckstein hat heute auf einer Pressekonferenz
erklärt,
({0})
die bayerische Polizei sei bereits strategisch und konzeptionell sehr gut vorbereitet, um die mit der Fußball-WM
verbundenen Herausforderungen bewältigen zu können.
Dies gilt natürlich auch für die Polizeien der anderen
Länder.
Einbezogen in dieses Sicherheitskonzept ist auch die
Bundeswehr. Man sollte deutlich darstellen, dass die
Bundes- und Landesbehörden über 100 Anträge auf
Unterstützung im Rahmen der Amtshilfe gestellt und
genehmigt bekommen haben. 2 000 Soldaten werden im
Einsatz sein. Der Schwerpunkt der Arbeit wird im Sanitätsbereich liegen. Weitere Einsatzbereiche sind zum
Beispiel die ABC-Abwehr und die Bereitstellung von
Unterkünften. Zusätzlich werden AWACS-Aufklärungsflugzeuge den Luftraum sichern. Es ist auch möglich,
Transportflugzeuge zur Erhöhung der Mobilität von Personal und Material anzufordern. All diese Unterstützungsleistungen im Rahmen der technischen Amtshilfe
sind auf Basis der derzeitigen Regelung des Art. 35
Grundgesetz möglich. Darüber hinaus gibt es aus der
Vergangenheit zahlreiche Beispiele, bei denen die Bundeswehr im Innern im Rahmen der Nothilfe und des
Katastrophenschutzes hervorragende Hilfe und Unterstützung geleistet hat. Dazu zählen Einsätze bei Flutkatastrophen oder bei dem erst kürzlich geschehenen
Dacheinsturz in Bad Reichenhall.
Selbstverständlich wird die Bundeswehr auch während der Weltmeisterschaft zur Verhinderung oder Bekämpfung von Katastrophen oder zur Abwehr möglicher
terroristischer Angriffe in Bereitschaft sein, also für
Aufgaben, die die Polizei nicht leisten kann. Die Soldatinnen und Soldaten haben sich in derartigen Einsätzen
bewährt. Sie sind dafür ausgebildet und haben die notwendige Ausrüstung. Damit leistet die Bundeswehr
einen wichtigen Beitrag zur Umsetzung des nationalen
Sicherheitskonzepts. Auf diese Verwendungsmöglichkeiten der Bundeswehr haben wir uns im Koalitionsvertrag verständigt. Ich zitiere:
Angesichts der Bedrohung durch den internationalen Terrorismus greifen äußere und innere Sicherheit immer stärker ineinander. Gleichwohl gilt die
grundsätzliche Trennung zwischen polizeilichen
und militärischen Aufgaben.
Die jetzt immer wieder geäußerten Forderungen, die
Bundeswehr bei der Fußballweltmeisterschaft weitergehend, zum Beispiel für Personenkontrollen oder den
Objektschutz, einzusetzen, verwirren mehr, statt dass
sie Klarheit schaffen. Sie werden nicht nur von Bundesverteidigungsminister Jung, sondern auch vom Bundeswehr-Verband und der Polizei selbst aus guten Gründen
abgelehnt. Die Bundeswehr ist keine Hilfspolizei. Es
wäre kein Sicherheitsgewinn, wenn dafür nicht ausgebildete Soldatinnen und Soldaten oder gar Wehrpflichtige
die Übertragung der Spiele auf Großleinwänden sichern
würden. Es wäre kein Sicherheitsgewinn, wenn ein dafür
nicht ausgebildeter Wehrpflichtiger plötzlich mehreren
gewaltbereiten Hooligans gegenüberstünde. Er hat nie
gelernt, wie er auf eskalierende Situationen kühl, abgestuft und angemessen reagieren soll.
({1})
Wir wollen interessante und spannende Fußballspiele
sehen.
({2})
Wir wollen Sicherheit sowohl in den Stadien als auch bei
öffentlichen Veranstaltungen. Wir wollen die Weltmeisterschaft aber nicht zum Anlass nehmen, das Grundgesetz zu ändern. Die Trennung von polizeilichen und
militärischen Aufgaben hat sich bewährt. Größtmögliche Sicherheit bei der WM zu gewährleisten, ist auch
ohne Verfassungsänderung möglich.
({3})
Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Ein letzter Punkt. - Ich meine, wir sollten den Menschen vermitteln, dass alles Menschenmögliche getan
wird, um Sicherheit zu gewährleisten. Wir sollten nicht
weiterhin den Eindruck erwecken, als gäbe es Sicherheitslücken, die nur mit einer Grundgesetzänderung oder
dem Einsatz der Bundeswehr im Innern geschlossen
werden könnten.
Vielen Dank.
({0})
Damit schließe ich die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt.
Zwischen den Fraktionen ist verabredet, die Vorlagen
auf den Drucksachen 16/359 und 16/563 an die in der
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. - Ich sehe, dass Sie damit einverstanden sind. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 sowie die
Zusatzpunkte 6 und 7 auf:
11 Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Tierschutzbericht 2005
- Drucksache 15/5405 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({0})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Undine
Kurth ({1}), Bärbel Höhn, Ulrike
Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
Tierschutzpolitik energisch fortführen und
weiterentwickeln
- Drucksache 16/550 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({2})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Undine
Kurth ({3}), Bärbel Höhn, Ulrike
Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN
EU-Kommission muss nationale Tierschutzbemühungen respektieren
- Drucksache 16/549 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz ({4})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Für diese Debatte ist eine halbe Stunde verabredet. Auch dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Vielleicht können Sie die freundlichen Begrüßungen
und Verabschiedungen beschleunigen. - Danke schön.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem
Parlamentarischen Staatssekretär Dr. Gerd Müller.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Menschen und Tiere sind Geschöpfe Gottes. Auch Tiere haben eine Würde. Beim Tierschutz leitet uns der Grundsatz der Ehrfurcht vor dem Leben. Bei den Tieren sind
Schutz und Fürsorge nicht von ihrem Nutzwert abhängig. In Art. 20 a Grundgesetz steht - ich zitiere -:
Der Staat schützt auch in Verantwortung für die
künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere …
Was wird damit ausgedrückt? Ohne Tiere stirbt die Natur; ohne Natur gibt es keine Zukunft für den Menschen.
Tierschutz ist deshalb sowohl Naturschutz als auch Menschenschutz. Alles zusammen ist Voraussetzung für eine
lebenswerte Zukunft.
({0})
Wir gehen den Weg einer aktiven Politik für den Tierschutz weiter. Wir diskutieren ja heute über den Tierschutzbericht, der sich mit den vergangenen zwei Jahren
befasst, auf dem quasi noch das Bild von Frau Künast,
der ehemaligen Ministerin, prangt.
({1})
Wir gehen diesen Weg allerdings ideologiefrei und orientiert an praktischer Vernunft weiter.
({2})
Es gibt jedoch weiteren Handlungsbedarf, den ich
hier nur ganz kurz skizzieren kann. Hohe deutsche Standards dürfen nicht aus dem Ausland unterlaufen werden.
({3})
Tierschutz muss ein Thema auch für die WTO werden.
({4})
Ich habe die WTO-Debatte vorhin verfolgt. Bei den
Fortsetzungsverhandlungen im Rahmen der WTO müssen die Fragen des Tierschutzes und der Tierhaltung auf
die Tagesordnung. Die Nutztierhaltung bei uns steht
heute international unter einem dramatischen ökonomischen Druck. Deshalb ist es nicht möglich, nur in
Deutschland oder in der Europäischen Union mit Sonderstandards zu arbeiten, die dann natürlich auch Belastungen für die Erzeuger bewirken. Was nutzt ein Käfigverbot in Deutschland, wenn die Betriebe dann nach
Mazedonien oder in andere Staaten Mittelosteuropas gehen? Was nutzt die Umsetzung der Schweinehaltungsverordnung, die wir jetzt ebenso wie die Legehennenverordnung miteinander auf den Weg bringen, wenn wir auf
den internationalen Märkten mit industrieller Schweinemast - ich denke in diesem Zusammenhang an die amerikanischen Standards - konkurrieren müssen? Deshalb
müssen wir dieses Thema international auf die Tagesordnung setzen.
({5})
Ich sage an dieser Stelle ebenfalls: Tierhaltung muss im
Einklang mit der Natur erfolgen.
Tierschutz ist auch Verbraucherschutz. Gesundheit
und Wohlbefinden der Tiere finden sich auch ein Stück
weit in der Qualität der Produkte wieder. Tierschutz im
Rahmen der Nutztierhaltung ist seit dem 1. Januar
- auch das sage ich an die Adresse der Verbraucher Gegenstand der Cross-Compliance-Kontrollen geworden. Das ist ein deutliches Zeichen hin zu mehr praktischer Vernunft beim Tierschutz. Das soll genug der Bürokratie sein. Nicht hinter jedem Küken kann ein
Kontrolleur stehen.
Ich greife ein Beispiel aus dem aktuellen Tierschutzbericht heraus, das zeigt, wie differenziert die Vorschriften heute bereits sind: die Anforderungen an die Haltung
von Enten oder Gänsen. Ich zitiere:
Der Stall muss so beschaffen sein, dass den Tieren
ein Auslauf und jederzeit zugängliche, ausreichend
bemessene Bademöglichkeiten zur Verfügung stehen.
({6})
Die Bademöglichkeiten müssen … so gestaltet sein,
dass die Enten oder Gänse den Kopf bis mindestens
hinter das Auge ins Wasser stecken können.
({7})
Es müssen Einrichtungen vorhanden sein, die die
Bereitstellung von klarem Wasser für das Baden gewährleisten.
An diesem Beispiel sehen Sie: Bürokratie darf nicht die
oberste Maxime für den Tierschutz der Zukunft sein.
({8})
Wir sind dagegen, dass jeder Kälberstrick definiert
wird. Es gibt natürlich Themen, mit denen wir uns kritisch und aus der Sicht der praktischen Vernunft auseinander setzen müssen; ich nenne als Beispiel das Thema
Milchkuhrichtlinie. Aber Frau Künast hat in der Vergangenheit den Tierschutz häufig zur Eigenprofilierung benutzt. Das soll nicht die Zukunft sein. Im Mittelpunkt
unserer Tierschutzpolitik steht der Eigenwert der Tiere
als Maßstab für einen verantwortbaren Tierschutz.
Herzlichen Dank.
({9})
Das Wort hat für die FDP der Kollege Michael
Goldmann.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich will es gleich vorweg sagen: Ich werde
mir die Rede, die Sie gerade gehalten haben, Herr Staatssekretär, noch einmal sehr genau zu Gemüte führen.
({0})
Ihren Schluss habe ich nicht ganz verstanden. Am Anfang haben Sie gesagt, dass Tiere zu schützen sind. Sie
sagen zu Recht, Tiere seien Mitgeschöpfe. Sie beziehen
sich sogar auf eine religiöse Position, was in dem Wort
Geschöpf bzw. Schöpfungsakt zum Ausdruck kommt.
Am Schluss aber haben Sie gesagt, es handele sich um
Bürokratie, wenn Rahmenbedingungen für die ordnungsgemäße, tierschutzgerechte Haltung von Tieren
festgelegt werden. Ich wäre da etwas vorsichtiger.
({1})
Ich meine, das sollten wir zur Maxime unseres gemeinsamen Handelns machen.
Herr Staatssekretär, ich sage Ihnen noch etwas: Als
Oppositionsfraktion werden wir Sie ganz konkret an Ihren Taten messen. Wir werden uns nicht damit zufrieden
geben, dass hier schöne Postulate in den Raum gestellt
werden. Wir wollen, dass Sie etwas tun und dass Sie aufgreifen, was im Tierschutzbericht 2005 angemahnt wird.
Der Tierschutzbericht 2005 ist eigentlich ein guter
Bericht. Er belegt, dass im Jahr 2005 an vielen Stellen
etwas für die Tiere erreicht worden. Es ist an manchen
Stellen überzogen worden - Sie haben das angesprochen -; das eine oder andere ist unter ideologischen Gesichtspunkten zu sehen. In der Substanz aber ist für Tiere
eine ganze Menge auf den Weg gebracht worden. Ich
denke zum Beispiel an die Exporterstattung, die noch
zum Ende des Jahres gekippt wurde, oder an die Rahmenbedingungen, die in der Ernährungswirtschaft insgesamt, auch in der Fischwirtschaft, zum Tragen gekommen sind.
Im Tierschutzbericht ist uns ein Auftrag erteilt worden. Was ist unsere zukünftige Aufgabe? Wir sind stolz
darauf, dass auch wir als FDP - das traut uns der eine
oder andere manchmal gar nicht zu - sehr konkrete Vorstellungen entwickelt haben. Wir haben Anfragen gestellt, zum Beispiel zur Tierhaltung in Zirkussen. Wir
werden von der Entwicklung bestätigt, die die Österreicher jetzt auf den Weg zu bringen versuchen, woran sie
aus europäischer Unklugheit von einigen gehindert werden. Darüber werden wir im Ausschuss gemeinsam reden können. Wir werden uns Ihrem Antrag anschließen.
Wir hätten das schon früher getan, wenn er denn gekommen wäre. Dass der Antrag auf den letzten Drücker kam,
hat uns nicht gefallen.
({2})
Wir haben uns mit den Heimtieren und mit Schweinswalen befasst. Ich habe mich sehr konkret mit Rodeoveranstaltungen befasst und habe dabei keine Unterstützung durch die große Koalition erfahren. Ich bin der
Meinung, dass das, was heute zum Teil bei Rodeoveranstaltungen passiert, mit Tierschutz überhaupt nicht in
Einklang zu bringen ist. Ich habe mich mit Pelztierimporten sehr genau befasst. Ich bin froh darüber, dass
in Deutschland nicht so ein Lapsus passiert wie bei der
norwegischen Olympiamannschaft. Auf deren Kleidung
waren nämlich Pelze aufgenäht, die Tieren in Situationen abgezogen wurden, wo man sich schon fragen muss,
ob sie nicht noch gelebt haben.
Herr Staatssekretär, wir müssen auch über das Thema
Vogelgrippe reden. Ist es nicht klug, wenn wir sagen,
dass wir impfen wollen statt töten? Ist es nicht auch im
Sinne des Tierschutzes klug, wenn wir hier - natürlich
unter internationaler Einbindung - einen gemeinsamen
Weg gehen? Die Bilder, die wir zum Beispiel aus der
Türkei gesehen haben, haben uns doch hoffentlich alle
erschreckt.
Wir sind in besonderer Weise gefordert, auch durch
die neuen Vorgaben, die von europäischer Ebene kommen. Ich finde das, was dort auf den Weg gebracht wird,
sehr klug, jedoch nicht, wenn die Überschrift lautet:
„Noch mehr Tierschutz“; denn darum geht es nicht. Es
geht darum, den Tierschutz in die Ökonomie einzubinden. Ich finde es gut, dass auf europäischer Ebene darüber nachgedacht wird, ein Tierschutzlabel auf den
Weg zu bringen. Ich bin davon überzeugt, dass der Tierschutz in Deutschland dem in anderen europäischen
Ländern haushoch überlegen ist. Ich glaube daher, dass
es gut ist, wenn in dem Aktionsplan die Schaffung eines
Sachverhalts - ein Überwachungsinstrument wäre immer mit Bürokratie verbunden - zur Feststellung der
Marktauswirkungen vorgesehen ist, die zum Beispiel
durch Tierschutznormen ausgelöst werden, die wir einhalten. Andere Länder, die nach Deutschland exportieren, verschaffen sich nämlich Vorteile; Herr Staatssekretär, Sie haben das angesprochen. Einer nationalen und
ideologischen Überhöhung erteilen wir eine klare Absage. Wir werden uns ansehen, was Sie bei der Legehennen- und bei der Schweinehaltungsverordnung auf den
Weg gebracht haben.
Ich finde, heute haben wir Grund, ein Stück weit zufrieden zu sein, zum Beispiel aufgrund des Beschlusses
der Agrarministerkonferenz unter Begleitung der neuen
Bundesregierung, das Testalter der Tiere bei BSE-Verdacht auf 30 Monate anzuheben. Aber wie lange mussten wir um diesen Sachverhalt kämpfen? Dabei sprechen
die Fakten dafür, das Testalter heraufzusetzen. Jetzt müssen weitere Schritte folgen, zum Beispiel wenn es um
die Verfütterung von Tiermehl geht. Denn der restriktive
Umgang auf europäischer Ebene führt auf deutscher
Ebene dazu, dass wir im europäischen Vergleich Nachteile haben und dass wir Ländern gerade im Entwicklungsbereich enorme Kosten zumuten, weil sie unter solchen Regelungen leiden.
Herr Goldmann, kommen Sie bitte zum Ende.
Ja, ich komme zum letzten Satz. - Ich glaube, es ist in
der Summe ein guter Tierschutzbericht, über den wir
hier beraten. Es bleibt noch viel zu tun. Wir werden erfolgreich sein, wenn wir die Dinge gemeinsam angehen.
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat der Kollege Dr. Wilhelm Priesmeier,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, die heutige Debatte kann beweisen, dass Tierschutz nicht nur trennt,
sondern auch verbindet. Ich finde schon ganz beachtlich,
was im Tierschutzbericht steht. Das sind natürlich zum
Teil die Erfolge einer längst vergangenen Koalition.
Aber ich glaube, die neue Koalition wird diese Tierschutzintention in der Gesellschaft weiter voranbringen.
({0})
Tierschutz ist ein hohes Gut. Wir alle gemeinsam haben
ihn in diesem Parlament zum Staatsziel gemacht. Daran
muss sich die Gesetzgebung orientieren.
Drei Jahre lang hat es zwischen der Bundes- und der
Länderebene in einem großen Bereich - in Deutschland
gibt es etwa 28,6 Millionen Schweine - Stillstand gegeben, weil man sich nicht auf neue Tierschutzstandards
einigen konnte. Das haben wir von der SPD immer beklagt. Wir waren aber nicht in der Lage, diesen Konflikt
aufzubrechen. Jetzt scheint die Gelegenheit gegeben,
auch in diesem Bereich endlich zu Regelungen zu kommen, die den an sich unbefriedigenden Zustand ablösen,
sich auf Standards beziehen zu müssen, die zum Teil älter als 15 Jahre sind. Das bringt Fortschritt und mehr
Tierschutz sowie Sicherheit für diejenigen, die in diesem
Bereich investieren. Von den verbesserten Standards hat
nicht nur unsere Wirtschaft etwas, auch der Verbraucher
profitiert davon. Denn jegliche Verbesserung im Tierschutz hat zwangsläufig eine Verbesserung der Lebensmittelqualität zur Folge. Das findet sich auch in den
Überlegungen der EU wieder.
Aus diesem Grunde begrüße auch ich den neuen Aktionsplan der EU zum Tierschutz. Ich hoffe, dass er in
seiner Ausgestaltung das bringt, was wir alle erwarten,
nämlich dass die Tierschutzstandards in Europa angeglichen werden und dass es keine Wettbewerbsverzerrungen gibt, sodass derjenige, der bereit ist, schon im Vorfeld in solche Standards zu investieren, sich hinterher
nicht in einer Wettbewerbssituation wiederfindet, in der
er nicht sein möchte.
({1})
Wir haben uns, nachdem wir auch innerhalb der
Koalition lange Debatten darüber geführt haben, auf eine
vernünftige Ausgestaltung der Schweinehaltungsverordnung verständigt,
({2})
und zwar auf der Basis des Kompromisses, den wir
schon im Jahr 2004 auf Länderebene erzielt hatten, ergänzt um einige nachvollziehbare Veränderungen.
({3})
Ich denke, mit diesem Kompromiss bringen wir den
Nutztierschutz in Deutschland voran. Wie der Herr
Staatssekretär soeben angekündigt hat, soll auch eine
Verordnung zur Hennenhaltung vorgelegt werden;
denn die Situation in diesem Bereich ist ebenfalls noch
nicht geklärt. Nun lautet die Frage: In welche Richtung
möchte man sich bewegen?
({4})
Auf EU-Ebene gibt es bereits eine Studie, aus der hervorgeht, dass Kleingruppenhaltung durchaus eine Alternative sein kann. Jegliche Haltungsform, die in irgendeiner Weise mit Käfighaltung zu tun hat - das geht auch
aus dem Koalitionsvertrag klar hervor -, wird abgelehnt.
({5})
Das ist ein Fortschritt, der erkämpft worden ist und nicht
wieder aufgegeben werden darf. Vor diesem Hintergrund
muss natürlich die Hennenhaltung so ausgestaltet werden, dass die Hennen haltenden Betriebe in Deutschland
in der Lage sind, tierschutzgerecht zu produzieren und
letztlich auch dem Wettbewerb standzuhalten.
({6})
Andere Haltungssysteme in diesem Bereich sind ebenfalls verbesserungsfähig und verbesserungswürdig.
Auch in den Haushaltsansätzen wird sich widerspiegeln, dass der Tierschutz nicht unter dem Gesichtspunkt
„Einsparpotenzial“ behandelt wird. Ich plädiere als Tierschutzbeauftragter meiner Fraktion dafür, dass er seinen
Stellenwert sowohl in unserer Gesellschaft als auch in
unserem Haushalt behält. Aus diesem Grunde darf er
keinen Kürzungen zum Opfer fallen.
Ich bin frohen Mutes, dass wir diesen Bereich auch in
Zukunft angemessen ausgestalten können. Ich setze darauf, dass wir auch in Zusammenarbeit mit den Tierschutzorganisationen in der Lage sein werden, eine entsprechende Agenda zu entwickeln. Das, was die
Koalition in den nächsten vier Jahren im Hinblick auf
den Tierschutz durchsetzen will, geht nur im Miteinander und nicht im Gegeneinander. Gestalten wir unsere
Politik also im Interesse Deutschlands und im Sinne des
Tierschutzes!
Danke schön.
({7})
Ich gebe das Wort der Kollegin Eva Bulling-Schröter
von der Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich erinnere mich noch gut an einen Donnerstagabend
kurz vor Weihnachten, als auf „Phoenix“ wieder einmal
ein Bericht über die erschreckenden Zustände bei den
Tiertransporten in den Libanon gezeigt wurde. Dieser erschütternde Film rüttelte offensichtlich sogar die auf
EU-Ebene Verantwortlichen so sehr auf, dass überraschenderweise ganz schnell ein Verbot solcher Tiertransporte verordnet wurde. Das war ein großer Erfolg für ein
Anliegen, für das sich viele Menschen schon seit etlichen Jahren eingesetzt haben.
({0})
Auch im Bundestag haben wir bereits des Öfteren darüber diskutiert. Das ist also ein positives Beispiel.
Jetzt zum Negativen. Für uns ist es völlig unverständlich, dass die EU ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Österreich anstrengt,
({1})
weil das Land Gesetze im Sinne des Tierschutzes erlässt.
({2})
Die Österreicher haben ein Verbot erlassen, das in
Deutschland noch ansteht: Die Haltung und Mitwirkung
von Wildtieren in Zirkussen ist dort nicht mehr erlaubt.
({3})
Das ist, wie ich meine, ein gutes und vernünftiges Gesetz. Es kann nicht sein, dass derlei über das Dogma des
so genannten freien Dienstleistungsverkehrs wieder ausgehebelt werden soll. Deshalb unterstützen wir den Antrag der Grünen und fordern die Bundesregierung auf,
hier tätig zu werden.
({4})
Wer den Tierschutzbericht liest, kommt an einer Zahl
nicht vorbei: Es werden noch immer mehr als 2 Millionen Wirbeltiere in Tierversuchen verbraucht. Das sind
2 Millionen zu viel.
({5})
Die Förderung von tierversuchsfreien Methoden muss
forciert werden, und zwar zügig. Ich denke, hier sind wir
uns einig. Dafür braucht man Geld, nicht aber für die
Tierversuche.
Nach wie vor vegetieren fast 39 Millionen Hennen in
Legebatterien. Wir gehen davon aus, dass sich die große
Koalition an den Beschluss halten wird, die Haltung von
Hennen in Käfigbatterien zum Jahr 2007 zu beenden.
Das Bundesverfassungsgericht hat ja klar definiert, was
unter artgerechter Haltung von Hühnern zu verstehen ist.
Dies darf nicht dem Druck bestimmter Lobbyisten zum
Opfer fallen. Diese Gefahr besteht, Herr Müller.
Neben den Hennen leiden aber auch andere Vögel.
Sie alle kennen die Bilder von in Netzen gefangenen Papageien, von Transportkisten, in die Hunderte Vögel auf
dem langen Transport aus den Wäldern Afrikas, Südamerikas oder Asiens nach Europa halbtot eingepfercht
sind. Schätzungsweise 3,5 Millionen Wildvögel werden
jedes Jahr für den Heimtiermarkt in der Europäischen
Union eingefangen. Mindestens die Hälfte der Tiere erstickt, verhungert oder verdurstet, bevor der Endabnehmer überhaupt erreicht ist. Die massenhafte Einfuhr von
Wildvögeln ist nicht nur grausam, sie ist auch völlig
überflüssig. Hiesige Vogelzüchter züchten die exotischen Arten seit langem, doch die Zuchttiere können mit
den billigen Wildfängen preislich nicht konkurrieren.
Während Fang und Haltung einheimischer Wildvögel in
der EU streng verboten sind, gelten exotische Vögel
nach wie vor als „vogelfrei“. Wir halten das für absurd.
So stammen neun von zehn importierten Papageien aus
freier Wildbahn. Die Bestände zahlreicher Arten sind infolge des wildwüchsigen Handels bereits zusammengebrochen. Es ist also höchste Zeit, dass die Bundesregierung und die gesamte EU endlich dem Beispiel anderer
Länder folgen, zum Beispiel den USA, und diesen Handel verbieten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition, es
gibt noch viel zu tun; darüber sind wir uns einig. Unter
anderem steht die Verbandsklage im Tierschutz nach wie
vor auf der Agenda. Zeigen Sie, dass eine große Koalition auch eine große Koalition für den Tierschutz sein
kann! Sie haben die Mehrheit - und auch unsere Unterstützung, wenn Sie es denn Ernst damit meinen. Dazu
gehören natürlich auch Kälberstricke, Herr Staatssekretär Müller.
({6})
Für das Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt Undine
Kurth.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Es ist gut, dass wir heute über den vorliegenden Tierschutzbericht debattieren, weil wir damit zeigen,
dass Tierschutz ein politisches Thema ist. Es wäre allerdings besser, wenn mehr Abgeordnete anwesend wären
und mitbekämen, dass es ein politisches Thema ist, das
uns alle fordert.
({0})
- Wenn Sie meinen, dass wir die Wichtigsten sind,
({1})
ist das okay.
Natürlich bin ich froh, dass erst einmal alle versichert
haben, wie wichtig ihnen der Tierschutz sei. Allerdings
bin ich schon etwas verwundert: Die Reden fangen immer großartig an. Aber was folgt dann? - Herr Staatssekretär, Sie sprachen in biblischen Bildern und fingen mit
„Gottes Schöpfung“ an. Doch wie Sie aufhörten, war etwas lax und dem Thema nicht angemessen.
({2})
Herr Dr. Priesmeier, Sie haben die Hennenhaltung
so geschildert, als wäre sie nicht geregelt. Das verstehe
ich nicht. Für die geltende Gesetzeslage hat Rot-Grün erfolgreich gestritten; darauf können wir stolz sein. Warum
sollten wir das zur Disposition stellen?
({3})
Ich hoffe, dass Sie zu Ihren Worten stehen. Wenn Sie es
schon nicht der Tiere wegen schaffen, dann denken Sie
daran, dass ein verbesserter Tierschutz uns allen nutzt.
Wir belasten die Böden nicht so stark wie mit der Massentierhaltung. Wir tun etwas für das Wasser und die
Luft.
({4})
- Es hat etwas mit der Massentierhaltung zu tun. - Wir
tun etwas für unsere Umwelt und damit letztendlich für
uns selber.
({5})
Klasse statt Masse ist nicht Ideologie, sondern ein vernünftiger Grundsatz, der immer noch stimmt.
({6})
In Brandenburg und Sachsen-Anhalt wird versucht,
die industrielle Massentierhaltung zu forcieren. Es gibt
Planungen für Schweinemastanlagen mit Platz für bis zu
85 000 Tiere. Diese Form der Tierhaltung ist nicht artgerecht; das wissen wir alle. Ferner ist dies in keiner Weise
arbeitsplatzfördernd. Mit Schweinefabriken dieser Art
- davon sind wir überzeugt - schafft man keine Arbeitsplätze, man vernichtet sie vielmehr. Kleine Betriebe werden wohl eher darunter leiden.
({7})
Artgerechte Tierhaltung ist in Massenhaltung nun einmal nicht möglich.
({8})
So entstehen auch keine gesunden Lebensmittel. - Wir
sind da unterschiedlicher Meinung. Sie sagen: Das
stimmt nicht. Wir sagen: Nein, diese Aussage kann so
nicht stehen bleiben.
Undine Kurth ({9})
Die Zukunft liegt mit Sicherheit nicht in einer Tierhaltung, die die Rechte der Tiere nicht akzeptiert, die unsere Umwelt extrem belastet, die zu Lärm, zu Luftverunreinigung führt, die Grund- und Trinkwasser mit Nitrat,
Kupfer oder Zink belastet.
({10})
Es gibt genug Berichte dazu. Ich empfehle Ihnen den
„Spiegel“ dieser Woche, wo über die Schweinemastanlagen in Sachsen-Anhalt berichtet wird.
({11})
- Das Protokoll mag das streichen. Trotz allem steht es
in dieser Zeitschrift.
Mit unserem Antrag „Tierschutzpolitik energisch
fortführen und weiterentwickeln“ umreißen wir Grünen
die tierschutzpolitische Agenda der nächsten Jahre. Da
sind wir sicher an vielen Punkten wieder näher beieinander. In der Pelztierhaltung muss unbedingt etwas passieren. Die Haltungsbedingungen müssen verändert werden. In der Masttierhaltung muss etwas passieren. Wir
müssen uns für den Ersatz von Tierversuchen stark machen. Wir müssen das Jagdrecht novellieren und den
Tierschutzverbänden ein Klagerecht analog zu der Situation im Naturschutz einräumen.
Ausgesprochen beunruhigt sind wir angesichts des
Vorhabens der Bundesregierung, im Rahmen der Föderalismusreform zugunsten der Länder ein Abweichungsrecht in Bezug auf die Nutztierhaltung freizugeben.
Wir sind davon überzeugt, dass wir, wenn wir das tun,
Tierschutzdumping erleben werden. Herr Staatssekretär,
das ist kein Zeichen praktischer Vernunft, sondern ein
Vabanquespiel auf dem Rücken der Tiere. Das sollten
wir bitte lassen.
({12})
- Doch, die vier Minuten sind gleich um, wie ich sehe.
Demzufolge verweise ich auf die beiden Anträge, die zur
Debatte stehen, auch auf den, der die Maßnahmen der
Europäischen Kommission betrifft.
Wir hoffen auf eine konstruktive Debatte über diese
Anträge und dass wir zusammen im Sinne des Tierschutzes keinen Rückschritt, sondern weiteren Fortschritt erreichen.
Vielen Dank.
({13})
Für die Fraktion der CDU/CSU hat jetzt der Kollege
Dr. Peter Jahr das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Es ist ein Kennzeichen hoch entwickelter demokratischer Gesellschaften, dass der Tierschutz eine hohe
gesellschaftliche Präferenz erfährt. Mahatma Gandhi
soll gesagt haben:
Die Größe einer Nation lässt sich daran messen,
wie sie ihre Tiere behandelt.
({0})
- Es gibt gute Zitate dazu.
Ob man es nun als Respekt vor der Natur oder, so wie
ich, als Respekt vor der Schöpfung definiert, sei dahingestellt. Wohltuend ist, dass in diesem Hohen Hause
wirklich keiner die Bedeutung des Tierschutzes in Abrede stellt. Nachweise für die Verantwortung des Menschen für die Schöpfung sind so alt wie die Schöpfung
selbst. Schon in der Bibel wird in der Schöpfungsgeschichte der sechste Tag folgendermaßen beschrieben
- ich hoffe, ich kann das zitieren -:
Und Gott sprach: Lasset uns Menschen machen, ein
Bild, das uns gleich sei, die da herrschen über die
Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über alle Tiere des Feldes und über alles Gewürm, das auf Erden kriecht.
Wenn man derart gestimmt an die Sache herangeht,
dann scheint es ziemlich einfach. Tiergesundheit, Qualität der Produkte, Wirtschaftlichkeit und Tierschutz diese Begriffe korrelieren positiv miteinander, wird oft
behauptet. Wie Sie wissen, ist die Welt allerdings leider
nicht so einfach strukturiert. Tierschutz, wirtschaftlicher
Erfolg, Tiergesundheit, hohe Leistung, artgerechte Tierhaltung und gesunde Nahrungsmittel verhalten sich
manchmal widersprüchlich zueinander. Politisches Gestalten tut also Not.
Beim Studieren des Tierschutzberichtes 2005 der
Bundesregierung bin ich zu folgenden Schlussfolgerungen gelangt:
Nulltens. Der Bericht datiert vom April 2005. Ich
denke, den nächsten Bericht sollten wir zeitnäher diskutieren.
Erstens. Tierschutz mündet letztendlich in Vorschriften und Standards. Nationale Alleingänge sind wenig
hilfreich und nicht zielführend,
({1})
es sei denn, nationale Gebote sind auch bei Importen in
unser Land durchsetzbar. Das Problem dabei ist, dass
man den Produkten, abgesehen von einer Kennzeichnung, die Qualität des Tierschutzes nicht immer ansieht.
Zweitens. Gemeinsame, international abgestimmte
Schritte bringen den Schutz des Tieres besser voran als
große Sprünge im nationalen Alleingang; denn Tierschutz ist international.
({2})
Dazu nenne ich drei Beispiele, nämlich den Lebendexport von Nutztieren, den Transport von Nutztieren
und die Legehennenhaltung. Es gibt keinen vernünftigen
Grund, Schlachttiere tagelang quer durch Europa und
dann noch über das Mittelmeer zu schippern. Dieser Unsinn fand nur deshalb statt, weil die Europäische Union
diese Geschichte auch noch finanziell unterstützte. Es ist
schon mehrfach erwähnt worden: Seit dem vergangenen
Jahr ist zumindest mit dieser Unterstützung auch im Interesse des Tierschutzes Schluss.
({3})
Beim Transport von Nutztieren ist eine Begrenzung
der Transportzeiten sinnvoll. Sie würde zusätzlich zu einer Stärkung der regionalen Wirtschaftskreisläufe führen. Allerdings muss diese Frage europäisch beantwortet
werden.
({4})
Ähnlich muss man auch bei der Haltung von Legehennen argumentieren.
({5})
Drittens. Wer aus dem Halten von Tieren einen unternehmerischen Nutzen zieht, wird vom Gesetzgeber intensiver beobachtet als derjenige, der dies ohne direkt erkennbaren finanziellen Hintergrund tut.
({6})
Im Tierschutzbericht der Bundesregierung ist eine riesige Imbalance zwischen den Tierschutzmaßnahmen für
Nutztiere und denen im Bereich der Heimtierhaltung zu
erkennen. Es werden im Tierschutzbericht keine Angaben dazu gemacht, welche Tiere in welcher Anzahl und
unter welchen Bedingungen im Haushalt gehalten werden. Hier sollten wir das eine tun, aber das andere nicht
lassen.
({7})
Tierschutz ist unteilbar. Was für Legehennen gilt, muss
genauso für den Kanarienvogel oder die Schildkröte in
der Wohnstube gelten. In diesem Zusammenhang mahne
ich zumindest ein Forschungsprojekt zur Heimtierhaltung unter Tierschutzaspekten an.
({8})
Viertens. Die Anzahl der Tierversuche ist maximal
zu reduzieren. Tierversuchersetzende Methoden sind dafür verstärkt weiterzuentwickeln.
({9})
Die weitere wissenschaftliche Erforschung dieser Problematik ist wichtig.
({10})
- Wir werden darüber sprechen müssen, Frau Kollegin;
Sie haben völlig Recht. - Die Umsetzung der neuen europäischen Chemikalienpolitik darf nicht mit einer steigenden Zahl von Tierversuchen einhergehen.
({11})
Ich fasse zusammen: Der Schutz der Tiere ist ein
wichtiges gesellschaftliches Erfordernis. Tierschutz ist
unteilbar und international, das heißt, Tierschutzmaßnahmen müssen zunehmend international abgestimmt
werden. Es gibt kein unterschiedliches Schutzbedürfnis
von Nutztieren und Heimtieren.
({12})
In diesem Zusammenhang ist ein Arbeitsdokument der
EU-Kommission vom 23. Januar 2006, nämlich der Aktionsplan der Gemeinschaft für den Schutz und das
Wohlbefinden von Tieren 2006 - 2010, Mut machend.
Frau Präsidentin, ich komme zu meinem letzten Satz.
Damit ist der Tierschutz nun endgültig in der Europäischen Union angekommen, was für die Größe Europas
sprechen könnte, wenn man an Gandhi denkt.
Danke schön.
({13})
Jetzt erteile ich dem Kollegen Dr. Gerhard Botz von
der SPD-Fraktion besonders gerne das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In Deutschland wird Tierschutz groß geschrieben. Das
wird auch im Tierschutzbericht 2005 wieder deutlich.
Der Tierschutz ist gesetzlich verankert. Millionen von
Menschen engagieren sich für ihn. Und das ist auch gut
so.
Es ist ein gewaltiger Irrtum, zu glauben, dass Tierschutz eine Erfindung der Neuzeit ist. Da einige Vorredner hier auf die christliche Schöpfungsgeschichte zurückgegriffen haben, möchte ich an dieser Stelle in
Erinnerung rufen, wie groß selbst in jener Zeit, als unsere Vorfahren anderen Kreaturen noch als Jäger gegenübertraten - das war also weit vor unserer Zeit -, ihr
Respekt vor ihnen war. Noch enger, ja, existenziell verknüpft, wurde die Mensch-Tier-Beziehung später, als
es unseren Vorfahren gelang, Tiere zu domestizieren.
Die guten und vernünftigen Wurzeln dieses Verhältnisses stammen aus jenen Tagen.
Sicherlich - das darf man hier einmal mit einem Augenzwinkern anmerken - war der bürokratische Aufwand in jenen Zeiten Gott sei Dank deutlich geringer.
Aber die Kraft der Gesetze, die vor mehreren tausend
Jahren, obwohl sie zu dieser Zeit nicht aufgeschrieben
waren, gegolten haben, war beachtlich. Man kann also
ohne Übertreibung sagen, dass wir im Augenblick auf
dem Wege sind, Verhältnisse zu korrigieren, die wir insbesondere in den letzten Jahrzehnten an der einen oder
anderen Stelle kaputtgemacht haben. Ich sage aber auch,
dass wir diese notwendigen Korrekturen nicht ohne
Rücksicht auf die tatsächlichen gegenwärtigen ökonomischen Verhältnisse unserer landwirtschaftlichen Unternehmen vornehmen können.
({0})
Stärker als das vielen von uns noch bewusst ist, bewegen wir uns bei diesem Thema innerhalb eines europäischen Handlungsrahmens. Deshalb möchte ich in aller
Kürze auf das Papier eingehen, auf das einer meiner
Vorredner auch schon eingegangen ist, nämlich den
„Aktionsplan der Gemeinschaft für den Schutz und
das Wohlbefinden von Tieren 2006-2010“ vom 23. Januar 2006. Es handelt sich hierbei um einen sehr ambitionierten Aktionsplan, in dem die Kommission gegenüber den Bürgern, den Interessengruppen, dem
Europäischen Parlament und dem Rat ihre Tierschutzinitiativen für die kommenden Jahre klar und umfassend
darlegt.
Dabei geht es um Folgendes: erstens, Verbesserung
der Mindestnormen für den Schutz und das Wohlbefinden von Tieren; zweitens, Förderung von Forschung und
Alternativen zu Tierversuchen; drittens, Einführung einheitlicher Tierschutzindikatoren; viertens, bessere Information der Tierhalter sowie der allgemeinen Öffentlichkeit über Fragen des Tierschutzes und, fünftens, die
Unterstützung internationaler Tierschutzinitiativen.
Zwei dieser Aktionsbereiche erscheinen mir besonders wichtig. Das ist zunächst einmal die Einführung
einheitlicher Tierschutzindikatoren, um angewandte
Tierschutznormen einzuordnen und vergleichen zu können. Sie bilden die Voraussetzung für die Durchsetzung
von einheitlichen Mindestnormen, ohne die eine etwaige
Etikettenregelung und ein fairer Wettbewerb zwischen
den Produktions- und Zuchtbetrieben innerhalb der EU
nicht möglich sind.
Deshalb betone ich an dieser Stelle ausdrücklich: Wer
unter Einhaltung von Tierschutzanforderungen erhebliche Investitionen vorgenommen hat, braucht ausreichende Sicherheit, mit diesen Anlagen entsprechend
lange produzieren zu können. Ich fordere deshalb die
Bundesregierung auf, sich für genau diese Harmonisierung noch stärker als bisher mit dem Ziel der Schaffung
einheitlicher Mindestnormen innerhalb Europas stark zu
machen.
Ich komme zum Abschluss. Eine Umfrage, die auch
zu diesem Papier gehört, kommt zu dem Ergebnis, dass
90 Prozent der Bürger innerhalb der Europäischen Union
beim Kauf mehr Informationen über die Tierschutzbedingungen im Verlauf der Produktion erhalten wollen.
Darin liegt eine gewaltige Chance für diejenigen, die in
diesem europäischen Binnenmarkt weiterhin mit Erfolg
produzieren wollen. Lassen Sie uns gemeinsam für gesetzliche Grundlagen sorgen, um all denen, die das tun
wollen, insbesondere unseren deutschen Produzenten,
entsprechende Rahmenbedingungen zu schaffen.
Vielen Dank.
({1})
Damit schließe ich die Aussprache.
Die Vorlagen 15/5405, 16/549 und 16/550 sollen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden. - Dazu gibt es keinen Widerspruch.
Dann ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael
Kauch, Angelika Brunkhorst, Horst Meierhofer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Klimaschutz-Offensive 2006
- Drucksache 16/242 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Interfraktionell ist für die Aussprache eine halbe
Stunde vorgesehen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem
Kollegen Michael Kauch von der FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Klimaschutz ist eine der Kernaufgaben einer generationengerechten Politik. Deutschland ist bei der Umsetzung der
Kiotoverpflichtungen auf einem besseren Weg als
manch anderes Land. Aber auch wir können sicherlich
noch besser werden.
({0})
Es ist also Zeit für eine Klimaschutzoffensive.
({1})
Doch dazu steht im schwarz-roten Koalitionsvertrag
leider nicht viel mehr als allgemeine Absichtserklärungen. Sie wollen sich für ein Nachfolgeabkommen für
Kioto einsetzen. Aber auf welcher Grundlage, nach welcher Grundphilosophie und auf welche Art und Weise
dies erfolgen soll, schreiben Sie nicht.
Sie stellen eine Exportinitiative für erneuerbare Energien in Aussicht. Im Koalitionsvertrag findet sich aber
nicht einmal eine Andeutung dazu, was das konkret bedeutet. Die FDP meint, das ist zu wenig. Deshalb hat die
liberale Opposition in diesem Haus die Absicht, mit ihrem Antrag heute die Debatte zu eröffnen. Wir möchten
Sie zur Klärung der offenen Fragen bewegen.
Wirksamer Klimaschutz ist nur global zu erreichen.
Deshalb ist das wichtigste Ziel ein neues Kiotoprotokoll, in das ab 2012 möglichst alle CO2-Verursacher mit
verbindlichen Zielen einbezogen werden. Ein erster
Schritt mit Blick auf die Vereinigten Staaten könnte darin bestehen, einzelnen US-Bundesstaaten die Teilnahme
am Emissionshandel zu ermöglichen. Diese Anregung
der kanadischen Regierung ist in unserem ureigenen
deutschen Interesse und sollte deshalb von der Bundesregierung mit Nachdruck verfolgt werden.
({2})
Doch auch auf nationaler und europäischer Ebene
gibt es Handlungsbedarf. Die FDP will mehr Klimaschutz zu geringeren Kosten für Unternehmen und Verbraucher. Ein Schlüssel hierzu ist die Ausweitung des
Emissionshandels.
Konkret schlagen wir in unserem Antrag Folgendes
vor: Wie im Kiotoprotokoll soll die Aufforstung auch in
den europäischen Emissionshandel einbezogen werden,
um Zertifikate generieren zu können. Der Mechanismus
der gemeinsamen Implementierung sollte auch auf nationaler Ebene möglich werden. Es ist beispielsweise mit
Blick auf meine Heimatregion nicht einzusehen, warum
ein niederländisches Unternehmen mit der klimaschonenden Nutzung von Grubengas aus dem Ruhrgebiet
Zertifikate erwirtschaften kann, für einen deutschen Investor aber nicht die gleichen Rahmenbedingungen gelten sollen.
({3})
Die Joint Implementation auf nationaler Ebene
könnte genutzt werden, um den Gebäudesektor in den
Emissionshandel einzubinden. Hier könnten wir mehr
privates Kapital generieren, als es durch das geplante
Subventionsprogramm zur Gebäudesanierung möglich
ist. Das würde zugleich der Nutzung erneuerbarer Energien im Wärmebereich - etwa der Solar- und Geothermie - neue Impulse geben.
Des Weiteren müssen wir die Zusammenarbeit mit
den Entwicklungsländern verbessern. Notwendig sind
mehr bilaterale Abkommen wie das, das letztens mit
Mexiko vereinbart wurde. Denn gerade die sonnenreichen Länder des Südens bieten massive ungenutzte
Potenziale zur CO2-Einsparung durch erneuerbare Energien.
Für die FDP bedeutet Klimaschutz aber mehr als nur
Zertifikatehandel. Mit Blick auf die gegenwärtigen Bemühungen insbesondere in den USA ist festzuhalten,
dass es nicht um ein Entweder-oder von technologieorientierter Klimapolitik auf der einen Seite und kiotobasierter Klimapolitik auf der anderen Seite geht.
Vielmehr liegt die besondere Stärke kiotobasierter Klimapolitik darin, dem technischen Fortschritt - gleichsam
als zusätzliche Prämie und als Orientierungsmarke - ein
zusätzliches Renditeelement zu verschaffen.
({4})
Nicht jeder Technologiebereich profitiert aber vom
Zertifikatehandel. Dies betrifft insbesondere die Technologien, die der Anpassung an den Klimawandel dienen.
Dieser Technologiebereich ist unverständlicherweise
bisher ein Stiefkind der klimarelevanten Technologiepolitik. Dies will die FDP ändern. Initiativen, die auf
Forschung und modernste Technologien für den Klimaschutz setzen, wären in der Tat ein Aufbruchsignal, das
Deutschland gerade nach den Jahren der Technologiefeindlichkeit unter Rot-Grün gut zu Gesicht stünde.
({5})
Wir fordern Sie auf, konstruktiv auf die Länder zuzugehen, die die Asien-Pazifik-Partnerschaft für saubere
Entwicklung und Klima unterzeichnet haben - die USA,
Australien, Indien, Korea, China und Japan -, und diese
Partnerschaft nicht als Alternative zu Kioto, sondern als
zusätzliche Chance für alle Beteiligten zu sehen.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat jetzt der Kollege Andreas Jung von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Es mag politische Bereiche geben, in denen Fehler
korrigiert werden können. Die Klimaschutzpolitik gehört ganz sicher nicht dazu. Was wir heute in diesem Bereich versäumen oder zulassen, wird dramatische Auswirkungen haben, wird unseren Planeten insgesamt
betreffen, wird das Leben von Mensch und Tier, von
Flora und Fauna beeinträchtigen und wird nicht mehr
rückholbar sein.
({0})
Deshalb gibt es nur eines: Es muss schnell, entschlossen
und konsequent gehandelt werden. Insofern nehme ich
das, was Kollege Kauch gesagt hat, gerne auf.
Ich füge aber hinzu: Deutschland ist unter verschiedenen Bundesregierungen Vorreiter beim Klimaschutz
gewesen. Das hat vor langer Zeit begonnen. Ein Kerndatum ist die Konferenz von Rio, auf der Deutschland mit
Klaus Töpfer hervorragend vertreten war. Auf der dann
folgenden Konferenz von Kioto war es - mit der heutigen Bundeskanzlerin Angela Merkel an der Spitze nicht anders. Diese Tradition muss und wird fortgeführt
werden.
({1})
Es war richtig, schon zu einem Zeitpunkt zu handeln,
als sich die Wissenschaftler noch uneins waren und darüber stritten, ob es überhaupt einen vom Menschen verursachten Klimawandel gibt. Man wollte aber nicht auf
Beweise warten, sondern hat nach dem Vorsorgegrundsatz gehandelt und ist die Probleme angegangen. Das
war richtig. So sollte man auch in Zukunft verfahren.
Andreas Jung ({2})
Heute ist der Klimawandel nicht mehr umstritten. Die
Ersten, die wussten, dass es einen Klimawandel gibt,
waren nicht die wissenschaftlichen Experten, sondern
die Landwirte, die gesagt haben: Auch früher hat es hin
und wieder Naturkatastrophen gegeben; aber in einem
Jahr Hagel, im nächsten Hochwasser und im dritten
Dürre, das alles macht uns sicher, dass es einen Klimawandel gibt. Ich finde, das ist ein besonders gutes Beispiel, um zu zeigen, dass der Klimawandel nichts Abstraktes ist, das weit weg, an irgendwelchen entlegenen
Flecken der Erde, stattfindet, sondern dass er schon bei
uns angekommen ist. Es geht darum, ihn einzudämmen.
Dabei darf es - darauf hat der Kollege Kauch angespielt - keinen Gegensatz zwischen Maßnahmen für die
Umwelt auf der einen Seite und Maßnahmen für die
Wirtschaft auf der anderen Seite geben; denn wenn wir
hier nicht handeln, werden die Kosten für alle, die Landwirtschaft, die Wirtschaft und die Allgemeinheit, noch
viel höher sein.
({3})
Es stellt sich die Frage, was wir 14 Jahre nach Rio
und neun Jahre nach Kioto erreicht haben. Positiv ist,
dass die EU-Kommission in ihrem Bericht vom Dezember letzten Jahres, in dem sie Bilanz zieht, feststellt:
Nach jetzigem Stand kann die Europäische Union das
gesetzte Ziel einer Reduktion der Treibhausgase um
8 Prozent im Vergleich zu 1990 erreichen. Ich betone:
Sie kann. Das heißt aber auch, dass es noch nicht sicher
ist. Es gibt einige Punkte, die uns Sorge bereiten. So sind
die Emissionen innerhalb der EU zwischen 2002 und
2003 entgegen der langfristigen Tendenz gestiegen. Außerdem gibt es ein Ungleichgewicht in der Europäischen
Union. Manche Staaten sind beim Klimaschutz weit vorangeschritten. Andere hinken hinterher. Deutschland
gehört zum Glück zur ersten Gruppe.
Ich möchte in aller Deutlichkeit einen weiteren Punkt
ansprechen, der Sorge bereitet. Das ist der Flugverkehr.
Dort haben wir entgegen der allgemeinen Entwicklung
einen immensen Anstieg der Emissionen zu verzeichnen, obwohl es über Jahre hinweg gelungen ist, die Wirkungskraft des Flugtreibstoffes zu verbessern. Zwischen
1990 und 2003 sind die Emissionen insgesamt um
73 Prozent gestiegen. Wenn sich dieser Trend nicht umgekehrt, dann liegt der Anstieg im Jahr 2012 bei
150 Prozent. Deshalb glaube ich, dass es keine Alternative dazu gibt, dass die EU Anstrengungen unternimmt,
auch den Flugverkehr in das Emissionshandelssystem
einzubeziehen.
({4})
Es ist richtig, dass sich auch die Wirtschaft selbst anstrengt. Und wir wissen: Das ist ein Bereich, der sensibel
ist, weil davon auch die Wettbewerbsfähigkeit deutscher
Unternehmen betroffen ist. Wahr ist, dass Warteschleifen
verhindert werden und dass es technische Innovationen
gibt. Aber gerade dieser Bereich, von dem Wissenschaftler sagen, die Klimaauswirkungen seien dort bei weitem
höher als bei Emissionen am Boden, muss einbezogen
werden.
Damit bin ich bei der Frage, was geschehen muss.
Der Flugverkehr ist ein gutes Beispiel dafür, dass international gehandelt werden muss. In der Koalitionsvereinbarung wurde erklärt, dass wir uns dafür stark machen wollen, jetzt Kioto plus in die Wege zu leiten. Das
betrifft die Frage, was nach Kioto und dem Jahr 2012
kommt. Unsere Auffassung ist, dass niemand aus der
Verantwortung entlassen werden kann, auch nicht die
Schwellenländer, die Fortschritte machen. Ich bin der
Überzeugung, dass in dem Maße, in dem Fortschritte erreicht werden, auch die Verantwortung für die Ökologie
wachsen muss.
Das gilt aber auch für die USA. Wenn man die Äußerungen der letzten Zeit aus den USA betrachtet, dann
stellt man fest, dass es durchaus Anlass zur Hoffnung
gibt. Zum ersten Mal hat Präsident Bush den Zusammenhang zwischen Treibhausgasemissionen und Klimawandel bestätigt. Zum ersten Mal hat er gesagt, dass sich
auch die USA Klimaschutzziele setzen müssten. Wir
sollten daran arbeiten, dass die USA mit an Bord kommen, mit welchen Mitteln und Instrumenten auch immer.
Auch in der EU ist sicherlich noch viel zu tun. Die
nächste Aufgabe liegt im Bereich der Reform des Emissionshandels. Hier stellt sich die Frage, was wir besser
machen können. Es muss insbesondere gelingen, internationale Klimaschutzprojekte zu erleichtern. Es geht
dabei um Projekte in anderen Industrieländern und Entwicklungsländern, die es ermöglichen sollen, eigene Reduktionsziele zu erreichen. Ich denke, das muss auf jeden Fall kommen. Das ist wieder ein Beispiel dafür, dass
Ökonomie und Ökologie Hand in Hand gehen. Wir tun
etwas für den Klimaschutz und wir verbessern die
Marktchancen für deutsche Unternehmen.
({5})
Damit bin ich bei dem, was wir uns im nationalen
Rahmen vorgenommen haben. Ich glaube, es ist ein ambitioniertes nationales Klimaschutzprogramm, das etwas für den Umweltschutz tut, aber auch etwas für den
Mittelstand und für Handwerksunternehmen erreicht.
Ein Paradebeispiel dafür ist aus meiner Sicht das Gebäudesanierungsprogramm, das wir auflegen werden.
({6})
Die Koalition wird auf das, was die Vorgängerregierung
gemacht hat, noch einmal draufsatteln. Die FDP fordert
in ihrem Antrag, die Zielrichtung müsse immer sein: So
viel Klimaschutz wie möglich für 1 Euro. - Genau das
gelingt hier. Das Programm hat ein Volumen von über
4 Milliarden Euro. Es kommen Steuererleichterungen,
Darlehensförderung usw. hinzu. Insgesamt beträgt das
Volumen weit über 10 Milliarden Euro. Dadurch werden
private Investitionen in noch größerem Umfang angestoßen. Das ist ein ganz hervorragendes Beispiel dafür, wie
man mit möglichst geringen finanziellen Mitteln möglichst viel erreichen kann.
({7})
Das zweite Beispiel, das ich abschließend nennen
will, ist das, was wir jetzt im Rahmen des Nationalen
Andreas Jung ({8})
Allokationsplans II anstreben. Wir sagen, dass der
Emissionshandel effizienter werden muss. Wir gehen der
Frage nach, wie das marktwirtschaftliche Instrument
Emissionshandel mit der Ökologie versöhnt werden
kann.
Insgesamt verfolgt die große Koalition eine Doppelstrategie: auf der einen Seite mehr Effizienz bei Energie
und Ressourcen, auf der anderen Seite Ausbau von regenerativen Energien und nachwachsenden Rohstoffen.
Mit allem gemeinsam, international, in Europa und in
Deutschland, wird es uns gelingen, weiterhin einen wesentlichen Beitrag zur Klimaschutzpolitik zu leisten.
Wenn ich Ihren Antrag im Detail durchgehe, dann stelle
ich fest, dass wir bei vielen Dingen nicht weit auseinander sind. Es ist auch gut, wenn die Parteien im Deutschen Bundestag bei dem wichtigen Thema Klimaschutz
eng zusammenarbeiten.
Herzlichen Dank.
({9})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Eva Bulling-Schröter
von der Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Darüber, dass wir mehr Klimaschutz wollen, sind wir
uns sicherlich alle einig. Strittig bleiben aber die Instrumente. Wir denken, dass der FDP in ihrem Antrag das
elegante Modell wichtiger ist als dessen Wirksamkeit in
der Realität.
In einigen Punkten könnten wir das Anliegen unterstützen: im Bestreben, den Luftverkehr in den Emissionshandel einzubeziehen oder die Energieverluste im
Wärmebereich, insbesondere bei Gebäuden, deutlich zu
verringern. Der überwiegende Rest Ihres Antrags, Herr
Kauch, folgt jedoch im Kern einem unerschütterlichen
Glauben an die Allmacht marktwirtschaftlicher Instrumente im Klimaschutz,
({0})
ein Glaube, in dem die Komplexität der Wirklichkeit wenig Platz findet. Schön formuliert, oder?
({1})
Sie wollen aus jedem eingesetzten Euro so viel Klimaschutz wie möglich erwirtschaften. Das wollen auch
wir. Allerdings leben wir nicht im luftleeren Raum und
darum haben die flexiblen Instrumente des Kiotoprotokolls, mit denen der Klimaschutz preiswerter gemacht
werden soll, neben unbestreitbaren Vorzügen auch Grenzen und Nachteile.
Nehmen wir die Nutzung von Waldsenken im europäischen Emissionshandel, die Sie fordern: Die wissenschaftliche Diskussion um solche Senken zeigt, dass niemand mit Sicherheit sagen kann, wie viel Kohlendioxid
welche Art Wald auf Dauer bindet. Darum ist es sehr
schwer, zu sagen, für 1 Hektar Nettozuwachs gebe es soundso viele geldwerte Emissionszertifikate. Diese Diskussion dauert an und es wird sich sehr gestritten.
Die Prüfung der Waldkataster, womöglich nach Bewirtschaftungsarten, würde zudem bald mehr Papier produzieren, als im Waldprojekt an Zellstoff nachwächst.
Ich denke, für den Schutz unserer europäischen Wälder
haben wir andere, weniger bürokratische Instrumente.
({2})
Oder nehmen wir CDM. Er soll Klimaschutzinvestitionen in den Entwicklungsländern befördern. Allerdings hat er laut Kioto noch eine zweite Aufgabe: Die
Investitionen sollen der nachhaltigen Entwicklung dienen. Da haben wir Sorgen: Gemessen am Emissionsvolumen bezieht sich der überwiegende Teil der registrierten oder in Prüfung befindlichen CDM-Projekte auf
Vorhaben, die mit HFC-23 ein unerwünschtes Nebenprodukt bei der Kältemittelproduktion zerstören oder Lachgas auffangen. Beides sind Gase mit hohem Wärmetrieb.
So ist HFC-23 beispielsweise rund 11 700-mal klimaschädlicher als Kohlendioxid.
Genau daraus ergibt sich jedoch im CDM eine verrückte Situation: HFC-23 kann mit sehr geringem Aufwand verbrannt und damit unschädlich gemacht werden.
Aufgrund der hohen Klimaschädlichkeit generieren aber
nur wenige Hundert Tonnen von verbranntem HFC-23 in
Indien oder Korea CDM-Zertifikate über etliche Millionen Tonnen CO2-Äquivalent. So wird die Zerstörung des
Gases, die auch schlicht per Gesetz geregelt werden
könnte, zur grotesken Gelddruckmaschine.
Es wäre unter CDM sogar hoch profitabel, allein wegen dieser Unmengen an Zertifikaten Kühlmittel auf
Halde zu produzieren, nur um den dabei anfallenden Klimakiller zu vernichten. Fachleute sprechen gar von Anreizen, ohne Markt ganze Fabriken aus dem Boden zu
stampfen. Dabei ist das Kältemittel selbst auch nicht
ohne: Es greift nämlich die Ozonschicht an.
Diese Verzerrungen, so meine ich, dürften auch nicht
im Sinne der FDP sein. Vor allem aber werden Investitionsströme gebunden, die für tatsächlich nachhaltige
Projekte wie erneuerbare Energien fehlen werden.
Ich spreche das alles an, weil wir als Linke möchten,
dass die flexiblen Instrumente erst einmal sorgfältigst erprobt und justiert werden; denn es macht keinen Sinn,
sie schon kurz nach ihrem Start inflationär auszuweiten.
Das aber wünscht die FDP. Darum können wir ihrem
Antrag nicht zustimmen.
({3})
Das Wort hat jetzt der Kollege Frank Schwabe von
der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Der Klimaschutz ist eine der zentralen Aufgaben des
21. Jahrhunderts - nicht nur der Umweltpolitik, sondern
der Zukunftspolitik schlechthin, für unser Land und
weltweit. Wenn wir die Trendwende beim Ausstoß klimarelevanter Gase, nicht nur, aber vor allem des Kohlendioxids, nicht schaffen - bei allen Fortschritten ist
diese Trendwende noch lange nicht erreicht -, drohen
uns Temperaturanstiege bis zu 6 Grad Celsius und ein
Anstieg des Meeresspiegels um bis zu 90 Zentimeter in
den nächsten 100 Jahren. Das ist weit von dem entfernt,
an das sich die Menschen und die Natur ohne dramatische Auswirkungen noch anpassen könnten.
Das Bewusstsein dafür wächst. Leider sind dazu oft
dramatische Ereignisse nötig. Das ganze Jahr 2005 über
haben uns extreme Wetterereignisse in Bann gehalten
und uns immer wieder ins Bewusstsein gerufen, was für
die überwältigende Mehrheit der Forscher schon seit langem feststeht: Das Klima ändert sich und der globale
Klimawandel ist zu großen Teilen menschengemacht.
Die dramatischen Auswirkungen können an vielen Beispielen veranschaulicht werden. In der Kürze der zur
Verfügung stehenden Zeit will ich nur eine Zahl nennen:
Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung rechnet
ohne klimapolitisches Handeln im Jahr 2100 mit globalen Klimaschäden von bis zu 20 Billionen US-Dollar.
Die Temperatur ist bereits gestiegen. 2005 war das
wärmste Jahr seit Beginn der offiziellen Temperaturmessung 1861. Ein weiterer Anstieg ist unvermeidbar. Das
Ziel ist klar: Die globale Temperatur darf gegenüber dem
vorindustriellen Niveau um nicht mehr als 2 Grad Celsius steigen. Um das zu erreichen, muss sich die internationale Staatengemeinschaft ambitionierte Ziele setzen.
Die Aufgabe Deutschlands besteht darin, sich im Rahmen der Staatengemeinschaft für solche weit gehenden
Ziele einzusetzen und selbst weiterhin Vorreiter zu sein;
ich fand gut, dass der Kollege Jung darauf besonders
hingewiesen hat und auch den Begriff benutzt hat.
({0})
Das erhöht unsere Glaubwürdigkeit. Das spornt andere
Länder an. Wenn man notwendige Anpassungsprozesse
berücksichtigt, ist das - das hat sich in der Vergangenheit schon gezeigt - auch zum wirtschaftlichen Vorteil
unseres Landes und unserer Unternehmen.
Das Europäische Parlament hat sich im November
2005 für eine EU-weite Reduktion der CO2-Emissionen um 30 Prozent ausgesprochen. Das ist das, was
CDU/CSU und SPD in ihrem Koalitionsvertrag, was wir
in unserem Koalitionsvertrag gefordert haben. Wir müssen jetzt dafür sorgen, dass die Reduktion um 30 Prozent
zum verpflichtenden Ziel der EU wird, und für Deutschland eine ebenfalls bereits im Koalitionsvertrag angekündigte darüber hinausgehende Reduktion vereinbaren.
({1})
Dabei sollte die von der Enquete-Kommission „Energie“
in der letzten Legislaturperiode geforderte Reduzierung
um 40 Prozent bis 2020 und um 80 Prozent bis 2050
Richtschnur sein.
Mit der Übernahme eines Anteils von 21 Prozent an
den europäischen Verpflichtungen im Rahmen des Kiotoprotokolls hat Deutschland eine Vorreiterrolle übernommen. Bis 2003 konnte ein Rückgang um 18,5 Prozent erreicht werden. Das scheint viel zu sein, aber
- auch darauf wurde schon hingewiesen - Selbstgefälligkeit und Genügsamkeit sind unangebracht.
Seit dem Jahr 2000 ist der Trend sinkender Treibhausgasemissionen faktisch zum Stillstand gekommen. In
vielen Ländern, leider auch in Ländern der EU, sind die
Emissionen im letzten Jahr sogar gestiegen. Es ist daher
jetzt notwendig, neue Impulse zu setzen - in Deutschland und durch Deutschland. Die Zeit bis 2020 wird dabei entscheidend sein. Vom Klimagipfel in Montreal
ging vor allem das wichtige Signal aus, dass der Kiotoprozess nach 2012 lückenlos fortgesetzt wird und die
Möglichkeit bleibt, die US-Amerikaner beim internationalen Klimaschutz an Bord zu holen.
Was ich jetzt sage, soll an der Stelle nicht zur Regel
werden, aber mir scheint schon geboten zu sein, noch
einmal einen besonderen Dank an das Bundesumweltministerium und besonders an Minister Gabriel zu richten.
Die Rolle Deutschlands in Montreal - so habe ich das
jedenfalls wahrgenommen - wurde international und national, auch parteiübergreifend im Umweltausschuss, als
gelungen angesehen.
({2})
Das freut mich natürlich besonders - so viel Werbung
für die Sache meiner eigenen Partei muss erlaubt sein -,
weil die Umweltpolitik schon immer eine Herzensangelegenheit der Sozialdemokratie war - das wird auch klar,
wenn wir an den Staatssekretär hier denken - und jetzt
die Chance besteht, das auch deutlich zu machen.
({3})
International ist jetzt insbesondere notwendig, die
USA mit den Pazifikstaaten sowie die großen Schwellenländer wie Brasilien, Indien und China stärker in den
Kiotoprozess einzubinden. Dabei gilt für Deutschland
und die anderen großen „Kiotoländer“: Wenn wir wollen, dass die anderen folgen, müssen wir weiterhin mit
gutem Beispiel vorangehen.
Von zentraler Bedeutung für den Klimaschutz, aber
nicht nur für den Klimaschutz ist die zukünftige Energiepolitik. Dazu gibt es in diesem Jahr maßgebliche Veranstaltungen, bei denen der Klimaschutz eine zentrale
Rolle spielen muss. Ich sage das hier mit einigem Bedacht.
Wir brauchen eine Energieversorgung, die klimaschonend, aber auch sicher und bezahlbar ist. Dazu gehören
erneuerbare Energien, Energieimporte und auch eine effiziente Nutzung der heimischen Kohle. Die geplante Erneuerung des Kraftwerksparks ist sowohl wirtschaftlich
als auch klimapolitisch sinnvoll.
({4})
Schon deshalb - da muss ich dem Koalitionspartner jetzt
vielleicht etwas Wasser in den Wein gießen - macht der
vereinbarte Fahrplan für den Ausstieg aus der Atomenergie Sinn,
({5})
erst recht im weltweiten Maßstab, weil angesichts des
minimalen Anteils der Atomenergie klar ist, dass die
Atomenergie jedenfalls die weltweite Klimaproblematik
nicht einmal im Ansatz lösen kann.
Verehrte Damen und Herren, bei der Nutzung erneuerbarer Energien ist Deutschland weltweit führend. Das
muss in Zukunft auch für den Bereich Energiesparen und
Energieeffizienz gelten. Ernst Ulrich von Weizsäcker hat
unter dem Titel „Faktor vier“ schon vor einigen Jahren
den Weg dazu gewiesen.
Auch für die Wettbewerbsfähigkeit einer Volkswirtschaft werden die Energieeffizienz und die Nutzung von
Energieeinsparpotenzialen zukünftig mitentscheidend
sein. Es ist gut, dass es mittlerweile das sehr ambitionierte CO2-Gebäudesanierungsprogramm gibt, das von
Herrn Jung gerade angesprochen wurde. Weitere Schritte
müssen allerdings folgen.
({6})
Für einen langfristig wirksamen Klimaschutz sind gerade im Bereich Energieeffizienz jedoch mehr Anstrengungen erforderlich. Auch auf europäischer Ebene muss
Deutschland zeigen, dass es sich in Fragen der Energieeffizienz ebenfalls als Motor versteht und sich zum Beispiel für ein europäisches Top-Runner-Programm nach
japanischem Vorbild - Herr Kelber und ich haben gerade
noch einmal darüber geredet - einsetzt, um Innovationsschübe für die heimische Wirtschaft zu erzielen.
({7})
Was steht 2006 sonst noch an? Erstens. Die Bundesregierung muss das Nationale Klimaschutzprogramm
2006 in der zweiten Jahreshälfte verabschieden, das insbesondere die Bereiche Bauen und Verkehr, welche Sorgenkinder sind, was gerade schon erwähnt worden ist,
effektiver regeln soll.
Zweitens. Ein zentraler Punkt - der zentrale Punkt dieses Jahres wird der Emissionshandel sein. Auch das
ist schon angesprochen worden. Dazu wird genügend
Gelegenheit zur Debatte bestehen. Deshalb nur kurz: Es
wird darum gehen müssen, sowohl den Straßenverkehr
wie auch die Luft- und Schifffahrt einzubeziehen. Vor allem wird es darum gehen, die Lehren aus Unzulänglichkeiten beim NAP 1 zu ziehen und die schon viel diskutierten Windfall-Profits zu vermeiden.
Drittens. Ein weiterer Schwerpunkt ist die Entwicklung und Nutzung erneuerbarer Energien. Die große Koalition will den Anteil der erneuerbaren Energien an
der Stromerzeugung bis 2020 auf 20 Prozent - auch das
steht in der Koalitionsvereinbarung - erhöhen und hier
also für Kontinuität sorgen. Das Erneuerbare-EnergienGesetz bleibt.
Verehrte Damen und Herren, ein kleines Fazit: Der
Klimaschutz ist bei der neuen Koalition gut aufgehoben.
Ich denke, das ist deutlich geworden, und hoffe, das wird
auch in der konkreten Umsetzung deutlich werden. Wir
sorgen dafür, dass Deutschland weltweit führend bleibt
und sich neue ambitionierte Ziele setzt.
In diesem Sinne können wir dem doch eher defensiven Antrag der FDP - wenn der Titel auch etwas anderes
vermuten lassen soll -, der einseitig rein marktwirtschaftlich orientiert ist und einer Vorbildrolle Deutschlands leider nicht entspricht, nicht zustimmen.
({8})
Das muss uns aber alle nicht über die Maße betrüben,
weil wir alle gemeinsam einen deutlich ambitionierteren
Antrag der Koalition in den nächsten Wochen verabschieden können.
Vielen Dank.
({9})
Herr Kollege Schwabe, ich gratuliere Ihnen im Namen des Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag.
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Reinhard Loske
von Bündnis 90/Die Grünen.
({1})
Herr Präsident! Herr Kollege Schwabe, es war in der
Tat eine gute Rede. Aber was will man von einem
BUND- und Schalke-04-Mitglied auch anderes erwarten?
({0})
In dem FDP-Antrag steht viel Richtiges, Herr Kauch,
auch wenn die Aussage etwas übertrieben ist, dass die
FDP damit die klimapolitische Debatte eröffnen will.
({1})
Da kann ich nur fragen: Wo waren Sie in all den Jahren
zuvor? Ganz so ist es nicht.
({2})
Aber sei’s drum.
Auf die Aussage des Kollegen Jung, dass im Jahre
1992 der geschätzte Kollege Klaus Töpfer und im Jahre
1997 in Kioto die Kollegin Angela Merkel die Dinge vorangebracht haben
({3})
und dass man daran jetzt wieder anknüpfen könne, muss
ich erwidern, dass in der Zwischenzeit ein paar Dinge
geschehen sind. Ich nenne beispielsweise: Emissionshandel, Ökosteuer, Erneuerbare-Energien-Gesetz und
die ökologische Förderung von Bioenergien.
({4})
Aber lassen wir das mal. Es war immer gut, dass in diesem Hause weitgehendes Einvernehmen über die Ziele
in Sachen Klimapolitik bestand. An diese Tradition können wir anknüpfen. Das ist gut so.
Ich möchte jetzt einige Punkte herausarbeiten, an denen man sieht, dass in der Sache Unterschiede bestehen.
Erster Punkt. Sosehr es richtig ist, die ökonomische
Dimension des Klimaschutzes wie in Ihrem Antrag zu
betonen - also zu sagen, dass aus einem Euro so viel Klimaschutz wie möglich herausgeholt werden soll -, so
sehr atmet dieser Antrag doch einen bestimmten Geist.
Denn in diesem Antrag wird Klimaschutz nur als Bürde
und als Kostenfaktor und eben nicht als Chance und Zukunftspotenzial gesehen. Das unterscheidet uns fundamental.
Zweiter Punkt. Sie betonen, dass bereits jetzt die so
genannte CCS-Technologie - das heißt die Kohleabscheidung und -speicherung - in das System des europäischen Emissionshandels einbezogen werden soll. Das
halten wir für vollkommen falsch. Zum einen ist das eine
klassische End-of-pipe-Technologie, also eine nachgeschaltete und keine integrierte Technologie, wie sie bei
der Energieeinsparung und bei den erneuerbaren Energien zu finden ist, und zum anderen gibt es in diesem
Bereich noch so viele offene Fragen, dass es wirklich
falsch und verfrüht wäre, diese Technologie schon jetzt
in den europäischen Emissionshandel einzubeziehen.
Das können wir nicht tun.
({5})
Dritter Punkt. Ich bin durchaus der Meinung, dass
man erwägen sollte, den Flugverkehr in das europäische System des Emissionshandels einzubeziehen. Dennoch bleibt die krasse Wettbewerbsverzerrung, die wir
heute zwischen dem Luftverkehr auf der einen Seite und
dem schienengebundenen Verkehr und dem Straßenverkehr auf der anderen Seite haben. Im Schienenverkehr
müssen Energiesteuern und Mehrwertsteuer auf Tickets
gezahlt werden, während im Luftverkehr weder Kerosinsteuer noch Mehrwertsteuer auf Tickets im innereuropäischen Verkehr gezahlt werden müssen. Diese krasse
Wettbewerbsverzerrung zwischen den Verkehrsträgern
müssen wir abbauen. Sie bleibt auf der Tagesordnung.
Man kann nicht alles unter Emissionshandel abbuchen.
Nein, wir müssen beim Luftverkehr auch das Steuerinstrumentarium nutzen.
({6})
Vierter Punkt. Auch die Einbeziehung der Senken
sehen wir sehr problematisch. Wir halten sie zu diesem
Zeitpunkt für falsch. Es gibt tausenderlei gute Gründe,
warum man die Aufforstung fördern sollte: angefangen
bei der biologischen Vielfalt über das Kleinklima bis hin
zu globalen klimatischen Fragen. Aber es wäre falsch,
dieses jetzt als Ausweichstrategie in den Emissionshandel einzubeziehen. Da müssen erst noch methodische
Fragen geklärt werden. Deswegen sind wir der Meinung,
dass wir dies nicht tun sollten.
Vor allem monieren wir - da sind Sie sich mit der großen Koalition einig -, dass Sie kein nationales Klimaschutzziel für 2020 formulieren. Wir sind der Meinung,
dass sich Deutschland das Ziel setzen muss, bis zum Jahr
2020 den Ausstoß von CO2 und allen klimaverändernden
Gasen um 40 Prozent zu reduzieren. Auch das fehlt in
Ihrem Antrag. Das ist schlecht.
Fünfter und letzter Punkt. Herr Kollege, Sie werden
sicherlich verstehen, dass mir diese Harmoniesoße in der
großen Koalition - wir sind alle dafür; alles ist wunderbar und alles wird gut - nicht gefällt. Schauen wir mal!
Wir werden in der nächsten Zeit Gelegenheit haben, über
den Nationalen Allokationsplan zu reden. Dann wird
man sehen, ob den großen Worten auch tatsächlich Taten
folgen. Sie haben Gelegenheit, über das Kraft-WärmeKopplungsgesetz und, so es denn kommt, über das Gesetz hinsichtlich der regenerativen Wärme sowie über
die steuerliche Behandlung von biogenen Kraftstoffen
und über das so genannte Top-Runner-Programm, das
Sie erwähnt haben, zu reden. Ich habe ein wenig die
Sorge, dass in Ihrer Vorstellung in Sachen Klimaschutz
alles in Ordnung ist. Aber ich habe zugegebenermaßen
Zweifel, ob das in der Realität der Fall ist. Wir werden
das ausdiskutieren, wenn die Vorschläge auf dem Tisch
liegen.
Danke schön.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/242 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung von Vorschriften des
Sozialen Entschädigungsrechts und des Gesetzes über einen Ausgleich von Dienstbeschädigungen im Beitrittsgebiet
- Drucksache 16/444 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär
Franz Thönnes.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Es
ist gut, dass wir heute im Deutschen Bundestag über den
Entwurf eines Gesetzes zur Änderung von Vorschriften
des Sozialen Entschädigungsrechts und des Gesetzes
über einen Ausgleich von Dienstbeschädigungen im Beitrittsgebiet, also in der ehemaligen DDR, debattieren.
Mit diesem Gesetz werden die notwendigen Konsequenzen aus höchstrichterlicher Rechtsprechung gezogen.
Mit der Änderung des § 84 a des Bundesversorgungsgesetzes wird eine Grundsatzentscheidung des Bundessozialgerichtes vom Juli 2005 umgesetzt. Danach ist
vorgesehen, dass neben der Beschädigtengrundrente und
der Schwerstbeschädigtenzulage für Kriegsbeschädigte
und SED-Opfer in den neuen Ländern rückwirkend zum
1. Januar 1999 auch die Alterszulage zur Beschädigtengrundrente in voller Höhe gewährt wird. Dies
kommt gut 32 000 Betroffenen hauptsächlich in den
neuen Ländern zugute. Sie erhalten von diesem Stichtag
an, frühestens jedoch vom Zeitpunkt der Vollendung des
65. Lebensjahres an die jeweilige Differenz nachgezahlt.
Um diese Auszahlungen im Interesse der Betroffenen
- insbesondere auch aufgrund des relativ hohen Alters möglichst bald vornehmen zu können, werden alle Fälle
auch ohne förmliche Antragstellung aufgegriffen und
überprüft. Dazu konnte inzwischen eine entsprechende
Verabredung mit den Ländern im Einvernehmen erzielt
werden. Um die gesetzliche Grundlage dafür zeitnah zu
schaffen, sollte der Gesetzentwurf so rasch wie möglich
vom Deutschen Bundestag verabschiedet werden.
Auch der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts
hat im November 2004 eine wichtige Entscheidung getroffen. Das Gesetz nimmt darauf gleichzeitig Bezug. Aus
dieser Entscheidung, die allerdings erst im März 2005
veröffentlicht wurde, ergibt sich ebenfalls die Notwendigkeit, zügig zu handeln. So soll bis zum 31. März dieses Jahres im Opferentschädigungsgesetz eine Versorgungsleistung auch für den Partner einer nicht
ehelichen Lebensgemeinschaft geschaffen werden, der
nach dem gewaltsamen Tod des anderen Lebenspartners
die Betreuung der gemeinsamen Kinder unter Verzicht
auf eine Erwerbstätigkeit ausübt bzw. übernimmt. Zumindest in den ersten drei Lebensjahren eines Kindes, in
denen der nicht eheliche Partner auch Kinderbetreuungsunterhaltsansprüche nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch
geltend machen kann, ist der unverheiratete Elternteil
beim Tod des Partners genauso auf staatliche Unterstützung angewiesen wie der verheiratete. Die vorgesehene
Änderung des Opferentschädigungsgesetzes berücksichtigt dies und orientiert sich deshalb entsprechend der
Begründung des Bundesverfassungsgerichts an den tatsächlichen und zeitlichen Voraussetzungen, die im Bürgerlichen Gesetzbuch für den nicht ehelichen Betreuungsunterhalt vorgesehen sind. Vergleichbare
Fallkonstellationen sind auch beim Soldatenversorgungsgesetz, beim Zivildienstgesetz sowie eventuell
auch im Bereich des Infektionsschutzgesetzes denkbar.
Deshalb werden auch diese Gesetze entsprechend ergänzt.
Ein weiterer Bereich, in dem die Rechtsprechung
Neuregelungen erforderlich macht, ist der Ausgleich für
Dienstbeschädigungen im Beitrittsgebiet. Dieser Ausgleich fiel bisher weg, wenn die geschädigten Staatsbediensteten der ehemaligen DDR Altersrente erhielten.
Das Bundesverfassungsgericht hat im November 2001
entschieden, dass dies gegen die Verfassung verstößt.
Wir müssen daher nun Korrekturen vornehmen. Die Betroffenen werden jetzt in das Dienstbeschädigungsausgleichsgesetz mit einbezogen. Sie erhalten künftig neben
der Altersrente den Dienstbeschädigungsausgleich. Ein
weiteres Zuwarten ist auch hier mehr als vier Jahre nach
der Entscheidung des Gerichtes nicht mehr vertretbar.
Eine andere Änderung, auf die ich hinweisen will, bezieht sich auf die Höhe des Dienstbeschädigungsausgleichs. In diesem Fall geht das Bundessozialgericht, zuletzt mit Urteil vom Juli 2005, davon aus, dass diese sich
nach der Höhe der ungeminderten Grundrente des Bundesversorgungsgesetzes richtet. Dies war vom Gesetzgeber und damit vom Bundestag nie beabsichtigt. Es entsprach auch nicht der langjährigen Verwaltungspraxis
und den Entscheidungen der Instanzgerichte.
Im Übrigen hat der Deutsche Bundestag bereits im
Jahre 2004 im Rentenrecht eine vergleichbare Entscheidung beim Zusammentreffen von gesetzlicher und von
Unfallrente getroffen und damit genauso klargestellt,
dass die Maßgaben des Einigungsvertrages nach wie vor
gelten. Die Höhe des Dienstbeschädigungsausgleichs
richtet sich auch künftig nach der geminderten Grundrente für das Beitrittsgebiet. Andernfalls würden nicht
gewollte finanzielle Nachteile in der gesetzlichen Rentenversicherung ausgelöst und neue Ungleichheiten entstehen. Die im Gesetzentwurf vorgesehenen Änderungen
sind nach unserer Auffassung insgesamt erforderlich und
angemessen. Es wäre zu begrüßen, wenn eine zeitnahe
Behandlung und Verabschiedung des Gesetzes - insbesondere wegen des knappen Zeitrahmens für die Änderung des Opferentschädigungsgesetzes - hier im Hause
erfolgen könnte.
Schönen Dank für die Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Heinz-Peter Haustein
von der FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Der Gesetzentwurf zur Änderung von Vorschriften des Sozialen Entschädigungsrechts und des Gesetzes über einen Ausgleich von Dienstbeschädigungen
im Beitrittsgebiet soll zwei verfassungsgerichtliche Beschlüsse und ein Urteil des Bundessozialgerichts umsetzen.
Zwei der drei Regelungskomplexe betreffen die
Frage, ob Entschädigungsleistungen in den neuen Ländern vergleichbar denen in den alten Bundesländern ausgestaltet werden müssen. In diesem Zusammenhang sind
meines Erachtens einige Anmerkungen zu dem betreffenden Urteil des Bundessozialgerichts und dem Gesetzentwurf zu machen.
Das Bundesverfassungsgericht hat hinsichtlich der
Änderung des Bundesversorgungs- und Opferentschädigungsgesetzes einen Beschluss bis zum 31. März dieses
Jahres angemahnt. Danach soll nun auch der Partner in
einer nicht ehelichen Lebensgemeinschaft nach dem
gewaltsamen Tod des anderen Lebenspartners eine Versorgungsleistung erhalten, wenn er unter Verzicht auf
eine eigene Erwerbstätigkeit die Betreuung der gemeinsamen Kinder übernimmt. Das ist konsequent, da der
nicht eheliche Lebenspartner für diesen Zeitraum
Kinderbetreuungsunterhaltsansprüche nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch geltend machen kann und insoweit
bereits dem Ehepartner gleichgestellt ist.
({0})
Der zweite Regelungskomplex ist schon etwas schwieriger zu beurteilen; im Endeffekt ist dem Gesetzentwurf
aber auch diesbezüglich zuzustimmen. Er betrifft die
Änderung des § 84 a Satz 3 Bundesversorgungsgesetz
und sieht gemäß einem Urteil des Bundessozialgerichts
vom Juli 2005 vor, dass die Alterszulage zur Beschädigtengrundrente für Kriegsbeschädigte und SED-Opfer mit Wirkung zum 1. Januar 1999 in den neuen Ländern in voller Höhe, das heißt auf Westniveau, gewährt
werden soll.
Hierbei handelt es sich um einen durch Rechtsprechung besonders geprägten Bereich. Nachdem die Beschädigtengrundrente und die Schwerstbehindertenzulage aufgrund eines Verfassungsgerichtsurteils bereits
seit dem 1. Januar 1999 in den neuen Ländern in voller
Höhe gewährt werden, soll nun auch für die Alterszulage
eine Angleichung an das Westniveau erfolgen. Allerdings erscheint mir die Ansicht des Bundessozialgerichts
an dieser Stelle nicht unbedingt überzeugend: Das Gericht konstatiert für die Alterszulage vor allem eine „immaterielle Genugtuungsfunktion“ und nicht vorrangig
die Funktion der Deckung des Mehrbedarfs im Alter.
Tatsächlich aber sollten auch in Fragen des Entschädigungsrechts zwischen Ost und West keine Unterschiede
mehr gemacht werden.
({1})
Der dritte Regelungsbereich, um den es hier geht, betrifft das besonders rechtsprechungsfreudige Anspruchsund Anwartschaftsüberführungsgesetz. Hierbei wird
allerdings - wie ich es sehe - noch zu klären sein, ob die
Entscheidungsspielräume des Gesetzgebers in richtiger
Weise ausgenutzt wurden. Es geht um die Dienstbeschädigungsausgleichsregelungen für ehemalige Staatsbeamte der DDR. Nach dem Gesetzentwurf sollen dienstbeschädigte ehemalige Staatsbedienstete umfassend seit
1991 einen Dienstbeschädigungsausgleich erhalten, der
ihnen bisher nicht gezahlt wurde, wenn sie Renten wegen Alters- oder Erwerbsunfähigkeit erhielten. Allerdings bezieht sich der Gesetzentwurf nur auf noch nicht
bestandskräftige Fälle, was die Zahl der Betroffenen extrem reduziert. Dabei sind zwei Gruppen zu unterscheiden: Eine erste, die laut Bundesratserläuterung etwa
100 Personen umfasst, erhielt bereits seit 1997 den
Dienstbeschädigungsausgleich. Dabei handelt es sich
um ehemalige Feuerwehrleute, Zöllner, Volkspolizisten,
Strafvollzugsbeamte und Soldaten der Nationalen Volksarmee. Diese Gruppe soll den Ausgleich nun auch noch
rückwirkend seit 1991 erhalten. Eine zweite Gruppe, die
sich laut Bundesratserläuterung aus etwa 500 dienstgeschädigten Angehörigen der ehemaligen Staatssicherheit
zusammensetzt, hat bisher noch überhaupt keinen
Dienstbeschädigungsausgleich erhalten.
Leider geht der Gesetzentwurf nicht auf eine Anregung des Bundesverfassungsgerichts ein, das in seinem Urteil ausdrücklich darauf hinweist, dass der Gesetzgeber bei den Dienstbeschädigungsteilrenten eine
Kürzung oder Aberkennung hätte vornehmen können,
wenn der Beschädigte gegen die Grundsätze der
Menschlichkeit und der Rechtsstaatlichkeit verstoßen
hat oder auch in schwerwiegendem Maße seine Stellung
zum eigenen Vorteil bzw. zum Nachteil anderer missbraucht hat.
Ich bin der Meinung, dass nun bei der neuen Gesetzgebung zum Dienstbeschädigungsausgleich die Aufnahme einer solchen Regelung ernsthaft geprüft werden
sollte.
({2})
Dies ist eine Frage der Gerechtigkeit.
Ich schließe mit einem herzlichen Glückauf aus dem
Erzgebirge.
({3})
Herr Kollege Haustein, auch Ihnen gratuliere ich im
Namen des ganzen Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag. Herzlichen Glückwunsch!
({0})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Maria Michalk von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir müssen, auch wenn uns das im Einzelnen wohl
immer wieder schwer fällt, zur Kenntnis nehmen, dass es
in diesem Leben keine Einzelfallgerechtigkeit gibt. Dennoch ist es die Pflicht des Gesetzgebers, sich das Gerechtigkeitsprinzip bei jeder Entscheidung vor Augen zu
halten. Unsere unabhängigen Gerichte wachen darüber.
So liegt es in der Natur der Sache, dass wir als Gesetzgeber in konkreten Sachverhalten immer wieder Korrekturen oder Nachbesserungen vornehmen müssen.
Mit solchen Nachbesserungen haben wir es auch bei
dem vorliegenden Gesetzentwurf zur Änderung der
Vorschriften des Sozialen Entschädigungsrechts und
über einen Ausgleich von Dienstbeschädigungen im Beitrittsgebiet zu tun. Es handelt sich faktisch um vier Einzelgesetze, die einen Bezug zum Bundesversorgungsgesetz haben. Da es sich vielleicht um etwas verwirrende
Zusammenhänge handelt, wenn immer wieder auf das
eine oder andere Bezug genommen wird - das gebe ich
zu -, will ich noch einmal zum allgemeinen Verständnis
feststellen, dass unser Bundesversorgungsgesetz von seiner Struktur her ein Gesetz ist, auf das viele andere Gesetze verweisen. Es ist quasi die Basis.
({0})
Um Gerechtigkeitslücken zu schließen, haben wir
also die Frage zu beantworten, ob die Einzelregelung
verändert wird oder die Bezugsbasis. Um in der Gesetzessystematik zu bleiben, entschlossen wir uns für das
Erstgenannte. Das aber wirft durchaus neue Fragen auf;
da bin ich mir mit meinem Vorredner, dem auch ich zu
seiner ersten Rede herzlich gratuliere, einig. Darauf
komme ich noch zurück.
Zunächst aber geht es darum, eine Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts vom 9. November 2004 umzusetzen. Das Opferentschädigungsgesetz, das auf die
Anwendung des Bundesversorgungsgesetzes verweist,
gewährt bislang einem hinterbliebenen Partner einer
nicht ehelichen Lebensgemeinschaft keine Versorgungsleistung, die so genannte Hinterbliebenenrente, auch
dann nicht, wenn er nach dem gewaltsamen Tod des
Partners unter Verzicht auf eigene Erwerbstätigkeit die
gemeinsamen Kinder betreut. Dass diese Regelung keinesfalls familienfreundlich ist, ist wohl unstrittig. Weil
nach geltendem Recht zum Beispiel ein Vater der Mutter
des gemeinsamen unehelichen Kindes in den ersten drei
Jahren Lebensunterhalt zahlen muss, ist es nur konsequent, dass dies auch nach dem Opferentschädigungsgesetz für Kinder bis zu drei Jahren zutrifft und einzuführen ist. Einbezogen in die Regelung werden auch andere
mögliche Versorgungsfälle, wie nach dem Soldatenversorgungs- oder Zivildienstgesetz. Für diese Gesetzesänderung ist uns eine Frist vorgegeben, deren Rahmen
wir einhalten.
Weitere Regelungen sind notwendig durch den
Beschluss des Bundesverfassungsgerichts - darauf
wurde schon hingewiesen - vom November 2001. Der
Gesetzentwurf sieht vor:
Erstens. Das seit dem 1. Januar 1997 geltende Gesetz
über einen Ausgleich für Dienstbeschädigungen im Beitrittsgebiet ist auf die Zeit von August 1991 bis zum Dezember 1996 zu erstrecken.
Zweitens. Die Angehörigen des Sonderversorgungssystems des MfS sind in den Geltungsbereich des
Dienstbeschädigungsausgleichsgesetzes rückwirkend ab
August 1991 und für die Zukunft einzubeziehen.
Drittens. Die ehemaligen Angehörigen des MfS, deren Bescheide noch nicht bestandskräftig geworden sind,
sind zu begünstigen.
Viertens. Die Höhe des Dienstbeschädigungsausgleichs über einen Ausgleich für Dienstbeschädigungen
im Beitrittsgebiet ist klar festzulegen.
Was ist der Hintergrund? Nach den §§ 9 und 11 des
Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetzes
sind die auf einem Dienstunfall beruhenden Dienstbeschädigungsteilrenten, die Berechtigten neben Altersoder Invalidenrente oder Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit in den Sonderversorgungssystemen der
ehemaligen DDR gewährt wurden, ab August 1991
durch Anrechnung weggefallen oder eingestellt worden.
Die Ansprüche auf Unfallrente aller anderen ehemaligen DDR-Bürger wurden hingegen vom Bundesgesetzgeber in das Unfallrentensystem der Bundesrepublik
überführt. Deren Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten
werden - anders als die gleichartigen Ansprüche der
Mitglieder der Sonderversorgungssysteme - seit Januar
1992 in der gesetzlichen Unfallversicherung der Bundesrepublik anerkannt und entschädigt. Die sich hieraus ergebenden Renten fallen bei der Gewährung von Altersrente nicht weg, sondern unterliegen nur einer
Teilanrechnung.
Diese Regelung benachteiligt nach Auffassung des
Bundesverfassungsgerichts die Angehörigen der Sonderversorgungssysteme. Es fordert daher eine Korrektur des Gesetzes über einen Ausgleich für Dienstbeschädigung im Beitrittsgebiet, da das Urteil den Zeitraum
zwischen 1991 und 1996, also die damals geltenden
Dienstbeschädigungsteilrenten, und nicht den Dienstbeschädigungsausgleich betrifft.
Der Gesetzgeber hat mit dem Gesetz über einen Ausgleich für Dienstbeschädigungen im Beitrittsgebiet seinerzeit gerade die Personengruppe der ehemaligen Angehörigen des Sonderversorgungssystems des MfS
herausgenommen, wie wir in einer Drucksache aus der
13. Wahlperiode - es ist die Drucksache 13/4587 - sehr
genau nachlesen können. Daraus wird deutlich sichtbar,
dass das damals eine sehr bewusste Entscheidung war.
Das haben wir jetzt zu korrigieren. Denn das Bundesverfassungsgericht macht keinen Unterschied zwischen den
vier ehemaligen Sonderversorgungssystemen.
Manches in unserem Leben kommt uns unerträglich
vor. Dies ist eine solche Situation. Als Abgeordnete in
einem Wahlkreis, in dem ich jeden Tag das ehemalige
Stasigefängnis Bautzen II vor Augen habe, trifft mich
das besonders hart. Voller Überzeugung sage ich: Es
wäre viel berechtigter, zunächst im Parlament endlich
mit Mehrheit ein Gesetz für die Opfer auf den Weg zu
bringen. Stattdessen müssen wir nunmehr nach Rechtskraft des Gesetzes zum Beispiel dem Strafvollzugspersonal bei möglichen Dienstbeschädigungen Zahlungen
leisten. Das bedeutet etwa 1 Million Euro Nachzahlungen und jährliche Mehraufwendungen von etwa
500 000 Euro.
Weil diese Verwerfungen menschlich so gar nicht
nachvollziehbar sind, verweise ich noch auf eine Passage in dem dem heute vorliegenden Gesetzentwurf zugrunde liegenden Urteil. Lieber Kollege, wir haben offensichtlich die gleiche Passage aus dem Urteil gewählt,
die ich noch einmal zitieren möchte, weil sie so wichtig
ist und daraus Schlussfolgerungen gezogen werden müssen. Ich zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten aus dem
Urteil:
Von der verfassungsrechtlich unbedenklichen Möglichkeit des Einigungsvertrages, die Dienstbeschädigungsteilrente zu kürzen oder abzuerkennen,
wenn der Unfall sich im Zusammenhang mit einer
dienstlichen Handlung ereignet hat, bei der der Beschädigte gegen die Grundsätze der Menschlichkeit
und der Rechtsstaatlichkeit verstoßen oder in
schwerwiegendem Maße seine Stellung zum eigenen Vorteil oder zum Nachteil anderer missbraucht
hat …, hat der Gesetzgeber bei der hier überprüften
Regelung keinen Gebrauch gemacht.
Das Gericht eröffnet uns als Parlament also doch die
Möglichkeit, die Einzelfallüberprüfung in diesem ganz
speziellen Fall noch einmal zu diskutieren. Darauf sollten wir im Rahmen des parlamentarischen Beratungsprozesses zurückkommen. An die Opfer gerichtet kann man
also sagen: Es ist noch nicht aller Tage Abend. Deshalb
möchte ich bei Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen,
abschließend inständig um Ihre Einsicht und Bereitschaft werben, den Entwurf eines Gesetzes über eine
Opferpension in das Parlament einzubringen und zu beschließen. Wir müssen das eine tun - das, was uns das
Gericht vorgibt -, dürfen das andere aber nicht lassen.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({1})
Frau Kollegin Michalk, Sie brauchen, wenn Sie zitieren wollen, nicht die Genehmigung des Präsidenten.
Diese Regelung ist - ich erinnere mich zwar nicht genau,
aber ich schätze: schon vor 25 Jahren - abgeschafft worden.
({0})
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Dr. Martina
Bunge von der Fraktion Die Linke das Wort.
({1})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein
wesentlicher Aspekt des vorliegenden Gesetzentwurfes
ist der Ausgleich von Dienstbeschädigungen. Erlauben
Sie mir, mich zu dieser Stunde vor allen Dingen darauf
zu konzentrieren. Die Überleitung der DDR-Renten und
-Versorgungsansprüche in bundesdeutsches Recht ist,
denke ich, eine fast unendliche Geschichte. Heute geht
es nun um den Ausgleich von Dienstbeschädigungen.
Wieder, wie so oft in den letzten 15 Jahren, reagiert die
Bundesregierung bzw. die sie tragenden Fraktionen nur,
weil sich die Betroffenen auf dem langen Weg der Sozialgerichtsbarkeit erstritten haben, dass ein Gericht einen Handlungsauftrag erteilt.
Für den heute vorliegenden Gesetzentwurf zum Ausgleich von Dienstbeschädigungen ist das Urteil vom
21. November 2001 maßgebend. Die Korrektur ist also
überfällig, und dies in doppelter Hinsicht: Erstens ist das
Urteil inzwischen vier Jahre alt und zweitens war bereits
1996 klar, dass das Streichen der Dienstbeschädigtenteilrente durch das AAÜG rechtlich nicht haltbar ist. Bezeichnenderweise schaffte der Gesetzgeber zum 1. Januar 1997 aber nur für Dienstunfälle bei Polizei, Armee
und Zoll Abhilfe. Die Beschäftigten des MfS ließ man
außen vor.
Nun wird Gerechtigkeit für alle Gruppen hergestellt.
Das Bundesverfassungsgericht hat eine Nachzahlung ab
dem 1. August 1991 vorgeschrieben. Aber es wird nicht
vollends reiner Tisch gemacht. Die Leistungshöhe bei
Vorliegen einer Dienstbeschädigung soll entgegen einschlägigen Urteilen - ersparen Sie mir jetzt entsprechende Zitate - im Osten geringer ausfallen als im Westen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, zugespitzt heißt
das: „Arm ab Ost“ ist weniger schlimm und weniger
wert als „Arm ab West“.
({0})
Wieder wird den Menschen aus dem Osten deutlich
gemacht: Ihr seid anders. Als es um die Hartz-IV-Regelsätze ging, mussten Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, klein beigeben und ihre Höhe anpassen. Können Sie nicht endlich aufhören, Ost gegen
West auszuspielen?
({1})
Die Linke macht das nicht mit. Wir fordern, diese Regelung des vorliegenden Gesetzentwurfs zu ändern.
Heute wird nur das erste Kapitel der Korrekturen des
bei der Rentenüberleitung geschehenen Unrechts in dieser Legislatur aufgeschlagen; weitere werden folgen.
Die Fraktion Die Linke sieht noch erheblichen Korrekturbedarf. Der Missbrauch von Sozialrecht als Strafrecht muss endlich vollends beseitigt und Wertneutralität wieder hergestellt werden.
({2})
Überführungslücken, die sich aus DDR-typischen, rechtlich geschützten, bei der Rentenüberleitung aber nicht
beachteten Tatbeständen ergeben haben, müssen geschlossen werden. Ich erinnere nur an Themen wie: mithelfende Familienangehörige von Handwerkern und
Selbstständigen, geschiedene Frauen ohne Versorgungsausgleich, Aspiranturzeiten usw. usf. - alles ungelöste
Probleme. Auf die Dauer ist für uns der Fakt nicht haltbar, dass Versorgungsansprüche, beispielsweise von
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, Lehrerinnen
und Lehrern, Ingenieuren, Technikern, Beschäftigten
von Eisenbahn, Post und Gesundheitswesen, nicht überführt werden. Wir werden für die Betroffenen kämpfen.
Verlassen Sie sich darauf!
({3})
Ich denke, hier sind nicht die Gerichte, sondern hier
ist die Politik gefragt, hier sind wir alle gefragt, um die
Einheit sozial tatsächlich zu vollenden.
Ich danke.
({4})
Als letzter Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich das Wort der Kollegin Irmingard ScheweGerigk von Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit
dem Gesetzentwurf wurden Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts und des Bundessozialgerichts umgesetzt.
Eigentlich gibt es darüber nicht viel zu debattieren, auch
der Herr Staatssekretär Thönnes hat dies eben gesagt.
Frau Michalk, Sie haben gerade darauf hingewiesen,
dass Mitarbeiter der Stasi jetzt zusätzliche Entschädigung bekommen. Auch ich finde das ärgerlich, aber das
Sozialrecht eignet sich nun einmal nicht als politisches
Bestrafungsinstrument. Deshalb muss man schauen, wie
man es ausgestaltet.
({0})
Wegen der knappen Redezeit möchte ich mich auf einen anderen Schwerpunkt konzentrieren, nämlich die Situation der nicht ehelichen Lebensgemeinschaften.
Karlsruhe hat dem Gesetzgeber ja aufgetragen, nicht
eheliche Lebensgemeinschaften mit gemeinschaftlichen
Kindern im Opferentschädigungsgesetz mit ehelichen
Lebensgemeinschaften gleichzustellen. Das ist eine gute
und wichtige Entscheidung. Bei nicht ehelichen Lebensgemeinschaften gibt es ohnehin grundlegenden Reformbedarf: Wenn es um Transferleistungen geht, werden sie
als zusammengehörig eingestuft und das Partnereinkommen wird angerechnet. In anderen Bereichen dagegen,
zum Beispiel im Staatsangehörigkeitsrecht oder im Erbrecht, fehlt diese Anerkennung. Ich finde - ich sage das
auch für meine Fraktion -: Hier müssen wir Rechte und
Pflichten endlich in ein ausgewogenes Verhältnis bringen; denn die heutige Schieflage ist ungerecht.
({1})
Besonders krass wird es, wenn Kinder mit betroffen
sind. In dem vorliegenden Fall ging es um den nicht ehelichen Vater von Zwillingen, deren Mutter einem Mord
zum Opfer fiel. Er hat unter Verzicht auf Erwerbsarbeit
die Betreuung der gemeinsamen Kinder übernommen,
ihm wurde aber eine Hinterbliebenenversorgung nach
dem Opferentschädigungsgesetz verweigert, weil eine
solche bisher gesetzlichen Ehepaaren vorbehalten ist.
Diese Ungerechtigkeit hat Karlsruhe als Verstoß gegen
den Gleichheitsgrundsatz in Verbindung mit dem Schutz
der Familie gerügt und auch darauf hingewiesen, dass
sich die Situation nicht ehelicher Familien nicht von der
Gemeinschaft verheirateter oder auch verwitweter Elternteile mit Kindern unterscheidet. Ich begrüße ausdrücklich, dass der Gesetzentwurf die Grundsätze des
Urteils nicht nur im Opferentschädigungsgesetz, sondern
auch im Soldatenversorgungsgesetz, im Zivildienstgesetz und im Infektionsschutzgesetz zum Tragen bringt.
Eine Regelungslücke bleibt allerdings: Wie wir alle
wissen, ist seit 2005 die Stiefkindadoption in der eingetragenen gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaft
möglich. Die Kinder gelten dann rechtlich als gemeinschaftliche Kinder. Das ignoriert dieser Gesetzentwurf
noch. Diese Lücke betrifft das Soldatenversorgungsgesetz, weil hier eine Gleichstellung bislang nicht gelungen ist. - Ich finde es schön, Herr Staatssekretär
Thönnes, dass Sie Ihren Kugelschreiber herausholen und
sich das aufschreiben.
({2})
Denn was das Verfassungsgericht für eheähnliche Lebensgemeinschaften ausgeführt hat, gilt natürlich in gleicher Weise für gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften mit einem rechtlich gemeinschaftlichen Kind.
Deshalb muss im Soldatenversorgungsgesetz wenigstens
eine Gleichstellung der Lebenspartnerschaft mit Kindern
erfolgen. Hier darf es keine Ausgrenzung geben; denn
dem Staat müssen alle Kinder gleich viel wert sein. Ich
plädiere deshalb dringend dafür, diesen Punkt in den
Ausschüssen sachlich zu besprechen; wir können das
auch schnell machen, damit die Änderung schnell umgesetzt wird. Ich hoffe, dass wir den Gesetzentwurf im Interesse potenziell betroffener Kinder gemeinsam unideologisch nachbessern können.
Ich frage jetzt nicht, ob ich zitieren darf, Herr Präsident, weil Sie gerade gesagt haben, dass man das nicht
muss. - Bundespräsident Horst Köhler hat in seiner
Grundsatzrede die heutige Vielfalt der Familienformen
gewürdigt.
Kinder auf das Leben vorzubereiten, partnerschaftliche Lebensentwürfe zu verwirklichen, das kann in
ganz unterschiedlichen Strukturen gelingen: in der
Ehe, in nicht ehelichen und auch gleichgeschlechtlichen Familien, in Patchwork- oder Einelternfamilien.
Dem Bundespräsidenten ist hier voll zuzustimmen.
({3})
Benachteiligungen bestimmter Familienformen gehen
immer auch zulasten der Kinder. Der Gesetzgeber hat
deshalb die Pflicht, für Chancengerechtigkeit zu sorgen.
Ich glaube, wir sind da auf einem guten Wege.
Vielen Dank.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/444 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
andere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Josef
Philip Winkler, Volker Beck ({0}), Wolfgang
Wieland, weiteren Abgeordneten und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der sozialen Situation von
Ausländerinnen und Ausländern, die ohne
Aufenthaltsstatus in Deutschland leben
- Drucksache 16/445 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache wiederum eine halbe Stunde vorgesehen. Es gibt keinen Widerspruch dagegen. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Josef Winkler vom Bündnis 90/Die
Grünen das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit dem
nun vorliegenden Gesetzentwurf möchten wir das
Thema „Illegale“ aus der politischen Tabuzone holen. Es
geht uns darum, die Realität anzuerkennen, dass es Ausländer ohne jeglichen Behördenkontakt und ohne gültige
Aufenthaltsgenehmigung in Deutschland gibt. Unsere
feste Überzeugung ist, dass den Problemen dieser Menschen nicht mehr allein ordnungs- und polizeirechtlich
begegnet werden darf.
Ich möchte deshalb vorweg ausdrücklich betonen,
dass unser Vorschlag nicht etwa eine reine Legalisierungskampagne oder Amnestie, wie es sie zum Beispiel
in Spanien in den letzten Jahren gab, darstellt, sondern
einen konkreteren und deutlich niederschwelligeren Ansatz wählt.
Die Kirchen, die Gewerkschaften und andere Nichtregierungsorganisationen haben sich dieser Problematik in
den letzten Jahren bereits verstärkt angenommen. In
Deutschland leben nach inoffiziellen Schätzungen bis zu
1 Million Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus. Es
gab im letzten Jahr einen Appell, diese Problematik in
der Gesellschaft zu diskutieren, den unter anderem - ich
habe einmal durchgezählt - vier Staatssekretäre der aktuellen Bundesregierung inklusive Herrn Altmaier, der
auf der Regierungsbank sitzt, und der stellvertretende
CDU-Bundesvorsitzende Böhr - Herr Grindel, ich
nehme an, Sie wissen das - unterstützt haben.
({0})
Wir haben gesagt: Nicht nur in der Gesellschaft, sondern
auch hier im Bundestag soll das angesprochen werden.
Diese Menschen leben in einer Art Schattenreich.
Gleichzeitig stehen diejenigen, die Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus aus humanitären Gründen helfen
- Erzieherinnen und Erzieher, Ärzte, Priester, Gewerkschaftler -, ständig in der Gefahr, sich strafbar zu machen. Die derzeitige Rechtslage in Deutschland schränkt
die Inanspruchnahme der grundlegenden Menschenrechte und Grundrechte für diese Bevölkerungsgruppe,
die sich illegal hier aufhält, ein und macht ihnen den Zugang nicht möglich. Das muss geändert werden.
({1})
Das größte Problem dabei ist sicherlich die Pflicht aller öffentlichen Stellen zu Meldungen an die Ausländerbehörden. Diese Meldepflicht führt dazu, dass die
Betroffenen jeglichen Kontakt mit staatlichen Einrichtungen vermeiden, weil sie natürlich nicht wollen, dass
ihr Aufenthalt in Deutschland bekannt wird. Deshalb hat
unser Gesetzentwurf fünf wesentliche Teile - das schaffe
ich in eineinhalb Minuten -:
Er sieht für diese Menschen ohne Aufenthaltsrecht
erstens den Zugang zu einer medizinischen Grund- bzw.
Notfallversorgung vor. Zweitens bekommen die Kinder
und Jugendlichen einen Anspruch auf Schul- und Kindergartenbesuch. Drittens. Ansprüche auf Lohnzahlung
für geleistete Arbeit sollen vor Gericht eingeklagt werden können. Viertens. Um das zu erreichen, muss die
Meldepflicht deutlich eingeschränkt und deshalb aus
dem Aufenthaltsgesetz herausgenommen werden.
({2})
Zuallerletzt muss deshalb fünftens die Strafbarkeit von
Beihilfehandlungen - aus humanitären Gründen wohlgemerkt - wie zum Beispiel bei Ärzten, die medizinische
Notfallbehandlungen gewähren, oder Lehrern, die Unterricht geben, eingeschränkt werden.
({3})
Das alles steht nicht im Widerspruch zu der Pflicht
des Staates, illegale Einwanderung und illegalen Aufenthalt zu bekämpfen. Wir definieren in unserem Gesetzentwurf die Grenzen, die der Staat hier ziehen muss. Er
muss nämlich einerseits die illegale Einwanderung begrenzen und abwehren und andererseits humanitäre
Mindeststandards in Deutschland einhalten. Das ist natürlich ein Vorschlag, der von Ihrer Seite auch noch einmal in anderer Weise dargestellt werden kann.
Ich begrüße es ausdrücklich, dass in der Koalitionsvereinbarung der großen Koalition hierzu nicht eine
Nichtbefassung vorgesehen ist, sondern ein Prüfauftrag
erteilt wurde. Wir haben gesagt, dass aus unserer Sicht
hier nicht mehr allzu viel zu prüfen ist, sondern dass die
Fakten klar auf dem Tisch liegen. Es gibt in Deutschland
bis zu eine Million Menschen, die keinen Zugang zu den
grundlegenden Menschen- und Bürgerrechten haben.
Das muss geändert werden.
Ich würde mich sehr freuen, wenn vonseiten der
Union jetzt nicht wie bei der letzten Debatte zu einem
ähnlichen Thema ein krasser Rundumschlag gegen die
Grünen nach dem Motto folgen würde, dass wir ja nur
kriminelle Ausländer ins Land holen wollen oder so etwas. Ich habe mich bewusst bemüht, sachlich vorzutragen, und würde mich zum einen zwar verwundert, zum
anderen aber auch erfreut zeigen, wenn das so erwidert
würde.
Herzlichen Dank.
({4})
Das Wort hat jetzt der Kollege Reinhard Grindel von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Kollege Montag, den ich aus vielen nächtlichen Sitzungen gut kenne und von wenigen Ausnahmen abgesehen
auch schätze, hat gesagt, dass wir alle eine große Verantwortung haben. Das stimmt. Ich finde aber, dass wir die
Welt nicht so aufteilen dürfen, dass nur derjenige sich
menschlich verhält, der die Anliegen der Grünen unterstützt, während die anderen inhuman handeln.
({0})
Es mag mehrere Wege geben, auf denen wir zu sachlichen Lösungen kommen können. Denn in der Tat: Integration setzt auch eine Steuerung der Zuwanderung voraus. Man würde die Integrationsbereitschaft in unserer
Bevölkerung gefährden, wenn man unbegrenzt illegalen
Aufenthalt akzeptieren würde. Ich erwarte auch von den
Grünen, dass sie respektieren, dass man einerseits sehr
wohl für ein gutes Miteinander von Deutschen und Ausländern sorgen und für eine gute humanitäre Behandlung
von Ausreisepflichtigen eintreten und andererseits diesen Antrag der Grünen aus sehr wohl erwogenen sachlichen Gründen ablehnen kann. Lieber Josef Winkler, das
ist moralisch kein minderwertiger Standpunkt.
({1})
Ich finde, dass man sich auch vor zu harten Unterstellungen bezüglich der Lebenswirklichkeit in Deutschland
hüten sollte. In Ihrem Antrag findet sich der Satz:
In Deutschland besteht ein menschenrechtliches
Problem im staatlichen Umgang mit Menschen, die
in unserem Land ohne ein Aufenthaltsrecht leben.
Ich werde gleich deutlich machen, weshalb ich das nicht
so sehe. Dem darf man doch wohl eines entgegenhalten:
Wenn das so wäre, dann wäre das wohl auch das Resultat von sieben Jahren Regierungspolitik der Grünen.
({2})
Es stellt sich bei diesem Antrag natürlich schon die
Frage, warum Sie mit Ihren Vorschlägen nicht früher gekommen sind, wenn das alles doch so nötig und zweckmäßig ist.
({3})
Wenn Sie sich einmal mit der Praxis und den Leuten
in den Ausländerbehörden beschäftigen würden, dann
würden Sie wissen, dass die Lage in der Tat nicht so dramatisch ist, wie Sie sie schildern; denn die meisten Illegalen nehmen sehr wohl soziale Leistungen in Anspruch. Sie können das auch ohne Angst tun. Warum
können sie das?
Erstens können sie das, weil die Behörden noch gar
nicht im Besitz der notwendigen Papiere sind, um eine
Abschiebung vollziehen zu können, weshalb sich das
Problem aus diesem Grunde gar nicht stellt. Viele Illegale wissen deshalb, dass sie wegen der ungeklärten
Herkunft und Identität vor einer Abschiebung vorläufig
sicher sind.
({4})
Zweitens können sie das, weil den Meldepflichten,
wie mir von verschiedenen Ausländerbehörden berichtet
wurde, so spät nachgekommen wird, dass die Betroffenen in aller Regel schon längst wieder untergetaucht
sind.
Die Initiative der Grünen ist nur für die Ausreisepflichtigen relevant, bei denen die Abschiebung unmittelbar bevorsteht und alle dafür erforderlichen Papiere
vorhanden sind. Das ist also nur ein sehr kleiner Kreis,
bei dem das Interesse des Staates an der Rückführung
aber besonders groß ist. Es wäre fair, wenn Sie gesagt
hätten, dass sich darunter natürlich auch Straftäter befinden.
({5})
Insofern muss man schon fragen: Wie wirkt das denn
auf die Mitarbeiter der Ausländerbehörden, die unter
schwierigsten Bedingungen zum Teil jahrelang versuchen, Ausländer in ihre Heimat zurückzuführen? Wie
müssen sie sich vorkommen, wenn sie erfahren, dass ein
untergetauchter Ausreisepflichtiger auf Kosten der
Kommune ärztlich behandelt wurde, was ihnen vom
Krankenhaus nicht mitgeteilt werden darf, und nach erReinhard Grindel
folgter Behandlung wieder untergetaucht ist? Das ist
- mit Verlaub - eine Verhöhnung von Mitarbeitern der
Ausländerbehörden, die einen sehr schweren Job zu machen haben.
({6})
Sie haben gesagt, dass in unserer Koalitionsvereinbarung ein Prüfauftrag enthalten ist. In der Tat wird dem
Anliegen der Grünen durch die Koalition in einem Bereich entsprochen werden. Wie Sie wissen, werden wir
in einem Gesetz, das elf EU-Richtlinien zum Ausländerrecht in deutsches Recht umsetzt, eine Vorschrift aufnehmen, wonach Opfer von Menschenhandel eine Aufenthaltserlaubnis bekommen werden, wenn sie in einem
Prozess aussagen wollen. Das ist sinnvoll, weil wir wissen, dass Täter aus dem Bereich der organisierten Kriminalität oftmals nur mit Zeugenaussagen von Opfern
überführt werden können. Eine Ausweitung auf weitere
Straftaten lehnen wir aus Missbrauchsgründen ab.
({7})
Die Frage der Verteilung der Opfer von Menschenhandel auf die einzelnen Bundesländer - auch das wird
in Ihrem Gesetzentwurf angesprochen -, zeigt, dass die
Grünen offenbar nicht wissen, dass sich alle Bundesländer bereits darauf verständigt haben, Opfer von Menschenhandel von der länderübergreifenden Verteilung
auszunehmen. Aber dieses Nichtwissen ist den Grünen
nachzusehen, weil sie ja an keiner Landesregierung
mehr beteiligt sind.
({8})
Es ist dementsprechend wichtig, dass wir präzise herausarbeiten, worum es in dem Gesetzentwurf der Grünen geht.
({9})
Es geht nicht darum, dass Illegalen etwa medizinische
Versorgung vorenthalten würde. In Deutschland besteht
ein Recht auf medizinische Gesundheitsversorgung. Es
besteht auch ein Recht auf Schulbesuch und auf die Einklagbarkeit des Lohns unabhängig vom Aufenthaltsrecht. Es ist nur so, dass selbstverständlich die Behörden, weil eine Ausreisepflicht besteht und wir es durch
den Aufenthalt mit illegalem Verhalten zu tun haben,
verpflichtet sind, den Ausländerbehörden die Illegalen
zu melden.
Was Sie vorschlagen, ist in einem Rechtsstaat nach
meiner Auffassung nicht möglich; denn Sie wollen im
Sozial- und Arbeitsrecht einen unerlaubten Aufenthalt
materiell absichern und damit verfestigen, der im Ausländerrecht zur Beendigung des Aufenthalts und zur
Rückführung des Ausländers zwingend führen müsste.
({10})
Eine solche Aufspaltung des Rechts ist innerhalb unserer
Grundrechtsordnung völlig undenkbar. Das machen wir
nicht mit, Herr Kollege.
({11})
Es ist auch keine Frage, dass der von Ihnen vorgelegte
Gesetzentwurf gegen einen Grundsatz der in Aussicht
genommenen Föderalismusreform verstößt, weil hier der
Bund ideologisch motivierte Rechtsänderungen beschließen soll, die den Kommunen enorme Kosten verursachen würden. Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Es ist
schon ein bisschen zynisch, wenn Sie in Ihrem Gesetzentwurf schreiben:
Der Kostenumfang ist aufgrund der unbekannten
Anzahl der Betroffenen derzeit nicht zu prognostizieren.
Das kann nur eine Partei formulieren, die keine kommunale Basis hat. Ich halte das für nicht verantwortlich.
({12})
Ihr Gesetzentwurf würde auch die Verfolgung von
Schwarzarbeit erheblich erschweren.
Weil Sie die Frage der Strafbarkeit von Helfern angesprochen haben, die aus humanitären Gründen ausreisepflichtige Personen unterstützen, sage ich Ihnen: Auch
da wird dramatisiert. Es gibt bisher - ich habe das überprüfen lassen - keine einzige Verurteilung von Helfern,
weil das strafrechtliche Instrumentarium ausreicht, um
humanitäres Handeln angemessen zu berücksichtigen.
({13})
- Lieber Herr Montag, da Sie den Zwischenruf gemacht
haben: Wir können uns doch darauf verständigen, dass
es keinen einzigen Fall gibt, wo ein Helfer verurteilt
worden ist. Insofern bieten offenbar - das sagen Sie damit - sowohl das Strafrecht als auch das Strafprozessrecht genügend Möglichkeiten, schon heute humanitäres
Handeln angemessen zu berücksichtigen. Ihr Vorschlag
würde jedoch dazu führen, dass sich Täter aus dem Bereich der organisierten Kriminalität humanitärer Legenden bedienen und sich so der Strafe entziehen könnten.
Auch das wollen wir nicht.
({14})
- Herr Montag, da gibt es nichts zu lachen. Ich weiß
nicht, mit welchen Kreisen Sie als Rechtsanwalt in Kontakt kommen.
({15})
Aber es gibt die Fälle, dass Täter aus der organisierten Kriminalität jede gesetzliche Möglichkeit nutzen, die ihnen
geboten wird, um sie für ihre Zwecke zu missbrauchen.
Das sollten wir ihnen nicht geben; denn eine Lehre aus
dem Visa-Untersuchungsausschuss war ja, alle Formen
von Menschenhandel entschieden zu bekämpfen und
nicht neue Möglichkeiten zu eröffnen.
({16})
Ich stelle fest: Es gibt in unserem Land kein menschenrechtliches Problem im staatlichen Umgang mit Illegalen. Es gibt erhebliche Probleme bei der Rückführung von Illegalen in ihre Heimat. Denen werden wir uns
bei der Überarbeitung des Zuwanderungsgesetzes zuwenden. Zur Begrenzung der Zuwanderung gehört auch,
dass diejenigen, die kein Recht auf den Aufenthalt in unserem Land haben, dieses wieder verlassen müssen. Das
liegt im Interesse von Integration und auch im Interesse
eines friedlichen Zusammenlebens von Deutschen und
Ausländern.
Ich sage Ihnen im Interesse einer humanitären Behandlung von Illegalen zu: Was wir jetzt hinsichtlich der
Opfer von Menschenhandel nicht vereinbaren, werden
wir im Rahmen der Prüfung - gerade auch im Kontakt
mit Praktikern - diskutieren. Es besteht kein Anlass, deshalb den anderen einer inhumanen Politik zu verdächtigen. Wir wollen, dass Deutsche und Ausländer - auch
die Illegalen - anständig behandelt werden.
Herzlichen Dank.
({17})
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Max Stadler von
der FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn man über die Situation von illegalen Ausländern in Deutschland spricht, dann ist dies von vornherein
heikel. Denn bei einem solchen Thema kann es leicht zu
Missverständnissen kommen. Deswegen möchte ich bewusst mit der eigentlich völlig selbstverständlichen Aussage beginnen, dass illegale Migration in einem Rechtsstaat nicht akzeptiert werden kann und dass der Staat das
Recht und die Pflicht hat, sich dagegen zur Wehr zu setzen.
({0})
Ich übernehme daher auch nicht ganz die Formulierung des Kollegen Winkler, man müsse die Realität der
Situation von Illegalen in Deutschland anerkennen. Ich
bevorzuge vielmehr die Formulierung: Wir müssen uns
dieser Realität stellen. Dass die Realität des Aufenthalts
einer unbekannt hohen Zahl von Illegalen in Deutschland einige Probleme aufwirft, die den Deutschen Bundestag sehr wohl interessieren müssen, scheint klar zu
sein. Das ist nicht etwa ein Anliegen der Grünen, wie Sie
es hier formuliert haben, Herr Kollege Grindel; vielmehr
wird dieses Anliegen - wie Sie genau wissen - seit langem insbesondere von der katholischen Kirche an uns
herangetragen.
({1})
Alle Fraktionen dieses Bundestags waren oft zu Gast
im Forum „Leben in der Illegalität“, das von Pater Alt
und Schwester Bührle geleitet wurde. Wir haben dort gelernt, dass entgegen Ihren Ausführungen, Herr Kollege
Grindel, sehr wohl praktische Probleme bestehen, für die
wir als Bundestag eine Lösung anbieten müssen, ohne
dass wir uns gegenseitig verdächtigen sollten, hier
würde irgendjemand einen rechtsstaatlichen Grundsatz
aufgeben oder gar illegale Migration fördern oder eine
Sogwirkung herbeiführen wollen.
Worin bestehen die Probleme, die insbesondere von
der katholischen Kirche so nachdrücklich an uns herangetragen werden? Es besteht eine Rechtsunsicherheit,
ob sich diejenigen, die aus humanitären Gründen Hilfe
leisten - beispielsweise Ärzte, die einem kranken Illegalen medizinische Versorgung zukommen lassen -, möglicherweise der Beihilfe zu einer Straftat schuldig machen. Ich meine, dass es eine solche Rechtsunsicherheit
nicht geben darf. Insofern ist der Bundestag verpflichtet,
Klarstellungen vorzunehmen.
({2})
Auch ein weiterer Punkt ist bedenkenswert. Die Kinder von Illegalen können doch am allerwenigsten für
ihre Situation. Deshalb muss man bei allem, was Sie zu
Recht über Abschiebungen gesagt haben, die durchgesetzt werden müssen, darüber nachdenken, wie dennoch
gewährleistet werden kann, dass diesen Kindern ein elementares Recht - nämlich der Zugang zum Bildungssystem - nicht vorenthalten wird.
({3})
Das berührt das Problem der Meldepflichten.
Ihnen ist das Manifest vom 2. März 2005 bekannt,
das sich mit diesen Fragen befasst. Kollege Winkler hat
es bereits erwähnt. Aus Anlass der Debatte habe ich
nachgesehen, welche honorigen Personen dieses Manifest unterzeichnet haben. Es sind Mitglieder aller damaligen vier Bundestagsfraktionen. Drei von ihnen sprechen übrigens in der heutigen Debatte. Für mich ist
dabei besonders interessant, dass das Manifest, mit dem
von uns als Gesetzgeber verlangt wird, dass wir die Augen vor diesen Problemen wenigstens nicht verschließen, auch von Vertretern von Berufsverbänden der deutschen Kriminalbeamten, der Polizeigewerkschaft, von
Sicherheitsbehörden, Kirchen, einem Kardinal und vielen anderen respektablen Persönlichkeiten unterzeichnet
worden ist.
Wenn dies nicht Beweis genug ist, darf ich daran erinnern, dass uns die Unabhängige Kommission „Zuwanderung“ unter der Leitung von Frau Professor Dr. Rita
Süssmuth und dem ebenfalls allseits anerkannten früheren SPD-Vorsitzenden Dr. Hans-Jochen Vogel, der bei
der Trauerfeier für Johannes Rau eine sehr bewegende
Rede gehalten hat, klare Ratschläge gegeben hat. Diese
unabhängige Kommission hat uns ganz klare Ratschläge
gegeben. Die Kommission empfiehlt,
… in den allgemeinen Verwaltungsvorschriften
zum Ausländergesetz
- so hieß es damals eindeutig klarzustellen, dass Schulen und Lehrer
nicht verpflichtet sind, den Behörden ausländische
Schüler zu melden, die sich illegal in Deutschland
aufhalten.
Die Süssmuth/Vogel-Kommission, an der zum Beispiel
auch Cornelia Schmalz-Jacobsen, die ehemalige Ausländerbeauftragte, mitgearbeitet hat, empfiehlt uns des Weiteren, klarzustellen, dass Personen, die sich aus humanitären Gründen um Illegale kümmern, nicht wegen
Beihilfe in Strafverfahren gezogen werden dürfen.
Wir sollten diese Ratschläge beherzigen und im Ausschuss über die Einzelheiten - genauso wie Sie, Herr
Grindel, es in dem versöhnlichen Schlussteil Ihrer Rede
gesagt haben - sachlich und ergebnisoffen debattieren.
Es ist seit langem ein Anliegen der FDP, dass diese Debatte im Hohen Haus geführt wird. Ich bin froh, dass wir
nun an dieser Stelle angelangt sind.
({4})
Das Wort hat jetzt der Kollege Rüdiger Veit von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
habe es mir zwar nicht ausgesucht, an dieser Stelle der
Debatte vielleicht das eine oder andere wieder zusammenzuführen, was ansatzweise den erreichten Konsens
gefährdet. Aber ich bin schon von der Rednerabfolge her
offenkundig in dieser Rolle.
Was die Grünen mit ihrem Antrag bezwecken, ist
vom Grundsatz her ein ebenso wichtiges wie berechtigtes Anliegen.
({0})
Ich glaube, dass das Gebot unserer Verfassung „Die
Würde des Menschen ist unantastbar“ mit der Lebenswirklichkeit vieler in Deutschland illegal lebender Menschen nicht in Einklang zu bringen ist, genauso wenig
wie mit unser aller Verständnis von einem menschenwürdigen Leben. Ich sehe hier die Dinge etwas problematischer als Sie, Herr Grindel.
In der Begründung des Antrages von Bündnis 90/
Die Grünen werden beispielsweise Zitate von Papst
Johannes Paul II. angeführt. Max Stadler hat diese vorhin durch Zitate aus dem Abschlussbericht der unabhängigen Kommission „Zuwanderung“ ergänzt. Johannes
Rau hat gesagt:
Im Grundgesetz steht: Die Würde des Menschen ist
unantastbar. Da steht nicht: Die Würde des Deutschen ist unantastbar.
Alle Menschen, die bei uns leben, auch diejenigen ohne
gültiges Aufenthaltsrecht, haben eine Würde. Was die
Dinge in der Betrachtung manchmal etwas schwieriger
macht, Herr Grindel, ist, dass nach unserer Verfassung
selbst derjenige das Recht auf Achtung der Menschenwürde beanspruchen kann, der sich strafbarer Handlungen schuldig gemacht hat. Aber solche Menschen stehen
hier nicht im Fokus der Bemühungen.
Das Manifest „Leben in der Illegalität“ vom Katholischen Forum - darauf ist bereits Bezug genommen worden - ist am 15. November 2005 von über 400 namhaften Personen und Organisationen unterzeichnet worden,
und zwar auch von Vertretern aller damals hier im Haus
vertretenen Fraktionen. Herr Gröhe, Herr Kues, Herr
Altmaier - sein Name wurde bereits erwähnt -, Max
Stadler und Frau Leutheusser-Schnarrenberger gehörten
genauso zu den Unterzeichnern wie vom Bündnis 90/Die
Grünen beispielsweise Claudia Roth, Volker Beck,
Marieluise Beck und Josef Winkler sowie zahlreiche
Abgeordnete der SPD-Fraktion.
Um es noch einmal klarzustellen: Es geht hier nicht
darum, den illegalen Status von 100 000, 500 000 oder
vielleicht sogar 1 Million in Deutschland lebenden ausländischen Menschen in einen dauerhaften legalen Status zu überführen. Damit überforderten wir die Integrationskraft unserer Gesellschaft bei weitem. Außerdem ist
zu bedenken: Wenn wir noch ernsthaft über das Bleiberecht von sich lange und rechtmäßig in Deutschland aufhaltenden ausländischen Menschen reden und streiten
müssen, dann macht es erst recht keinen Sinn, sich noch
Gedanken über den Status der Illegalen zu machen. Erstere gehen logischerweise vor.
({1})
Es ist klar, dass Menschen, die hier bei uns ohne Papiere leben und damit quasi wie im Mittelalter vogelfrei
sind und die ohne Anspruch auf ein Mindestmaß an
Hilfe ganz allein auf sich gestellt sind, in einer schwierigen Situation leben und nicht entdeckt werden wollen.
Herr Grindel, ich glaube nicht, dass die Sorgen dieser
Menschen allein dadurch gegenstandslos werden, dass
sie darauf vertrauen, dass deutsche Behörden - das war
quasi der Duktus Ihrer Ausführungen in diesem Punkt allemal zu langsam oder unfähig sind, um sie rechtzeitig
zu erwischen und abzuschieben.
Was wir erreichen müssen, ist doch Folgendes: Wenn
jemand einen Unfall erleidet oder schwer erkrankt, dann
braucht er ein Mindestmaß an medizinischer Versorgung.
({2})
Ärzte und Krankenschwestern, die den Betreffenden helfen können oder helfen wollen, sollen nicht befürchten
müssen, dass sie sich strafrechtlicher Verfolgung aussetzen.
Herr Grindel und Herr Winkler, ich unterbreche ungern Ihren Dialog, aber ich komme genau zu den handlungsleitenden Notwendigkeiten, die daraus für uns erwachsen. Wer sich in der Situation befindet, dass er
illegal hier arbeitet und dass ihm sein Arbeitgeber aus
niederträchtigen Gründen oder Unfähigkeit den Lohn
vorenthält,
({3})
der muss vor das Arbeitsgericht gehen können, um dort
seinen Lohnanspruch einzuklagen,
({4})
ohne dass er Angst haben muss, das Arbeitsgericht
werde die Tatsache seines Aufenthalts und seiner Arbeit
den Ausländerbehörden vortragen. So ähnlich ist es mit
Sozialarbeitern, die sich sinnvollerweise um Familien
kümmern sollten, in denen Frauen, Kinder oder Jugendliche von Gewalt bedroht sind. Man könnte die Beispiele
fortführen.
Wir haben das - jetzt komme ich zu dem vielleicht
entscheidenden Punkt, an dem ich von dem abweiche,
was uns die Grünen vorschlagen - in der Tat sehr lange
Jahre, wie ich finde, verkürzt nur unter dem Gesichtspunkt von Mitteilungspflichten und Strafbarkeit diskutiert. Es gehört aber mehr dazu. Ich komme gleich dazu.
Insoweit - das darf ich freundschaftlich und kollegial sagen - ist der Antrag der Grünen ein Stück weit nach dem
Motto zu bewerten: Gut gemeint - das eint uns ja vielleicht alle - ist noch lange nicht gut gemacht bzw. nicht
gut genug gemacht.
({5})
Was die Frage der Strafbarkeit angeht, so ist in der
Tat nach den Recherchen, die der wissenschaftliche
Dienst auf mein Betreiben hin angestellt hat, noch niemand wegen Beihilfe zu illegalem Aufenthalt hier in
Deutschland verurteilt worden, wenn er nur aus humanitären Gründen geholfen hat. Ich erinnere daran, dass das
Strafverfahren, das in Bonn anhängig gewesen ist, einen
ganz anderen rechtlichen Hintergrund hatte, nämlich den
der Veruntreuung öffentlicher Gelder. Was hindert uns
denn daran, zum Beispiel in den vorläufigen Anwendungshinweisen und dann später in den Verwaltungsvorschriften zum Aufenthaltsgesetz ausdrücklich klarzustellen, dass sich solche Personen nicht strafbar machen?
Dafür brauchen wir keine Gesetzesänderung. Das kann
auch als Auslegungsmaßstab für andere, die es vielleicht
später interessiert, ob Strafbarkeit gegeben ist, dienen.
Bei den Übermittlungspflichten sieht es anders aus.
Es gibt keinen systematischen Widerspruch dergestalt,
dass, weil unsere Rechtsordnung in einer bestimmten
Weise auch mit Illegalen umgeht, konsequenterweise alles, was über sie in Deutschland bekannt wird, wem auch
immer mitgeteilt werden muss. Das ist unserer Rechtsordnung nicht immanent. Sonst könnte es auch nicht
sein, dass beispielsweise Krankenhäuser, Ärzte, Schwestern und alle Mitarbeiter der Verwaltungen schon heute
ausdrücklich im § 88 Aufenthaltsgesetz von dieser Übermittlungspflicht ausgenommen worden sind. Deswegen
greift an der Stelle der Antrag der Grünen zu einem
Werkzeug, dessen wir eigentlich nicht bedürfen. Anders
ist das allerdings bei Sozialämtern. Wenn bei diesen, zunächst einmal vorläufig, die Bewilligung zu einer notwendigen medizinischen Behandlung eingeholt werden
muss, dann trifft die Mitarbeiter in der Tat eine Meldepflicht. Bei den Arbeitsgerichten ist das ähnlich.
Lassen Sie mich jetzt zu den Jugendlichen und
Kindern kommen, die ohne legalen Status in Deutschland eine Schule oder einen Kindergarten besuchen sollten. Da ist das eigentliche Hindernis nicht die Meldepflicht der betroffenen Erzieher und Lehrer oder der
Schulverwaltung. Das eigentliche Hindernis ist, dass
zum Beispiel unser derzeit geltendes Recht, nämlich
§ 6 Abs. 2 des Achten Sozialgesetzbuches, ausdrücklich
diejenigen Kinder und Jugendlichen von Ansprüchen
nach dem Kinder- und Jugendhilferecht ausnimmt, deren
Eltern - das gilt damit auch für sie - keinen legalen Status haben bzw. die nicht wenigstens geduldet sind. Das
ist der eigentliche Punkt. Da müssen wir ansetzen und
nicht so sehr bei der Mitteilungspflicht.
Was die Frage des Schulbesuchs angeht, verhält es
sich, wie zum Beispiel in dem Buch von Alt und Fodor
dargelegt wurde, leider so: In den Länderverfassungen
ist der Anspruch auf Schulbesuch enthalten. Aber es gibt
eine Reihe von Bundesländern, mindestens zwei oder
drei, die diejenigen Jugendlichen und Kinder vom Anspruch auf Schulbesuch ausnehmen, die nicht über einen
legalen Aufenthaltsstatus oder eine Duldung verfügen.
Ich sage noch einmal: Auch hier greifen Regelungen,
die nur in Bezug auf Übermittlungspflichten vorgenommen werden, zu kurz. Wir müssen uns an die Landesgesetzgeber und an die Landesregierungen wenden, um dafür Sorge zu tragen, dass der Schulbesuch von Kindern
Illegaler nicht verhindert wird.
Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen ist nicht geeignet, eine Sollbruchstelle der großen Koalition deutlich zu machen - das unterschiedet ihn von Materien, die
wir hier am 19. Januar 2006 beraten haben -, und er ärgert die Sozialdemokraten an dieser Stelle auch nicht
wirklich.
Ich kann nur sagen: Vertreter aller Fraktionen dieses
Parlaments sind durch jahrelange Diskussionen, etwa
mit der katholischen Kirche und deren Foren, verbunden. Daher haben wir jetzt jegliche Veranlassung, uns
dieses Themas anzunehmen. Insoweit mag der Antrag
der Grünen ein willkommener Anlass sein, aber eben
auch nicht mehr. Im Koalitionsvertrag ist ein Prüfauftrag
vereinbart. Wie meine Darlegungen von vorhin gezeigt
haben, ist dieser Prüfauftrag auch erforderlich, weil der
Anspruch, den wir an uns selber stellen müssen, wesentlich über die Frage der Übermittlungspflichten und der
Strafbarkeit hinausgeht.
Es gibt also konstruktive Ansätze für ein gemeinsames Vorgehen. Ich erlaube mir, vorzuschlagen - ich
hoffe sehr auf die Zustimmung aller hier vertretenen
Fraktionen -, die Behandlung dieses Problems durch
eine entsprechende Sachverständigenanhörung im Innenausschuss umfassend vorzubereiten, um den Gesamtkomplex zu erfassen und uns endlich von der Verengung
auf den Aspekt der Mitteilungspflichten und auf den der
Strafbarkeitsvoraussetzungen zu befreien. Zumindest
diesen Anspruch sollten wir an uns selbst stellen.
({6})
Ich bin froh, dass auch unser neuer Koalitionspartner
diese Notwendigkeit ausdrücklich anerkannt hat. Wir
sollten uns auf den Weg machen.
Danke schön.
({7})
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich das Wort der Kollegin Sevim Dagdelen von
der Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und
Kollegen! Wenn es um die Situation von Menschen ohne
Aufenthalt geht, befindet sich Deutschland weitab von
den Entwicklungen in anderen europäischen Ländern,
wie auch hier bereits ausgeführt wurde. In keinem anderen europäischen Land schweigen Politiker derart hartnäckig über das Faktum, dass in ihrer Gesellschaft eine
halbe bis 1 Million Menschen illegal leben und arbeiten.
Und in keinem anderen europäischen Land begegnet die
Politik diesem Problem ausschließlich mit polizeilichen
und aufenthaltsrechtlichen Maßnahmen.
Deutschland ist meines Erachtens dazu verpflichtet,
die in internationalen Konventionen verbrieften sozialen
Menschenrechte auch für Menschen ohne Aufenthalt
faktisch durchsetzbar zu machen.
({0})
Das Argument, man könne den verbotenen Aufenthalt
von Illegalisierten nicht materiell absichern, leugnet
meines Erachtens den Charakter der Menschenrechte;
diese gelten nämlich immer noch voraussetzungslos. Die
Einhaltung von Menschenrechten kann also nicht an das
Vorhandensein eines Aufenthaltstitels geknüpft sein.
Das Anliegen des vorliegenden Gesetzentwurfs ist
deswegen ausdrücklich zu begrüßen. Richtig und längst
überfällig ist es, die Beihilfe zum humanitären Aufenthalt zu entkriminalisieren und die Meldepflicht für öffentliche Stellen abzuschaffen. Sie ist eine Denunziationsverpflichtung für Schuldirektoren und für Richter.
Anders als die Vorredner deutlich gemacht haben,
weist der Entwurf allerdings erhebliche Mängel auf. Er
knüpft eine Aufenthaltserlaubnis für Opfer von Menschenhandel, Zwangsprostitution und Zwangsarbeit daran, dass die betroffene Person für die strafrechtliche Ermittlung nützliche Aussagen liefern kann. Hier wird das
Schicksal der Menschen von der Beweislage abhängig
gemacht.
Ferner wird nicht sichergestellt, dass Betroffene ihren
Aufenthaltstitel nach Beendigung des Gerichtsverfahrens nicht wieder verlieren. Im Falle einer Aussage gegen ihre Misshandler befürchten die Betroffenen nämlich oftmals Repressalien, wenn sie nach einem Prozess
in ihre Herkunftsländer zurückkehren. Auch deshalb haben sie Angst vor der Zusammenarbeit mit den Behörden hier. So eröffnet der Entwurf für die Betroffenen
nicht die Möglichkeiten, die er ihnen verspricht: die Inanspruchnahme ihrer Rechte.
In der Begründung ist von der „Pflicht des Staates“
die Rede - das ist auch hier deutlich gemacht worden -,
illegale Einwanderung und illegalen Aufenthalt zu bekämpfen. Eine solche Pflicht gibt es nicht. Man findet
sie auch nicht im Grundgesetz. Allenfalls gilt die Verpflichtung des Staates nach Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz,
die Menschenrechte zu achten, zu schützen und auch die
sozialen Menschenrechte in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip durchsetzbar zu machen.
Die Bundestagsfraktion Die Linke hält es für längst
überfällig, dass Menschen ohne Aufenthalt endlich die
ihnen zustehenden sozialen Menschenrechte in Anspruch nehmen können. Wir sehen es ebenfalls als unabdingbar an, diesen Menschen auch eine Perspektive auf
eine Legalisierung ihrer Existenz zu eröffnen. Für mich
gilt der Grundsatz: Kein Mensch ist illegal.
({1})
Von Politikern heißt es oft, die Menschen in Deutschland seien für Legalisierungen wie in anderen europäischen Ländern nicht reif. Aber da täuschen sie sich.
Viele Menschen ohne Aufenthalt leben seit drei, fünf
oder sogar zehn Jahren mitten in unserer Gesellschaft.
Ohne die vielfältige Unterstützung, die sie meist heimlich von weiten Teilen der Gesellschaft - von Kirchenverbänden, Migrantencommunities, Nachbarn oder auch
Ärzten - erfahren, wäre ein Leben in dieser Illegalität
nicht möglich.
Diese Unterstützung ist aber nicht nur Ausdruck einer
humanitären Solidarität. Diese Menschen und mit ihnen
viele Kommunen und Städte in Deutschland haben
begriffen, dass man problembezogen und auch realitätsnah handeln muss, statt vor der Situation von Illegalisierten die Augen zu verschließen.
Ich bedanke mich.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 16/445 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 10. Februar 2006,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.