Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 3/14/2008

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Die Sitzung ist eröffnet. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich darf Sie bitten, sich von Ihren Plätzen zu erheben. ({0}) Am Montag dieser Woche ist unser ehemaliger Kollege Hans Engelhard im Alter von 73 Jahren nach langer, geduldig ertragener Krankheit verstorben. Hans Engelhard wurde am 16. September 1934 in München geboren und studierte nach seinem Abitur Rechtswissenschaften an den Universitäten Erlangen und München. Nach der zweiten juristischen Staatsprüfung begann er seine Berufslaufbahn als Anwalt in München. Bereits 1954 war er der Freien Demokratischen Partei beigetreten. 1970 wurde er Mitglied des Rats der Stadt München und bald auch Fraktionsvorsitzender sowie Vorsitzender der Münchner FDP. 1972 zog Hans Engelhard, der auch für das Amt des Münchner Oberbürgermeisters kandidiert hatte, erneut in den Stadtrat ein, wurde aber bereits im November desselben Jahres in den Bundestag gewählt und verzichtete im Dezember des gleichen Jahres auf sein kommunales Mandat. Im Deutschen Bundestag, dem Hans Engelhard bis zum Ablauf der 12. Wahlperiode 1994 angehörte, war er Mitglied des Rechtsausschusses, des Innenausschusses und der Parlamentarischen Kontrollkommission. Ab Januar 1977 war Hans Engelhard auch stellvertretender Vorsitzender der FDP-Fraktion, ein Amt, das er bis zu seiner Berufung zum Bundesminister 1982 innehatte. Hans Engelhard, der 14. Bundesminister der Justiz, übte sein Amt bis zu seinem Verzicht auf das Amt aus gesundheitlichen Gründen Ende 1990 aus und damit länger als alle bisherigen deutschen Justizminister. Engelhard, der sich eher als konservativer Liberaler verstand und stets darum bemüht war, einen Ausgleich zwischen den Sicherheitsinteressen und den Freiheitsrechten der Bürger herzustellen, hat sich bleibende Verdienste um die Erforschung der Rolle der Justiz in der Zeit des Nationalsozialismus erworben, unter anderem durch die von ihm angeregte Ausstellung „Justiz und Nationalsozialismus“. Hans Engelhard war als freundlich-zurückhaltender, bescheiden auftretender, aber äußerst sachkundiger Kollege über alle Fraktionsgrenzen hinweg anerkannt und geschätzt. Bleibende Verdienste hat er sich durch seine Rolle bei der verfassungsrechtlichen und justizpolitischen Bewältigung der deutschen Einheit erworben. Bei den Wahlen zum 13. Deutschen Bundestag musste er aus gesundheitlichen Gründen auf eine erneute Kandidatur verzichten; er schied mit Ablauf der Legislaturperiode aus dem Bundestag aus. Der Deutsche Bundestag wird sein Andenken in Ehren bewahren. Seiner Frau und seiner Familie sprechen wir unsere Anteilnahme aus. Sie haben sich zu Ehren des verstorbenen Kollegen von Ihren Plätzen erhoben. Ich danke Ihnen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Kollege Dr. Hans Georg Faust feiert heute seinen 60. Geburtstag. Im Namen des ganzen Hauses gratuliere ich ihm herzlich und wünsche ihm alles Gute! ({1}) Nun rufe ich die Tagesordnungspunkte 23 a und 23 b sowie den Zusatzpunkt 6 auf: 23 a) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur strukturellen Weiterentwicklung der Pflegeversicherung ({2}) - Drucksachen 16/7439, 16/7486 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit ({3}) - Drucksache 16/8525 Berichterstattung: Abgeordnete Willi Zylajew Heinz Lanfermann Redetext Präsident Dr. Norbert Lammert Elisabeth Scharfenberg - Bericht des Haushaltsausschusses ({4}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 16/8522 - Berichterstattung: Abgeordnete Ewald Schurer Norbert Barthle Dr. Claudia Winterstein Dr. Gesine Lötzsch Anja Hajduk b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({5}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Elisabeth Scharfenberg, Nicole Maisch, Birgitt Bender, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Finanzielle Nachhaltigkeit und Stärkung der Verbraucher - Für eine konsequent nutzerorientierte Pflegeversicherung - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, Klaus Ernst, Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Für eine humane und solidarische Pflegeabsicherung - zu dem Antrag der Abgeordneten Heinz Lanfermann, Daniel Bahr ({6}), Dr. Konrad Schily, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Für eine zukunftsfest und generationengerecht finanzierte, die Selbstbestimmung stärkende, transparente und unbürokratische Pflege - zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Vierter Bericht über die Entwicklung der Pflegeversicherung - Drucksachen 16/7136, 16/7472, 16/7491, 16/7772, 16/8525 Berichterstattung: Abgeordnete Willi Zylajew Heinz Lanfermann Elisabeth Scharfenberg ZP 6 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({7}) zu dem Antrag der Abgeordneten Heinz Lanfermann, Birgit Homburger, Daniel Bahr ({8}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Entbürokratisierung der Pflege vorantreiben Qualität und Transparenz der stationären Pflege erhöhen - Drucksachen 16/672, 16/6836 Berichterstattung: Abgeordneter Willi Zylajew Zu dem von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Pflege-Weiterentwicklungsgesetzes liegen jeweils ein Änderungsantrag und jeweils ein Entschließungsantrag der Fraktionen FDP, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst der Bundesministerin Ulla Schmidt das Wort. ({9})

Ulla Schmidt (Minister:in)

Politiker ID: 11002019

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem heute anstehenden Beschluss dieses Gesetzes bringen wir eine Debatte zum Abschluss, die nicht immer einfach war, mit deren Ergebnis ich aber sehr zufrieden bin. ({0}) Wir stärken die Pflegeversicherung, die sich bewährt und die vieles geleistet hat. Vor Einführung der Pflegeversicherung fielen Hunderttausende Menschen, die auf Pflege angewiesen waren, in die Sozialhilfe. Heute bewahren die Leistungen der Pflegeversicherung viele vor diesem Schicksal. Seit 1995 sind über 300 000 neue Arbeitsplätze im Bereich der Pflege entstanden. 2,1 Millionen Menschen erhalten Leistungen der Pflegeversicherung. Für mehr als 400 000 Menschen - es sind vor allen Dingen Frauen zahlt die Pflegeversicherung in die Rentenversicherung ein. Trotzdem gibt es eine Reihe von Herausforderungen, auf die wir uns einstellen müssen. Wer sich entschließt, einen Angehörigen zu pflegen, braucht dazu seine ganze Kraft und hat keine Zeit, zu Hinz und Kunz zu laufen, um die Papiere zusammenzubekommen. Er wendet viel Kraft und viel Zeit auf, nimmt Einschränkungen seines Lebens in Kauf. Lange Wege, bürokratische Anträge, Klärung der Zuständigkeit - das muss nicht sein. Hier werden wir die Menschen in Zukunft entlasten. ({1}) Mit den Pflegestützpunkten werden vernetzte, wohnortnahe Beratungsangebote entstehen. Fallmanager und Fallmanagerinnen werden den Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen als verlässliche Partner zur Seite stehen. Sie werden nicht nur beraten, sondern den Pflegefall während des gesamten Verlaufs begleiten: von der Entlassung aus dem Krankenhaus über Rehabilitationsmaßnahmen bis hin zur Pflege zu Hause oder in einer stationären Einrichtung. In den Pflegestützpunkten könBundesministerin Ulla Schmidt nen auch diejenigen Rat und Unterstützung finden, die die deutsche Sprache vielleicht nicht so gut beherrschen, die bei der Organisation der Pflege überfordert sind oder die ihre Rechte und Ansprüche nicht kennen. Für uns ist klar: Sprache, Herkunft und soziale Schicht dürfen kein Hindernis sein, seine Rechte als Versicherter wahrzunehmen. ({2}) Die Verantwortung für die Einführung der Pflegestützpunkte liegt bei den Ländern. Nun können und müssen die Länder zeigen, wie wichtig ihnen eine moderne Pflege ist. Ich muss gestehen, dass mir bei der Diskussion über die Pflegestützpunkte ein Zitat von Schopenhauer eingefallen ist: Gute Ideen werden zuerst verlacht, dann bekämpft und schließlich kopiert. ({3}) Ich bin sicher, dass wir erleben werden, wie sich die größten Kritiker der Pflegestützpunkte, wenn sich diese erst etabliert haben, zu Vätern und Müttern dieses Gedankens erklären werden. ({4}) Es ist ausdrücklich erwünscht, dass durch die Pflegestützpunkte die vorhandenen Strukturen weiterentwickelt werden, dass die ehrenamtlichen Mitarbeiter und die Selbsthilfegruppen eingebunden werden. Ich bin froh, dass wir es gemeinsam erreichen konnten, dass die Fördermittel für niedrigschwellige Pflege- und Betreuungsangebote von jetzt 20 Millionen Euro auf 50 Millionen Euro erhöht werden. Dieses Geld soll eingesetzt werden, um das bürgerschaftliche Engagement und das Engagement der Selbsthilfe im Bereich der Pflege zu fördern und damit die Pflege zu stärken. ({5}) Nehmen Angehörige beruflich eine Auszeit, um zu pflegen, werden für sechs Monate Sozialbeiträge übernommen. Außerdem können sich Angehörige, wenn jemand in ihrer Familie zum Pflegefall wird, für zehn Tage freistellen lassen, um kurzfristig die nötigsten Dinge zu organisieren. Damit stärken wir die Pflege in der Familie. Die Leistungen der Pflegeversicherung werden schrittweise erhöht und ab 2015 systematisch an die Preisentwicklung angepasst. Ein Aspekt ist mir dabei besonders wichtig: Der Betreuungsbedarf von demenzkranken, psychisch kranken und geistig behinderten Menschen wird erstmals als Leistung anerkannt. ({6}) Demenziell erkrankte und psychisch kranke Pflegebedürftige erhalten künftig einen monatlichen Betrag von 100 oder 200 Euro bei häuslicher Pflege - auch dann, wenn sie keine Pflegestufe haben -, um damit zusätzliche Hilfen finanzieren zu können. Ich bin sehr froh, dass wir auch in der stationären Versorgung dazu eine praktikable Lösung gefunden haben. Eine Erhöhung der Leistungen alleine würde zwar die Sozialhilfe entlasten, aber sie hätte nicht bewirkt, dass mehr Pflegekräfte für die Betreuung zur Verfügung stehen. Deshalb gehen wir mit der Pflegereform einen völlig neuen Weg: Erstmals werden durch die Pflegeversicherung zusätzliche Betreuungsassistenten in den stationären Einrichtungen für Menschen mit erhöhtem Betreuungsaufwand finanziert. Das hilft diesen Menschen direkt, weil die Angebote ausgeweitet werden und sie besser aktiviert werden können. Es entlastet aber auch die Altenpflegerinnen und Altenpfleger, die tagtäglich unter sehr starker Verdichtung der Aufgaben ihre Arbeit in den Einrichtungen verrichten müssen, und gibt ihnen Zeit, das zu tun, wofür sie diesen Beruf gewählt haben, nämlich den von ihnen betreuten Menschen Zuwendung zu geben. ({7}) Wir stärken die häusliche Pflege und fördern alternative Wohnformen. Pflegebedürftige können in Zukunft in Wohn- und Lebensgemeinschaften und auch dann, wenn sie im selben Haus oder in der Nachbarschaft wohnen, ihre Leistungen bündeln und Pflegeangebote gemeinsam nutzen. Das bedeutet Zeitgewinn, und Zeitgewinn bedeutet Zuwendung. Davon profitieren die Pflegebedürftigen und die Pflegenden gleichermaßen. Ich habe großen Respekt vor der Arbeit, die Frauen und Männer in Pflegeheimen leisten. Mehr als 90 Prozent von ihnen leisten gute und aufopferungsvolle Arbeit. Wenn etwas schiefläuft, dann liegt das in der Regel nicht an den Personen selber, sondern daran, wie eine Einrichtung organisiert und geführt ist. Wir wollen die Missstände auf ein Minimum reduzieren. Niemand kann garantieren, dass es keine Missstände gibt, aber wir wollen dagegen angehen. Die Qualitätsprüfungen in den Pflegeeinrichtungen werden künftig jährlich und in der Regel unangemeldet stattfinden. Was dabei zählt, ist die Qualität der Ergebnisse. Entscheidend für die zukünftige Qualitätsentwicklung ist die Transparenz der Pflegeberichte. Pflegebedürftige und ihre Angehörigen können sich in Zukunft verlässlich darüber informieren, ob ein Heim etwas taugt, zum Beispiel durch die Einführung eines Ampel- oder Sternesystems und dadurch, dass wir alle Einrichtungen - ob ambulant oder stationär - dazu verpflichten, die Prüfberichte in verständlicher Form öffentlich zugänglich zu machen. ({8}) So können schwarze Schafe schneller gefunden werden. Die Menschen können dann schlechte Einrichtungen oder Pflegedienste meiden. Das ist, glaube ich, der beste Weg, um diejenigen zu unterstützen, die tagtäglich für die Verbesserung der Qualität kämpfen. Jedes schwarze Schaf ist eines zu viel. Dagegen müssen wir angehen. Aber wir sollten nicht vergessen, dass die allermeisten Pflegerinnen und Pfleger in den Einrich15986 tungen eine großartige und verantwortungsvolle Arbeit leisten. ({9}) Deshalb ist die Gesellschaft ihnen zu Dank und Anerkennung verpflichtet. Ich glaube, ich spreche im Namen des gesamten Hauses, wenn ich diesen Menschen, die rund um die Uhr unermüdlich ihre Arbeit leisten, einen herzlichen Dank ausspreche. ({10}) Ich will nicht verschweigen, dass ich es gerne gesehen hätte, wenn die private Pflegeversicherung ihren Beitrag zur Finanzreform geleistet hätte. ({11}) Das bleibt für mich erst einmal unbefriedigend. Dennoch: Nennen Sie mir eine andere Reform in dieser Legislaturperiode, die so konkrete und spürbare Erleichterungen für die Menschen enthält, oder eine Reform, die Leistungsverbesserungen von insgesamt mehr als 15 Prozent mit sich bringt! ({12}) Das Gesetz, das wir heute verabschieden, ist ein Erfolg für die Menschen in unserem Land, die Pflegebedürftigen, die Angehörigen und die Ehrenamtlichen sowie für die Beschäftigten in den Pflegeeinrichtungen. Für uns ist wichtig, dass wir auch in der Pflegeversicherung auf dem Weg der solidarischen Absicherung der großen Lebensrisiken bleiben. Das tut der Gesellschaft und ihrem Zusammenhalt gut. Ich bedanke mich bei allen, die an den Diskussionen und Anhörungen in den Ausschüssen teilgenommen und daran mitgewirkt haben: bei den Koalitionsfraktionen, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie insbesondere beim Kollegen Seehofer und der Kollegin von der Leyen, die an der Erarbeitung des Gesetzentwurfs beteiligt waren. Vielen Dank. ({13})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nächster Redner ist der Kollege Heinz Lanfermann für die FDP-Fraktion. ({0})

Heinz Lanfermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002717, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das Lob für alle, die in der Pflege tätig sind, können wir sehr wohl mittragen. Das sage ich für die FDP-Fraktion ausdrücklich. ({0}) Gleichwohl steht heute nicht die grundlegende oder sogar die große Pflegereform zur Abstimmung, die die Koalition vor zweieinhalb Jahren vollmundig angekündigt hat, sondern nur die wenigen Punkte, auf die sich Union und SPD als kleinster gemeinsamer Nenner mit Mühe und Not einigen konnten. ({1}) Da mag sich die Gesundheitsministerin noch so viel Mühe geben, jede Leistungsänderung großzureden und jede Beitragserhöhung kleinzureden, da mag sich gleich eine ganze Reihe von Koalitionsrednern bemühen, jedes kleinste Detail als weltbewegenden Fortschritt zu verkünden, die schlichte Wahrheit, der unumstößliche Fakt ist: Die von der Großen Koalition versprochene Reform ist in ihrem allerwichtigsten Punkt gescheitert. Die dringend notwendige Finanzreform findet nicht statt. ({2}) Die Koalition hat es nicht geschafft. Sie hat genau genommen vor sich selbst kapituliert. Noch schlimmer: Sie hat, die Kanzlerin vorneweg, ein Versprechen gebrochen. Am 7. Juli 2006 versprach Frau Merkel in der Bild-Zeitung: Wir werden die Pflegeversicherung im nächsten Jahr reformieren, aber Beitragserhöhungen stehen nicht auf der Tagessordnung. Das sieht heute anders aus. Wie sagt Frau Merkel immer: Versprochen, gebrochen. ({3}) Der Pflegeversicherungsbeitrag wird ab dem 1. Juli 2008 von 1,7 auf 1,95 Prozent, für Kinderlose sogar von 1,95 auf 2,2 Prozent erhöht. Beim durchschnittlichen Arbeitnehmereinkommen in Deutschland von gut 27 000 Euro sind das 34 Euro im Jahr. Von wegen, es koste immer nur so viel wie eine Tasse Kaffee, Frau Schmidt! ({4}) Auch die Arbeitgeber müssen 34 Euro drauflegen. Das ist nach dem „Kinderlosenstrafbeitrag“ und dem zusätzlichen dreizehnten Beitrag im Jahre 2006 schon die dritte Beitragserhöhung innerhalb von drei Jahren. ({5}) Es gibt noch ein weiteres gebrochenes Versprechen. Die jungen Abgeordneten der Unionsfraktion haben gegen ihre Überzeugung der vermurksten Gesundheitsreform nur zugestimmt, weil ihnen von ihrem Fraktionsvorsitzenden Herrn Kauder versprochen wurde, die Union werde nur dann eine Pflegereform mittragen, wenn zumindest ein Einstieg in eine Kapitaldeckung stattfindet. Heute aber soll ein Gesetz verabschiedet werden, mit dem das nicht stattfindet, mit dem sogar neue finanzielle Lasten aufgebaut und zulasten der jüngeren Generationen in die Zukunft verschoben werden. Nach dem Motto „Augen zu und durch“ und der sehr wackeligen Aussage, nun habe man Geld für die nächsten fünf, sechs Jahre, lässt man das Wichtigste liegen. So bleibt es beim Umlageverfahren, und so werden in der Zukunft massive Beitragssatzerhöhungen und/oder empfindliche Leistungskürzungen - je nach Wahl, wahrscheinlich beides - schon aufgrund des demografischen Wandels unvermeidbar sein. Wir alle wissen es, und die Bürger sprechen uns darauf an: Bis 2050 gibt es dreimal so viele Pflegebedürftige, und die Zahl der Beitragszahler geht um ein Drittel zurück. Man kann das hochrechnen: Das bedeutet mindestens eine Verdopplung des Beitragssatzes auf über 4 Prozent, wahrscheinlich eher auf über 5 oder 6 Prozent. Das Forschungszentrum Generationenverträge der Uni Freiburg hat ausgerechnet, was die junge Generation jeder Tag kostet, ({6}) der vergeht, ohne dass die notwendige Umstellung vorgenommen wird: 29 Millionen Euro pro Tag, also - das ist leicht nachzurechnen - über 10 Milliarden Euro pro Jahr. Wenn wir jetzt weitere zwei, drei Jahre brauchen, bis wir diese Umstellung mit einer neuen, besseren Regierung vornehmen können, dann sind es über 30 Milliarden Euro, Frau Schmidt, die in Ihrer Bilanz zulasten der jungen Generation stehen. ({7}) Die FDP will einen Umstieg in eine kapitalgedeckte Versicherung, bei der die Jungen ansparen können, damit sie im Alter als Generation für ihre eigenen Kosten aufkommen. Nur so entgeht man der demografischen Falle. ({8}) Meine Damen und Herren, die Regierung und die sie tragenden Fraktionen haben sehr viel Redezeit, die Opposition hat sehr wenig. Daher verweise ich auf den Antrag der FDP-Fraktion „Für eine zukunftsfest und generationengerecht finanzierte, die Selbstbestimmung stärkende, transparente und unbürokratische Pflege“ auf Drucksache 16/7491, der alle unsere Vorschläge zur Zukunft der Pflege enthält. Ebenso sehr zur Lektüre zu empfehlen ist unser Antrag „Entbürokratisierung der Pflege vorantreiben - Qualität und Transparenz der stationären Pflege erhöhen“, Drucksache 16/672. Wenn man diesem Antrag folgte, Frau Schmidt, behöbe man viele Missstände. Man würde mehr Transparenz schaffen, für weniger Bürokratie sorgen und den Pflegenden, die zum Teil 30 Prozent, oft sogar mehr ihrer Zeit für Bürokratie verbrauchen, die Gelegenheit geben, diese Zeit für die Zuwendung am Pflegebett einzusetzen. ({9}) Frau Schmidt hat wieder einmal viel zu den Pflegestützpunkten gesprochen. Das ist ein etwas martialischer Begriff; ich glaube, es ist so eine Art Basislager für die Eroberung der Pflege von Staats wegen. ({10}) Sie sind überflüssig, schädlich und teuer. Was für die Gesundheitsreform der Gesundheitsfonds ist, sind für die Pflegereform die Pflegestützpunkte. ({11}) Besonders perfide ist, was Frau Schmidt mit den bestehenden Angeboten vorhat. Unter den süßen Klängen der Melodie „Allen wird geholfen, alles aus einer Hand, alle sind eingeladen, alle können mitmachen, bestehende Strukturen werden einbezogen“ wird in Wirklichkeit mit berechnender Kälte allen, die schon in der Pflegeberatung tätig sind, nach und nach nur die Alternative angeboten: ({12}) Mach mit, und zwar unter unserer Aufsicht und Leitung, oder sieh zu, wo du bleibst, wenn wir hier eine eigene, alles abdeckende Struktur aufbauen. ({13}) Tatsache ist, dass die Pflegestützpunkte sehr umstritten waren und dass die Unionsfraktion sie nie gewollt hat. Es war nicht schön für Sie, dass Frau von der Leyen und Herr Seehofer dieser Sache erst einmal zugestimmt haben, auch wenn sie hinterher leichte Absetzbewegungen gemacht haben. Es gab eine Anhörung dazu hier im Bundestag; die allermeisten Experten und Betroffenen, bis auf ganz wenige Ausnahmen, haben gesagt: Das taugt nichts. Wir sind gegen die Pflegestützpunkte. Wir wollen sie nicht; sie sind wirklich schlecht. - Nur im Gesundheitsministerium und in der SPD-Fraktion haben es einige mit bemerkenswerter Autosuggestion geschafft, das Ergebnis dieser Anhörung umzudeuten. ({14}) Herr Zöller hat diese Vorgehensweise in der Welt vom 21. Januar 2008 - das muss ich heute hier zitieren - geschildert: Das, was Frau Schmidt macht, hat mit kollegialer Zusammenarbeit nichts mehr zu tun. Sie trickst und täuscht, was das Zeug hält. Beispiel Pflegereform: Frau Schmidt weiß, dass wir die Pflegestützpunkte ablehnen, die ihr Gesetzentwurf vorsieht. Trotzdem schreibt sie in den Pflegebericht der Bundesregierung: Pflegestützpunkte werden begrüßt. Und dann veranlasst ihr Ministerium noch vor dem Kabinettsentscheid eine Pressemeldung, in der steht, dass das Kabinett Pflegestützpunkte begrüßt. Vielleicht sollten Sie sich darüber noch einmal unterhalten. Ich meine, die Union hat sich hier über den Tisch ziehen lassen. Sie glaubt, weil die Anschubfinanzierung dividiert durch die Summe pro Einheit 1 200 beträgt, es gäbe nur 1 200 Pflegestützpunkte. Sie waren in den Verhandlungen schon einmal weiter und wollten nur ein paar Versuchsstützpunkte pro Land zugestehen; das ist aber Vergangenheit. Nach einer Tickermeldung vom 7. März 2008 sagt Frau Schmidt, es werden wohl 2 500 bis 3 000. ({15}) Das ist ja auch ganz einfach. Die Anschubfinanzierung macht sowieso nur Peanuts aus gegenüber den Folgekosten, die über die Jahre entstehen und von den Pflegekassen, also den Beitragszahlern, den Kommunen und den Ländern gezahlt werden. Was Sie da erreicht haben, bringt nicht viel. ({16}) Dass Sie die Flasche Salzsäure nicht trinken wollten, kann ich verstehen; aber eine halbe Flasche macht Sie auch nicht glücklich. ({17}) Es ist aber noch schlimmer. Niemand weiß, was kommen soll. Was ist eigentlich ein Pflegestützpunkt? Wie sieht er aus? Wer und wie viele Personen sitzen da, und von wem wird das Ganze bezahlt? ({18}) Ist das öffentlich-rechtliches Kaffeekochen? Was soll das sein? Nirgendwo steht etwas dazu, weder im Gesetzentwurf noch in der Begründung. Auf welchen Strukturen in den Ländern soll aufgebaut werden? Hier soll vernetzt, aufgebaut und koordiniert werden. Ich habe die Ministerin zweimal angeschrieben und gefragt: Welche Institutionen gibt es in den Ländern, auf denen man aufbaut? Wann gibt man noch etwas hinzu? - Ich habe zweimal eine höchst lapidare Antwort von Frau CaspersMerk bekommen. ({19}) Darin steht nichts zu den Inhalten. Sie wissen es auch nicht. Natürlich wird es Länder geben, die Pflegestützpunkte einrichten. Man muss nur ein anderes Schild an einer Institution anbringen, um in den Genuss der Anschubfinanzierung zu kommen; das ist ganz einfach. Das gibt das Gesetz her. Dadurch, dass Sie dies den Ländern übertragen, geben Sie sogar die Kontrolle aus der Hand. Das wird nicht zu Ihrem Vorteil, sondern zu Ihrem Nachteil sein. Sie werden es erleben. ({20}) Sie haben gesagt, dass die Pflegestützpunkte 800 Millionen Euro kosten. 290 Millionen Euro sind für Pflegeberater vorgesehen. Wo steht denn, dass es so viele Pflegeberater gibt? Außerdem ist zu lesen, dass für je 25 Menschen in den Heimen eine Kraft bezahlt werde, die die aufwendige Betreuung von Altersverwirrten und psychisch Kranken in die Hand nimmt.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege!

Heinz Lanfermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002717, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das sind doch, wenn der Arbeitgeber brutto 57 000 Euro zahlt, bei 3 500 Stellen rund 200 Millionen Euro. Das müssen Sie alles einrechnen.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Lanfermann!

Heinz Lanfermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002717, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Danke, Herr Präsident, ich habe das Zeichen gesehen. - Ich will noch sagen: Dieses Gesetz ist auch technisch schlecht gemacht, weil jeder herauslesen kann, was er will, und weil man auf jede Zahl, mit der man etwas anfangen könnte, verzichtet hat. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Annette Widmann-Mauz ist die nächste Rednerin für die Fraktion CDU/CSU. ({0})

Annette Widmann-Mauz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003259, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! 1995 hat die damalige unionsgeführte Bundesregierung die Pflegeversicherung eingeführt. Das war ein Meilenstein in der Sozialversicherungsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. ({0}) Heute, dreizehn Jahre später, wird diese Erfolgsgeschichte fortgeschrieben. Mit der Umsetzung des vorliegenden Gesetzentwurfs werden erstmals seit Einführung der Pflegeversicherung Leistungen angehoben und neue Leistungen eingeführt. Außerdem wird eine regelmäßige Anpassung der Leistungsbeträge verankert. Auch wenn sich die Lebenserwartung der Menschen, der Altersaufbau der Gesellschaft und die familiären Strukturen ändern oder neue Krankheitsbilder entstehen: Das Leistungsversprechen, das die Pflegeversicherung gibt, hat auch in Zukunft Bestand; darauf können sich die Menschen verlassen. ({1}) Für die junge Generation ist dies auf Dauer nur möglich, wenn wir ein Mehr an Kapitaldeckung in dieses System einführen. Wir wissen, dass das mit dieser Koalition nicht möglich ist. Aber, lieber Kollege Lanfermann, im Gegensatz zu Ihnen verfahren wir nicht nach dem Motto, dass, wenn wir unser Ziel nicht erreichen können, die Menschen, die pflegebedürftig sind, darunter leiden müssen. Das ist mir uns nicht zu machen. ({2}) Dass wir heute in der abschließenden Lesung so weit gekommen sind, ist das Ergebnis intensiver, erfolgreicher parlamentarischer Beratungen; denn über den ursprünglichen Gesetzentwurf hinaus ist es gelungen, zahlreiche Leistungsverbesserungen zugunsten der Pflegebedürftigen, ihrer Angehörigen und der Pflegekräfte auf den Weg zu bringen. Im Zentrum dieser Verhandlungen standen für die Unionsfraktion, CDU und CSU, drei Grundsätze: mehr Qualität und Leistungsgerechtigkeit, so viel Transparenz wie möglich und so wenig Bürokratie wie nötig. ({3}) Warum? Bei dieser Reform geht es nämlich in allererster Linie um die Menschen, um die Pflegebedürftigen, ihre Angehörigen, die Pflegekräfte und diejenigen Bürgerinnen und Bürger, die ehrenamtlich in diesem Bereich ganz Hervorragendes und Außergewöhnliches leisten. ({4}) Jeder Euro, der über höhere Beiträge von den Beitragszahlern aufgebracht wird, muss verantwortungsbewusst zu allererst genau bei diesen Menschen ankommen. Die Pflegeversicherung ist gut, aber sie stößt seit geraumer Zeit an ihre Grenzen, finanziell und bezogen auf ihre Leistungen. Damit sie gut bleibt, handelt die Große Koalition. Sie schafft jetzt das, worüber Rot-Grün sieben lange Jahre nur diskutiert hat. ({5}) Alle wussten es, aber geschehen ist fast nichts: Ich denke an die Demenz als Altersrisiko, das ständig zunimmt. Denken wir zum Beispiel an eine ältere Frau, die auf einmal nicht mehr weiß, wie sie nach Hause kommt, die vergisst, dass der Herd noch angeschaltet ist, und die nahe Angehörige nicht mehr erkennt und damit nicht mehr von Fremden unterscheiden kann. Was will ich damit sagen? Demenzkranke brauchen weniger medizinische Pflege im engeren Sinn, sie brauchen vielmehr Betreuung und Hilfe im Alltag - und diese häufig rund um die Uhr. Das stellt insbesondere für die Angehörigen eine wahnsinnig große Belastung dar. Sie pflegen zum Teil unter kaum vorstellbaren körperlichen, aber auch seelischen Belastungen aufopferungsvoll ihre Angehörigen. Nicht selten muss ihr eigenes Leben auf die Bedürfnisse der Angehörigen ausgerichtet werden, oft auch noch nach oder neben der eigenen Erwerbstätigkeit und der Versorgung der Kinder. Das verdient unseren ganzen Respekt und unsere ganze Anerkennung. Genau diesen Menschen wollen wir mit dem vorgelegten Gesetzentwurf helfen. Wir wollen sie weiter entlasten und unterstützen. ({6}) Mit diesem Gesetzentwurf werden in Zukunft Demenzerkrankte, die noch nicht in der Pflegeversicherung eingestuft sind, zum ersten Mal Leistungen erhalten. Wir werden die Leistungen für die Demenzkranken insgesamt aufstocken. Waren es bislang im ambulanten Bereich maximal 460 Euro im Jahr, werden es in Zukunft bis zu 200 Euro im Monat und damit bis zu 2 400 Euro pro Jahr sein. 560 Millionen Euro mehr stehen allein im ambulanten Bereich dafür zur Verfügung. Die Angehörigen erhalten damit die Möglichkeit, zusätzliche Hilfen zu sich ins Haus zu holen. Das ist wichtig; denn wir wissen doch: Pflege ist weiblich. Pflegekräfte, die ehrenamtlich Engagierten, die pflegenden Angehörigen - es sind meist die Frauen, die diese Arbeit leisten. Gerade für sie, die häufig nebenbei so viel anderes zu leisten und zu meistern haben, ist dies ein wirklich wesentlicher und längst überfälliger Schritt. ({7}) Demenz macht nicht an der eigenen Haustür halt. Nach Schätzung des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen weisen 50 Prozent der Heimbewohner mittlerweile die Diagnose Demenz auf. Auch für sie musste endlich etwas getan werden. Manchmal hört man zwar, die Heimbewohner seien rund um die Uhr untergebracht, sie seien versorgt und deshalb müsse man nichts mehr tun, doch „versorgt“ heißt eben nicht unbedingt „angemessen betreut“. Wir als Union haben uns nicht damit zufrieden gegeben, dass die zusätzlichen Leistungen nur auf den ambulanten Bereich beschränkt bleiben. Wir wollten, dass auch Demenzerkrankte in den Heimen zusätzliche Betreuung erfahren können. ({8}) Deshalb sind wir sehr zufrieden, dass es in den Beratungen gelungen ist, auch noch zusätzliche Betreuungsangebote für Demenzkranke in den Heimen festzuschreiben. In Zukunft können zusätzliche Betreuungskräfte für Demenzkranke in den Heimen eingestellt werden. Damit wird das bisherige Pflegepersonal von diesen Aufgaben entlastet, und neue sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze können entstehen. Wir wollten, dass das Geld nicht einfach in höheren Pflegesätzen versickert. Nein, wir wollten mit nachgewiesenem zusätzlichem Personal auch zusätzliche Betreuungsangebote schaffen. Dies ist wichtig. Jetzt können zum Beispiel Tätigkeiten wie das gemeinsame Tischdecken oder das gemeinsame Kartoffelschälen mit Betreuung für Demenzkranke angeboten werden. Das hilft diesen Menschen, das ist sinnvoll und gut und trägt zur Steigerung der Lebensqualität in den Heimen bei. ({9}) Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, der Gang in ein Pflegeheim ist für jeden eine schwere Entscheidung. Natürlich wollen alle in der Regel nur das Beste für ihre Angehörigen. Aber was tun, wenn die Kinder oder die Enkel nicht mehr am Heimatort wohnen oder ihre Berufstätigkeit oder finanzielle Gründe es nicht erlauben, zu Hause zu pflegen, oder wenn es diese nahen Angehörigen nicht mehr gibt, die die Versorgung übernehmen könnten? Wenn es aus welchen Gründen auch immer zu einer Entscheidung für einen Umzug in ein Heim kommt, dann sollte diese Entscheidung - sie fällt schwer genug - wenigstens gut informiert und guten Gewissens getroffen werden können. Deshalb tragen wir Mitverantwortung dafür, dass die größtmögliche Transparenz nicht nur über die Lage und die Ausstattung der Zimmer gewährleistet wird, sondern vor allen Dingen Informationen über die Pflegequalität und die Angebote der Heime zur Verfügung stehen. Deshalb wollen wir, dass die Ergebnisse von Qualitätsprüfungen zukünftig veröffentlicht werden und in verständlicher Art und Weise für jedermann einsehbar sind. Das kann auch im Internet geschehen. Aber auch im Pflegeheim selbst sind zukünftig eine Zusammenfassung dieser Prüfberichte des Medizinischen Dienstes und die zugrunde liegende Bewertungssystematik transparent und verständlich zugänglich zu machen. ({10}) Das kann je nach Qualitätsstandard mit Sternchen wie im Hotel geschehen. Was für uns zur Orientierung bei jeder Hotelbuchung selbstverständlich ist, was wir erwarten, das sollte doch bei der Auswahl eines Pflegeheims, das ja immerhin der Lebensmittelpunkt werden soll, nur billig sein. Deshalb wollen wir diese Transparenz. Es ist notwendig, dass sie umgesetzt wird. ({11}) Aber nur mit besserer Transparenz, die ohne Zweifel nötig ist, ist es nicht getan. Wir als Unionsfraktion konnten uns nicht damit abfinden, dass ein Pflegeheim nur alle fünf Jahre kontrolliert wird. Auch im Gesetzentwurf waren nur dreijährige Prüfungen vorgesehen. Wir wollten, dass jedes Jahr unangemeldet Kontrollen in die Heime kommen. Das ist wichtig und stärkt die Sicherheit und die Transparenz. ({12}) Mit dem jetzt zur Abstimmung vorliegenden Entwurf sind die Heime transparenter geworden. Die Transparenz ist nämlich der beste Schutz vor Missständen. Das sind wir den älteren Menschen in unserem Land schuldig. ({13}) Dieses Mehr an Transparenz darf umgekehrt nicht zu noch mehr Bürokratie für die Pflegekräfte vor Ort führen. Die haben nämlich schon genug davon. ({14}) Im Vordergrund der Prüfung werden deshalb in Zukunft die Pflegequalität und damit das Ergebnis der Pflege am Menschen stehen. Wichtig ist doch nicht in erster Linie das, was in den Bergen von Aktenordnern an Strukturund Prozessqualität dokumentiert ist. Wichtig sind doch das körperliche und seelische Wohlbefinden und die Lebensqualität, die durch die Pflege beim Pflegebedürftigen ankommen. ({15}) Schließlich soll die Pflegekraft in ihrer Arbeit doch zuerst am Menschen und nicht am Schreibtisch tätig sein. ({16}) Der Umzug fürs Heim bringt häufig auch eine große Veränderung bei der ärztlichen Versorgung mit sich. Natürlich wünscht sich fast jeder, dass der vertraute langjährige Hausarzt, der so manchen ein Leben lang begleitet hat, nun auch in der neuen Umgebung die ärztliche Versorgung übernimmt. Aber wir wissen auch: Das ist nicht immer möglich. Deshalb ist es so notwendig, dass die ärztliche und gerade auch die fachärztliche Versorgung in Zukunft gewährleistet bleiben. Denn es ist notwendig, dass auch zum Beispiel ein Augenarzt oder ein Hals-Nasen-Ohren-Arzt die Menschen im Alter, deren Sehkraft und Hörfähigkeit nachlassen, an der Gemeinschaft teilhaben lassen können, die auch im Pflegeheim stattfindet. Uns als Union ist es sehr wichtig gewesen, dass das Arzt-Patienten-Verhältnis, welches ein besonderes Vertrauensverhältnis ist, nicht gestört wird und die freie Arztwahl im Pflegeheim weiterhin möglich ist. Deshalb setzen wir auf Kooperationen mit niedergelassenen Ärzten oder Arztgruppen - ob selbstständig oder unterstützt durch die Kassenärztlichen Vereinigungen. Erst wenn solche Kooperationen, die gut und notwendig sind, nicht funktionieren, kann auch ein angestellter Arzt im Heim Menschen versorgen. Eines muss aber ganz klar sein: Die freie Arztwahl muss erhalten bleiben. Kein Arzt darf zugewiesen werden. Darauf legen wir großen Wert und dies ist jetzt mit diesem Gesetz gesichert. ({17}) Die Pflegebedürftigkeit kann jeden jederzeit treffen direkt oder indirekt. Die Angehörigen spielen dann eine wirklich wichtige Rolle und leisten sehr viel. Deshalb haben wir uns mit vielen Veränderungen in diesem Gesetzentwurf ganz besonders für sie eingesetzt. Denken wir an die sechsmonatige Pflegezeit und an den Anspruch, wieder in den Beruf einsteigen zu können. Denken wir an den Freistellungsanspruch, der jetzt gewährt wird. ({18}) Wir verkürzen darüber hinaus die Wartezeit auf die Kurzzeitpflege oder die Verhinderungspflege für diejenigen, die neu in eine solche Situation kommen. In der Verhinderungspflege besteht häufig kein Rentenanspruch mehr, was den Angehörigen das Leben schwer macht. Wir wollen ihnen an dieser Stelle helfen, indem wir wichtige weitere Neuerungen für pflegende Angehörige schaffen. ({19}) Für die Pflegekräfte wollen wir die Attraktivität des Berufs steigern. Was von den professionellen Pflegekräften geleistet wird, ist wirklich herausragend. Körperlich und psychisch ist dieser Beruf schwer. Wir wollen, dass er gerade für junge Menschen attraktiver wird. Deshalb eröffnen wir die Möglichkeit, dass ausgewählte ärztliche Tätigkeiten nicht nur delegiert, sondern auch eigenverantwortlich von Pflegekräften durchgeführt werden können. Das stärkt die Verantwortung und damit die Attraktivität des Berufs. Wir werden auch die Zukunftsperspektive für eine Tätigkeit als Einzelpflegekraft stärken. Man kann dann sozusagen sein eigener Herr oder seine eigene Frau sein. Damit entstehen neue, flexible Einsatzfelder für Pflegekräfte in der Praxis. Dies ist wichtig, um dem Beruf auch weitere Perspektiven zu eröffnen. ({20}) Der Gesetzentwurf hat im Parlament nochmals deutliche Verbesserungen erfahren. Damit werden allen Beteiligten - den Betroffenen, den Angehörigen und den Pflegekräften - neue Wege aufgezeigt. Deshalb geht mein Dank an diesem Tag nicht nur an die Kolleginnen und Kollegen der Fraktionen, insbesondere meiner Fraktion, sondern auch an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Fraktionen und des Ministeriums.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin, Sie können jetzt nicht mehr vollständig vortragen, wem im Einzelnen Dank gebührt. ({0})

Annette Widmann-Mauz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003259, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Den Dank habe ich jetzt schon allgemein zum Ausdruck gebracht; personenbezogen würde es in der Tat länger dauern. Aber es ist wichtig, diesen Dank zu sagen; denn ohne die tatkräftige Unterstützung wäre das Ergebnis nicht erreicht worden. Deshalb müssen wir uns die Zeit dafür nehmen. ({0}) Es ist ein guter Gesetzentwurf, der den Menschen in unserem Lande, denjenigen, die das Schicksal in die Lage gebracht hat, pflegebedürftig zu sein, weiterhilft. Deshalb bitte ich Sie um Ihre Zustimmung. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das Wort erhält nun der Kollege Ilja Seifert, Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Obwohl der Grundansatz dieses Gesetzes zur „Weiterverwirrung“ der Pflegeversicherung völlig verquast ist, konnte die Bundesregierung es nicht verhindern, wenigstens ein paar positive Pünktchen einzubauen. Das liegt nicht zuletzt daran, dass sich Menschen, die wirklich auf diese Hilfe angewiesen sind, ordentlich gewehrt haben. Es liegt auch daran, dass die Opposition - insbesondere die linke Opposition - immer wieder gesagt hat: Ihr müsst an die Menschen denken und nicht an die Strukturen. Es lässt sich beispielsweise nicht leugnen, dass es vernünftig ist, dass die Menschen dann, wenn sie für ein halbes Jahr eine Pflegeauszeit nehmen, zumindest weiter sozialversichert sind. ({0}) - Das ist ein positiver Aspekt, den ich gar nicht leugnen will. Die Grundrichtung ist aber falsch. Jeder Mensch weiß: Wenn ich eine neue Sozialleistung ordentlich gestalten will, dann muss ich zuerst das Ziel definieren. Das Ziel zu definieren heißt, einen vernünftigen Begriff dessen in das Gesetz zu schreiben, was eigentlich gemacht werden soll. Gemacht werden soll nicht etwa „satt, sauber, trocken“. Gemacht werden soll vielmehr, dass Menschen auch dann, wenn sie inkontinent oder dement sind oder auch dann, wenn sie andere ständige Hilfe brauchen, am Leben der Gemeinschaft teilhaben können müssen. ({1}) Ob Teilhabe an der Gemeinschaft heißt, mit der Familie unterwegs zu sein, an großen Veranstaltungen teilzuhaben oder bei einer Sportveranstaltung dabei zu sein, sei dahingestellt. Sie haben aber nicht einmal den Ansatz einer Teilhabeermöglichung eingebaut. Sie haben nicht einmal einen Ansatz für Selbstbestimmung eingebaut. Sie haben nicht einmal einen Ansatz für den würdevollen Umgang mit Menschen in dieser schwierigen Situation eingefügt. Sie haben keinen vernünftigen Pflegebegriff. ({2}) Den wollen Sie irgendwann am Sankt-Nimmerleins-Tag kurz vor Weihnachten präsentieren, dann, wenn das Gesetz längst in Kraft ist. Das kann doch nicht vernünftig sein. ({3}) Sie wissen, dass man das Ziel erst einmal definieren muss, bevor man die Wege festlegt. Danach kann man fragen, was es kostet und woher das Geld kommt. Sie machen es gerade umgekehrt. Sie überlegen eine Erhöhung des Beitrags um 0,25 Prozentpunkte und wollen dann sehen, wie weit sie damit kommen. Was haben Sie nun Tolles eingerichtet? Sie wollen jetzt Pflegestützpunkte einrichten. Sie haben uns hier ein Theaterstück vorgespielt, das vom Feinsten war. Als wenn das der Knackpunkt einer vernünftigen Pflegeorientierung wäre! Der Knackpunkt einer vernünftigen Pflegeorientierung ist nicht, dass ich mehr darüber beraten werde, was es alles nicht gibt. Der Knackpunkt einer vernünftigen Pflegeversicherung ist, dass ich die Hilfe dann bekomme, wenn ich sie brauche. Das ist ein Unterschied. ({4}) Über was sollen die Beraterinnen und Berater die Menschen denn beraten, wenn es vorn und hinten nicht reicht? ({5}) - Das kann ich auch sagen, ohne ausgebildeter Berater zu sein. Sie haben tolle Sachen in das Gesetz hineingeschrieben. Sie wollen eine Dynamisierung der Leistungen einführen. Meine Damen und Herren, damit Sie wissen, wovon wir reden: Diese Dynamisierung soll in der übernächsten Wahlperiode in Kraft treten. Bis dahin gibt es noch so viele Möglichkeiten, das wieder zu verhindern, dass man gar nicht weiß, wie ernst man das nehmen soll. ({6}) Sie haben jetzt vorgeschlagen, eine kleine Erhöhung der Leistungen vorzunehmen. Diese gleicht nicht einmal die Inflationsverluste aus. ({7}) Sie wissen das so gut wie ich und reden daran vorbei. Die Leistungserhöhung reicht auf gar keinen Fall aus, um das immer wieder postulierte Motto „ambulant vor stationär“ umzusetzen. Was Sie stärken, sind wieder die Strukturen in Einrichtungen, in denen die Menschen mehr oder weniger verwahrt werden, in denen sie jedenfalls nicht selbstbestimmt leben. Die Selbstbestimmung hat ihre Grenzen beim Dienstplan des Personals. Im Zentrum stehen nicht die Bedürfnisse derjenigen, um die es eigentlich geht, die Pflegebedürftigen. Das Schlimme ist, dass Sie es ebenso gut wissen wie ich und es nicht richtig ändern. Das ist das, was ich Ihnen wirklich vorwerfe. Hinter der Nebelwand dieser Riesendiskussion über die Pflegestützpunkte haben Sie geschickt versteckt, dass es ein paar richtige Sauereien gibt. Jetzt gibt es nach diesem Gesetz plötzlich Pflegekräfte; es gibt nicht Pflegefachkräfte, es gibt Pflegekräfte. ({8}) Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass das das Einfallstor dafür sein wird, die sittenwidrigen Arbeitsbedingungen, die polnische Frauen in Deutschland schon jetzt haben, zu legalisieren, ({9}) dass es in Zukunft legal und geradezu vom Gesetz gestützt sein wird, dass Frauen für drei Monate hierher kommen und, getarnt als Haushaltshilfe, für 700 oder 800 Euro im Monat ({10}) - das ist doch jetzt schon so! - tätig sind, 24 Stunden am Tag, und zwar nicht als Haushaltshilfe, sondern als Pflegekraft par excellence. Ich weiß, dass es viele Menschen gibt, die momentan keine andere Möglichkeit haben, ihre Pflegesituation zu verbessern. Aber das ist trotzdem sittenwidrig, und ich möchte, dass die Menschen, die diese Arbeit leisten, ordentlich bezahlt werden. ({11}) - Aber Sie machen es nicht. Dann legen Sie einen Entschließungsantrag dazu vor! Wenn wir dem zustimmten, hieße das nicht gleich, dass er gut wäre. Er machte aber zumindest deutlich, dass Sie wissen, dass Ihr Gesetz nicht nur zu kurz gesprungen ist, sondern sogar in die falsche Richtung geht. Sie sagen immerhin, dass Sie wissen, in welche Richtung man springen müsste. Erlauben Sie mir bitte noch ein Wort zur Finanzierung. Herr Lanfermann möchte immer, dass die Pflegeversicherung kapitalgedeckt ist. Jeder weiß, dass die Pflegeversicherung so etwas wie die kleine Schwester der gesetzlichen Krankenversicherung ist. Deshalb hätten wir bei dieser kleinen Schwester der großen GKV die wunderbare Möglichkeit gehabt, über fünf Jahre einmal auszuprobieren, wie eine Bürgerinnen- und Bürgerversicherung funktionieren würde. Dann hätten wir hier alle Fehler, die sich beim Übergang in ein solches System natürlich einschleichen, testen und korrigieren können. Selbst Sie von der Union müssten eigentlich dafür sein. Denn wenn sich wirklich herausstellen sollte, dass dieses System nicht funktioniert, dann hätten Sie das auf diesem Wege bewiesen und es nicht nur aus ideologischen Gründen behauptet. Lassen Sie uns diesen Weg doch wirklich einmal gehen! Dieser Weg ist nicht zulasten der Bürgerinnen und Bürger, die Hilfe brauchen, nicht zulasten der Menschen, die Hilfe anbieten, und auch nicht zulasten derjenigen, die das bezahlen. Letzter Satz. Ich wundere mich, dass Sie sich eine Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen leisten, dass Sie aber, wenn sie ein Konzept für einen teilhabeorientierten Pflegebegriff auf den Tisch legt, dieses sofort in den Papierkorb werfen. Pfui! ({12})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Nun erhält die Kollegin Elisabeth Scharfenberg, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort, der ich vor Beginn ihrer Rede herzlich zu ihrem heutigen Geburtstag gratulieren möchte, verbunden mit allen guten Wünschen des ganzen Hauses. ({0})

Elisabeth Scharfenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003835, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vorab vielen Dank für die guten Wünsche; die kann ich heute gut gebrauchen. ({0}) Herr Präsident! Frau Ministerin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir stehen heute am Ende eines langen Gesetzgebungsverfahrens zu einer kleinen PfleElisabeth Scharfenberg gereform. Die Große Koalition hat uns zu Beginn ihrer gemeinsamen Leidenszeit weitreichende Versprechungen gemacht. Im Koalitionsvertrag von Union und SPD ist die Rede von einem „Gesetz zur Sicherung einer nachhaltigen und gerechten Finanzierung der Pflegeversicherung“. Dieses Gesetz sollte bis zum Sommer 2006 vorgelegt werden. Wir haben jetzt Mitte März 2008, also fast zwei Jahre später. ({1}) Wenn wir glauben, dass wir heute das uns angekündigte große Gesetz der Pflegereform verabschieden, dann täuschen wir uns. ({2}) Denn das Pflege-Weiterentwicklungsgesetz enthält weder den versprochenen Finanzausgleich zwischen sozialer und privater Pflegeversicherung, noch macht es die Pflegeversicherung auch nur ansatzweise nachhaltiger oder gerechter. ({3}) Beschämend für die Große Koalition ist es, dass auch in Ihrem Entschließungsantrag, der heute hier zur Abstimmung steht, jede Äußerung, wie es mit der Finanzierung der Pflegeversicherung weitergehen soll, fehlt nichts, keine einzige Aussage. Verehrte Kolleginnen und Kollegen von Union und SPD, welche Schlüsse sollen wir denn daraus ziehen? Ich denke, es gibt nur einen Schluss: Eine gemeinsame nachhaltige Finanzreform ist in dieser politischen Konstellation einfach unmöglich. ({4}) Nicht einmal für eine gemeinsame Willensbekundung reicht es aus. Diese nicht stattfindende Finanzreform wird die Abgeordneten der nächsten Legislaturperiode noch schön beschäftigen, wissen wir doch alle, dass die Kolleginnen und Kollegen der Großen Koalition hier auf Zeit und somit auf veränderte politische Mehrheiten spielen. ({5}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir verabschieden heute das Pflege-Weiterentwicklungsgesetz, ein Gesetz, in das viele Menschen große Hoffnungen setzen. Auch wenn das, was wir als Reform nun in den Händen halten, weit hinter unseren Erwartungen zurückbleibt, ist für uns Grüne dennoch klar: Diese Reform enthält durchaus auch gute Seiten und Ansätze. ({6}) So begrüßen wir es etwa ausdrücklich, dass Einrichtungen künftig einmal pro Jahr und unangemeldet kontrolliert werden sollen. Wir begrüßen es auch, dass die Prüfberichte künftig veröffentlicht werden sollen. Das sind wichtige und absolut notwendige Schritte hin zu mehr Transparenz und Qualität für die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen. Für uns Grüne ist auch klar, dass die Pflegestützpunkte und Pflegeberater wie auch die Pflegezeit im Grundsatz richtig sind. Ebenso ist aber auch klar, dass die Umsetzung dieser Punkte schlecht gemacht und eben nicht im Sinne der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen ist. ({7}) Leider wurde hier die Große Koalition zur großen Konfusion. Bei den Verhandlungen stand nämlich nicht etwa die Frage, was die Betroffenen brauchen, um ein möglichst selbstbestimmtes Leben auch bei Pflegebedürftigkeit führen zu können, im Vordergrund. ({8}) Ich möchte an dieser Stelle nochmals in unser aller Gedächtnis rufen, dass dieses Gesetz für pflegebedürftige Menschen gemacht wird. Das rückt bei dieser Reform etwas in die zweite Reihe. ({9}) Denn im Vordergrund stand wie so oft bei den Entscheidungen der Großen Koalition, das jeweils eigene politische Profil zu behalten und sich so schon jetzt für die nächsten Wahlen gut aufzustellen. Kompromisse weit und breit - auch bei den Pflegestützpunkten. Hier wird es nun besonders spannend. Die Länder sollen nunmehr die Entscheidungshoheit darüber haben, ob sie in ihrem Land solche Stützpunkte haben wollen oder ob sie sie nicht haben wollen, und wenn ja, dann sollen es die Kassen mal schön umsetzen. Es ist vom Grundsatz her gut, wenn die Länder bei den Stützpunkten stärker eingebunden werden. Aber dass sich die Länder auf Kosten des Solidarsystems einen schlanken Fuß machen können, das ist nicht in Ordnung. ({10}) Außerdem laufen wir - wie schon beim Heimrecht - Gefahr, dass es hier zu einer föderalen Zersplitterung kommen wird. Es ist richtig und wichtig, vorhandene Hilfsangebote zu bündeln und zu vernetzen, Bürokratie abzubauen und doppelte Strukturen zu vermeiden. Aber - selbst Frau Caspers-Merk äußerte sich dazu schon kritisch - nur Rheinland-Pfalz bietet derzeit eine ausreichende, flächendeckende und damit wohnortnahe Beratungsstruktur. ({11}) Im Flächenland Baden-Württemberg zum Beispiel gibt es lediglich 50 Beratungsstellen. Originalton Frau CaspersMerk - da bin ich ganz an ihrer Seite -: Es darf nicht sein, dass eine gute Pflegeberatung vom Wohnort abhängig ist. ({12}) Frau Ministerin, mit der heutigen Verabschiedung des Gesetzes können wir uns auch gleich von diesem hehren Wunsch mit verabschieden. Es wird zukünftig vom Wohnort abhängen, ob ich im Falle einer Pflegebedürftigkeit Zugang zu einem Stützpunkt habe oder nicht. ({13}) Auch beginnt schon jetzt das Hauen und Stechen. In Nordrhein-Westfalen tun schon jetzt Ärzte kund, die Pflegestützpunkte seien eine klare Deprofessionalisierung ärztlicher Tätigkeit. ({14}) Die Hausärzte dort sehen sich als Case- und Care-Manager sowie Pflegestützpunkt in Personalunion. Ich kenne keinen Hausarzt, der zusätzlich als Pflegeberater diese umfassende Aufgabe, wie sie im Gesetz zu Recht vorgesehen ist, erfüllen könnte. Das bedingt allein schon der Mangel an Zeit. ({15}) Mal schauen, was uns hier an Diskussionen noch ins Haus stehen wird. Auf Bundesebene können wir nun nichts mehr ändern, aber wir müssen alles daransetzen, auf Landesebene mitzugestalten. Noch schlimmer ist allerdings, dass die neue Leistung der Pflegeberatung weiterhin allein in der Hand der Kassen liegen wird. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition, Sie können es noch so oft beteuern: Fakt ist, diese Beratung wird nicht unabhängig sein. Unabhängigkeit aber wäre die wichtigste Voraussetzung, damit die Betroffenen wirkliches Vertrauen zu denen aufbauen können, die ihnen helfen sollen. Es handelt sich hier um eine Lebenssituation, in der die Betroffenen tiefe Einblicke in ihre Privatsphäre, ihr familiäres und auch finanzielles Umfeld geben. Beim Thema Pflegezeit haben sich zwischen Union und SPD tiefe Gräben aufgetan. Die Pflegezeit, die heute beschlossen wird, wird ohne reale Bedeutung bleiben. Einen Lohnersatz wird es bei dieser Pflegezeit nicht geben. Die Pflegezeit kann nur in Betrieben mit mehr als 15 Mitarbeitern in Anspruch genommen werden, und sie bleibt auf nahe Angehörige beschränkt. Ich frage mich: Wer bleibt da eigentlich noch übrig? - Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist ein Feigenblattprogramm für Besserverdienende. ({16}) Denn wer soll es sich leisten können, mal eben sechs Monate aus dem Beruf auszusteigen? - Ich prophezeie Ihnen, bereits nach zwei Wochen liegt ein Berg von Rechnungen auf dem Küchentisch; denn das ganz normale Leben mit allen finanziellen Verpflichtungen, die die Angehörigen haben, geht weiter. So geht es eben nicht. Ihr Modell der Pflegezeit geht an jeglichem realen Leben vorbei. ({17}) Lassen Sie mich noch einmal einen Blick in den Entschließungsantrag der Koalition werfen. Dort wird mit knappen Worten darauf verwiesen, dass die Überarbeitung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs natürlich sehr wichtig sei, aber dass erst einmal unterschiedliche Modelle erprobt werden müssten. Im Klartext heißt das für uns: Darauf können wir lange warten. Weiter steht da, man würde gerne das Persönliche Budget für Menschen mit Behinderungen so weiterentwickeln, dass sie auch Pflegeleistungen als Budget erhalten können. Aber man müsste dazu erst dieses und jenes prüfen und modellhaft erproben. Im Klartext: Auch darauf können wir lange warten. Zu guter Letzt lese ich noch den Appell an alle Akteure in der Pflege, sie mögen doch die Neuregelungen zur Qualitätssicherung auch bitte umsetzen. Entschuldigung, aber haben Sie so wenig Vertrauen in Ihre eigenen Gesetze, dass Sie um deren Einhaltung bitten müssen? ({18}) Lassen Sie mich abschließend sagen: Diese Reform trägt den Titel „Weiterentwicklungsgesetz“. Inhalt und Titel passen aber nicht zusammen. Thema leider verfehlt! Es ist nun einmal so: Ohne Mut zur Veränderung kann es keine Weiterentwicklung geben. Der Mut hat die Koalition aber auf halber Strecke verlassen. Es gibt viele gute Ansätze, aber die Umsetzung erfolgt leider sehr enttäuschend. Deshalb verdient diese kleine und für die betroffenen Menschen enttäuschende Reform diesen großen Namen nicht. Vielen Dank. ({19})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Elke Ferner ist die nächste Rednerin für die Fraktion der SPD. ({0})

Elke Ferner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000535, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Ich möchte zuallererst den vielen pflegenden Angehörigen danken, die unter wirklich schwierigen Bedingungen Tag und Nacht, häufig auch neben ihrem Beruf und der Verantwortung für die eigene Familie, für ihre pflegebedürftigen Angehörigen da sind. ({0}) Zwei Drittel der Pflegebedürftigen werden in der Häuslichkeit gepflegt. Das zeigt, wie die Wünsche der Pflegebedürftigen aussehen. Ich möchte aber auch dem Personal in den ambulanten und stationären Einrichtungen danken. Sie verrichten ihre Arbeit sehr verantwortungsvoll. In vielen Fällen werden sie leider schlecht bezahlt, aber trotzdem arbeiten sie mit viel Engagement, Einfühlungsvermögen, Mitgefühl und Mitmenschlichkeit. Sie sind für die pflegebedürftigen Menschen da. Es gibt nicht sehr viele, die dazu bereit sind, eine solche nicht nur körperlich, sondern auch psychisch anstrengende Arbeit zu leisten. Dafür sollten wir an dieser Stelle noch einmal Dankeschön sagen. ({1}) Die 13 Jahre Pflegeversicherung sind eine Erfolgsgeschichte. Ulla Schmidt hat zu Beginn ja schon einiges dazu gesagt. Ich möchte noch einmal deutlich machen, dass mehr als 2 Millionen Pflegebedürftige jeden Monat pünktlich ihre Leistungen erhalten und mittlerweile fast 800 000 Menschen in der Pflege arbeiten und eine bezahlte - wenn auch nicht immer gut bezahlte - Beschäftigung in diesem Bereich haben. Ich glaube, dass wir darauf in Zukunft ein weiteres Augenmerk richten sollten. Wir werden mit dieser Pflegereform die häusliche Pflege mit besseren Leistungen und besseren Möglichkeiten zur Entlastung der pflegenden Angehörigen stärken. Der besondere Betreuungsbedarf für Menschen mit eingeschränkter Alltagskompetenz wird durch zusätzliche Leistungen anerkannt. Bei der Rede von Frau Widmann-Mauz ist mir sofort die Eingangsbemerkung von Ulla Schmidt eingefallen: Was war zuerst da, die Henne oder das Ei? Wer wollte etwas haben, und wer wollte das nicht? - Zum Schluss ist es dann ja oft so, dass diejenigen, die etwas zuerst nicht haben wollten, in erster Reihe stehen, wenn es darum geht, das Lob dafür einzuheimsen. Frau Reimann wird nachher noch näher darauf eingehen. ({2}) Wir stärken das Prinzip Reha vor Pflege. Wir verbessern die Schnittstellen zwischen Krankenhäusern, Rehaeinrichtungen und der Pflege. Wir führen eine Pflegezeit ein, die für nahe Angehörige bis zu sechs Monate betragen kann. Frau Scharfenberg, Sie hätten in Ihrem Redebeitrag fairerweise hinzufügen können, dass der Begriff der nahen Angehörigen hier nicht ausschließlich Ehepartner und direkte Verwandte umfasst, sondern das der Begriff schon zeitgemäß gefasst ist. Ich muss sagen: Die Voraussetzungen für die Pflegezeit sind keine anderen als beispielsweise die bei der Elternzeit. Hier hat Ihre Fraktion zugestimmt. Man kann darüber diskutieren, ob die Pflege von Angehörigen möglicherweise eher wieder die Frauen trifft. Die Diskussion, die wir heute aufgrund der aktuellen Lage führen, sieht nun einmal so aus, dass insbesondere die Töchter oder Schwiegertöchter vor der Frage stehen: Muss ich meinen Angehörigen in eine stationäre Einrichtung geben, oder höre ich mit meinem Job komplett auf, um die häusliche Pflege zu ermöglichen? Wir haben eine Pflegezeit mit voller sozialer Absicherung und mit der Garantie, in den alten Beruf zurückzukehren, beschlossen. Ich glaube, das sollte man anerkennen. Das ist sicherlich nicht das Optimum, aber eine deutliche Verbesserung gegenüber dem Status quo. ({3}) Wir hätten uns gewünscht, dass die Union unserem Vorschlag, den wir auch im Gesetzgebungsverfahren eingebracht haben, zugestimmt hätte, eine kurzfristige bezahlte Freistellung einzuführen, damit eben die Angehörigen dann, wenn ein Pflegefall zu erwarten ist, die Zeit haben, um die notwendigen Maßnahmen zu veranlassen. Wir alle wissen, dass in dieser Situation viele Angehörige das Gefühl haben, es werde nichts mehr so sein, wie es war. Sie wissen eben nicht, wo sie die Unterstützung bekommen, die sie brauchen, damit sie ihren Angehörigen die Pflege zukommen lassen können, die sie sich selber wünschen. Hier werden wir nicht nachlassen. Wir werden diesen Punkt 2009 noch einmal aufgreifen. Es ist zwar jetzt eine Chance vertan worden. Aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben. ({4}) Wir wissen um die Sorgen und Ängste der Menschen in einer solch schwierigen Situation. Ich weiß, dass dieser Vorschlag in der Bevölkerung große Unterstützung erfährt. Uns ist es nicht gelungen, für das Problem der dauerhaften Finanzierung eine Lösung zu finden. Das spiegelt im Prinzip die Diskussion wider, die wir auch bei der Gesundheitsreform geführt haben. Wir stehen nach wie vor für eine Bürgerversicherung Pflege, weil wir der Auffassung sind, dass nur so eine tragfähige und solidarische Finanzierung dauerhaft gesichert sein kann. ({5}) Ich bedauere es sehr, dass die Union von der Zusage, die sie im Koalitionsvertrag gegeben hat, leider wieder abgerückt ist. ({6}) - Nein, im Koalitionsvertrag steht nichts von einem Prüfauftrag. Frau Widmann-Mauz, manchmal hilft es, zu lesen. ({7}) - Im Koalitionsvertrag steht, dass ein Risikoausgleich zwischen privater und gesetzlicher Pflegeversicherung erfolgen soll. ({8}) Das haben Sie jetzt nicht mehr gewollt. Wir können das nicht erzwingen. Aber man darf zumindest daran erinnern, was Sie vor Regierungsbeginn zugesagt haben und was Sie in der Regierungszeit in der Koalition bereit sind, umzusetzen. ({9}) Mit dieser Reform konnten wir das Problem der ungerechten Verteilung der Risiken nicht lösen. Die soziale Pflegeversicherung muss pro 100 Versicherte Leistungen für 2,8 Pflegebedürftige finanzieren, während die private Pflegeversicherung Leistungen für nur 1,3 Pflegebedürftige bereitstellen muss. Daran sieht man, dass die Risiken unterschiedlich verteilt sind. Da es sich hier um einen Versicherungszweig handelt, der die absolut identischen Leistungen finanziert, macht es keinen Sinn, die Risiken so unterschiedlich zu verteilen. ({10}) Ein weiterer Punkt, den ich noch ansprechen möchte, ist die Verbesserung der Pflegequalität. Auch da, Frau Widmann-Mauz, sollte man deutlich machen, dass dies eine gemeinsame Aktion war. Sie haben den Vorschlag eingebracht, aber auch wir haben diesen Vorschlag gemacht. Beide Vorschläge haben sich getroffen. Ich bin froh darüber, dass ab 2011 in den Pflegeeinrichtungen jährlich und grundsätzlich unangemeldet Regelprüfungen stattfinden. ({11}) Da, wo der Medizinische Dienst Mängel erkennt, wird nicht wie heute ein Prüfbericht vorgelegt, den keiner versteht, sondern dieser Bericht muss transparent sein und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden sowie in verständlicher Form abgefasst sein. Vor allen Dingen ist neu, dass der Medizinische Dienst den Einrichtungen Empfehlungen geben wird, wie das, was falsch gelaufen ist, verbessert werden kann, damit bei der nächsten Prüfung die Qualität wieder in Ordnung ist. Es gehören aber auch die Weiterentwicklung der Expertenstandards und eine gerechte Bezahlung des Personals dazu. Ich bin sehr froh, dass bereits im Regierungsentwurf als Voraussetzung dafür, dass zwischen Kassen und Einrichtungen überhaupt Verträge geschlossen werden können, die ortsübliche Bezahlung vorgesehen war. Eben ist gesagt worden, Pflegestützpunkte brächten nichts. Herr Seifert, Frau Scharfenberg, man kann ja darüber streiten, wie diese nachher ausgestaltet werden sollen. Aber eines ist doch klar: Wenn ich in einer extrem schwierigen Situation, in der teilweise sehr schnell entschieden werden muss, nicht den völligen Überblick darüber habe, welche Hilfsangebote es gibt und wie ich die Häuslichkeit erhalten kann - auch wenn die Wohnung im Moment vielleicht noch nicht so umgebaut ist, wie es sein müsste -, dann brauche ich eine umfassende und unabhängige Beratung. Jetzt kann man darüber streiten, wer unabhängig ist. Wirklich unabhängig sind auch die Kommunen nicht; denn spätestens dann, wenn SGB-XII-Leistungen gewährt werden sollen, können auch die Kommunen nicht mehr ganz unabhängig sein. Aber da wir in Zukunft alle Akteure, alle Leistungsträger unter einem Dach haben - sie erstellen dann gemeinsam einen Hilfeplan und schauen nach einem vernünftigen Ausgleich; es geht um maßgeschneiderte Hilfepläne für die Betroffenen -, wird meiner Meinung nach die Pflege besser organisiert und mehr an den Interessen und Bedürfnissen der Menschen - auch an dem Interesse an gesellschaftlicher Teilhabe orientiert sein, als das heute der Fall ist. ({12}) Ich bin der festen Überzeugung, dass diese Pflegereform ein großer Erfolg für die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen ist. Wir lassen uns das nicht kleinreden, auch wenn man sich an der einen oder anderen Stelle vielleicht noch mehr Leistungen vorstellen kann. Ich würde mir wünschen, dass auch die Dinge, die vor dem Hintergrund einer älter werdenden Gesellschaft jenseits der Pflegeversicherung notwendig sind, auf der kommunalen Ebene und der Landesebene befördert werden: dass Wohnumfelder geschaffen werden, die es ermöglichen, dass die Häuslichkeit weiterhin bestehen bleibt, dass eine soziale Infrastruktur geschaffen wird, die die Menschen darin unterstützt, in ihrer gewohnten Umgebung bleiben zu können und gleichzeitig gesellschaftlich teilhaben zu können, dass sie im Alter menschenwürdig und liebevoll gepflegt werden und dass auch ein Sterben in Würde möglich ist. In diesem Sinne wird die Pflegereform ein großer Erfolg sein. Auch ich möchte mich bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Ministeriums und der Fraktionen bedanken, die uns darin unterstützt haben, diese Reform auf den Weg zu bringen. Vielen Dank. ({13})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Daniel Bahr erhält nun das Wort für die FDP-Fraktion. ({0})

Daniel Bahr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Pflegereform ist erneut ein Beispiel dafür, dass eine Große Koalition eben nicht die großen Probleme anpackt. Wie schon bei der Gesundheitsreform ist es Ihnen auch mit dieser Pflegereform nicht gelungen, die Probleme, die es vor dem Hintergrund einer alternden Bevölkerung bei der Finanzierung unserer sozialen Sicherungssysteme gibt, wirklich anzupacken. Im Gegenteil: Wie bei der Gesundheitsreform schieben Sie bei der Pflegereform erneut die Lasten auf kommende Generationen. Daniel Bahr ({0}) ({1}) Der beste Beleg dafür, dass Sie schlechte Gesetze machen, ist die Pflegereform; denn in dieser Pflegereform müssen Sie die Dinge, die Sie in der Gesundheitsreform vereinbart haben, schon wieder korrigieren. Ich möchte etwas ansprechen, was bisher noch keine Rolle spielte, was aber in diesem Gesetzentwurf enthalten ist. Sie haben in der Gesundheitsreform vorgesehen, dass Ärzte bei selbstverschuldeten Krankheiten Behandlungen den Krankenkassen melden sollen; das ist der sogenannte Petzparagraf. Dieser Petzparagraf muss nun noch einmal in der Pflegereform geregelt werden. Er erschüttert das so schützenswerte Arzt-Patienten-Verhältnis. Wir von der FDP-Fraktion, wir Liberalen im Deutschen Bundestag, lehnen diesen Petzparagrafen ab, weil wir glauben, dass er sich gegen die Grundrechte von Patienten und Ärzten richtet. Dies ist ein Angriff auf die ärztliche Schweigepflicht und das verfassungsrechtlich geschützte Patientengeheimnis. ({2}) Das so wichtige Vertrauensverhältnis zwischen Ärzten und Patienten wird durch einen solchen Petzparagrafen untergraben, wenn die Ärzte quasi zu Meldern für die Krankenkassen werden. Ich glaube auch nicht, dass dies wirklich denen dient, die sich als Jugendliche vielleicht durch ein Piercing eine Infektion zugezogen haben und die dann Angst haben, zum Arzt zu gehen und sich behandeln zu lassen, weil sie die Konsequenzen befürchten, wenn der Arzt dies an die Krankenkasse meldet. Wir haben daher einen praktikablen Vorschlag vorgelegt, wie der Arzt etwas melden soll, wenn der Patient eingewilligt hat. Die entscheidende Voraussetzung muss sein, dass der Patient der Meldung an die Krankenkasse zustimmt. Wenn der Patient nicht einwilligt, kann der Arzt die Auskunft gegenüber der gesetzlichen Krankenversicherung verweigern. Dann müsste das privat behandelt, das heißt, privat bezahlt werden. Das ist ein praktikabler Weg. Damit schützen wir das Arzt-Patienten-Verhältnis. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Bahr, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Spahn?

Daniel Bahr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, die gestatte ich.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Bitte.

Jens Spahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003638, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Bahr, können Sie mir erklären, warum die FDP an dieser Stelle die Meldepflicht für Ärzte ablehnt, während sie in einem Antrag zur Genitalverstümmelung, den wir in dieser Woche ebenfalls beraten haben, die Bundesregierung bittet, zu prüfen, ob eine Meldepflicht für Ärztinnen und Ärzte eingeführt werden kann? Wie kommt diese unterschiedliche Bewertung hinsichtlich der Abwägung von Schweige- und Meldepflicht zustande? ({0})

Daniel Bahr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Lieber Herr Kollege Spahn, wir haben schon im Ausschuss ausführlich darüber diskutiert. Ich habe Ihnen den Unterschied schon erklärt. Wenn Sie den Antrag richtig lesen, sehen Sie, dass wir lediglich eine Prüfung beantragt haben und außerdem selbst erhebliche Bedenken hinsichtlich einer Meldepflicht haben. ({0}) Zwischen diesen beiden Sachverhalten besteht ein erheblicher Unterschied: Bei der Genitalverstümmelung geht es möglicherweise um ein Verbrechen an einer Person. Es geht darum, die Person davor zu schützen. Bei Ihrem Vorschlag geht es dagegen um den Schutz der Solidargemeinschaft - das ist ein berechtigtes Anliegen vor Kosten, die sie nicht zu verantworten hat. Eine Meldepflicht würde hier das wichtige Arzt-Patienten-Verhältnis erschüttern. Deshalb kann man diese beiden Sachverhalte überhaupt nicht miteinander vergleichen. ({1}) Ich will noch etwas zur Pflegereform sagen. Die Kollegin Widmann-Mauz hat gesagt, dass die Einführung der Pflegeversicherung 1994 ein Meilenstein war. ({2}) Die Pflegeversicherung, deren Einführung von SchwarzGelb und der SPD getragen wurde, hat Strukturen geschaffen, die den Pflegebedürftigen zugutekommen. Wir wollen gar nicht in Abrede stellen, dass damals etwas auf den Weg gebracht worden ist. Wir müssen heute aber erkennen - das wussten wir übrigens schon 1994 -, dass die Finanzierung der Pflegeversicherung über eine Umlage - über die laufenden Einnahmen werden die laufenden Ausgaben gedeckt - ein Riesenfehler war. ({3}) Das höre ich sonst auch von Unionskollegen. Wir hätten jetzt die Zeit gehabt, diesen Fehler von 1994 zu korrigieren, anstatt ihn fortbestehen zu lassen, was Sie jetzt tun. Die Einführung der Pflegeversicherung war, was die Finanzierung betrifft, kein Meilenstein; im Gegenteil. ({4}) Diesen Fehler setzen Sie fort: Sie weiten die Leistungen aus, zum Beispiel auf den Bereich der Demenzerkrankungen. Sie machen eine Leistungsdynamisierung. All das ist nötig; ich will das gar nicht in Abrede stellen. ({5}) Daniel Bahr ({6}) Da Sie die Finanzierungsfrage nicht gelöst haben, vergrößern Sie das Problem. Die Erhöhung der Beiträge um 0,25 Prozentpunkte wird allenfalls bis 2012 ausreichen. Das hat Ihr Kollege, Herr Zöller, selbst kritisiert. Die Finanzierungsprobleme werden durch Ihre Reform nicht gelöst, sondern der kommenden Generation aufgelastet und damit weiter verschärft. In Richtung SPD möchte ich sagen: Man muss den Hut davor ziehen, dass Sie in der rot-grünen Koalition im Bereich der Altersversorgung einen historischen Schritt vollzogen haben. Der damalige Sozialminister, Walter Riester, hat den Bürgerinnen und Bürgern signalisiert, dass sie sich auf das umlagefinanzierte Rentensystem nicht verlassen können, weil wir eine alternde Bevölkerung haben, weil wir immer mehr Ältere und immer weniger Jüngere haben. Das Gleiche gilt doch aber auch für die Pflege: Wir wissen, dass sich die Zahl der Pflegebedürftigen verdreifachen wird und die Zahl der jungen Beitragszahler auf zwei Drittel sinken wird. Das heißt, dass wir in dem Umlagesystem „Pflege“ die gleichen Probleme wie in dem Umlagesystem „Rente“ haben werden. Wenn Sie das, was Sie mit der RiesterRente gemacht haben, konsequenterweise auch bei der Pflege gemacht hätten, hätten wir den Hut davor gezogen; denn die Riester-Rente war eine historische Leistung. Damit haben Sie eine Botschaft an die Bevölkerung gesendet. Jetzt hingegen täuschen Sie die Bevölkerung, weil Sie ihr suggerieren, die Pflege sei in Zukunft sicher. In Wahrheit kommen gewaltige Probleme auf uns zu. ({7}) Frau Ministerin Schmidt, deswegen werden Sie in den Geschichtsbüchern gemeinsam mit Herrn Blüm stehen. ({8}) Sie und Ihr Ministerium haben zwar genauso wie Herr Blüm die Probleme, die sich aus einer alternden Bevölkerung ergeben, erkannt, aber trotzdem die Augen davor verschlossen. Dieses Problem wird uns in einigen Jahren einholen, ({9}) und deswegen werden Sie, anstatt mit Herrn Riester in einem Kapitel zu stehen, in einem Kapitel mit Herrn Blüm stehen. Frau Ferner und Frau Scharfenberg, Sie haben so viel dazu gesagt. Ich frage mich: Was haben Sie eigentlich in den sieben Jahren rot-grüner Regierung gemacht? Frau Ministerin Schmidt ist seit 2001 Gesundheitsministerin. Auch sie hatte sieben Jahre Zeit, um etwas auf den Weg zu bringen, legt aber erst jetzt einen schwachen Vorschlag zur Reform der Pflegeversicherung vor. Durch die Bürgerversicherung, wie Sie sie nennen, letztlich also durch die „Einheitskasse Pflege“, können die Probleme der alternden Bevölkerung nicht gelöst werden. ({10}) Im Gegenteil, dadurch werden die bestehenden Probleme noch verschärft. Als ob durch 10 Prozent mehr in einem System, das bereits heute Defizite produziert, in ein paar Jahren die Probleme von 100 Prozent der Bevölkerung gelöst werden könnten! Das kann doch wirklich niemand glauben. ({11}) Wir haben erlebt, dass in der privaten Pflegeversicherung als Vorsorgemaßnahme im Hinblick auf die Probleme der alternden Bevölkerung mittlerweile Altersrückstellungen in Höhe von 16 Milliarden Euro aufgebaut wurden. Gleichzeitig wurde der Beitragssatz zur umlagefinanzierten Pflegeversicherung erhöht. Dieser Beitragssatz wird übrigens noch weiter steigen. Ein Defizit jagt das andere. ({12}) Die Probleme der alternden Bevölkerung können durch Einführung einer „Einheitskasse Pflege“, die die Linke hier im Parlament vorschlägt, nicht gelöst werden. Diese Probleme können nur durch einen Systemwechsel zur Kapitaldeckung, den die FDP vorschlägt, gelöst werden. Herzlichen Dank. ({13})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Das wäre ja zu schön gewesen, aber Zwischenfragen kann ich nach Ablauf der Redezeit aus hoffentlich jedermann nachvollziehbaren Gründen nur schwerlich zulassen. ({0}) - Ja. Auch ich bin in einem leicht depressiven Zustand. Da müssen wir gemeinsam durch. Nun hat die Kollegin Maria Eichhorn für die CDU/ CSU-Fraktion das Wort. ({1})

Maria Eichhorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000449, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Reform der sozialen Pflegeversicherung ist eine gute Botschaft für Millionen von Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen in diesem Land. Mit den beschlossenen Verbesserungen des Leistungsspektrums erfüllt die Große Koalition eine zentrale Zusage. Die Leistungsfähigkeit der Pflegeversicherung wird erhalten und weiterMaria Eichhorn entwickelt. Die beschlossenen Leistungsverbesserungen bedeuten vor allem eine Qualitätssteigerung im Bereich der Pflege. Mit unserem heutigen Beschluss wird einem Anliegen Rechnung getragen, das uns schon sehr lange bewegt: der Einbeziehung demenziell Erkrankter. ({0}) Sie hat neben den finanziellen Aspekten auch eine nicht zu unterschätzende gesellschaftspolitische Dimension. Bisher löste die Diagnose Demenz zumeist ein unangebrachtes Schamgefühl und Schweigen aus. Durch die Pflegereform wird nunmehr ein Beitrag dazu geleistet, das Phänomen Demenz weiter zu enttabuisieren. Frau Ferner, ich bin sehr froh darüber, dass es uns gelungen ist, mit unseren Änderungsanträgen dafür zu sorgen, dass Demenzkranke nicht nur im ambulanten Bereich, sondern auch im stationären Bereich einbezogen und unterstützt werden. ({1}) Das ist eine für alle Beteiligten besonders gute Botschaft. Die Leistungsverbesserungen werden vor allem Frauen zugutekommen. 80 Prozent der pflegenden Angehörigen sind Töchter, Schwiegertöchter, Mütter oder dem Pflegebedürftigen sonst nahestehende Frauen. Ihnen und allen professionellen sowie ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern in den ambulanten und stationären Pflegeeinrichtungen gilt unser Dank. ({2}) Ihre gesellschaftlich oftmals viel zu gering erachtete, aber aufopferungsvolle Arbeit verdient unseren vollen Respekt und unsere praktische Unterstützung. ({3})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin Eichhorn, nun möchte der Kollege Spieth gerne Ihre Redezeit durch eine Zwischenfrage verlängern. ({0})

Maria Eichhorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000449, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte schön.

Frank Spieth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003849, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Ich bedanke mich, dass Sie mir die Möglichkeit geben, eine Frage zu stellen. Frau Eichhorn, Sie haben sich gerade bei den in den Pflegeeinrichtungen Tätigen bedankt; das unterstütze ich ausdrücklich. Bei aller Wertschätzung muss ich Sie aber fragen: Warum hat die Große Koalition darauf verzichtet, die Leistungsbeträge, die in den Pflegestufen I und II im stationären Bereich gewährt werden, zu erhöhen? Sie werden frühestens - ich betone: frühestens - im Jahre 2015 erhöht; jedenfalls steht das so im Gesetz. Halten Sie das angesichts Ihrer Dankesworte wirklich für angemessen? Denn unter dem Strich haben davon die im stationären Bereich Beschäftigten und auch die zu Pflegenden nichts. ({0})

Maria Eichhorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000449, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Spieth, Sie wissen genau, dass diese Reform der Pflegeversicherung unter dem Motto „ambulant vor stationär“ steht. ({0}) Wir wollten zunächst einmal und in erster Linie denjenigen, die im ambulanten Bereich tätig sind, helfen. Das heißt allerdings nicht, dass wir durch weitere Maßnahmen zur Qualitätsverbesserung und Entbürokratisierung nicht auch im stationären Bereich erhebliche Anstrengungen unternehmen, die dazu beitragen, dass die Pflegekräfte entlastet werden. ({1}) In diesem Zusammenhang verweise ich auf zwei Neuerungen: Zur weiteren Stärkung der häuslichen Pflege haben Pflegekräfte in Zukunft bereits nach sechs Monaten Anspruch auf Erholungsurlaub. Bisher betrug die Wartezeit für die erstmalige Inanspruchnahme einer Ersatzpflegekraft doppelt so lange, nämlich zwölf Monate. Das ist eine echte Hilfe. Künftig werden pflegenden Angehörigen auch in der Urlaubszeit Rentenversicherungsbeiträge gutgeschrieben. ({2}) Diese Regelung kommt vor allem denjenigen zugute, die Angehörige über einen langen Zeitraum pflegen. Beide Neuerungen sind Ausdruck unserer Wertschätzung der Pflegepersonen. Die Reform, Herr Spieth, wird den Grundsatz „ambulant vor stationär“ stärken. ({3}) Damit entsprechen wir dem Bedürfnis der Pflegebedürftigen, so lange wie möglich in ihrer gewohnten Umgebung, im Kreis ihrer Verwandten und Freunde zu bleiben. Auch in diesem Zusammenhang nur ein Beispiel: Die in den Schlussberatungen vereinbarte Erhöhung der Fördermittel für alternative Wohnformen sowie für ambulante und teilstationäre Hausgemeinschaften leistet einen wichtigen Beitrag zur Weiterentwicklung der Versorgungsstrukturen. Wenn sich durch passgenaue niedrigschwellige Betreuungsangebote die Verlagerung ins Pflegeheim vermeiden lässt, umso besser! Die Reform verbessert auch die Voraussetzungen für Prävention und Rehabilitation in der Pflege. Bereits durch die Gesundheitsreform wurde mit der Rehabilitation auch die geriatrische Rehabilitation zur Pflichtleis16000 tung der Krankenkassen. Künftig drohen Sanktionen, wenn die Krankenkasse nicht innerhalb einer gewissen Frist eine notwendige Rehabilitationsmaßnahme genehmigt und durchführen lässt. Der Betrag, den die Krankenkasse in diesem Fall an die Pflegekasse zu überweisen hat, wurde im Vergleich zum früheren Entwurf verdoppelt. Dies verbessert im Interesse der rehabedürftigen Patienten die Wirksamkeit der Regelung. ({4}) Mit der Pflegereform gehen wir einen Schritt weiter. Die stationären Pflegeeinrichtungen bekommen künftig eine Bonuszahlung, wenn sie mit aktivierender Pflege und Reha eine Verbesserung des Gesundheitszustands des Pflegebedürftigen erzielen. In den meisten Heimen ist eine gute Pflege selbstverständlich leisten die Pflegekräfte hervorragende Arbeit. In der Vergangenheit haben jedoch Meldungen über schlechte Zustände in Pflegeheimen zu erheblicher Verunsicherung geführt. Die Menschen müssen sich auf die Qualität der Pflegeleistungen in den Heimen verlassen können. Deshalb verkürzen wir die vorgegebenen Intervalle für die Qualitätssicherungsprüfung durch die Medizinischen Dienste der Krankenkassen. Es war vorgesehen, Qualitätsprüfungen alle drei Jahre und nach vorheriger Anmeldung durchzuführen. Wir haben nun beschlossen: Heime werden künftig jährlich und in der Regel unangemeldet geprüft. Die Prüfung - das ist mir ebenso wichtig - soll sich künftig auf den Zustand der Pflegebedürftigen konzentrieren, weniger auf die Dokumentations- und Aktenlage. ({5}) Im Vordergrund der Prüfung muss die Ergebnisqualität stehen; die Prozess- und Strukturqualität ist nachrangig. Wir wollen die Situation der Pflegebedürftigen im Betriebsalltag der Heime in den Blick nehmen. Die intensive Diskussion zwischen den Koalitionsfraktionen über die Frage der Pflegeberatung hat sich aus unserer Sicht gelohnt. ({6}) Wenn nunmehr die Länder entscheiden, ob sie Pflegestützpunkte einrichten, so berücksichtigt dies, dass die vorhandenen Beratungsstrukturen bundesweit höchst unterschiedlich sind. ({7}) Dort, wo bereits heute auf bewährte Beratungsstrukturen zurückgegriffen werden kann, sind Pflegestützpunkte entbehrlich. ({8}) Dies ist mir von den Fachleuten vor Ort immer wieder bestätigt worden. ({9}) Es gibt bereits heute viele kirchliche, freigemeinnützige und kommunale Einrichtungen, in denen engagiert und kompetent beraten wird, und zwar - das ist besonders wichtig - in Kenntnis der örtlichen Gegebenheiten. ({10}) Insbesondere denjenigen, die sich ehrenamtlich engagieren, gilt unser besonders herzlicher Dank. ({11}) Eine Daueraufgabe bleibt die von den Pflegekräften und Heimleitungen immer wieder nachdrücklich geforderte Entbürokratisierung in der Pflege. Die Pflegedokumentation ist zwar eine wichtige Voraussetzung für das bestmögliche Wohlbefinden unserer Pflegebedürftigen; der zeitliche und inhaltliche Aufwand dieser Dokumentation muss aber mit Augenmaß auf das Sinnvolle und Notwendige begrenzt werden. Unnötige bürokratische Anforderungen, die Zeit für die Pflege rauben, sollten gestrichen werden. Notwendig sind also eine zielgenauere Koordination behördlicher Kontrollen, eine Reduzierung unnötiger Anzeigepflichten und eine Standardisierung der Pflegedokumentation. Die Bestimmungen sollten sich darauf beschränken, dem Wohl der Bewohnerinnen und Bewohner zu dienen. Die Familienpolitiker der CDU/CSU haben bereits in der letzten Legislaturperiode einen Antrag vorgelegt und Vorschläge zum Abbau der Bürokratie in Heimen formuliert. Dass es sich lohnt, in diesem Bereich etwas zu tun, zeigt das bayerische Projekt „Entbürokratisierung der Pflegedokumentation“, mit dem es gelungen ist, die Bürokratielasten in Teilbereichen um bis zu 50 Prozent zu reduzieren. Das bedeutet nicht nur Einsparungen zugunsten von echten Pflegeleistungen, sondern vor allem, dass die bislang für eine überflüssige Bürokratie verschwendete Zeit endlich für die Pflege und Betreuung unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger aufgebracht werden kann. Das ist ja dringend notwendig ist, denn sie haben mehr Fürsorge und Zuwendung verdient. Ich bedanke mich. ({12})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Dr. Martina Bunge ist die nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Martina Bunge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003743, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Im Koalitionsvertrag haben Sie die Pflegeversicherung als zentralen Baustein der sozialen Sicherungssysteme bezeichnet, der den Herausforderungen der Zukunft gerecht werden muss. Was Sie uns heute vorstellen, ist eine zentrale Baustelle. Dabei ist eine grundlegende Reform der Pflegeversicherung 15 Jahre nach ihrer Einführung überfällig. ({0}) In dieser grundlegenden Kritik stimmen wir mit der FDP überein, Kollege Lanfermann. Wir stellen uns allerdings eine völlig andere Zielrichtung vor. ({1}) Sie versuchen wieder einmal die Quadratur des Kreises. Dass das schief gehen muss, ist klar. Mit einem geringen finanziellen Mehraufwand wollen Sie große Versprechungen umsetzen. ({2}) Ja, Sie wollen die Leistungssätze anheben, aber die vorgesehenen Anhebungen sind völlig unzureichend. Einige Leistungen werden minimal angehoben, andere gar nicht. In keinem Fall wird der Realwertverlust ausgeglichen. Insofern gibt es keine Verbesserung gegenüber der Startposition Mitte der 90er-Jahre. ({3}) Ja, Sie kürzen zwar nicht die Leistungen für die Pflegestufen I und II in den Pflegeheimen, aber dass Sie das als Erfolg feiern, muss angesichts der erforderlichen stärkeren Qualitätssicherung in den Heimen wie Hohn klingen. ({4}) Ja, Sie wollen die Leistungssätze dynamisieren, aber erst ab 2015. ({5}) Bei einer durchschnittlichen Pflegedauer von acht bis zehn Jahren haben die derzeit Pflegebedürftigen und deren Helferinnen und Helfer nichts davon. Ja, Sie wollen die Leistungen für Menschen mit eingeschränkter Alltagskompetenz von bisher 460 auf bis zu 2 400 Euro jährlich erhöhen. Aber das ist viel zu gering; denn trotz Verfünffachung des Höchstbetrages bedeutet das rechnerisch nur 6,57 Euro pro Tag, für viele nur die Hälfte, für manche gar nichts; denn die einkalkulierte Summe reicht nur für knapp die Hälfte der Erkrankten. ({6}) Ja, über einen Änderungsantrag haben Sie auch 200 Millionen Euro für die Demenzbetreuung in Pflegeheimen eingestellt. Aber drei Viertel der Betroffenen werden leer ausgehen; denn wenn jeder der 3 000 bis 4 000 Betreuungskräfte für jeweils 25 Betroffene zuständig sein soll, werden nur 100 000 Betroffene erfasst. Wir haben aber 400 000, mit steigender Tendenz. ({7}) Ja, Sie wollen einen Pflegeurlaub von zehn Tagen einführen. ({8}) - Pflegeurlaub ist für diejenigen besser verständlich, die uns zuhören. - Aber der Pflegeurlaub ist unbezahlter Urlaub und kann nur in Unternehmen mit mehr als 15 Beschäftigten genommen werden. Also fällt das für den Osten, die neuen Bundesländer, fast vollständig aus. ({9}) Ja, Sie wollen die Besuchspraxis des Medizinischen Dienstes in Pflegeheimen transparenter gestalten und wollen deshalb häufigere unangemeldete Kontrollen. Aber das Problem der Qualität der Betreuung in Pflegeheimen ist nicht mit mehr Kontrollen zu lösen. Für gute Pflege bedarf es vielmehr Zeit und ausreichend qualifiziertes Personal. Bei der Pflege dürfte meines Erachtens nicht das Motto „Zeit ist Geld“, sondern umgekehrt „Geld ist Zeit“ gelten. ({10}) Das Einzige, wo wir kein „Ja, aber“ anbringen, sind die Paragrafen, die im Omnibusverfahren in das SGB V, also in die gesetzliche Krankenversicherung, eingefügt wurden. Zum Petz-Paragrafen, den Herr Bahr angesprochen hat, sagen wir ein deutliches Nein. Wenn es aber darum geht, Bedingungen zu schaffen, damit das Modellprojekt „Gemeindeschwester AGnES“ besser in die Regelversorgung überführt werden kann, sagen wir natürlich Ja. ({11}) Kommen wir zum SGB XI, die Pflegeversicherung, zurück. Um nicht missverstanden zu werden, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD: Wir gönnen jeder und jedem jeden Euro, der draufgelegt wird. Ihre Vorschläge klingen gut. Aber die Enttäuschungen werden umso bitterer sein. Wir alle wissen, dass Pflegende im Minutentakt die einzelnen Hilfe- und Betreuungsleistungen abarbeiten müssen. Pflege ist eine schwere Arbeit. Sie ist aber vor allen Dingen auch Beziehungsarbeit zwischen Menschen. Nicht nur die Pflegebedürftigen, sondern auch die Pflegekräfte leiden darunter, dass keine Zeit für ein kleines Gespräch bleibt, dass keine Zeit für ein paar Streicheleinheiten ist. Eine hinwendungsbezogene, sprechende und ganzheitliche Pflege, die zudem gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht, sieht unseres Erachtens anders aus. ({12}) Viele Pflegekräfte, sowohl im ambulanten als auch im stationären Bereich, sind so ausgepowert, dass sie als Fachkräfte nach rund zehn Jahren - physisch und psychisch fertig - aus dem Beruf gehen. Es trifft vor allen Dingen Frauen. Sie gewinnen nichts mit dieser Reform. Aber sie sind diejenigen, die zu rund zwei Dritteln Leistungsbeziehende sind und die den größten Teil der Pflegearbeit leisten. Insofern ist das mehr als ungerecht. ({13}) Wir wissen, dass durch den Wandel in der Arbeitswelt, durch veränderte Familienstrukturen und Erwerbsbiografien von Frauen familiäre Netzwerke künftig immer weniger zur Verfügung stehen. Wir wissen auch, dass die meisten Menschen wünschen, nach Eintritt der Pflegebedürftigkeit in der vertrauten Umgebung zu bleiben. Aber das ist nicht unbedingt mit dem Wunsch gekoppelt, von Angehörigen gepflegt zu werden. Diese Tendenzen werden von der Bundesregierung und von den Koalitionsfraktionen völlig unzureichend beachtet. Wenn sie das nämlich wirklich täten, dann müssten sie Pflege und Assistenz als einen prosperierenden Beschäftigungszweig der Zukunft begreifen. Das setzte aber voraus, die Arbeit dort auch attraktiver zu machen, sie zum einen zu „entschleunigen“ und sie zum anderen gerechter, also angemessen zu bezahlen. ({14}) Zukunftsforscher sprechen von der „weißen Revolution“, also davon, dass Gesundheit und Pflege als die Bereiche, in denen Arbeitsplätze entstehen, Wachstumsfaktoren für die Gesellschaft sein werden. Wir kritisieren, dass ganz überwiegend verschlafen wird - das hat sich ja auch in den Anhörungen gezeigt -, diese Chancen für die Zukunft wahrzunehmen. Dies ist einfach nicht hinzunehmen. ({15}) Daher werden wir den Gesetzentwurf ablehnen. Aber wir haben Alternativen. ({16}) Ich rate Ihnen, auch Herrn Bahr, der nur die Hälfte davon zitiert hat: Lesen Sie das einmal ausführlich nach. Das empfehle ich auch den Gästen und denjenigen, die uns im Fernsehen zusehen. ({17}) Ich danke Ihnen. ({18})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Ich erteile das Wort nun der Kollegin Birgitt Bender, Bündnis 90/Die Grünen.

Birgitt Bender (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003502, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ein merkwürdiges Schauspiel: Eine große Reform ist angekündigt, eine kleine vorgelegt. Die CDU in Gestalt von Frau Widmann-Mauz erklärt: Wir haben lauter Erfolge errungen, alles ist ganz schön, aber die SPD ist ja blöd; wir haben leider keine Zukunftsvorsorge in Gestalt der Kapitaldeckung treffen können. Frau Ferner tritt auf und stöhnt, die SPD habe lauter Niederlagen gegenüber der CDU erlitten ({0}) und habe so vieles nicht durchsetzen können. Die SPD hätte doch so gern die Solidarität in Gestalt der Bürgerversicherung erweitert, aber die CDU sei ja böse. Meine Damen und Herren, diese gegenseitigen Bezichtigungen innerhalb einer Koalition mögen stimmungsmäßig bei Ihnen bedeuten, was immer sie bedeuten, aber politisch ist das doch unerträglicher Kinderkram. ({1}) Das folgt dem Motto: Gibst du mir deine Quietschente nicht, dann kriegst du meinen Schwimmring nicht. ({2}) Aber dabei säuft doch nicht die Koalition ab, sondern die nachwachsende Generation; denn ihr muten Sie eine Bugwelle von Pflegekosten in den kommenden Jahrzehnten zu, ohne dafür irgendeine Vorsorge zu treffen. Das ist unerträglich. ({3}) Es ist doch so: Ab dem Jahr 2020 werden wir sehr viel mehr hochbetagte Menschen haben, also auch mehr Pflegebedürftige. Dafür wäre eine finanzielle Vorsorge erforderlich, aber Sie tun nichts. Sie hätten sich aufeinander zubewegen sollen. ({4}) In concreto verschärfen Sie das Problem auch noch. Sie machen jetzt eine kleine Beitragserhöhung, und Sie versprechen bessere Leistungen. Sie wissen aber: Dieses Geld reicht für die verbesserten Leistungen genau oder höchstens bis zum Jahre 2015. ({5}) Ab 2015 - so steht es jetzt im Gesetz - sollen dann noch einmal bessere Leistungen kommen, die übrigens hochnotwendig sind, nämlich in Form einer regelmäßigen Anpassung der Pflegeleistungen an gestiegene Preise, also eine Dynamisierung. Das heißt, Sie versprechen bessere Leistungen genau für den Zeitpunkt, zu dem auch nach Ihren eigenen Angaben die Pflegekassen so leer sein werden wie der Kühlschrank vor der Fastenzeit. Das kann ja wohl nicht angehen. ({6}) Es kann nicht funktionieren, es wird nicht funktionieren. So kann ich nur sagen: Wenn es in der Politik für diejenigen, die sich am Wegducken vor der Zukunft beteiligen, finanzielle Sanktionen gäbe, dann hätten Ulla Schmidt ebenso wie die Abgeordneten der CDU nur noch die Hälfte ihrer Diäten verdient. ({7}) Ein anderer Punkt, meine Damen und Herren: Versteckt auf den hinteren Seiten dieser Pflegereform, die ihren Namen nicht wirklich verdient, ist der Petzparagraf; es war schon die Rede davon. Ärzte sollen in Zukunft ihre Patienten verpfeifen, wenn sie an den Folgen von Piercings oder Schönheitsoperationen leiden und deswegen behandelt werden müssten. Die Folge davon ist, dass die Kassen nicht zahlen müssen. Sie haben ja in Ihrer großartigen Weisheit schon mit der Gesundheitsreform ein Selbstverschuldensprinzip eingeführt, das bei diesen Indikationen, aber auch in anderen Fällen greifen soll. Was tun Sie jetzt? Sie machen Ärzte zu Denunzianten: ({8}) Sie wollen sie verpflichten, ihre Schweigepflicht zu brechen. Damit hebeln Sie das Zeugnisverweigerungsrecht aus. Dazu kann man nur sagen: Wehret den Anfängen! ({9}) Wir werden Ihnen Gelegenheit geben, diesen Petzparagrafen und das Selbstverschuldensprinzip aufzuheben. Ich kann Ihnen nur sagen: Wenn man diesen Weg beschreitet, dann kommt es irgendwann dazu, dass man einem Zuckerkranken, der zum Arzt kommt, sagt: Dich wird niemand behandeln, denn du hättest dich ja beizeiten besser ernähren können; das petze ich jetzt der Kasse. ({10}) Das kann es nicht sein. Wir brauchen ein Solidarsystem. Es ist Aufgabe der Prävention - vor entsprechenden Regelungen haben Sie sich ja gerade wieder weggeduckt -, lebensstilbedingte Krankheiten zu verhindern. ({11}) Es ist keine Alternative, Patienten zu bestrafen und Ärzte zu Denunzianten zu machen; das wäre falsch. ({12})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Carola Reimann ist die nächste Rednerin für die SPDFraktion. ({0})

Dr. Carola Reimann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003434, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der 1. Juli dieses Jahres wird ein guter Tag für die rund 2 Millionen Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen. ({0}) Dann tritt nämlich die Pflegereform, die wir heute beraten und verabschieden werden, in Kraft. Wir reagieren damit zum einen auf die Herausforderungen der demografischen Entwicklung und zum anderen - das ist der entscheidende Punkt - auf veränderte Bedürfnisse der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen. Zahlreiche Leistungsverbesserungen werden zu einer spürbaren Verbesserung der Lebenssituation dieser Menschen führen. Deshalb kann man uneingeschränkt sagen: Es ist eine gute Reform. Sie ist gut, weil wir die Leistungsbeträge schrittweise erhöhen, und sie ist gut, weil wir eine Leistungsdynamisierung einführen. Damit stoppen wir den schleichenden Wertverfall der Leistungen. Die ambulanten Sachleistungsbeträge werden bis 2012 in allen drei Pflegestufen schrittweise erhöht. Im stationären Bereich wird es zu Aufstockungen in der Pflegestufe III und bei den Härtefällen kommen. Auch das Pflegegeld für pflegende Angehörige wird erhöht. Damit stärken wir vor allem die ambulante Pflege und kommen so dem Wunsch vieler Pflegebedürftiger nach, die in ihrem gewohnten Umfeld, zu Hause, gepflegt werden wollen. ({1}) Immer mehr Menschen erreichen ein gesegnetes Alter. Das ist zweifellos eine positive Entwicklung. Sie bringt aber zugleich neue Herausforderungen für die häusliche wie für die stationäre Pflege mit sich. Angehörige und Pflegekräfte werden bei der Versorgung der Pflegebedürftigen zunehmend mit geistigen und psychischen Einschränkungen bis hin zu schweren Demenzerkrankungen konfrontiert, die oft zusätzlich zu den körperlichen Gebrechen auftreten. Darauf waren die Leistungen der Pflegeversicherung bislang nur unzureichend ausgerichtet. Dieser Missstand wird mit der Pflegereform beseitigt. Die seit langem geforderten neuen Leistungen für demenziell erkrankte Menschen werden nun eingeführt. Im ambulanten Bereich wird es eine Staffelung geben: Menschen mit geringerem allgemeinen Betreuungsbedarf erhalten bis zu 100 Euro, diejenigen mit höherem Betreuungsbedarf bis zu 200 Euro im Monat. Demenziell Erkrankte erhalten somit dank dieser Reform bis zu 2 400 Euro pro Jahr. Wichtig ist, dass dieser Betrag zusätzlich zu den Pflegeleistungen und unabhängig von der Pflegestufe gezahlt wird. ({2}) Das bedeutet: Auch Menschen, die keine Pflege, sondern vor allem Betreuung und Assistenz benötigen, erhalten in Zukunft Unterstützung aus der Pflegeversicherung. Auf Vorschlag der SPD wird es auch für demenzerkrankte Heimbewohner zusätzliche Hilfen geben. Die Pflegeversicherung finanziert zusätzliche Stellen für Betreuungskräfte, die sich in vollstationären Pflegeeinrichtungen um demenziell Erkrankte kümmern sollen. Sie sollen altersverwirrten Menschen im Heim helfen, ihren Tagesablauf besser zu bewältigen. Die Finanzierung der Stellen dieser Betreuungsassistentinnen und -assistenten durch die Pflegeversicherung ist an zwei wichtige Bedingungen geknüpft: Erstens. Es muss sich um zusätzliche Betreuungskräfte handeln. Eine Reduzierung oder Anrechnung vorhandenen Personals ist also nicht zulässig. Zweitens. Die Assistentinnen und Assistenten müssen sozialversicherungspflichtig beschäftigt sein. ({3}) Das ist unser Beitrag zur Steigerung des Beschäftigungspotenzials. Mit der Einstellung zusätzlicher Betreuungsassistenten in den stationären Einrichtungen und den neuen Leistungen im ambulanten Bereich erreichen wir eine substanzielle Verbesserung der Versorgung Demenzerkrankter und ermöglichen eine wirkliche Hilfe und Entlastung für die pflegenden Angehörigen, aber auch für die Pflegekräfte in den Heimen.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Frau Kollegin Reimann, möchten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Spieth beantworten?

Dr. Carola Reimann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003434, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte schön. ({0})

Frank Spieth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003849, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Wenn es hilft, dann sollte es so sein. - Ich möchte eine Frage stellen, weil Sie die Leistungen im stationären Bereich wieder locker überspringen. Es gibt in den Stufen I und II keine Anpassungen. Diese erfolgen frühestens im Jahr 2015. Im Durchschnitt müssen in der Stufe II im stationären Bereich 2 800 Euro gezahlt werden. Die Pflegeversicherung zahlt aber nur 1 279 Euro. Das hat zur Folge, dass jemand, der mit Pflegestufe II in den stationären Bereich muss, eine Differenz von round about 1 600 Euro zu decken hat. ({0}) Das heißt, die Rente ist futsch und die Angehörigen müssen mitzahlen. Warum haben Sie nicht auch in den Stufen I und II die Leistungsbeträge erhöht? Damit hätten Sie ein Stück dazu beigetragen, dass diejenigen, die in den Einrichtungen sind, nicht zu Taschengeldempfängern werden. ({1}) - Wurde aber nicht beantwortet.

Dr. Carola Reimann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003434, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Spieth, wir alle wissen, dass es sich bei der Pflegeversicherung nicht um eine Vollversicherung handelt. Das will ich als Allererstes einmal sagen. ({0}) Das kann man bekritteln, aber sie ist nun einmal so und nicht anders angelegt worden. Wir führen sie jetzt in der bisherigen Form fort. Dann ist hier schon einmal gesagt worden, auch von der Kollegin Eichhorn, dass der Schwerpunkt auf der Verbesserung im ambulanten Bereich liegt. Das ist völlig richtig. Schließlich sagten Sie, ich überspringe etwas, aber auch Sie überspringen etwas, nämlich dass die Leistungen für die Pflegestufe III im stationären Bereich aufgestockt werden und dass es Verbesserungen für Härtefälle gibt. ({1}) Kolleginnen und Kollegen, die Pflege eines Angehörigen ist eine ungeheuer verantwortungsvolle Aufgabe, die ganz viel Kraft kostet. Neben der Pflege des Angehörigen kommen häufig Beruf, Kindererziehung und die ganz alltäglichen Verpflichtungen hinzu. Ich will an dieser Stelle noch einmal betonen, dass es zum weit überwiegenden Teil die Frauen sind, die diese Mehrfachbelastung schultern. Das alles unter einen Hut zu bringen, ist alles andere als einfach. Die Grenze der Belastbarkeit ist dabei ganz schnell erreicht, meist wird sie sogar überschritten. Deshalb ist es unerlässlich, mit einer solchen Pflegereform pflegenden Angehörigen die Möglichkeiten zur Entlastung zu bieten. Hierbei kommt den Einrichtungen der Tages- und Nachtpflege eine wichtige Funktion zu. Sie bieten Angehörigen die Möglichkeit, ihre pflegebedürftigen Verwandten in gute, professionelle Betreuung zu geben, um dem Beruf und den alltäglichen Erledigungen nachzugehen oder einfach Zeit für sich und andere Familienmitglieder zu haben. Zugleich sind diese Einrichtungen aber auch unter dem Gesichtspunkt der Aktivierung von Pflegebedürftigen von großer Bedeutung. Leider wurden diese Angebote in der Vergangenheit nur in geringem Umfang genutzt. Hauptgrund dafür ist der damit verbunDr. Carola Reimann dene geringere Anspruch auf Pflegegeld bzw. ambulante Sachleistungen für die verbleibende Zeit, die der Pflegebedürftige zuhause gepflegt werden muss. Deshalb werden wir das mit der Pflegereform ändern: Neben dem Anspruch auf Tages- und Nachtpflege wird es zusätzlich einen 50-prozentigen Anspruch auf ambulante Pflegesachleistungen bzw. Pflegegeld geben. Damit wird die Tages- und Nachtpflege attraktiver. Das heißt aber auch, die pflegenden Angehörigen haben die Chance auf spürbare Entlastung, und die Pflegebedürftigen selbst bekommen professionelle Unterstützung und Betreuung in den entsprechenden Einrichtungen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Reform sieht nicht nur den Ausbau von Pflegeleistungen vor, sondern auch die Möglichkeit, diese künftig flexibler in Anspruch zu nehmen. Ein Beispiel dafür ist das sogenannte Poolen von Leistungsansprüchen. Das neue Gesetz ermöglicht, dass die Ansprüche mehrerer Leistungsberechtigter künftig in einen Pool eingebracht werden können, um hieraus selbstbestimmt Pflege-, Betreuungs- und hauswirtschaftliche Versorgungsleistungen zu finanzieren. Die hierdurch entstehenden Effizienzgewinne kommen den Pflegebedürftigen als zusätzliche Betreuungszeit zugute. ({2}) Das heißt konkret, dass sich Pflegebedürftige in einem Wohnquartier zusammenschließen und gemeinsam einen Pflegedienst beauftragen können. Es könnte beispielsweise ein Feld auch für Wohnungsbaugenossenschaften sein, dies vor Ort zu koordinieren. Zugleich werden durch diese Möglichkeiten Anreize zur Schaffung neuer Wohnformen wie Wohngemeinschaften gesetzt. Ich meine, das ist die richtige Antwort auf sozialstrukturelle Veränderungen wie zum Beispiel die wachsende Zahl von Singlehaushalten. ({3}) Die genannten Beispiele - Erhöhung der Leistungsbeiträge, neue Beiträge für Demenzerkrankte, Förderung der Tages- und Nachtpflege und das Poolen von Leistungen - bringen den Betroffenen spürbare Verbesserungen. Ich will aber an dieser Stelle nicht ganz verschweigen, dass ich mir an zwei Punkten mehr gewünscht hätte. Zum einen betrifft das die Finanzierung. Hier hätten wir Sozialdemokraten gerne den im Koalitionsvertrag vereinbarten Finanzausgleich zwischen privater und gesetzlicher Pflegeversicherung verwirklicht. ({4}) Zum anderen hätten wir berufstätigen Angehörigen gerne eine zehntägige bezahlte Freistellung zur Organisation der Pflege ihrer Angehörigen ermöglicht. Wir hätten das im Interesse der Betroffenen gerne umgesetzt. Andere wollten das leider nicht. Beides, die Bürgerversicherung Pflege wie auch die zehntägige bezahlte Freistellung, bleiben aber Ziele, für die wir uns weiter einsetzen werden. Ich bin sicher, diese Themen kommen wieder. ({5}) Kolleginnen und Kollegen, trotz der Notwendigkeit von Kompromissen verabschieden wir heute eine Reform, die, wie ich mit Freude feststelle, vor allem sozialdemokratische Handschrift trägt ({6}) und die Verbesserungen und neue Unterstützungsmöglichkeiten für Betroffene wie Angehörige enthält. Deshalb wird - damit komme ich zum Anfang meiner Rede zurück - der 1. Juli dieses Jahres, an dem die Reform in Kraft tritt, ein guter Tag für alle Pflegenden und Pflegebedürftigen. Ich darf mich bei allen bedanken, die zu diesem Gesetz konstruktiv beigetragen haben. Danke schön. ({7})

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Willi Zylajew ist der nächste Redner für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Willi Zylajew (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003664, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Tat ist das, womit wir uns hier beschäftigen, wichtig, nämlich die Frage, wie wir die Pflege zukunftsfest machen. Wichtiger ist aber das, was 10 Millionen Menschen Tag für Tag - auch in diesem Moment - erleben, die unmittelbar mit der Pflege befasst sind. Es sind dies die Pflegebedürftigen selbst, es sind dies die Menschen mit Behinderungen, die auf Pflege angewiesen sind, es sind dies aber auch die etwa 1 Million Kräfte, die im ambulanten und im stationären Bereich Pflegeleistungen erbringen: Ehrenamtler, Menschen in Vereinen, in Pfarrgemeinden, in Wohlfahrtsverbänden, Angehörige, Nachbarn und Freunde. Tag für Tag und Nacht für Nacht erbringen sie diese Leistungen. Wir als Union haben die Chancen genutzt, die in dieser Koalition möglich sind, um exakt für diese Menschen Verbesserungen zu erreichen. ({0}) Die Kolleginnen und Kollegen Widmann-Mauz, Maria Eichhorn und andere haben die Leistungen schon im Einzelnen angesprochen. Wir gewähren den Pflegebedürftigen weitere materielle und personelle Hilfe, Hilfe zur Bewältigung des pflegebedingten Mehraufwands in ihrer Lebensführung. Unsere Gesellschaft bleibt weiterhin sozial. Wir belasten damit natürlich andere Menschen, das wissen wir: Auf der einen Seite profitieren über 10 Millionen, auf der anderen Seite belasten wir 60 Millionen Beitragszahler, bei denen wir den Nettoertrag aus selbstständiger Arbeit, aus abhängiger Arbeit oder aus Kapitalertrag schon ein Stück weit reduzieren. ({1}) Wir leiten einen Teil unseres Bruttoinlandsprodukts zu den Pflegebedürftigen. ({2}) - Natürlich ist das Solidarität. Aber, verehrte Frau Kollegin, wir als diejenigen, die politisch dafür die Verantwortung tragen, ({3}) sollten auch Respekt vor denen haben, die Leistungen erwirtschaften, Frau Ferner, und uns nicht nur ins Zeug legen, wenn wir Geld, das wir ihnen wegnehmen, anderen geben. Das ist Solidarität, die Respekt verdient. ({4}) Kollege Lanfermann, Sie haben davon gesprochen, dass wir demnächst ein Drittel weniger Beitragszahler hätten. Das stimmt nicht. Der Kollege Bahr hat es dann schon präziser gesagt: ein Drittel weniger junge Beitragszahler. - Man kann die Finanzierung der Pflegeversicherung nicht mit der Finanzierung der Rentenversicherung vergleichen, ({5}) weil auch die Rentnerinnen und Rentner bis ins hohe Alter Beiträge zahlen. ({6}) - Ich brauche das nicht zu wiederholen, Herr Bahr. - Insofern ist die Pflegeversicherung finanziell deutlich stabiler als irgendeines der anderen Systeme. ({7}) Holen Sie doch einmal die Zitate der FDP-Kollegen von 1994 hervor! Lambsdorff und andere Strategen haben gesagt, schon im Herbst werde die Versicherung pleite sein. Also: Es gibt weniger junge Beitragszahler, aber die Rentnerinnen und Rentner zahlen auch. Insofern ist das schon in Ordnung. Der ergänzende Kapitalstock ist aus unserer Sicht für die Jahre 2027 ff. wichtig.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001274

Herr Kollege Zylajew, würden Sie zwischendurch eine Frage des Kollegen Bahr gestatten?

Willi Zylajew (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003664, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident, sehr gern; dann kann ich ihn korrigieren. ({0})

Daniel Bahr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das wollen wir einmal sehen! - Herr Kollege Zylajew, wenn Sie die Debatten von 1994 ansprechen, dann müssen Sie bitte auch Folgendes zur Kenntnis nehmen: Bereits 1994 haben zum Beispiel Graf Lambsdorff und andere Kolleginnen und Kollegen aus der FDPFraktion darauf hingewiesen, dass wir im Jahr 2008 und auch schon früher genau das erleben werden, was wir jetzt tatsächlich erleben, nämlich steigende Defizite in der Pflegeversicherung, und dass wir genau vor der Frage stehen werden, ob man das Umlagesystem so noch erhalten kann und ob die Beiträge weiter steigen müssen. Nehmen Sie auch zur Kenntnis, dass sich die demografischen Probleme einer alternden Bevölkerung in einer Pflegeversicherung noch viel dramatischer auswirken werden als in der Rentenversicherung, weil die Lebenserwartung steigt, aber die Eintrittswahrscheinlichkeit von Demenz, von Altersverwirrung, bei 80-Jährigen mit etwa einem Drittel heute genauso hoch ist, wie sie vor 10 oder 20 Jahren war und voraussichtlich auch in 10 oder 20 Jahren sein wird, ({0}) sodass es immer mehr pflegebedürftige Menschen, aber immer weniger jüngere Menschen in unserer Gesellschaft geben wird? ({1})

Willi Zylajew (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003664, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Bahr, ich bin bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass wir mehr ältere und weniger junge Menschen in unserer Gesellschaft haben werden. Das ist richtig. Sie haben das Verhältnis von Beitragszahlern zu Leistungsempfängern angesprochen. Es ist nicht so, dass nur die jungen Menschen Beiträge zahlen. Ich habe die herzliche Bitte, dass Sie dies zur Kenntnis nehmen. Wir sollten vor den Rentnerinnen und Rentnern hohen Respekt haben, denn sie zahlen ihren Beitrag klaglos. ({0}) Es ist daher nicht möglich, die Problematik der Rente auf die Problematik der Pflege zu übertragen. Die Rentner zahlen ordentlich und verlässlich, ({1}) und dafür haben wir ihnen zu danken. Wir brauchen ihre Beiträge, um die Leistungen auch in Zukunft ordentlich gewähren zu können. ({2}) Ich möchte noch einmal sehr deutlich sagen, dass wir den Menschen neue Möglichkeiten im Bereich der Betreuung und der Selbstbestimmung eröffnen. Wir als Union hatten den Ehrgeiz, möglichst jeden Euro und jeden Cent direkt an den Menschen zu bringen. Wir haben dann mit dem Ministerium und Teilen der SPD Probleme gehabt, weil sie das Geld lieber in neue Strukturen investiert hätten. Wir haben uns am Schluss auf etwas verständigt, was aus unserer Sicht tragbar ist. Zu Rot-Grün beziehungsweise zu Grün direkt muss ich sagen: Das alles hättet ihr in den Jahren von 1998 bis 2005 machen können. ({3}) Ihr habt aber durch eine pflegepolitische Auszeit geglänzt. Frau Bunge, in Bezug auf die Linken sind wir neugierig, was sie dort, wo sie Verantwortung in den Ländern trägt, so Besonderes tut. Ich habe noch nicht bemerkt, dass es dort, wo die Linken mitverantwortlich sind, einen Aufbruch im Bereich der Pflege gibt. Ein Abbruch in allen sozialen Systemen findet dort statt, wo sie Verantwortung trägt. ({4}) Sie ist wirklich nicht tauglich. Wir haben in unserer Gesellschaft eine Reihe von wichtigen Problemen, mit denen wir uns auch nach dieser Reform beschäftigen müssen. Fakt ist, dass sich unsere Gesellschaft in folgender schwieriger Situation befindet: Wenn man eine nach Tarif bezahlte Stelle eines Pflegeberaters oder eines Fallmanagers ausschreibt, dann bekommt man 200 Bewerbungen. Schreibt man eine nach Tarif bezahlte Stelle einer examinierten Pflegekraft aus, dann hat man Glück, wenn man eine Bewerbung erhält. ({5})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, Frau Kollegin Bunge würde gern eine Zwischenfrage stellen.

Willi Zylajew (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003664, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Auch dies gern.

Dr. Martina Bunge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003743, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Kollege Zylajew, würden Sie mir zustimmen, dass die Länder ihren Spielraum in der Frage, was sie in der Pflege tun können, durch die Bundesgesetzgebung, nämlich durch das SGB XI, vorgegeben bekommen und einen ganz geringen eigenen Spielraum haben, den sie beispielsweise in Berlin mit Modellprojekten nutzen?

Willi Zylajew (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003664, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bin nicht bereit, das zur Kenntnis zu nehmen, weil es schlicht falsch ist. Die Länder haben eigene Gestaltungschancen und ein eigenes Profil. Mit den Landespflegegesetzen haben sie hervorragende Chancen, ein eigenes Profil für die Pflege zu entwickeln. Es gibt Länder, die das machen. Schauen Sie sich einmal an, was im Bereich Südbaden an Kreativität vorhanden ist. Schauen Sie, was Träger in anderen Ländern entwickeln. Ich komme gern, um mir das in Berlin anzusehen. Ich nehme aber das, was Sie sagen, nicht zur Kenntnis. Ich nehme zur Kenntnis, dass dort, wo die Linken politisch etwas zu sagen haben, kein Vorrang für Pflege vorhanden ist. ({0}) - Sind die Zwischenrufe beendet? Dann fahre ich fort. ({1}) Aus meiner Sicht ist deutlich, dass Fortschritte für zu Pflegende, für die Angehörigen und für Träger und Einrichtungen in der Geschichte der Bundesrepublik immer mit der Union verbunden waren. Sie waren in der Entstehungsphase mit Helmut Kohl und Norbert Blüm verbunden. Sie sind jetzt mit der Kanzlerin Angela Merkel verbunden. Alle, die hier mehr wollen, können dies anmelden. Verlassen aber können sich die Pflegebedürftigen im Endeffekt nur auf die Union. ({2}) Das war so, das ist so, und das wird so bleiben. ({3}) - Ja, liebe Kolleginnen und Kollegen, schauen Sie sich doch einmal an, wann Ihre Regierungsinitiativen gekommen sind. Das wird im deutschen Geschichtsunterricht niemand herausfinden können, denn Sie haben keine unternommen. Ich weiß, dass die Menschen hier auf die Union setzen und setzen können. Ich sage noch einmal: Wir haben das erreicht, was wir in dieser Koalition erreichen können. Dafür danken wir. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächste Rednerin ist die Kollegin Hilde Mattheis, SPD-Fraktion.

Hilde Mattheis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003588, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal freue ich mich sehr darüber, welchen Identifikationsgrad dieses Pflege-Weiterentwicklungsgesetz auch bei unserem Koalitionspartner in allen Teilen erfahren hat. ({0}) Ich freue mich sehr, dass die Teile des Pflege-Weiterentwicklungsgesetzes, die von Ihrer Seite aus in der Öffent16008 lichkeit durchaus strittig diskutiert worden sind, jetzt hier verteidigt werden. Ich bin auch der Überzeugung, dass die Oppositionsparteien in ein paar Wochen nicht mehr so gern darüber reden werden, wie sie hier abgestimmt haben, weil sie dann nämlich in Pflegeeinrichtungen und vor Angehörigen rechtfertigen müssen, dass sie einer Leistungsverbesserung nicht zugestimmt haben. ({1}) Ich bin auch der Überzeugung, dass viele, die die Pflegestützpunkte jetzt kritisieren, auf deren Verteilung schauen und feststellen werden, wie viele Pflegestützpunkte in ihrem eigenen Bundesland - womöglich in ihrem Wahlkreis - ankommen könnten. Dann wird es vor allem von denjenigen, die die Pflegestützpunkte bis jetzt nicht verteidigen, einen großen Run darauf geben. Es gibt dann sicherlich auch einen Run der Länder, weil es wirklich ein Erfolgsmodell ist. ({2}) Wer sagt, dass Pflegestützpunkte zu Doppelstrukturen führen würden, der hat das Gesetz nicht gelesen, ({3}) weder den ersten Entwurf noch das, was wir in der Kompromisslinie vereinbart haben und verabschieden werden. Denn da heißt es ausdrücklich, dass die Beratungsund Vernetzungsstrukturen, die es bereits gibt, einzubeziehen bzw. zu ergänzen sind. Ich bin fast versucht, das mit der Initiative bei den Ganztagsschulen zu vergleichen. ({4}) Auch da gab es zunächst eine heftige Abwehrhaltung; aber dann ging es in den Ländern ganz schnell, und plötzlich waren es zum Teil die schwarzen Bürgermeister, die gefordert haben, dass in ihre Kommune eine Ganztagsschule und die entsprechenden Mittel kommen. ({5}) Genauso wird es bei den Pflegestützpunkten sein. Es gibt Länder, die es schon geschafft haben, Beratungsund Vernetzungsstrukturen aufzubauen, zum Beispiel Rheinland-Pfalz. Andere haben versucht, die vernetzten Strukturen herunterzufahren, indem die Zuschussmittel versagt wurden, wie in Baden-Württemberg - dort wollen die Träger dieses Erfolgsmodell selber finanzieren -, und sie werden diese Chance ergreifen und Pflegestützpunkte aufbauen. ({6}) Da bin ich ganz sicher. Das werden wir in einem halben oder in einem Jahr sicher im Ausschuss bilanzieren können. Wir werden dann alle sehr stolz sein können, dass wir dieses Gesetz heute so verabschiedet haben. Neben den Pflegestützpunkten - gute Dinge vertragen Wiederholung - gibt es die Verpflichtung zur Pflegeberatung und deren Ausbau. Diese ist zwar heute schon im SGB XI verankert; aber die Case-ManagementStrukturen, die wir jetzt einziehen wollen, werden dazu beitragen, dass Menschen in einer schwierigen Lebenssituation begleitet werden, dass sie Unterstützung und Beratung bekommen. ({7}) Auch der Leistungsanspruch in Bezug auf Menschen mit Demenz, egal ob ambulant gepflegt wird oder in stationären Einrichtungen, wird eine unglaubliche Erleichterung sein. Jeder, der mit Angehörigen der Betroffenen im engen Kontakt ist, weiß, dass die kleinen Dinge des Lebens bei Demenz zu großen Hürden werden. Wenn zum Beispiel der Gang zum Arzt geplant werden muss und niemand beim Ehemann oder bei der Ehefrau ist, ist es wichtig, diese niedrigschwelligen Leistungen einfordern zu können und nicht von der Rente bezahlen zu müssen, sondern dies aus der Pflegeversicherung tun zu können. Ich will mich aber im Folgenden noch auf einen Schwerpunkt konzentrieren, der uns von Anfang an immer sehr wichtig war, ({8}) nämlich die Unterstützung der Qualität und Transparenz in der Pflege. - Der Finanzausgleich kommt noch, Herr Spieth; Sie können mich gerne dazu fragen. Sie wollen ja noch einmal reden, nehme ich an. ({9}) Über diese Qualität haben wir intensiv diskutiert, und in der Anhörung ist uns recht gegeben worden, dass Qualitätssicherung und Transparenz sehr eng zusammenhängen. Niemand von uns hat diesen Punkt diskutiert, ohne immer wieder zu betonen, dass selbstverständlich der überwiegende Teil des Pflegepersonals diesen Beruf mit großem Engagement, mit großer Liebe und Zuneigung ausübt ({10}) und dass es darum geht, diese Berufsgruppe davor zu schützen, dass sie durch Schlagzeilen von Pflegemängeln und wirklich schlimmen Verhältnissen in Pflegeheimen diskreditiert wird. ({11}) Deshalb ist es uns wichtig, hier noch einmal zu betonen, dass es jährlich eine unangemeldete Überprüfung durch den MDK gibt. Diese Überprüfungen sind zwingend. Zertifizierungen ersetzen keine Überprüfungen durch den MDK. Ergebnisqualität zu beurteilen, bedeutet, zu schauen, in welchem Maße die Hilfe bei den Pflegebedürftigen ankommt. Wo eine gute Ergebnisqualität zu finden ist, kann auf die Überprüfung der Prozessund Strukturqualität verzichtet werden. Diese Teile werden ergänzend nur dann geprüft, wenn die Ergebnisqualität nicht stimmt. Wir wollen dem Medizinischen Dienst der Krankenkassen in stärkerem Maße eine beratende Funktion geben. Diese Funktion wird nicht nur, wie jetzt, im RahHilde Mattheis men der gegebenen Möglichkeiten ausgeübt, sondern stellt eine Verpflichtung für den MDK dar. Pflegequalität und Transparenz hängen voneinander ab und bilden damit ein Paar. ({12}) Daher wollen wir, dass jeder, der ein Heim betritt, genau sehen kann, wie gut die Qualität in diesem Heim ist. Sie kann durch eine entsprechende Anzahl von Sternen oder durch eine Ampel angezeigt werden. So ist für alle auf den ersten Blick klar, wie der MDK die Qualität dieses Heimes einstuft.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, der Kollege Spieth würde jetzt gern seine Zwischenfrage stellen. ({0})

Hilde Mattheis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003588, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte, Herr Spieth.

Frank Spieth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003849, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Kollegin Mattheis, da Sie mich so freundlich eingeladen haben, das Thema Finanzausgleich anzusprechen, und ich befürchte, dass Sie in Ihrem Beitrag nicht mehr darauf zu sprechen kommen, möchte ich Ihnen Gelegenheit geben, dazu noch etwas zu sagen. Im Koalitionsvertrag zwischen der CDU/CSU und der SPD heißt es: Zum Ausgleich der unterschiedlichen Risikostrukturen wird ein Finanzausgleich zwischen gesetzlicher und privater Pflegeversicherung eingeführt. Dieser ist dringend erforderlich, um die unterschiedlichen Risiken auszugleichen, die zwischen gesetzlicher und privater Pflegeversicherung bestehen. Mittlerweile ist es so, dass bei den privaten Pflegeversicherungen 15 Milliarden Euro auf der hohen Kante liegen, während die soziale Pflegeversicherung extreme Probleme hat. ({0}) Auch wenn es Ihnen nicht schmecken mag, frage ich Sie: Warum hat die Koalition diesen wichtigen Punkt außer Acht gelassen und um die private Pflegeversicherung erneut einen Schutzzaun gezogen? ({1})

Hilde Mattheis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003588, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich möchte jetzt nicht in den Verdacht kommen, bei Ihnen, Herr Spieth, diese Frage bestellt zu haben. ({0}) Trotzdem möchte ich das Thema Ausgleich, das Sie in Ihrer Frage angesprochen haben, aufgreifen. Ja, die Koalitionsvereinbarungen sehen diesen Ausgleich vor. Ja, in vielen Reden meiner Kolleginnen und Kollegen und auch von mir finden Sie die Aussage, dass wir diesen Ausgleich wollen. Er steht immer noch auf unserer politischen Agenda, Herr Spieth, und er hat bei den Verhandlungen selbstverständlich eine Rolle gespielt. Ich verweise hier auf die beschlossenen Eckpunkte, die, wie Sie wissen, schon zu vielen Diskussionen geführt haben. Ich knüpfe jetzt aber an das an, was ich eingangs gesagt habe, und frage Sie allen Ernstes: Wie wollen Sie gegenüber Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen rechtfertigen, dass Sie diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen und damit gegen eine Leistungserweiterung sind? Denn im Gesetz finden Sie ausschließlich Punkte, die zur Leistungsverbesserung und zur Qualitätssicherung beitragen werden. ({1}) Erklären Sie mir also einmal, warum wir wegen eines strittigen Punktes das ganze Paket scheitern lassen sollten. ({2}) In Bezug auf Ihre Zwischenfrage sage ich an dieser Stelle: ({3}) Selbstverständlich bleiben viele Themen auf unserer politischen Agenda. Die Definition des Pflegebegriffs ist eines davon. Sie können uns nicht den Vorwurf machen, dass wir diesen Punkt vernachlässigen, Herr Seifert; das haben Sie in Ihrer Rede gesagt. Klar ist: Genau in diesem Bereich brauchen wir einen sehr intensiven und mit allen Fachverbänden organisierten Prozess. Das kann man wirklich nur mit Ruhe und Gründlichkeit machen. ({4}) - Das stimmt ja nicht, Herr Lanfermann. ({5}) Wenn Pflegestufen womöglich neu organisiert werden, spielt dabei doch vor allen Dingen das Instrument eine Rolle. Dieses Thema bleibt also auf unserer politischen Agenda. Auf der Agenda bleibt auch das Thema -

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, ich kann keine Zwischenfrage mehr zulassen, weil Sie Ihre Redezeit bereits überzogen haben. Ich bitte Sie, zum Schluss zu kommen.

Hilde Mattheis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003588, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Mein letztes Wort: Auf der Tagesordnung bleibt auch die Bürgerversicherung. Danke. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Der letzte Redner in dieser Debatte ist der Kollege Jens Spahn von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Jens Spahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003638, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte auf einen Aspekt gern etwas vertiefter eingehen, aber vielleicht gibt mir der Kollege Spieth anschließend ja die Gelegenheit, noch auf weitere Aspekte einzugehen. Ich bedauere zutiefst, dass mit dieser Pflegereform, mit dem vorgelegten Gesetzentwurf und den Änderungsanträgen, der Einstieg in eine kapitalgedeckte Vorsorge in diesem Zweig der sozialen Versicherung nicht gelungen ist. Dieser Einstieg war im Koalitionsvertrag vorgesehen und wäre angesichts des Zustandes der Pflegeversicherung auch vonnöten gewesen. ({0}) Denn seit ihrer Einführung 1995 gab es bei der Pflegeversichtung in mehr Jahren eine Unterdeckung als eine Überdeckung. Eine kapitalgedeckte Vorsorge ist besonders aus einem Grund notwendig: In dem Jahr, in dem ich 80 Jahre alt sein werde - nämlich 2060 -, wird im Vergleich zu heute ein wesentlich größerer Anteil der Deutschen ein Alter von über 80 Jahren erreicht haben. Schon jetzt nimmt der Anteil dieser Personen stark zu. Das Risiko - gerade ist schon darauf hingewiesen worden -, insbesondere demenziell zu erkranken, liegt bei über 80-Jährigen bei etwa einem Drittel - Tendenz dramatisch steigend. ({1}) Deswegen haben alle Sachverständigen - auch wenn sie sich über das Ausmaß nicht einig waren - in der Anhörung deutlich gemacht, dass eine Kapitalrücklage in der gesetzlichen Pflegeversicherung vonnöten wäre. Sie ist am Ende - das muss man ehrlich miteinander konstatieren ({2}) an der Uneinsichtigkeit und Kurzsichtigkeit unseres Koalitionspartners gescheitert. Liebe Frau Kollegin Bender, angesichts des Umstandes, dass Sie in sieben Jahren Rot-Grün in diesem Bereich gar nichts erreicht haben, ist Ihre Aufregung gerade zwar plakativ, am Ende aber doch etwas aufgesetzt gewesen. ({3}) Denn wie schwer es mit diesem Koalitionspartner bei diesem Thema ist, haben Sie damals ja auch schon erlebt. So muss man feststellen, dass der Zeitverlust, der mit jedem Jahr, in dem der Umstieg zu einer kapitalgedeckten Vorsorge nicht erfolgt, größer wird, zumindest noch zwei Jahre auf das Konto unseres sozialdemokratischen Partners geht. Diesem Partner stelle ich anheim, den Gerechtigkeitsbegriff um eine Zukunftsdimension zu erweitern. ({4}) Klar ist aber auch, Herr Kollege Lanfermann: Der Einstieg in eine Kapitaldeckung würde im Moment - so ehrlich muss man im Umgang miteinander sein - eine Verteuerung für die Menschen bedeuten. Wenn Sie auf der einen Seite fordern, dass die sozialen Versicherungen günstiger werden müssen, ({5}) und auf der anderen Seite gleichzeitig eine Kapitalrücklage fordern, dann passt das nicht zusammen. ({6}) Wir müssen ehrlich zu den Menschen sein und ihnen klar sagen, dass - wenn wir für die Zukunft vorsorgen es heute teurer wird, weil es für die zukünftigen Generationen günstiger sein soll. Genau deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SED-Nachfolgepartei, ({7}) ist Ihr Antrag in der Argumentation so gefährlich. Denn er folgt dem bekannten Muster: Sie fordern mehr: 6 000 Euro für demenziell Erkrankte. Sie fordern Pflegegeld in der Höhe des Arbeitslosengeldes I. Sie fordern jährliche Dynamisierungen usw. Aber Sie verlieren, wie wir es von Ihnen gewohnt sind, kein Wort darüber, wie das finanziert werden soll. ({8}) llja, Frank und Martina im Wunderland, möchte man sagen. Etwas Konkretes findet sich in Ihrem Antrag nicht. Eines ist klar: Ihre populistischen Forderungen nach „mehr“ sind verwerflich; denn Sie geben keinen Hinweis darauf, wer das am Ende bezahlen soll, und suchen keinen vernünftigen Ausgleich zwischen den Beitragszahlern in diesem Land - insbesondere den künftigen - und denjenigen, die die Leistungen jetzt brauchen. Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen, verehrte Kolleginnen und Kollegen. ({9}) Ich möchte bei der Bewertung der Zukunft dieser Pflegereform kurz auf drei weitere Dinge eingehen. Erstens. Die Pflegeversicherung ist - das ist gerade schon gesagt worden - per definitionem und von Anfang an immer nur eine Teilkostenversicherung gewesen. Deswegen ist es wichtig, dass wir mit dieser Reform den Abschluss von Zusatzversicherungen im privaten Bereich auch in der Kooperation mit gesetzlichen Versicherungen erleichtern; denn die Zusatzversicherungen haben per se einen Vorteil: Sie sind kapitalgedeckt. Zweitens. Es ist wichtig - das hat zwar mit dieser Pflegeversicherungsreform nicht direkt etwas zu tun, aber gerade in diesen Zeiten steht die Entscheidung an, das Forschungszentrum nach Bonn zu verlegen -, ({10}) im Bereich der demenziellen Erkrankungen nicht nur für die Betroffenen mehr Geld zur Verfügung zu stellen - das ist richtig -, sondern auch mehr Geld für Forschung und Entwicklung auszugeben. So können wir mit Blick auf das, was 2050 oder 2060 kommt, schauen, wie wir hier vielleicht gewisse Entwicklungen im Sinne der Menschen verhindern können. Drittens. Zu einer Zeit, zu der ich alt bin und ein Drittel der Menschen in diesem Land über 60 Jahre alt sein wird, werden wir uns auch - das ist mir persönlich sehr wichtig - über die Fragen des Zusammenlebens auseinandersetzen müssen. Es geht darum, wie wir das Zusammenleben in einer älteren Gesellschaft gestalten wollen und welche Formen es gibt. Deswegen ist es sehr wichtig, dass wir mit dieser Pflegereform das Poolen von Leistungen möglich machen, dass wir Modellprojekte realisieren, dass wir im Rahmen anderer Projekte nach Alternativen zwischen der rein ambulanten und der rein stationären Pflege suchen, ({11}) um solche neuen Formen des Zusammenlebens zu erproben. Ich fasse zusammen: Wie viele andere Kollegen von der Unionsfraktion werde ich diesem Gesetzentwurf zustimmen, weil wir die Verbesserung der Leistungen für demenziell Erkrankte und auch die Steigerung der Transparenz in den Pflegeheimen nicht davon abhängen lassen können, ob sich bei unserem Koalitionspartner endlich die notwendige Einsicht durchsetzt. Von daher gehe ich heute diesen wichtigen Schritt mit. Klar ist aber auch, dass noch wichtigere Schritte im Sinne der Zukunftsfähigkeit dieses Systems zu tun bleiben. Vielleicht gelingt es uns irgendwann - entweder durch Einsicht oder durch neue Mehrheiten in diesem Deutschen Bundestag -, diese Schritte zu tun. ({12})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur struktu- rellen Weiterentwicklung der Pflegeversicherung. Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/8525, in Kennt- nis des Vierten Berichts über die Entwicklung der Pfle- geversicherung auf Drucksache 16/7772 den Gesetzent- wurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/7439 und 16/7486 in der Ausschussfassung anzunehmen. Hierzu liegen drei Änderungsanträge vor, über die wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/8532? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsan- trag ist mit den Stimmen des ganzen Hauses bei Gegen- stimmen der FDP abgelehnt. Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/8530? - Wer stimmt dage- gen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU und FDP bei Enthaltun- gen von Bündnis 90/Die Grünen und Gegenstimmen der Linken abgelehnt. Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/8531? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsan- trag ist mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU und FDP bei Gegenstimmen von Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die Linke abgelehnt. Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand- zeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der Opposi- tion angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzent- wurf ist damit in dritter Beratung mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der Opposition angenom- men. Wir kommen damit zur Abstimmung über drei Ent- schließungsanträge. Wer stimmt für den Entschließungs- antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/8528? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschlie- ßungsantrag ist mit den Stimmen des ganzen Hauses bei Gegenstimmen der FDP abgelehnt. Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Frak- tion Die Linke auf Drucksache 16/8527? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU und FDP bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen und Gegenstimmen der Linken abgelehnt. Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Frak- tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/8529? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschlie- ßungsantrag ist ebenfalls mit den Stimmen der Fraktio- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner nen der SPD, CDU/CSU und FDP bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der Fraktion Die Linke abgelehnt. Wir setzen die Abstimmungen zu der Beschlussemp- fehlung des Ausschusses für Gesundheit auf Drucksa- che 16/8525 fort. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 2 sei- ner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/7136 mit dem Titel „Finanzielle Nachhaltigkeit und Stärkung der Verbraucher - Für eine konsequent nutzerorientierte Pflegeversicherung“. Wer stimmt für diese Beschluss- empfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Frak- tionen der SPD, CDU/CSU und FDP bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen. Unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/7472 mit dem Titel „Für eine humane und solidarische Pflegeabsicherung“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Fraktionen der SPD, CDU/CSU und FDP bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und Gegenstimmen der Fraktion Die Linke an- genommen. Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 4 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/8525 die Ab- lehnung des Antrags der Fraktion der FDP auf Druck- sache 16/7491 mit dem Titel „Für eine zukunftsfest und generationengerecht finanzierte, die Selbstbestimmung stärkende, transparente und unbürokratische Pflege“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussemp- fehlung ist mit den Stimmen des ganzen Hauses bei Ge- genstimmen der FDP angenommen. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 5 sei- ner Beschlussempfehlung, eine Entschließung anzuneh- men. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussemp- fehlung ist mit den Stimmen der Fraktionen Die Linke, SPD und CDU/CSU bei Gegenstimmen der Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und FDP angenommen. Zusatzpunkt 6. Beschlussempfehlung des Ausschus- ses für Gesundheit zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Entbürokratisierung der Pflege vorantrei- ben - Qualität und Transparenz der stationären Pflege erhöhen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- empfehlung auf Drucksache 16/6836, den Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/672 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussemp- fehlung ist mit den Stimmen der Fraktionen Die Linke, SPD und CDU/CSU bei Enthaltung der Fraktion Bünd- nis 90/Die Grünen und Gegenstimmen der Fraktion der FDP angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 a und 24 b auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus Ernst, Dr. Lothar Bisky, Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Riester-Rente auf den Prüfstand stellen - Drucksache 16/8495 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0}) Finanzausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Haushaltsausschuss b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Volker Schneider ({2}), Klaus Ernst, Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Wiedereinführung der Lebensstandardsicherung in der gesetzlichen Rente - Drucksachen 16/5903, 16/6921 Berichterstattung: Abgeordneter Peter Weiß ({3}) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich würde jetzt gern die Aussprache eröffnen und bitte die Kolleginnen und Kollegen, ihre Gespräche außerhalb des Saales zu führen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Klaus Ernst. ({4})

Klaus Ernst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003753, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Angesichts der Rentenpolitik der Bundesregierung verstehe ich, dass so viele Koalitionäre den Raum verlassen. Die Ergebnisse dieser Politik sind leicht zusammenzufassen: 2003: Rentenerhöhung null; 2004: Rentenerhöhung null; 2005: Rentenerhöhung null; 2006: Rentenerhöhung null; 2007: plus 0,54 Prozent bei einer Preissteigerung von 2,8 Prozent; zu 2008 kann ich aufgrund der neuesten Pressemeldungen nur sagen: Schleuderkurs. ({0}) Die Rentner haben seit 2003 aufgrund der Preissteigerungen real 10 Prozent weniger. Sie haben viele zusätzlichen Belastungen zu verkraften gehabt: den allein zu finanzierenden zusätzlichen Krankenkassenbeitrag, unter anderem für Krankengeld, das ein Rentner per Definition gar nicht mehr beziehen kann, Zuzahlungen, die Praxisgebühr von 10 Euro pro Quartal usw. Das Ergebnis der Rentenpolitik der letzten Jahre lautet: Keine ReKlaus Ernst gierung hat die Rentner so geschröpft wie Rot-Grün und Schwarz-Rot in den letzten Jahren. Keine Regierung hat sich das zuvor getraut. ({1}) Aber jetzt bekommen Sie kalte Füße. Heute vor fünf Jahren ist die Agenda 2010 verkündet worden. Jetzt, fünf Jahre später, wollen Sie die Dämpfung, die durch die sogenannte Riester-Reform verursacht wurde, aussetzen. Inzwischen haben Sie einen neuen Kürzungsfaktor eingeführt, den Nachhaltigkeitsfaktor. Fünf Jahre nach Einführung des Nachhaltigkeitsfaktors wollen Sie den Riester-Faktor außer Kraft setzen. Bei diesem Grad an Verwirrung erscheint die Aufnahme der Demenzkranken in die Pflegeversicherung in einem ganz neuen Licht. ({2}) Die Aussetzung dieses Dämpfungsfaktors ist aber viel zu wenig. Wir wollen und beantragen, dass alle Dämpfungsfaktoren in der Rente abgeschafft werden. Wir wollen, dass die Renten wieder der Lohnentwicklung in diesem Land folgen, was Sie verhindert haben, ({3}) und wir wollen, dass die gesetzliche Rente wieder den Lebensstandard sichert. Man hatte immer den Eindruck, dass die Riester-Rente die Kürzung der gesetzlichen Rente ausgleichen soll. Dazu ein Zitat von Herrn Riester aus dem Jahr 2007: Nein, bei mir ging es nie darum, Defizite der Sozialversicherungsrente auszugleichen. Ich habe die Sozialversicherungsrente nicht als eine Rente angesehen, die den Lebensstandard im Alter sichert, da habe ich mich völlig unterschieden von Norbert Blüm. Inzwischen stehen wir Herrn Blüm näher als Sie. ({4}) Sie zweifeln an der Finanzierbarkeit unserer Anträge. Ich empfehle Ihnen, unsere Anträge bis zum Ende zu lesen; dann wissen Sie nämlich auch, wo das Geld herkommen soll. Sie formulieren ein Dogma: Die Beiträge für die gesetzliche Rentenversicherung sollen nicht steigen. Sie behaupten, die Linke fordere einen Beitragssatz in Höhe von 28 Prozent, und tun so, als würde der Beitragssatz im Jahr 2030 anders aussehen, wenn man Ihrem Konzept folgen würde. ({5}) Dem wollen wir uns jetzt einmal mathematisch nähern, auch wenn ich weiß, dass es bei Ihnen mit der Mathematik schwierig ist; das sieht man ja an der Mehrwertsteuer. ({6}) Wir wollen es trotzdem einmal versuchen: Sie prognostizieren für 2030 einen Rentenbeitrag in Höhe von 22 Prozent. Paritätisch finanziert würde das bedeuten, dass der Arbeitnehmer 11 Prozent zahlt. Inzwischen weiß man aber, dass man von seiner Rente nicht wird leben können. Deshalb muss ein Arbeitnehmer, wenn er seinen Lebensstandard im Alter halten will, mit ungefähr 6 Prozent seines Einkommens privat vorsorgen. Sein Beitrag ist also überhaupt nicht stabil. Sein Beitrag liegt bei 11 plus 6 gleich 17 Prozent. Wenn man den Beitragssatz, den die Arbeitgeber zahlen sollen - er beträgt 11 Prozentpunkte -, berücksichtigt, kommt man zu dem Ergebnis: Nach Ihren Vorstellungen würde der Beitragssatz zur Rentenversicherung im Jahr 2030 bei 28 Prozent liegen. Außerdem wäre er dann nicht mehr paritätisch finanziert. Die Arbeitgeber müssten einen Beitragssatz von 11 Prozentpunkten und die Arbeitnehmer einen Beitragssatz von 17 Prozentpunkten zahlen. Wir hingegen wollen, dass der Beitragssatz zur Rentenversicherung, den die Arbeitnehmer zu zahlen haben, nicht in diesem Maße steigt. Außerdem wollen wir, dass er nach wie vor paritätisch finanziert wird. ({7}) Unser Vorschlag hätte zur Folge, dass der Beitragssatz, den die Arbeitnehmer zu zahlen hätten, um 3 Prozentpunkte geringer wäre, als er es nach Ihren Vorstellungen wäre. Das ist die Wahrheit. ({8}) Meine Damen und Herren, jetzt möchte ich mich noch ein wenig mit der Riester-Rente beschäftigen. ({9}) Es gibt folgendes Problem: Sie subventionieren mit vielen Milliarden Euro eine Reform, von der wir noch gar nicht wissen, wie sie wirkt. Welche Wirkungen sie für eine Verkäuferin, die 1 000 Euro verdient, hat, das wissen wir allerdings. Wenn man die Situation zweier Verkäuferinnen, von denen eine riestert und eine nicht riestert, vergleicht, kommt man zu folgendem Ergebnis: Sagen wir, beide Frauen beziehen, wenn sie entsprechend wenig verdienen, eine gesetzliche Rente von 400 Euro. Diejenige, die geriestert hat, erhält 50 Euro mehr. Letztlich bekommen beide Verkäuferinnen eine Grundsicherung in Höhe von circa 650 Euro. Das bedeutet, dass die Frau, die geriestert hat, von ihrer Riester-Rente überhaupt nichts hat. ({10}) Weil Sie die Riester-Rente, obwohl Sie das wissen, fördern und den Leuten nicht sagen, dass sie davon nichts haben, stellen wir fest: Das, was Sie hier betreiben, ist organisierter Anlagebetrug. ({11}) Millionen von Menschen werden zu den privaten Versicherungskonzernen gedrängt, obwohl sie nicht wissen, was am Ende für sie herauskommt. Das Einzige, das wir schon heute wissen, ist, wer mit Sicherheit an der Riester-Rente verdient: die private Versicherungswirtschaft. ({12}) Diese Branche macht aufgrund der Riester-Rente große Gewinne. Im Jahre 2001 befanden sich die Versicherungsunternehmen noch in einer Krise. Inzwischen wissen sie gar nicht mehr, wohin mit ihrem Geld. ({13}) Meine Damen und Herren, mit der Aussetzung des Riester-Faktors für die Dauer von zwei Jahren sind Sie insofern auf dem richtigen Weg, als die Renten dadurch geringfügig steigen werden, allerdings so geringfügig, dass die Rentner im Jahre 2008 wieder weniger Geld bekommen werden als im Jahr zuvor. ({14}) Um das zu vermeiden, reicht es nicht aus, nur den Riester-Faktor auszusetzen. Sie wissen ganz genau, dass die Bürger in diesem Lande das nicht länger hinnehmen. Die Aussetzung des Riester-Faktors für zwei Jahre ist nichts anderes als ein wahltaktisches Manöver, ({15}) das Sie betreiben, weil Sie merken, dass Sie bei Wahlen eins auf die Mütze kriegen. Das ist die Wahrheit. ({16}) Ich komme zum Schluss. Wir werden Sie in der Rentenpolitik weiter vor uns hertreiben. Ich garantiere Ihnen: Sie werden noch vieles machen, was in unserem Sinne ist, auch dann, wenn Sie es gar nicht wollen. Ich danke Ihnen fürs Zuhören. ({17})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Nächster Redner ist der Kollege Peter Weiß, CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Manch einer wird verwundert gewesen sein, welch toller Rechenkünstler gerade geredet hat. ({0}) Das war sagenhaft verwirrend. Daher will ich Ihnen sagen, was die Forderung der Linken im Ergebnis bedeuten würde: ({1}) Das, was hier vorgetragen und beantragt wurde, hätte zur Folge, ({2}) dass der Beitragssatz zur Rentenversicherung in einem Schritt auf 28 Prozentpunkte in die Höhe schnellen würde. ({3}) Den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in Deutschland würden dadurch 80 Milliarden Euro zusätzlich abgeknöpft, ({4}) und zwar mit steigender Tendenz. ({5}) Das ist das Ergebnis dessen, was hier gerade vorgetragen worden ist. ({6}) Diejenigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die diesen sagenhaft hohen Beitragssatz zur Rentenversicherung - wie gesagt, mit steigender Tendenz - zahlen müssten, könnten sich noch nicht einmal sicher sein, dass sie dafür im Alter eine Rente in entsprechender Höhe bekommen. ({7}) Peter Weiß ({8}) Im Gegenteil, ihr Rentenanspruch würde sogar sinken. Deswegen sage ich Ihnen: Der Rentenklau hat einen Namen, und er sitzt in diesem Hause linksaußen. ({9}) Damit kein Rentenklau stattfindet, sondern auch in Zukunft der Lebensstandard im Alter gesichert ist, haben wir das Alterssicherungssystem in Deutschland vor einigen Jahren auf ein Dreisäulensystem umgestellt: ({10}) gesetzliche Rentenversicherung, betriebliche Altersvorsorge und private, kapitalgedeckte Altersvorsorge. ({11}) Warum haben wir das gemacht? Wir stehen in Deutschland vor der riesigen Aufgabe, die demografische Veränderung zu bewältigen. Die sogenannten geburtenstarken Jahrgänge - das sind die Leute, die heute zwischen 35 und 55 Jahre alt sind - wollen, wenn sie in 10, 20, 30 Jahren in Rente gehen, eine anständige Rente bekommen. ({12}) Hinzu kommt, dass genau diese geburtenstarken Jahrgänge bis zu fünf Jahre länger als die heutigen Rentnerinnen und Rentner Rente beziehen werden, weil die Lebenserwartung - erfreulicherweise - deutlich steigt. Ich will das an einem Beispiel verdeutlichen: Der geburtenstärkste Jahrgang ist der Jahrgang 1964. Die im Jahr 1964 Geborenen werden 2029 65 Jahre alt sein. Dieser Jahrgang wird dann den Schätzungen nach 1,334 Millionen Menschen umfassen. Die im Jahr 2004 Geborenen, die dann 25 Jahre alt sein werden und die hoffentlich im Berufsleben stehen und Steuern und Sozialversicherungsbeiträge zahlen werden, werden nur 775 000 Menschen umfassen. 1,334 Millionen zu 775 000, dieser Vergleich zwischen nur zwei Geburtsjahrgängen zeigt überdeutlich, wie radikal sich die Altersstruktur unseres Landes verändern wird. Darauf muss man als Rentenpolitiker eine Antwort geben. ({13}) Die Antwort kann nur lauten: Unser Rentensystem muss einen gerechten Ausgleich finden zwischen dem, was wir den Älteren, die in Rente gehen, zugestehen wollen, und dem, was die Jungen in die Rentenkasse einzahlen müssen. Das bedeutet in einem umlagefinanzierten Rentensystem, in dem die Jungen für die Alten zahlen, dass das Niveau der Rente sinken muss, damit der Beitrag nicht in exorbitante Höhen wie 28 Prozent oder, wie es Prognos für das Jahr 2030 vorausgesagt hat, 36 Prozent oder gar 41 Prozent steigt. Das ist das Schreckgespenst, vor dem die Menschen in Deutschland stehen. ({14})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Weiß, der Kollege Ernst würde gerne eine Zwischenfrage stellen.

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das darf er machen, und er darf mir auch seine neuen Rechenbeispiele vortragen.

Klaus Ernst (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003753, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Danke, Herr Weiß. - Würden Sie mir zustimmen, dass der Mensch, der im Jahre 2030 seinen Lebensstandard mit gesetzlicher Rente und mit privater Vorsorge sichern will, auf einen Beitragssatz von insgesamt ungefähr 17 Prozent kommt? ({0}) Würden Sie mir zweitens zustimmen, dass das Problem der demografischen Entwicklung nicht nur die gesetzlich Versicherten, sondern auch die privat Versicherten betrifft? Würden Sie mir drittens zustimmen, dass es angesichts dessen, dass das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung festgestellt hat, dass der Aufschwung nur bei den Unternehmen ankommt, sinnvoll wäre, die Unternehmen wieder paritätisch zur Finanzierung der Rente heranzuziehen? ({1})

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Ernst, wenn Sie sich einmal die Mühe machen, den letzten Altersvorsorgebericht der Bundesregierung zu lesen, ({0}) werden Sie feststellen, dass die Experten sagen, dass derjenige, der das Dreisäulenmodell praktiziert, der gesetzliche Rente mit betrieblicher Altersvorsorge und mit privater, kapitalgedeckter Altersvorsorge, etwa einer Riester-Rente, kombiniert, davon ausgehen kann, dass er ein Versorgungsniveau wie die heutigen Rentnerinnen und Rentner erreicht. Die Geringverdienenden werden dieses Versorgungsniveau eher erreichen und es sogar übertreffen können. Das sind Aussagen des Altersvorsorgeberichts. Experten haben das durchgerechnet, nicht politische Schaumschläger wie Sie. ({1}) Es überfordert die Linke intellektuell, einzusehen - das ist der entscheidende Denkfehler -, dass die umlagefinanzierte Rente, bei der die Jungen in die Rentenkasse einzahlen, damit die Alten die Rente bekommen, auf die sie in ihrem Erwerbsleben einen Anspruch erworben haben, ein riesiges Demografieproblem hat, Peter Weiß ({2}) wenn viele Alte und wenige Junge da sind. Die kapitalgedeckte Altersvorsorge - die betriebliche Altersvorsorge genauso wie der Riester-Sparvertrag - bedeutet, dass ich, dass Sie, dass jeder von uns für sich, auf seinem Konto, etwas für seine Altersvorsorge anspart und später nicht die Jungen, die arbeiten, belastet. Deswegen sind die von uns vorgenommenen Umstellungen im Altersvorsorgesystem in Deutschland die richtige Antwort auf die demografischen Bedingungen. Ihr Vorhaben, alle Lasten auf die junge Generation zu verschieben, ist ein Betrug an dieser Generation. ({3}) Aber zurück zu meiner Rede: ({4}) Entscheidend ist, dass wir bei einer Umstellung unseres Altersvorsorgesystems die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht alleine lassen. Wir müssen ihnen mit konkreter staatlicher Hilfe helfen, damit private kapitalgedeckte Altersvorsorge für sie kein Fremdwort ist, sondern dass sie diese Chance nutzen können. ({5}) Dabei ist die Große Koalition, wie ich finde, einen sehr konsequenten Weg gegangen. Erstens hat die Große Koalition die Entgeltumwandlung zur Altersvorsorge dauerhaft steuer- und sozialabgabenfrei gestellt. Davon profitiert der weitere notwendige Aufbau der betrieblichen Altersvorsorge. Schon heute haben 65 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland einen Betriebsrentenanspruch. Wir tragen mit dieser Entscheidung konkret dazu bei, dass sich der Anteil weiter erhöht und diese Säule der Altersvorsorge entsprechend stabilisiert wird. ({6}) Zweitens hat diese Große Koalition die private kapitalgedeckte Altersvorsorge noch attraktiver gemacht. Gegenwärtig haben bereits 11 Millionen Menschen einen Riester-Sparvertrag und es werden täglich mehr. Denn seit diesem Jahr steigt beim Riester-Sparvertrag der staatliche Förderbetrag pro Kind auf 300 Euro jährlich. Als Neuerung planen wir, dass auch der Erwerb von Wohneigentum zur Altersvorsorge gefördert wird, dass junge Leute eine Einstiegsprämie von 100 Euro erhalten und dass Erwerbsgeminderte ebenfalls die staatliche Förderung für private Altersvorsorge erhalten können. Herr Ernst hat auf die Parität der bisherigen jeweils hälftigen Finanzierung der Rentenversicherungsbeiträge durch Arbeitnehmer und Arbeitgeber hingewiesen. Dem halte ich entgegen: Wenn wir für Niedrigverdiener bei der Riester-Rente eine staatliche Förderquote von bis zu 90 Prozent ermöglichen, dann ist das überparitätisch und kommt gerade denjenigen zugute, die es am nötigsten brauchen. Riester lohnt sich auch und erst recht für den, der wenig verdient. ({7}) Gleichzeitig stärken wir auch die gesetzliche Rente; denn sie wird auch in Zukunft die wichtigste Säule der Altersvorsorge bleiben. Die Rentnerinnen und Rentner fordern von uns zu Recht die Chance, auch am wirtschaftlichen Aufschwung teilzuhaben, zumal zusätzliche Belastungen auf sie zukommen wie die soeben beschlossene Erhöhung des Pflegeversicherungsbeitrages um 0,25 Prozentpunkte ab 1. Juli bei einer entsprechenden Ausweitung der Versicherungsleistungen. Deshalb will die Große Koalition zusätzliche Leistungen für die Renterinnen und Rentner einführen. Wir wollen, dass die Rentnerinnen und Rentner am 1. Juli dieses Jahres eine angemessen Rentenerhöhung erhalten, damit auch sie am wirtschaftlichen Aufschwung in unserem Land partizipieren können. ({8}) Es ist interessant, dass ausgerechnet die Linke - wie Herr Ernst in seiner Rede - dies wieder verteufelt. Ich bin der Überzeugung, dass eine angemessene Rentenerhöhung zum 1. Juli 2008, die die Große Koalition jetzt auf den Weg bringt, damit die Rentnerinnen und Rentner am wirtschaftlichen Aufschwung partizipieren können, eine gute und richtige Entscheidung ist. Es ist ein positives Signal für die Rentnerinnen und Rentner in unserem Land. ({9})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Weiß, der Kollege Dehm möchte auch eine Zwischenfrage stellen.

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Auch der Herr Kollege Dehm möchte später eine Rente bekommen.

Dr. Jörg Diether Dehm-Desoi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000365, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Kollege, können Sie erklären, warum Herr Dr. Norbert Blüm in der Riester-Rente einen völligen Bruch mit dem Solidarprinzip sieht, oder gehört er auch zu denjenigen, die nur verteufeln? ({0})

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich kann Ihnen die Frage beantworten. Zuerst einmal gebührt Norbert Blüm Anerkennung dafür, dass er 1992 die größte Rentenreform, die es in Deutschland gegeben hat, was das finanzielle Ausmaß anbelangt, durchgeführt hat. Er hat Maßnahmen eingeleitet, die dazu geführt haben, dass der Rentenversicherungsbeitrag - entgegen Peter Weiß ({0}) dem, was die Linken wollen - nicht in astronomische Höhen steigt, ({1}) sondern dass der Anstieg gedämpft wird. Norbert Blüm hat 1987 bei Prognos in Basel eine Studie in Auftrag gegeben, die untersuchen sollte, was mit der gesetzlichen Rente passiert, wenn man alles, was damals gegolten hat, weiterlaufen lässt. Prognos hat ihm damals folgende Zahlen präsentiert: Wenn wir nichts tun ({2}) - darauf antworte ich gerade -, dann steigt der Rentenversicherungsbeitrag bis zum Jahr 2030 auf mindestens 36 Prozent, wahrscheinlich sogar auf 41 Prozent. Als Konsequenz wurde in diesem Haus 1992 die von Norbert Blüm initiierte Rentenreform beschlossen, die dieses für die jungen Menschen, die arbeiten gehen und Geld verdienen, schreckliche Szenario verhindert hat. Norbert Blüm gebührt Dank dafür, dass er die bislang konsequenteste Rentenreform in Deutschland durchgeführt hat. Zu Recht hat Norbert Blüm aber auch die Sorge, dass Menschen, die wenig verdient haben und lange Ausfallzeiten haben, bei sinkendem Rentenniveau eine Rente erhalten, die zum Leben nicht mehr reicht. Hier gebe ich ihm Recht. Wir werden sicherlich auch eine Form der Absicherung nach unten für künftige Generationen in unserem Rentensystem benötigen. Ein sinkendes Rentenniveau darf nicht zur Folge haben, dass Menschen in Altersarmut geraten. ({3})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Weiß, der Kollege Spieth würde gerne eine Zwischenfrage stellen.

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin, ich beantworte gerne alle Fragen. Aber vielleicht sollten wir den Kollegen von der Linksfraktion ein Rentenseminar anbieten. ({0})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Es ist Ihnen unbenommen, ihnen das anzubieten.

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte schön, Herr Spieth.

Frank Spieth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003849, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Da ich in der Selbstverwaltung der gesetzlichen Rentenversicherung tätig war und Seminare im Rentenversicherungsrecht gemacht habe, könnten wir uns dann intensiv austauschen. - Herr Kollege Weiß, in der Tat wurde eine Rentenreform auf der Grundlage einer Prognos-Studie aus dem Jahre 1987 durchgeführt, und zwar am 9. November 1989, also an dem Tag, an dem die Mauer gefallen ist. Deshalb ist das leider weitgehend aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden. Tatsache ist, dass damals gesagt wurde: Machten wir den Umbau von der bruttobezogenen Rente hin zur nettobezogenen Rente einschließlich weiterer Rentenkürzungen nicht, kämen wir auf die Beitragssätze, die Sie vorhin beschrieben haben, nämlich auf bis zu 36 Prozent. Aber Sie haben peinlichst verschwiegen, dass man damals bereit war - das wurde vom gesamten Haus festgelegt -, eine lebensstandardsichernde, nettobezogene Rente mit einem Rentenversicherungsbeitrag in Höhe von 28 Prozent zu finanzieren. Ist das zutreffend oder nicht? ({0})

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Spieth, ich wiederhole, was ich vorhin vorgetragen habe: Das Hauptproblem bei einem Rentenversicherungsbeitrag in Höhe von 28 Prozent und mehr wäre, dass den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die einen solch astronomisch hohen Rentenversicherungsbeitrag zahlen müssten, angesichts der demografischen Entwicklung für ihren späteren Ruhestand kein Äquivalent, also eine diesem Beitrag entsprechende Rente, zugesagt werden kann. Deswegen war und bleibt es richtig, dass wir unser Rentensystem zu einem Dreisäulensystem umbauen, das die Umlagefinanzierung - die Jungen zahlen für die Alten - mit der kapitalgedeckten Altersvorsorge - die Jungen sparen für ihr Alter an kombiniert. Das ist und bleibt die einzig richtige Antwort, auch wenn die Linke das nicht mag. ({0}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, um es zusammenzufassen: Was hier von links beantragt wird, ist nichts anderes als eine Rolle rückwärts in der Rentenpolitik. ({1}) Diese Rolle rückwärts bewirkt Folgendes: Erstens. Sie zerstört die Solidarität der Generationen. Was die Linken wollen, ist Kampf der Generationen gegeneinander und nicht solidarischer Ausgleich. ({2}) Zweitens. Was hier beantragt wird, schafft nicht soziale Gerechtigkeit, sondern zerstört sie. Das Drei-Säulen-Modell der Altersvorsorge schafft Gerechtigkeit unter den Generationen; die Rolle rückwärts ist die Abschaffung dieser Gerechtigkeit. Eine Rolle rückwärts in der Rentenpolitik würde schlichtweg einen Betrug an der jungen Generation bedeuten, aber nicht nur an ihr, sondern letztlich auch an der älteren. Deswegen sage ich: Das Drei-Säulen-System der Altersvorsorge ist alternativlos, wenn wir der doppelten demografischen Herausforderung begegnen wollen, die auf uns zukommt und die die Linken gerne leugnen, so wie Peter Weiß ({3}) sie vieles gerne leugnen und den Leuten nicht die Wahrheit sagen. ({4}) - So ist es. Das Dreisäulensystem ist die einzig richtige Antwort auf die demografische Herausforderung, die vor uns steht. Mit dem, was wir mit zusätzlicher staatlicher Hilfe für die private kapitalgedeckte Altersvorsorge auf den Weg gebracht haben und weiter auf den Weg bringen, also mit der Stärkung der betrieblichen Altersvorsorge, verhindern wir Altersarmut, mit dem schaffen wir Sicherheit im Alter, auch für die Zukunft. Vielen Dank. ({5})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich gebe das Wort dem Kollegen Dr. Heinrich Kolb, FDP-Fraktion. ({0})

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich halte es für bemerkenswert, was heute Morgen hier passiert. Am Ende dieser Sitzung wird sich der Deutsche Bundestag in die Osterpause verabschieden. Die Tickermeldungen überschlagen sich, die Bundesregierung wolle an der Rentenformel Veränderungen vornehmen. Aber hier wird bislang diese Tatsache mit keinem Wort angesprochen. ({0}) Ich halte es auch für ein Unding, dass der zuständige Minister, der für heute Mittag um 14.30 Uhr zu diesem Thema eine Pressekonferenz angesetzt hat, nicht die Gelegenheit nutzt, heute Morgen hier im Deutschen Bundestag seine Pläne vorzustellen und uns zu informieren. So geht das nicht. ({1}) Das muss man hier wirklich sehr deutlich sagen. ({2}) - Wenn der Kolb recht hat, hat er recht; das ist zweifellos der Fall. Und hier hat er recht. Ich will es unmissverständlich sagen: Auch für uns ist nicht akzeptabel, dass die Rentner in diesem Lande in ihrer Einkommensentwicklung dauerhaft hinter der Kaufpreisentwicklung zurückbleiben, also real an Kaufkraft verlieren. Das ist nicht akzeptabel. Aber Kaufkraftverlust hat zwei Seiten. Eine ist die in den letzten Jahren sicherlich in sehr geringem Maße vorgenommene Rentenanpassung, wenn es überhaupt eine gab. Auf der anderen Seite geht es aber auch um eine deutliche Kostensteigerung. Hierzu muss ich feststellen: Die Rentnerinnen und Rentner in diesem Lande büßen für eine falsche Politik der Bundesregierung. ({3}) Die Bundesregierung hat die auch von den Rentnern zu zahlende Mehrwertsteuer drastisch erhöht und damit die Inflation hochgetrieben. Die Krankenkassenbeiträge steigen; die Pflegeversicherungsbeiträge werden zum 1. Juli dieses Jahres angehoben. Von der Senkung des Arbeitslosenversicherungsbeitrages profitieren die Rentner nicht. Die Energiekosten galoppieren davon und belasten auch die Rentnerhaushalte. Das ist nicht akzeptabel, und diese Entwicklung hat die Bundesregierung zu verantworten. ({4}) Angesichts dessen stellen Sie sich hier hin, Herr Weiß, und sagen: Wir wollen, dass sie jetzt eine angemessene Erhöhung bekommen. - Ich zitiere Ihren Fraktionsvorsitzenden Kauder: Eine Rentenerhöhung von 0,4 Prozent wäre für viele äußerst unbefriedigend, weil damit nicht einmal die Inflation ausgeglichen würde. Wissen Sie denn, Herrn Weiß, wie hoch die Inflationsrate, prognostiziert durch die Bundesregierung im Januar, in diesem Jahr sein wird? 2,3 Prozent. Und jetzt kommt vielleicht eine Rentenanpassung von 1 Prozent heraus. Ist das angemessen, Herr Weiß, was Sie hier vorhaben? Das ist es doch keinesfalls. ({5}) - Ich lasse die Zwischenfrage des Kollegen natürlich zu.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kolb, ich wollte Sie gerade fragen, ob Sie diese Zwischenfrage zulassen.

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich freue mich darauf. ({0})

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Da Sie, Herr Kollege Dr. Kolb, als ehemaliger Staatssekretär die Rentenformel exakt kennen und wissen, dass es in der Rentenanpassung keinen Inflationsausgleich gibt, so wie die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer keinen Anspruch auf Inflationsausgleich haben, sondern in Tarifverhandlungen ihre Gehaltserhöhungen erkämpfen müssen, frage ich Sie erstens: Ist die FDP willens und bereit - und mit welcher Rentenformel und wie finanziert? -, den Rentnerinnen und Rentnern zum 1. Juli 2008 einen vollen Inflationsausgleich zu geben? Zweitens: Warum machen Sie bei unserem Vorhaben, wenigstens eine einigermaßen angemessene Rentenerhöhung zum 1. Juli 2008 zu ermöglichen, nicht mit? WaPeter Weiß ({0}) rum schließen Sie sich der Großen Koalition in dieser Frage nicht an? ({1})

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Erstens, Herr Kollege Weiß, das Muster, das Olaf Scholz offensichtlich jetzt zur Blaupause erhoben hat, geht nicht. Man kann nicht den Leuten ein Kotelett zurückgeben, nachdem man ihnen vorher die Sau vom Hof geholt hat, und dann noch Dankbarkeit erwarten. Das geht jedenfalls nicht. ({0}) Zweitens - ich komme auf Ihre Frage, Herr Kollege Weiß -: Das Herumbasteln an der Rentenformel verbietet sich aus unserer Sicht. Es ist nicht der richtige Weg, weil es das Vertrauen der Menschen in eine langfristig angelegte und verlässliche Rentenpolitik zerstört. Das geht also auch nicht. ({1}) Wenn es - so verstehe ich das befristete Aussetzen des Riester-Faktors - darum gehen soll, die Menschen in diesem Lande befristet zu entlasten - Menschen heißt hier ganz konkret: die Rentnerinnen und Rentner -, dann sollten Sie darüber nachdenken, wie man die Rentnerinnen und Rentner in diesem Lande von Energie- und Verbrauchssteuern entlasten kann. Denn genau das sind Dinge, die die Menschen besonders treffen. ({2}) Hier könnten Sie nicht nur ein bisschen heilen, sondern auch bewirken, dass die Menschen das Gefühl haben: Es wird zwar alles teurer, aber die Bundesregierung hat uns punktuell an dieser Stelle so gestellt, dass wir davon nicht betroffen sind. - Das wäre faire Politik gegenüber den Rentnerinnen und Rentnern. ({3}) - Nein, Herr Kollege Weiß, das, was Sie hier machen, ist nicht ehrlich. ({4}) - Ich habe es Ihnen doch gesagt: ({5}) Wir wollen eine gezielte Entlastung der Rentnerinnen und Rentner bei den Energie- und Verbrauchssteuern, weil das wirklich bei denen ankommen würde, denen geholfen werden soll. ({6}) Wir wollen kein Herumbasteln an der Rentenformel. Das ist wirklich ein Ding. ({7}) Sie selbst, Herr Weiß, haben in der Vergangenheit eine Rente nach Kassenlage immer ausgeschlossen. Aber was wir jetzt erleben, ist eine Rente nach Umfragenlage. ({8}) Offensichtlich hat der Bundesarbeitsminister angesichts der abstürzenden Umfragewerte der SPD, Frau Kollegin Nahles, kalte Füße bekommen, ({9}) mit einer Rentenerhöhung von 0,5 Prozent vor die Menschen zu treten. Das ist doch der wahre Hintergrund. Das geht so nicht; das muss man wirklich sagen. Sie haben den Überblick verloren. Im letzten Jahr, Herr Kollege Weiß, haben Sie die Rentenbeiträge erhöht, obwohl es vermeidbar gewesen wäre. ({10}) Sie haben zugunsten des Bundeshaushaltes die Beiträge der Empfängerinnen und Empfänger von ALG II künstlich um 2 Milliarden Euro reduziert. Wir hatten im Jahr 2007 einen Überschuss in Höhe von 1,2 Milliarden Euro. Das heißt unter dem Strich: Wir hätten diese Rentenerhöhung von 19,5 auf 19,9 Prozent nicht gebraucht. ({11}) In der Rentenformel wirkt diese Erhöhung so, dass die Rentenanpassung reduziert wird. Deswegen wiederhole ich: Sie haben den Überblick verloren. Sie wissen nicht mehr, wie dieses komplizierte Räderwerk der Rentenformel ineinandergreift und wollen jetzt den Riester-Faktor für zwei Jahre aussetzen. ({12}) Ich sage noch einmal: Das ist Politik nach Umfragewerten. Mit einer seriösen und verlässlichen Rentenpolitik hat das nichts zu tun. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({13})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Das Wort hat der Kollege Gregor Amann, SPD. ({0})

Gregor Amann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003731, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die beiden vorliegenden Anträge der Linken und den Redebeitrag von Kollegen Ernst kann man kurz mit einem Satz zusammenfassen: Riester-Rente taugt nichts - abschaffen! ({0}) Jetzt habe ich aber vor wenigen Tagen in Spiegel-Online gelesen, dass die Kollegin Kipping von den Linken ein Thesenpapier zur Rentenpolitik ihrer Partei verfasst hat. In diesem Thesenpapier steht - so Spiegel-Online -: Kürzlich beschloss der Parteivorstand, das Thema Rente zu einem der zentralen Kampagnenschwerpunkte zu machen. Das findet auch die Kollegin Kipping richtig. Aber, so schreibt sie in diesem Papier laut Spiegel-Online: Dass dem Beschluss zur Rentenkampagne jedoch kein Beschluss über ein Rentenkonzept der Partei vorangegangen ist, ist mehr als nur ein Schönheitsfehler. ({1}) Auf der einen Seite sagen Sie, Sie wollten die RiesterRente abschaffen, auf der anderen Seite sagt die stellvertretende Bundesvorsitzende Ihrer Partei, ihre Partei verfüge überhaupt nicht über ein Rentenkonzept. Das kommt mir so vor, als wenn ich zum Arzt gehe und sage: „Herr Doktor, ich habe Brustschmerzen“ und der Arzt sagt: Ich habe zwar keine Ahnung, woher die Schmerzen kommen, aber wir amputieren auf jeden Fall mal den rechten Arm. ({2}) Im Gegensatz zu den Linken hat die SPD ein Rentenkonzept. Walter Riester war nicht der einzige sozialdemokratische Arbeitsminister, der sich um die Sicherung der Altersvorsorge verdient gemacht hat. Die Überwindung der Altersarmut gehört zu den großen Errungenschaften unseres Sozialstaats. Ältere haben in Deutschland heute ein viel niedrigeres Armutsrisiko als die meisten anderen gesellschaftlichen Gruppen. Natürlich gibt es auch in Deutschland ältere Menschen, die in Armut leben, aber die Quote der Senioren, die auf Grundsicherung im Alter angewiesen sind - die Grundsicherung ist übrigens 2003 unter Bundeskanzler Gerhard Schröder eingeführt worden; darauf bin ich stolz -, beträgt heute weniger als 3 Prozent. Noch in den 50er-Jahren, also vor Einführung der dynamischen Rente, war das Armutsrisiko der Älteren mehr als doppelt so hoch wie das der Gesamtbevölkerung. ({3}) Natürlich müssen wir darüber nachdenken, Herr Spieth, wie wir diesen Erfolg sichern können und auch zukünftig Altersarmut verhindern. Sie berufen sich in Ihrem Antrag auf eine Studie der OECD und stellen deren Aussagen auf den Kopf. Ja, das Rentenniveau wird in den nächsten Jahren absinken, aber die OECD-Studie wies gleichzeitig auch auf - Zitat „große Fortschritte“ bei der deutschen Rentenpolitik hin ({4}) und lobte dabei ausdrücklich die Anhebung des Rentenalters auf 67 Jahre; denn die Erhöhung des Renteneinstiegsalters verringere den Druck, das Rentenniveau abzusenken. Die Studie sagt darüber hinaus, dass die Kombination von gesetzlicher Rentenversicherung, Betriebsrente und privater Vorsorge sehr wohl dazu geeignet ist, Altersarmut zu verhindern. Wenn das Rentenniveau für kommende Generationen absinkt, dann ist die wahre Ursache dafür die dramatische demografische Entwicklung in unserem Land, welche unser Umlageverfahren an seine Grenzen führt; denn das Zahlenverhältnis zwischen Rentenempfängern und Beitragszahlern verschlechtert sich kontinuierlich. Genau hier greift der von Ihnen kritisierte Nachhaltigkeitsfaktor. Er koppelt nämlich den Rentenanstieg an das Zahlenverhältnis von Beitragszahlern zu Leistungsbeziehern, und das ist auch sinnvoll; denn Einnahmen und Ausgaben stehen nun einmal in diesem System in einem klaren Zusammenhang.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege, Herr Kollege Schneider möchte gerne eine Zwischenfrage stellen.

Gregor Amann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003731, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte. ({0})

Volker Schneider (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003843, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Kollege Amann, Sie haben eben die OECD-Studie angesprochen. Nun enthält die OECD-Studie eine Reihe von Daten und unter anderem die Aussage - das haben Sie eingeräumt -, dass das Rentenniveau sinkt, und zwar so stark, dass wir in der Kategorie der Geringverdiener auf dem letzten Platz und in den anderen Kategorien immer jeweils im letzten Drittel liegen. Das sind die Fakten, die in diesem Bericht stehen. Wenn nun dieser Bericht angesichts dieser Fakten zu dem Ergebnis kommt, dass die Bundesrepublik Deutschland Fortschritte macht, können Sie dann verstehen, dass wir als Linke diese Wertung nicht als durch diese Fakten untermauert ansehen? Sie reden hier über eine Wertung der OECD. Wes Geistes Kind die OECD ist, will ich nicht weiter ausführen. ({0})

Gregor Amann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003731, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Kollege Schneider, Sie haben die OECD-Studie sehr selektiv gelesen. Es ist in der Tat richtig, dass die OECD-Studie auf Risiken gerade bei Geringverdienern hinweist. Das ist vollkommen richtig und auch notwendig, aber sie sagt eben auch - das habe ich ausgeführt -, dass die Bundesregierung auf einem guten Weg ist und dass das Dreisäulenmodell sehr wohl dazu geeignet ist, Altersarmut zu verhindern. ({0}) Da ich gerade beim Nachhaltigkeitsfaktor war: Da im vergangenen Jahr aufgrund des Aufschwungs die Zahl der Beitragszahler durch den Rückgang der Arbeitslosigkeit stärker als die Zahl der Rentner angestiegen ist, hat der Nachhaltigkeitsfaktor dazu geführt, dass die Rentensteigerung im vergangenen Jahr sogar größer war, als sie ohne den Nachhaltigkeitsfaktor gewesen wäre, ({1}) auch wenn sie - das gebe ich zu - nur 0,54 Prozent betragen hat. Der Nachhaltigkeitsfaktor wirkt also in beide Richtungen. Aber da wir gerade bei diesem Thema sind: Wenn die Rentensteigerung in diesem Jahr sich in dem bescheidenen Rahmen bewegt, den manche Zeitungen jetzt schon zu kennen glauben, ohne dass die Zahlen überhaupt auf dem Tisch liegen, dann halte ich es für richtig, dass die SPD-Fraktion dafür eintritt, den Riester-Faktor jetzt für zwei Jahre auszusetzen. ({2}) Ich höre von beiden Oppositionsparteien, von der auf der einen wie von der auf der anderen Seite: Erstens müssen wir die Renten stärker anheben, und zweitens wäre es eine Sauerei, den Riester-Faktor auszusetzen. Ich verstehe das nicht. Wollen Sie das eine, oder wollen Sie das andere? Das zeigt: Sie sind in dieser Frage ratlos. ({3}) Die Linken haben in ihrem Antrag eine scheinbar einfache Lösung: den Rentenbeitrag anheben. Schon am Mittwoch hat der Kollege Schneider, als wir im Ausschuss für Arbeit und Soziales über die Pflegeversicherung diskutiert haben, den Beitrag zur Pflegeversicherung anheben wollen. Ich glaube, Sie sagten in etwa: Wir haben nicht den gleichen Horror wie Sie vor der Steigerung des Beitragssatzes. ({4}) Ich sage Ihnen: Eine Anhebung der Lohnnebenkosten bei allen Sozialversicherungen, wie Sie sie wollen, vernichtet nicht nur Arbeitsplätze und zwingt dadurch Menschen in Armut, sondern ist auch arbeitnehmerfeindlich; denn Sie nehmen den Menschen damit immer größere Teile ihres Einkommens weg.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Herr Kollege Amann, der Kollege Rohde möchte gerne eine Zwischenfrage stellen. ({0})

Gregor Amann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003731, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte, Herr Kollege Rohde.

Jörg Rohde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003831, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Vielen Dank, Herr Kollege Amann. ({0}) - Ja, ich weiß, ich stehe noch auf der Rednerliste. Aber Sie haben leider nicht auf den Kollegen Kolb geantwortet, sondern festgestellt, dass die FDP die Rentenerhöhung nicht mitträgt. Haben Sie versäumt, zur Kenntnis zu nehmen, dass der Kollege Kolb vorgeschlagen hat, die Rentner an anderen Stellen zu entlasten? Wir wollen nicht eine Rentenformel nach SPD-Umfragewerten, sondern eine konsequente Rentenpolitik und eine Entlastung der Rentner an anderer Stelle, zum Beispiel bei den Energiekosten. ({1}) Bei der Mehrwertsteuererhöhung sind die Rentner belastet worden. Es ist also nicht so, dass wir keine Vorschläge hätten, wie Sie es gerade in den Raum gestellt haben, sondern so, dass wir andere Vorstellungen haben, Herr Kollege Amann. ({2})

Gregor Amann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003731, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Rohde, ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen: Ich habe beim Kollegen Kolb kein funktionierendes Konzept heraushören können. ({0}) Sie haben nachher die Gelegenheit, das in Ihrem Redebeitrag noch einmal zu erläutern. Die Hauptursache niedriger Renten sind niedrige Einkommen aufgrund von Niedriglöhnen und Langzeitarbeitslosigkeit. Was können wir dagegen tun? Zum einen ist aus dieser Logik heraus natürlich eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik immer auch die beste Rentenpolitik. Ich will darauf nicht näher eingehen, kann Ihnen aber versichern: Die Regierung ist sehr erfolgreich bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik ist die Arbeitslosigkeit in einem einzelnen Jahr so stark zurückgegangen wie im vergangenen Jahr. ({1}) Die Grundlagen dafür wurden übrigens durch die Agenda 2010 gelegt, die Bundeskanzler Gerhard Schröder in seiner historischen Rede an genau dieser Stelle heute vor fünf Jahren eingeleitet hat. Zum anderen brauchen wir dringend Mindestlöhne in Deutschland. Wenn wir die Löhne aller, die heute unter 7,50 Euro pro Stunde verdienen, auf mindestens 7,50 Euro anheben würden, könnten wir allein durch diese Maßnahme die Renten in Deutschland um mehr als 1 Prozent steigern. ({2}) Ferner müssen wir eine Lösung dafür finden, wie wir auch Menschen mit Brüchen in der Erwerbsbiografie im Alter absichern. Sinnvoll erscheint mir dabei, unter anderem auch darüber nachzudenken, ob und wie wir Selbstständige mit geringem Einkommen in die gesetzliche Rentenversicherung einbeziehen können. Wenn man sich die Statistiken anschaut, wer aus welchem Grund Grundsicherung im Alter bezieht, dann stellt man fest, dass der Grundsicherungsbedarf überwiegend nicht durch zu niedrige Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung entsteht, sondern bei Menschen, die überhaupt keine Ansprüche an die gesetzliche Rentenversicherung haben, die nie in den Sicherungsbereich der gesetzlichen Rentenversicherung einbezogen waren. Dafür müssen wir eine Lösung finden. Ich glaube, dass hier das Konzept einer Erwerbstätigenversicherung zielführend ist. Aufgrund der starken Zunahme von selbstständiger Erwerbstätigkeit, insbesondere von Solo-Selbstständigen - also von solchen Selbstständigen, die gar keine Angestellten haben -, die nicht in der gesetzlichen Rentenversicherung abgesichert sind, aufgrund ihres geringen Einkommens aber auch an keinem anderen Alterssicherungssystem teilnehmen, und weil es immer häufiger zu Übergängen von selbstständiger Erwerbstätigkeit zu abhängiger Beschäftigung kommt, scheint es mir sehr sinnvoll, diese in die gesetzliche Rentenversicherung einzubeziehen. Übrigens sind wir in Europa die letzten, bei denen die Selbstständigen noch nicht in das gesetzliche Rentensystem einbezogen sind. Für eine Erwerbstätigenversicherung gibt es aber noch keinen fertigen Plan, der einfach nur umgesetzt zu werden braucht. Geklärt werden müssen noch viele Detailregelungen, Übergangsregelungen, die genauen Grundlagen der Beitragsbemessung, gerade auch bei stark schwankenden Einkommen, die Einkommenserfassung usw. Das sind einige der Dinge, über die wir noch nachdenken müssen. Wir Sozialdemokraten sind bereit, an dieser Stelle in die Zukunft zu blicken, um auch weiterhin Altersarmut zu vermeiden. Die Linken dagegen wollen in ihren Anträgen einfach nur zurück in die Vergangenheit, die angeblich so viel besser war. In der Tat - ich komme auf den Anfang meiner Rede zurück -: Sie haben kein Rentenkonzept. Deshalb werden wir die beiden vorliegenden Anträge ablehnen. ({3})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich gebe das Wort der Kollegin Irmingard ScheweGerigk, Bündnis 90/Die Grünen.

Irmingard Schewe-Gerigk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Antrag „Wiedereinführung der Lebensstandardsicherung in der gesetzlichen Rente“ stellt die Linke den Kern ihres rentenpolitischen Programms vor. So viel Nostalgie war noch nie. Getreu dem Motto „Früher war alles besser“ schlägt die Linke eine Rückkehr zur Rentenformel von Norbert Blüm vor. ({0}) - Ja. - Norbert Blüm brauchte bekanntlich nur auf die Leiter zu klettern und zu plakatieren: Die Rente ist sicher. ({1}) Schon glaubten es alle. Dieses Desaster haben wir heute auszubaden. ({2}) Sie, meine Damen und Herren von der Linken, streben zurück zu einem Nettorentenniveau von 70 Prozent des Erwerbseinkommens. Aber was heißt das? ({3}) - Das Rentenseminar ist abgeschlossen. - Sie schlagen einen Beitragssatz von 28 Prozent vor. Das heißt - das möchte ich Ihnen einmal ins Stammbuch schreiben -: Ein Durchschnittsverdiener oder eine Durchschnittsverdienerin hätte jährlich 1 700 Euro mehr an Beiträgen zu zahlen. ({4}) Da frage ich Sie von der Linken: Woher sollen die Beschäftigten dieses Geld nehmen? ({5}) Dazu schweigen Sie, und das ist das Schlimme. Nach Ihrem Konzept müsste der Rentenbeitragssatz bis zum Jahr 2030 sogar auf 40 Prozent anwachsen. Eine Beschäftigte, die heute 28 Jahre alt ist und dann 50 Jahre alt sein wird, bezahlt den doppelten Rentenversicherungsbeitrag. ({6}) Sie, meine Damen und Herren von der Linken, negieren auch noch den Rückgang der Zahl der Erwerbstätigen um circa 8 Millionen Menschen bis zum Jahr 2030. Sie verschweigen die Belastungen, die Sie den jüngeren Beitragszahlern aufbürden wollen. ({7}) Die jüngere Generation, die mittelständischen Betriebe, die heute die Arbeitsplätze schaffen, würden die Hauptlast Ihrer Vorschläge tragen.

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Frau Kollegin, der Kollege Ernst hätte eine Zwischenfrage.

Irmingard Schewe-Gerigk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Der Kollege Ernst hat schon bei allen anderen nachgefragt. ({0}) Wenn man sich intensiv mit der Rentenpolitik auseinandersetzt, dann kann man das im Ausschuss klären und sollte nicht immer wieder die gleichen Fragen stellen. ({1}) Zusammen mit Ihren Vorschlägen zu den anderen Sozialversicherungszweigen erreichen Sie spielend ein Abgabenniveau von 60 Prozent: 40 Prozent Rentenversicherung, 16 Prozent Krankenversicherung, 4 Prozent Pflegeversicherung. Als Kronzeugin für diese unsägliche Politik, Herr Schneider, bemühen Sie die OECD-Studie. Diese Studie hat zu Recht auf die fehlende Armutssicherung im deutschen Rentenrecht aufmerksam gemacht und Korrekturen angemahnt. Sie, meine Damen und Herren von der Linken, erwähnen aber nicht - das finde ich unseriös - die übrigen Aussagen der OECD-Studie. Deshalb zitiere ich sie jetzt: Deutschland hat mit den Reformen der vergangenen Jahre die finanzielle Nachhaltigkeit des Systems deutlich erhöht. ({2}) Die OECD hat mit der gesetzlichen Rente gerechnet, hat aber auch gesagt: Wenn die private und die betriebliche Rente hinzukommen, dann ist das Niveau erreicht. Auch das verschweigen Sie wieder. ({3}) - Ich habe alles gelesen. - Sie wollen das Rad zurückdrehen. Um dieses Ziel zu erreichen, greifen Sie auf alles zurück, was Ihnen zu passen scheint. Zu einer zweiten Sache. Hinsichtlich der Überprüfung der Riester-Förderung beziehen Sie sich in Ihrem Antrag mehrfach auf die Studie von Corneo und anderen. In dieser Studie wurde lediglich das Sparverhalten von Geringverdienern für die Jahre 2000 bis 2004 untersucht. Die Studie kommt zu dem einfachen Ergebnis, dass Geringverdiener im Jahr 2004 nicht mehr sparen konnten als im Jahr 2000. Das ist ein ganz erstaunliches Ergebnis. Wie sollten sie denn auch? Sie haben keine Lohnzuwächse gehabt. Wie sollten sie da mehr sparen? Die Studie hat auch nicht die Zulagen der Riester-Förderung berücksichtigt, obwohl sich die Vermögensbildung durch die Zulagen mehr als verdoppelt. Diese Studie, die Sie hier zitieren, ist wirklich vom Feinsten. Außerdem wird nicht zwischen allgemeiner Vermögensbildung und Altersvorsorge unterschieden. Das erklärte Ziel der Riester-Förderung war doch die gezielte Altersvorsorge und nicht das allgemeine Sparen. Gerade dadurch sollte die Lücke geschlossen werden. Dazu sagen Sie heute nichts. ({4}) So, wie Sie nun einmal sind, leiten Sie trotz der gravierenden Mängel dieser Studie daraus die voreilige Schlussfolgerung ab, die Riester-Förderung sei ineffizient und würde im Wesentlichen Mitnahmeeffekte erzeugen. Ihre Forderung, eine Evaluation der Riester-Förderung vorzunehmen, unterstützen wir. Das finden wir sinnvoll und notwendig. Aber Ihr Antrag wirkt doch nicht glaubwürdig, wenn Sie sich schon darauf festgelegt haben, dass die Riester-Rente zurückgenommen werden müsse. ({5}) Wir Grünen stehen zu den Strukturreformen, die - im Unterschied zu der Lage in vielen anderen Staaten - die Nachhaltigkeit des Rentensystems wesentlich verbessert haben. Auch wir unterstützen die neuen Vorschläge von Arbeitsminister Scholz zu einer höheren Steigerung der Renten für die nächsten beiden Jahre, denn in der Tat ist es so, dass die Rentner und Rentnerinnen über die Maßen unter den Preissteigerungen zu leiden haben. Dass dieser Vorschlag nun gerade im Vorwahljahr kommt, hält uns Grüne nicht von einer Zustimmung ab, denn er ist richtig. ({6}) Die Strukturprobleme der Rente werden dadurch aber nicht gelöst. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir stehen zu einer Abkehr von der Frühverrentungspolitik. Wir stehen zu den Verbesserungen der Anrechnung der Kindererziehungszeiten. Wir stehen auch zu einer ergänzenden Riester-Förderung, die gerade für die unteren Einkommensgruppen attraktiv ist. Ich finde, es ist antiquiert, zur Rentenformel aus dem Jahr 1992 zurückkehren zu wollen. Nein, Kolleginnen und Kollegen von der Linken, die Leute wollen nicht, dass ihnen Politik vorgegaukelt wird. Sie möchten, dass wir die Probleme ernst nehmen und entsprechende Lösungen vorschlagen. Hier sage ich: Erst existenzsichernde Löhne bieten die Voraussetzung für eine auskömmliche Rente. Auch darum setzen wir uns für Mindestlöhne ein. Wir brauchen aber auch Strukturveränderungen in der Rentenpolitik. Hier nehmen wir die OECD-Studie auf. Wir möchten, dass geringverdienende Menschen eine Höherbewertung erfahren, damit es nicht dazu kommt, dass die Rente am Ende des Erwerbslebens nicht ausreicht und dass eine Grundsicherung beantragt werden muss. Wir brauchen auch - Herr Kollege Amann, da unterstütze ich Sie - eine obligatorische Alterssicherung für Solo-Selbstständige, die keine andere Alterssicherung haben. Nun komme ich zur Linken. Wir brauchen eine Angleichung der Rentenwerte in Ost und West. Das ist doch eine Selbstverständlichkeit. Schließlich wollen wir die eigenständige Alterssicherung von Frauen weiter ausbauen. Damit erreichen wir, dass wir das System Schritt für Schritt zu einer Erwerbstätigenversicherung weiterentwickeln. Von der Großen Koalition verlangen wir eine Rücknahme der halbierten Rentenversicherungsbeiträge für Langzeitarbeitslose. 2,09 Euro Rente pro Monat für Langzeitarbeitslose ist in der Tat nicht akzeptabel. Auch die Zwangsverrentung mit 63 Jahren mit Abschlägen darf nicht erfolgen. Die Bundesregierung muss endlich auf die Armutsgefährdung bestimmter Bevölkerungsgruppen reagieren. Zu den Anträgen der Linksfraktion fasse ich zusammen: Ihre Konzepte sind rückwärtsgewandt, nicht finanzierbar und unseriös. Sie nehmen auf die Zukunftsperspektive der jüngeren Generation keine Rücksicht. Die jungen Menschen müssten über steigende Sozialabgaben die Zeche zahlen, ohne dafür die Sicherheit zu haben, selbst in den Genuss einer existenzsichernden Rente zu gelangen. Ihre Vorschläge zur Evaluation der Riester-Förderung sind nicht glaubwürdig, wenn Sie bereits heute das Ergebnis vorwegnehmen. Das ist billiger Populismus und eine rückwärtsgewandte Politik, die wir so nicht akzeptieren. Ich danke Ihnen. ({7})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich gebe das Wort dem Kollegen Klaus-Peter Flosbach, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Klaus Peter Flosbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003528, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Damit hatte die Linke nicht gerechnet, dass zahlreiche Kollegen die OECD-Studie gelesen haben. ({0}) Frau Schewe-Gerigk und Herr Amann haben es eben deutlich gemacht. In der Tat, Sie haben einige Sätze zitiert, die durchaus richtig sind und die auch auf Gefahren hinweisen. Ein zentraler Punkt ist, dass dort festgestellt wurde, dass hier in Deutschland gerade im Bereich der Altersvorsorge angemessene Antworten auf die demografischen und gesellschaftlichen Herausforderungen gefunden worden sind, und zwar in besonderer Weise für die Geringverdiener. Da Sie das bewusst getan haben, kann man das nur als eine sehr unseriöse Beweisführung darstellen. ({1}) Am 23. Januar dieses Jahres hat Herr Staatssekretär Thönnes in der Fragestunde zu all diesen Themenbereichen umfassend Stellung genommen. Dennoch haben Sie heute Ihren Antrag wieder vorgelegt und die Erkenntnisse der Studie nicht dargestellt. Wenn es um die Altersvorsorge geht, muss man auch an das Vertrauen der Bürger in die Langfristigkeit der Einrichtungen denken. Gerade in dieser Woche gab es ja Diskussionen über einige neue Beiräte, die sich gegründet haben und die bei der Politik angemahnt haben, langfristig zu denken. Aber ist Ihnen auch aufgefallen, dass Langfristigkeit gerade im Bereich der Altersvorsorge nicht angemahnt wurde? Die Koalitionsfraktionen und die Regierung haben sich nämlich dieses Themas angenommen und die langfristige Perspektive der Altersvorsorge in den Vordergrund gestellt. Gerade bei dem Thema der Altersversorgung haben wir eine sehr große Übereinstimmung zwischen den beiden Regierungsfraktionen. Selbstverständlich gibt es eine Reihe von Problemen, die ich auch nicht verheimlichen will: die unterbrochenen Erwerbsbiografien, die Teilzeitbeschäftigungen, die Arbeitslosigkeit. Aber wir müssen uns auch in besonderer Weise der Bevölkerungsentwicklung, der demografischen Entwicklung stellen. In Deutschland gibt es bereits heute 21 Millionen über 60-jährige Menschen. Wir wissen, dass es im Jahre 2020 25 Millionen sein werden und im Jahre 2030 30 Millionen. Heute leben in Deutschland etwas über 20 Millionen Rentner in den verschiedenen Formen der Rente. Im Jahre 2030 werden es über 30 Millionen Rentner sein. Angesichts dessen kann man doch nicht in einem Antrag fordern, die Rentenversicherungsbeiträge auf 28 Prozent zu erhöhen; denn das zerstört Arbeitsplätze und ist darüber hinaus ein Anschlag auf die junge Generation. ({2}) Wir brauchen für die Altersversorgung ein differenziertes Konzept. Wir haben es in Deutschland geschafft, solche Altersvorsorgekonzepte für die verschiedenen Gruppen zu entwickeln. Selbstverständlich wird die gesetzliche Rentenversicherung weiterhin die Basis sein. Sie ist die stärkste Säule für jeden Einzelnen. Aber wenn wir hier über dieses Thema diskutieren, müssen wir zunächst einmal die breiten Schichten der Bevölkerung in den Blick nehmen und nicht nur die Hartz-IV-Empfänger oder das Thema der Grundsicherung; darauf komme ich gleich noch. Die breiten Schichten der Bevölkerung brauchen ein auskömmliches Einkommen im Alter, und es ist unsere Aufgabe, dafür zu sorgen. Sie wissen, dass wir gut 200 Milliarden Euro für die Altersversorgung ausgeben. Aber bereits heute gibt es einen Zuschuss in Höhe von fast 80 Milliarden Euro aus Steuergeldern aus dem Bundeshaushalt. Das heißt, etwa 30 Prozent der gesamten Staatsausgaben sind ein pauschaler Zuschuss an die Rentenversicherung. Dennoch reicht das für viele nicht aus, um ein auskömmliches Einkommen zu erzielen. Heute muss man bei einem durchschnittlichen Einkommen etwa 25 Jahre in die Rentenversicherung einzahlen, um die Grundsicherung zu erlangen. Deswegen gibt es neben der gesetzlichen Rentenversicherung verschiedene Säulen, beispielsweise fünf verschiedene Wege der betrieblichen Altersvorsorge. Ich glaube, wir müssen sogar noch einen sechsten Weg gehen und eine Diskussion über das meines Erachtens wichtige Thema der Lebensarbeitszeitkonten führen. Das heißt, jemand, der einen Vorrat an geleisteter Arbeit geschaffen hat, kann möglicherweise früher in Rente gehen oder Zeiten der Arbeitslosigkeit kompensieren. Es gibt fünf verschiedene Wege der betrieblichen Altersvorsorge, zum Beispiel Wege für große Unternehmen. Ich denke an Pensionskassen, an Pensionsfonds, aber auch an betriebliche Direktzusagen. Es gibt viele Betriebe, die nur einen Arbeitsvertrag unterschreiben, wenn er mit einer betrieblichen Altersversorgung verbunden ist. Ich denke, das ist der richtige Weg. Im Finanzausschuss und im Plenum haben wir die neunte Novelle des Versicherungsaufsichtsgesetzes behandelt. Hier haben wir neue Möglichkeiten für Arbeitnehmer geschaffen, über Pensionsfonds eine sichere Altersvorsorge zu erreichen. Ein sehr wichtiger Weg ist auch der Beschluss dieser Koalition, die sogenannte Entgeltumwandlung nicht mehr mit Beiträgen für die Sozialversicherung zu belasten, übrigens eine Forderung, die die Union auch im Rahmen des Alterseinkünftegesetzes erhoben hat. Ich bin froh, dass wir das umgesetzt haben; denn damit kann der einzelne Arbeitnehmer Beiträge in eine Altersvorsorge einzahlen. Er muss hierauf keine Steuern und keine Sozialversicherungsbeiträge zahlen, und die Erträge können steuerfrei angesammelt werden. Für diesen Fall gibt es eine nachgelagerte Besteuerung. Ich denke, das ist genau der richtige Weg, um langfristig Vertrauen und Sicherheit in der Altersversorgung zu schaffen. ({3}) Ein richtiger Weg ist auch, die gesetzliche Rentenversicherung durch die Riester-Rente zu ergänzen. Nachdem einige Korrekturen durchgeführt worden sind, muss man sagen, dass das Ergebnis hervorragend ist. Nach 25 Jahren hat ein Durchschnittsverdiener Ansprüche in Höhe der Grundsicherung erworben. Hat er zusätzlich eine Riester-Rente abgeschlossen, braucht er dazu nur 20 Jahre. ({4}) Wenn die Linke behauptet, für die Geringverdiener würde sich die Riester-Rente nicht lohnen, weil sie ja eh die Grundsicherung erhielten, dann kann ich nur fragen: Ist Ihnen bewusst, welches Menschenbild und welchen Ausblick auf die Zukunft Sie damit den Menschen vermitteln? Wollen Sie jungen Leuten wirklich sagen, dass ihre Karriere in Hartz IV besteht oder später in der Grundsicherung und dass man keine eigenen Leistungen erbringen muss, um später ein auskömmliches Einkommen zu erhalten? Das ist der völlig falsche Weg. Das stimmt nicht mit unserem Menschenbild überein. ({5}) - Wir stehen zur Grundsicherung. Es handelt sich dabei um eine steuerfinanzierte Fürsorgeleistung, die erhalten werden sollte. ({6}) Aber sie sollte nur dann gewährt werden, wenn der Einzelne sie wirklich braucht. Die Riester-Rente ist eine Erfolgsgeschichte. Wie der Kollege Weiß bereits sagte, gibt es über 11 Millionen abgeschlossene Verträge. Bereits mit 5 Euro ist man dabei. Die Förderung beträgt bis zu 90 Prozent. In der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift Finanztest werden Beispiele vorgestellt. Eine Alleinerziehende mit einem Kind und einem Verdienst von 1 000 Euro im Monat, die monatlich eine Eigenleistung von 11,75 Euro erbringt, erhält einen monatlichen Zuschuss von 28 Euro. Das ergibt später eine Rente von circa 130 Euro im Monat, also das Zehnfache des Eigenbetrages. ({7}) Wichtig ist auch, dass die Riester-Rente Hartz-IV-geschützt ist. Das Geld, das auf diese Weise angespart wird, kann nicht genommen werden. ({8}) Wir haben dies auch für Selbstständige so geregelt, indem wir die Insolvenzsicherung durchgesetzt haben. Das sind wichtige Bausteine. Wir werden natürlich darüber diskutieren müssen, ob diese Maßnahmen ausreichen oder ob wir die Höhe des Schonvermögens anders regeln müssen. Der jetzige Stand ist auf jeden Fall ein gutes Fundament. Das Wichtigste für die Altersversorgung ist natürlich, dass wir eine gut funktionierende Wirtschaft haben und dass es qualifizierte Arbeitsplätze in Deutschland gibt. Diese Koalition kann für sich in Anspruch nehmen, dass es ihr gemeinsam mit der Wirtschaft gelungen ist - die gute Weltkonjunktur will ich dabei nicht außer Acht lassen -, innerhalb kürzester Zeit über 1 Million neue Arbeitsplätze zu schaffen. Die höheren Beitragseinnahmen sorgen dafür, dass die Finanzierung der Rente gesichert ist. Ich komme zum Schluss. Die Union hat gemeinsam mit ihrem Koalitionspartner ein langfristiges Konzept vorgelegt. Wir schaffen es, die soziale Absicherung im Rahmen eines schlüssigen Gesamtkonzepts langfristig zu gewährleisten. Ich denke, die Altersversorgung ist bei uns in guten Händen. Vielen Dank. ({9})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich gebe das Wort Jörg Rohde, FDP-Fraktion. ({0})

Jörg Rohde (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003831, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst möchte ich auf einige Vorredner eingehen. Herr Weiß und Herr Flosbach, leider ist es richtig, dass ein Geringverdiener beim Riester-Sparen möglicherweise mit Zitronen handelt. Ein Leugnen dieses Problems bringt die Union nicht weiter. Herr Weiß, ich weiß doch, dass Sie das Problem kennen. Sie selber haben mit einem Freibetrag für die Riester-Sparer einen Vorschlag gemacht, der in die gleiche Richtung wie der entsprechende FDP-Vorschlag geht. Ich fordere Sie also auf, weitere Überzeugungsarbeit in der Union zu leisten, damit sich da die Erkenntnis Bahn bricht. Herr Amann, im Stenogrammstil will ich schnell einen Vorschlag der FDP zur Entlastung der Rentner präsentieren: Senden Sie allen deutschen Rentnern dieses und nächstes Jahr einen Scheck. Dieses Wahlgeschenk ist transparent. Der Absender sollte aber bitte der Bundesfinanzminister und nicht die Rentenkasse sein. ({0}) Finger weg von der Rentenformel! Das sage ich, weil Sie - wenn auch nur befristet - an der Rentenformel herumdoktern wollen. Wenn Sie das tun, dann schaden Sie der nächsten Generation. Das ist absolut ungerecht. ({1}) Werte Kollegen der Linksfraktion, ich fokussiere mich in meinem Beitrag auf Ihren etwas neueren Antrag, welcher fordert, die Riester-Rente auf den Prüfstand zu stellen. Die Linksfraktion hat nun offensichtlich vor, sich als „Killer der Riester-Rente“ zu profilieren. Aber gerade Geringverdiener haben doch besonders von der hohen staatlichen Förderung profitiert. Es ist wichtig, dass wir die Diskussion weiterführen. Denn die sogenannte Riester-Rente kann nicht so bleiben, wie sie heute ist. Die Bundesregierung ist gefordert, eine Nachbesserung vorzunehmen. Dazu muss aber nicht eigens eine neue Prüfung angesetzt werden. Die FDP-Bundestagsfraktion hat bereits im Oktober letzten Jahres einen umfangreichen Fragenkatalog zu diesem Thema erarbeitet. Die Antworten der Bundesregierung liegen seit November 2007 vor. Der Nachbesserungsbedarf für die Personengruppe der Geringverdiener, den die FDP aufgedeckt hat, ist offensichtlich. Um das festzustellen, brauchen wir keine neue Prüfung. Und die Anrechnung der Riester-Rente auf die Grundsicherung im Alter haben Sie ja in Ihren Einführungstext aufgenommen, werte Linke. Die FDP fordert ganz einfach ein, dass derjenige, der für das Alter spart, mehr haben muss als derjenige, der nicht für das Alter spart. ({2}) Es ist mir völlig unverständlich, wieso die Regierungsfraktionen diesen einfachen Grundsatz immer noch ablehnen. Die FDP ist die einzige Fraktion mit einem sofort umsetzbaren Lösungsvorschlag für das Problem. Wir schlagen einen Freibetrag von 100 Euro und darüber hinaus statt der vollen Anrechnung nur eine 80-prozentige Anrechnung vor. Wir freuen uns bereits auf die diesbezügliche öffentliche Anhörung; denn viele Experten haben diesen Vorschlag bereits für angemessen und gut befunden. ({3}) Die FDP zeigt in dieser Frage klar auf, dass sich die Liberalen auch für die Geringverdienenden einsetzen. Wir fordern aber auch weiterhin die Ausdehnung der Riester-Förderung - übrigens zusammen mit dem ehemaligen Arbeitsminister - auf alle Bürger; denn zum Beispiel auch Selbstständige zahlen in den Steuertopf, aus welchem die Förderung erfolgt. Werte linke Kollegen, unter Punkt 2 Ihres Antrages zielen Sie darauf ab, die Altersvorsorge gezielt für Geringverdienende innerhalb der gesetzlichen Rentenversicherung zu stärken. Zugegeben: Ich weiß nicht, wie damals die mickrige Rente in der DDR berechnet wurde. ({4}) Aber die Rentenversicherung in der Bundesrepublik Deutschland basiert auf den Prinzipien der Äquivalenz von Beitrag und Leistung, dem Versicherungsprinzip, der Einkommensersatzfunktion sowie dem sozialen Ausgleich. Diese Prinzipien wurden zum Beispiel vor fünf Jahren von der Rürup-Kommission dargestellt und explizit als grundlegend für weitere Reformvorschläge bestätigt. Die Rürup-Kommission war sicher nicht verdächtig, von Liberalen unterwandert oder geprägt worden zu sein. Die Kommission zeigte eher unseren gemeinschaftlichen Konsens in der Bundesrepublik zu dieser Frage auf. Zur Äquivalenz von Beitrag und Leistung führt der Bericht der Rürup-Kommission aus, dass sich die Leistungen grundsätzlich nach der Höhe der in der Erwerbsphase gezahlten Beiträge richten sollen. Doppelt so hohe Beiträge führen zu doppelt so hohen Anwartschaften, gemessen in Entgeltpunkten. Die Summe der erworbenen Entgeltpunkte bestimmt wiederum den individuellen Rentenanspruch. Die generelle Beibehaltung des Äquivalenzprinzips für Versicherte innerhalb eines Altersjahrgangs ist für die Rentenversicherung von besonderer Bedeutung. Jede Abkehr vom Äquivalenzprinzip bedeutet, dass Leistungen einer Personengruppe aus den Beiträgen einer anderen finanziert werden. Weiter führt der Bericht der Rürup-Kommission aus, dass es zur Förderung der Beschäftigung entscheidend darauf ankommt, an dem Äquivalenzprinzip in der gesetzlichen Rentenversicherung auch in Zukunft festzuhalten. Es gibt heute bereits punktuelle Ausnahmen beim Äquivalenzprinzip in der Rentenversicherung. Aber Sie auf der linken Seite des Hauses wollen anscheinend den Grundcharakter der Rentenversicherung ändern. Hier macht die FDP auf keinen Fall mit. ({5}) Deswegen sollten Sie diese Forderung aus Ihrem Papier streichen. Ich befürchte allerdings, dass wir uns einander auch sonst nicht weit annähern werden. Deswegen kann ich Ihnen keine Unterstützung Ihrer Anträge in Aussicht stellen. Vielen Dank. ({6})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Hans-Ulrich Krüger von der SPD-Fraktion. ({0})

Dr. Hans Ulrich Krüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003575, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer erinnert sich nicht an die große Beschwichtigungsformel am Ende des letzten Jahrtausends: „Die Rente ist sicher.“ Rot-Grün hat diese Formel untersucht und gehandelt. Schwarz-Rot setzt die erfolgreiche Politik von Rot-Grün insofern ergänzend fort. Aufgrund des demografischen Wandels der deutschen Gesellschaft kann die gesetzliche Rentenversorgung allein in Zukunft - die Kolleginnen und Kollegen haben das heute schon angesprochen - das Gesamtversorgungsniveau, den Wohlstand im Alter nicht mehr garantieren. Es war daher richtig, Finanzierungsmodelle zu entwickeln, um mit staatlicher Hilfe eine zusätzliche private Altersvorsorge vorzusehen. Herausgekommen ist die Riester-Rente. Seien Sie sicher: Millionen von Amerikanerinnen und Amerikanern wären glücklich und froh, hätten sie, nachdem sie im Jahr 2000/2001 durch das Zerplatzen der Aktienblase ihre Pensionsansprüche verloren haben und nachdem nun ihre Häuser infolge der Immobilienkrise nur noch ein Drittel wert sind, ein System aus gesetzlicher Rentenversicherung, ergänzender privater Altersvorsorge und Betriebsrente als dritter Säule. ({0}) Bis zum Jahr 2030 wird sich - auch das ist schon angesprochen worden - das Verhältnis von Erwerbstätigen zu Rentnerinnen und Rentnern dramatisch verändern. Betrug das Verhältnis zu Zeiten unserer Väter und Mütter noch 7 : 1 oder 8 : 1, beträgt es heute 3,2 oder 3,3 : 1 und wird sich zu einem Verhältnis von 1,9 : 1 entwickeln. Im gleichen Zeitraum wird sich Gott sei Dank - daran werden wir alle partizipieren - die durchschnittliche Bezugsdauer der Rente auf 20 Jahre belaufen. Immer weniger Erwerbstätige müssen für immer mehr nicht im Erwerbsleben stehende Menschen die Beiträge erbringen. Diese Tatsache darf und durfte die Politik nicht verschlafen, sondern musste handeln. Sie hat es in Form der Riester-Rente getan, für die sich - der Kollege Flosbach hat es erwähnt - mittlerweile fast 11 Millionen Menschen entschieden haben. Diese Menschen sind von den Vorteilen der Riester-Rente überzeugt. Vater und Mutter wissen, dass sie dann, wenn sie beispielsweise im Jahr 2008 einen Riester-Vertrag abschließen, je 154 Euro an Zulage, das Kind 185 Euro an Zulage bekommen. Wenn das Kind nach dem 1. Januar dieses Jahres geboren worden ist, bekommt es sogar 300 Euro an Zulage. Sogar eine Kleinfamilie, ein verheiratetes Paar mit einem Kind, erhält aktuell entweder 493 oder 608 Euro an Zulage. Es ist gut, dass die Gesamtsumme der diesbezüglichen Zulagen im Jahre 2007 die Milliardengrenze überschritten hat. Diese Summe darf, soll und muss noch weiter steigen. Das gilt auch im Bereich der schon mehrfach angesprochenen Menschen mit einem geringen oder mittleren Einkommen. Von daher ist es richtig, dass der Minimaleigenbeitrag von 5 Euro pro Monat respektive 60 Euro pro Jahr so gehalten worden ist, dass auch einkommensschwächere Bürgerinnen und Bürger nicht von der privaten Altersvorsorge ausgeschlossen sind. Es wird immer wieder gesagt, die Riester-Rente käme bei den Menschen, die ihrer bedürften, nicht an. Dazu möchte ich zwei Zahlen nennen. Zwei Drittel der Menschen mit einem Riestervertrag haben ein Jahreseinkommen von weniger als 30 000 Euro, exakt 43 Prozent ein Jahreseinkommen von weniger als 20 000 Euro. Auch die alleinerziehende Mutter mit zwei Kindern, die geringfügige Bezüge erzielt, kann mit 60 Euro oder einer ähnlichen Summe im Jahr - das hat der Kollege Flosbach schon erwähnt -, wenn ein Kind vor und ein Kind nach dem 1. Januar 2008 geboren worden ist, 639 Euro an staatlicher Zulage erhalten. Das entspricht einer Förderquote von mehr als 90 Prozent. Wer all das in Abrede stellt, versündigt sich an der Situation dieser Menschen. ({1}) Bei der Grundsicherung im Alter ist die Situation anders. Was ist die Grundsicherung im Alter, die als solche schon angesprochen worden ist? Ist sie eine Geldsumme, die in einem ominösen Juliusturm liegt und ohne Folgen für unsere Gesamtwirtschaft nach Bedarf abgerufen werden kann? Oder ist es - das ist gut und richtig so - die aus Steuermitteln finanzierte Sozialhilfeleistung, die von der notwendigen Solidarität der Starken mit den Schwachen getragen ist und davon lebt, dass sie Gott sei Dank nicht jeder in Anspruch nimmt bzw. nehmen muss, sondern aktuell nur circa 2,3 Prozent der Rentnerinnen und Rentner in der Bundesrepublik Deutschland, sprich über 97 Prozent eben nicht? ({2}) Die Riester-Rente aber ist genauso wie die gesetzliche Rente dazu gedacht, mit dem angesparten Geld später den Lebensunterhalt zu bestreiten. Wer daher sagt, der Grundsicherungsanspruch müsse ohne oder nur mit einer anteiligen Anrechnung der Riester-Rente erfüllt sein, der muss folgerichtig die Frage beantworten, warum denn dann Sozialversicherungsrenten, Zinseinkünfte und Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung angerechnet werden. ({3}) Die Solidarität der Starken mit den Schwachen funktioniert nur, wenn alle entsprechende Anstrengungen unternehmen. Das gilt in der Altersvorsorge genauso wie im alltäglichen Leben mit all seinen Banalitäten. Oder andersherum gesagt: Alle Versicherungen, beispielsweise eine Feuerversicherung, die derjenige abschließt, der ein Haus besitzt, eine Hausratversicherung, die derjenige abschließt, der eine Wohnung hat, oder eine Autoversicherung, die derjenige abschließt, der einen Pkw fährt, funktionieren nur, weil Gott sei Dank nicht jeder Pkw-Halter jedes Jahr einen Unfall hat, nicht jedes Haus jedes Jahr abbrennt und jeder Hausrat jedes Jahr zerstört wird. Wäre das der Fall, wäre das gleichbedeutend mit dem Ende dieser Versicherungssparte und -lösung, weil die Prämien folgerichtig eine Höhe erreichen müssten, welche kein Mensch mehr erbringen kann. Die Altersvorsorge wird nunmehr durch die Einbeziehung der selbstgenutzten Wohnimmobilie in die private Altersvorsorge komplettiert. Von daher kann auch derjenige Bürger oder diejenige Bürgerin, der oder die sagt: „Eine Zusatzrente ist schön und gut; aber für mich ist das mietfreie Wohnen im Alter das Vorzugswürdige“, das steuerbegünstigte, im Rahmen des Zulagensystems der Riester-Rente angesparte Vermögen für den Kauf einer Immobilie nutzen. Ein weiteres Highlight ist - hier passt man sich den neuen gesellschaftlichen Lebensformen an -, dass nunmehr auch der Kauf von Anteilen an einem Altenheim und der Kauf von Genossenschaftsanteilen Riester-fähig sind. Auch Erwerbsminderungsrentner, die sagen: „Ich möchte nach dem Eintritt der Erwerbsminderung etwas für meine Altersversorgung tun“, können einbezogen werden. Von daher sage ich all denjenigen, die fordern: „Weg mit der Riester-Rente!“: Vorsicht an der Bahnsteigkante! Bedenken Sie, was Sie im Hinblick auf Millionen Menschen aufgeben, die genau wissen, dass die drei Säulen - gesetzliche Rentenversicherung, betriebliche Altersvorsorge und private Altersvorsorge - für sie das Richtige sind. Ich danke Ihnen. ({4})

Dr. h. c. Susanne Kastner (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001069

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/8495 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Tagesordnungspunkt 24 b. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Wiedereinführung der Lebensstandardsicherung in der gesetzlichen Rente“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/6921, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/5903 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, CDU/CSU und FDP bei Gegenstimmen der Linken angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Sibylle Pfeiffer, Dr. Christian Ruck, Dr. Wolf Bauer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU, der Abgeordneten Dr. Sascha Raabe, Gabriele Groneberg, Stephan Hilsberg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Thilo Hoppe, Ute Koczy, Ulrike Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Für eine neue, effektive und an den Bedürfnissen der Hungernden ausgerichtete Nahrungsmittelhilfekonvention - Drucksachen 16/8192, 16/8485 Berichterstattung: Abgeordnete Thilo Hoppe Dr. Sascha Raabe Hüseyin-Kenan Aydin Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Sascha Raabe.

Dr. Sascha Raabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Obwohl wir uns das ehrgeizige Ziel gesetzt haben, die Zahl der auf der Welt Hungernden bis zum Jahr 2015 zu halbieren, müssen wir feststellen, dass trotz Fortschritten immer noch 25 000 Menschen pro Tag an den Folgen von Hunger und Armut sterben. Während wir im Deutschen Bundestag, wie es vor kurzem der Fall war, über die Problematik von Übergewicht und seinen Krankheitsauswirkungen sprechen und zu Recht Sport und Bewegung einfordern, besteht in anderen Ländern eine Situation, die für manche hier nicht vorstellbar ist und Menschenleben fordert. Wir reden zu Recht über den Klimawandel, der auch uns in Deutschland betrifft. Aber in den Entwicklungsländern betrifft der Klimawandel die Menschen noch viel stärker im negativen Sinne. Im Rahmen des Welternährungsprogramms wurde eine Untersuchung durchgeführt, die zu dem Ergebnis kam, dass heutzutage vor allem in Entwicklungsländern 1 Milliarde mehr Menschen als noch vor zehn Jahren von Naturkatastrophen betroffen sind. Durch den Klimawandel werden natürlich auch die Ernten und die Nahrungsmittelsicherheit in Mitleidenschaft gezogen. Als sei diese katastrophale Situation nicht schon schlimm genug, kommt noch hinzu, dass die Preise für Nahrungsmittel in der letzten Zeit sehr stark gestiegen sind. Viele Entwicklungsländer müssen für Getreideimporte bis zu 35 Prozent mehr ausgeben als im Vorjahr. Nach Angaben der Weltbank sind die Nahrungsmittelpreise im vergangenen Jahr um durchschnittlich 75 Prozent gestiegen. Davon waren insbesondere Grundnahrungsmittel wie Mais, Reis und Weizen betroffen. Man muss berücksichtigen, dass die ärmsten Menschen etwa 80 Prozent ihres geringen Einkommens für Nahrungsmittel aufwenden müssen, dazu aber oft nicht in der Lage sind. Manchmal wird die Frage gestellt, ob es angesichts der wachsenden Weltbevölkerung vielleicht nicht genug Lebensmittel auf der Welt gibt. Das ist absoluter Unsinn. Nach Angaben der UN-Organisation für Ernährung und Landwirtschaft, der FAO, gibt es genug Lebensmittel, um etwa 12 Milliarden Menschen relativ problemlos zu ernähren. Ich möchte die gleiche Frage stellen, die neulich der aus dem Amt scheidende UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, Jean Ziegler, gestellt hat: Warum geschieht das nicht? Unsere Bundesentwicklungsministerin, Heidemarie Wieczorek-Zeul, hat am Montag dieser Woche den Aktionsplan für Menschenrechte für die nächsten drei Jahre vorgestellt. Er wird dazu beitragen, dass die Menschenrechte in den Entwicklungsländern vorangebracht und gefördert werden. Ein Punkt ist das Recht auf Nahrung. Dieses Recht muss endlich auch denjenigen zugutekommen, die Hunger leiden. Wir fordern die Bundesregierung in unserem Antrag auf, „sich für die Neuverhandlung der Nahrungsmittelhilfekonvention gemäß der menschenrechtlichen Verpflichtungen zur Erfüllung des Rechts auf adäquate Nahrung nach Art. 11 des Internationalen Pakts für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte sowie im Sinne der freiwilligen Leitlinien der … FAO“ einzusetzen. ({0}) Wir werden diesen Antrag heute verabschieden. Ich freue mich darüber, dass wir das gemeinsam mit der Fraktion der Grünen tun. Es ist schön, dass bei diesem Thema parteiübergreifend Einigkeit herrscht. Ich glaube, dass wir über diesen Antrag zu einer neugestalteten und umfassenden Nahrungsmittelhilfekonvention kommen, damit dieses Recht verwirklicht werden kann. Warum brauchen wir eine neue Nahrungsmittelhilfekonvention? Als sie 1967 entstand, waren die Rahmenbedingungen ganz anders. Es gab die durchaus gute Intention, die steigenden Nahrungsmittelüberschüsse in den europäischen Staaten und in den USA sinnvoll für die Hungerbekämpfung einzusetzen. Das war erst einmal kein schlechter Grundgedanke: Bei uns gab es zu viel, und dort haben Menschen Hunger gelitten. Heute wissen wir aber, dass diese Hilfe, auch wenn sie gut gemeint war, oft dazu führte, dass Kleinbauern und Landwirte keinen nachhaltigen Anreiz hatten, um Nahrungsmittel für den lokalen Markt zu produzieren, also Getreide anzupflanzen oder Hühner aufzuziehen. Wenn die Kleinbauern ihre Waren verkaufen wollten, standen sie oft vor dem Problem, dass die Nahrungsmittelüberschüsse der westlichen Staaten - was gut gemeint war in den Regalen der lokalen Lebensmittelgeschäfte lagen und sie ihre Produkte nicht absetzen konnten. Insofern war das, was gut gemeint war, oft kontraproduktiv. Darauf wollen wir mit unserem Antrag reagieren, indem wir die veränderten Rahmenbedingungen in die neue Nahrungsmittelhilfekonvention einfließen lassen. Hinzu kommt, dass sich die Situation auf den Weltagrarmärkten verändert hat. Es gibt neue, große Nachfrager wie China oder Indien. In einigen Ländern gibt es inzwischen eine Konkurrenz zwischen dem Anbau von Nahrungsmitteln und dem Anbau von Agrartreibstoffen. An dieser Stelle möchte ich ausdrücklich darauf hinweisen, dass wir das Positionspapier des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung begrüßen, in dem Leitlinien festgezurrt wurden, damit die Nahrungsmittel weiterhin den Ärmsten zugutekommen können. Der Biomasseanbau darf das nicht verhindern. Wir wollen nicht, dass der Klimaschutz durch den Biomasseanbau gefährdet wird. Wir wollen Biomasseanbau nur auf zertifizierten Flächen haben. Wir wollen, dass behutsam und vorsichtig vorgegangen wird. ({1}) Die Vereinigten Staaten von Amerika haben in den letzten Jahren - ich formuliere das jetzt einmal sehr hart unter dem Deckmantel der Nahrungsmittelhilfe eigentlich nur ihre Agrarüberschüsse loswerden wollen. ({2}) Das war nicht WTO-konform. Deshalb war es richtig, dass die Europäer auf der WTO-Konferenz in Hongkong darauf bestanden haben, auch über dieses Thema zu verhandeln. Schließlich müssen auch wir - übrigens zu Recht - unsere Exportsubventionen senken bzw. sie ganz streichen. Ich füge hinzu: Wir hätten beschließen sollen, die Subventionen sogar noch vor dem Jahre 2013 zu streichen. Das, was die Amerikaner - übrigens oft aus wahltaktischen Gründen - unter dem Deckmantel der Nahrungsmittelhilfe gemacht haben, ist nichts anderes, als Geschenke an die Farmer zu verteilen. Damit haben sie in den Entwicklungsländern aber das genaue Gegenteil dessen bewirkt, was man mit der Nahrungsmittelhilfe zu erreichen versucht. Sie haben dort noch mehr Hunger und Armut produziert. Das muss ein Ende haben. ({3}) Noch im letzten Jahr haben die OECD-Staaten an die Landwirte Subventionen in Höhe von 349 Milliarden Dollar gezahlt. Für die öffentliche Entwicklungszusammenarbeit haben sie allerdings nur etwa ein Drittel dieses Betrages zur Verfügung gestellt. Wenn man sich das vor Augen führt, stellt man fest, dass hier nach wie vor eine erhebliche Schieflage besteht. Es muss klar sein, dass die Nahrungsmittelknappheit ein Problem ist, das in erster Linie mit den weltwirt16030 schaftlichen Bedingungen des Handels zusammenhängt. Insofern handelt es sich auch um ein Verteilungsproblem. Deswegen wäre es unzureichend, wenn man versuchen würde, dieses Problem auf bilateraler Ebene zu lösen. Vielmehr müssen wir die strukturellen Ursachen dieses Problems bekämpfen. Es ist zwingend notwendig, dass wir jetzt ein umfassendes Konzept der Nahrungsmittelhilfe erarbeiten und eine Nahrungsmittelhilfekonvention verabschieden, in deren Rahmen die Nahrungsmittelhilfe in Konzepte zur wirtschaftlichen Entwicklung und Armutsbekämpfung integriert wird. Unser Ziel muss sein, den Übergang von der humanitären Soforthilfe zur mittel- und langfristigen Ernährungssicherung, die ohne Hilfslieferungen auskommt, zu gewährleisten. Den Menschen in den Entwicklungsländern muss die Chance zur Selbsternährung gegeben und damit das grundlegende Recht auf Nahrung garantiert werden. Die Nahrungsmittelhilfe muss so eingesetzt werden, dass sie in entwicklungspolitischer Hinsicht nicht kontraproduktiv ist, sondern dazu beiträgt, die lokale Landwirtschaft zu stärken. Das ist es übrigens, was Deutschland von manch anderem Geberland unterscheidet. Wir wollen sicherstellen, dass mit der Nahrungsmittelhilfe die lokalen Märkte gestärkt werden. ({4}) Wir wollen nicht, dass zum Beispiel Getreide aus den USA nach Afrika geliefert wird. Mit unserem Antrag möchten wir dafür sorgen, dass die Menschen, die Nahrungsmittelhilfe erhalten, in erster Linie Geld oder Gutscheine bzw. Essensmarken bekommen, damit sie die Produkte, die sie brauchen, lokal, also bei ihren Landwirten, kaufen. So macht Nahrungsmittelhilfe Sinn. Wenn man so vorgeht, fördert man auch die lokale Landwirtschaft und eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung, die dauerhaft selbsttragend sein kann. Außerdem trägt man dazu bei, dass die Hungernden, die in Not sind, nicht verhungern müssen. Diese Ziele müssen wir mit der neuen Nahrungsmittelhilfekonvention erreichen. Ich glaube, dass wir hier parteiübergreifend ein gutes Ergebnis erzielen werden. Im Sinne der hungernden Menschen auf der Erde hoffe ich, dass unser Antrag große Zustimmung findet. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Dr. Karl Addicks von der FDP-Fraktion.

Dr. Karl Addicks (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003713, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist wirklich gut, dass wir heute hier im Plenum über das wichtige Thema Nahrungsmittelhilfe reden; denn die Nachrichten, die uns dazu in den vergangenen Tagen und Wochen erreicht haben, sind wirklich besorgniserregend. Die Preise für Grundnahrungsmittel sind explodiert. Deswegen ist sogar das World Food Programme gezwungen, seine Hilfe in einigen Teilen der Welt einzuschränken. Die derzeitige Verteuerung und Knappheit der Grundnahrungsmittel trifft selbst Länder, in denen man schon lange keine Nahrungsmittelknappheit und keinen Hunger mehr gekannt hat. Ein krasses Beispiel ist das Schwellenland Mexiko. Der Anstieg des Preises für Mais führte dazu, dass sich die Mexikaner keine Tortillas, das Grundnahrungsmittel, mehr leisten konnten. Daher sind die Menschen auf die Straße gegangen und haben demonstriert. Dass sich die Mexikaner keine Tortillas mehr leisten können, ist wirklich ein Skandal. Ich frage mich: Wenn es schon in einem Schwellenland wie Mexiko so aussieht, wie ernst ist die Situation dann erst in Entwicklungsländern, ({0}) die schon häufig mit Nahrungsmittelknappheit zu kämpfen hatten? Laut World Food Programme ist die Lage in vielen Entwicklungsländern mittlerweile so schlimm, dass sich selbst die dortige Mittelschicht Lebensmittel nicht mehr leisten kann. Hungersnöte erreichen heute nicht nur andere Bevölkerungsschichten; sie bekommen auch eine andere Dimension: Wurden sie in der Vergangenheit meist durch Naturkatastrophen, durch Krieg und Zerstörung ausgelöst, sind es heute der steigende Ölpreis und steigende Energiepreise. So hat zum Beispiel die Regelung, dass 10 Prozent Biokraftstoff beigemischt werden müssen, Auswirkungen auf die Nahrungsmittelpreise. Eine Zahl soll uns zeigen, was diese Entwicklung für die Arbeit des World Food Programme bedeutet: Das World Food Programme muss inzwischen durch die internationale Gemeinschaft eine halbe Milliarde Dollar zusätzlich aufbringen, um den derzeitigen Umfang der Hilfe aufrechtzuerhalten. Ein Grund für die neue Dimension, die die Nahrungsmittelknappheit annimmt, ist, dass Kraftstoff zunehmend aus Sojabohnen, Mais und Getreide erzeugt wird. Ein weiterer Grund ist die zunehmende Nachfrage der Weltbevölkerung nach Fleisch, zum Beispiel in China und Indien. Vom steigenden Ölpreis habe ich schon gesprochen. All diese Punkte haben Sie in Ihrem Antrag zu Recht angesprochen; die aktuelle Situation wird in Ihrem Antrag jedoch nicht ausreichend thematisiert. Sie wollen, dass die Bundesregierung aufgefordert wird, die Auswirkungen der zunehmenden Konkurrenz zu erforschen. Erforschen ist gut, Reagieren ist besser. Das Drama spielt sich doch vor unseren Augen ab. Hier geht uns Ihr Antrag nicht weit genug. Die Zeiten haben sich geändert: Nicht Überschüsse sind das Problem, sondern Knappheiten. Diese wichtige agrarpolitische Veränderung berücksichtigen Sie in Ihrem Antrag nicht ausreichend. Wir sind uns doch im Grunde einig, dass hier alle Seiten mehr investieren müssen. ({1}) Die Entwicklungsländer, die Schwellenländer und die Industrieländer sind hier gleichermaßen gefordert. Das wäre langfristig Hilfe zur Selbsthilfe. Ich betone es auch an dieser Stelle: Spätestens seit dem Weltbankbericht, der neulich im Ausschuss Thema war, sollte jedem klar sein, dass die ländliche Entwicklung in unserer Entwicklungszusammenarbeit bislang vernachlässigt wurde. ({2}) - Das ist kein Unsinn. Fragen Sie Ihren Kollegen Raabe! Auch er ist vor einiger Zeit auf den Trichter gekommen, dass wir auf diesem Gebiet in der Vergangenheit nicht das getan haben, was wir hätten tun können. Doch die ländliche Entwicklung spielt gerade bei der Armutsbekämpfung eine ganz entscheidende Rolle. Wir werden, weil das Thema enorme Bedeutung hat, dem Antrag dennoch zustimmen. ({3}) Sie haben uns leider nicht die Möglichkeit gegeben, uns an der Erarbeitung dieses Antrags zu beteiligen. Sie haben einen Antrag zur Abstimmung gestellt, dem wir entweder zustimmen oder den wir ablehnen können. Ich finde das nicht kollegial. ({4}) Ich hoffe, dass wir in Zukunft bei einem so wichtigen Thema zusammenarbeiten werden. Vielen Dank. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Sibylle Pfeiffer von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Sibylle Pfeiffer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003609, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie komplex das Thema Nahrungsmittelhilfe und der Bereich Nahrungsmittelhilfekonvention sind, möchte ich an einem Negativbeispiel verdeutlichen: Kenia machte 2006 Schlagzeilen. Der Präsident rief damals den Notstand aus und forderte internationale Nahrungsmittelhilfe an. Was war geschehen? Aufgrund einer Dürre herrschte im Norden des Landes eine Hungersnot. Doch während im Norden mehr als 2 Millionen Menschen der Hungertod drohte, saßen im Westen Kenias Bauern auf einer Rekordernte Mais. Die Regierung hatte angeboten, den Bauern im Westen den Mais abzukaufen und ihn an die Menschen im Norden zu verteilen, die kein Geld besitzen, um Lebensmittel zu kaufen. Eine einfache Sache, denkt man. Die Bauern dachten aber nicht im Traum daran, ihren Mais an die Regierung zu verkaufen. Das hat einen einfachen Grund: Die Regierung zahlt in der Regel nicht. Sie verspricht zwar, irgendwann zu zahlen, aber die Bauern haben mit dem korrupten Regime schlechte Erfahrungen gemacht. Deshalb gaben die Bauern den Mais lieber an Händler aus Tansania ab, die ihn bar bezahlten und mit einem Preisaufschlag als Hilfsgüter an andere Länder verkauften, in denen auch Hunger drohte. Wenn aus diesem Geschäft nichts wurde, dann nahmen die Bauern lieber in Kauf, dass ihr Mais in den Silos vergammelte; denn dies war immer noch günstiger als der Transport des Getreides über Hunderte von Kilometern auf katastrophalen Straßen in den Norden, wo sie nur niedrige Preise erzielen könnten. Besonders schlimm finde ich an dieser Tatsache, dass die Dürre das Land keineswegs unvorbereitet getroffen hat. Es gab Warnungen im Vorfeld. Kenia verfügt über Spezialisten, die regelmäßig genaue Prognosen und Berichte in die Hauptstadt schicken. Was mit diesen Berichten geschieht, dürfte allerdings das ewige Geheimnis der Regierung bleiben. Der Spiegel berichtete, dass der Präsident die Krise erst dann zur Chefsache erklärte, nachdem die Medien in Kenia ausführlich über die Katastrophe berichtet hatten. Im Gefolge des Präsidenten erschienen zwei Flugzeuge voller Minister und Regierungsbeamter vor Ort. Mit anwesend waren auch der Verteidigungsminister und der Tourismusminister, deren Ressorts gar nichts mit dem Thema Hunger zu tun haben. Es ging nicht um Krisenmanagement, sondern um eine medienwirksame Präsentation. Dass die Krise nicht ohne Vorwarnung kam und die Probleme hausgemacht sind, zeigt eine weitere Tatsache: Bereits seit Jahren versorgt das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen den Norden Kenias - auch in normalen Zeiten - mit Lebensmitteln. Man muss wissen, dass in Nordkenia vorwiegend Viehhirten beheimatet sind. In Krisenzeiten müssten sie eigentlich ihr Vieh schlachten, um die hungernden Menschen zu ernähren, zumal die Überweidung durch die Rinderherden in dieser Region dramatisch zunimmt. Kenianische Medien berichten, dass die Nomaden eher mit ihrem Vieh hungern, als es zu essen. Manche Stämme essen grundsätzlich das Fleisch ihrer Rinder nicht. Sie halten Rinder als Prestigeobjekt und als Währung. Damit wird zum Beispiel der Brautpreis für eine Frau bezahlt. Zurzeit liegt er angeblich bei 100 Kühen. Fakt bleibt, dass die permanenten Nahrungsmittelhilfen die Probleme nicht beseitigt haben. Im Gegenteil: Sie haben sie verschärft. Kenia ist kein Einzelfall. Allein in Afrika sind über 30 Länder auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen. An dieser Stelle kommt die Nahrungsmittelhilfekonvention ins Spiel. Sie ist ein gutes Beispiel dafür, dass im Laufe der Zeit auch die besten Vorsätze manchmal in die falsche Richtung führen können. Die ursprüngliche Idee war durchaus sinnvoll: Lebensmittelüberschüsse aus den Industrieländern sollten sinnvoll für die Hungerbekämpfung in den Entwicklungsländern eingesetzt werden. Doch im Laufe der Zeit zeigte sich, dass die Nahrungsmittellieferungen für die Empfängerländer auch problematisch sein konnten, zum Beispiel dann, wenn durch ausländische Lieferungen die Bauern in den Entwicklungsländern benachteiligt werden. Deutschland und die EU liefern grundsätzlich keine Lebensmittel, sondern leisten nur Barzahlungen. So können die betroffenen Länder die notwendigen Lebensmittel vor Ort bzw. in den Nachbarländern kaufen. Wenn Deutschland keine Nahrungsmittel liefert, mag sich mancher fragen, welchen Sinn der vorliegende Antrag für eine neue Nahrungsmittelhilfekonvention hat. Der Grund dafür ist, dass wir auch in dieser Frage eine Kohärenz der Geber wollen. Es hat keinen Sinn, wenn jeder seine eigene Entwicklungspolitik macht, ohne sich mit den anderen Gebern abzusprechen. Die Bundesregierung hat daher im Rahmen des G-8Gipfels und der EU-Ratspräsidentschaft eine Konferenz zu diesem Thema veranstaltet. Über 150 Experten haben beraten, wie die Nahrungsmittelhilfekonvention neu gestaltet werden kann; denn seit den Anfängen der Konvention vor über vier Jahrzehnten sind viele neue Faktoren aufgetreten, die große Folgen für die weltweite Nahrungsmittelsituation haben. Für meine Fraktion - die CDU/CSU-Fraktion - war es wichtig, dass diese veränderten Faktoren im Antrag berücksichtigt werden und sich somit auch im Hinblick auf die Neuverhandlung der Konvention niederschlagen. Ich möchte einige Punkte aufzählen. Wir alle kennen die aktuellen Nachrichten über steigende Lebensmittelpreise; Sascha Raabe hat das bereits angesprochen. Viele staatliche Stellen, NGOs und Organe der Vereinten Nationen warnen vor den Konsequenzen. Auch der Generalsekretär der Vereinten Nationen hat sich zu dieser dramatischen Entwicklung geäußert. Die rasante Preisentwicklung bei den Nahrungsmitteln geht weiter. Die Bedrohung durch Hunger und Unterernährung wächst ebenfalls. Das Millenniumsziel, die Zahl der hungernden Menschen bis 2015 zu halbieren, ist ohnehin schwierig zu erreichen. Durch die jüngsten Entwicklungen wird es noch schwieriger. Wir haben auch auf die damit zusammenhängende Verknappung der Nahrungsmittel hingewiesen. Die Gründe hierfür sind verschieden. Wir verzeichnen eine steigende Nachfrage in den Schwellenländern nach verschiedensten Lebensmitteln. Sie selbst sind aber nicht in der Lage, genug herzustellen, auch deshalb, weil ihnen schlichtweg Ackerland durch Städtebau, Industriebau und Desertifikation verloren geht. So muss China zum Beispiel fast ein Viertel der Weltbevölkerung ernähren. Es verfügt aber nur über 10 Prozent der weltweiten Ackerfläche. Stichwort „Weltbevölkerung“. Uns war es wichtig, eine große globale Herausforderung im Antrag zu unterstreichen: Wie soll eine wachsende Weltbevölkerung bei immer weniger verfügbarer Ackerfläche ernährt werden, vor allem vor dem Hintergrund, dass das rasante Bevölkerungswachstum vorwiegend in den Entwicklungsländern stattfindet? Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist der Meinung, dass neue Lebensmitteltechnologien hierbei eine entscheidende Rolle spielen können. ({0}) Wir begrüßen es daher sehr, dass Agenturen der Vereinten Nationen wie die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation, FAO, mit der Afrikanischen Union zusammenarbeiten, um die Grüne Revolution voranzubringen. Der UN-Generalsekretär betonte hierzu ausdrücklich, dass dabei auch die „lebensnotwendige Wissenschaft und Technik, die dauerhafte Lösungen für den Hunger bieten“, genutzt werden. Weitere Gründe für die Verknappung und Verteuerung der Lebensmittel liegen in der Klimaveränderung und in den gestiegenen Rohölpreisen, die den Transport verteuern. Nicht zu vergessen ist dabei der steigende Bedarf an Biokraftstoffen. Hierüber haben wir uns in einer großen Anhörung im Bundestag kundig gemacht. Wenn man dies alles berücksichtigt, verwundert es nicht, dass die weltweiten Nahrungsmittelreserven dramatisch gesunken sind. So sanken beispielsweise die Weizenbestände in der EU innerhalb eines Jahres von 14 Millionen Tonnen auf 1 Million Tonnen. Eine kurze Bemerkung dazu: Zurzeit ist die Konvention bei der Getreidebörse in London angesiedelt. Man überlegt, wo man sie künftig ansiedeln soll. Man sollte nicht das Kind mit dem Bade ausschütten. Ich glaube, die Entscheidung kann irgendwann im Laufe der Diskussion fallen. Wir müssen das nicht jetzt entscheiden. Wichtig ist, dass die Verwaltungskosten so gering gehalten werden wie zurzeit bei der Getreidebörse. Wie soll die Nahrungsmittelhilfekonvention künftig aussehen? Die Nahrungsmittelhilfekonvention, die ursprünglich nur die Verteilung der Überschüsse regelte, muss neu justiert werden. Der wichtigste Punkt, den das am Anfang geschilderte Beispiel Kenia zeigt, ist, dass Nahrungsmittelhilfe mehr bedeutet als nur die Lieferung von Lebensmitteln. Wir müssen differenzierter vorgehen. Es ist ein Unterschied, ob überall in einem Land Hunger droht oder ob grundsätzlich Lebensmittel vorhanden sind, die Menschen aber keinen Zugang dazu haben, ob ihnen schlichtweg das Geld fehlt, um sich Nahrung zu kaufen. Keine Frage, in Krisensituationen muss schnell gehandelt werden. Es soll auch schnell gehandelt werden. Es muss aber effektiv gehandelt werden, also entwicklungspolitisch nachhaltig. Es darf nicht dazu kommen, dass wie im Falle Kenia die Menschen in eine regelrechte Abhängigkeit von Nahrungsmittelhilfe geraten. Wir müssen Wege finden, die die Menschen in die Lage versetzen, sich selbst zu helfen, sich selbst zu ernähren. Cash for work, food for work, das wären zum Beispiel geeignete Mittel. ({1}) Wir dürfen nicht vergessen, dass die Landwirtschaft der beschäftigungsintensivste Sektor für die meisten Entwicklungsländer ist und dass in ihr die meisten Menschen eine Einnahmequelle haben. Die ländliche Entwicklung spielt somit eine entscheidende Rolle bei der Armutsbekämpfung. Das alles muss man im Auge behalten, wenn es um die Neugestaltung der Nahrungsmittelhilfekonvention geht. In einer Mitteilung ruft die EU-Kommission ausdrücklich dazu auf, dass die Nahrungsmittelhilfe durch die Förderung und Entwicklung der lokalen Landwirtschaft abgelöst werden soll. Wenn Nahrungsmittelhilfe die einzige Alternative sein sollte, so fordert die Kommission den Einkauf auf lokaler Ebene und/oder in angrenzenden Gebieten. Ein Punkt in diesem Zusammenhang liegt mir besonders am Herzen: Wir wissen, dass eine nachhaltige Entwicklung ohne die Förderung von Frauen nicht möglich ist. Ich denke, dass diese Tatsache auch im Zusammenhang mit der neuen Nahrungsmittelhilfekonvention berücksichtigt werden muss, und zwar in einem besonderen Maße. ({2}) Frauen erzeugen in Entwicklungsländern 80 Prozent aller Grundnahrungsmittel. Sie besitzen aber nur 10 Prozent der Anbaufläche und weniger als 2 Prozent aller Landtitel. Dies ist mit eine Ursache dafür, dass zwei Drittel aller Armen Frauen sind. Wir müssen auch darauf achten, die NGOs in die Arbeit der Nahrungsmittelhilfekonvention einzubeziehen. Vor allen Dingen müssen die Regierungen der Entwicklungsländer mehr partizipieren; denn sie stehen in besonderer Verantwortung. Das Beispiel Kenia zeigt, dass viele Hungerkatastrophen durch bessere Verteilung und Verwaltung hätten vermieden werden können. Der Kern der Nahrungsmittelhilfekonvention sind die verbindlichen Zusagen für Nahrungsmittelhilfe. Wir wollen diesen Kern stärken. Gleichzeitig aber wollen wir, dass die Nahrungsmittelhilfe Teil einer umfassenden und somit nachhaltigen Gesamtstrategie zur Bekämpfung des Hungers wird. Sie kann eine grundlegende Ernährungsstrategie und eine Entwicklungsstrategie nicht ersetzen, aber sie kann diese sinnvoll ergänzen. Meines Erachtens zeigt unser Antrag dies deutlich. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Hüseyin-Kenan Aydin von der Fraktion Die Linke. ({0})

Hüseyin Kenan Aydin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003733, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Grünen haben uns bereits im Dezember ihren Antrag für eine neue Nahrungsmittelhilfekonvention vorgelegt, der von uns die volle Unterstützung bekam. Der uns nun vorliegende interfraktionelle Antrag ist demgegenüber deutlich verwässert worden. Er weist einige Lücken auf, sodass die Fraktion Die Linke diesem Antrag jetzt nicht mehr zustimmt, sondern sich enthält. Ja, wir brauchen eine neue Nahrungsmittelhilfekonvention, die sich an den Bedürfnissen der Hungernden und der Empfängerländer und am Menschenrecht auf Nahrung orientiert. Wir können jedoch nicht über eine neue Nahrungsmittelhilfekonvention zur Linderung des Hungers reden, ohne über die Ursachen von Hunger zu reden. Der uns vorliegende Antrag beantwortet die Frage nach den Ursachen mit dem Hinweis auf die Verknappung der Agrarrohstoffe, bedingt durch ein gestiegenes Bevölkerungswachstum, die Folgen des Klimawandels und eine gestiegene Nachfrage nach höherwertigen Nahrungsmitteln wie Fleisch und nach Agrarbrennstoffen. Der entscheidende Punkt, der in diesem Antrag leider unterbewertet wird, ist, dass der Agrarhandel und die ungerechten Handelsbedingungen auf dem Weltmarkt zu Hunger führen - zu Fleischbergen auf unserer Seite und zu einer Schale Reise am Tag auf der anderen Seite. Darüber haben wir schon des Öfteren hier im Plenum debattiert. An dieser Stelle möchte ich die Ministerin Wieczorek-Zeul zitieren: Alle Programme zur Einlösung des Rechts auf Nahrung werden nichts ändern, wenn es uns nicht gelingt, die Strukturen im Welthandel gerechter zu gestalten. Die Entwicklungsländer wollen faire Bedingungen auf den Weltmärkten. Sehr richtig, Frau Ministerin. Doch wie sieht die Realität aus? Die Steigerungen der Preise für Nahrungsmittel um bis zu zwei Drittel lösten in Kamerun und Burkina Faso in diesem Monat schwere Unruhen aus, in deren Verlauf mehr als hundert Menschen starben. Ähnliche Szenarien gab es in Senegal, in Guinea, aber auch in Mauretanien, also in Ländern, wo die armen Menschen weit über die Hälfte ihres Einkommens - bis zu 80 Prozent; Kollege Raabe wies darauf hin - für Nahrung ausgeben müssen. Was hat die Preissteigerungen ausgelöst? Es war beileibe nicht nur der Klimawandel. Die Verhandlungen der WTO und die Handelsabkommen der EU destabilisieren die lokalen Märkte in Afrika und weltweit. Eine Explosion der Rohölpreise führte hier zu einem Zusammenbruch der Märkte. Die Preise für die Nahrungsmittel schnellten in die Höhe; die Verlierer sind wie immer die Armen. Wer Hungersnöte vermeiden will, braucht stabile lokale Märkte. Das hat die Vergangenheit immer wieder bewiesen; auch Kollegin Pfeiffer hat es in ihrer Rede erwähnt. Wenn der Staat eingreifen will, um seine Menschen vor Hunger zu schützen, dann gibt es auf einmal von allen Seiten Widerstand wegen möglicher Handelsverzerrungen, zuallererst von der WTO. Nahrungsmittelhilfe zählt in vielen Notsituationen zu den wichtigsten Reaktionsmechanismen. Sie war aufgrund ihrer Praxis des Absatzes von Agrarüberschüssen umstritten; das wurde bereits erwähnt. Entscheidende Forderungen waren die Orientierung am Prinzip des Menschenrechts auf Nahrung und eine Beteiligung der Empfängerländer an Entscheidungen. Die Diakonie kritisierte an der alten Nahrungsmittelhilfekonvention: Empfängerländer wie auch die Zivilgesellschaft sind nicht beteiligt, selbst die mit der Durchführung der Nahrungsmittelhilfe befassten internationalen Organisationen … können nur auf Einladung teilnehmen. Wen haben Sie in Ihrem neuen Antrag - im Gegensatz zum alten Antrag der Grünen - eingeladen, sich zu beteiligen? Die WTO. Wen haben Sie ausgeladen? Die Empfängerländer und die Nichtregierungsorganisationen. ({0}) Deshalb enthalten wir uns bei der Abstimmung über diesen Antrag. Ich möchte an dieser Stelle die Regierung bitten - das ist eine ausdrückliche Bitte im Namen meiner Fraktion -, nicht nur auf die Handelsverzerrungen zu achten, wie es die WTO betont, sondern auch die betroffenen Länder und die Nichtregierungsorganisationen einzubeziehen. Wenn Sie das tun, werden wir Ihre Arbeit nicht nur entsprechend würdigen und schätzen, sondern bei Gelegenheit unsere Entscheidung in Richtung Zustimmung korrigieren, Frau Wieczorek-Zeul. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Thilo Hoppe von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Thilo Hoppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003558, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich versuche jetzt einmal, für etwas Entwirrung zu sorgen. Wir diskutieren jetzt nicht über einen Antrag, mit dem versucht wird, die Ursachen des Hungers in der Welt zu erklären oder umfassende komplexe Hungerbekämpfungsstrategien in den Vordergrund zu stellen. Wenn wir so eine Debatte führen, dann gehören natürlich die ungerechten Handelsstrukturen oder auch die Konzentration auf die ländliche Entwicklung in der Entwicklungszusammenarbeit dazu. Es gab - auch in der Kritik dieses Antrags - viele gute Vorschläge, aber es ist kein komplexer Hungerbekämpfungsantrag. Vielmehr konzentrieren wir uns hier auf ein Instrumentarium: auf die Nahrungsmittelhilfe. Es ist manchmal schwer, zu erklären, dass es auf beiden Seiten große Probleme gibt. Ganz aktuell gibt es durch die dramatisch gestiegenen Lebensmittelpreise bedrohliche Engpässe. Es droht sogar die Einstellung der Luftbrücke nach Darfur. Die Essensrationen für 2 Millionen Menschen werden bereits gekürzt, weil die Mittelzusagen nicht ausreichen. Einige Rednerinnen und Redner haben das schon dargelegt. Das Welternährungsprogramm ruft um Hilfe und sagt: Wir brauchen ganz schnell mehr Geld, um die Hungernden in Darfur nicht im Stich zu lassen. Angesichts dieser Krise ist es schwer, der Öffentlichkeit zu erklären, dass man auch auf der anderen Seite vom Pferd fallen kann. Es ist noch gar nicht lange her, dass in Afghanistan zu viel und auch falsch flankierte Nahrungsmittelhilfe geleistet wurde, was dazu geführt hat, dass Tausende von Bauern in den Ruin getrieben und die Märkte zerstört wurden. Es geht also darum, die Nahrungsmittelhilfe richtig zu flankieren und richtig dosiert einzusetzen. ({0}) Darum geht es in diesem Antrag. Das heißt, die negativen Effekte, die das Welternährungsprogramm in der Vergangenheit mit ausgelöst hat, sind zu beenden. Kollegin Pfeiffer hat bereits dargestellt, dass Deutschland vor einigen Jahren die Konsequenzen gezogen hat und Agrarüberschüsse nicht mehr als Nahrungsmittelhilfe auf den Märkten der Dritten Welt ablädt. Das geschieht anderweitig in Form von Agrarexporten, die subventioniert werden - über den Schweinefleischexport werden wir an anderer Stelle noch zu reden haben -, aber eben nicht mehr im Rahmen der Nahrungsmittelhilfe. Es geht darum, mit starker deutscher Unterstützung jetzt eine Konvention auf den Weg zu bringen, die diese Mängel der alten Nahrungsmittelhilfekonvention, die aus den 60er-Jahren stammt, wirklich behebt. Wir als Fraktion der Grünen haben einen Antrag eingebracht. Ich freue mich, dass dieser Antrag nun ein Drei-, Vier- oder vielleicht sogar noch ein Fünf-Fraktionen-Antrag wird, der von allen unterstützt wird. Es ist klar, dass man in einem solchen Verfahren, in dem man die Mehrheit für seinen Antrag bekommen möchte und in dem man mit anderen verhandelt, Kompromisse machen muss. Aber die wichtigste Forderung, nämlich dass sich die neue Nahrungsmittelhilfekonvention zuallererst an dem Recht auf Nahrung auszurichten hat, an den Menschenrechten, und sie die Interessen und Bedürfnisse der Hungernden in den Mittelpunkt stellt, nicht aber die Frage, wie hoch gerade die Getreideüberschüsse oder die Preise sind, steht an oberster Stelle in dem Antrag. ({1}) Auch die Beteiligung der Empfängerländer, die vorher nur eine Art Gaststatus hatten, und der NGOs ist enthalten. Es stimmt nicht, dass diese wieder ausgeladen wurden. Die WTO soll nicht Mitglied der Nahrungsmittelhilfekonvention, nicht Mitglied des Boards werden, aber bei der Regelung von Nahrungsmittelhilfe spielt die WTO eine wichtige Rolle, ob wir das wollen oder nicht; denn über die WTO muss die handelsverzerrende, kommerzielle Nahrungsmittelhilfe, also der Missbrauch von Nahrungsmittelhilfe, reglementiert werden. Gleichzeitig muss innerhalb der WTO eine Safe Box geschaffen werden, die die wirkliche Nothilfe nicht behindert, sondern effektiv gestaltet. Deswegen ist ein Konsultationsprozess nach wie vor notwendig. ({2}) Ich will aber nicht verschweigen, dass es bei zwei Punkten auch schmerzhafte Kompromisse gegeben hat. Wir meinen nicht, dass es den Erfordernissen der Zeit entspricht, dass die Nahrungsmittelhilfekonvention beim Internationalen Getreiderat in London angesiedelt ist. Wir hätten uns gewünscht, dass sie unter das Dach der Vereinten Nationen kommt. Es gibt nun zwar eine offene Formulierung, die in diese Richtung zeigt, man drückt sich aber noch vor einer klaren Aussage. Der andere Punkt ist schmerzhafter. Diesen Kompromiss machen wir nur mit Bauchschmerzen mit. Wir haben gefordert, dass die Verpflichtungen der Geberländer so gestaltet werden, dass sie unabhängig von der Entwicklung der Getreidepreise sind. Darin waren wir Fachpolitiker im AWZ uns einig. Die Haushälter der Koalition haben unsere Forderung herausgestrichen. Sie hatten Angst davor, dass dann, wenn die Getreidepreise steigen, wie es zurzeit der Fall ist, gewaltige Nachforderungen erforderlich würden. Ich denke, wir sollten nach wie vor für unsere Forderung streiten. Es geht hier um humanitäre Hilfe, um Nothilfe, die buchstäblich Menschenleben rettet. Die darf doch um Gottes Willen nicht davon abhängig gemacht werden, wie hoch oder tief gerade der Getreidepreis ist. ({3}) Da bitte ich Sie alle, gerade die Fachpolitiker, die im Bereich Entwicklungszusammenarbeit und der humanitären Hilfe aktiv sind, weiter zu kämpfen. Ich bitte die Bundesregierung, eine entsprechende Position einzubringen und die humanitäre Hilfe nicht vom Getreidepreis abhängig zu machen. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Manfred Zöllmer von der SPD-Fraktion.

Manfred Zöllmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003663, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Angesichts von weltweit 850 Millionen hungernden Menschen, angesichts vielfältiger Kriege, Krisen und Konflikte, angesichts von Naturkatastrophen mag es den einen oder anderen vielleicht wundern, dass die Praxis der Nahrungsmittelhilfe von den antragstellenden Fraktionen teilweise sehr kritisch betrachtet wird. Das resultiert aus den Erfahrungen, die in der Vergangenheit vielfach mit Nahrungsmittelhilfe gemacht worden sind. Manche Geber haben in der Vergangenheit das Instrument der Nahrungsmittelhilfe dazu benutzt, Agrarüberschüsse auf einfache Art und Weise loszuwerden. Die Kollegin Pfeiffer hat hier sehr deutlich Beispiele dafür genannt. Auch auf der WTO-Konferenz in Hongkong spielte dieses Thema eine gewichtige Rolle. Beim Ringen um weltweit faire Handelsbedingungen im Agrarbereich war es die Forderung der EU, parallel zur angebotenen Abschaffung der Exportsubventionen auch die handelsverzerrenden Praktiken von Staatshandelsunternehmen und die Praxis, Nahrungsmittelhilfe zur Überschussbeseitigung zu benutzen, zu beenden. Der weitere Verlauf der WTO-Verhandlungen hat leider gezeigt, dass es bisher wenig Bereitschaft gab, auf diese Forderung einzugehen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die WTO-Verhandlungen sind der eine Schauplatz, auf dem über dieses Thema verhandelt wird. Der andere Schauplatz ist die Neuregelung der Nahrungsmittelhilfekonvention, die in diesem Jahr ansteht. Eine einjährige Verlängerung dieser Konvention bis 2009 ist möglich. Spätestens dann muss es aber ein Ergebnis geben. Voraussetzung dafür wäre aber grünes Licht in Form eines entsprechenden Modalitätenpapiers der WTO. Es gibt zarte, allerdings nur sehr zarte Signale, dass dies vielleicht noch in diesem Monat möglich ist. Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. Aber leider ist sie in der laufenden Welthandelsrunde, die ja eine Entwicklungsrunde sein sollte, schon zu oft gestorben. Die WTO-Verhandlungen sind - das wissen wir - in einer wirklich schwierigen Phase. Viel zu viele letzte Termine sind schon verschoben worden. Wir brauchen deshalb zügig Vereinbarungen, die effizient und an den Bedürfnissen der Betroffenen orientiert die Sicherung der Ernährung in Krisensituationen garantieren, Regelungen, die darauf ausgerichtet sind, die Probleme der notleidenden Menschen und nicht die Überschussprobleme der Geberländer zu lösen. Die Perspektiven der Welternährung sind von einer Reihe schwieriger Entwicklungen gekennzeichnet - wir haben das teilweise schon gehört -: Erstens. Die Weltbevölkerung steigt rasant und damit auch die Nachfrage nach Nahrungsmitteln. Zweitens. Die Preise für Weizen, Reis, Mais und Soja, also für Grundnahrungsmittel, sind im letzten Jahr enorm gestiegen. In Afghanistan zum Beispiel kostet der Weizen im Moment fast 70 Prozent mehr als vor einem Jahr. Drittens. Der Nahrungsverbrauch in den Boomregionen der Schwellenländer steigt, weil dort immer mehr Fleisch konsumiert wird. Viertens. Die Auswirkungen des Klimawandels sind bereits jetzt durch einen Rückgang der Anbauflächen und durch Ernteausfälle spürbar. Das wird in Zukunft noch schwieriger werden. Fünftens. Wir erleben einen massiven Ausbau des Biospritanbaus, wenn ich das einmal so bezeichnen darf eigentlich ein Instrument gegen den Klimawandel, das aber global zu einer Verdrängung der Nahrungsmittelproduktion führt. Angesichts dieser Rahmenbedingungen wird es schwierig sein, die Millenniumsziele tatsächlich zu erreichen. Gerade deshalb ist es so wichtig, bei der Nahrungsmittelhilfekonvention möglichst rasch zu einem Ergebnis zu kommen. Wir begrüßen nachdrücklich, dass die Bundesministerin Wieczorek-Zeul sich dafür konsequent eingesetzt hat und einsetzt. Die Ausrichtung der internationalen Konferenz zur Nahrungsmittelhilfe in Berlin im letzten Jahr hat dies deutlich gemacht. Diese Konferenz hat wichtige Anregungen für eine umfassende Food Assistance Convention gegeben. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es wird immer deutlicher: Die Situation in der Landwirtschaft hat sich verändert. Zukünftig werden wir kaum noch vor dem Problem der Überschussbeseitigung stehen. Unser Problem wird das des weltweiten Mangels an Nahrungsmitteln sein. Der vorliegende Antrag dreier Fraktionen - die FDP wird zustimmen; ich begrüße das - reflektiert diese Situation und fordert eine Neuausrichtung der Nahrungsmittelhilfe. ({0}) Die Hilfe darf nicht handelsverzerrend sein wie oftmals in der Vergangenheit. Der Vorschlag, im Rahmen des Agrarabkommens der WTO eine Safe Box zu schaffen, ist richtig. Dies kann sicherstellen, dass in Notfällen unbürokratisch, schnell und zielgenau geholfen werden kann. Diese Hilfe darf nicht zu einem Zusammenbruch regionaler Märkte führen. Der Erhalt der Existenzgrundlagen der Kleinbauern ist eine zentrale Voraussetzung, um längerfristig die Versorgung mit Lebensmitteln aus eigener Kraft sicherzustellen. Das muss das Ziel sein. ({1}) Die WTO muss deshalb jetzt die Kraft haben, ein vernünftiges Modalitätenpapier vorzulegen. Dazu müssen sich besonders die USA bewegen. Dann muss es zügig eine Neuverhandlung der Nahrungsmittelhilfekonvention geben. Wir brauchen ein gutes Ergebnis, und wir brauchen es schnell, im Interesse der betroffenen Menschen. Der vorliegende Antrag weist in die richtige Richtung. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD und Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Für eine neue, effektive und an den Bedürfnissen der Hungernden ausgerichtete Nahrungsmittelhilfekonvention“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/8485, den Antrag auf Drucksache 16/8192 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen aller Fraktionen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen Trittin, Winfried Nachtwei, Alexander Bonde, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN NATO-Gipfel für Kurswechsel in Afghanistan nutzen - Drucksache 16/8501 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({0}) Innenausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Grünen fünf Minuten erhalten sollen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Jürgen Trittin vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Jürgen Trittin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003246, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auf dem Bukarester Gipfel der NATO wird eine Reihe von wichtigen Fragen diskutiert. Es geht um die Frage einer neuen Raketenabwehr in Europa. Wir sind dezidiert der Auffassung, dass diese abrüstungspolitisch kontraproduktiv wäre; ({0}) denn sie würde eine schwere Belastung unseres Verhältnisses zu Russland darstellen. Das Drängen der Ukraine und Georgiens auf Aufnahme in die NATO, das sich auch in der Tagesordnung widerspiegelt, dürfen wir angesichts der ungeklärten Konflikte in diesem Bereich nicht durch unnötige Signale ermuntern. Der Kern der Auseinandersetzung ist die Frage: Wie geht die NATO mit dem ISAF-Einsatz in Afghanistan um? Hier muss es - da kann es nicht nur bei Ankündigungen bleiben - tatsächlich einen Strategiewechsel geben. ({1}) Die jüngst veröffentlichten Zahlen und Statistiken unterstreichen das mit einem ganz bitteren Nachdruck. 2007 gab es gewaltbedingt 8 000 Tote, darunter 1 500 Zivilisten. Das war das blutigste Jahr seit dem Sturz der Taliban. Die sogenannten Oppositionellen Militanten Kräfte haben im Jahr 2007 160 Selbstmordattentate verübt. Man muss in aller Deutlichkeit sagen: Die meisten getöteten Zivilisten sind Anschlägen von Aufständischen und nicht kriegerischen Aktionen der internationalen Gemeinschaft zum Opfer gefallen. ({2}) Es ist ein Irrtum - das muss man an dieser Stelle immer wieder sagen -, zu glauben, es würde weniger Krieg geben, wenn die internationale Gemeinschaft dort abziehen würde. Im Gegenteil: Afghanistan würde in jenen Bürgerkrieg zurückfallen, in dem es sich 30 Jahre lang befunden hat. ({3}) Natürlich ist auch jedes zivile Opfer, das durch Handeln von NATO-Soldaten dort verantwortet wurde, ein Opfer zu viel. Es delegitimiert die internationalen Bemühungen für einen Aufbau. Deswegen bedarf es dieses Strategiewechsels. In Bukarest soll über einen umfassenden strategischpolitisch-militärischen Plan gesprochen werden. Ich sage in aller Deutlichkeit: Es darf nicht bei einem Plan bleiben. Der Strategiewechsel, über den in allen Gremien geredet wird, muss endlich am Boden in Afghanistan ankommen. Er muss für die Menschen in Afghanistan spürbar und erfahrbar sein. Er muss dort praktiziert werden. ({4}) Dazu gehört eine gemeinsame Strategie mit der afghanischen Regierung für den Umgang mit den Oppositionellen Militanten Kräften. Dazu gehört eine verbesserte und verstärkte Aufbauleistung. Dazu gehört, dass die Defizite im Bereich des Polizei- und Justizaufbaus, der Drogenbekämpfung und der Demobilisierung endlich angegangen werden. ({5}) Wir müssen endlich klarstellen, wer hier in welchen Bereichen die Verantwortung und die Federführung hat. Ich denke, dass dem neuen zivilen Koordinator, Herrn Eide, dabei nur eine glückliche Hand zu wünschen ist. Wir wünschen uns, dass er die Defizite, die gerade im zivilen Bereich aufgetreten sind, mit unser aller Unterstützung bewältigen wird. ({6}) Die vielfach zitierte vernetzte Sicherheit muss aber in der Tat am Boden verwirklicht werden. Dazu gibt es eine Grundvoraussetzung, auf der wir mit allem Nachdruck beharren, Herr Erler. Es kann nicht sein, dass neben der NATO-Operation, die dort auf der Basis eines Mandats der Vereinten Nationen durchgeführt wird, eine weitere, davon unabhängige Militäroperation stattfindet. Das stellt alle Bemühungen zur Erreichung eines einheitlichen Konzeptes der vernetzten Sicherheit auf den Kopf. ({7}) Wenn Sie in dieser Frage mit den USA verhandeln und reden wollen, die der Hauptansprechpartner sind, dann sage ich in dem Bewusstsein, dass die USA auch einer der größten zivilen Hilfeleister in Afghanistan sind: Sie müssen auch die Bereitschaft haben, in anderen Dingen Verantwortung zu übernehmen. Das ist nicht in erster Linie in Bereichen der Fall, die, wie die Bundeskanzlerin es gesagt hat, mit mehr Gefahren verbunden sind. Vielmehr glaube ich, dass die USA über einen solchen Strategiewechsel nur reden werden, wenn die NATO bereit ist, tatsächlich das zu übernehmen, was OEF bisher gemacht hat, nämlich die Ausbildung der afghanischen Armee. Deswegen sage ich Ihnen: Die Frage eines Strategiewechsels in Bukarest wird sich in der Antwort auf die Frage materialisieren, ob Sie es schaffen werden, in einem ersten Schritt das Nebeneinander zu beenden, damit die Ausbildung der afghanischen Armee künftig von ISAF - von der NATO durchgeführt wird und nicht mehr unter dem Dach von Enduring Freedom steht. Vielen Dank. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Holger Haibach von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Holger Haibach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003546, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag, der heute vom Bündnis 90/Die Grünen vorgelegt wird, gibt die Gelegenheit, noch einmal die Situation in Afghanistan genau in Augenschein zu nehmen. Bei allen bedauerlicherweise festzustellenden tragischen Ereignissen und bei allem, was der Kollege Trittin richtigerweise gesagt hat, finde ich, dass wir das, was erreicht worden ist, nicht kleinreden sollten. ({0}) Es ist durchaus so, dass sich die Situation in Afghanistan in vielen Bereichen nicht unwesentlich verbessert hat. Es gibt inzwischen 4 Millionen Afghanen, die Zugang zu Trinkwasser haben. Es gibt viel mehr Menschen, die Zugang zu Infrastrukturleistungen wie Stromversorgung haben. Es ist wieder möglich, dass junge Mädchen in Schulen gehen. Vieles andere ist ebenfalls möglich. Insofern gehört das zur Komplettierung des Bildes dazu. Wir haben es mit einem sehr schwierigen und sehr komplexen Bild zu tun. Es gibt aber auch Erfolge, und die dürfen wir nicht kleinreden. ({1}) In diesem Zusammenhang müssen wir, so glaube ich, auch die Frage stellen, wie unser eigenes Engagement aussieht. Hierüber ist sehr viel diskutiert worden. Der Druck, der von der NATO auf uns ausgeübt wird, ist sehr groß, wenn es um die Frage von zusätzlichen Truppenstellungen geht. Ich finde, auch hier muss man feststellen: Wir sind mit 3 500 Soldaten der drittgrößte Truppensteller in Afghanistan. Wir sind der viertgrößte Geber in Afghanistan, wenn es um die Mittel für humanitäre Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit geht. Das sind immerhin beinahe 900 Millionen Euro. Das ist keine Kleinigkeit. Ich finde, auch das gehört zu dieser Debatte. Wenn man ein neues Konzept der vernetzten Sicherheit fordert, dann ist das sicherlich ganz im Sinne all derer, die sich hier im Hause mit dem Thema beschäftigen. Es ist aber auch im Sinne dieser Bundesregierung; denn sie ist ebenso wie die Vorgängerbundesregierung diejenige gewesen, die dieses Konzept der vernetzten Sicherheit in die Diskussion eingebracht und dafür gesorgt hat, dass es überhaupt zum Thema gemacht worden ist. Wie sehr dies inzwischen zu einer allgemeinen Überzeugung geworden ist, kann man sehr deutlich an dem erkennen, was der NATO-Generalsekretär bei der Kommandeurstagung der Bundeswehr gesagt hat. Diese Rede war in vielerlei Hinsicht ausgesprochen bemerkenswert. ({2}) Wir würden vieles nicht teilen. Aber er hat etwas gesagt, was ich für einen NATO-Generalsekretär sehr bemerkenswert finde. Ich möchte einmal zitieren, was er zu der Debatte über die Strategie in Afghanistan ausgeführt hat: Für mich jedenfalls beweist diese Diskussion, dass wir unseren Anspruch, die Lehren aus den sicherheitspolitischen Entwicklungen der letzten Jahre gezogen zu haben, noch nicht wirklich eingelöst haben. Er identifiziert dann insgesamt vier Bereiche, deren Beachtung er für notwendig hält, um das Konzept der vernetzten Sicherheit herzustellen: Erstens. Das Überleben eines Staates kann heute von Entwicklungen abhängen, die sich gänzlich innerhalb der Grenzen eines anderen Staates abspielen. - Deswegen ist die Frage, einfach aus Afghanistan zu verschwinden, für uns natürlich keine Alternative. - Zweitens. Terrorismus des 21. Jahrhunderts hat keine Armee und kein Aufmarschgebiet. Drittens. Die überkommenen Vorstellungen von Abschreckung sind hinfällig geworden, weil Staaten ein anderes Interesse haben als staatenlose Terroristen oder Gruppen in zerfallenden Staaten. Viertens. Die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen hat einen neuen, sehr bedauerlichen Grad erreicht. ({3}) Daraus zieht er die Konsequenz - ich zitiere -: Wir müssen sicherstellen, dass die militärische Transformation unserem breiter gefassten Verständnis von Sicherheit entspricht … von Peacekeeping bis zum Kampfeinsatz … Nun kann man darüber reden, wie schnell so etwas umgesetzt wird und inwieweit das alle Partner teilen. Nur, eines ist auch klar: Vor 15 oder 10 Jahren hätte ein NATO-Generalsekretär wahrscheinlich nicht in dieser Art und Weise gesprochen. Das ist sicherlich zum großen Teil auch ein Erfolg der Debatte und des Handelns in Deutschland. Nichtsdestoweniger finde ich, dass der Antrag der Grünen wichtige und richtige Punkte benennt. Das ist sicherlich zum einen die Frage des Aufbaus ziviler und militärischer Strukturen in Afghanistan. Hier haben wir noch einiges zu tun, sowohl mit Blick auf die Armee als auch mit Blick auf die Polizei. Wenn man sich auf der einen Seite das - rein personell gesehen - Engagement der EU zum Beispiel im Kosovo und auf der anderen Seite das Engagement beim Aufbau der Polizei in Afghanistan anschaut und einmal die Größe dieser Länder und die Bevölkerungszahlen miteinander vergleicht, dann erkennt man, dass wir hier alle gemeinsam noch einiges zu tun haben. ({4}) Richtig in dem Antrag ist auch, dass wir die Nachbarländer mehr in den Blick nehmen müssen. Bei Pakistan ist das relativ klar, wobei Pakistan auch der schwierigste Fall ist. Seien wir einmal ehrlich: Eine wirklich vernünftige Lösung gibt es noch auf keiner Seite; denn Pakistan selber befindet sich in einer extrem schwierigen politischen Situation. Hinzu kommt, dass der Staat in den Tribal Areas an den Grenzen keine wirkliche Durchgriffsmacht hat, zumindest soweit wir das bis jetzt beobachten können. Es gilt sicherlich für den Iran, aber auch für die zentralasiatischen Staaten, für Turkmenistan und Usbekistan, im Zusammenhang mit der Frage von Drogentransportwegen und des grenzüberschreitenden Kampfes gegen den Terrorismus. Es gilt auch für Indien. Wenn wir über Pakistan und Afghanistan reden, dann müssen wir auch darüber reden, wie wir Indien an diesem Prozess beteiligen können. Dass dafür in Deutschland durchaus Verständnis herrscht, zeigt die deutsche G-8Initiative zum afghanisch-pakistanischen Dialog an dieser Stelle. Insofern glaube ich, dass wir beides zu tun haben: Auf der einen Seite müssen wir die Konsequenz der Politik der vernetzten Sicherheit einfordern, die alle Partner anerkennen müssen, und auf der anderen Seite muss das, was erreicht worden ist, stabilisiert werden, und die Engpässe, die es eben gibt, müssen beseitigt werden. Das ist nicht allein eine Frage des Geldes. Vielmehr lautet die Frage: Wie können wir die Strukturen in Afghanistan so gestalten, dass das Land tatsächlich in der Lage ist, das, was wir ihm an Hilfsmitteln - sei es in Form von Geld oder in anderer Form - bieten können, vor Ort umzusetzen? Eine letzte Bemerkung möchte ich zur Frage der Mandate machen. Alle diejenigen, die sich mit den beiden Mandaten beschäftigen, wissen, dass es nicht ganz einfach ist, OEF und ISAF miteinander zu verbinden. Denn an OEF hängt noch die Operation Active Endeavour. Außerdem ist das Mandatsgebiet von OEF wesentlich größer als „nur“ die Fläche von Afghanistan. Allein das bereitet schon gewisse Schwierigkeiten. Darüber hinaus bin ich auch nicht der Meinung, dass eine Zusammenlegung der Mandate eine unabdingbare Voraussetzung für bessere Verhältnisse und für eine Politik der vernetzten Sicherheit ist. Es hat schon Gebiete und Länder gegeben, in denen Truppen mit unterschiedlichen Mandaten wirkungsvoll zusammengearbeitet haHolger Haibach ben. Es ist durchaus möglich, auf diese Weise erfolgreich zu arbeiten. ({5}) Ich denke, der uns heute vorliegende Antrag bietet viele bedenkenswerte Ansätze und Punkte, über die wir in den Beratungen reden müssen. Aber wir sollten immer im Blick haben, dass wir nicht alleine auf der Welt sind. Wir können Vorschläge machen, aber zum Schluss wird in der NATO kollegial entschieden. Bei allem, was in Afghanistan bedauerlicherweise nicht so funktioniert, wie wir es gerne hätten, dürfen wir nicht vergessen, dass wir auch einiges erreicht haben. Herzlichen Dank. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Hellmut Königshaus von der FDP-Fraktion.

Hellmut Königshaus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003709, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Grünen haben recht: Wir brauchen einen Kurswechsel, genauer gesagt: Die Grünen brauchen einen Kurswechsel. Herr Trittin ist offenbar - das zeigt sein Beitrag - schon auf diesem Weg. Nur hat seine Auffassung leider relativ wenig mit dem Antrag zu tun. Wahrscheinlich hat Herr Trittin das Herumgeeiere und das Vorbringen von Scheinargumenten, wie zuletzt auf der Bundesdelegiertenversammlung seiner Partei geschehen, satt. Sein wohltuender Redebeitrag vorhin war fast schon staatstragend. Es wäre schön, wenn dies die gemeinsame Linie aller Grünen wäre. Aber der vorliegende Antrag setzt noch die alte, die unklare Linie fort: von allem etwas und immer ein bisschen das Gegenteil davon; einerseits ein bisschen Nachtwei, andererseits ein bisschen Zion und irgendwo dazwischen Herr Trittin. ({0}) Beispiel: Die NATO und damit auch die Bundeswehr sollen die Ausbildung der afghanischen Armee übernehmen. So steht es im Antrag. Aber es ist kein Wort darüber enthalten, dass dies notwendigerweise mit einer Aufstockung sowohl beim Personal als auch beim Material verbunden ist. Was heißt dies überhaupt konkret? Soll die Bundeswehr auch im Süden, vielleicht auch noch im Osten und im Westen ausbilden? In dem Antrag findet sich dazu kein Wort. Oder sollen das wieder nur die anderen machen? Wir Deutschen machen immer Vorschläge, und die anderen sollen sie dann umsetzen. Das wird auf Dauer nicht auf Begeisterung stoßen und auch nicht umsetzbar sein. ({1}) Es gibt hinreichend Grund, umzusteuern. Ich freue mich - wir haben das eben im Beitrag des Kollegen Haibach gehört; Detlef Dzembritzki wird es wahrscheinlich ebenfalls erwähnen -, dass es in der Koalition die Erkenntnis gibt, dass wir etwas verändern und den Tatsachen ins Auge sehen müssen. Es gibt eben eine sich unbestreitbar verschärfende Krise in Afghanistan, die ein „Weiter so“ verbietet. Die breite Masse der Menschen in Afghanistan - auch das wurde schon vorhin deutlich - spürt einfach keine Verbesserung ihrer Situation. Der Wiederaufbau kommt nicht voran; die Wirtschaft entwickelt sich nicht - und wenn, dann nur im Bereich der Drogenproduktion und des Drogenexports. Überall greift die Korruption um sich und zerstört jede nachhaltige Entwicklung. Der Zentralregierung gelingt es überhaupt nicht, ihren Einfluss auf die Provinzen und damit auf das ganze Land auszudehnen. Deutschland und die internationale Gemeinschaft dürfen deshalb das afghanische Volk in dieser kritischen Phase nicht im Stich lassen. Die Entwicklungs- und Sicherheitsstrategie müssen so angepasst werden, dass die Menschen eine schnelle und spürbare Verbesserung ihrer Situation empfinden. Der NATO-Gipfel bietet eine gute Gelegenheit, den NATO-Partnern und ihren Parlamenten und Regierungen, aber auch uns selbst ins Gedächtnis zu rufen, wie wichtig ein stärkeres Engagement in Afghanistan ist. Wir dürfen uns in Afghanistan kein Scheitern leisten. Das gilt sowohl für die militärische als auch für die zivile Seite, den zivilen Aufbau. Viel zu wenig ist geschehen, um die Friedensdividende spürbar zu machen. Auch wir Deutschen müssen uns vorwerfen, dass unsere Beiträge auf dem zivilen Sektor viel zu gering sind. ({2}) Wenn wir die deutschen Beiträge mit den Leistungen der USA oder Kanadas vergleichen, dann müssen wir feststellen, dass sie viel zu gering sind. Aber wir hören ja auch immer wieder die Argumentation, dass wir militärisch nicht mehr tun müssten, weil wir ja schon diesen Beitrag zum zivilen Aufbau leisten. Viel zu gering ist unser Beitrag auch im Vergleich zu dem, den wir in anderen Ländern leisten, in denen wir aktiv sind, die für uns aber keine so strategische Bedeutung haben und die nicht so fragil sind wie Afghanistan. Warum bekommt beispielsweise China immer noch so viel Hilfe? Nach der ODA-Quote bekommt China 187 Millionen Euro; für Afghanistan sind 125 Millionen Euro - wenn das denn so ist; im Haushaltsplan ist jedenfalls nichts davon zu finden - vorgesehen. ({3}) Ausgewogenheit und Schwerpunktsetzung sind dabei nicht zu erkennen. Der zivile Aufbau ist auch der Schlüssel zur Drogenbekämpfung. Wir haben eben gehört, welche wichtige Rolle dieses Thema spielt. Die Menschen brauchen alternative Einkommensmöglichkeiten, anders geht es nicht voran. Noch sind die Menschen, die in großer Masse auf dem Land leben, auf die Drogenproduktion angewiesen. Wir müssen ihnen helfen. Bei den Aufgaben, die wir im Bereich der Polizeiausbildung und im Übrigen auch im Bereich der militärischen und sonstigen Sicherheit übernommen haben, haben wir versagt. Darauf ist schon mehrfach hingewiesen worden, ich will das nicht weiter vertiefen. Weshalb ist der NATO-Gipfel so wichtig? Die NATO ist ja nicht nur ein militärisches, sondern auch ein politisches Bündnis. Die NATO ist der richtige Ort, um diese Themen anzusprechen. Gott sei Dank werden sie ja auch angesprochen. Wir sollten dort insbesondere auch über eine bessere Verzahnung von OEF und ISAF sprechen. Wir sollten aber nicht den Eindruck erwecken, als gebe es eine gute und eine schlechte Mission und als ob Sie, die Grünen, gegen die schlechte Mission kämpften und der ganze Rest der Welt auf dem Weg des Bösen sei. Nein, beides gehört zusammen: Ohne Bekämpfung des Terrors, ohne eine Sicherung durch OEF-Mission geht es nicht. Und wenn die OEF es nicht macht, dann müsste es die ISAF tun. Aber das wollen Sie ja auch nicht. Deshalb: Kommen Sie endlich zu einer klaren Aussage darüber, was Sie wirklich wollen. Dieser Antrag zeigt es uns nicht. Er soll nichts anderes bezwecken, als die nach wie vor bestehende Unklarheit bei der Ausrichtung innerhalb der grünen Partei zu verkleistern. Dafür ist dieses Thema weiß Gott zu ernst. Danke schön. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Detlef Dzembritzki von der SPD-Fraktion. ({0})

Detlef Dzembritzki (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003109, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Gegensatz zu Herrn Königshaus möchte ich mich zunächst einmal zumindest bei einem Teil der Opposition - nämlich der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen - bedanken. Denn in dem von Ihnen vorgelegten Antrag sprechen Sie durchaus Aspekte an, die in die richtige Richtung weisen. Mein Bemühen - lieber Kollege Königshaus, wir kennen uns schon lange; und Sie wissen, dass ich Sie schätze - ist eigentlich immer gewesen, hier im Haus eine möglichst große Schnittmenge von Gemeinsamkeiten herzustellen. Gerade in der Afghanistan-Debatte sollten wir den Versuch unternehmen, das beizubehalten. Aus unserer Sicht verfolgen Sie in Ihrem Antrag wichtige Punkte, die auch wir verfolgen. Es ist gut, wenn wir das gemeinsam feststellen und weiter an diesem Thema arbeiten. Das schließt natürlich nicht aus, dass in einigen Punkten Differenzen und Diskussionsbedarf bestehen. Sie fordern von der Bundesregierung, sich auf dem NATO-Gipfel in Bukarest für einen Kurswechsel einzusetzen. Sie werden nicht überrascht sein, dass wir durchaus meinen, dass sich die Bundesregierung in diesem Bereich schon eingebracht hat. Beispielsweise ist das, was auf dem NATO-Gipfel in Riga passiert ist, auch auf den Einsatz der Bundesregierung zurückzuführen. Bei dem Werben für einen zivil-militärischen Ansatz, der auch in Bukarest eine Rolle spielen wird, sind wichtige Impulse von deutscher Seite ausgegangen. Ich will damit nicht sagen, dass das unsere Erfindung ist, aber wir waren wesentlich daran beteiligt. Interessant und - wenn Sie so wollen - erfreulich ist auch: Wenn man zum Beispiel im NATO-Hauptquartier in Brüssel Diskussionen mit den Militärs und den zivilen Spitzen führt, dann hört man überall: Wir brauchen den gemeinsamen Ansatz, den Comprehensive Approach. Das ist geradezu ein sehnlicher Wunsch, der von der Politik auch erfüllt werden muss. In diesem Bereich muss in Bukarest einiges passieren. Das will ich deutlich unterstreichen. Herr Kollege Trittin, Sie sind anlässlich des Gipfels in Bukarest eingangs auf das Thema NATO-Erweiterung eingegangen. Mir ist dabei die Kommandeurstagung durch den Kopf gegangen, an der ich teilgenommen habe und auf dem sich die Bundeskanzlerin und der NATO-Generalsekretär zu dieser Frage und auch zu Afghanistan geäußert haben. Das Interessante war: Als ich am nächsten Tag die Zeitung las, habe ich mich gefragt, bei welcher Veranstaltung ich gewesen bin, weil ich die Auftritte des Generalsekretärs und der Kanzlerin als einvernehmlicher wahrgenommen hatte, als das nach außen transportiert wurde. Deswegen sollten wir auf dieser Konferenz in Bukarest mit einem gewissen Selbstbewusstsein auftreten, um dort unseren Ansatz zu vertreten. Dabei müssen wir unseren Anteil, den wir in Afghanistan leisten, immer im Hinterkopf haben. Wir wissen, dass der militärische Teil notwendig ist, um, wenn man so will, Zeit zu erkaufen, um den zivilen Aufbau zu ermöglichen. Wir wissen aber auch, dass der zivile Aufbau den entscheidenden Anteil unserer Arbeit in Afghanistan haben muss. Dabei darf man aber auch nicht übersehen - manchmal ist das offensichtlich der Fall -, dass das, was militärisch im Norden geleistet wird, nicht ohne Risiko ist und dass auch unsere Soldatinnen und Soldaten im Zweifel zu Handlungen herausgefordert sind, die man durchaus als Kampfhandlungen bezeichnen kann. Hier so zu tun, als ob sie dort technische Hilfe zu leisten hätten, wäre absurd und würde der Öffentlichkeit Sand in die Augen streuen, wenn es darum ginge, zu beschreiben, was in Afghanistan zu leisten wäre. Interessant ist aber auch etwas anderes. Ich bitte Sie, davon Kenntnis zu nehmen. Herr Königshaus, Sie sagen pauschal, bei den Menschen in Afghanistan sei nichts angekommen. Das sollten wir ein Stückchen differenzierter sehen. In diesem Zusammenhang - das habe ich hier schon gesagt - gibt es drei interessante Untersuchungen in dieser Sache. ({0}) - Dann ist es ja gut. Ich will hier aber von dieser Stelle trotzdem sagen, dass 70 Prozent der Menschen in Afghanistan den internationalen Einsatz im zivilen wie im militärischen Bereich für sich persönlich als wichtig und wertvoll ansehen und dass sie ihre Lebenssituation, verDetlef Dzembritzki glichen mit 2001, als deutlich verbessert betrachten. Auch das muss einmal in die Köpfe transportiert werden. ({1}) Diese Diskussion über Afghanistan führen wir sehr häufig. Ich kann inzwischen schon nicht mehr zählen, wie oft ich hier schon über Afghanistan gesprochen habe. ({2}) Aber wenn die Kolleginnen und Kollegen zum fünften Mal das gleiche Beispiel vortragen, dann ist nicht fünfmal etwas Schlechtes oder Gutes geschehen, sondern wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass dort ein Prozess abläuft und wir an diesem Prozess im Guten - hoffentlich weniger im Bösen - beteiligt sind und dabei durchaus Erfolge zu verzeichnen haben. Sie haben - das ist für mich nicht überraschend, da wir diese Frage häufig diskutieren - OEF und ISAF angesprochen. Man sollte sich davor hüten, OEF mit dem Etikett „böse“ und ISAF mit dem Etikett „gut“ zu versehen. Schauen Sie sich zum Beispiel an, dass OEF wesentlicher Träger der Ausbildung der afghanischen Armee ist. Diese Aufgabe wollen sie jetzt an ISAF und die NATO übertragen. Ich weiß gar nicht, ob dafür die Kapazitäten vorhanden sind. Hier ist mit Sicherheit Diskussionsbedarf und ein Abwägungsprozess notwendig, wie wir eigentlich die Herausforderungen, die nach wie vor im Süden bestehen, meistern wollen, welche Instrumente wir dafür zur Verfügung haben und wie andererseits der wichtige Bereich der Ausbildung unterstützt werden soll. Das, was ich als absolut notwendig ansehe, ist, dass von der Konferenz in Bukarest vonseiten der NATO ein Signal in Richtung der Europäischen Union, aber noch mehr in Richtung der Vereinten Nationen dahin gehend ausgeht, wie die Zusammenarbeit verbessert und untereinander abgestimmt werden kann, um zum Beispiel die Ziele und Vorgaben des Afghanistan Compacts zu erreichen, der nach wie vor die wichtigste Roadmap, die wichtigste Vorgabe für die Entwicklung in Afghanistan ist. Wichtig ist auch, dass wir die Konferenzen in Bukarest und Paris über Afghanistan miteinander verbinden können, sodass die NATO in der Bilanzierung deutlich machen kann, welche Dinge sich in ihrer Verantwortung nicht entwickelt haben. Andererseits muss gezeigt werden, wie Europäische Union und Vereinte Nationen in ihrer zivilen Leitungsfunktion unterstützt werden können, um diese Aufgaben zu erfüllen. Ich will an dieser Stelle ansprechen, dass die Bereitstellung von Polizei und das Funktionieren der Justiz wesentliche Voraussetzungen dafür sind, dass innere Sicherheit entstehen kann. Aus einem Bericht im Auswärtigen Ausschuss - wir alle haben ihn bekommen - geht zwar hervor, dass 55 000 Polizisten zur Verfügung stehen. Ich unterstelle einmal, dass diese Zahl zutreffend ist. Es fehlen dann aber immer noch 30 000. Man muss sich also darüber Gedanken machen, wie man die Ausbildung forciert. Dazu sage ich: Wenn notwendig, müssen wir im Parlament bereit sein, die Entscheidung zu treffen, dass die Regierung mehr Geld zur Verfügung hat, um diese Aufgabe zu übernehmen. Das ist dann eine temporäre Herausforderung, die man mit entsprechenden Haushaltsmitteln angehen muss. Wir können uns auf keinen Fall bei den Amerikanern darüber beklagen, dass sie etwas tun und wie sie etwas tun, wenn wir von unserer und europäischer Seite aus nicht in der Lage sind, uns mit dem gleichen materiellen und personellen Einsatz einzubringen. So gesehen, können wir eine Partnerschaft auf gleicher Augenhöhe in Bukarest wie in Paris nur dann erreichen, wenn wir uns den Verpflichtungen stellen und nicht kleinliche Diskussionen darüber führen, wie auf Parteitagen bestimmte Dinge abgelaufen sind. Wir Parlamentarier müssen vielmehr die Gesamtverantwortung übernehmen, indem wir einerseits unsere Regierung so ausstatten, dass sie handeln kann, und sie andererseits zu einem kritischen Dialog auffordern und ihr sagen: In Bukarest ist die NATO im Hinblick auf Afghanistan zu einem Erfolg verpflichtet. Vielen Dank. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat der Kollege Wolfgang Gehrcke von der Fraktion Die Linke. ({0})

Wolfgang Gehrcke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003130, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich hatte Ihnen ja beim letzten Mal prophezeit, dass wir Sitzungswoche für Sitzungswoche über Afghanistan diskutieren werden. Ich habe gar nicht gedacht, dass sich das so schnell erfüllt. ({0}) Es wird so sein, dass uns dieses Thema noch lange sehr kontrovers beschäftigen wird. Die NATO will auf ihrem Gipfel in Bukarest einen umfassenden, strategischen, politisch-militärischen Plan für Afghanistan beschließen. Nur, das Interessante daran ist: Sie will diesen Plan nicht veröffentlichen, weil er geheim ist. Man will also etwas beschließen, will es aber nicht öffentlich machen, weil es geheim ist. Wenn das ein neues strategisches Konzept ist, dann muss ich mich doch sehr wundern. ({1}) Als Erstes sollte der Deutsche Bundestag souverän sagen: Wir wollen, dass dieser umfassende militärischstrategische Plan auf den Tisch kommt und öffentlich wird, damit man darüber reden kann. ({2}) Was ist denn das für eine Politik, etwas zu beschließen und es nicht öffentlich zu machen? Zumindest das können wir von der Regierung fordern. Die NATO wird in Bukarest weiter Druck nach mehr Militär und neuem Kriegsgerät machen, weil sie die stärkste kriegführende Partei ist. Das liegt bereits auf dem Tisch; die Forderungen sind bekannt. Auf dem Gipfel in Bukarest wird es im Prinzip auch ein Ja zur Stationierung eines Raketenabwehrsystems in Polen und Tschechien geben. Zudem wird es eine Öffnung zur Aufnahme von Georgien und der Ukraine in die NATO geben. Auch das ist mittlerweile bekannt. Man wird diesen Schritt noch nicht vollziehen, aber die Tür aufmachen. Ich erwarte aber kein neues strategisches Konzept, das auch in der Frage Afghanistan einen tatsächlichen Wandel mit sich bringt. Ich will ganz deutlich sagen - hier haben wir Linken eine Grunddifferenz zu dem Vorschlag der Grünen -: Ein strategisches Konzept kann dann nicht neu sein, wenn es nicht die Bereitschaft zum Truppenabbau, zum Truppenabzug vorsieht. ({3}) Dazu gibt es ja überhaupt keine Überlegungen. Wenn dies nicht geschieht, dann gibt es kein neues strategisches Konzept. Man kann zwar einzelne Punkte benennen; aber zu einem neuen Konzept kommt man nicht. Man wäre blind, wenn man nicht erkennen würde, dass die Meinungsverschiedenheiten innerhalb der NATO zunehmen, dass auch die mit der Bundesregierung geführte Debatte intensiver wird. Ich finde es schon interessant, dass sich die Kollegen dazu bislang nicht geäußert haben. Einmal klar gesagt: Ich fand den Auftritt des NATO-Generalsekretärs auf der Kommandeurstagung hier in Berlin und die Art und Weise, wie mit unserem Land umgegangen worden ist, dreist. ({4}) Die Antwort des Verteidigungsministers Jung lautete - ich will ihn einmal wörtlich zitieren; damit das auch korrekt ist -, Auslandseinsätze würden voraussichtlich das Aufgabenspektrum der Bundeswehr in Zukunft in noch stärkerem Maße bestimmen. Was heißt denn das? Er hat die Tür für weitere Auslandseinsätze der Bundeswehr aufgemacht und nicht etwa zugemacht. Das ist die Botschaft. Ich habe ihn wörtlich zitiert. Jetzt steht die Bundesregierung unter Druck. Das verstehe ich auch. Sie weiß ganz genau, dass die Mehrheit der deutschen Bevölkerung mit ihrer Afghanistanpolitik nicht einverstanden ist. Sie spürt den Druck der USA und taktiert in dieser Situation. Diesem Druck muss sie ja Rechnung tragen. Ich will Ihnen einmal etwas vorhalten, was gestern im Handelsblatt zu lesen war: Und bei einer Umfrage in Deutschland forderten zwei Drittel der Befragten einen Rückzug aus Afghanistan noch in diesem Jahr. Die Nato hat den Rückhalt bei den Bürgern verloren. ({5}) Das schreibt das Handelsblatt; das sagen nicht wir. Das ist aber eine exakt richtige Einschätzung. Mit der Fortsetzung der jetzigen NATO-Politik werden Sie den Rückhalt bei den Bürgerinnen und Bürgern nicht zurückerobern. Das ist auch nicht unser Ziel, sondern wir wollen einen tatsächlichen Wandel in der Politik. ({6}) Da Ostern vor der Tür steht, nutze ich die Gelegenheit, alle Bürgerinnen und Bürger unseres Landes zu bitten, an den Ostermärschen der Friedensbewegung teilzunehmen. ({7}) Ich selber werde das sehr ausgedehnt machen. Ich würde mich freuen, wenn ich Kolleginnen und Kollegen dieses Hauses auf dem einen oder anderen Marsch treffen würde. ({8}) Dort können Sie sich mit der Meinung der Friedensbewegung, die einen Rückzug aus Afghanistan will, auseinandersetzen. Auch Abgeordnete können an Ostermärschen teilnehmen. Vielleicht trifft man ja auch mal wieder einen Grünen auf einem Ostermarsch; das wäre direkt ein Revival. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat der Kollege Gert Winkelmeier das Wort.

Gert Winkelmeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003864, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Stellvertretend auch für die heutige Mehrheit in diesem Hause hat am 5. Mai 2005 der damalige Bundeskanzler erklärt: Die NATO ist ein Teil deutscher Staatsräson geworden - und sie wird dies auch bleiben. Wenn das so sein sollte, muss dann nicht in einer zunehmend vernetzten Welt die Frage gestellt werden, wie Deutschland von Staaten gesehen und beurteilt wird, die diesem Bündnis, dem von niemandem ein Angriff droht, nicht angehören? Diese Staaten werden registrieren, dass Deutschland es hinnimmt, wenn die NATO-Führungsmacht die Foltermethode Waterboarding weiterhin bei Verhören anwendet, weil ihr Präsident selbst definiert, was Folter ist. Diese Staaten sehen, dass die ISAF in Afghanistan täglich zwischen 40 und 65 Einsätze von Jagdbombern zur Luftnahunterstützung fliegt, dabei stets unbeteiligte Personen ums Leben kommen und die Bundeswehr dafür die Luftbilder liefert. Sie werden sich fragen, ob auf diese Weise Nationbuilding befördert werden soll. Die Nicht-NATO-Staaten haben erlebt, wie 1999 Jugoslawien unter Zuhilfenahme gefälschter Beweise mit deutscher Beteiligung überfallen worden ist. Sie erleben heute, dass Deutschland den herausgebombten Teil unter Bruch der KSZE-Schlussakte, der Charta der Vereinten Nationen und seiner eigenen Verfassung als Staat anerkennt. Mit zunehmender Besorgnis blickt die Welt auf eine NATO, die sich entgegen ihren vertraglichen Grundlagen als Bündnis von Demokratien unverhohlen an die Stelle der UNO setzen will und sich schon jetzt deren Aufgaben anmaßt. Die Welt fragt, was Deutschland zu tun gedenkt, um dem Einhalt zu gebieten. Sie fragt, was es mit einer vorgeblichen Wertegemeinschaft auf sich hat, die sich im Zweifelsfall über Recht und Gesetz hinwegsetzt, weil sie glaubt, sich dies militärisch leisten zu können. Was ist das für eine Wertegemeinschaft, die ehemalige, hochrangige Generale über nukleare Präventivkriege gegen Nichtatomwaffenstaaten nachdenken lässt? Was ist von dem einstigen Verteidigungsbündnis nach Wegfall des potenziellen Gegners geblieben? Die zwanghafte Suche nach Feindbildern und Bedrohungen, um einen Militärapparat zur Durchsetzung westlicher ökonomischer Interessen zu rechtfertigen. Der Exportweltmeister Deutschland ist jedoch auf Vertrauen in der Welt angewiesen. Dies nicht zu verspielen, dazu ist die geografische und militärische Expansionsagenda des Gipfels in Bukarest wahrlich nicht geeignet. Anstatt über weitere Mitglieder, strategische Lufttransporte und die an jedem Ort der Welt einsetzbare schnelle Eingreiftruppe zu verhandeln, wäre die Bundesregierung gut beraten, sich auf die einstigen Stärken deutscher Außenpolitik zu besinnen. Für diese stehen Begriffe wie Abrüstung, Rüstungskontrolle, gegenseitige Sicherheit, strukturelle Nichtangriffsfähigkeit und gesamteuropäische Friedensordnung. Ich bezweifle aber, dass Sie den erforderlichen Mut aufbringen, gegen den Strom zu schwimmen. Vielen Dank. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/8501 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 27 auf: Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Ina Lenke, Gisela Piltz, Sibylle Laurischk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Auswertungen der Erfahrungen mit anonymer Geburt und Babyklappe - Drucksachen 16/5489, 16/7220 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Fraktion der FDP sechs Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Ina Lenke von der FDP-Fraktion das Wort.

Ina Lenke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003170, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die FDPBundestagsfraktion hat zu den Themen Babyklappe und anonyme Geburt eine Große Anfrage an die Bundesregierung gerichtet. Seit 1999 gibt es in der Bundesrepublik überall Babyklappen, insgesamt 76. Überall in Deutschland gibt es auch Krankenhäuser, in denen schwangeren Frauen, die anonym bleiben und ihren Namen nicht nennen wollen, eine Entbindung ermöglicht wird. Fakt ist, dass sich diese Frauen und das Krankenhauspersonal dabei nach deutschem Recht strafbar machen. Man darf das also nicht. Die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe, in der sich solche Ärzte zusammengefunden haben, erhebt meines Erachtens zu Recht an den Staat, also auch an uns, das Parlament, die Forderung, das medizinische Handeln der Ärzte in so einem Fall strafrechtlich nicht zu verfolgen. Denn das ist heute der Fall. ({0}) Für die Babyklappe und die wirklich seltenen Fälle der anonymen Geburt - in Deutschland sind es 40 bis 50 gibt es bisher keine rechtlichen Grundlagen. Das ist der Bundesregierung bekannt. Im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD wurde vereinbart, dass die Prüfung der rechtlichen Absicherung der anonymen Geburt noch in dieser Legislaturperiode vorgenommen werden soll. Mittlerweile hat schon die zweite Hälfte dieser Legislaturperiode begonnen. Die FDP-Bundestagsfraktion stellt fest, dass sich auf diesem Gebiet aber überhaupt nichts tut. ({1}) In der Antwort auf die Große Anfrage der FDP hat die Bundesregierung nun zum ersten Mal Fakten genannt. Es wird deutlich, dass sich schwangere Frauen in einer extremen Notlage befinden, und dies - das möchte ich betonen -, ohne den Rückhalt ihrer Familie oder ihres Partners zu haben; die sind nämlich nicht da. Denn aus welchem Grund sollte es zu anonymen Geburten kommen, wenn nicht deshalb, weil diese Frauen in einer extremen Notlage sind? Im Jahre 2002 - ich glaube, es ist ganz wichtig, dass ich das sage, weil einige von Ihnen damals noch nicht im Bundestag waren - hat der Deutsche Bundestag schon einmal eine Lösung dieses Problems gefunden. SPD, CDU, CSU und FDP haben damals fraktionsübergreifend den Entwurf eines Gesetzes zur Regelung der ano16044 nymen Geburt in den Bundestag eingebracht. Schon im Jahre 2002 waren wir also so weit. Wer im Bundestag arbeitet, der weiß, wie selten fraktionsübergreifende Vorlagen sind, wie selten also die Namen der Regierungsfraktionen und der Oppositionsfraktionen auf derselben Drucksache erscheinen, weil alle die gleiche Regelung wollen. Dennoch frage ich die Kolleginnen und Kollegen, die heute hier sind, weil sie dieses Thema interessiert: Warum sollte das in dieser Legislaturperiode nicht noch einmal möglich sein? ({2}) Die Antworten der Bundesregierung auf unsere Fragen sind natürlich unvollständig. Das liegt auch daran, dass diese Fragen zum ersten Mal zu beantworten waren. Einige Bundesländer, auch Nordrhein-Westfalen, konnten nur unvollständige Angaben machen. Dennoch zeigen die Antworten, dass die Hälfte der Schwangeren, die sich in Beratungsstellen anonym beraten ließen, ihre Anonymität nach der Geburt aufgeben und das Kind mit nach Hause nehmen. Diese Erfolge gilt es zu sehen. Ich komme zur Babyklappe. Auch die Mütter, die, statt ins Krankenhaus zu gehen, ihr Kind ohne Hilfe im Badezimmer oder wo auch immer geboren und es in eine Babyklappe gelegt haben, haben nach kurzer Zeit ihre Anonymität aufgegeben und die Beziehung zu ihrem Kind hergestellt. Auch das ist ein Erfolg der Babyklappe. Die Gegner von Babyklappe und anonymer Geburt verweisen darauf, dass deshalb nicht weniger Kinder getötet würden. Ich glaube, solche Vergleiche sollte man nicht bemühen. Wenn die Frauen die extreme Notlage der Geburt hinter sich haben und in einem geschützten Raum wie dem Krankenhaus betreut werden, sind sie offen für staatliche Hilfe. Sollten Mütter ihre Anonymität nicht aufgeben wollen - auch dieser Fall muss angesprochen werden -, bleibt das Kind zunächst im Krankenhaus, wird dann für acht Wochen in eine Pflegefamilie gegeben, bis das Adoptionsverfahren vom Jugendamt eingeleitet wird. Ich will deutlich sagen: Das Recht des Kindes auf Wissen um die eigene Abstammung gehört zu den Grundrechten. ({3}) Das gilt aber auch für das Recht auf Leben. Dem wiederum wird mit ärztlicher Hilfe am besten Rechnung getragen. ({4}) Erste Lösungsansätze sieht auch die Bundesregierung, schaut man sich ihre Antwort auf die Fragen 20 bis 24 an. Ich denke, an diesen Punkten muss gearbeitet werden. Ich komme zum Schluss. Fraktionsübergreifend sollten wir gemeinsam nach Lösungen suchen, die unserer Verfassung Rechnung tragen und gleichzeitig schwangeren Frauen in extremen Notlagen helfen sowie den Ärzten und Ärztinnen Rechtssicherheit geben. ({5}) Die positive Bilanz der Hilfsprojekte zeigt: Eine Begleitung der anonymen Geburt birgt die Chance, dass die Mutter in die Lage versetzt wird, staatliche Hilfsangebote in Anspruch zu nehmen. Damit kann man dem gesetzlichen Anspruch des Kindes auf Wissen um die eigene Herkunft besser gerecht werden. Vielen Dank. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Maria Eichhorn von der CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Maria Eichhorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000449, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich, dass noch einige Kolleginnen und Kollegen hier sind, um über dieses wichtige Thema zu diskutieren. Die Kollegin Lenke hat schon ausgeführt, dass sich bereits in der 14. und 15. Legislaturperiode Abgeordnete aus allen Fraktionen für eine Regelung der anonymen Geburt eingesetzt haben - leider ohne Erfolg. Im ersten Fall ist der Gesetzentwurf nicht zum Tragen gekommen, im zweiten Fall war die Legislaturperiode zu schnell zu Ende, als dass man zu einem Ergebnis hätte kommen können. Es war uns daher wichtig, in der Koalitionsvereinbarung festzuhalten, dass hier Handlungsbedarf besteht. In der Vergangenheit und auch heute hat sich die Diskussion auf zwei Kernprobleme zugespitzt: Erstens. Kann eine rechtliche Absicherung der anonymen Geburt tatsächlich Leben retten? Zweitens. Welche Bedeutung kommt dem Recht auf Wissen um die eigene Abstammung zu? Ich sage ganz klar: Das Recht auf Leben hat Vorrang vor dem Recht auf Wissen um die eigene Abstammung. ({0}) Um die offenen Fragen zu klären und bei dieser Thematik weiterzukommen, hat das Bayerische Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung eine Studie in Auftrag gegeben, deren Ergebnisse im Herbst letzten Jahres veröffentlicht wurden. Gegenstand ist das Moses-Projekt, das Frauen in Bayern die anonyme Geburt ermöglicht. Fazit dieser Studie ist: Die Bedeutung des Projekts wird hoch eingeschätzt. Das Fallaufkommen ist Gott sei Dank nicht hoch; das Projekt leistet aber Unterstützung in sehr prekären Lebenslagen. Es gibt keine klar definierte Zielgruppe. Von hoher Bedeutung ist die Beratung, da nahezu keine Frau einen Partner hat, der sie unterstützt. EntweMaria Eichhorn der wissen die Väter nichts von der Schwangerschaft, oder sie lehnen das Kind ab. Auch das soziale Umfeld ist keine Hilfe. Da eher harte Sanktionen zu erwarten sind, soll niemand von der Schwangerschaft erfahren. Viele der Frauen sind jung, haben keine Ausbildung und leben in schwierigen materiellen Verhältnissen. Sie sind oft überfordert, und manche sind suchtabhängig. Die materiellen Probleme wären behebbar. Aber die sozialen Sanktionen scheinen unüberwindbar. Die Frauen haben Angst vor Stigmatisierung, wenn sie ihr Kind offiziell zur Adoption freigeben würden. Es geht in der Regel um sehr tragische Lebenssituationen. Auf unsere Initiative hin hat Frau Bundesministerin von der Leyen zugesagt, eine Anschlussstudie in Auftrag zu geben. Diese ist zurzeit in Arbeit. Die Große Anfrage der FDP bringt neue Erkenntnisse; sie macht aber auch deutlich, dass es aufgrund der Anonymität bei vielen Fragen schwierig ist, Aussagen zu treffen. Denn die Anonymität steht im Vordergrund. Warum muss die anonyme Geburt gesetzlich geregelt werden? Die anonyme Geburt soll die psychosoziale und medizinische Begleitung der Mutter ermöglichen, um ein Kind besser vor Aussetzung oder Tötung während oder nach der Geburt zu schützen. Es geht um die Sicherstellung der medizinischen Versorgung von Mutter und Kind vor und während der Geburt auch in den Fällen, in denen Frauen glauben, ihre Schwangerschaft verheimlichen zu müssen, und zumindest zu diesem Zeitpunkt keine Möglichkeit für ein Leben mit dem Kind sehen. Davon strikt zu unterscheiden ist die Babyklappe, in denen Frauen ihr Kind unerkannt ablegen können. Dieses Angebot lässt schwangere Frauen vor und während der Geburt in medizinischer und sozialer Hinsicht allein. Heute erfolgen 30 Prozent aller Entbindungen durch Kaiserschnitt. Es ist nicht auszudenken, was passiert, wenn Frauen allein oder ohne medizinische Hilfe entbinden würden. Die damit verbundene Gefahr für Mutter und Kind ist groß. Nicht selten finden solche Geburten unter unwürdigen Bedingungen statt. Die geltende Rechtsordnung sieht eine anonyme Geburt nicht vor. Darauf hat Frau Lenke schon hingewiesen. Wer die begleitete anonyme Geburt im Interesse des vorrangigen Lebensschutzes praktiziert, begibt sich derzeit in eine rechtlich schwierige Lage. Er agiert am Rande der Legalität und kann jederzeit von Strafverfolgung betroffen sein. Was schwangere Frauen dazu drängt, anonym zu gebären, entspricht im Grunde dem Schwangerschaftskonflikt nach § 219 StGB. Dieser wird aber häufig erst nach Ablauf der Zwölfwochenfrist festgestellt, entweder weil die Schwangerschaft verdrängt wird oder die Schwangere keine Möglichkeit sieht, vor der zwölften Woche eine Beratungsstelle aufzusuchen. Manche sehen die Gefahr, dass die anonyme Geburt sozusagen als Billigangebot genutzt wird, man sich also aus missbilligenswerten Gründen den Pflichten für das Kind entzieht. In den bisherigen Fällen befanden sich die Schwangeren überwiegend in extremen Lebenssituationen. Im Übrigen bekennen sich zum Beispiel beim Moses-Projekt 80 Prozent der Frauen nach der Geburt zu ihrem Kind. Das ist sicherlich auf die intensive Beratung und Begleitung durch die Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen zurückzuführen, denen es in der Regel gelingt, ein Vertrauensverhältnis aufzubauen und die Eigenkräfte und das Selbstbewusstsein der betroffenen Frau so weit zu stärken, dass sie sich zu ihrem Kind bekennen kann. Die Panik, die vor der Geburt herrschte, stellt sich anders dar, wenn das Kind da ist. Das Moses-Projekt in Bayern zeigt, dass die Möglichkeit zum anonymen Gebären wirklich eine Hilfe sein kann. Zur Beschränkung auf Extremfälle trägt sicherlich auch der von der Beraterin unterzeichnete Schutzbrief bei, den die schwangere Frau - im Fall Bayern von Donum Vitae - erhält. Darin bestätigt die Beraterin, dass es sich tatsächlich um eine besondere, extreme Notsituation handelt. Es wird oft behauptet, das Angebot einer anonymen Geburt erreiche die Frauen in ihrer psychischen und panikartigen Ausnahmesituation nicht. Die begleitete anonyme Geburt, bei der die Frau bereits vor der Entbindung nicht alleine gelassen wird, will Panik erst gar nicht entstehen lassen. Hierin besteht der Unterschied zur Babyklappe, in die die Mutter das Kind erst nach der Geburt legt. Viele Gegner unterscheiden nicht zwischen diesen beiden Möglichkeiten. Das Problem des beeinträchtigten Rechts auf Herkunftskenntnis, das Verfassungsrang hat, versucht Donum Vitae mit dem Moses-Projekt dadurch zu lösen, dass die Beraterin der Mutter in den Gesprächen vor und nach der Entbindung nahelegt, ihren Namen für das Kind und Angaben über weitere Umstände im sicheren Tresor der Beratungsstelle zu hinterlassen. Das Recht auf Herkunftskenntnis muss im Übrigen gegenüber dem Ziel des Lebensschutzes abgewogen werden. Der Europäische Gerichtshof hat im Jahre 2003 ein ganz klares Urteil zugunsten des Lebensschutzes gefällt. Das muss für uns maßgebend sein. ({1}) Eine Änderung von Gesetzesbestimmungen sollte mehr Klarheit schaffen und das Risiko der Strafverfolgung der mit der begleiteten anonymen Geburt befassten Personen verringern. Dabei sind bisherige, beispielsweise mit dem Moses-Projekt gemachte Erfahrungen durchaus hilfreich. Wie geht es weiter? Die Erkenntnis aus der Großen Anfrage und die Machbarkeitsstudie bestätigen den Auftrag der Koalitionsvereinbarung. Wir müssen die rechtlichen Grauzonen endlich beseitigen und alle Anstrengungen unternehmen, damit der Auftrag der Koalitionsvereinbarung noch in dieser Legislaturperiode erfüllt werden kann. Das liegt nicht nur im Interesse der Mütter, die sich in extremen Lebenssituationen befinden, sondern dient auch dem Lebensschutz. Der Schutz des menschlichen Lebens, insbesondere der Schutz ungebo16046 rener und geborener Kinder, hat für uns höchste Priorität. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Dr. Barbara Höll von der Fraktion Die Linke. ({0})

Dr. Barbara Höll (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000921, Fraktion: DIE LINKE. (DIE LINKE.)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mein Dank richtet sich an die FDP für die Große Anfrage, die wirklich umfassend ist. Ich danke aber auch der Bundesregierung - das trifft bei der Beantwortung von Anfragen ja nicht immer zu - für die überraschend offenen Antworten. Frau Eichhorn, die Antworten machen aber deutlich, dass Sie zu kurz greifen - und das ist ein Problem -, wenn Sie als einzige Begründung für Ihr Vorhaben anführen, Lebensrecht gehe vor Abstammungsrecht. Die Tatsache, dass wir in Deutschland konstant etwa 25 Babytötungen pro Jahr haben - das hat sich leider in den letzten sieben Jahren nicht verändert -, und alle weiteren Ausführungen zeigen klar, dass die Fragen nicht beantwortet werden können, ob bei Umsetzung Ihres Vorhabens tatsächlich Kindstötungen verhindert werden, welche neuen Probleme auftreten und welche Wirkung das auf das Verhältnis zwischen Müttern und Kindern hat. Ich denke, die vorliegenden Antworten ermöglichen uns eine sachliche und unaufgeregte Diskussion. Aber diese muss ehrlich geführt werden. Ein Hauptproblem besteht darin: Es handelt sich um Ausnahmehandlungen. Frauen befinden sich in einer Situation, in der sie von anderen Angeboten nicht erreicht werden. Es stellen sich also die Fragen: Müssen wir nicht verstärkt über andere, vorgeschaltete Angebote diskutieren? Geht es wirklich nur um eine anonyme Geburt? Oder führt eine anonyme Geburt nicht zu einer Anonymisierung des Verhältnisses zwischen Mutter und Kind? Wenn es so sein sollte: Will man das tatsächlich legalisieren? Man sollte also wesentlich intensiver schauen, wie man Möglichkeiten zu einer geheimen Geburt schafft. Das Recht des Kindes auf Abstammung ist ein wesentliches Recht, und man kann es gerade in diesem Problemkreis nicht gegen etwas anderes ausspielen oder abwägen. ({0}) Ich halte die anonymisierende Geburt tatsächlich für ein Problem. Die nur sehr lückenhaft vorhandenen Ergebnisse stellen klar, dass es den Frauen zum großen Teil eigentlich nicht um ihre eigene Anonymität geht, sondern um Anonymität in ihrem Umfeld. Das ist in der Antwort auf Frage 2 klar ausgeführt: In der Regel geht es den betroffenen Frauen nicht um Anonymität, sondern um Vertraulichkeit im Umgang mit ihrer besonderen Situation. Das ist der entscheidende Punkt. In diesem Zusammenhang muss man sich natürlich auch um andere Aspekte kümmern, die mir sowohl in den Fragen und somit auch in den Antworten viel zu kurz kommen, nämlich: Warum sprechen wir hier immer nur über die Frauen? Muss man an dieser Stelle nicht noch einmal das Geschlechterverhältnis wesentlich stärker thematisieren? Warum kommen Frauen in eine solche Situation? Wie kann es sein, dass sie eine Schwangerschaft als Schande verstehen, dass ihr Recht auf körperliche Unversehrtheit für sie aufgrund ihrer konkreten Lebenssituation infrage gestellt ist? Wir als Linke fordern hierzu eine wirklich sachliche, unaufgeregte Diskussion. Dabei muss man weitergehen; diese kann man nicht auf Babyklappe und anonymisierende Geburt beschränken. Vielmehr müssen wir überlegen, wie wir flächendeckende, zielgerichtete Unterstützungsangebote zur Prävention von Notsituationen schaffen können. Es war doch zu erkennen, dass diese Möglichkeiten gerade Frauen nutzen, die keinen gesicherten Aufenthaltsstatus haben. Es geht also auch darum, wie man sie erreichen kann. Es bedarf auch besserer Informationen zur legalen Adoption und zu Möglichkeiten der Pflege sowie einer höheren gesellschaftlichen Akzeptanz von Adoptionen. Es geht um die Frage der Stärkung der reproduktiven Rechte. Sozial benachteiligte Frauen haben keinen ungehinderten Zugang zu kostenfreien Verhütungsmitteln. Auch das ist ein Problem, über das man in diesem Zusammenhang reden muss. Schließlich halte ich es für sehr kritisch, wenn Werbekampagnen für Babyklappen durchgeführt werden, aber gleichzeitig weniger Geld für Aufklärungsangebote über legale Hilfsangebote bereitgestellt wird. In diesem Sinne meine ich, dies ist ein großes Feld von Anforderungen, die wir aber gemeinsam erfolgreich bewältigen können; dies wird auch die weitere Debatte ergeben. Ich danke Ihnen. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Helga Lopez von der SPDFraktion. ({0})

Helga Lopez (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003803, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Eichhorn, das Thema ist nicht nur ein wichtiges Thema; ich halte es insbesondere für ein äußerst schwieriges Thema. ({0}) Im Koalitionsvertrag ist es mit einem Satz erwähnt. Ich habe die schriftliche Fassung jetzt leider nicht hier, habe sie aber eben noch einmal angeschaut. Sie lautet in etwa so, dass eine gesetzliche Regelung erfolgen soll, wenn sie denn nötig ist. Darauf, ob sie nötig ist, gehe ich jetzt gleich ein; ich bin der festen Überzeugung, sie ist es nicht. ({1}) - Eine Zwischenfrage.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön, Frau Kollegin Lenke.

Ina Lenke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003170, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Lopez, ich habe den Text jetzt hier; Sie haben das richtig zitiert. Aber hier wurde auch geschrieben, „Erfahrungen mit der Anonymen Geburt sollen ausgewertet“ werden. Das ist ja das, was gefehlt hat. Ich hoffe nicht, dass dahinter ein entsprechender politischer Wille steckt. Sehen Sie das genauso?

Helga Lopez (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003803, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, das sehe ich nicht so. Außerdem müssen Sie da das Haus fragen. Sie können mit Sicherheit davon ausgehen, dass der politische Wille unserer Fraktion dazu eben nicht fehlt. Wir sind auch froh und dankbar, dass angekündigt worden ist, es werde ein weiteres Papier geben, mit dem mehr Klarheit geschaffen wird; denn auch wir wollen Verbesserungen bewirken. Es ist immer nur die Frage, was der probate Weg ist, um Müttern und ebenso - das sage ich hier ganz bewusst - Kindern zu helfen. ({0}) Ich bin hier doch etwas berührt, wie wenig bisher die Rede davon war, wie es den Kindern geht, denen durch anonyme Geburt oder Ablage in der Babyklappe ihr verfassungsmäßig garantiertes Recht verwehrt wird. ({1}) - Nein, sie sollen nicht lieber sterben. Ich denke, ich erläutere Ihnen jetzt einmal, wie ich die Angelegenheit sachlich und rechtlich sehe. Wir alle wissen und begrüßen ausdrücklich, dass Straftaten bzw. Ordnungswidrigkeiten im Zusammenhang mit der anonymen Geburt nicht strafverfolgt werden. Es gibt die sogenannten Neusser Fälle; da hat die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen eingestellt. Ich sage Ihnen noch einmal ganz deutlich: Es gibt keine Beschwer. Denn in keinem einzigen Fall wurden die Beteiligten - seien es Ärzte oder Mütter - belangt. ({2}) Es wird aber ein verfassungsmäßig garantiertes Recht des Kindes verletzt, und zwar erheblich und nicht nur im rechtlichen Sinne. Aber dass die Kenntnis der Abstammung ein Verfassungsrecht ist, dafür gibt es sehr triftige und gewichtige Gründe. Was das Bundesverfassungsgericht - der EuGH hat übrigens ähnlich entschieden dazu schreibt, lese ich Ihnen jetzt einmal vor - vielleicht dient das der Klarstellung -: Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und die Menschenwürde sichern jedem Einzelnen einen autonomen Bereich privater Lebensgestaltung, in dem er seine Individualität entwickeln und wahren kann. Weiter schreibt das Gericht: Verständnis und Entfaltung der Individualität sind aber mit der Kenntnis der für sie konstitutiven Faktoren eng verbunden. Zu diesen zählt neben anderen die Abstammung. Sie legt nicht nur die genetische Ausstattung des Einzelnen fest und prägt so seine Persönlichkeit mit. Unabhängig davon nimmt sie auch im Bewusstsein des Einzelnen eine Schlüsselstellung für Individualitätsfindung und Selbstverständnis ein. Etwas weiter unten schreibt das Gericht: … die Kenntnis der Herkunft bietet dem Einzelnen unabhängig vom Ausmaß wissenschaftlicher Ergebnisse wichtige Anknüpfungspunkte für das Verständnis und für die Entfaltung der eigenen Individualität. … Dem kann nicht entgegengehalten werden, daß es Fälle gibt, in denen die Abstammung unaufklärbar bleibt … Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG verleiht kein Recht auf Verschaffung von Kenntnissen der eigenen Abstammung, sondern - jetzt wird es wichtig kann nur vor der Vorenthaltung erlangbarer Informationen schützen. Genau das passiert aber durch die anonyme Geburt. Wenn wir diese legalisieren, dann halten wir erlangbare Informationen vor. ({3}) Das ist nicht rechtens. ({4}) - Frau Eichhorn, ich will es hier einmal ganz deutlich sagen: Sie haben nicht eine empirische Zahl, die belegt, dass Kinder ansonsten getötet werden. Aus alldem, was wir bisher gehört haben, mutmaße ich das Gegenteil. Die genannten Frauen aus Neuss haben sich bewusst entschieden, ihre Kinder zu bekommen. ({5}) Sie können das. Ihnen wird in dieser Republik geholfen. Die Strafverfolgungsbehörden verfolgen nicht. Es gibt keine Beschwerden. ({6}) Es gibt sozusagen nur eine rechtliche Grauzone. Dazu sage ich mit meiner relativ großen Verwaltungserfahrung: Es muss auch in Deutschland möglich sein, einfach einmal eine Grauzone zu belassen. Denn wenn man gesetzgeberisch tätig wird, läuft man Gefahr, dass das Gesetz von einem höheren Gericht gekippt wird und dass wir dann ein schlechteres Ergebnis bekommen. Das wollen wir Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen nicht. Wir wollen probate Hilfe. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin Lopez, erlauben Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Königshaus?

Helga Lopez (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003803, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön, Herr Königshaus.

Hellmut Königshaus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003709, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Kollegin, gestatten Sie die Anmerkung, dass das, was Sie hier sagen, sehr bürokratisch klingt. Ist es nicht so, dass die Wahrnehmung von Rechten voraussetzt, dass man überlebt? Sie sagen, es sei empirisch nicht nachweisbar, dass aufgrund der derzeitigen Rechtslage Kinder getötet würden. Das ist wahr. Man kann das im konkreten Fall natürlich nicht nachweisen. Aber sind Ihnen beispielsweise die Fälle bekannt, in denen in Blumenkästen mehrere Kinder gefunden wurden, die von ihrer Mutter getötet wurden? Meinen nicht auch Sie, dass es darum geht, den Müttern zumindest ein Angebot zu machen, wie sie einer solchen Konfliktsituation entgehen können? ({0})

Helga Lopez (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003803, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich bin mit Ihnen in diesem Punkt hundertprozentig einig. Es gibt da keinen Unterschied. Wir ahnen - ich muss sagen: ahnen; aber wir haben darüber viele Berichte gehört -, dass die Fälle, in denen Kinder getötet und abgelegt werden, weder durch Babyklappen noch durch die Ermöglichung anonymer Geburt reduziert werden, leider. ({0}) Das ist aber auch psychologisch erklärbar; denn der Vorgang, eine Babyklappe aufzusuchen oder eine anonyme Geburt durchzuführen, verlangt ein koordiniertes Handeln. Mütter, die nach der Geburt ihre Kinder töten, sind offenkundig - das bestätigen viele Psychologen - in einer derart schlimmen psychischen Situation, dass sie zu dieser Koordination - das gilt sowohl für das Aufsuchen der Babyklappe als auch für die anonyme Geburt - nicht fähig sind. Das, was wir gehofft haben, nämlich dass mit Babyklappen und der Ermöglichung anonymer Geburt die Zahl der Kindstötungen minimiert wird, ist empirisch zumindest nicht belegt, leider. ({1}) Ich sage: Der richtige Weg ist, zu schauen, wie wir - das wurde eben von Frau Eichhorn, glaube ich, angesprochen - die Quote der Mütter erhöhen können, die sich trotz anonymer Geburt im Nachhinein entscheiden, das Kind doch noch in ihre Obhut zu nehmen und ihm damit wiederum die Kenntnis der Abstammung zu verschaffen. Da sind wir offensichtlich auf einem guten Weg. Die Quote ist höher, als ich gedacht hätte. Hier haben wir gehört, dass es bereits die Möglichkeit einer „heimlichen Geburt“ in Zusammenarbeit mit der Adoptivstelle gibt. Es wurde auch klar, dass die Beratungsangebote an Mütter ganz generell nicht ausreichen. Insbesondere in dieser Richtung müssen wir Anstrengungen unternehmen. Wir müssen Frauen beraten, wir müssen ihnen aufsuchende Hilfe geben, und wir müssen ihnen Mut machen, ihre Kinder anzunehmen. Das ist der richtige Weg. Mit einer Legalisierung der anonymen Geburt, von der ich überzeugt bin, dass sie nicht rechtens ist und dass sie vom Verfassungsgericht nicht geduldet würde, ist niemandem geholfen, insbesondere nicht den betroffenen Kindern. Vielleicht sollten Sie sich einmal bei Familien in Ihrer Umgebung erkundigen - fast jeder kennt solche Familien -, deren Kinder adoptiert worden sind, wie es war, als die Kinder von den Adoptiveltern erfuhren, dass sie nicht die leiblichen Kinder sind. ({2}) Ich kenne solche Fälle. Es sind mildere Fälle, aber ich weiß, welche Auswirkungen das auf die Kinder hat. Ich schätze das Recht auf Kenntnis der Abstammung in der Sache nicht so gering wie Sie. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat die Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk vom Bündnis 90/Die Grünen. ({0})

Irmingard Schewe-Gerigk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist nicht das erste Mal, dass wir hier im Plenum zum Thema „anonyme Geburt“ debattieren. Die bisherigen Bemühungen sind „nicht zu einem parlamentarischen Abschluss gekommen“, wie es in den Vorbemerkungen der Großen Anfrage der FDP heißt. Eines stimmt ja: Es ist äußerst schwierig, Regelungen zu finden, die die verschiedenen grundgesetzlich geschützten Rechtsgüter in Einklang bringen, nämlich das Recht auf Kenntnis der Abstammung und das Recht auf Leben. Frau Lopez, darauf sind Sie nicht eingegangen. Aus meiner Sicht ist das Recht auf Leben klar höher zu bewerten als das Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung. ({0}) Das sage nicht nur ich. Es gibt auch Verfassungsrechtler, die das so sehen. Die Schwierigkeit und das Problem liegen aber gerade darin, dass es so schwer nachweisbar ist. Sie nennen Zahlen, wir nennen Zahlen. Die einen wissen nichts, die anderen auch nichts. Darum ist es gut, dass eine zusätzliche Studie in Auftrag gegeben wird, um uns hier etwas mehr Klarheit zu verschaffen. Auf die Einrichtung von Babyklappen haben wir als Parlament wenig Einfluss. Aber die Hysterie, mit der manche sie zu einer „staatlich lizensierten Babyentsorgung“ hochstilisieren, ist mir absolut unverständlich. ({1}) Wer sein Kind aussetzen will, wird das tun, ob mit Babyklappe oder ohne. Allerdings sind die Überlebenschancen mit einer Babyklappe doch größer. ({2}) Babyklappen sind oft der letzte Ausweg, eher eine moderne Form des alten Weidenkorbs, die ein wenig sicherer für die Babys ist. Ich bin ziemlich sicher, dass im Einzelfall Kinder gerettet werden. Aber wir brauchen für Babyklappen keine gesetzlichen Regelungen. Anders sieht es bei der anonymen Geburt aus. Ich bin der Meinung: Hier müssen wir etwas regeln. Frauen in extremer Notlage sollen unter hygienisch und medizinisch zumutbaren Bedingungen, wie es auch in Österreich der Fall ist, gebären können, ohne ihren Namen angeben zu müssen. Wir müssen auch den unsäglichen Zustand beenden, dass medizinisches Personal mit einem Bein im Gefängnis steht, wenn es in dieser Notlage hilft. ({3}) Frau Lopez, Sie haben vorhin gesagt: Das wird nicht verfolgt; das ist überhaupt kein Problem. In eine Beratungsstelle des SkF Köln, die entsprechende Hilfsangebote unterbreitete, kam jedoch der Staatsanwalt, setzte die Verantwortlichen unter Druck und verlangte, die Namen herauszugeben. Ich finde, das können wir uns in einem Rechtsstaat nicht erlauben. ({4}) Ich frage mich: Warum sollen diese Menschen ausbaden, dass die Politik sich hier nicht einigen kann? Ein solches Durchwursteln und Wegducken entspricht auch nicht meinem Verständnis von Verantwortung der Politik. Für mich ist es auch schwer erträglich, dass wir de facto in vielen Kliniken anonyme Geburten dulden, aber es vom Wohnort der Frau abhängt, ob sie Hilfe findet oder nicht. Sie hat Glück, wenn sie in der Nähe eine Klinik hat, die das macht. Eine Kollegin hat mir kürzlich den Fall geschildert, dass eine Frau, die schon Wehen hatte, von einem Krankenhaus zum anderen gehen musste, weil sie immer wieder weggeschickt wurde. Ich finde, wenn niemand die Verantwortung übernehmen will, dann ist es um uns schlecht bestellt. Das darf nicht sein. ({5}) Vor diesem Hintergrund verblassen die betroffen machenden Berichte von Menschen, die nicht um ihre biologische Abstammung wissen. Auch ich kenne Fälle, bei denen Adoptivforscherinnen sagen, es wäre besser, dieses Kind wäre überhaupt nicht zum Leben gekommen, da es nun so sehr darunter leide, dass es adoptiert worden sei. ({6}) Ich muss sagen: Für mich ist hier das Recht auf Leben vorrangig. ({7}) Ich frage diejenigen, die sagen, wir bräuchten hier keine Regelung: Was ist die Alternative? Was wollen Sie da anbieten? Das Angebot, anonym und vertraulich zu gebären, rettet Leben von Müttern und Kindern. Da bin ich ziemlich sicher. Zahlen können wir hier nicht nennen. Häufig ermöglicht ein solches Angebot - da bin ich sicher - dem Kind erst die Kenntnis der Abstammung. Die Bundesregierung hat dokumentiert, dass viele Frauen nach einer Beratung ihr zunächst anonym geborenes Kind tatsächlich annehmen. Es gibt auch eine Untersuchung von Fällen von SterniPark, in der von 70 bis 80 Prozent die Rede ist. Das ist doch wichtig. Wenn die Frauen diese Beratung nicht erhalten hätten, dann hätten sie sofort der Adoption zugestimmt. Jetzt haben sie Zeit, werden beraten und können sich zu ihrem Kind bekennen. Adoptionen werden dadurch also verhindert. ({8}) Natürlich werden wir nicht alle Frauen, die ihr Kind in Panik und Verzweiflung töten, mit dem Angebot der anonymen Geburt erreichen. Aber wenn wir nur ein paar von ihnen erreichen können, dürfen wir uns der Verantwortung nicht entziehen und müssen hier Rechtssicherheit schaffen. Meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, Sie haben vereinbart, gesetzliche Regelungen zu schaffen, wenn es nötig ist. ({9}) Für mich ist diese Notwendigkeit erwiesen. Sie haben jetzt noch eine Studie in Auftrag gegeben. Ich hoffe, dass sie zur Klarstellung dient. Ich weiß, es gibt keine einfachen Antworten. Ich weiß auch, dass nicht alle gewinnen werden. Aber ich möchte Sie doch bitten, gemeinsam nach Lösungen zu suchen und sich der gemeinsamen Verantwortung zu stellen. Vielen Dank. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Wieland, Volker Beck ({0}), Monika Lazar, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Europol-Beschluss rechtsstaatlich verbessern - Drucksache 16/7742 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({1}) Auswärtiger Ausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Es ist vereinbart, dass die Reden zu Protokoll genom- men werden sollen. Es handelt sich um die Reden von Wolfgang Gunkel, SPD, Gisela Piltz, FDP, Petra Pau, Die Linke, Wolfgang Wieland, Bündnis 90/Die Grünen, und des Parlamentarischen Staatssekretärs Peter Altmaier für die Bundesregierung.1) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/7742 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 9. April 2008, 13 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen.