Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich darf Sie bitten,
sich von Ihren Plätzen zu erheben.
({0})
Am Montag dieser Woche ist unser ehemaliger Kollege Hans Engelhard im Alter von 73 Jahren nach langer, geduldig ertragener Krankheit verstorben.
Hans Engelhard wurde am 16. September 1934 in
München geboren und studierte nach seinem Abitur
Rechtswissenschaften an den Universitäten Erlangen
und München. Nach der zweiten juristischen Staatsprüfung begann er seine Berufslaufbahn als Anwalt in München.
Bereits 1954 war er der Freien Demokratischen Partei
beigetreten. 1970 wurde er Mitglied des Rats der Stadt
München und bald auch Fraktionsvorsitzender sowie
Vorsitzender der Münchner FDP. 1972 zog Hans
Engelhard, der auch für das Amt des Münchner Oberbürgermeisters kandidiert hatte, erneut in den Stadtrat
ein, wurde aber bereits im November desselben Jahres in
den Bundestag gewählt und verzichtete im Dezember
des gleichen Jahres auf sein kommunales Mandat.
Im Deutschen Bundestag, dem Hans Engelhard bis
zum Ablauf der 12. Wahlperiode 1994 angehörte, war er
Mitglied des Rechtsausschusses, des Innenausschusses
und der Parlamentarischen Kontrollkommission. Ab Januar 1977 war Hans Engelhard auch stellvertretender
Vorsitzender der FDP-Fraktion, ein Amt, das er bis zu
seiner Berufung zum Bundesminister 1982 innehatte.
Hans Engelhard, der 14. Bundesminister der Justiz, übte
sein Amt bis zu seinem Verzicht auf das Amt aus gesundheitlichen Gründen Ende 1990 aus und damit länger
als alle bisherigen deutschen Justizminister.
Engelhard, der sich eher als konservativer Liberaler
verstand und stets darum bemüht war, einen Ausgleich
zwischen den Sicherheitsinteressen und den Freiheitsrechten der Bürger herzustellen, hat sich bleibende Verdienste um die Erforschung der Rolle der Justiz in der
Zeit des Nationalsozialismus erworben, unter anderem
durch die von ihm angeregte Ausstellung „Justiz und
Nationalsozialismus“.
Hans Engelhard war als freundlich-zurückhaltender,
bescheiden auftretender, aber äußerst sachkundiger Kollege über alle Fraktionsgrenzen hinweg anerkannt und
geschätzt. Bleibende Verdienste hat er sich durch seine
Rolle bei der verfassungsrechtlichen und justizpolitischen Bewältigung der deutschen Einheit erworben.
Bei den Wahlen zum 13. Deutschen Bundestag musste
er aus gesundheitlichen Gründen auf eine erneute Kandidatur verzichten; er schied mit Ablauf der Legislaturperiode aus dem Bundestag aus.
Der Deutsche Bundestag wird sein Andenken in Ehren bewahren. Seiner Frau und seiner Familie sprechen
wir unsere Anteilnahme aus.
Sie haben sich zu Ehren des verstorbenen Kollegen
von Ihren Plätzen erhoben. Ich danke Ihnen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Kollege
Dr. Hans Georg Faust feiert heute seinen 60. Geburtstag. Im Namen des ganzen Hauses gratuliere ich ihm
herzlich und wünsche ihm alles Gute!
({1})
Nun rufe ich die Tagesordnungspunkte 23 a und 23 b
sowie den Zusatzpunkt 6 auf:
23 a) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur strukturellen Weiterentwicklung der Pflegeversicherung ({2})
- Drucksachen 16/7439, 16/7486 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit ({3})
- Drucksache 16/8525 Berichterstattung:
Abgeordnete Willi Zylajew
Heinz Lanfermann
Redetext
Präsident Dr. Norbert Lammert
Elisabeth Scharfenberg
- Bericht des Haushaltsausschusses ({4}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 16/8522 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Ewald Schurer
Norbert Barthle
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Gesine Lötzsch
Anja Hajduk
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({5})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Elisabeth
Scharfenberg, Nicole Maisch, Birgitt Bender,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Finanzielle Nachhaltigkeit und Stärkung
der Verbraucher - Für eine konsequent
nutzerorientierte Pflegeversicherung
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Ilja
Seifert, Klaus Ernst, Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Für eine humane und solidarische Pflegeabsicherung
- zu dem Antrag der Abgeordneten Heinz
Lanfermann, Daniel Bahr ({6}), Dr. Konrad
Schily, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Für eine zukunftsfest und generationengerecht finanzierte, die Selbstbestimmung
stärkende, transparente und unbürokratische Pflege
- zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vierter Bericht über die Entwicklung der
Pflegeversicherung
- Drucksachen 16/7136, 16/7472, 16/7491, 16/7772,
16/8525 Berichterstattung:
Abgeordnete Willi Zylajew
Heinz Lanfermann
Elisabeth Scharfenberg
ZP 6 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({7}) zu dem Antrag der Abgeordneten Heinz
Lanfermann, Birgit Homburger, Daniel Bahr
({8}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Entbürokratisierung der Pflege vorantreiben Qualität und Transparenz der stationären
Pflege erhöhen
- Drucksachen 16/672, 16/6836 Berichterstattung:
Abgeordneter Willi Zylajew
Zu dem von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Pflege-Weiterentwicklungsgesetzes liegen
jeweils ein Änderungsantrag und jeweils ein Entschließungsantrag der Fraktionen FDP, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst der
Bundesministerin Ulla Schmidt das Wort.
({9})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit
dem heute anstehenden Beschluss dieses Gesetzes bringen wir eine Debatte zum Abschluss, die nicht immer
einfach war, mit deren Ergebnis ich aber sehr zufrieden
bin.
({0})
Wir stärken die Pflegeversicherung, die sich bewährt
und die vieles geleistet hat. Vor Einführung der Pflegeversicherung fielen Hunderttausende Menschen, die auf
Pflege angewiesen waren, in die Sozialhilfe. Heute bewahren die Leistungen der Pflegeversicherung viele vor
diesem Schicksal.
Seit 1995 sind über 300 000 neue Arbeitsplätze im
Bereich der Pflege entstanden. 2,1 Millionen Menschen
erhalten Leistungen der Pflegeversicherung. Für mehr als
400 000 Menschen - es sind vor allen Dingen Frauen zahlt die Pflegeversicherung in die Rentenversicherung
ein. Trotzdem gibt es eine Reihe von Herausforderungen,
auf die wir uns einstellen müssen.
Wer sich entschließt, einen Angehörigen zu pflegen,
braucht dazu seine ganze Kraft und hat keine Zeit, zu
Hinz und Kunz zu laufen, um die Papiere zusammenzubekommen. Er wendet viel Kraft und viel Zeit auf, nimmt
Einschränkungen seines Lebens in Kauf. Lange Wege,
bürokratische Anträge, Klärung der Zuständigkeit - das
muss nicht sein. Hier werden wir die Menschen in Zukunft entlasten.
({1})
Mit den Pflegestützpunkten werden vernetzte, wohnortnahe Beratungsangebote entstehen. Fallmanager und
Fallmanagerinnen werden den Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen als verlässliche Partner zur Seite stehen. Sie werden nicht nur beraten, sondern den Pflegefall während des gesamten Verlaufs begleiten: von der
Entlassung aus dem Krankenhaus über Rehabilitationsmaßnahmen bis hin zur Pflege zu Hause oder in einer
stationären Einrichtung. In den Pflegestützpunkten könBundesministerin Ulla Schmidt
nen auch diejenigen Rat und Unterstützung finden, die
die deutsche Sprache vielleicht nicht so gut beherrschen,
die bei der Organisation der Pflege überfordert sind oder
die ihre Rechte und Ansprüche nicht kennen. Für uns ist
klar: Sprache, Herkunft und soziale Schicht dürfen kein
Hindernis sein, seine Rechte als Versicherter wahrzunehmen.
({2})
Die Verantwortung für die Einführung der Pflegestützpunkte liegt bei den Ländern. Nun können und müssen
die Länder zeigen, wie wichtig ihnen eine moderne
Pflege ist.
Ich muss gestehen, dass mir bei der Diskussion über
die Pflegestützpunkte ein Zitat von Schopenhauer eingefallen ist:
Gute Ideen werden zuerst verlacht, dann bekämpft
und schließlich kopiert.
({3})
Ich bin sicher, dass wir erleben werden, wie sich die
größten Kritiker der Pflegestützpunkte, wenn sich diese
erst etabliert haben, zu Vätern und Müttern dieses Gedankens erklären werden.
({4})
Es ist ausdrücklich erwünscht, dass durch die Pflegestützpunkte die vorhandenen Strukturen weiterentwickelt werden, dass die ehrenamtlichen Mitarbeiter und
die Selbsthilfegruppen eingebunden werden. Ich bin
froh, dass wir es gemeinsam erreichen konnten, dass die
Fördermittel für niedrigschwellige Pflege- und Betreuungsangebote von jetzt 20 Millionen Euro auf 50 Millionen Euro erhöht werden. Dieses Geld soll eingesetzt
werden, um das bürgerschaftliche Engagement und das
Engagement der Selbsthilfe im Bereich der Pflege zu
fördern und damit die Pflege zu stärken.
({5})
Nehmen Angehörige beruflich eine Auszeit, um zu
pflegen, werden für sechs Monate Sozialbeiträge übernommen. Außerdem können sich Angehörige, wenn jemand in ihrer Familie zum Pflegefall wird, für zehn Tage
freistellen lassen, um kurzfristig die nötigsten Dinge zu
organisieren. Damit stärken wir die Pflege in der Familie.
Die Leistungen der Pflegeversicherung werden
schrittweise erhöht und ab 2015 systematisch an die Preisentwicklung angepasst. Ein Aspekt ist mir dabei besonders wichtig: Der Betreuungsbedarf von demenzkranken,
psychisch kranken und geistig behinderten Menschen
wird erstmals als Leistung anerkannt.
({6})
Demenziell erkrankte und psychisch kranke Pflegebedürftige erhalten künftig einen monatlichen Betrag von
100 oder 200 Euro bei häuslicher Pflege - auch dann,
wenn sie keine Pflegestufe haben -, um damit zusätzliche Hilfen finanzieren zu können.
Ich bin sehr froh, dass wir auch in der stationären
Versorgung dazu eine praktikable Lösung gefunden haben. Eine Erhöhung der Leistungen alleine würde zwar
die Sozialhilfe entlasten, aber sie hätte nicht bewirkt,
dass mehr Pflegekräfte für die Betreuung zur Verfügung
stehen. Deshalb gehen wir mit der Pflegereform einen
völlig neuen Weg: Erstmals werden durch die Pflegeversicherung zusätzliche Betreuungsassistenten in den stationären Einrichtungen für Menschen mit erhöhtem Betreuungsaufwand finanziert. Das hilft diesen Menschen
direkt, weil die Angebote ausgeweitet werden und sie
besser aktiviert werden können. Es entlastet aber auch
die Altenpflegerinnen und Altenpfleger, die tagtäglich
unter sehr starker Verdichtung der Aufgaben ihre Arbeit
in den Einrichtungen verrichten müssen, und gibt ihnen
Zeit, das zu tun, wofür sie diesen Beruf gewählt haben,
nämlich den von ihnen betreuten Menschen Zuwendung
zu geben.
({7})
Wir stärken die häusliche Pflege und fördern alternative Wohnformen. Pflegebedürftige können in Zukunft
in Wohn- und Lebensgemeinschaften und auch dann,
wenn sie im selben Haus oder in der Nachbarschaft wohnen, ihre Leistungen bündeln und Pflegeangebote gemeinsam nutzen. Das bedeutet Zeitgewinn, und Zeitgewinn
bedeutet Zuwendung. Davon profitieren die Pflegebedürftigen und die Pflegenden gleichermaßen.
Ich habe großen Respekt vor der Arbeit, die Frauen
und Männer in Pflegeheimen leisten. Mehr als 90 Prozent von ihnen leisten gute und aufopferungsvolle Arbeit. Wenn etwas schiefläuft, dann liegt das in der Regel
nicht an den Personen selber, sondern daran, wie eine
Einrichtung organisiert und geführt ist.
Wir wollen die Missstände auf ein Minimum reduzieren. Niemand kann garantieren, dass es keine Missstände
gibt, aber wir wollen dagegen angehen. Die Qualitätsprüfungen in den Pflegeeinrichtungen werden künftig
jährlich und in der Regel unangemeldet stattfinden. Was
dabei zählt, ist die Qualität der Ergebnisse. Entscheidend
für die zukünftige Qualitätsentwicklung ist die Transparenz der Pflegeberichte. Pflegebedürftige und ihre Angehörigen können sich in Zukunft verlässlich darüber informieren, ob ein Heim etwas taugt, zum Beispiel durch
die Einführung eines Ampel- oder Sternesystems und
dadurch, dass wir alle Einrichtungen - ob ambulant oder
stationär - dazu verpflichten, die Prüfberichte in verständlicher Form öffentlich zugänglich zu machen.
({8})
So können schwarze Schafe schneller gefunden werden.
Die Menschen können dann schlechte Einrichtungen
oder Pflegedienste meiden. Das ist, glaube ich, der beste
Weg, um diejenigen zu unterstützen, die tagtäglich für
die Verbesserung der Qualität kämpfen.
Jedes schwarze Schaf ist eines zu viel. Dagegen müssen wir angehen. Aber wir sollten nicht vergessen, dass
die allermeisten Pflegerinnen und Pfleger in den Einrich15986
tungen eine großartige und verantwortungsvolle Arbeit
leisten.
({9})
Deshalb ist die Gesellschaft ihnen zu Dank und Anerkennung verpflichtet. Ich glaube, ich spreche im Namen
des gesamten Hauses, wenn ich diesen Menschen, die
rund um die Uhr unermüdlich ihre Arbeit leisten, einen
herzlichen Dank ausspreche.
({10})
Ich will nicht verschweigen, dass ich es gerne gesehen hätte, wenn die private Pflegeversicherung ihren
Beitrag zur Finanzreform geleistet hätte.
({11})
Das bleibt für mich erst einmal unbefriedigend. Dennoch: Nennen Sie mir eine andere Reform in dieser Legislaturperiode, die so konkrete und spürbare Erleichterungen für die Menschen enthält, oder eine Reform, die
Leistungsverbesserungen von insgesamt mehr als
15 Prozent mit sich bringt!
({12})
Das Gesetz, das wir heute verabschieden, ist ein Erfolg für die Menschen in unserem Land, die Pflegebedürftigen, die Angehörigen und die Ehrenamtlichen sowie für die Beschäftigten in den Pflegeeinrichtungen.
Für uns ist wichtig, dass wir auch in der Pflegeversicherung auf dem Weg der solidarischen Absicherung der
großen Lebensrisiken bleiben. Das tut der Gesellschaft
und ihrem Zusammenhalt gut.
Ich bedanke mich bei allen, die an den Diskussionen
und Anhörungen in den Ausschüssen teilgenommen und
daran mitgewirkt haben: bei den Koalitionsfraktionen,
den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie insbesondere beim Kollegen Seehofer und der Kollegin von der
Leyen, die an der Erarbeitung des Gesetzentwurfs beteiligt waren.
Vielen Dank.
({13})
Nächster Redner ist der Kollege Heinz Lanfermann
für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das Lob für alle, die in der Pflege tätig sind, können
wir sehr wohl mittragen. Das sage ich für die FDP-Fraktion ausdrücklich.
({0})
Gleichwohl steht heute nicht die grundlegende oder sogar die große Pflegereform zur Abstimmung, die die Koalition vor zweieinhalb Jahren vollmundig angekündigt
hat, sondern nur die wenigen Punkte, auf die sich Union
und SPD als kleinster gemeinsamer Nenner mit Mühe
und Not einigen konnten.
({1})
Da mag sich die Gesundheitsministerin noch so viel
Mühe geben, jede Leistungsänderung großzureden und
jede Beitragserhöhung kleinzureden, da mag sich gleich
eine ganze Reihe von Koalitionsrednern bemühen, jedes
kleinste Detail als weltbewegenden Fortschritt zu verkünden, die schlichte Wahrheit, der unumstößliche Fakt
ist: Die von der Großen Koalition versprochene Reform
ist in ihrem allerwichtigsten Punkt gescheitert. Die dringend notwendige Finanzreform findet nicht statt.
({2})
Die Koalition hat es nicht geschafft. Sie hat genau genommen vor sich selbst kapituliert. Noch schlimmer: Sie
hat, die Kanzlerin vorneweg, ein Versprechen gebrochen. Am 7. Juli 2006 versprach Frau Merkel in der
Bild-Zeitung:
Wir werden die Pflegeversicherung im nächsten
Jahr reformieren, aber Beitragserhöhungen stehen
nicht auf der Tagessordnung.
Das sieht heute anders aus. Wie sagt Frau Merkel immer:
Versprochen, gebrochen.
({3})
Der Pflegeversicherungsbeitrag wird ab dem 1. Juli
2008 von 1,7 auf 1,95 Prozent, für Kinderlose sogar von
1,95 auf 2,2 Prozent erhöht. Beim durchschnittlichen Arbeitnehmereinkommen in Deutschland von gut 27 000
Euro sind das 34 Euro im Jahr. Von wegen, es koste immer nur so viel wie eine Tasse Kaffee, Frau Schmidt!
({4})
Auch die Arbeitgeber müssen 34 Euro drauflegen. Das
ist nach dem „Kinderlosenstrafbeitrag“ und dem zusätzlichen dreizehnten Beitrag im Jahre 2006 schon die dritte
Beitragserhöhung innerhalb von drei Jahren.
({5})
Es gibt noch ein weiteres gebrochenes Versprechen.
Die jungen Abgeordneten der Unionsfraktion haben gegen ihre Überzeugung der vermurksten Gesundheitsreform nur zugestimmt, weil ihnen von ihrem Fraktionsvorsitzenden Herrn Kauder versprochen wurde, die
Union werde nur dann eine Pflegereform mittragen,
wenn zumindest ein Einstieg in eine Kapitaldeckung
stattfindet. Heute aber soll ein Gesetz verabschiedet werden, mit dem das nicht stattfindet, mit dem sogar neue finanzielle Lasten aufgebaut und zulasten der jüngeren
Generationen in die Zukunft verschoben werden. Nach
dem Motto „Augen zu und durch“ und der sehr wackeligen Aussage, nun habe man Geld für die nächsten fünf,
sechs Jahre, lässt man das Wichtigste liegen. So bleibt es
beim Umlageverfahren, und so werden in der Zukunft
massive Beitragssatzerhöhungen und/oder empfindliche
Leistungskürzungen - je nach Wahl, wahrscheinlich beides - schon aufgrund des demografischen Wandels unvermeidbar sein.
Wir alle wissen es, und die Bürger sprechen uns darauf an: Bis 2050 gibt es dreimal so viele Pflegebedürftige, und die Zahl der Beitragszahler geht um ein Drittel
zurück. Man kann das hochrechnen: Das bedeutet mindestens eine Verdopplung des Beitragssatzes auf über
4 Prozent, wahrscheinlich eher auf über 5 oder 6 Prozent.
Das Forschungszentrum Generationenverträge der Uni
Freiburg hat ausgerechnet, was die junge Generation jeder Tag kostet,
({6})
der vergeht, ohne dass die notwendige Umstellung vorgenommen wird: 29 Millionen Euro pro Tag, also - das
ist leicht nachzurechnen - über 10 Milliarden Euro pro
Jahr. Wenn wir jetzt weitere zwei, drei Jahre brauchen,
bis wir diese Umstellung mit einer neuen, besseren Regierung vornehmen können, dann sind es über 30 Milliarden Euro, Frau Schmidt, die in Ihrer Bilanz zulasten
der jungen Generation stehen.
({7})
Die FDP will einen Umstieg in eine kapitalgedeckte
Versicherung, bei der die Jungen ansparen können, damit
sie im Alter als Generation für ihre eigenen Kosten aufkommen. Nur so entgeht man der demografischen Falle.
({8})
Meine Damen und Herren, die Regierung und die sie
tragenden Fraktionen haben sehr viel Redezeit, die
Opposition hat sehr wenig. Daher verweise ich auf den
Antrag der FDP-Fraktion „Für eine zukunftsfest und generationengerecht finanzierte, die Selbstbestimmung
stärkende, transparente und unbürokratische Pflege“ auf
Drucksache 16/7491, der alle unsere Vorschläge zur Zukunft der Pflege enthält. Ebenso sehr zur Lektüre zu
empfehlen ist unser Antrag „Entbürokratisierung der
Pflege vorantreiben - Qualität und Transparenz der stationären Pflege erhöhen“, Drucksache 16/672. Wenn
man diesem Antrag folgte, Frau Schmidt, behöbe man
viele Missstände. Man würde mehr Transparenz schaffen, für weniger Bürokratie sorgen und den Pflegenden,
die zum Teil 30 Prozent, oft sogar mehr ihrer Zeit für
Bürokratie verbrauchen, die Gelegenheit geben, diese
Zeit für die Zuwendung am Pflegebett einzusetzen.
({9})
Frau Schmidt hat wieder einmal viel zu den Pflegestützpunkten gesprochen. Das ist ein etwas martialischer Begriff; ich glaube, es ist so eine Art Basislager für
die Eroberung der Pflege von Staats wegen.
({10})
Sie sind überflüssig, schädlich und teuer. Was für die
Gesundheitsreform der Gesundheitsfonds ist, sind für
die Pflegereform die Pflegestützpunkte.
({11})
Besonders perfide ist, was Frau Schmidt mit den bestehenden Angeboten vorhat. Unter den süßen Klängen
der Melodie „Allen wird geholfen, alles aus einer Hand,
alle sind eingeladen, alle können mitmachen, bestehende
Strukturen werden einbezogen“ wird in Wirklichkeit mit
berechnender Kälte allen, die schon in der Pflegeberatung tätig sind, nach und nach nur die Alternative angeboten:
({12})
Mach mit, und zwar unter unserer Aufsicht und Leitung,
oder sieh zu, wo du bleibst, wenn wir hier eine eigene,
alles abdeckende Struktur aufbauen.
({13})
Tatsache ist, dass die Pflegestützpunkte sehr umstritten waren und dass die Unionsfraktion sie nie gewollt
hat. Es war nicht schön für Sie, dass Frau von der Leyen
und Herr Seehofer dieser Sache erst einmal zugestimmt
haben, auch wenn sie hinterher leichte Absetzbewegungen gemacht haben. Es gab eine Anhörung dazu hier im
Bundestag; die allermeisten Experten und Betroffenen,
bis auf ganz wenige Ausnahmen, haben gesagt: Das
taugt nichts. Wir sind gegen die Pflegestützpunkte. Wir
wollen sie nicht; sie sind wirklich schlecht. - Nur im Gesundheitsministerium und in der SPD-Fraktion haben es
einige mit bemerkenswerter Autosuggestion geschafft,
das Ergebnis dieser Anhörung umzudeuten.
({14})
Herr Zöller hat diese Vorgehensweise in der Welt vom
21. Januar 2008 - das muss ich heute hier zitieren - geschildert:
Das, was Frau Schmidt macht, hat mit kollegialer
Zusammenarbeit nichts mehr zu tun. Sie trickst und
täuscht, was das Zeug hält. Beispiel Pflegereform:
Frau Schmidt weiß, dass wir die Pflegestützpunkte
ablehnen, die ihr Gesetzentwurf vorsieht. Trotzdem
schreibt sie in den Pflegebericht der Bundesregierung: Pflegestützpunkte werden begrüßt. Und dann
veranlasst ihr Ministerium noch vor dem Kabinettsentscheid eine Pressemeldung, in der steht, dass das
Kabinett Pflegestützpunkte begrüßt.
Vielleicht sollten Sie sich darüber noch einmal unterhalten.
Ich meine, die Union hat sich hier über den Tisch ziehen lassen. Sie glaubt, weil die Anschubfinanzierung dividiert durch die Summe pro Einheit 1 200 beträgt, es
gäbe nur 1 200 Pflegestützpunkte. Sie waren in den Verhandlungen schon einmal weiter und wollten nur ein
paar Versuchsstützpunkte pro Land zugestehen; das ist
aber Vergangenheit. Nach einer Tickermeldung vom
7. März 2008 sagt Frau Schmidt, es werden wohl 2 500
bis 3 000.
({15})
Das ist ja auch ganz einfach. Die Anschubfinanzierung
macht sowieso nur Peanuts aus gegenüber den Folgekosten, die über die Jahre entstehen und von den Pflegekassen, also den Beitragszahlern, den Kommunen und den
Ländern gezahlt werden. Was Sie da erreicht haben,
bringt nicht viel.
({16})
Dass Sie die Flasche Salzsäure nicht trinken wollten,
kann ich verstehen; aber eine halbe Flasche macht Sie
auch nicht glücklich.
({17})
Es ist aber noch schlimmer. Niemand weiß, was kommen soll. Was ist eigentlich ein Pflegestützpunkt? Wie
sieht er aus? Wer und wie viele Personen sitzen da, und
von wem wird das Ganze bezahlt?
({18})
Ist das öffentlich-rechtliches Kaffeekochen? Was soll
das sein? Nirgendwo steht etwas dazu, weder im Gesetzentwurf noch in der Begründung. Auf welchen Strukturen in den Ländern soll aufgebaut werden? Hier soll vernetzt, aufgebaut und koordiniert werden. Ich habe die
Ministerin zweimal angeschrieben und gefragt: Welche
Institutionen gibt es in den Ländern, auf denen man aufbaut? Wann gibt man noch etwas hinzu? - Ich habe
zweimal eine höchst lapidare Antwort von Frau CaspersMerk bekommen.
({19})
Darin steht nichts zu den Inhalten. Sie wissen es auch
nicht.
Natürlich wird es Länder geben, die Pflegestützpunkte einrichten. Man muss nur ein anderes Schild an
einer Institution anbringen, um in den Genuss der Anschubfinanzierung zu kommen; das ist ganz einfach. Das
gibt das Gesetz her. Dadurch, dass Sie dies den Ländern
übertragen, geben Sie sogar die Kontrolle aus der Hand.
Das wird nicht zu Ihrem Vorteil, sondern zu Ihrem Nachteil sein. Sie werden es erleben.
({20})
Sie haben gesagt, dass die Pflegestützpunkte
800 Millionen Euro kosten. 290 Millionen Euro sind für
Pflegeberater vorgesehen. Wo steht denn, dass es so
viele Pflegeberater gibt? Außerdem ist zu lesen, dass für
je 25 Menschen in den Heimen eine Kraft bezahlt werde,
die die aufwendige Betreuung von Altersverwirrten und
psychisch Kranken in die Hand nimmt.
Herr Kollege!
Das sind doch, wenn der Arbeitgeber brutto 57 000
Euro zahlt, bei 3 500 Stellen rund 200 Millionen Euro.
Das müssen Sie alles einrechnen.
Herr Kollege Lanfermann!
Danke, Herr Präsident, ich habe das Zeichen gesehen. - Ich will noch sagen: Dieses Gesetz ist auch technisch schlecht gemacht, weil jeder herauslesen kann,
was er will, und weil man auf jede Zahl, mit der man etwas anfangen könnte, verzichtet hat.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Annette Widmann-Mauz ist die nächste Rednerin für
die Fraktion CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! 1995 hat
die damalige unionsgeführte Bundesregierung die Pflegeversicherung eingeführt. Das war ein Meilenstein in
der Sozialversicherungsgeschichte der Bundesrepublik
Deutschland.
({0})
Heute, dreizehn Jahre später, wird diese Erfolgsgeschichte fortgeschrieben. Mit der Umsetzung des vorliegenden Gesetzentwurfs werden erstmals seit Einführung
der Pflegeversicherung Leistungen angehoben und neue
Leistungen eingeführt. Außerdem wird eine regelmäßige
Anpassung der Leistungsbeträge verankert.
Auch wenn sich die Lebenserwartung der Menschen,
der Altersaufbau der Gesellschaft und die familiären
Strukturen ändern oder neue Krankheitsbilder entstehen:
Das Leistungsversprechen, das die Pflegeversicherung
gibt, hat auch in Zukunft Bestand; darauf können sich
die Menschen verlassen.
({1})
Für die junge Generation ist dies auf Dauer nur möglich,
wenn wir ein Mehr an Kapitaldeckung in dieses System
einführen. Wir wissen, dass das mit dieser Koalition
nicht möglich ist. Aber, lieber Kollege Lanfermann, im
Gegensatz zu Ihnen verfahren wir nicht nach dem Motto,
dass, wenn wir unser Ziel nicht erreichen können, die
Menschen, die pflegebedürftig sind, darunter leiden
müssen. Das ist mir uns nicht zu machen.
({2})
Dass wir heute in der abschließenden Lesung so weit
gekommen sind, ist das Ergebnis intensiver, erfolgreicher parlamentarischer Beratungen; denn über den
ursprünglichen Gesetzentwurf hinaus ist es gelungen,
zahlreiche Leistungsverbesserungen zugunsten der
Pflegebedürftigen, ihrer Angehörigen und der Pflegekräfte auf den Weg zu bringen. Im Zentrum dieser Verhandlungen standen für die Unionsfraktion, CDU und
CSU, drei Grundsätze: mehr Qualität und Leistungsgerechtigkeit, so viel Transparenz wie möglich und so
wenig Bürokratie wie nötig.
({3})
Warum? Bei dieser Reform geht es nämlich in allererster
Linie um die Menschen, um die Pflegebedürftigen, ihre
Angehörigen, die Pflegekräfte und diejenigen Bürgerinnen und Bürger, die ehrenamtlich in diesem Bereich
ganz Hervorragendes und Außergewöhnliches leisten.
({4})
Jeder Euro, der über höhere Beiträge von den Beitragszahlern aufgebracht wird, muss verantwortungsbewusst
zu allererst genau bei diesen Menschen ankommen.
Die Pflegeversicherung ist gut, aber sie stößt seit geraumer Zeit an ihre Grenzen, finanziell und bezogen auf
ihre Leistungen. Damit sie gut bleibt, handelt die Große
Koalition. Sie schafft jetzt das, worüber Rot-Grün sieben
lange Jahre nur diskutiert hat.
({5})
Alle wussten es, aber geschehen ist fast nichts: Ich denke
an die Demenz als Altersrisiko, das ständig zunimmt.
Denken wir zum Beispiel an eine ältere Frau, die auf einmal nicht mehr weiß, wie sie nach Hause kommt, die
vergisst, dass der Herd noch angeschaltet ist, und die
nahe Angehörige nicht mehr erkennt und damit nicht
mehr von Fremden unterscheiden kann. Was will ich damit sagen? Demenzkranke brauchen weniger medizinische Pflege im engeren Sinn, sie brauchen vielmehr Betreuung und Hilfe im Alltag - und diese häufig rund um
die Uhr. Das stellt insbesondere für die Angehörigen
eine wahnsinnig große Belastung dar. Sie pflegen zum
Teil unter kaum vorstellbaren körperlichen, aber auch
seelischen Belastungen aufopferungsvoll ihre Angehörigen. Nicht selten muss ihr eigenes Leben auf die Bedürfnisse der Angehörigen ausgerichtet werden, oft auch
noch nach oder neben der eigenen Erwerbstätigkeit und
der Versorgung der Kinder. Das verdient unseren ganzen
Respekt und unsere ganze Anerkennung. Genau diesen
Menschen wollen wir mit dem vorgelegten Gesetzentwurf helfen. Wir wollen sie weiter entlasten und unterstützen.
({6})
Mit diesem Gesetzentwurf werden in Zukunft Demenzerkrankte, die noch nicht in der Pflegeversicherung
eingestuft sind, zum ersten Mal Leistungen erhalten. Wir
werden die Leistungen für die Demenzkranken insgesamt aufstocken. Waren es bislang im ambulanten Bereich maximal 460 Euro im Jahr, werden es in Zukunft
bis zu 200 Euro im Monat und damit bis zu 2 400 Euro
pro Jahr sein. 560 Millionen Euro mehr stehen allein im
ambulanten Bereich dafür zur Verfügung. Die Angehörigen erhalten damit die Möglichkeit, zusätzliche Hilfen
zu sich ins Haus zu holen. Das ist wichtig; denn wir wissen doch: Pflege ist weiblich. Pflegekräfte, die ehrenamtlich Engagierten, die pflegenden Angehörigen - es
sind meist die Frauen, die diese Arbeit leisten. Gerade
für sie, die häufig nebenbei so viel anderes zu leisten und
zu meistern haben, ist dies ein wirklich wesentlicher und
längst überfälliger Schritt.
({7})
Demenz macht nicht an der eigenen Haustür halt.
Nach Schätzung des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen weisen 50 Prozent der Heimbewohner mittlerweile die Diagnose Demenz auf. Auch für sie musste
endlich etwas getan werden. Manchmal hört man zwar,
die Heimbewohner seien rund um die Uhr untergebracht,
sie seien versorgt und deshalb müsse man nichts mehr
tun, doch „versorgt“ heißt eben nicht unbedingt „angemessen betreut“. Wir als Union haben uns nicht damit
zufrieden gegeben, dass die zusätzlichen Leistungen nur
auf den ambulanten Bereich beschränkt bleiben. Wir
wollten, dass auch Demenzerkrankte in den Heimen
zusätzliche Betreuung erfahren können.
({8})
Deshalb sind wir sehr zufrieden, dass es in den Beratungen gelungen ist, auch noch zusätzliche Betreuungsangebote für Demenzkranke in den Heimen festzuschreiben. In Zukunft können zusätzliche Betreuungskräfte für
Demenzkranke in den Heimen eingestellt werden. Damit
wird das bisherige Pflegepersonal von diesen Aufgaben
entlastet, und neue sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze können entstehen.
Wir wollten, dass das Geld nicht einfach in höheren
Pflegesätzen versickert. Nein, wir wollten mit nachgewiesenem zusätzlichem Personal auch zusätzliche Betreuungsangebote schaffen. Dies ist wichtig. Jetzt können zum Beispiel Tätigkeiten wie das gemeinsame
Tischdecken oder das gemeinsame Kartoffelschälen mit
Betreuung für Demenzkranke angeboten werden. Das
hilft diesen Menschen, das ist sinnvoll und gut und trägt
zur Steigerung der Lebensqualität in den Heimen bei.
({9})
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, der Gang in ein
Pflegeheim ist für jeden eine schwere Entscheidung. Natürlich wollen alle in der Regel nur das Beste für ihre
Angehörigen. Aber was tun, wenn die Kinder oder die
Enkel nicht mehr am Heimatort wohnen oder ihre Berufstätigkeit oder finanzielle Gründe es nicht erlauben,
zu Hause zu pflegen, oder wenn es diese nahen Angehörigen nicht mehr gibt, die die Versorgung übernehmen
könnten? Wenn es aus welchen Gründen auch immer zu
einer Entscheidung für einen Umzug in ein Heim
kommt, dann sollte diese Entscheidung - sie fällt schwer
genug - wenigstens gut informiert und guten Gewissens
getroffen werden können.
Deshalb tragen wir Mitverantwortung dafür, dass die
größtmögliche Transparenz nicht nur über die Lage und
die Ausstattung der Zimmer gewährleistet wird, sondern
vor allen Dingen Informationen über die Pflegequalität
und die Angebote der Heime zur Verfügung stehen. Deshalb wollen wir, dass die Ergebnisse von Qualitätsprüfungen zukünftig veröffentlicht werden und in verständlicher Art und Weise für jedermann einsehbar sind. Das
kann auch im Internet geschehen. Aber auch im Pflegeheim selbst sind zukünftig eine Zusammenfassung dieser
Prüfberichte des Medizinischen Dienstes und die
zugrunde liegende Bewertungssystematik transparent
und verständlich zugänglich zu machen.
({10})
Das kann je nach Qualitätsstandard mit Sternchen wie
im Hotel geschehen. Was für uns zur Orientierung bei jeder Hotelbuchung selbstverständlich ist, was wir erwarten, das sollte doch bei der Auswahl eines Pflegeheims,
das ja immerhin der Lebensmittelpunkt werden soll, nur
billig sein. Deshalb wollen wir diese Transparenz. Es ist
notwendig, dass sie umgesetzt wird.
({11})
Aber nur mit besserer Transparenz, die ohne Zweifel
nötig ist, ist es nicht getan. Wir als Unionsfraktion konnten uns nicht damit abfinden, dass ein Pflegeheim nur
alle fünf Jahre kontrolliert wird. Auch im Gesetzentwurf
waren nur dreijährige Prüfungen vorgesehen. Wir wollten, dass jedes Jahr unangemeldet Kontrollen in die
Heime kommen. Das ist wichtig und stärkt die Sicherheit und die Transparenz.
({12})
Mit dem jetzt zur Abstimmung vorliegenden Entwurf
sind die Heime transparenter geworden. Die Transparenz
ist nämlich der beste Schutz vor Missständen. Das sind
wir den älteren Menschen in unserem Land schuldig.
({13})
Dieses Mehr an Transparenz darf umgekehrt nicht zu
noch mehr Bürokratie für die Pflegekräfte vor Ort führen. Die haben nämlich schon genug davon.
({14})
Im Vordergrund der Prüfung werden deshalb in Zukunft
die Pflegequalität und damit das Ergebnis der Pflege am
Menschen stehen. Wichtig ist doch nicht in erster Linie
das, was in den Bergen von Aktenordnern an Strukturund Prozessqualität dokumentiert ist. Wichtig sind doch
das körperliche und seelische Wohlbefinden und die Lebensqualität, die durch die Pflege beim Pflegebedürftigen ankommen.
({15})
Schließlich soll die Pflegekraft in ihrer Arbeit doch zuerst am Menschen und nicht am Schreibtisch tätig sein.
({16})
Der Umzug fürs Heim bringt häufig auch eine große
Veränderung bei der ärztlichen Versorgung mit sich.
Natürlich wünscht sich fast jeder, dass der vertraute
langjährige Hausarzt, der so manchen ein Leben lang begleitet hat, nun auch in der neuen Umgebung die ärztliche Versorgung übernimmt. Aber wir wissen auch: Das
ist nicht immer möglich. Deshalb ist es so notwendig,
dass die ärztliche und gerade auch die fachärztliche Versorgung in Zukunft gewährleistet bleiben. Denn es ist
notwendig, dass auch zum Beispiel ein Augenarzt oder
ein Hals-Nasen-Ohren-Arzt die Menschen im Alter, deren Sehkraft und Hörfähigkeit nachlassen, an der Gemeinschaft teilhaben lassen können, die auch im Pflegeheim stattfindet.
Uns als Union ist es sehr wichtig gewesen, dass das
Arzt-Patienten-Verhältnis, welches ein besonderes Vertrauensverhältnis ist, nicht gestört wird und die freie
Arztwahl im Pflegeheim weiterhin möglich ist. Deshalb
setzen wir auf Kooperationen mit niedergelassenen Ärzten oder Arztgruppen - ob selbstständig oder unterstützt
durch die Kassenärztlichen Vereinigungen. Erst wenn
solche Kooperationen, die gut und notwendig sind, nicht
funktionieren, kann auch ein angestellter Arzt im Heim
Menschen versorgen. Eines muss aber ganz klar sein:
Die freie Arztwahl muss erhalten bleiben. Kein Arzt darf
zugewiesen werden. Darauf legen wir großen Wert und
dies ist jetzt mit diesem Gesetz gesichert.
({17})
Die Pflegebedürftigkeit kann jeden jederzeit treffen direkt oder indirekt. Die Angehörigen spielen dann eine
wirklich wichtige Rolle und leisten sehr viel. Deshalb
haben wir uns mit vielen Veränderungen in diesem Gesetzentwurf ganz besonders für sie eingesetzt. Denken
wir an die sechsmonatige Pflegezeit und an den Anspruch, wieder in den Beruf einsteigen zu können. Denken wir an den Freistellungsanspruch, der jetzt gewährt
wird.
({18})
Wir verkürzen darüber hinaus die Wartezeit auf die
Kurzzeitpflege oder die Verhinderungspflege für diejenigen, die neu in eine solche Situation kommen. In der
Verhinderungspflege besteht häufig kein Rentenanspruch mehr, was den Angehörigen das Leben schwer
macht. Wir wollen ihnen an dieser Stelle helfen, indem
wir wichtige weitere Neuerungen für pflegende Angehörige schaffen.
({19})
Für die Pflegekräfte wollen wir die Attraktivität des
Berufs steigern. Was von den professionellen Pflegekräften geleistet wird, ist wirklich herausragend. Körperlich
und psychisch ist dieser Beruf schwer. Wir wollen, dass
er gerade für junge Menschen attraktiver wird. Deshalb
eröffnen wir die Möglichkeit, dass ausgewählte ärztliche
Tätigkeiten nicht nur delegiert, sondern auch eigenverantwortlich von Pflegekräften durchgeführt werden können. Das stärkt die Verantwortung und damit die Attraktivität des Berufs.
Wir werden auch die Zukunftsperspektive für eine
Tätigkeit als Einzelpflegekraft stärken. Man kann dann
sozusagen sein eigener Herr oder seine eigene Frau sein.
Damit entstehen neue, flexible Einsatzfelder für Pflegekräfte in der Praxis. Dies ist wichtig, um dem Beruf auch
weitere Perspektiven zu eröffnen.
({20})
Der Gesetzentwurf hat im Parlament nochmals deutliche Verbesserungen erfahren. Damit werden allen Beteiligten - den Betroffenen, den Angehörigen und den Pflegekräften - neue Wege aufgezeigt. Deshalb geht mein
Dank an diesem Tag nicht nur an die Kolleginnen und
Kollegen der Fraktionen, insbesondere meiner Fraktion,
sondern auch an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
der Fraktionen und des Ministeriums.
Frau Kollegin, Sie können jetzt nicht mehr vollständig vortragen, wem im Einzelnen Dank gebührt.
({0})
Den Dank habe ich jetzt schon allgemein zum Ausdruck gebracht; personenbezogen würde es in der Tat
länger dauern. Aber es ist wichtig, diesen Dank zu sagen; denn ohne die tatkräftige Unterstützung wäre das
Ergebnis nicht erreicht worden. Deshalb müssen wir uns
die Zeit dafür nehmen.
({0})
Es ist ein guter Gesetzentwurf, der den Menschen in
unserem Lande, denjenigen, die das Schicksal in die
Lage gebracht hat, pflegebedürftig zu sein, weiterhilft.
Deshalb bitte ich Sie um Ihre Zustimmung.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Das Wort erhält nun der Kollege Ilja Seifert, Fraktion
Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Obwohl der Grundansatz
dieses Gesetzes zur „Weiterverwirrung“ der Pflegeversicherung völlig verquast ist, konnte die Bundesregierung es nicht verhindern, wenigstens ein paar positive
Pünktchen einzubauen. Das liegt nicht zuletzt daran,
dass sich Menschen, die wirklich auf diese Hilfe angewiesen sind, ordentlich gewehrt haben. Es liegt auch daran, dass die Opposition - insbesondere die linke Opposition - immer wieder gesagt hat: Ihr müsst an die
Menschen denken und nicht an die Strukturen.
Es lässt sich beispielsweise nicht leugnen, dass es vernünftig ist, dass die Menschen dann, wenn sie für ein
halbes Jahr eine Pflegeauszeit nehmen, zumindest weiter
sozialversichert sind.
({0})
- Das ist ein positiver Aspekt, den ich gar nicht leugnen
will. Die Grundrichtung ist aber falsch.
Jeder Mensch weiß: Wenn ich eine neue Sozialleistung ordentlich gestalten will, dann muss ich zuerst das
Ziel definieren. Das Ziel zu definieren heißt, einen vernünftigen Begriff dessen in das Gesetz zu schreiben, was
eigentlich gemacht werden soll. Gemacht werden soll
nicht etwa „satt, sauber, trocken“. Gemacht werden soll
vielmehr, dass Menschen auch dann, wenn sie inkontinent oder dement sind oder auch dann, wenn sie andere
ständige Hilfe brauchen, am Leben der Gemeinschaft
teilhaben können müssen.
({1})
Ob Teilhabe an der Gemeinschaft heißt, mit der Familie unterwegs zu sein, an großen Veranstaltungen teilzuhaben oder bei einer Sportveranstaltung dabei zu sein,
sei dahingestellt. Sie haben aber nicht einmal den Ansatz
einer Teilhabeermöglichung eingebaut. Sie haben nicht
einmal einen Ansatz für Selbstbestimmung eingebaut.
Sie haben nicht einmal einen Ansatz für den würdevollen Umgang mit Menschen in dieser schwierigen Situation eingefügt. Sie haben keinen vernünftigen Pflegebegriff.
({2})
Den wollen Sie irgendwann am Sankt-Nimmerleins-Tag
kurz vor Weihnachten präsentieren, dann, wenn das Gesetz längst in Kraft ist. Das kann doch nicht vernünftig
sein.
({3})
Sie wissen, dass man das Ziel erst einmal definieren
muss, bevor man die Wege festlegt. Danach kann man
fragen, was es kostet und woher das Geld kommt. Sie
machen es gerade umgekehrt. Sie überlegen eine Erhöhung des Beitrags um 0,25 Prozentpunkte und wollen
dann sehen, wie weit sie damit kommen.
Was haben Sie nun Tolles eingerichtet? Sie wollen
jetzt Pflegestützpunkte einrichten. Sie haben uns hier
ein Theaterstück vorgespielt, das vom Feinsten war. Als
wenn das der Knackpunkt einer vernünftigen Pflegeorientierung wäre! Der Knackpunkt einer vernünftigen
Pflegeorientierung ist nicht, dass ich mehr darüber beraten werde, was es alles nicht gibt. Der Knackpunkt einer
vernünftigen Pflegeversicherung ist, dass ich die Hilfe
dann bekomme, wenn ich sie brauche. Das ist ein Unterschied.
({4})
Über was sollen die Beraterinnen und Berater die Menschen denn beraten, wenn es vorn und hinten nicht
reicht?
({5})
- Das kann ich auch sagen, ohne ausgebildeter Berater
zu sein.
Sie haben tolle Sachen in das Gesetz hineingeschrieben. Sie wollen eine Dynamisierung der Leistungen
einführen. Meine Damen und Herren, damit Sie wissen,
wovon wir reden: Diese Dynamisierung soll in der übernächsten Wahlperiode in Kraft treten. Bis dahin gibt es
noch so viele Möglichkeiten, das wieder zu verhindern,
dass man gar nicht weiß, wie ernst man das nehmen soll.
({6})
Sie haben jetzt vorgeschlagen, eine kleine Erhöhung
der Leistungen vorzunehmen. Diese gleicht nicht einmal die Inflationsverluste aus.
({7})
Sie wissen das so gut wie ich und reden daran vorbei.
Die Leistungserhöhung reicht auf gar keinen Fall aus,
um das immer wieder postulierte Motto „ambulant vor
stationär“ umzusetzen. Was Sie stärken, sind wieder die
Strukturen in Einrichtungen, in denen die Menschen
mehr oder weniger verwahrt werden, in denen sie jedenfalls nicht selbstbestimmt leben. Die Selbstbestimmung
hat ihre Grenzen beim Dienstplan des Personals. Im
Zentrum stehen nicht die Bedürfnisse derjenigen, um die
es eigentlich geht, die Pflegebedürftigen. Das Schlimme
ist, dass Sie es ebenso gut wissen wie ich und es nicht
richtig ändern. Das ist das, was ich Ihnen wirklich vorwerfe.
Hinter der Nebelwand dieser Riesendiskussion über
die Pflegestützpunkte haben Sie geschickt versteckt,
dass es ein paar richtige Sauereien gibt. Jetzt gibt es nach
diesem Gesetz plötzlich Pflegekräfte; es gibt nicht Pflegefachkräfte, es gibt Pflegekräfte.
({8})
Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass das
das Einfallstor dafür sein wird, die sittenwidrigen Arbeitsbedingungen, die polnische Frauen in Deutschland
schon jetzt haben, zu legalisieren,
({9})
dass es in Zukunft legal und geradezu vom Gesetz gestützt sein wird, dass Frauen für drei Monate hierher
kommen und, getarnt als Haushaltshilfe, für 700 oder
800 Euro im Monat
({10})
- das ist doch jetzt schon so! - tätig sind, 24 Stunden am
Tag, und zwar nicht als Haushaltshilfe, sondern als Pflegekraft par excellence. Ich weiß, dass es viele Menschen
gibt, die momentan keine andere Möglichkeit haben,
ihre Pflegesituation zu verbessern. Aber das ist trotzdem
sittenwidrig, und ich möchte, dass die Menschen, die
diese Arbeit leisten, ordentlich bezahlt werden.
({11})
- Aber Sie machen es nicht.
Dann legen Sie einen Entschließungsantrag dazu vor!
Wenn wir dem zustimmten, hieße das nicht gleich, dass
er gut wäre. Er machte aber zumindest deutlich, dass Sie
wissen, dass Ihr Gesetz nicht nur zu kurz gesprungen ist,
sondern sogar in die falsche Richtung geht. Sie sagen
immerhin, dass Sie wissen, in welche Richtung man
springen müsste.
Erlauben Sie mir bitte noch ein Wort zur Finanzierung. Herr Lanfermann möchte immer, dass die Pflegeversicherung kapitalgedeckt ist. Jeder weiß, dass die
Pflegeversicherung so etwas wie die kleine Schwester
der gesetzlichen Krankenversicherung ist. Deshalb hätten wir bei dieser kleinen Schwester der großen GKV die
wunderbare Möglichkeit gehabt, über fünf Jahre einmal
auszuprobieren, wie eine Bürgerinnen- und Bürgerversicherung funktionieren würde. Dann hätten wir hier alle
Fehler, die sich beim Übergang in ein solches System
natürlich einschleichen, testen und korrigieren können.
Selbst Sie von der Union müssten eigentlich dafür sein.
Denn wenn sich wirklich herausstellen sollte, dass dieses
System nicht funktioniert, dann hätten Sie das auf diesem Wege bewiesen und es nicht nur aus ideologischen
Gründen behauptet. Lassen Sie uns diesen Weg doch
wirklich einmal gehen! Dieser Weg ist nicht zulasten der
Bürgerinnen und Bürger, die Hilfe brauchen, nicht zulasten der Menschen, die Hilfe anbieten, und auch nicht zulasten derjenigen, die das bezahlen.
Letzter Satz. Ich wundere mich, dass Sie sich eine Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen leisten, dass Sie aber, wenn sie ein Konzept für einen teilhabeorientierten Pflegebegriff auf den
Tisch legt, dieses sofort in den Papierkorb werfen. Pfui!
({12})
Nun erhält die Kollegin Elisabeth Scharfenberg,
Bündnis 90/Die Grünen, das Wort, der ich vor Beginn
ihrer Rede herzlich zu ihrem heutigen Geburtstag gratulieren möchte, verbunden mit allen guten Wünschen des
ganzen Hauses.
({0})
Vorab vielen Dank für die guten Wünsche; die kann
ich heute gut gebrauchen.
({0})
Herr Präsident! Frau Ministerin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir stehen heute am Ende eines
langen Gesetzgebungsverfahrens zu einer kleinen PfleElisabeth Scharfenberg
gereform. Die Große Koalition hat uns zu Beginn ihrer
gemeinsamen Leidenszeit weitreichende Versprechungen gemacht. Im Koalitionsvertrag von Union und SPD
ist die Rede von einem „Gesetz zur Sicherung einer
nachhaltigen und gerechten Finanzierung der Pflegeversicherung“. Dieses Gesetz sollte bis zum Sommer 2006
vorgelegt werden.
Wir haben jetzt Mitte März 2008, also fast zwei Jahre
später.
({1})
Wenn wir glauben, dass wir heute das uns angekündigte
große Gesetz der Pflegereform verabschieden, dann täuschen wir uns.
({2})
Denn das Pflege-Weiterentwicklungsgesetz enthält weder den versprochenen Finanzausgleich zwischen sozialer und privater Pflegeversicherung, noch macht es die
Pflegeversicherung auch nur ansatzweise nachhaltiger
oder gerechter.
({3})
Beschämend für die Große Koalition ist es, dass auch
in Ihrem Entschließungsantrag, der heute hier zur Abstimmung steht, jede Äußerung, wie es mit der Finanzierung der Pflegeversicherung weitergehen soll, fehlt nichts, keine einzige Aussage.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen von Union und
SPD, welche Schlüsse sollen wir denn daraus ziehen?
Ich denke, es gibt nur einen Schluss: Eine gemeinsame
nachhaltige Finanzreform ist in dieser politischen Konstellation einfach unmöglich.
({4})
Nicht einmal für eine gemeinsame Willensbekundung
reicht es aus. Diese nicht stattfindende Finanzreform
wird die Abgeordneten der nächsten Legislaturperiode
noch schön beschäftigen, wissen wir doch alle, dass die
Kolleginnen und Kollegen der Großen Koalition hier auf
Zeit und somit auf veränderte politische Mehrheiten
spielen.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir verabschieden
heute das Pflege-Weiterentwicklungsgesetz, ein Gesetz,
in das viele Menschen große Hoffnungen setzen. Auch
wenn das, was wir als Reform nun in den Händen halten,
weit hinter unseren Erwartungen zurückbleibt, ist für uns
Grüne dennoch klar: Diese Reform enthält durchaus
auch gute Seiten und Ansätze.
({6})
So begrüßen wir es etwa ausdrücklich, dass Einrichtungen künftig einmal pro Jahr und unangemeldet kontrolliert werden sollen. Wir begrüßen es auch, dass die
Prüfberichte künftig veröffentlicht werden sollen. Das
sind wichtige und absolut notwendige Schritte hin zu
mehr Transparenz und Qualität für die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen. Für uns Grüne ist auch klar,
dass die Pflegestützpunkte und Pflegeberater wie auch
die Pflegezeit im Grundsatz richtig sind. Ebenso ist aber
auch klar, dass die Umsetzung dieser Punkte schlecht gemacht und eben nicht im Sinne der Pflegebedürftigen
und ihrer Angehörigen ist.
({7})
Leider wurde hier die Große Koalition zur großen
Konfusion. Bei den Verhandlungen stand nämlich nicht
etwa die Frage, was die Betroffenen brauchen, um ein
möglichst selbstbestimmtes Leben auch bei Pflegebedürftigkeit führen zu können, im Vordergrund.
({8})
Ich möchte an dieser Stelle nochmals in unser aller Gedächtnis rufen, dass dieses Gesetz für pflegebedürftige
Menschen gemacht wird. Das rückt bei dieser Reform
etwas in die zweite Reihe.
({9})
Denn im Vordergrund stand wie so oft bei den Entscheidungen der Großen Koalition, das jeweils eigene politische Profil zu behalten und sich so schon jetzt für die
nächsten Wahlen gut aufzustellen.
Kompromisse weit und breit - auch bei den Pflegestützpunkten. Hier wird es nun besonders spannend.
Die Länder sollen nunmehr die Entscheidungshoheit
darüber haben, ob sie in ihrem Land solche Stützpunkte
haben wollen oder ob sie sie nicht haben wollen, und
wenn ja, dann sollen es die Kassen mal schön umsetzen.
Es ist vom Grundsatz her gut, wenn die Länder bei den
Stützpunkten stärker eingebunden werden. Aber dass
sich die Länder auf Kosten des Solidarsystems einen
schlanken Fuß machen können, das ist nicht in Ordnung.
({10})
Außerdem laufen wir - wie schon beim Heimrecht - Gefahr, dass es hier zu einer föderalen Zersplitterung kommen wird.
Es ist richtig und wichtig, vorhandene Hilfsangebote
zu bündeln und zu vernetzen, Bürokratie abzubauen und
doppelte Strukturen zu vermeiden. Aber - selbst Frau
Caspers-Merk äußerte sich dazu schon kritisch - nur
Rheinland-Pfalz bietet derzeit eine ausreichende, flächendeckende und damit wohnortnahe Beratungsstruktur.
({11})
Im Flächenland Baden-Württemberg zum Beispiel gibt
es lediglich 50 Beratungsstellen. Originalton Frau CaspersMerk - da bin ich ganz an ihrer Seite -: Es darf nicht
sein, dass eine gute Pflegeberatung vom Wohnort abhängig ist.
({12})
Frau Ministerin, mit der heutigen Verabschiedung des
Gesetzes können wir uns auch gleich von diesem hehren
Wunsch mit verabschieden. Es wird zukünftig vom
Wohnort abhängen, ob ich im Falle einer Pflegebedürftigkeit Zugang zu einem Stützpunkt habe oder nicht.
({13})
Auch beginnt schon jetzt das Hauen und Stechen. In
Nordrhein-Westfalen tun schon jetzt Ärzte kund, die
Pflegestützpunkte seien eine klare Deprofessionalisierung ärztlicher Tätigkeit.
({14})
Die Hausärzte dort sehen sich als Case- und Care-Manager
sowie Pflegestützpunkt in Personalunion. Ich kenne keinen Hausarzt, der zusätzlich als Pflegeberater diese umfassende Aufgabe, wie sie im Gesetz zu Recht vorgesehen ist, erfüllen könnte. Das bedingt allein schon der
Mangel an Zeit.
({15})
Mal schauen, was uns hier an Diskussionen noch ins
Haus stehen wird.
Auf Bundesebene können wir nun nichts mehr ändern, aber wir müssen alles daransetzen, auf Landesebene mitzugestalten.
Noch schlimmer ist allerdings, dass die neue Leistung
der Pflegeberatung weiterhin allein in der Hand der Kassen liegen wird. Liebe Kolleginnen und Kollegen der
Koalition, Sie können es noch so oft beteuern: Fakt ist,
diese Beratung wird nicht unabhängig sein. Unabhängigkeit aber wäre die wichtigste Voraussetzung, damit die
Betroffenen wirkliches Vertrauen zu denen aufbauen
können, die ihnen helfen sollen. Es handelt sich hier um
eine Lebenssituation, in der die Betroffenen tiefe Einblicke in ihre Privatsphäre, ihr familiäres und auch finanzielles Umfeld geben.
Beim Thema Pflegezeit haben sich zwischen Union
und SPD tiefe Gräben aufgetan. Die Pflegezeit, die heute
beschlossen wird, wird ohne reale Bedeutung bleiben.
Einen Lohnersatz wird es bei dieser Pflegezeit nicht geben. Die Pflegezeit kann nur in Betrieben mit mehr als
15 Mitarbeitern in Anspruch genommen werden, und sie
bleibt auf nahe Angehörige beschränkt. Ich frage mich:
Wer bleibt da eigentlich noch übrig? - Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist ein Feigenblattprogramm für
Besserverdienende.
({16})
Denn wer soll es sich leisten können, mal eben sechs
Monate aus dem Beruf auszusteigen? - Ich prophezeie
Ihnen, bereits nach zwei Wochen liegt ein Berg von
Rechnungen auf dem Küchentisch; denn das ganz normale Leben mit allen finanziellen Verpflichtungen, die
die Angehörigen haben, geht weiter. So geht es eben
nicht. Ihr Modell der Pflegezeit geht an jeglichem realen
Leben vorbei.
({17})
Lassen Sie mich noch einmal einen Blick in den Entschließungsantrag der Koalition werfen. Dort wird mit
knappen Worten darauf verwiesen, dass die Überarbeitung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs natürlich sehr
wichtig sei, aber dass erst einmal unterschiedliche Modelle erprobt werden müssten. Im Klartext heißt das für
uns: Darauf können wir lange warten.
Weiter steht da, man würde gerne das Persönliche
Budget für Menschen mit Behinderungen so weiterentwickeln, dass sie auch Pflegeleistungen als Budget erhalten können. Aber man müsste dazu erst dieses und jenes prüfen und modellhaft erproben. Im Klartext: Auch
darauf können wir lange warten.
Zu guter Letzt lese ich noch den Appell an alle Akteure in der Pflege, sie mögen doch die Neuregelungen
zur Qualitätssicherung auch bitte umsetzen. Entschuldigung, aber haben Sie so wenig Vertrauen in Ihre eigenen
Gesetze, dass Sie um deren Einhaltung bitten müssen?
({18})
Lassen Sie mich abschließend sagen: Diese Reform
trägt den Titel „Weiterentwicklungsgesetz“. Inhalt und
Titel passen aber nicht zusammen. Thema leider verfehlt! Es ist nun einmal so: Ohne Mut zur Veränderung
kann es keine Weiterentwicklung geben. Der Mut hat die
Koalition aber auf halber Strecke verlassen. Es gibt viele
gute Ansätze, aber die Umsetzung erfolgt leider sehr enttäuschend. Deshalb verdient diese kleine und für die betroffenen Menschen enttäuschende Reform diesen großen Namen nicht.
Vielen Dank.
({19})
Elke Ferner ist die nächste Rednerin für die Fraktion
der SPD.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Ich
möchte zuallererst den vielen pflegenden Angehörigen
danken, die unter wirklich schwierigen Bedingungen
Tag und Nacht, häufig auch neben ihrem Beruf und der
Verantwortung für die eigene Familie, für ihre pflegebedürftigen Angehörigen da sind.
({0})
Zwei Drittel der Pflegebedürftigen werden in der Häuslichkeit gepflegt. Das zeigt, wie die Wünsche der Pflegebedürftigen aussehen.
Ich möchte aber auch dem Personal in den ambulanten und stationären Einrichtungen danken. Sie verrichten
ihre Arbeit sehr verantwortungsvoll. In vielen Fällen
werden sie leider schlecht bezahlt, aber trotzdem arbeiten sie mit viel Engagement, Einfühlungsvermögen, Mitgefühl und Mitmenschlichkeit. Sie sind für die pflegebedürftigen Menschen da. Es gibt nicht sehr viele, die dazu
bereit sind, eine solche nicht nur körperlich, sondern
auch psychisch anstrengende Arbeit zu leisten. Dafür
sollten wir an dieser Stelle noch einmal Dankeschön sagen.
({1})
Die 13 Jahre Pflegeversicherung sind eine Erfolgsgeschichte. Ulla Schmidt hat zu Beginn ja schon einiges
dazu gesagt. Ich möchte noch einmal deutlich machen,
dass mehr als 2 Millionen Pflegebedürftige jeden Monat
pünktlich ihre Leistungen erhalten und mittlerweile fast
800 000 Menschen in der Pflege arbeiten und eine bezahlte - wenn auch nicht immer gut bezahlte - Beschäftigung in diesem Bereich haben. Ich glaube, dass wir
darauf in Zukunft ein weiteres Augenmerk richten sollten.
Wir werden mit dieser Pflegereform die häusliche
Pflege mit besseren Leistungen und besseren Möglichkeiten zur Entlastung der pflegenden Angehörigen stärken. Der besondere Betreuungsbedarf für Menschen mit
eingeschränkter Alltagskompetenz wird durch zusätzliche Leistungen anerkannt.
Bei der Rede von Frau Widmann-Mauz ist mir sofort
die Eingangsbemerkung von Ulla Schmidt eingefallen:
Was war zuerst da, die Henne oder das Ei? Wer wollte
etwas haben, und wer wollte das nicht? - Zum Schluss
ist es dann ja oft so, dass diejenigen, die etwas zuerst
nicht haben wollten, in erster Reihe stehen, wenn es darum geht, das Lob dafür einzuheimsen. Frau Reimann
wird nachher noch näher darauf eingehen.
({2})
Wir stärken das Prinzip Reha vor Pflege. Wir verbessern die Schnittstellen zwischen Krankenhäusern, Rehaeinrichtungen und der Pflege. Wir führen eine Pflegezeit
ein, die für nahe Angehörige bis zu sechs Monate betragen kann. Frau Scharfenberg, Sie hätten in Ihrem Redebeitrag fairerweise hinzufügen können, dass der Begriff
der nahen Angehörigen hier nicht ausschließlich Ehepartner und direkte Verwandte umfasst, sondern das der
Begriff schon zeitgemäß gefasst ist. Ich muss sagen: Die
Voraussetzungen für die Pflegezeit sind keine anderen
als beispielsweise die bei der Elternzeit. Hier hat Ihre
Fraktion zugestimmt.
Man kann darüber diskutieren, ob die Pflege von
Angehörigen möglicherweise eher wieder die Frauen
trifft. Die Diskussion, die wir heute aufgrund der aktuellen Lage führen, sieht nun einmal so aus, dass insbesondere die Töchter oder Schwiegertöchter vor der Frage
stehen: Muss ich meinen Angehörigen in eine stationäre
Einrichtung geben, oder höre ich mit meinem Job komplett auf, um die häusliche Pflege zu ermöglichen? Wir
haben eine Pflegezeit mit voller sozialer Absicherung
und mit der Garantie, in den alten Beruf zurückzukehren,
beschlossen. Ich glaube, das sollte man anerkennen. Das
ist sicherlich nicht das Optimum, aber eine deutliche
Verbesserung gegenüber dem Status quo.
({3})
Wir hätten uns gewünscht, dass die Union unserem
Vorschlag, den wir auch im Gesetzgebungsverfahren
eingebracht haben, zugestimmt hätte, eine kurzfristige
bezahlte Freistellung einzuführen, damit eben die Angehörigen dann, wenn ein Pflegefall zu erwarten ist, die
Zeit haben, um die notwendigen Maßnahmen zu veranlassen. Wir alle wissen, dass in dieser Situation viele Angehörige das Gefühl haben, es werde nichts mehr so
sein, wie es war. Sie wissen eben nicht, wo sie die Unterstützung bekommen, die sie brauchen, damit sie ihren
Angehörigen die Pflege zukommen lassen können, die
sie sich selber wünschen.
Hier werden wir nicht nachlassen. Wir werden diesen
Punkt 2009 noch einmal aufgreifen. Es ist zwar jetzt eine
Chance vertan worden. Aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben.
({4})
Wir wissen um die Sorgen und Ängste der Menschen in
einer solch schwierigen Situation. Ich weiß, dass dieser
Vorschlag in der Bevölkerung große Unterstützung erfährt.
Uns ist es nicht gelungen, für das Problem der dauerhaften Finanzierung eine Lösung zu finden. Das spiegelt
im Prinzip die Diskussion wider, die wir auch bei der
Gesundheitsreform geführt haben. Wir stehen nach wie
vor für eine Bürgerversicherung Pflege, weil wir der
Auffassung sind, dass nur so eine tragfähige und solidarische Finanzierung dauerhaft gesichert sein kann.
({5})
Ich bedauere es sehr, dass die Union von der Zusage, die
sie im Koalitionsvertrag gegeben hat, leider wieder abgerückt ist.
({6})
- Nein, im Koalitionsvertrag steht nichts von einem
Prüfauftrag. Frau Widmann-Mauz, manchmal hilft es, zu
lesen.
({7})
- Im Koalitionsvertrag steht, dass ein Risikoausgleich
zwischen privater und gesetzlicher Pflegeversicherung
erfolgen soll.
({8})
Das haben Sie jetzt nicht mehr gewollt. Wir können das
nicht erzwingen. Aber man darf zumindest daran erinnern, was Sie vor Regierungsbeginn zugesagt haben und
was Sie in der Regierungszeit in der Koalition bereit
sind, umzusetzen.
({9})
Mit dieser Reform konnten wir das Problem der ungerechten Verteilung der Risiken nicht lösen. Die soziale
Pflegeversicherung muss pro 100 Versicherte Leistungen für 2,8 Pflegebedürftige finanzieren, während die
private Pflegeversicherung Leistungen für nur 1,3 Pflegebedürftige bereitstellen muss. Daran sieht man, dass
die Risiken unterschiedlich verteilt sind. Da es sich hier
um einen Versicherungszweig handelt, der die absolut
identischen Leistungen finanziert, macht es keinen Sinn,
die Risiken so unterschiedlich zu verteilen.
({10})
Ein weiterer Punkt, den ich noch ansprechen möchte,
ist die Verbesserung der Pflegequalität. Auch da, Frau
Widmann-Mauz, sollte man deutlich machen, dass dies
eine gemeinsame Aktion war. Sie haben den Vorschlag
eingebracht, aber auch wir haben diesen Vorschlag gemacht. Beide Vorschläge haben sich getroffen. Ich bin
froh darüber, dass ab 2011 in den Pflegeeinrichtungen
jährlich und grundsätzlich unangemeldet Regelprüfungen stattfinden.
({11})
Da, wo der Medizinische Dienst Mängel erkennt, wird
nicht wie heute ein Prüfbericht vorgelegt, den keiner
versteht, sondern dieser Bericht muss transparent sein
und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden sowie in verständlicher Form abgefasst sein. Vor allen Dingen ist neu, dass der Medizinische Dienst den Einrichtungen Empfehlungen geben wird, wie das, was falsch
gelaufen ist, verbessert werden kann, damit bei der
nächsten Prüfung die Qualität wieder in Ordnung ist.
Es gehören aber auch die Weiterentwicklung der Expertenstandards und eine gerechte Bezahlung des Personals dazu. Ich bin sehr froh, dass bereits im Regierungsentwurf als Voraussetzung dafür, dass zwischen Kassen
und Einrichtungen überhaupt Verträge geschlossen werden können, die ortsübliche Bezahlung vorgesehen war.
Eben ist gesagt worden, Pflegestützpunkte brächten
nichts. Herr Seifert, Frau Scharfenberg, man kann ja darüber streiten, wie diese nachher ausgestaltet werden sollen. Aber eines ist doch klar: Wenn ich in einer extrem
schwierigen Situation, in der teilweise sehr schnell entschieden werden muss, nicht den völligen Überblick darüber habe, welche Hilfsangebote es gibt und wie ich die
Häuslichkeit erhalten kann - auch wenn die Wohnung
im Moment vielleicht noch nicht so umgebaut ist, wie es
sein müsste -, dann brauche ich eine umfassende und
unabhängige Beratung.
Jetzt kann man darüber streiten, wer unabhängig ist.
Wirklich unabhängig sind auch die Kommunen nicht;
denn spätestens dann, wenn SGB-XII-Leistungen gewährt werden sollen, können auch die Kommunen nicht
mehr ganz unabhängig sein. Aber da wir in Zukunft alle
Akteure, alle Leistungsträger unter einem Dach haben
- sie erstellen dann gemeinsam einen Hilfeplan und
schauen nach einem vernünftigen Ausgleich; es geht um
maßgeschneiderte Hilfepläne für die Betroffenen -, wird
meiner Meinung nach die Pflege besser organisiert und
mehr an den Interessen und Bedürfnissen der Menschen
- auch an dem Interesse an gesellschaftlicher Teilhabe orientiert sein, als das heute der Fall ist.
({12})
Ich bin der festen Überzeugung, dass diese Pflegereform ein großer Erfolg für die Pflegebedürftigen und
ihre Angehörigen ist. Wir lassen uns das nicht kleinreden, auch wenn man sich an der einen oder anderen
Stelle vielleicht noch mehr Leistungen vorstellen kann.
Ich würde mir wünschen, dass auch die Dinge, die vor
dem Hintergrund einer älter werdenden Gesellschaft jenseits der Pflegeversicherung notwendig sind, auf der
kommunalen Ebene und der Landesebene befördert werden: dass Wohnumfelder geschaffen werden, die es ermöglichen, dass die Häuslichkeit weiterhin bestehen
bleibt, dass eine soziale Infrastruktur geschaffen wird,
die die Menschen darin unterstützt, in ihrer gewohnten
Umgebung bleiben zu können und gleichzeitig gesellschaftlich teilhaben zu können, dass sie im Alter menschenwürdig und liebevoll gepflegt werden und dass
auch ein Sterben in Würde möglich ist. In diesem Sinne
wird die Pflegereform ein großer Erfolg sein.
Auch ich möchte mich bei den Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern des Ministeriums und der Fraktionen bedanken, die uns darin unterstützt haben, diese Reform
auf den Weg zu bringen.
Vielen Dank.
({13})
Daniel Bahr erhält nun das Wort für die FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Pflegereform ist erneut ein Beispiel dafür, dass eine
Große Koalition eben nicht die großen Probleme anpackt. Wie schon bei der Gesundheitsreform ist es Ihnen
auch mit dieser Pflegereform nicht gelungen, die Probleme, die es vor dem Hintergrund einer alternden Bevölkerung bei der Finanzierung unserer sozialen Sicherungssysteme gibt, wirklich anzupacken. Im Gegenteil:
Wie bei der Gesundheitsreform schieben Sie bei der
Pflegereform erneut die Lasten auf kommende Generationen.
Daniel Bahr ({0})
({1})
Der beste Beleg dafür, dass Sie schlechte Gesetze machen, ist die Pflegereform; denn in dieser Pflegereform
müssen Sie die Dinge, die Sie in der Gesundheitsreform
vereinbart haben, schon wieder korrigieren. Ich möchte
etwas ansprechen, was bisher noch keine Rolle spielte,
was aber in diesem Gesetzentwurf enthalten ist. Sie haben in der Gesundheitsreform vorgesehen, dass Ärzte
bei selbstverschuldeten Krankheiten Behandlungen
den Krankenkassen melden sollen; das ist der sogenannte Petzparagraf. Dieser Petzparagraf muss nun noch
einmal in der Pflegereform geregelt werden. Er erschüttert das so schützenswerte Arzt-Patienten-Verhältnis.
Wir von der FDP-Fraktion, wir Liberalen im Deutschen Bundestag, lehnen diesen Petzparagrafen ab, weil
wir glauben, dass er sich gegen die Grundrechte von Patienten und Ärzten richtet. Dies ist ein Angriff auf die
ärztliche Schweigepflicht und das verfassungsrechtlich
geschützte Patientengeheimnis.
({2})
Das so wichtige Vertrauensverhältnis zwischen Ärzten
und Patienten wird durch einen solchen Petzparagrafen
untergraben, wenn die Ärzte quasi zu Meldern für die
Krankenkassen werden. Ich glaube auch nicht, dass dies
wirklich denen dient, die sich als Jugendliche vielleicht
durch ein Piercing eine Infektion zugezogen haben und
die dann Angst haben, zum Arzt zu gehen und sich behandeln zu lassen, weil sie die Konsequenzen befürchten, wenn der Arzt dies an die Krankenkasse meldet. Wir
haben daher einen praktikablen Vorschlag vorgelegt, wie
der Arzt etwas melden soll, wenn der Patient eingewilligt hat. Die entscheidende Voraussetzung muss sein,
dass der Patient der Meldung an die Krankenkasse zustimmt. Wenn der Patient nicht einwilligt, kann der Arzt
die Auskunft gegenüber der gesetzlichen Krankenversicherung verweigern. Dann müsste das privat behandelt,
das heißt, privat bezahlt werden. Das ist ein praktikabler
Weg. Damit schützen wir das Arzt-Patienten-Verhältnis.
({3})
Herr Kollege Bahr, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Spahn?
Ja, die gestatte ich.
Bitte.
Herr Kollege Bahr, können Sie mir erklären, warum
die FDP an dieser Stelle die Meldepflicht für Ärzte ablehnt, während sie in einem Antrag zur Genitalverstümmelung, den wir in dieser Woche ebenfalls beraten haben, die Bundesregierung bittet, zu prüfen, ob eine
Meldepflicht für Ärztinnen und Ärzte eingeführt werden
kann? Wie kommt diese unterschiedliche Bewertung
hinsichtlich der Abwägung von Schweige- und Meldepflicht zustande?
({0})
Lieber Herr Kollege Spahn, wir haben schon im Ausschuss ausführlich darüber diskutiert. Ich habe Ihnen den
Unterschied schon erklärt. Wenn Sie den Antrag richtig
lesen, sehen Sie, dass wir lediglich eine Prüfung beantragt haben und außerdem selbst erhebliche Bedenken
hinsichtlich einer Meldepflicht haben.
({0})
Zwischen diesen beiden Sachverhalten besteht ein erheblicher Unterschied: Bei der Genitalverstümmelung
geht es möglicherweise um ein Verbrechen an einer Person. Es geht darum, die Person davor zu schützen. Bei
Ihrem Vorschlag geht es dagegen um den Schutz der Solidargemeinschaft - das ist ein berechtigtes Anliegen vor Kosten, die sie nicht zu verantworten hat. Eine Meldepflicht würde hier das wichtige Arzt-Patienten-Verhältnis erschüttern. Deshalb kann man diese beiden
Sachverhalte überhaupt nicht miteinander vergleichen.
({1})
Ich will noch etwas zur Pflegereform sagen. Die Kollegin Widmann-Mauz hat gesagt, dass die Einführung
der Pflegeversicherung 1994 ein Meilenstein war.
({2})
Die Pflegeversicherung, deren Einführung von SchwarzGelb und der SPD getragen wurde, hat Strukturen geschaffen, die den Pflegebedürftigen zugutekommen. Wir
wollen gar nicht in Abrede stellen, dass damals etwas
auf den Weg gebracht worden ist. Wir müssen heute aber
erkennen - das wussten wir übrigens schon 1994 -, dass
die Finanzierung der Pflegeversicherung über eine Umlage - über die laufenden Einnahmen werden die laufenden Ausgaben gedeckt - ein Riesenfehler war.
({3})
Das höre ich sonst auch von Unionskollegen. Wir hätten
jetzt die Zeit gehabt, diesen Fehler von 1994 zu korrigieren, anstatt ihn fortbestehen zu lassen, was Sie jetzt tun.
Die Einführung der Pflegeversicherung war, was die
Finanzierung betrifft, kein Meilenstein; im Gegenteil.
({4})
Diesen Fehler setzen Sie fort: Sie weiten die Leistungen aus, zum Beispiel auf den Bereich der Demenzerkrankungen. Sie machen eine Leistungsdynamisierung. All das ist nötig; ich will das gar nicht in Abrede
stellen.
({5})
Daniel Bahr ({6})
Da Sie die Finanzierungsfrage nicht gelöst haben, vergrößern Sie das Problem. Die Erhöhung der Beiträge um
0,25 Prozentpunkte wird allenfalls bis 2012 ausreichen.
Das hat Ihr Kollege, Herr Zöller, selbst kritisiert. Die
Finanzierungsprobleme werden durch Ihre Reform nicht
gelöst, sondern der kommenden Generation aufgelastet
und damit weiter verschärft.
In Richtung SPD möchte ich sagen: Man muss den
Hut davor ziehen, dass Sie in der rot-grünen Koalition
im Bereich der Altersversorgung einen historischen
Schritt vollzogen haben. Der damalige Sozialminister,
Walter Riester, hat den Bürgerinnen und Bürgern signalisiert, dass sie sich auf das umlagefinanzierte Rentensystem nicht verlassen können, weil wir eine alternde Bevölkerung haben, weil wir immer mehr Ältere und
immer weniger Jüngere haben. Das Gleiche gilt doch
aber auch für die Pflege: Wir wissen, dass sich die Zahl
der Pflegebedürftigen verdreifachen wird und die Zahl
der jungen Beitragszahler auf zwei Drittel sinken wird.
Das heißt, dass wir in dem Umlagesystem „Pflege“ die
gleichen Probleme wie in dem Umlagesystem „Rente“
haben werden. Wenn Sie das, was Sie mit der RiesterRente gemacht haben, konsequenterweise auch bei der
Pflege gemacht hätten, hätten wir den Hut davor gezogen; denn die Riester-Rente war eine historische Leistung. Damit haben Sie eine Botschaft an die Bevölkerung gesendet. Jetzt hingegen täuschen Sie die
Bevölkerung, weil Sie ihr suggerieren, die Pflege sei in
Zukunft sicher. In Wahrheit kommen gewaltige Probleme auf uns zu.
({7})
Frau Ministerin Schmidt, deswegen werden Sie in den
Geschichtsbüchern gemeinsam mit Herrn Blüm stehen.
({8})
Sie und Ihr Ministerium haben zwar genauso wie Herr
Blüm die Probleme, die sich aus einer alternden Bevölkerung ergeben, erkannt, aber trotzdem die Augen davor
verschlossen. Dieses Problem wird uns in einigen Jahren
einholen,
({9})
und deswegen werden Sie, anstatt mit Herrn Riester in
einem Kapitel zu stehen, in einem Kapitel mit Herrn
Blüm stehen.
Frau Ferner und Frau Scharfenberg, Sie haben so viel
dazu gesagt. Ich frage mich: Was haben Sie eigentlich in
den sieben Jahren rot-grüner Regierung gemacht? Frau
Ministerin Schmidt ist seit 2001 Gesundheitsministerin.
Auch sie hatte sieben Jahre Zeit, um etwas auf den Weg
zu bringen, legt aber erst jetzt einen schwachen Vorschlag zur Reform der Pflegeversicherung vor.
Durch die Bürgerversicherung, wie Sie sie nennen,
letztlich also durch die „Einheitskasse Pflege“, können
die Probleme der alternden Bevölkerung nicht gelöst
werden.
({10})
Im Gegenteil, dadurch werden die bestehenden Probleme noch verschärft. Als ob durch 10 Prozent mehr in
einem System, das bereits heute Defizite produziert, in
ein paar Jahren die Probleme von 100 Prozent der Bevölkerung gelöst werden könnten! Das kann doch wirklich niemand glauben.
({11})
Wir haben erlebt, dass in der privaten Pflegeversicherung als Vorsorgemaßnahme im Hinblick auf die Probleme der alternden Bevölkerung mittlerweile Altersrückstellungen in Höhe von 16 Milliarden Euro
aufgebaut wurden. Gleichzeitig wurde der Beitragssatz
zur umlagefinanzierten Pflegeversicherung erhöht. Dieser Beitragssatz wird übrigens noch weiter steigen. Ein
Defizit jagt das andere.
({12})
Die Probleme der alternden Bevölkerung können
durch Einführung einer „Einheitskasse Pflege“, die die
Linke hier im Parlament vorschlägt, nicht gelöst werden.
Diese Probleme können nur durch einen Systemwechsel
zur Kapitaldeckung, den die FDP vorschlägt, gelöst werden.
Herzlichen Dank.
({13})
Das wäre ja zu schön gewesen, aber Zwischenfragen
kann ich nach Ablauf der Redezeit aus hoffentlich jedermann nachvollziehbaren Gründen nur schwerlich zulassen.
({0})
- Ja. Auch ich bin in einem leicht depressiven Zustand.
Da müssen wir gemeinsam durch.
Nun hat die Kollegin Maria Eichhorn für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
({1})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Reform der sozialen Pflegeversicherung ist eine gute
Botschaft für Millionen von Pflegebedürftigen und ihre
Angehörigen in diesem Land. Mit den beschlossenen
Verbesserungen des Leistungsspektrums erfüllt die
Große Koalition eine zentrale Zusage. Die Leistungsfähigkeit der Pflegeversicherung wird erhalten und weiterMaria Eichhorn
entwickelt. Die beschlossenen Leistungsverbesserungen
bedeuten vor allem eine Qualitätssteigerung im Bereich
der Pflege. Mit unserem heutigen Beschluss wird einem
Anliegen Rechnung getragen, das uns schon sehr lange
bewegt: der Einbeziehung demenziell Erkrankter.
({0})
Sie hat neben den finanziellen Aspekten auch eine nicht
zu unterschätzende gesellschaftspolitische Dimension.
Bisher löste die Diagnose Demenz zumeist ein unangebrachtes Schamgefühl und Schweigen aus. Durch die
Pflegereform wird nunmehr ein Beitrag dazu geleistet,
das Phänomen Demenz weiter zu enttabuisieren. Frau
Ferner, ich bin sehr froh darüber, dass es uns gelungen
ist, mit unseren Änderungsanträgen dafür zu sorgen,
dass Demenzkranke nicht nur im ambulanten Bereich,
sondern auch im stationären Bereich einbezogen und unterstützt werden.
({1})
Das ist eine für alle Beteiligten besonders gute Botschaft.
Die Leistungsverbesserungen werden vor allem Frauen
zugutekommen. 80 Prozent der pflegenden Angehörigen
sind Töchter, Schwiegertöchter, Mütter oder dem Pflegebedürftigen sonst nahestehende Frauen. Ihnen und allen
professionellen sowie ehrenamtlichen Helferinnen und
Helfern in den ambulanten und stationären Pflegeeinrichtungen gilt unser Dank.
({2})
Ihre gesellschaftlich oftmals viel zu gering erachtete,
aber aufopferungsvolle Arbeit verdient unseren vollen
Respekt und unsere praktische Unterstützung.
({3})
Frau Kollegin Eichhorn, nun möchte der Kollege
Spieth gerne Ihre Redezeit durch eine Zwischenfrage
verlängern.
({0})
Bitte schön.
Ich bedanke mich, dass Sie mir die Möglichkeit geben, eine Frage zu stellen.
Frau Eichhorn, Sie haben sich gerade bei den in den
Pflegeeinrichtungen Tätigen bedankt; das unterstütze ich
ausdrücklich. Bei aller Wertschätzung muss ich Sie aber
fragen: Warum hat die Große Koalition darauf verzichtet, die Leistungsbeträge, die in den Pflegestufen I und II
im stationären Bereich gewährt werden, zu erhöhen?
Sie werden frühestens - ich betone: frühestens - im
Jahre 2015 erhöht; jedenfalls steht das so im Gesetz.
Halten Sie das angesichts Ihrer Dankesworte wirklich
für angemessen? Denn unter dem Strich haben davon die
im stationären Bereich Beschäftigten und auch die zu
Pflegenden nichts.
({0})
Herr Kollege Spieth, Sie wissen genau, dass diese Reform der Pflegeversicherung unter dem Motto „ambulant
vor stationär“ steht.
({0})
Wir wollten zunächst einmal und in erster Linie denjenigen, die im ambulanten Bereich tätig sind, helfen. Das
heißt allerdings nicht, dass wir durch weitere Maßnahmen zur Qualitätsverbesserung und Entbürokratisierung
nicht auch im stationären Bereich erhebliche Anstrengungen unternehmen, die dazu beitragen, dass die Pflegekräfte entlastet werden.
({1})
In diesem Zusammenhang verweise ich auf zwei
Neuerungen: Zur weiteren Stärkung der häuslichen
Pflege haben Pflegekräfte in Zukunft bereits nach sechs
Monaten Anspruch auf Erholungsurlaub. Bisher betrug
die Wartezeit für die erstmalige Inanspruchnahme einer
Ersatzpflegekraft doppelt so lange, nämlich zwölf
Monate. Das ist eine echte Hilfe.
Künftig werden pflegenden Angehörigen auch in der
Urlaubszeit Rentenversicherungsbeiträge gutgeschrieben.
({2})
Diese Regelung kommt vor allem denjenigen zugute, die
Angehörige über einen langen Zeitraum pflegen. Beide
Neuerungen sind Ausdruck unserer Wertschätzung der
Pflegepersonen.
Die Reform, Herr Spieth, wird den Grundsatz „ambulant vor stationär“ stärken.
({3})
Damit entsprechen wir dem Bedürfnis der Pflegebedürftigen, so lange wie möglich in ihrer gewohnten Umgebung, im Kreis ihrer Verwandten und Freunde zu bleiben. Auch in diesem Zusammenhang nur ein Beispiel:
Die in den Schlussberatungen vereinbarte Erhöhung der
Fördermittel für alternative Wohnformen sowie für ambulante und teilstationäre Hausgemeinschaften leistet
einen wichtigen Beitrag zur Weiterentwicklung der Versorgungsstrukturen. Wenn sich durch passgenaue
niedrigschwellige Betreuungsangebote die Verlagerung
ins Pflegeheim vermeiden lässt, umso besser!
Die Reform verbessert auch die Voraussetzungen für
Prävention und Rehabilitation in der Pflege. Bereits
durch die Gesundheitsreform wurde mit der Rehabilitation auch die geriatrische Rehabilitation zur Pflichtleis16000
tung der Krankenkassen. Künftig drohen Sanktionen,
wenn die Krankenkasse nicht innerhalb einer gewissen
Frist eine notwendige Rehabilitationsmaßnahme genehmigt und durchführen lässt. Der Betrag, den die Krankenkasse in diesem Fall an die Pflegekasse zu überweisen hat, wurde im Vergleich zum früheren Entwurf
verdoppelt. Dies verbessert im Interesse der rehabedürftigen Patienten die Wirksamkeit der Regelung.
({4})
Mit der Pflegereform gehen wir einen Schritt weiter.
Die stationären Pflegeeinrichtungen bekommen künftig
eine Bonuszahlung, wenn sie mit aktivierender Pflege
und Reha eine Verbesserung des Gesundheitszustands
des Pflegebedürftigen erzielen.
In den meisten Heimen ist eine gute Pflege selbstverständlich leisten die Pflegekräfte hervorragende Arbeit.
In der Vergangenheit haben jedoch Meldungen über
schlechte Zustände in Pflegeheimen zu erheblicher Verunsicherung geführt. Die Menschen müssen sich auf die
Qualität der Pflegeleistungen in den Heimen verlassen
können. Deshalb verkürzen wir die vorgegebenen Intervalle für die Qualitätssicherungsprüfung durch die
Medizinischen Dienste der Krankenkassen. Es war vorgesehen, Qualitätsprüfungen alle drei Jahre und nach
vorheriger Anmeldung durchzuführen. Wir haben nun
beschlossen: Heime werden künftig jährlich und in der
Regel unangemeldet geprüft. Die Prüfung - das ist mir
ebenso wichtig - soll sich künftig auf den Zustand der
Pflegebedürftigen konzentrieren, weniger auf die Dokumentations- und Aktenlage.
({5})
Im Vordergrund der Prüfung muss die Ergebnisqualität
stehen; die Prozess- und Strukturqualität ist nachrangig.
Wir wollen die Situation der Pflegebedürftigen im Betriebsalltag der Heime in den Blick nehmen.
Die intensive Diskussion zwischen den Koalitionsfraktionen über die Frage der Pflegeberatung hat sich
aus unserer Sicht gelohnt.
({6})
Wenn nunmehr die Länder entscheiden, ob sie Pflegestützpunkte einrichten, so berücksichtigt dies, dass die
vorhandenen Beratungsstrukturen bundesweit höchst unterschiedlich sind.
({7})
Dort, wo bereits heute auf bewährte Beratungsstrukturen
zurückgegriffen werden kann, sind Pflegestützpunkte
entbehrlich.
({8})
Dies ist mir von den Fachleuten vor Ort immer wieder
bestätigt worden.
({9})
Es gibt bereits heute viele kirchliche, freigemeinnützige und kommunale Einrichtungen, in denen engagiert
und kompetent beraten wird, und zwar - das ist besonders wichtig - in Kenntnis der örtlichen Gegebenheiten.
({10})
Insbesondere denjenigen, die sich ehrenamtlich engagieren, gilt unser besonders herzlicher Dank.
({11})
Eine Daueraufgabe bleibt die von den Pflegekräften
und Heimleitungen immer wieder nachdrücklich geforderte Entbürokratisierung in der Pflege. Die Pflegedokumentation ist zwar eine wichtige Voraussetzung für
das bestmögliche Wohlbefinden unserer Pflegebedürftigen; der zeitliche und inhaltliche Aufwand dieser Dokumentation muss aber mit Augenmaß auf das Sinnvolle
und Notwendige begrenzt werden. Unnötige bürokratische Anforderungen, die Zeit für die Pflege rauben, sollten gestrichen werden. Notwendig sind also eine zielgenauere Koordination behördlicher Kontrollen, eine
Reduzierung unnötiger Anzeigepflichten und eine Standardisierung der Pflegedokumentation. Die Bestimmungen sollten sich darauf beschränken, dem Wohl der Bewohnerinnen und Bewohner zu dienen.
Die Familienpolitiker der CDU/CSU haben bereits in
der letzten Legislaturperiode einen Antrag vorgelegt und
Vorschläge zum Abbau der Bürokratie in Heimen formuliert. Dass es sich lohnt, in diesem Bereich etwas zu tun,
zeigt das bayerische Projekt „Entbürokratisierung der
Pflegedokumentation“, mit dem es gelungen ist, die Bürokratielasten in Teilbereichen um bis zu 50 Prozent zu
reduzieren. Das bedeutet nicht nur Einsparungen zugunsten von echten Pflegeleistungen, sondern vor allem,
dass die bislang für eine überflüssige Bürokratie verschwendete Zeit endlich für die Pflege und Betreuung
unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger aufgebracht werden kann. Das ist ja dringend notwendig ist, denn sie haben mehr Fürsorge und Zuwendung verdient.
Ich bedanke mich.
({12})
Dr. Martina Bunge ist die nächste Rednerin für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Im Koalitionsvertrag haben Sie die Pflegeversicherung
als zentralen Baustein der sozialen Sicherungssysteme
bezeichnet, der den Herausforderungen der Zukunft gerecht werden muss. Was Sie uns heute vorstellen, ist eine
zentrale Baustelle. Dabei ist eine grundlegende Reform
der Pflegeversicherung 15 Jahre nach ihrer Einführung
überfällig.
({0})
In dieser grundlegenden Kritik stimmen wir mit der FDP
überein, Kollege Lanfermann. Wir stellen uns allerdings
eine völlig andere Zielrichtung vor.
({1})
Sie versuchen wieder einmal die Quadratur des Kreises. Dass das schief gehen muss, ist klar. Mit einem geringen finanziellen Mehraufwand wollen Sie große Versprechungen umsetzen.
({2})
Ja, Sie wollen die Leistungssätze anheben, aber die
vorgesehenen Anhebungen sind völlig unzureichend. Einige Leistungen werden minimal angehoben, andere gar
nicht. In keinem Fall wird der Realwertverlust ausgeglichen. Insofern gibt es keine Verbesserung gegenüber der
Startposition Mitte der 90er-Jahre.
({3})
Ja, Sie kürzen zwar nicht die Leistungen für die
Pflegestufen I und II in den Pflegeheimen, aber dass Sie
das als Erfolg feiern, muss angesichts der erforderlichen
stärkeren Qualitätssicherung in den Heimen wie Hohn
klingen.
({4})
Ja, Sie wollen die Leistungssätze dynamisieren, aber
erst ab 2015.
({5})
Bei einer durchschnittlichen Pflegedauer von acht bis
zehn Jahren haben die derzeit Pflegebedürftigen und deren Helferinnen und Helfer nichts davon.
Ja, Sie wollen die Leistungen für Menschen mit eingeschränkter Alltagskompetenz von bisher 460 auf bis
zu 2 400 Euro jährlich erhöhen. Aber das ist viel zu gering; denn trotz Verfünffachung des Höchstbetrages bedeutet das rechnerisch nur 6,57 Euro pro Tag, für viele
nur die Hälfte, für manche gar nichts; denn die einkalkulierte Summe reicht nur für knapp die Hälfte der Erkrankten.
({6})
Ja, über einen Änderungsantrag haben Sie auch 200 Millionen Euro für die Demenzbetreuung in Pflegeheimen
eingestellt. Aber drei Viertel der Betroffenen werden leer
ausgehen; denn wenn jeder der 3 000 bis 4 000 Betreuungskräfte für jeweils 25 Betroffene zuständig sein soll,
werden nur 100 000 Betroffene erfasst. Wir haben aber
400 000, mit steigender Tendenz.
({7})
Ja, Sie wollen einen Pflegeurlaub von zehn Tagen einführen.
({8})
- Pflegeurlaub ist für diejenigen besser verständlich, die
uns zuhören. - Aber der Pflegeurlaub ist unbezahlter Urlaub und kann nur in Unternehmen mit mehr als 15 Beschäftigten genommen werden. Also fällt das für den
Osten, die neuen Bundesländer, fast vollständig aus.
({9})
Ja, Sie wollen die Besuchspraxis des Medizinischen
Dienstes in Pflegeheimen transparenter gestalten und
wollen deshalb häufigere unangemeldete Kontrollen.
Aber das Problem der Qualität der Betreuung in Pflegeheimen ist nicht mit mehr Kontrollen zu lösen. Für gute
Pflege bedarf es vielmehr Zeit und ausreichend qualifiziertes Personal. Bei der Pflege dürfte meines Erachtens
nicht das Motto „Zeit ist Geld“, sondern umgekehrt
„Geld ist Zeit“ gelten.
({10})
Das Einzige, wo wir kein „Ja, aber“ anbringen, sind
die Paragrafen, die im Omnibusverfahren in das SGB V,
also in die gesetzliche Krankenversicherung, eingefügt
wurden. Zum Petz-Paragrafen, den Herr Bahr angesprochen hat, sagen wir ein deutliches Nein. Wenn es aber
darum geht, Bedingungen zu schaffen, damit das Modellprojekt „Gemeindeschwester AGnES“ besser in die
Regelversorgung überführt werden kann, sagen wir natürlich Ja.
({11})
Kommen wir zum SGB XI, die Pflegeversicherung,
zurück. Um nicht missverstanden zu werden, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD: Wir gönnen jeder
und jedem jeden Euro, der draufgelegt wird. Ihre Vorschläge klingen gut. Aber die Enttäuschungen werden
umso bitterer sein. Wir alle wissen, dass Pflegende im
Minutentakt die einzelnen Hilfe- und Betreuungsleistungen abarbeiten müssen. Pflege ist eine schwere Arbeit.
Sie ist aber vor allen Dingen auch Beziehungsarbeit
zwischen Menschen. Nicht nur die Pflegebedürftigen,
sondern auch die Pflegekräfte leiden darunter, dass keine
Zeit für ein kleines Gespräch bleibt, dass keine Zeit für
ein paar Streicheleinheiten ist. Eine hinwendungsbezogene, sprechende und ganzheitliche Pflege, die zudem
gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht, sieht unseres Erachtens anders aus.
({12})
Viele Pflegekräfte, sowohl im ambulanten als auch im
stationären Bereich, sind so ausgepowert, dass sie als
Fachkräfte nach rund zehn Jahren - physisch und psychisch fertig - aus dem Beruf gehen. Es trifft vor allen
Dingen Frauen. Sie gewinnen nichts mit dieser Reform.
Aber sie sind diejenigen, die zu rund zwei Dritteln
Leistungsbeziehende sind und die den größten Teil der
Pflegearbeit leisten. Insofern ist das mehr als ungerecht.
({13})
Wir wissen, dass durch den Wandel in der Arbeitswelt, durch veränderte Familienstrukturen und Erwerbsbiografien von Frauen familiäre Netzwerke künftig immer weniger zur Verfügung stehen. Wir wissen auch,
dass die meisten Menschen wünschen, nach Eintritt der
Pflegebedürftigkeit in der vertrauten Umgebung zu bleiben. Aber das ist nicht unbedingt mit dem Wunsch gekoppelt, von Angehörigen gepflegt zu werden. Diese
Tendenzen werden von der Bundesregierung und von
den Koalitionsfraktionen völlig unzureichend beachtet.
Wenn sie das nämlich wirklich täten, dann müssten sie
Pflege und Assistenz als einen prosperierenden Beschäftigungszweig der Zukunft begreifen. Das setzte aber voraus, die Arbeit dort auch attraktiver zu machen, sie zum
einen zu „entschleunigen“ und sie zum anderen gerechter, also angemessen zu bezahlen.
({14})
Zukunftsforscher sprechen von der „weißen Revolution“, also davon, dass Gesundheit und Pflege als die Bereiche, in denen Arbeitsplätze entstehen, Wachstumsfaktoren für die Gesellschaft sein werden. Wir kritisieren,
dass ganz überwiegend verschlafen wird - das hat sich ja
auch in den Anhörungen gezeigt -, diese Chancen für
die Zukunft wahrzunehmen. Dies ist einfach nicht hinzunehmen.
({15})
Daher werden wir den Gesetzentwurf ablehnen.
Aber wir haben Alternativen.
({16})
Ich rate Ihnen, auch Herrn Bahr, der nur die Hälfte davon zitiert hat: Lesen Sie das einmal ausführlich nach.
Das empfehle ich auch den Gästen und denjenigen, die
uns im Fernsehen zusehen.
({17})
Ich danke Ihnen.
({18})
Ich erteile das Wort nun der Kollegin Birgitt Bender,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ein merkwürdiges Schauspiel: Eine große Reform ist angekündigt, eine kleine vorgelegt.
Die CDU in Gestalt von Frau Widmann-Mauz erklärt:
Wir haben lauter Erfolge errungen, alles ist ganz schön,
aber die SPD ist ja blöd; wir haben leider keine Zukunftsvorsorge in Gestalt der Kapitaldeckung treffen
können.
Frau Ferner tritt auf und stöhnt, die SPD habe lauter
Niederlagen gegenüber der CDU erlitten
({0})
und habe so vieles nicht durchsetzen können. Die SPD
hätte doch so gern die Solidarität in Gestalt der Bürgerversicherung erweitert, aber die CDU sei ja böse.
Meine Damen und Herren, diese gegenseitigen Bezichtigungen innerhalb einer Koalition mögen stimmungsmäßig bei Ihnen bedeuten, was immer sie bedeuten, aber politisch ist das doch unerträglicher Kinderkram.
({1})
Das folgt dem Motto: Gibst du mir deine Quietschente
nicht, dann kriegst du meinen Schwimmring nicht.
({2})
Aber dabei säuft doch nicht die Koalition ab, sondern die
nachwachsende Generation; denn ihr muten Sie eine
Bugwelle von Pflegekosten in den kommenden Jahrzehnten zu, ohne dafür irgendeine Vorsorge zu treffen.
Das ist unerträglich.
({3})
Es ist doch so: Ab dem Jahr 2020 werden wir sehr
viel mehr hochbetagte Menschen haben, also auch mehr
Pflegebedürftige. Dafür wäre eine finanzielle Vorsorge
erforderlich, aber Sie tun nichts. Sie hätten sich aufeinander zubewegen sollen.
({4})
In concreto verschärfen Sie das Problem auch noch.
Sie machen jetzt eine kleine Beitragserhöhung, und Sie
versprechen bessere Leistungen. Sie wissen aber: Dieses
Geld reicht für die verbesserten Leistungen genau oder
höchstens bis zum Jahre 2015.
({5})
Ab 2015 - so steht es jetzt im Gesetz - sollen dann noch
einmal bessere Leistungen kommen, die übrigens hochnotwendig sind, nämlich in Form einer regelmäßigen
Anpassung der Pflegeleistungen an gestiegene Preise,
also eine Dynamisierung. Das heißt, Sie versprechen
bessere Leistungen genau für den Zeitpunkt, zu dem
auch nach Ihren eigenen Angaben die Pflegekassen so
leer sein werden wie der Kühlschrank vor der Fastenzeit.
Das kann ja wohl nicht angehen.
({6})
Es kann nicht funktionieren, es wird nicht funktionieren. So kann ich nur sagen: Wenn es in der Politik für
diejenigen, die sich am Wegducken vor der Zukunft beteiligen, finanzielle Sanktionen gäbe, dann hätten Ulla
Schmidt ebenso wie die Abgeordneten der CDU nur
noch die Hälfte ihrer Diäten verdient.
({7})
Ein anderer Punkt, meine Damen und Herren: Versteckt auf den hinteren Seiten dieser Pflegereform, die
ihren Namen nicht wirklich verdient, ist der Petzparagraf; es war schon die Rede davon. Ärzte sollen in Zukunft ihre Patienten verpfeifen, wenn sie an den Folgen
von Piercings oder Schönheitsoperationen leiden und
deswegen behandelt werden müssten. Die Folge davon
ist, dass die Kassen nicht zahlen müssen. Sie haben ja in
Ihrer großartigen Weisheit schon mit der Gesundheitsreform ein Selbstverschuldensprinzip eingeführt, das bei
diesen Indikationen, aber auch in anderen Fällen greifen
soll. Was tun Sie jetzt? Sie machen Ärzte zu Denunzianten:
({8})
Sie wollen sie verpflichten, ihre Schweigepflicht zu brechen. Damit hebeln Sie das Zeugnisverweigerungsrecht
aus. Dazu kann man nur sagen: Wehret den Anfängen!
({9})
Wir werden Ihnen Gelegenheit geben, diesen Petzparagrafen und das Selbstverschuldensprinzip aufzuheben.
Ich kann Ihnen nur sagen: Wenn man diesen Weg beschreitet, dann kommt es irgendwann dazu, dass man einem Zuckerkranken, der zum Arzt kommt, sagt: Dich
wird niemand behandeln, denn du hättest dich ja beizeiten besser ernähren können; das petze ich jetzt der
Kasse.
({10})
Das kann es nicht sein. Wir brauchen ein Solidarsystem.
Es ist Aufgabe der Prävention - vor entsprechenden Regelungen haben Sie sich ja gerade wieder weggeduckt -,
lebensstilbedingte Krankheiten zu verhindern.
({11})
Es ist keine Alternative, Patienten zu bestrafen und
Ärzte zu Denunzianten zu machen; das wäre falsch.
({12})
Carola Reimann ist die nächste Rednerin für die SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der 1. Juli dieses Jahres wird ein guter Tag für die
rund 2 Millionen Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen.
({0})
Dann tritt nämlich die Pflegereform, die wir heute beraten und verabschieden werden, in Kraft. Wir reagieren
damit zum einen auf die Herausforderungen der demografischen Entwicklung und zum anderen - das ist der
entscheidende Punkt - auf veränderte Bedürfnisse der
Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen. Zahlreiche
Leistungsverbesserungen werden zu einer spürbaren
Verbesserung der Lebenssituation dieser Menschen führen. Deshalb kann man uneingeschränkt sagen: Es ist
eine gute Reform. Sie ist gut, weil wir die Leistungsbeträge schrittweise erhöhen, und sie ist gut, weil wir eine
Leistungsdynamisierung einführen. Damit stoppen wir
den schleichenden Wertverfall der Leistungen.
Die ambulanten Sachleistungsbeträge werden bis
2012 in allen drei Pflegestufen schrittweise erhöht. Im
stationären Bereich wird es zu Aufstockungen in der
Pflegestufe III und bei den Härtefällen kommen. Auch
das Pflegegeld für pflegende Angehörige wird erhöht.
Damit stärken wir vor allem die ambulante Pflege und
kommen so dem Wunsch vieler Pflegebedürftiger nach,
die in ihrem gewohnten Umfeld, zu Hause, gepflegt werden wollen.
({1})
Immer mehr Menschen erreichen ein gesegnetes Alter. Das ist zweifellos eine positive Entwicklung. Sie
bringt aber zugleich neue Herausforderungen für die
häusliche wie für die stationäre Pflege mit sich. Angehörige und Pflegekräfte werden bei der Versorgung der
Pflegebedürftigen zunehmend mit geistigen und psychischen Einschränkungen bis hin zu schweren Demenzerkrankungen konfrontiert, die oft zusätzlich zu den körperlichen Gebrechen auftreten. Darauf waren die
Leistungen der Pflegeversicherung bislang nur unzureichend ausgerichtet. Dieser Missstand wird mit der Pflegereform beseitigt.
Die seit langem geforderten neuen Leistungen für
demenziell erkrankte Menschen werden nun eingeführt. Im ambulanten Bereich wird es eine Staffelung geben: Menschen mit geringerem allgemeinen Betreuungsbedarf erhalten bis zu 100 Euro, diejenigen mit höherem
Betreuungsbedarf bis zu 200 Euro im Monat. Demenziell Erkrankte erhalten somit dank dieser Reform bis zu
2 400 Euro pro Jahr. Wichtig ist, dass dieser Betrag
zusätzlich zu den Pflegeleistungen und unabhängig von
der Pflegestufe gezahlt wird.
({2})
Das bedeutet: Auch Menschen, die keine Pflege, sondern
vor allem Betreuung und Assistenz benötigen, erhalten
in Zukunft Unterstützung aus der Pflegeversicherung.
Auf Vorschlag der SPD wird es auch für demenzerkrankte Heimbewohner zusätzliche Hilfen geben. Die
Pflegeversicherung finanziert zusätzliche Stellen für Betreuungskräfte, die sich in vollstationären Pflegeeinrichtungen um demenziell Erkrankte kümmern sollen. Sie
sollen altersverwirrten Menschen im Heim helfen, ihren
Tagesablauf besser zu bewältigen. Die Finanzierung der
Stellen dieser Betreuungsassistentinnen und -assistenten durch die Pflegeversicherung ist an zwei wichtige
Bedingungen geknüpft:
Erstens. Es muss sich um zusätzliche Betreuungskräfte handeln. Eine Reduzierung oder Anrechnung vorhandenen Personals ist also nicht zulässig.
Zweitens. Die Assistentinnen und Assistenten müssen
sozialversicherungspflichtig beschäftigt sein.
({3})
Das ist unser Beitrag zur Steigerung des Beschäftigungspotenzials. Mit der Einstellung zusätzlicher Betreuungsassistenten in den stationären Einrichtungen und
den neuen Leistungen im ambulanten Bereich erreichen
wir eine substanzielle Verbesserung der Versorgung Demenzerkrankter und ermöglichen eine wirkliche Hilfe
und Entlastung für die pflegenden Angehörigen, aber
auch für die Pflegekräfte in den Heimen.
Frau Kollegin Reimann, möchten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Spieth beantworten?
Bitte schön.
({0})
Wenn es hilft, dann sollte es so sein. - Ich möchte
eine Frage stellen, weil Sie die Leistungen im stationären Bereich wieder locker überspringen. Es gibt in den
Stufen I und II keine Anpassungen. Diese erfolgen frühestens im Jahr 2015. Im Durchschnitt müssen in der
Stufe II im stationären Bereich 2 800 Euro gezahlt werden. Die Pflegeversicherung zahlt aber nur 1 279 Euro.
Das hat zur Folge, dass jemand, der mit Pflegestufe II in
den stationären Bereich muss, eine Differenz von round
about 1 600 Euro zu decken hat.
({0})
Das heißt, die Rente ist futsch und die Angehörigen
müssen mitzahlen. Warum haben Sie nicht auch in den
Stufen I und II die Leistungsbeträge erhöht? Damit hätten Sie ein Stück dazu beigetragen, dass diejenigen, die
in den Einrichtungen sind, nicht zu Taschengeldempfängern werden.
({1})
- Wurde aber nicht beantwortet.
Herr Kollege Spieth, wir alle wissen, dass es sich bei
der Pflegeversicherung nicht um eine Vollversicherung
handelt. Das will ich als Allererstes einmal sagen.
({0})
Das kann man bekritteln, aber sie ist nun einmal so und
nicht anders angelegt worden. Wir führen sie jetzt in der
bisherigen Form fort.
Dann ist hier schon einmal gesagt worden, auch von
der Kollegin Eichhorn, dass der Schwerpunkt auf der
Verbesserung im ambulanten Bereich liegt. Das ist völlig
richtig.
Schließlich sagten Sie, ich überspringe etwas, aber
auch Sie überspringen etwas, nämlich dass die Leistungen für die Pflegestufe III im stationären Bereich aufgestockt werden und dass es Verbesserungen für Härtefälle
gibt.
({1})
Kolleginnen und Kollegen, die Pflege eines Angehörigen ist eine ungeheuer verantwortungsvolle Aufgabe,
die ganz viel Kraft kostet. Neben der Pflege des Angehörigen kommen häufig Beruf, Kindererziehung und die
ganz alltäglichen Verpflichtungen hinzu. Ich will an dieser Stelle noch einmal betonen, dass es zum weit überwiegenden Teil die Frauen sind, die diese Mehrfachbelastung schultern. Das alles unter einen Hut zu bringen,
ist alles andere als einfach. Die Grenze der Belastbarkeit
ist dabei ganz schnell erreicht, meist wird sie sogar überschritten. Deshalb ist es unerlässlich, mit einer solchen
Pflegereform pflegenden Angehörigen die Möglichkeiten zur Entlastung zu bieten.
Hierbei kommt den Einrichtungen der Tages- und
Nachtpflege eine wichtige Funktion zu. Sie bieten Angehörigen die Möglichkeit, ihre pflegebedürftigen Verwandten in gute, professionelle Betreuung zu geben, um
dem Beruf und den alltäglichen Erledigungen nachzugehen oder einfach Zeit für sich und andere Familienmitglieder zu haben. Zugleich sind diese Einrichtungen aber
auch unter dem Gesichtspunkt der Aktivierung von Pflegebedürftigen von großer Bedeutung. Leider wurden
diese Angebote in der Vergangenheit nur in geringem
Umfang genutzt. Hauptgrund dafür ist der damit verbunDr. Carola Reimann
dene geringere Anspruch auf Pflegegeld bzw. ambulante
Sachleistungen für die verbleibende Zeit, die der Pflegebedürftige zuhause gepflegt werden muss. Deshalb werden wir das mit der Pflegereform ändern: Neben dem
Anspruch auf Tages- und Nachtpflege wird es zusätzlich
einen 50-prozentigen Anspruch auf ambulante Pflegesachleistungen bzw. Pflegegeld geben. Damit wird die
Tages- und Nachtpflege attraktiver. Das heißt aber auch,
die pflegenden Angehörigen haben die Chance auf spürbare Entlastung, und die Pflegebedürftigen selbst bekommen professionelle Unterstützung und Betreuung in
den entsprechenden Einrichtungen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Reform
sieht nicht nur den Ausbau von Pflegeleistungen vor,
sondern auch die Möglichkeit, diese künftig flexibler in
Anspruch zu nehmen. Ein Beispiel dafür ist das sogenannte Poolen von Leistungsansprüchen. Das neue
Gesetz ermöglicht, dass die Ansprüche mehrerer Leistungsberechtigter künftig in einen Pool eingebracht werden können, um hieraus selbstbestimmt Pflege-, Betreuungs- und hauswirtschaftliche Versorgungsleistungen zu
finanzieren. Die hierdurch entstehenden Effizienzgewinne kommen den Pflegebedürftigen als zusätzliche
Betreuungszeit zugute.
({2})
Das heißt konkret, dass sich Pflegebedürftige in einem
Wohnquartier zusammenschließen und gemeinsam einen
Pflegedienst beauftragen können. Es könnte beispielsweise ein Feld auch für Wohnungsbaugenossenschaften
sein, dies vor Ort zu koordinieren. Zugleich werden
durch diese Möglichkeiten Anreize zur Schaffung neuer
Wohnformen wie Wohngemeinschaften gesetzt. Ich
meine, das ist die richtige Antwort auf sozialstrukturelle
Veränderungen wie zum Beispiel die wachsende Zahl
von Singlehaushalten.
({3})
Die genannten Beispiele - Erhöhung der Leistungsbeiträge, neue Beiträge für Demenzerkrankte, Förderung
der Tages- und Nachtpflege und das Poolen von Leistungen - bringen den Betroffenen spürbare Verbesserungen.
Ich will aber an dieser Stelle nicht ganz verschweigen,
dass ich mir an zwei Punkten mehr gewünscht hätte.
Zum einen betrifft das die Finanzierung. Hier hätten
wir Sozialdemokraten gerne den im Koalitionsvertrag
vereinbarten Finanzausgleich zwischen privater und
gesetzlicher Pflegeversicherung verwirklicht.
({4})
Zum anderen hätten wir berufstätigen Angehörigen
gerne eine zehntägige bezahlte Freistellung zur Organisation der Pflege ihrer Angehörigen ermöglicht.
Wir hätten das im Interesse der Betroffenen gerne
umgesetzt. Andere wollten das leider nicht. Beides, die
Bürgerversicherung Pflege wie auch die zehntägige bezahlte Freistellung, bleiben aber Ziele, für die wir uns
weiter einsetzen werden. Ich bin sicher, diese Themen
kommen wieder.
({5})
Kolleginnen und Kollegen, trotz der Notwendigkeit
von Kompromissen verabschieden wir heute eine Reform, die, wie ich mit Freude feststelle, vor allem sozialdemokratische Handschrift trägt
({6})
und die Verbesserungen und neue Unterstützungsmöglichkeiten für Betroffene wie Angehörige enthält. Deshalb wird - damit komme ich zum Anfang meiner Rede
zurück - der 1. Juli dieses Jahres, an dem die Reform in
Kraft tritt, ein guter Tag für alle Pflegenden und Pflegebedürftigen. Ich darf mich bei allen bedanken, die zu
diesem Gesetz konstruktiv beigetragen haben.
Danke schön.
({7})
Willi Zylajew ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In
der Tat ist das, womit wir uns hier beschäftigen, wichtig,
nämlich die Frage, wie wir die Pflege zukunftsfest machen. Wichtiger ist aber das, was 10 Millionen Menschen Tag für Tag - auch in diesem Moment - erleben,
die unmittelbar mit der Pflege befasst sind. Es sind dies
die Pflegebedürftigen selbst, es sind dies die Menschen
mit Behinderungen, die auf Pflege angewiesen sind, es
sind dies aber auch die etwa 1 Million Kräfte, die im
ambulanten und im stationären Bereich Pflegeleistungen
erbringen: Ehrenamtler, Menschen in Vereinen, in Pfarrgemeinden, in Wohlfahrtsverbänden, Angehörige, Nachbarn und Freunde. Tag für Tag und Nacht für Nacht erbringen sie diese Leistungen. Wir als Union haben die
Chancen genutzt, die in dieser Koalition möglich sind,
um exakt für diese Menschen Verbesserungen zu erreichen.
({0})
Die Kolleginnen und Kollegen Widmann-Mauz,
Maria Eichhorn und andere haben die Leistungen schon
im Einzelnen angesprochen. Wir gewähren den Pflegebedürftigen weitere materielle und personelle Hilfe,
Hilfe zur Bewältigung des pflegebedingten Mehraufwands in ihrer Lebensführung. Unsere Gesellschaft
bleibt weiterhin sozial. Wir belasten damit natürlich andere Menschen, das wissen wir: Auf der einen Seite profitieren über 10 Millionen, auf der anderen Seite belasten
wir 60 Millionen Beitragszahler, bei denen wir den
Nettoertrag aus selbstständiger Arbeit, aus abhängiger
Arbeit oder aus Kapitalertrag schon ein Stück weit reduzieren.
({1})
Wir leiten einen Teil unseres Bruttoinlandsprodukts zu
den Pflegebedürftigen.
({2})
- Natürlich ist das Solidarität. Aber, verehrte Frau Kollegin, wir als diejenigen, die politisch dafür die Verantwortung tragen,
({3})
sollten auch Respekt vor denen haben, die Leistungen
erwirtschaften, Frau Ferner, und uns nicht nur ins Zeug
legen, wenn wir Geld, das wir ihnen wegnehmen, anderen geben. Das ist Solidarität, die Respekt verdient.
({4})
Kollege Lanfermann, Sie haben davon gesprochen,
dass wir demnächst ein Drittel weniger Beitragszahler
hätten. Das stimmt nicht. Der Kollege Bahr hat es dann
schon präziser gesagt: ein Drittel weniger junge Beitragszahler. - Man kann die Finanzierung der Pflegeversicherung nicht mit der Finanzierung der Rentenversicherung vergleichen,
({5})
weil auch die Rentnerinnen und Rentner bis ins hohe Alter Beiträge zahlen.
({6})
- Ich brauche das nicht zu wiederholen, Herr Bahr. - Insofern ist die Pflegeversicherung finanziell deutlich stabiler als irgendeines der anderen Systeme.
({7})
Holen Sie doch einmal die Zitate der FDP-Kollegen
von 1994 hervor! Lambsdorff und andere Strategen haben gesagt, schon im Herbst werde die Versicherung
pleite sein.
Also: Es gibt weniger junge Beitragszahler, aber die
Rentnerinnen und Rentner zahlen auch. Insofern ist das
schon in Ordnung.
Der ergänzende Kapitalstock ist aus unserer Sicht für
die Jahre 2027 ff. wichtig.
Herr Kollege Zylajew, würden Sie zwischendurch
eine Frage des Kollegen Bahr gestatten?
Herr Präsident, sehr gern; dann kann ich ihn korrigieren.
({0})
Das wollen wir einmal sehen! - Herr Kollege
Zylajew, wenn Sie die Debatten von 1994 ansprechen,
dann müssen Sie bitte auch Folgendes zur Kenntnis nehmen: Bereits 1994 haben zum Beispiel Graf Lambsdorff
und andere Kolleginnen und Kollegen aus der FDPFraktion darauf hingewiesen, dass wir im Jahr 2008 und
auch schon früher genau das erleben werden, was wir
jetzt tatsächlich erleben, nämlich steigende Defizite in
der Pflegeversicherung, und dass wir genau vor der
Frage stehen werden, ob man das Umlagesystem so
noch erhalten kann und ob die Beiträge weiter steigen
müssen.
Nehmen Sie auch zur Kenntnis, dass sich die demografischen Probleme einer alternden Bevölkerung in
einer Pflegeversicherung noch viel dramatischer auswirken werden als in der Rentenversicherung, weil die Lebenserwartung steigt, aber die Eintrittswahrscheinlichkeit von Demenz, von Altersverwirrung, bei 80-Jährigen
mit etwa einem Drittel heute genauso hoch ist, wie sie
vor 10 oder 20 Jahren war und voraussichtlich auch in
10 oder 20 Jahren sein wird,
({0})
sodass es immer mehr pflegebedürftige Menschen, aber
immer weniger jüngere Menschen in unserer Gesellschaft geben wird?
({1})
Herr Bahr, ich bin bereit, zur Kenntnis zu nehmen,
dass wir mehr ältere und weniger junge Menschen in
unserer Gesellschaft haben werden. Das ist richtig. Sie
haben das Verhältnis von Beitragszahlern zu Leistungsempfängern angesprochen. Es ist nicht so, dass
nur die jungen Menschen Beiträge zahlen. Ich habe die
herzliche Bitte, dass Sie dies zur Kenntnis nehmen. Wir
sollten vor den Rentnerinnen und Rentnern hohen Respekt haben, denn sie zahlen ihren Beitrag klaglos.
({0})
Es ist daher nicht möglich, die Problematik der Rente
auf die Problematik der Pflege zu übertragen. Die Rentner zahlen ordentlich und verlässlich,
({1})
und dafür haben wir ihnen zu danken. Wir brauchen ihre
Beiträge, um die Leistungen auch in Zukunft ordentlich
gewähren zu können.
({2})
Ich möchte noch einmal sehr deutlich sagen, dass wir
den Menschen neue Möglichkeiten im Bereich der Betreuung und der Selbstbestimmung eröffnen. Wir als
Union hatten den Ehrgeiz, möglichst jeden Euro und jeden Cent direkt an den Menschen zu bringen. Wir haben
dann mit dem Ministerium und Teilen der SPD Probleme
gehabt, weil sie das Geld lieber in neue Strukturen investiert hätten. Wir haben uns am Schluss auf etwas verständigt, was aus unserer Sicht tragbar ist.
Zu Rot-Grün beziehungsweise zu Grün direkt muss
ich sagen: Das alles hättet ihr in den Jahren von 1998 bis
2005 machen können.
({3})
Ihr habt aber durch eine pflegepolitische Auszeit geglänzt.
Frau Bunge, in Bezug auf die Linken sind wir neugierig, was sie dort, wo sie Verantwortung in den Ländern
trägt, so Besonderes tut. Ich habe noch nicht bemerkt,
dass es dort, wo die Linken mitverantwortlich sind, einen Aufbruch im Bereich der Pflege gibt. Ein Abbruch
in allen sozialen Systemen findet dort statt, wo sie Verantwortung trägt.
({4})
Sie ist wirklich nicht tauglich.
Wir haben in unserer Gesellschaft eine Reihe von
wichtigen Problemen, mit denen wir uns auch nach dieser Reform beschäftigen müssen. Fakt ist, dass sich unsere Gesellschaft in folgender schwieriger Situation befindet: Wenn man eine nach Tarif bezahlte Stelle eines
Pflegeberaters oder eines Fallmanagers ausschreibt,
dann bekommt man 200 Bewerbungen. Schreibt man
eine nach Tarif bezahlte Stelle einer examinierten Pflegekraft aus, dann hat man Glück, wenn man eine Bewerbung erhält.
({5})
Herr Kollege, Frau Kollegin Bunge würde gern eine
Zwischenfrage stellen.
Auch dies gern.
Herr Kollege Zylajew, würden Sie mir zustimmen,
dass die Länder ihren Spielraum in der Frage, was sie in
der Pflege tun können, durch die Bundesgesetzgebung,
nämlich durch das SGB XI, vorgegeben bekommen und
einen ganz geringen eigenen Spielraum haben, den sie
beispielsweise in Berlin mit Modellprojekten nutzen?
Ich bin nicht bereit, das zur Kenntnis zu nehmen, weil
es schlicht falsch ist. Die Länder haben eigene Gestaltungschancen und ein eigenes Profil. Mit den Landespflegegesetzen haben sie hervorragende Chancen, ein
eigenes Profil für die Pflege zu entwickeln. Es gibt Länder, die das machen. Schauen Sie sich einmal an, was im
Bereich Südbaden an Kreativität vorhanden ist. Schauen
Sie, was Träger in anderen Ländern entwickeln. Ich
komme gern, um mir das in Berlin anzusehen. Ich nehme
aber das, was Sie sagen, nicht zur Kenntnis. Ich nehme
zur Kenntnis, dass dort, wo die Linken politisch etwas zu
sagen haben, kein Vorrang für Pflege vorhanden ist.
({0})
- Sind die Zwischenrufe beendet? Dann fahre ich fort.
({1})
Aus meiner Sicht ist deutlich, dass Fortschritte für zu
Pflegende, für die Angehörigen und für Träger und Einrichtungen in der Geschichte der Bundesrepublik immer
mit der Union verbunden waren. Sie waren in der Entstehungsphase mit Helmut Kohl und Norbert Blüm verbunden. Sie sind jetzt mit der Kanzlerin Angela Merkel verbunden. Alle, die hier mehr wollen, können dies
anmelden. Verlassen aber können sich die Pflegebedürftigen im Endeffekt nur auf die Union.
({2})
Das war so, das ist so, und das wird so bleiben.
({3})
- Ja, liebe Kolleginnen und Kollegen, schauen Sie sich
doch einmal an, wann Ihre Regierungsinitiativen gekommen sind. Das wird im deutschen Geschichtsunterricht
niemand herausfinden können, denn Sie haben keine unternommen. Ich weiß, dass die Menschen hier auf die
Union setzen und setzen können. Ich sage noch einmal:
Wir haben das erreicht, was wir in dieser Koalition erreichen können. Dafür danken wir.
({4})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Hilde Mattheis,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zunächst einmal freue ich mich sehr darüber, welchen
Identifikationsgrad dieses Pflege-Weiterentwicklungsgesetz auch bei unserem Koalitionspartner in allen Teilen erfahren hat.
({0})
Ich freue mich sehr, dass die Teile des Pflege-Weiterentwicklungsgesetzes, die von Ihrer Seite aus in der Öffent16008
lichkeit durchaus strittig diskutiert worden sind, jetzt
hier verteidigt werden.
Ich bin auch der Überzeugung, dass die Oppositionsparteien in ein paar Wochen nicht mehr so gern darüber
reden werden, wie sie hier abgestimmt haben, weil sie
dann nämlich in Pflegeeinrichtungen und vor Angehörigen rechtfertigen müssen, dass sie einer Leistungsverbesserung nicht zugestimmt haben.
({1})
Ich bin auch der Überzeugung, dass viele, die die
Pflegestützpunkte jetzt kritisieren, auf deren Verteilung
schauen und feststellen werden, wie viele Pflegestützpunkte in ihrem eigenen Bundesland - womöglich in ihrem Wahlkreis - ankommen könnten. Dann wird es vor
allem von denjenigen, die die Pflegestützpunkte bis jetzt
nicht verteidigen, einen großen Run darauf geben. Es
gibt dann sicherlich auch einen Run der Länder, weil es
wirklich ein Erfolgsmodell ist.
({2})
Wer sagt, dass Pflegestützpunkte zu Doppelstrukturen
führen würden, der hat das Gesetz nicht gelesen,
({3})
weder den ersten Entwurf noch das, was wir in der Kompromisslinie vereinbart haben und verabschieden werden. Denn da heißt es ausdrücklich, dass die Beratungsund Vernetzungsstrukturen, die es bereits gibt, einzubeziehen bzw. zu ergänzen sind. Ich bin fast versucht,
das mit der Initiative bei den Ganztagsschulen zu vergleichen.
({4})
Auch da gab es zunächst eine heftige Abwehrhaltung;
aber dann ging es in den Ländern ganz schnell, und
plötzlich waren es zum Teil die schwarzen Bürgermeister, die gefordert haben, dass in ihre Kommune eine
Ganztagsschule und die entsprechenden Mittel kommen.
({5})
Genauso wird es bei den Pflegestützpunkten sein. Es
gibt Länder, die es schon geschafft haben, Beratungsund Vernetzungsstrukturen aufzubauen, zum Beispiel
Rheinland-Pfalz. Andere haben versucht, die vernetzten
Strukturen herunterzufahren, indem die Zuschussmittel
versagt wurden, wie in Baden-Württemberg - dort wollen die Träger dieses Erfolgsmodell selber finanzieren -,
und sie werden diese Chance ergreifen und Pflegestützpunkte aufbauen.
({6})
Da bin ich ganz sicher. Das werden wir in einem halben oder in einem Jahr sicher im Ausschuss bilanzieren
können. Wir werden dann alle sehr stolz sein können,
dass wir dieses Gesetz heute so verabschiedet haben.
Neben den Pflegestützpunkten - gute Dinge vertragen
Wiederholung - gibt es die Verpflichtung zur Pflegeberatung und deren Ausbau. Diese ist zwar heute schon
im SGB XI verankert; aber die Case-ManagementStrukturen, die wir jetzt einziehen wollen, werden dazu
beitragen, dass Menschen in einer schwierigen Lebenssituation begleitet werden, dass sie Unterstützung und
Beratung bekommen.
({7})
Auch der Leistungsanspruch in Bezug auf Menschen
mit Demenz, egal ob ambulant gepflegt wird oder in stationären Einrichtungen, wird eine unglaubliche Erleichterung sein. Jeder, der mit Angehörigen der Betroffenen
im engen Kontakt ist, weiß, dass die kleinen Dinge des
Lebens bei Demenz zu großen Hürden werden. Wenn
zum Beispiel der Gang zum Arzt geplant werden muss
und niemand beim Ehemann oder bei der Ehefrau ist, ist
es wichtig, diese niedrigschwelligen Leistungen einfordern zu können und nicht von der Rente bezahlen zu
müssen, sondern dies aus der Pflegeversicherung tun zu
können.
Ich will mich aber im Folgenden noch auf einen
Schwerpunkt konzentrieren, der uns von Anfang an immer sehr wichtig war,
({8})
nämlich die Unterstützung der Qualität und Transparenz
in der Pflege. - Der Finanzausgleich kommt noch, Herr
Spieth; Sie können mich gerne dazu fragen. Sie wollen
ja noch einmal reden, nehme ich an.
({9})
Über diese Qualität haben wir intensiv diskutiert, und in
der Anhörung ist uns recht gegeben worden, dass Qualitätssicherung und Transparenz sehr eng zusammenhängen. Niemand von uns hat diesen Punkt diskutiert, ohne
immer wieder zu betonen, dass selbstverständlich der
überwiegende Teil des Pflegepersonals diesen Beruf mit
großem Engagement, mit großer Liebe und Zuneigung
ausübt
({10})
und dass es darum geht, diese Berufsgruppe davor zu
schützen, dass sie durch Schlagzeilen von Pflegemängeln und wirklich schlimmen Verhältnissen in Pflegeheimen diskreditiert wird.
({11})
Deshalb ist es uns wichtig, hier noch einmal zu betonen, dass es jährlich eine unangemeldete Überprüfung
durch den MDK gibt. Diese Überprüfungen sind zwingend. Zertifizierungen ersetzen keine Überprüfungen
durch den MDK. Ergebnisqualität zu beurteilen, bedeutet, zu schauen, in welchem Maße die Hilfe bei den
Pflegebedürftigen ankommt. Wo eine gute Ergebnisqualität zu finden ist, kann auf die Überprüfung der Prozessund Strukturqualität verzichtet werden. Diese Teile werden ergänzend nur dann geprüft, wenn die Ergebnisqualität nicht stimmt.
Wir wollen dem Medizinischen Dienst der Krankenkassen in stärkerem Maße eine beratende Funktion geben. Diese Funktion wird nicht nur, wie jetzt, im RahHilde Mattheis
men der gegebenen Möglichkeiten ausgeübt, sondern
stellt eine Verpflichtung für den MDK dar. Pflegequalität
und Transparenz hängen voneinander ab und bilden damit ein Paar.
({12})
Daher wollen wir, dass jeder, der ein Heim betritt, genau
sehen kann, wie gut die Qualität in diesem Heim ist. Sie
kann durch eine entsprechende Anzahl von Sternen oder
durch eine Ampel angezeigt werden. So ist für alle auf
den ersten Blick klar, wie der MDK die Qualität dieses
Heimes einstuft.
Frau Kollegin, der Kollege Spieth würde jetzt gern
seine Zwischenfrage stellen.
({0})
Bitte, Herr Spieth.
Frau Kollegin Mattheis, da Sie mich so freundlich
eingeladen haben, das Thema Finanzausgleich anzusprechen, und ich befürchte, dass Sie in Ihrem Beitrag
nicht mehr darauf zu sprechen kommen, möchte ich Ihnen Gelegenheit geben, dazu noch etwas zu sagen.
Im Koalitionsvertrag zwischen der CDU/CSU und
der SPD heißt es:
Zum Ausgleich der unterschiedlichen Risikostrukturen wird ein Finanzausgleich zwischen gesetzlicher und privater Pflegeversicherung eingeführt.
Dieser ist dringend erforderlich, um die unterschiedlichen Risiken auszugleichen, die zwischen gesetzlicher
und privater Pflegeversicherung bestehen.
Mittlerweile ist es so, dass bei den privaten Pflegeversicherungen 15 Milliarden Euro auf der hohen Kante liegen, während die soziale Pflegeversicherung extreme
Probleme hat.
({0})
Auch wenn es Ihnen nicht schmecken mag, frage ich
Sie: Warum hat die Koalition diesen wichtigen Punkt außer Acht gelassen und um die private Pflegeversicherung
erneut einen Schutzzaun gezogen?
({1})
Ich möchte jetzt nicht in den Verdacht kommen, bei
Ihnen, Herr Spieth, diese Frage bestellt zu haben.
({0})
Trotzdem möchte ich das Thema Ausgleich, das Sie in
Ihrer Frage angesprochen haben, aufgreifen. Ja, die Koalitionsvereinbarungen sehen diesen Ausgleich vor. Ja,
in vielen Reden meiner Kolleginnen und Kollegen und
auch von mir finden Sie die Aussage, dass wir diesen
Ausgleich wollen. Er steht immer noch auf unserer politischen Agenda, Herr Spieth, und er hat bei den Verhandlungen selbstverständlich eine Rolle gespielt. Ich verweise hier auf die beschlossenen Eckpunkte, die, wie Sie
wissen, schon zu vielen Diskussionen geführt haben.
Ich knüpfe jetzt aber an das an, was ich eingangs gesagt habe, und frage Sie allen Ernstes: Wie wollen Sie
gegenüber Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen
rechtfertigen, dass Sie diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen und damit gegen eine Leistungserweiterung
sind? Denn im Gesetz finden Sie ausschließlich Punkte,
die zur Leistungsverbesserung und zur Qualitätssicherung beitragen werden.
({1})
Erklären Sie mir also einmal, warum wir wegen eines
strittigen Punktes das ganze Paket scheitern lassen sollten.
({2})
In Bezug auf Ihre Zwischenfrage sage ich an dieser
Stelle:
({3})
Selbstverständlich bleiben viele Themen auf unserer politischen Agenda. Die Definition des Pflegebegriffs ist
eines davon. Sie können uns nicht den Vorwurf machen,
dass wir diesen Punkt vernachlässigen, Herr Seifert; das
haben Sie in Ihrer Rede gesagt. Klar ist: Genau in diesem Bereich brauchen wir einen sehr intensiven und mit
allen Fachverbänden organisierten Prozess. Das kann
man wirklich nur mit Ruhe und Gründlichkeit machen.
({4})
- Das stimmt ja nicht, Herr Lanfermann.
({5})
Wenn Pflegestufen womöglich neu organisiert werden,
spielt dabei doch vor allen Dingen das Instrument eine
Rolle. Dieses Thema bleibt also auf unserer politischen
Agenda. Auf der Agenda bleibt auch das Thema -
Frau Kollegin, ich kann keine Zwischenfrage mehr
zulassen, weil Sie Ihre Redezeit bereits überzogen haben. Ich bitte Sie, zum Schluss zu kommen.
Mein letztes Wort: Auf der Tagesordnung bleibt auch
die Bürgerversicherung.
Danke.
({0})
Der letzte Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Jens Spahn von der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich möchte auf einen Aspekt gern etwas vertiefter eingehen, aber vielleicht gibt mir der Kollege Spieth anschließend ja die Gelegenheit, noch auf weitere Aspekte einzugehen.
Ich bedauere zutiefst, dass mit dieser Pflegereform,
mit dem vorgelegten Gesetzentwurf und den Änderungsanträgen, der Einstieg in eine kapitalgedeckte Vorsorge
in diesem Zweig der sozialen Versicherung nicht gelungen ist. Dieser Einstieg war im Koalitionsvertrag vorgesehen und wäre angesichts des Zustandes der Pflegeversicherung auch vonnöten gewesen.
({0})
Denn seit ihrer Einführung 1995 gab es bei der Pflegeversichtung in mehr Jahren eine Unterdeckung als eine
Überdeckung.
Eine kapitalgedeckte Vorsorge ist besonders aus einem Grund notwendig: In dem Jahr, in dem ich 80 Jahre
alt sein werde - nämlich 2060 -, wird im Vergleich zu
heute ein wesentlich größerer Anteil der Deutschen ein
Alter von über 80 Jahren erreicht haben. Schon jetzt
nimmt der Anteil dieser Personen stark zu. Das Risiko
- gerade ist schon darauf hingewiesen worden -, insbesondere demenziell zu erkranken, liegt bei über 80-Jährigen bei etwa einem Drittel - Tendenz dramatisch steigend.
({1})
Deswegen haben alle Sachverständigen - auch wenn sie
sich über das Ausmaß nicht einig waren - in der Anhörung deutlich gemacht, dass eine Kapitalrücklage in der
gesetzlichen Pflegeversicherung vonnöten wäre. Sie ist
am Ende - das muss man ehrlich miteinander konstatieren ({2})
an der Uneinsichtigkeit und Kurzsichtigkeit unseres Koalitionspartners gescheitert.
Liebe Frau Kollegin Bender, angesichts des Umstandes, dass Sie in sieben Jahren Rot-Grün in diesem Bereich gar nichts erreicht haben, ist Ihre Aufregung gerade zwar plakativ, am Ende aber doch etwas aufgesetzt
gewesen.
({3})
Denn wie schwer es mit diesem Koalitionspartner bei
diesem Thema ist, haben Sie damals ja auch schon erlebt.
So muss man feststellen, dass der Zeitverlust, der mit
jedem Jahr, in dem der Umstieg zu einer kapitalgedeckten Vorsorge nicht erfolgt, größer wird, zumindest noch
zwei Jahre auf das Konto unseres sozialdemokratischen
Partners geht. Diesem Partner stelle ich anheim, den Gerechtigkeitsbegriff um eine Zukunftsdimension zu erweitern.
({4})
Klar ist aber auch, Herr Kollege Lanfermann: Der
Einstieg in eine Kapitaldeckung würde im Moment - so
ehrlich muss man im Umgang miteinander sein - eine
Verteuerung für die Menschen bedeuten. Wenn Sie auf
der einen Seite fordern, dass die sozialen Versicherungen
günstiger werden müssen,
({5})
und auf der anderen Seite gleichzeitig eine Kapitalrücklage fordern, dann passt das nicht zusammen.
({6})
Wir müssen ehrlich zu den Menschen sein und ihnen
klar sagen, dass - wenn wir für die Zukunft vorsorgen es heute teurer wird, weil es für die zukünftigen Generationen günstiger sein soll.
Genau deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der SED-Nachfolgepartei,
({7})
ist Ihr Antrag in der Argumentation so gefährlich. Denn
er folgt dem bekannten Muster: Sie fordern mehr:
6 000 Euro für demenziell Erkrankte. Sie fordern Pflegegeld in der Höhe des Arbeitslosengeldes I. Sie fordern
jährliche Dynamisierungen usw. Aber Sie verlieren, wie
wir es von Ihnen gewohnt sind, kein Wort darüber, wie
das finanziert werden soll.
({8})
llja, Frank und Martina im Wunderland, möchte man sagen. Etwas Konkretes findet sich in Ihrem Antrag nicht.
Eines ist klar: Ihre populistischen Forderungen nach
„mehr“ sind verwerflich; denn Sie geben keinen Hinweis
darauf, wer das am Ende bezahlen soll, und suchen keinen vernünftigen Ausgleich zwischen den Beitragszahlern in diesem Land - insbesondere den künftigen - und
denjenigen, die die Leistungen jetzt brauchen. Das lassen wir Ihnen nicht durchgehen, verehrte Kolleginnen
und Kollegen.
({9})
Ich möchte bei der Bewertung der Zukunft dieser
Pflegereform kurz auf drei weitere Dinge eingehen.
Erstens. Die Pflegeversicherung ist - das ist gerade
schon gesagt worden - per definitionem und von Anfang
an immer nur eine Teilkostenversicherung gewesen.
Deswegen ist es wichtig, dass wir mit dieser Reform den
Abschluss von Zusatzversicherungen im privaten Bereich auch in der Kooperation mit gesetzlichen Versicherungen erleichtern; denn die Zusatzversicherungen haben per se einen Vorteil: Sie sind kapitalgedeckt.
Zweitens. Es ist wichtig - das hat zwar mit dieser
Pflegeversicherungsreform nicht direkt etwas zu tun,
aber gerade in diesen Zeiten steht die Entscheidung an,
das Forschungszentrum nach Bonn zu verlegen -,
({10})
im Bereich der demenziellen Erkrankungen nicht nur
für die Betroffenen mehr Geld zur Verfügung zu stellen
- das ist richtig -, sondern auch mehr Geld für Forschung und Entwicklung auszugeben. So können wir mit
Blick auf das, was 2050 oder 2060 kommt, schauen, wie
wir hier vielleicht gewisse Entwicklungen im Sinne der
Menschen verhindern können.
Drittens. Zu einer Zeit, zu der ich alt bin und ein Drittel der Menschen in diesem Land über 60 Jahre alt sein
wird, werden wir uns auch - das ist mir persönlich sehr
wichtig - über die Fragen des Zusammenlebens auseinandersetzen müssen. Es geht darum, wie wir das Zusammenleben in einer älteren Gesellschaft gestalten
wollen und welche Formen es gibt. Deswegen ist es sehr
wichtig, dass wir mit dieser Pflegereform das Poolen
von Leistungen möglich machen, dass wir Modellprojekte realisieren, dass wir im Rahmen anderer Projekte
nach Alternativen zwischen der rein ambulanten und der
rein stationären Pflege suchen,
({11})
um solche neuen Formen des Zusammenlebens zu erproben.
Ich fasse zusammen: Wie viele andere Kollegen von
der Unionsfraktion werde ich diesem Gesetzentwurf zustimmen, weil wir die Verbesserung der Leistungen für
demenziell Erkrankte und auch die Steigerung der Transparenz in den Pflegeheimen nicht davon abhängen lassen
können, ob sich bei unserem Koalitionspartner endlich
die notwendige Einsicht durchsetzt. Von daher gehe ich
heute diesen wichtigen Schritt mit. Klar ist aber auch,
dass noch wichtigere Schritte im Sinne der Zukunftsfähigkeit dieses Systems zu tun bleiben. Vielleicht gelingt
es uns irgendwann - entweder durch Einsicht oder durch
neue Mehrheiten in diesem Deutschen Bundestag -, diese
Schritte zu tun.
({12})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur struktu-
rellen Weiterentwicklung der Pflegeversicherung. Der
Ausschuss für Gesundheit empfiehlt unter Nr. 1 seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/8525, in Kennt-
nis des Vierten Berichts über die Entwicklung der Pfle-
geversicherung auf Drucksache 16/7772 den Gesetzent-
wurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/7439 und
16/7486 in der Ausschussfassung anzunehmen.
Hierzu liegen drei Änderungsanträge vor, über die wir
zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag
der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/8532? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsan-
trag ist mit den Stimmen des ganzen Hauses bei Gegen-
stimmen der FDP abgelehnt.
Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion
Die Linke auf Drucksache 16/8530? - Wer stimmt dage-
gen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den
Stimmen von SPD, CDU/CSU und FDP bei Enthaltun-
gen von Bündnis 90/Die Grünen und Gegenstimmen der
Linken abgelehnt.
Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/8531? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsan-
trag ist mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU und FDP
bei Gegenstimmen von Bündnis 90/Die Grünen und der
Fraktion Die Linke abgelehnt.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-
zeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der Opposi-
tion angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzent-
wurf ist damit in dritter Beratung mit den Stimmen der
Koalition bei Gegenstimmen der Opposition angenom-
men.
Wir kommen damit zur Abstimmung über drei Ent-
schließungsanträge. Wer stimmt für den Entschließungs-
antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/8528? -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschlie-
ßungsantrag ist mit den Stimmen des ganzen Hauses bei
Gegenstimmen der FDP abgelehnt.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Frak-
tion Die Linke auf Drucksache 16/8527? - Gegenprobe! -
Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den
Stimmen von SPD, CDU/CSU und FDP bei Enthaltung
von Bündnis 90/Die Grünen und Gegenstimmen der
Linken abgelehnt.
Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/8529? -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschlie-
ßungsantrag ist ebenfalls mit den Stimmen der Fraktio-
Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner
nen der SPD, CDU/CSU und FDP bei Gegenstimmen
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der
Fraktion Die Linke abgelehnt.
Wir setzen die Abstimmungen zu der Beschlussemp-
fehlung des Ausschusses für Gesundheit auf Drucksa-
che 16/8525 fort. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 2 sei-
ner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/7136
mit dem Titel „Finanzielle Nachhaltigkeit und Stärkung
der Verbraucher - Für eine konsequent nutzerorientierte
Pflegeversicherung“. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? -
Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Frak-
tionen der SPD, CDU/CSU und FDP bei Gegenstimmen
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und Enthaltung der
Fraktion Die Linke angenommen.
Unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion
Die Linke auf Drucksache 16/7472 mit dem Titel „Für
eine humane und solidarische Pflegeabsicherung“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen der Fraktionen der SPD, CDU/CSU
und FDP bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen und Gegenstimmen der Fraktion Die Linke an-
genommen.
Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 4 seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/8525 die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion der FDP auf Druck-
sache 16/7491 mit dem Titel „Für eine zukunftsfest und
generationengerecht finanzierte, die Selbstbestimmung
stärkende, transparente und unbürokratische Pflege“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussemp-
fehlung ist mit den Stimmen des ganzen Hauses bei Ge-
genstimmen der FDP angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 5 sei-
ner Beschlussempfehlung, eine Entschließung anzuneh-
men. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussemp-
fehlung ist mit den Stimmen der Fraktionen Die Linke,
SPD und CDU/CSU bei Gegenstimmen der Fraktionen
Bündnis 90/Die Grünen und FDP angenommen.
Zusatzpunkt 6. Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Gesundheit zu dem Antrag der Fraktion der FDP
mit dem Titel „Entbürokratisierung der Pflege vorantrei-
ben - Qualität und Transparenz der stationären Pflege
erhöhen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 16/6836, den Antrag der
Fraktion der FDP auf Drucksache 16/672 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussemp-
fehlung ist mit den Stimmen der Fraktionen Die Linke,
SPD und CDU/CSU bei Enthaltung der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen und Gegenstimmen der Fraktion der
FDP angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 a und 24 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus
Ernst, Dr. Lothar Bisky, Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Riester-Rente auf den Prüfstand stellen
- Drucksache 16/8495 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Volker Schneider ({2}), Klaus Ernst,
Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion DIE LINKE
Wiedereinführung der Lebensstandardsicherung in der gesetzlichen Rente
- Drucksachen 16/5903, 16/6921 Berichterstattung:
Abgeordneter Peter Weiß ({3})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich würde jetzt gern die Aussprache eröffnen und
bitte die Kolleginnen und Kollegen, ihre Gespräche außerhalb des Saales zu führen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Klaus Ernst.
({4})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Angesichts der Rentenpolitik der Bundesregierung verstehe ich, dass so viele Koalitionäre den Raum
verlassen.
Die Ergebnisse dieser Politik sind leicht zusammenzufassen: 2003: Rentenerhöhung null; 2004: Rentenerhöhung null; 2005: Rentenerhöhung null; 2006: Rentenerhöhung null; 2007: plus 0,54 Prozent bei einer
Preissteigerung von 2,8 Prozent; zu 2008 kann ich aufgrund der neuesten Pressemeldungen nur sagen: Schleuderkurs.
({0})
Die Rentner haben seit 2003 aufgrund der Preissteigerungen real 10 Prozent weniger. Sie haben viele zusätzlichen Belastungen zu verkraften gehabt: den allein zu
finanzierenden zusätzlichen Krankenkassenbeitrag, unter anderem für Krankengeld, das ein Rentner per Definition gar nicht mehr beziehen kann, Zuzahlungen, die
Praxisgebühr von 10 Euro pro Quartal usw. Das Ergebnis der Rentenpolitik der letzten Jahre lautet: Keine ReKlaus Ernst
gierung hat die Rentner so geschröpft wie Rot-Grün und
Schwarz-Rot in den letzten Jahren. Keine Regierung hat
sich das zuvor getraut.
({1})
Aber jetzt bekommen Sie kalte Füße. Heute vor fünf
Jahren ist die Agenda 2010 verkündet worden. Jetzt,
fünf Jahre später, wollen Sie die Dämpfung, die durch
die sogenannte Riester-Reform verursacht wurde, aussetzen. Inzwischen haben Sie einen neuen Kürzungsfaktor eingeführt, den Nachhaltigkeitsfaktor. Fünf Jahre
nach Einführung des Nachhaltigkeitsfaktors wollen Sie
den Riester-Faktor außer Kraft setzen. Bei diesem Grad
an Verwirrung erscheint die Aufnahme der Demenzkranken in die Pflegeversicherung in einem ganz neuen
Licht.
({2})
Die Aussetzung dieses Dämpfungsfaktors ist aber viel
zu wenig. Wir wollen und beantragen, dass alle Dämpfungsfaktoren in der Rente abgeschafft werden. Wir wollen, dass die Renten wieder der Lohnentwicklung in
diesem Land folgen, was Sie verhindert haben,
({3})
und wir wollen, dass die gesetzliche Rente wieder den
Lebensstandard sichert. Man hatte immer den Eindruck,
dass die Riester-Rente die Kürzung der gesetzlichen
Rente ausgleichen soll. Dazu ein Zitat von Herrn Riester
aus dem Jahr 2007:
Nein, bei mir ging es nie darum, Defizite der Sozialversicherungsrente auszugleichen. Ich habe die
Sozialversicherungsrente nicht als eine Rente angesehen, die den Lebensstandard im Alter sichert, da
habe ich mich völlig unterschieden von Norbert
Blüm.
Inzwischen stehen wir Herrn Blüm näher als Sie.
({4})
Sie zweifeln an der Finanzierbarkeit unserer Anträge. Ich empfehle Ihnen, unsere Anträge bis zum Ende
zu lesen; dann wissen Sie nämlich auch, wo das Geld
herkommen soll. Sie formulieren ein Dogma: Die Beiträge für die gesetzliche Rentenversicherung sollen nicht
steigen. Sie behaupten, die Linke fordere einen Beitragssatz in Höhe von 28 Prozent, und tun so, als würde
der Beitragssatz im Jahr 2030 anders aussehen, wenn
man Ihrem Konzept folgen würde.
({5})
Dem wollen wir uns jetzt einmal mathematisch nähern, auch wenn ich weiß, dass es bei Ihnen mit der Mathematik schwierig ist; das sieht man ja an der Mehrwertsteuer.
({6})
Wir wollen es trotzdem einmal versuchen: Sie prognostizieren für 2030 einen Rentenbeitrag in Höhe von
22 Prozent. Paritätisch finanziert würde das bedeuten,
dass der Arbeitnehmer 11 Prozent zahlt. Inzwischen
weiß man aber, dass man von seiner Rente nicht wird leben können. Deshalb muss ein Arbeitnehmer, wenn er
seinen Lebensstandard im Alter halten will, mit ungefähr
6 Prozent seines Einkommens privat vorsorgen. Sein
Beitrag ist also überhaupt nicht stabil. Sein Beitrag liegt
bei 11 plus 6 gleich 17 Prozent.
Wenn man den Beitragssatz, den die Arbeitgeber zahlen sollen - er beträgt 11 Prozentpunkte -, berücksichtigt, kommt man zu dem Ergebnis: Nach Ihren Vorstellungen würde der Beitragssatz zur Rentenversicherung
im Jahr 2030 bei 28 Prozent liegen. Außerdem wäre er
dann nicht mehr paritätisch finanziert. Die Arbeitgeber
müssten einen Beitragssatz von 11 Prozentpunkten und
die Arbeitnehmer einen Beitragssatz von 17 Prozentpunkten zahlen. Wir hingegen wollen, dass der Beitragssatz zur Rentenversicherung, den die Arbeitnehmer zu
zahlen haben, nicht in diesem Maße steigt. Außerdem
wollen wir, dass er nach wie vor paritätisch finanziert
wird.
({7})
Unser Vorschlag hätte zur Folge, dass der Beitragssatz,
den die Arbeitnehmer zu zahlen hätten, um 3 Prozentpunkte geringer wäre, als er es nach Ihren Vorstellungen
wäre. Das ist die Wahrheit.
({8})
Meine Damen und Herren, jetzt möchte ich mich
noch ein wenig mit der Riester-Rente beschäftigen.
({9})
Es gibt folgendes Problem: Sie subventionieren mit vielen Milliarden Euro eine Reform, von der wir noch gar
nicht wissen, wie sie wirkt. Welche Wirkungen sie für
eine Verkäuferin, die 1 000 Euro verdient, hat, das wissen wir allerdings.
Wenn man die Situation zweier Verkäuferinnen, von
denen eine riestert und eine nicht riestert, vergleicht,
kommt man zu folgendem Ergebnis: Sagen wir, beide
Frauen beziehen, wenn sie entsprechend wenig verdienen, eine gesetzliche Rente von 400 Euro. Diejenige, die
geriestert hat, erhält 50 Euro mehr. Letztlich bekommen
beide Verkäuferinnen eine Grundsicherung in Höhe von
circa 650 Euro. Das bedeutet, dass die Frau, die geriestert hat, von ihrer Riester-Rente überhaupt nichts hat.
({10})
Weil Sie die Riester-Rente, obwohl Sie das wissen, fördern und den Leuten nicht sagen, dass sie davon nichts
haben, stellen wir fest: Das, was Sie hier betreiben, ist
organisierter Anlagebetrug.
({11})
Millionen von Menschen werden zu den privaten Versicherungskonzernen gedrängt, obwohl sie nicht wissen,
was am Ende für sie herauskommt. Das Einzige, das wir
schon heute wissen, ist, wer mit Sicherheit an der
Riester-Rente verdient: die private Versicherungswirtschaft.
({12})
Diese Branche macht aufgrund der Riester-Rente große
Gewinne. Im Jahre 2001 befanden sich die Versicherungsunternehmen noch in einer Krise. Inzwischen wissen sie gar nicht mehr, wohin mit ihrem Geld.
({13})
Meine Damen und Herren, mit der Aussetzung des
Riester-Faktors für die Dauer von zwei Jahren sind Sie
insofern auf dem richtigen Weg, als die Renten dadurch
geringfügig steigen werden, allerdings so geringfügig,
dass die Rentner im Jahre 2008 wieder weniger Geld bekommen werden als im Jahr zuvor.
({14})
Um das zu vermeiden, reicht es nicht aus, nur den
Riester-Faktor auszusetzen.
Sie wissen ganz genau, dass die Bürger in diesem
Lande das nicht länger hinnehmen. Die Aussetzung des
Riester-Faktors für zwei Jahre ist nichts anderes als ein
wahltaktisches Manöver,
({15})
das Sie betreiben, weil Sie merken, dass Sie bei Wahlen
eins auf die Mütze kriegen. Das ist die Wahrheit.
({16})
Ich komme zum Schluss. Wir werden Sie in der Rentenpolitik weiter vor uns hertreiben. Ich garantiere Ihnen: Sie werden noch vieles machen, was in unserem
Sinne ist, auch dann, wenn Sie es gar nicht wollen.
Ich danke Ihnen fürs Zuhören.
({17})
Nächster Redner ist der Kollege Peter Weiß, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Manch einer wird verwundert gewesen sein, welch toller
Rechenkünstler gerade geredet hat.
({0})
Das war sagenhaft verwirrend. Daher will ich Ihnen sagen, was die Forderung der Linken im Ergebnis bedeuten würde:
({1})
Das, was hier vorgetragen und beantragt wurde, hätte zur
Folge,
({2})
dass der Beitragssatz zur Rentenversicherung in einem
Schritt auf 28 Prozentpunkte in die Höhe schnellen
würde.
({3})
Den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in Deutschland würden dadurch 80 Milliarden Euro zusätzlich abgeknöpft,
({4})
und zwar mit steigender Tendenz.
({5})
Das ist das Ergebnis dessen, was hier gerade vorgetragen
worden ist.
({6})
Diejenigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die
diesen sagenhaft hohen Beitragssatz zur Rentenversicherung - wie gesagt, mit steigender Tendenz - zahlen
müssten, könnten sich noch nicht einmal sicher sein,
dass sie dafür im Alter eine Rente in entsprechender
Höhe bekommen.
({7})
Peter Weiß ({8})
Im Gegenteil, ihr Rentenanspruch würde sogar sinken.
Deswegen sage ich Ihnen: Der Rentenklau hat einen Namen, und er sitzt in diesem Hause linksaußen.
({9})
Damit kein Rentenklau stattfindet, sondern auch in
Zukunft der Lebensstandard im Alter gesichert ist, haben
wir das Alterssicherungssystem in Deutschland vor einigen Jahren auf ein Dreisäulensystem umgestellt:
({10})
gesetzliche Rentenversicherung, betriebliche Altersvorsorge und private, kapitalgedeckte Altersvorsorge.
({11})
Warum haben wir das gemacht? Wir stehen in
Deutschland vor der riesigen Aufgabe, die demografische Veränderung zu bewältigen. Die sogenannten geburtenstarken Jahrgänge - das sind die Leute, die heute
zwischen 35 und 55 Jahre alt sind - wollen, wenn sie in
10, 20, 30 Jahren in Rente gehen, eine anständige Rente
bekommen.
({12})
Hinzu kommt, dass genau diese geburtenstarken Jahrgänge bis zu fünf Jahre länger als die heutigen Rentnerinnen und Rentner Rente beziehen werden, weil die
Lebenserwartung - erfreulicherweise - deutlich steigt.
Ich will das an einem Beispiel verdeutlichen: Der geburtenstärkste Jahrgang ist der Jahrgang 1964. Die im
Jahr 1964 Geborenen werden 2029 65 Jahre alt sein.
Dieser Jahrgang wird dann den Schätzungen nach
1,334 Millionen Menschen umfassen. Die im Jahr 2004
Geborenen, die dann 25 Jahre alt sein werden und die
hoffentlich im Berufsleben stehen und Steuern und Sozialversicherungsbeiträge zahlen werden, werden nur
775 000 Menschen umfassen. 1,334 Millionen zu
775 000, dieser Vergleich zwischen nur zwei Geburtsjahrgängen zeigt überdeutlich, wie radikal sich die Altersstruktur unseres Landes verändern wird. Darauf
muss man als Rentenpolitiker eine Antwort geben.
({13})
Die Antwort kann nur lauten: Unser Rentensystem
muss einen gerechten Ausgleich finden zwischen dem,
was wir den Älteren, die in Rente gehen, zugestehen
wollen, und dem, was die Jungen in die Rentenkasse einzahlen müssen. Das bedeutet in einem umlagefinanzierten Rentensystem, in dem die Jungen für die Alten zahlen, dass das Niveau der Rente sinken muss, damit der
Beitrag nicht in exorbitante Höhen wie 28 Prozent oder,
wie es Prognos für das Jahr 2030 vorausgesagt hat,
36 Prozent oder gar 41 Prozent steigt. Das ist das
Schreckgespenst, vor dem die Menschen in Deutschland
stehen.
({14})
Herr Kollege Weiß, der Kollege Ernst würde gerne
eine Zwischenfrage stellen.
Das darf er machen, und er darf mir auch seine neuen
Rechenbeispiele vortragen.
Danke, Herr Weiß. - Würden Sie mir zustimmen,
dass der Mensch, der im Jahre 2030 seinen Lebensstandard mit gesetzlicher Rente und mit privater Vorsorge sichern will, auf einen Beitragssatz von insgesamt ungefähr 17 Prozent kommt?
({0})
Würden Sie mir zweitens zustimmen, dass das Problem der demografischen Entwicklung nicht nur die gesetzlich Versicherten, sondern auch die privat Versicherten betrifft?
Würden Sie mir drittens zustimmen, dass es angesichts dessen, dass das Institut für Makroökonomie und
Konjunkturforschung festgestellt hat, dass der Aufschwung nur bei den Unternehmen ankommt, sinnvoll
wäre, die Unternehmen wieder paritätisch zur Finanzierung der Rente heranzuziehen?
({1})
Herr Kollege Ernst, wenn Sie sich einmal die Mühe
machen, den letzten Altersvorsorgebericht der Bundesregierung zu lesen,
({0})
werden Sie feststellen, dass die Experten sagen, dass
derjenige, der das Dreisäulenmodell praktiziert, der gesetzliche Rente mit betrieblicher Altersvorsorge und mit
privater, kapitalgedeckter Altersvorsorge, etwa einer
Riester-Rente, kombiniert, davon ausgehen kann, dass er
ein Versorgungsniveau wie die heutigen Rentnerinnen
und Rentner erreicht. Die Geringverdienenden werden
dieses Versorgungsniveau eher erreichen und es sogar
übertreffen können. Das sind Aussagen des Altersvorsorgeberichts. Experten haben das durchgerechnet, nicht
politische Schaumschläger wie Sie.
({1})
Es überfordert die Linke intellektuell, einzusehen
- das ist der entscheidende Denkfehler -, dass die umlagefinanzierte Rente, bei der die Jungen in die Rentenkasse einzahlen, damit die Alten die Rente bekommen,
auf die sie in ihrem Erwerbsleben einen Anspruch erworben haben, ein riesiges Demografieproblem hat,
Peter Weiß ({2})
wenn viele Alte und wenige Junge da sind. Die kapitalgedeckte Altersvorsorge - die betriebliche Altersvorsorge genauso wie der Riester-Sparvertrag - bedeutet,
dass ich, dass Sie, dass jeder von uns für sich, auf seinem
Konto, etwas für seine Altersvorsorge anspart und später
nicht die Jungen, die arbeiten, belastet. Deswegen sind
die von uns vorgenommenen Umstellungen im Altersvorsorgesystem in Deutschland die richtige Antwort auf
die demografischen Bedingungen. Ihr Vorhaben, alle
Lasten auf die junge Generation zu verschieben, ist ein
Betrug an dieser Generation.
({3})
Aber zurück zu meiner Rede:
({4})
Entscheidend ist, dass wir bei einer Umstellung unseres
Altersvorsorgesystems die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht alleine lassen. Wir müssen ihnen mit
konkreter staatlicher Hilfe helfen, damit private kapitalgedeckte Altersvorsorge für sie kein Fremdwort ist, sondern dass sie diese Chance nutzen können.
({5})
Dabei ist die Große Koalition, wie ich finde, einen sehr
konsequenten Weg gegangen.
Erstens hat die Große Koalition die Entgeltumwandlung zur Altersvorsorge dauerhaft steuer- und sozialabgabenfrei gestellt. Davon profitiert der weitere notwendige Aufbau der betrieblichen Altersvorsorge. Schon
heute haben 65 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland einen Betriebsrentenanspruch. Wir tragen mit dieser Entscheidung konkret dazu
bei, dass sich der Anteil weiter erhöht und diese Säule
der Altersvorsorge entsprechend stabilisiert wird.
({6})
Zweitens hat diese Große Koalition die private kapitalgedeckte Altersvorsorge noch attraktiver gemacht.
Gegenwärtig haben bereits 11 Millionen Menschen einen Riester-Sparvertrag und es werden täglich mehr.
Denn seit diesem Jahr steigt beim Riester-Sparvertrag
der staatliche Förderbetrag pro Kind auf 300 Euro jährlich.
Als Neuerung planen wir, dass auch der Erwerb von
Wohneigentum zur Altersvorsorge gefördert wird, dass
junge Leute eine Einstiegsprämie von 100 Euro erhalten
und dass Erwerbsgeminderte ebenfalls die staatliche
Förderung für private Altersvorsorge erhalten können.
Herr Ernst hat auf die Parität der bisherigen jeweils
hälftigen Finanzierung der Rentenversicherungsbeiträge
durch Arbeitnehmer und Arbeitgeber hingewiesen. Dem
halte ich entgegen: Wenn wir für Niedrigverdiener bei
der Riester-Rente eine staatliche Förderquote von bis zu
90 Prozent ermöglichen, dann ist das überparitätisch und
kommt gerade denjenigen zugute, die es am nötigsten
brauchen. Riester lohnt sich auch und erst recht für den,
der wenig verdient.
({7})
Gleichzeitig stärken wir auch die gesetzliche Rente;
denn sie wird auch in Zukunft die wichtigste Säule der
Altersvorsorge bleiben. Die Rentnerinnen und Rentner
fordern von uns zu Recht die Chance, auch am wirtschaftlichen Aufschwung teilzuhaben, zumal zusätzliche
Belastungen auf sie zukommen wie die soeben beschlossene Erhöhung des Pflegeversicherungsbeitrages um
0,25 Prozentpunkte ab 1. Juli bei einer entsprechenden
Ausweitung der Versicherungsleistungen.
Deshalb will die Große Koalition zusätzliche Leistungen für die Renterinnen und Rentner einführen. Wir wollen, dass die Rentnerinnen und Rentner am 1. Juli dieses
Jahres eine angemessen Rentenerhöhung erhalten, damit
auch sie am wirtschaftlichen Aufschwung in unserem
Land partizipieren können.
({8})
Es ist interessant, dass ausgerechnet die Linke - wie
Herr Ernst in seiner Rede - dies wieder verteufelt. Ich
bin der Überzeugung, dass eine angemessene Rentenerhöhung zum 1. Juli 2008, die die Große Koalition jetzt
auf den Weg bringt, damit die Rentnerinnen und Rentner
am wirtschaftlichen Aufschwung partizipieren können,
eine gute und richtige Entscheidung ist. Es ist ein positives Signal für die Rentnerinnen und Rentner in unserem
Land.
({9})
Herr Kollege Weiß, der Kollege Dehm möchte auch
eine Zwischenfrage stellen.
Auch der Herr Kollege Dehm möchte später eine
Rente bekommen.
Herr Kollege, können Sie erklären, warum Herr
Dr. Norbert Blüm in der Riester-Rente einen völligen
Bruch mit dem Solidarprinzip sieht, oder gehört er auch
zu denjenigen, die nur verteufeln?
({0})
Ich kann Ihnen die Frage beantworten. Zuerst einmal
gebührt Norbert Blüm Anerkennung dafür, dass er 1992
die größte Rentenreform, die es in Deutschland gegeben
hat, was das finanzielle Ausmaß anbelangt, durchgeführt
hat. Er hat Maßnahmen eingeleitet, die dazu geführt haben, dass der Rentenversicherungsbeitrag - entgegen
Peter Weiß ({0})
dem, was die Linken wollen - nicht in astronomische
Höhen steigt,
({1})
sondern dass der Anstieg gedämpft wird. Norbert Blüm
hat 1987 bei Prognos in Basel eine Studie in Auftrag gegeben, die untersuchen sollte, was mit der gesetzlichen
Rente passiert, wenn man alles, was damals gegolten
hat, weiterlaufen lässt. Prognos hat ihm damals folgende
Zahlen präsentiert: Wenn wir nichts tun
({2})
- darauf antworte ich gerade -, dann steigt der Rentenversicherungsbeitrag bis zum Jahr 2030 auf mindestens
36 Prozent, wahrscheinlich sogar auf 41 Prozent. Als
Konsequenz wurde in diesem Haus 1992 die von
Norbert Blüm initiierte Rentenreform beschlossen, die
dieses für die jungen Menschen, die arbeiten gehen und
Geld verdienen, schreckliche Szenario verhindert hat.
Norbert Blüm gebührt Dank dafür, dass er die bislang
konsequenteste Rentenreform in Deutschland durchgeführt hat.
Zu Recht hat Norbert Blüm aber auch die Sorge, dass
Menschen, die wenig verdient haben und lange Ausfallzeiten haben, bei sinkendem Rentenniveau eine Rente
erhalten, die zum Leben nicht mehr reicht. Hier gebe ich
ihm Recht. Wir werden sicherlich auch eine Form der
Absicherung nach unten für künftige Generationen in
unserem Rentensystem benötigen. Ein sinkendes Rentenniveau darf nicht zur Folge haben, dass Menschen in
Altersarmut geraten.
({3})
Herr Kollege Weiß, der Kollege Spieth würde gerne
eine Zwischenfrage stellen.
Frau Präsidentin, ich beantworte gerne alle Fragen.
Aber vielleicht sollten wir den Kollegen von der Linksfraktion ein Rentenseminar anbieten.
({0})
Es ist Ihnen unbenommen, ihnen das anzubieten.
Bitte schön, Herr Spieth.
Da ich in der Selbstverwaltung der gesetzlichen Rentenversicherung tätig war und Seminare im Rentenversicherungsrecht gemacht habe, könnten wir uns dann intensiv austauschen. - Herr Kollege Weiß, in der Tat
wurde eine Rentenreform auf der Grundlage einer Prognos-Studie aus dem Jahre 1987 durchgeführt, und zwar
am 9. November 1989, also an dem Tag, an dem die
Mauer gefallen ist. Deshalb ist das leider weitgehend aus
dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden. Tatsache
ist, dass damals gesagt wurde: Machten wir den Umbau
von der bruttobezogenen Rente hin zur nettobezogenen
Rente einschließlich weiterer Rentenkürzungen nicht,
kämen wir auf die Beitragssätze, die Sie vorhin beschrieben haben, nämlich auf bis zu 36 Prozent. Aber Sie haben peinlichst verschwiegen, dass man damals bereit
war - das wurde vom gesamten Haus festgelegt -, eine
lebensstandardsichernde, nettobezogene Rente mit einem Rentenversicherungsbeitrag in Höhe von 28 Prozent zu finanzieren. Ist das zutreffend oder nicht?
({0})
Herr Kollege Spieth, ich wiederhole, was ich vorhin
vorgetragen habe: Das Hauptproblem bei einem Rentenversicherungsbeitrag in Höhe von 28 Prozent und mehr
wäre, dass den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern,
die einen solch astronomisch hohen Rentenversicherungsbeitrag zahlen müssten, angesichts der demografischen Entwicklung für ihren späteren Ruhestand kein
Äquivalent, also eine diesem Beitrag entsprechende
Rente, zugesagt werden kann. Deswegen war und bleibt
es richtig, dass wir unser Rentensystem zu einem Dreisäulensystem umbauen, das die Umlagefinanzierung - die
Jungen zahlen für die Alten - mit der kapitalgedeckten
Altersvorsorge - die Jungen sparen für ihr Alter an kombiniert. Das ist und bleibt die einzig richtige Antwort, auch wenn die Linke das nicht mag.
({0})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, um es zusammenzufassen: Was hier von links beantragt wird, ist
nichts anderes als eine Rolle rückwärts in der Rentenpolitik.
({1})
Diese Rolle rückwärts bewirkt Folgendes: Erstens. Sie
zerstört die Solidarität der Generationen. Was die Linken
wollen, ist Kampf der Generationen gegeneinander und
nicht solidarischer Ausgleich.
({2})
Zweitens. Was hier beantragt wird, schafft nicht soziale
Gerechtigkeit, sondern zerstört sie.
Das Drei-Säulen-Modell der Altersvorsorge schafft
Gerechtigkeit unter den Generationen; die Rolle rückwärts ist die Abschaffung dieser Gerechtigkeit. Eine
Rolle rückwärts in der Rentenpolitik würde schlichtweg
einen Betrug an der jungen Generation bedeuten, aber
nicht nur an ihr, sondern letztlich auch an der älteren.
Deswegen sage ich: Das Drei-Säulen-System der Altersvorsorge ist alternativlos, wenn wir der doppelten demografischen Herausforderung begegnen wollen, die auf
uns zukommt und die die Linken gerne leugnen, so wie
Peter Weiß ({3})
sie vieles gerne leugnen und den Leuten nicht die Wahrheit sagen.
({4})
- So ist es.
Das Dreisäulensystem ist die einzig richtige Antwort
auf die demografische Herausforderung, die vor uns
steht. Mit dem, was wir mit zusätzlicher staatlicher Hilfe
für die private kapitalgedeckte Altersvorsorge auf den
Weg gebracht haben und weiter auf den Weg bringen,
also mit der Stärkung der betrieblichen Altersvorsorge,
verhindern wir Altersarmut, mit dem schaffen wir Sicherheit im Alter, auch für die Zukunft.
Vielen Dank.
({5})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Dr. Heinrich Kolb,
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich halte es für bemerkenswert, was heute Morgen hier
passiert. Am Ende dieser Sitzung wird sich der Deutsche
Bundestag in die Osterpause verabschieden. Die Tickermeldungen überschlagen sich, die Bundesregierung
wolle an der Rentenformel Veränderungen vornehmen.
Aber hier wird bislang diese Tatsache mit keinem Wort
angesprochen.
({0})
Ich halte es auch für ein Unding, dass der zuständige
Minister, der für heute Mittag um 14.30 Uhr zu diesem
Thema eine Pressekonferenz angesetzt hat, nicht die Gelegenheit nutzt, heute Morgen hier im Deutschen Bundestag seine Pläne vorzustellen und uns zu informieren.
So geht das nicht.
({1})
Das muss man hier wirklich sehr deutlich sagen.
({2})
- Wenn der Kolb recht hat, hat er recht; das ist zweifellos der Fall. Und hier hat er recht.
Ich will es unmissverständlich sagen: Auch für uns ist
nicht akzeptabel, dass die Rentner in diesem Lande in ihrer Einkommensentwicklung dauerhaft hinter der Kaufpreisentwicklung zurückbleiben, also real an Kaufkraft
verlieren. Das ist nicht akzeptabel.
Aber Kaufkraftverlust hat zwei Seiten. Eine ist die in
den letzten Jahren sicherlich in sehr geringem Maße vorgenommene Rentenanpassung, wenn es überhaupt eine
gab. Auf der anderen Seite geht es aber auch um eine
deutliche Kostensteigerung. Hierzu muss ich feststellen:
Die Rentnerinnen und Rentner in diesem Lande büßen
für eine falsche Politik der Bundesregierung.
({3})
Die Bundesregierung hat die auch von den Rentnern
zu zahlende Mehrwertsteuer drastisch erhöht und damit
die Inflation hochgetrieben. Die Krankenkassenbeiträge
steigen; die Pflegeversicherungsbeiträge werden zum
1. Juli dieses Jahres angehoben. Von der Senkung des
Arbeitslosenversicherungsbeitrages profitieren die Rentner nicht. Die Energiekosten galoppieren davon und belasten auch die Rentnerhaushalte. Das ist nicht akzeptabel, und diese Entwicklung hat die Bundesregierung zu
verantworten.
({4})
Angesichts dessen stellen Sie sich hier hin, Herr
Weiß, und sagen: Wir wollen, dass sie jetzt eine angemessene Erhöhung bekommen. - Ich zitiere Ihren Fraktionsvorsitzenden Kauder: Eine Rentenerhöhung von
0,4 Prozent wäre für viele äußerst unbefriedigend, weil
damit nicht einmal die Inflation ausgeglichen würde. Wissen Sie denn, Herrn Weiß, wie hoch die Inflationsrate, prognostiziert durch die Bundesregierung im Januar, in diesem Jahr sein wird? 2,3 Prozent. Und jetzt
kommt vielleicht eine Rentenanpassung von 1 Prozent
heraus. Ist das angemessen, Herr Weiß, was Sie hier vorhaben? Das ist es doch keinesfalls.
({5})
- Ich lasse die Zwischenfrage des Kollegen natürlich zu.
Herr Kolb, ich wollte Sie gerade fragen, ob Sie diese
Zwischenfrage zulassen.
Ich freue mich darauf.
({0})
Da Sie, Herr Kollege Dr. Kolb, als ehemaliger Staatssekretär die Rentenformel exakt kennen und wissen,
dass es in der Rentenanpassung keinen Inflationsausgleich gibt, so wie die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer keinen Anspruch auf Inflationsausgleich haben,
sondern in Tarifverhandlungen ihre Gehaltserhöhungen
erkämpfen müssen, frage ich Sie erstens: Ist die FDP
willens und bereit - und mit welcher Rentenformel und
wie finanziert? -, den Rentnerinnen und Rentnern zum
1. Juli 2008 einen vollen Inflationsausgleich zu geben?
Zweitens: Warum machen Sie bei unserem Vorhaben,
wenigstens eine einigermaßen angemessene Rentenerhöhung zum 1. Juli 2008 zu ermöglichen, nicht mit? WaPeter Weiß ({0})
rum schließen Sie sich der Großen Koalition in dieser
Frage nicht an?
({1})
Erstens, Herr Kollege Weiß, das Muster, das Olaf
Scholz offensichtlich jetzt zur Blaupause erhoben hat,
geht nicht. Man kann nicht den Leuten ein Kotelett zurückgeben, nachdem man ihnen vorher die Sau vom Hof
geholt hat, und dann noch Dankbarkeit erwarten. Das
geht jedenfalls nicht.
({0})
Zweitens - ich komme auf Ihre Frage, Herr Kollege
Weiß -: Das Herumbasteln an der Rentenformel verbietet sich aus unserer Sicht. Es ist nicht der richtige Weg,
weil es das Vertrauen der Menschen in eine langfristig
angelegte und verlässliche Rentenpolitik zerstört. Das
geht also auch nicht.
({1})
Wenn es - so verstehe ich das befristete Aussetzen
des Riester-Faktors - darum gehen soll, die Menschen in
diesem Lande befristet zu entlasten - Menschen heißt
hier ganz konkret: die Rentnerinnen und Rentner -, dann
sollten Sie darüber nachdenken, wie man die Rentnerinnen und Rentner in diesem Lande von Energie- und Verbrauchssteuern entlasten kann. Denn genau das sind
Dinge, die die Menschen besonders treffen.
({2})
Hier könnten Sie nicht nur ein bisschen heilen, sondern auch bewirken, dass die Menschen das Gefühl haben: Es wird zwar alles teurer, aber die Bundesregierung
hat uns punktuell an dieser Stelle so gestellt, dass wir davon nicht betroffen sind. - Das wäre faire Politik gegenüber den Rentnerinnen und Rentnern.
({3})
- Nein, Herr Kollege Weiß, das, was Sie hier machen, ist
nicht ehrlich.
({4})
- Ich habe es Ihnen doch gesagt:
({5})
Wir wollen eine gezielte Entlastung der Rentnerinnen
und Rentner bei den Energie- und Verbrauchssteuern,
weil das wirklich bei denen ankommen würde, denen geholfen werden soll.
({6})
Wir wollen kein Herumbasteln an der Rentenformel. Das
ist wirklich ein Ding.
({7})
Sie selbst, Herr Weiß, haben in der Vergangenheit
eine Rente nach Kassenlage immer ausgeschlossen.
Aber was wir jetzt erleben, ist eine Rente nach Umfragenlage.
({8})
Offensichtlich hat der Bundesarbeitsminister angesichts
der abstürzenden Umfragewerte der SPD, Frau Kollegin
Nahles, kalte Füße bekommen,
({9})
mit einer Rentenerhöhung von 0,5 Prozent vor die Menschen zu treten. Das ist doch der wahre Hintergrund. Das
geht so nicht; das muss man wirklich sagen. Sie haben
den Überblick verloren.
Im letzten Jahr, Herr Kollege Weiß, haben Sie die
Rentenbeiträge erhöht, obwohl es vermeidbar gewesen
wäre.
({10})
Sie haben zugunsten des Bundeshaushaltes die Beiträge
der Empfängerinnen und Empfänger von ALG II künstlich um 2 Milliarden Euro reduziert. Wir hatten im Jahr
2007 einen Überschuss in Höhe von 1,2 Milliarden
Euro. Das heißt unter dem Strich: Wir hätten diese Rentenerhöhung von 19,5 auf 19,9 Prozent nicht gebraucht.
({11})
In der Rentenformel wirkt diese Erhöhung so, dass die
Rentenanpassung reduziert wird. Deswegen wiederhole
ich: Sie haben den Überblick verloren. Sie wissen nicht
mehr, wie dieses komplizierte Räderwerk der Rentenformel ineinandergreift und wollen jetzt den Riester-Faktor
für zwei Jahre aussetzen.
({12})
Ich sage noch einmal: Das ist Politik nach Umfragewerten. Mit einer seriösen und verlässlichen Rentenpolitik hat das nichts zu tun.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({13})
Das Wort hat der Kollege Gregor Amann, SPD.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die beiden vorliegenden Anträge der Linken
und den Redebeitrag von Kollegen Ernst kann man kurz
mit einem Satz zusammenfassen: Riester-Rente taugt
nichts - abschaffen!
({0})
Jetzt habe ich aber vor wenigen Tagen in Spiegel-Online
gelesen, dass die Kollegin Kipping von den Linken ein
Thesenpapier zur Rentenpolitik ihrer Partei verfasst hat.
In diesem Thesenpapier steht - so Spiegel-Online -:
Kürzlich beschloss der Parteivorstand, das Thema
Rente zu einem der zentralen Kampagnenschwerpunkte zu machen.
Das findet auch die Kollegin Kipping richtig. Aber, so
schreibt sie in diesem Papier laut Spiegel-Online:
Dass dem Beschluss zur Rentenkampagne jedoch
kein Beschluss über ein Rentenkonzept der Partei
vorangegangen ist, ist mehr als nur ein Schönheitsfehler.
({1})
Auf der einen Seite sagen Sie, Sie wollten die RiesterRente abschaffen, auf der anderen Seite sagt die stellvertretende Bundesvorsitzende Ihrer Partei, ihre Partei verfüge überhaupt nicht über ein Rentenkonzept. Das
kommt mir so vor, als wenn ich zum Arzt gehe und sage:
„Herr Doktor, ich habe Brustschmerzen“ und der Arzt
sagt: Ich habe zwar keine Ahnung, woher die Schmerzen
kommen, aber wir amputieren auf jeden Fall mal den
rechten Arm.
({2})
Im Gegensatz zu den Linken hat die SPD ein Rentenkonzept. Walter Riester war nicht der einzige sozialdemokratische Arbeitsminister, der sich um die Sicherung
der Altersvorsorge verdient gemacht hat. Die Überwindung der Altersarmut gehört zu den großen Errungenschaften unseres Sozialstaats. Ältere haben in Deutschland heute ein viel niedrigeres Armutsrisiko als die
meisten anderen gesellschaftlichen Gruppen. Natürlich
gibt es auch in Deutschland ältere Menschen, die in Armut leben, aber die Quote der Senioren, die auf Grundsicherung im Alter angewiesen sind - die Grundsicherung
ist übrigens 2003 unter Bundeskanzler Gerhard Schröder
eingeführt worden; darauf bin ich stolz -, beträgt heute
weniger als 3 Prozent. Noch in den 50er-Jahren, also vor
Einführung der dynamischen Rente, war das Armutsrisiko der Älteren mehr als doppelt so hoch wie das der
Gesamtbevölkerung.
({3})
Natürlich müssen wir darüber nachdenken, Herr Spieth,
wie wir diesen Erfolg sichern können und auch zukünftig Altersarmut verhindern.
Sie berufen sich in Ihrem Antrag auf eine Studie der
OECD und stellen deren Aussagen auf den Kopf. Ja, das
Rentenniveau wird in den nächsten Jahren absinken, aber
die OECD-Studie wies gleichzeitig auch auf - Zitat „große Fortschritte“ bei der deutschen Rentenpolitik hin
({4})
und lobte dabei ausdrücklich die Anhebung des Rentenalters auf 67 Jahre; denn die Erhöhung des Renteneinstiegsalters verringere den Druck, das Rentenniveau
abzusenken. Die Studie sagt darüber hinaus, dass die
Kombination von gesetzlicher Rentenversicherung, Betriebsrente und privater Vorsorge sehr wohl dazu geeignet ist, Altersarmut zu verhindern.
Wenn das Rentenniveau für kommende Generationen
absinkt, dann ist die wahre Ursache dafür die dramatische demografische Entwicklung in unserem Land,
welche unser Umlageverfahren an seine Grenzen führt;
denn das Zahlenverhältnis zwischen Rentenempfängern
und Beitragszahlern verschlechtert sich kontinuierlich.
Genau hier greift der von Ihnen kritisierte Nachhaltigkeitsfaktor. Er koppelt nämlich den Rentenanstieg an das
Zahlenverhältnis von Beitragszahlern zu Leistungsbeziehern, und das ist auch sinnvoll; denn Einnahmen und
Ausgaben stehen nun einmal in diesem System in einem
klaren Zusammenhang.
Herr Kollege, Herr Kollege Schneider möchte gerne
eine Zwischenfrage stellen.
Bitte.
({0})
Herr Kollege Amann, Sie haben eben die OECD-Studie angesprochen. Nun enthält die OECD-Studie eine
Reihe von Daten und unter anderem die Aussage - das
haben Sie eingeräumt -, dass das Rentenniveau sinkt,
und zwar so stark, dass wir in der Kategorie der Geringverdiener auf dem letzten Platz und in den anderen Kategorien immer jeweils im letzten Drittel liegen. Das sind
die Fakten, die in diesem Bericht stehen. Wenn nun dieser Bericht angesichts dieser Fakten zu dem Ergebnis
kommt, dass die Bundesrepublik Deutschland Fortschritte macht, können Sie dann verstehen, dass wir als
Linke diese Wertung nicht als durch diese Fakten untermauert ansehen? Sie reden hier über eine Wertung der
OECD. Wes Geistes Kind die OECD ist, will ich nicht
weiter ausführen.
({0})
Kollege Schneider, Sie haben die OECD-Studie sehr
selektiv gelesen. Es ist in der Tat richtig, dass die
OECD-Studie auf Risiken gerade bei Geringverdienern
hinweist. Das ist vollkommen richtig und auch notwendig, aber sie sagt eben auch - das habe ich ausgeführt -,
dass die Bundesregierung auf einem guten Weg ist und
dass das Dreisäulenmodell sehr wohl dazu geeignet ist,
Altersarmut zu verhindern.
({0})
Da ich gerade beim Nachhaltigkeitsfaktor war: Da im
vergangenen Jahr aufgrund des Aufschwungs die Zahl
der Beitragszahler durch den Rückgang der Arbeitslosigkeit stärker als die Zahl der Rentner angestiegen ist, hat
der Nachhaltigkeitsfaktor dazu geführt, dass die Rentensteigerung im vergangenen Jahr sogar größer war, als sie
ohne den Nachhaltigkeitsfaktor gewesen wäre,
({1})
auch wenn sie - das gebe ich zu - nur 0,54 Prozent betragen hat. Der Nachhaltigkeitsfaktor wirkt also in beide
Richtungen.
Aber da wir gerade bei diesem Thema sind: Wenn die
Rentensteigerung in diesem Jahr sich in dem bescheidenen Rahmen bewegt, den manche Zeitungen jetzt schon
zu kennen glauben, ohne dass die Zahlen überhaupt auf
dem Tisch liegen, dann halte ich es für richtig, dass die
SPD-Fraktion dafür eintritt, den Riester-Faktor jetzt für
zwei Jahre auszusetzen.
({2})
Ich höre von beiden Oppositionsparteien, von der auf
der einen wie von der auf der anderen Seite: Erstens
müssen wir die Renten stärker anheben, und zweitens
wäre es eine Sauerei, den Riester-Faktor auszusetzen. Ich verstehe das nicht. Wollen Sie das eine, oder wollen
Sie das andere? Das zeigt: Sie sind in dieser Frage ratlos.
({3})
Die Linken haben in ihrem Antrag eine scheinbar einfache Lösung: den Rentenbeitrag anheben. Schon am
Mittwoch hat der Kollege Schneider, als wir im Ausschuss für Arbeit und Soziales über die Pflegeversicherung diskutiert haben, den Beitrag zur Pflegeversicherung anheben wollen. Ich glaube, Sie sagten in etwa: Wir
haben nicht den gleichen Horror wie Sie vor der Steigerung des Beitragssatzes.
({4})
Ich sage Ihnen: Eine Anhebung der Lohnnebenkosten
bei allen Sozialversicherungen, wie Sie sie wollen, vernichtet nicht nur Arbeitsplätze und zwingt dadurch Menschen in Armut, sondern ist auch arbeitnehmerfeindlich;
denn Sie nehmen den Menschen damit immer größere
Teile ihres Einkommens weg.
Herr Kollege Amann, der Kollege Rohde möchte
gerne eine Zwischenfrage stellen.
({0})
Bitte, Herr Kollege Rohde.
Vielen Dank, Herr Kollege Amann.
({0})
- Ja, ich weiß, ich stehe noch auf der Rednerliste.
Aber Sie haben leider nicht auf den Kollegen Kolb
geantwortet, sondern festgestellt, dass die FDP die Rentenerhöhung nicht mitträgt. Haben Sie versäumt, zur
Kenntnis zu nehmen, dass der Kollege Kolb vorgeschlagen hat, die Rentner an anderen Stellen zu entlasten? Wir
wollen nicht eine Rentenformel nach SPD-Umfragewerten, sondern eine konsequente Rentenpolitik und eine
Entlastung der Rentner an anderer Stelle, zum Beispiel
bei den Energiekosten.
({1})
Bei der Mehrwertsteuererhöhung sind die Rentner belastet worden. Es ist also nicht so, dass wir keine Vorschläge hätten, wie Sie es gerade in den Raum gestellt
haben, sondern so, dass wir andere Vorstellungen haben,
Herr Kollege Amann.
({2})
Herr Kollege Rohde, ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen: Ich habe beim Kollegen Kolb kein funktionierendes
Konzept heraushören können.
({0})
Sie haben nachher die Gelegenheit, das in Ihrem Redebeitrag noch einmal zu erläutern.
Die Hauptursache niedriger Renten sind niedrige Einkommen aufgrund von Niedriglöhnen und Langzeitarbeitslosigkeit. Was können wir dagegen tun?
Zum einen ist aus dieser Logik heraus natürlich eine
erfolgreiche Wirtschaftspolitik immer auch die beste
Rentenpolitik. Ich will darauf nicht näher eingehen, kann
Ihnen aber versichern: Die Regierung ist sehr erfolgreich
bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Noch nie in
der Geschichte der Bundesrepublik ist die Arbeitslosigkeit in einem einzelnen Jahr so stark zurückgegangen
wie im vergangenen Jahr.
({1})
Die Grundlagen dafür wurden übrigens durch die
Agenda 2010 gelegt, die Bundeskanzler Gerhard
Schröder in seiner historischen Rede an genau dieser
Stelle heute vor fünf Jahren eingeleitet hat.
Zum anderen brauchen wir dringend Mindestlöhne
in Deutschland. Wenn wir die Löhne aller, die heute unter 7,50 Euro pro Stunde verdienen, auf mindestens
7,50 Euro anheben würden, könnten wir allein durch
diese Maßnahme die Renten in Deutschland um mehr als
1 Prozent steigern.
({2})
Ferner müssen wir eine Lösung dafür finden, wie wir
auch Menschen mit Brüchen in der Erwerbsbiografie im
Alter absichern. Sinnvoll erscheint mir dabei, unter anderem auch darüber nachzudenken, ob und wie wir
Selbstständige mit geringem Einkommen in die gesetzliche Rentenversicherung einbeziehen können. Wenn man
sich die Statistiken anschaut, wer aus welchem Grund
Grundsicherung im Alter bezieht, dann stellt man fest,
dass der Grundsicherungsbedarf überwiegend nicht
durch zu niedrige Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung entsteht, sondern bei Menschen, die überhaupt keine Ansprüche an die gesetzliche Rentenversicherung haben, die nie in den Sicherungsbereich der
gesetzlichen Rentenversicherung einbezogen waren. Dafür müssen wir eine Lösung finden.
Ich glaube, dass hier das Konzept einer Erwerbstätigenversicherung zielführend ist. Aufgrund der starken
Zunahme von selbstständiger Erwerbstätigkeit, insbesondere von Solo-Selbstständigen - also von solchen
Selbstständigen, die gar keine Angestellten haben -, die
nicht in der gesetzlichen Rentenversicherung abgesichert
sind, aufgrund ihres geringen Einkommens aber auch an
keinem anderen Alterssicherungssystem teilnehmen,
und weil es immer häufiger zu Übergängen von selbstständiger Erwerbstätigkeit zu abhängiger Beschäftigung
kommt, scheint es mir sehr sinnvoll, diese in die gesetzliche Rentenversicherung einzubeziehen. Übrigens sind
wir in Europa die letzten, bei denen die Selbstständigen
noch nicht in das gesetzliche Rentensystem einbezogen
sind.
Für eine Erwerbstätigenversicherung gibt es aber
noch keinen fertigen Plan, der einfach nur umgesetzt zu
werden braucht. Geklärt werden müssen noch viele Detailregelungen, Übergangsregelungen, die genauen Grundlagen der Beitragsbemessung, gerade auch bei stark
schwankenden Einkommen, die Einkommenserfassung
usw. Das sind einige der Dinge, über die wir noch nachdenken müssen.
Wir Sozialdemokraten sind bereit, an dieser Stelle in
die Zukunft zu blicken, um auch weiterhin Altersarmut
zu vermeiden. Die Linken dagegen wollen in ihren Anträgen einfach nur zurück in die Vergangenheit, die angeblich so viel besser war. In der Tat - ich komme auf
den Anfang meiner Rede zurück -: Sie haben kein Rentenkonzept. Deshalb werden wir die beiden vorliegenden
Anträge ablehnen.
({3})
Ich gebe das Wort der Kollegin Irmingard ScheweGerigk, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Mit dem Antrag „Wiedereinführung der Lebensstandardsicherung in der gesetzlichen Rente“ stellt die Linke
den Kern ihres rentenpolitischen Programms vor.
So viel Nostalgie war noch nie. Getreu dem Motto
„Früher war alles besser“ schlägt die Linke eine Rückkehr zur Rentenformel von Norbert Blüm vor.
({0})
- Ja. - Norbert Blüm brauchte bekanntlich nur auf die
Leiter zu klettern und zu plakatieren: Die Rente ist sicher.
({1})
Schon glaubten es alle. Dieses Desaster haben wir heute
auszubaden.
({2})
Sie, meine Damen und Herren von der Linken, streben zurück zu einem Nettorentenniveau von 70 Prozent
des Erwerbseinkommens. Aber was heißt das?
({3})
- Das Rentenseminar ist abgeschlossen. - Sie schlagen
einen Beitragssatz von 28 Prozent vor. Das heißt - das
möchte ich Ihnen einmal ins Stammbuch schreiben -:
Ein Durchschnittsverdiener oder eine Durchschnittsverdienerin hätte jährlich 1 700 Euro mehr an Beiträgen zu
zahlen.
({4})
Da frage ich Sie von der Linken: Woher sollen die Beschäftigten dieses Geld nehmen?
({5})
Dazu schweigen Sie, und das ist das Schlimme.
Nach Ihrem Konzept müsste der Rentenbeitragssatz
bis zum Jahr 2030 sogar auf 40 Prozent anwachsen. Eine
Beschäftigte, die heute 28 Jahre alt ist und dann 50 Jahre
alt sein wird, bezahlt den doppelten Rentenversicherungsbeitrag.
({6})
Sie, meine Damen und Herren von der Linken, negieren auch noch den Rückgang der Zahl der Erwerbstätigen um circa 8 Millionen Menschen bis zum Jahr 2030.
Sie verschweigen die Belastungen, die Sie den jüngeren
Beitragszahlern aufbürden wollen.
({7})
Die jüngere Generation, die mittelständischen Betriebe,
die heute die Arbeitsplätze schaffen, würden die Hauptlast Ihrer Vorschläge tragen.
Frau Kollegin, der Kollege Ernst hätte eine Zwischenfrage.
Der Kollege Ernst hat schon bei allen anderen nachgefragt.
({0})
Wenn man sich intensiv mit der Rentenpolitik auseinandersetzt, dann kann man das im Ausschuss klären und
sollte nicht immer wieder die gleichen Fragen stellen.
({1})
Zusammen mit Ihren Vorschlägen zu den anderen Sozialversicherungszweigen erreichen Sie spielend ein
Abgabenniveau von 60 Prozent: 40 Prozent Rentenversicherung, 16 Prozent Krankenversicherung, 4 Prozent Pflegeversicherung. Als Kronzeugin für diese unsägliche
Politik, Herr Schneider, bemühen Sie die OECD-Studie.
Diese Studie hat zu Recht auf die fehlende Armutssicherung im deutschen Rentenrecht aufmerksam gemacht
und Korrekturen angemahnt. Sie, meine Damen und
Herren von der Linken, erwähnen aber nicht - das finde
ich unseriös - die übrigen Aussagen der OECD-Studie.
Deshalb zitiere ich sie jetzt:
Deutschland hat mit den Reformen der vergangenen Jahre die finanzielle Nachhaltigkeit des Systems deutlich erhöht.
({2})
Die OECD hat mit der gesetzlichen Rente gerechnet,
hat aber auch gesagt: Wenn die private und die betriebliche Rente hinzukommen, dann ist das Niveau erreicht. Auch das verschweigen Sie wieder.
({3})
- Ich habe alles gelesen. - Sie wollen das Rad zurückdrehen. Um dieses Ziel zu erreichen, greifen Sie auf alles
zurück, was Ihnen zu passen scheint.
Zu einer zweiten Sache. Hinsichtlich der Überprüfung
der Riester-Förderung beziehen Sie sich in Ihrem Antrag
mehrfach auf die Studie von Corneo und anderen. In dieser Studie wurde lediglich das Sparverhalten von Geringverdienern für die Jahre 2000 bis 2004 untersucht.
Die Studie kommt zu dem einfachen Ergebnis, dass Geringverdiener im Jahr 2004 nicht mehr sparen konnten
als im Jahr 2000. Das ist ein ganz erstaunliches Ergebnis. Wie sollten sie denn auch? Sie haben keine Lohnzuwächse gehabt. Wie sollten sie da mehr sparen? Die Studie hat auch nicht die Zulagen der Riester-Förderung
berücksichtigt, obwohl sich die Vermögensbildung
durch die Zulagen mehr als verdoppelt. Diese Studie, die
Sie hier zitieren, ist wirklich vom Feinsten. Außerdem
wird nicht zwischen allgemeiner Vermögensbildung und
Altersvorsorge unterschieden. Das erklärte Ziel der
Riester-Förderung war doch die gezielte Altersvorsorge
und nicht das allgemeine Sparen. Gerade dadurch sollte
die Lücke geschlossen werden. Dazu sagen Sie heute
nichts.
({4})
So, wie Sie nun einmal sind, leiten Sie trotz der gravierenden Mängel dieser Studie daraus die voreilige
Schlussfolgerung ab, die Riester-Förderung sei ineffizient und würde im Wesentlichen Mitnahmeeffekte erzeugen.
Ihre Forderung, eine Evaluation der Riester-Förderung vorzunehmen, unterstützen wir. Das finden wir
sinnvoll und notwendig. Aber Ihr Antrag wirkt doch
nicht glaubwürdig, wenn Sie sich schon darauf festgelegt haben, dass die Riester-Rente zurückgenommen
werden müsse.
({5})
Wir Grünen stehen zu den Strukturreformen, die - im
Unterschied zu der Lage in vielen anderen Staaten - die
Nachhaltigkeit des Rentensystems wesentlich verbessert
haben. Auch wir unterstützen die neuen Vorschläge von
Arbeitsminister Scholz zu einer höheren Steigerung der
Renten für die nächsten beiden Jahre, denn in der Tat ist
es so, dass die Rentner und Rentnerinnen über die Maßen unter den Preissteigerungen zu leiden haben. Dass
dieser Vorschlag nun gerade im Vorwahljahr kommt, hält
uns Grüne nicht von einer Zustimmung ab, denn er ist
richtig.
({6})
Die Strukturprobleme der Rente werden dadurch aber
nicht gelöst.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir stehen zu einer
Abkehr von der Frühverrentungspolitik. Wir stehen zu
den Verbesserungen der Anrechnung der Kindererziehungszeiten. Wir stehen auch zu einer ergänzenden
Riester-Förderung, die gerade für die unteren Einkommensgruppen attraktiv ist. Ich finde, es ist antiquiert, zur
Rentenformel aus dem Jahr 1992 zurückkehren zu wollen. Nein, Kolleginnen und Kollegen von der Linken, die
Leute wollen nicht, dass ihnen Politik vorgegaukelt
wird. Sie möchten, dass wir die Probleme ernst nehmen
und entsprechende Lösungen vorschlagen. Hier sage ich:
Erst existenzsichernde Löhne bieten die Voraussetzung
für eine auskömmliche Rente. Auch darum setzen wir
uns für Mindestlöhne ein.
Wir brauchen aber auch Strukturveränderungen in der
Rentenpolitik. Hier nehmen wir die OECD-Studie auf.
Wir möchten, dass geringverdienende Menschen eine
Höherbewertung erfahren, damit es nicht dazu kommt,
dass die Rente am Ende des Erwerbslebens nicht ausreicht und dass eine Grundsicherung beantragt werden
muss. Wir brauchen auch - Herr Kollege Amann, da unterstütze ich Sie - eine obligatorische Alterssicherung
für Solo-Selbstständige, die keine andere Alterssicherung haben.
Nun komme ich zur Linken. Wir brauchen eine Angleichung der Rentenwerte in Ost und West. Das ist doch
eine Selbstverständlichkeit. Schließlich wollen wir die
eigenständige Alterssicherung von Frauen weiter ausbauen. Damit erreichen wir, dass wir das System Schritt
für Schritt zu einer Erwerbstätigenversicherung weiterentwickeln. Von der Großen Koalition verlangen wir
eine Rücknahme der halbierten Rentenversicherungsbeiträge für Langzeitarbeitslose. 2,09 Euro Rente pro Monat für Langzeitarbeitslose ist in der Tat nicht akzeptabel. Auch die Zwangsverrentung mit 63 Jahren mit
Abschlägen darf nicht erfolgen. Die Bundesregierung
muss endlich auf die Armutsgefährdung bestimmter Bevölkerungsgruppen reagieren.
Zu den Anträgen der Linksfraktion fasse ich zusammen: Ihre Konzepte sind rückwärtsgewandt, nicht finanzierbar und unseriös. Sie nehmen auf die Zukunftsperspektive der jüngeren Generation keine Rücksicht.
Die jungen Menschen müssten über steigende Sozialabgaben die Zeche zahlen, ohne dafür die Sicherheit zu
haben, selbst in den Genuss einer existenzsichernden
Rente zu gelangen. Ihre Vorschläge zur Evaluation der
Riester-Förderung sind nicht glaubwürdig, wenn Sie bereits heute das Ergebnis vorwegnehmen. Das ist billiger
Populismus und eine rückwärtsgewandte Politik, die wir
so nicht akzeptieren.
Ich danke Ihnen.
({7})
Ich gebe das Wort dem Kollegen Klaus-Peter
Flosbach, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Damit hatte die Linke nicht gerechnet, dass zahlreiche
Kollegen die OECD-Studie gelesen haben.
({0})
Frau Schewe-Gerigk und Herr Amann haben es eben
deutlich gemacht. In der Tat, Sie haben einige Sätze zitiert, die durchaus richtig sind und die auch auf Gefahren
hinweisen. Ein zentraler Punkt ist, dass dort festgestellt
wurde, dass hier in Deutschland gerade im Bereich der
Altersvorsorge angemessene Antworten auf die demografischen und gesellschaftlichen Herausforderungen
gefunden worden sind, und zwar in besonderer Weise für
die Geringverdiener. Da Sie das bewusst getan haben,
kann man das nur als eine sehr unseriöse Beweisführung
darstellen.
({1})
Am 23. Januar dieses Jahres hat Herr Staatssekretär
Thönnes in der Fragestunde zu all diesen Themenbereichen umfassend Stellung genommen. Dennoch haben
Sie heute Ihren Antrag wieder vorgelegt und die Erkenntnisse der Studie nicht dargestellt.
Wenn es um die Altersvorsorge geht, muss man auch
an das Vertrauen der Bürger in die Langfristigkeit der
Einrichtungen denken. Gerade in dieser Woche gab es ja
Diskussionen über einige neue Beiräte, die sich gegründet haben und die bei der Politik angemahnt haben, langfristig zu denken. Aber ist Ihnen auch aufgefallen, dass
Langfristigkeit gerade im Bereich der Altersvorsorge
nicht angemahnt wurde? Die Koalitionsfraktionen und
die Regierung haben sich nämlich dieses Themas angenommen und die langfristige Perspektive der Altersvorsorge in den Vordergrund gestellt.
Gerade bei dem Thema der Altersversorgung haben
wir eine sehr große Übereinstimmung zwischen den beiden Regierungsfraktionen. Selbstverständlich gibt es
eine Reihe von Problemen, die ich auch nicht verheimlichen will: die unterbrochenen Erwerbsbiografien, die
Teilzeitbeschäftigungen, die Arbeitslosigkeit. Aber wir
müssen uns auch in besonderer Weise der Bevölkerungsentwicklung, der demografischen Entwicklung stellen.
In Deutschland gibt es bereits heute 21 Millionen über
60-jährige Menschen. Wir wissen, dass es im Jahre 2020
25 Millionen sein werden und im Jahre 2030 30 Millionen. Heute leben in Deutschland etwas über 20 Millionen Rentner in den verschiedenen Formen der Rente. Im
Jahre 2030 werden es über 30 Millionen Rentner sein.
Angesichts dessen kann man doch nicht in einem Antrag
fordern, die Rentenversicherungsbeiträge auf 28 Prozent
zu erhöhen; denn das zerstört Arbeitsplätze und ist darüber hinaus ein Anschlag auf die junge Generation.
({2})
Wir brauchen für die Altersversorgung ein differenziertes Konzept. Wir haben es in Deutschland geschafft,
solche Altersvorsorgekonzepte für die verschiedenen
Gruppen zu entwickeln. Selbstverständlich wird die gesetzliche Rentenversicherung weiterhin die Basis sein.
Sie ist die stärkste Säule für jeden Einzelnen.
Aber wenn wir hier über dieses Thema diskutieren,
müssen wir zunächst einmal die breiten Schichten der
Bevölkerung in den Blick nehmen und nicht nur die
Hartz-IV-Empfänger oder das Thema der Grundsicherung; darauf komme ich gleich noch. Die breiten Schichten der Bevölkerung brauchen ein auskömmliches Einkommen im Alter, und es ist unsere Aufgabe, dafür zu
sorgen. Sie wissen, dass wir gut 200 Milliarden Euro für
die Altersversorgung ausgeben. Aber bereits heute gibt
es einen Zuschuss in Höhe von fast 80 Milliarden Euro
aus Steuergeldern aus dem Bundeshaushalt. Das heißt,
etwa 30 Prozent der gesamten Staatsausgaben sind ein
pauschaler Zuschuss an die Rentenversicherung.
Dennoch reicht das für viele nicht aus, um ein auskömmliches Einkommen zu erzielen. Heute muss man
bei einem durchschnittlichen Einkommen etwa 25 Jahre
in die Rentenversicherung einzahlen, um die Grundsicherung zu erlangen. Deswegen gibt es neben der gesetzlichen Rentenversicherung verschiedene Säulen, beispielsweise fünf verschiedene Wege der betrieblichen
Altersvorsorge. Ich glaube, wir müssen sogar noch einen sechsten Weg gehen und eine Diskussion über das
meines Erachtens wichtige Thema der Lebensarbeitszeitkonten führen. Das heißt, jemand, der einen Vorrat
an geleisteter Arbeit geschaffen hat, kann möglicherweise früher in Rente gehen oder Zeiten der Arbeitslosigkeit kompensieren.
Es gibt fünf verschiedene Wege der betrieblichen Altersvorsorge, zum Beispiel Wege für große Unternehmen. Ich denke an Pensionskassen, an Pensionsfonds,
aber auch an betriebliche Direktzusagen. Es gibt viele
Betriebe, die nur einen Arbeitsvertrag unterschreiben,
wenn er mit einer betrieblichen Altersversorgung verbunden ist. Ich denke, das ist der richtige Weg. Im Finanzausschuss und im Plenum haben wir die neunte Novelle des Versicherungsaufsichtsgesetzes behandelt. Hier
haben wir neue Möglichkeiten für Arbeitnehmer geschaffen, über Pensionsfonds eine sichere Altersvorsorge zu erreichen.
Ein sehr wichtiger Weg ist auch der Beschluss dieser
Koalition, die sogenannte Entgeltumwandlung nicht
mehr mit Beiträgen für die Sozialversicherung zu belasten, übrigens eine Forderung, die die Union auch im
Rahmen des Alterseinkünftegesetzes erhoben hat. Ich
bin froh, dass wir das umgesetzt haben; denn damit kann
der einzelne Arbeitnehmer Beiträge in eine Altersvorsorge einzahlen. Er muss hierauf keine Steuern und
keine Sozialversicherungsbeiträge zahlen, und die Erträge können steuerfrei angesammelt werden. Für diesen
Fall gibt es eine nachgelagerte Besteuerung. Ich denke,
das ist genau der richtige Weg, um langfristig Vertrauen
und Sicherheit in der Altersversorgung zu schaffen.
({3})
Ein richtiger Weg ist auch, die gesetzliche Rentenversicherung durch die Riester-Rente zu ergänzen. Nachdem einige Korrekturen durchgeführt worden sind, muss
man sagen, dass das Ergebnis hervorragend ist. Nach
25 Jahren hat ein Durchschnittsverdiener Ansprüche in
Höhe der Grundsicherung erworben. Hat er zusätzlich
eine Riester-Rente abgeschlossen, braucht er dazu nur
20 Jahre.
({4})
Wenn die Linke behauptet, für die Geringverdiener
würde sich die Riester-Rente nicht lohnen, weil sie ja eh
die Grundsicherung erhielten, dann kann ich nur fragen:
Ist Ihnen bewusst, welches Menschenbild und welchen
Ausblick auf die Zukunft Sie damit den Menschen vermitteln? Wollen Sie jungen Leuten wirklich sagen, dass
ihre Karriere in Hartz IV besteht oder später in der
Grundsicherung und dass man keine eigenen Leistungen
erbringen muss, um später ein auskömmliches Einkommen zu erhalten? Das ist der völlig falsche Weg. Das
stimmt nicht mit unserem Menschenbild überein.
({5})
- Wir stehen zur Grundsicherung. Es handelt sich dabei
um eine steuerfinanzierte Fürsorgeleistung, die erhalten
werden sollte.
({6})
Aber sie sollte nur dann gewährt werden, wenn der Einzelne sie wirklich braucht.
Die Riester-Rente ist eine Erfolgsgeschichte. Wie der
Kollege Weiß bereits sagte, gibt es über 11 Millionen abgeschlossene Verträge. Bereits mit 5 Euro ist man dabei.
Die Förderung beträgt bis zu 90 Prozent. In der aktuellen
Ausgabe der Zeitschrift Finanztest werden Beispiele
vorgestellt. Eine Alleinerziehende mit einem Kind und
einem Verdienst von 1 000 Euro im Monat, die monatlich eine Eigenleistung von 11,75 Euro erbringt, erhält
einen monatlichen Zuschuss von 28 Euro. Das ergibt
später eine Rente von circa 130 Euro im Monat, also das
Zehnfache des Eigenbetrages.
({7})
Wichtig ist auch, dass die Riester-Rente Hartz-IV-geschützt ist. Das Geld, das auf diese Weise angespart
wird, kann nicht genommen werden.
({8})
Wir haben dies auch für Selbstständige so geregelt, indem wir die Insolvenzsicherung durchgesetzt haben. Das
sind wichtige Bausteine. Wir werden natürlich darüber
diskutieren müssen, ob diese Maßnahmen ausreichen
oder ob wir die Höhe des Schonvermögens anders regeln
müssen. Der jetzige Stand ist auf jeden Fall ein gutes
Fundament.
Das Wichtigste für die Altersversorgung ist natürlich,
dass wir eine gut funktionierende Wirtschaft haben und
dass es qualifizierte Arbeitsplätze in Deutschland gibt.
Diese Koalition kann für sich in Anspruch nehmen, dass
es ihr gemeinsam mit der Wirtschaft gelungen ist - die
gute Weltkonjunktur will ich dabei nicht außer Acht lassen -, innerhalb kürzester Zeit über 1 Million neue Arbeitsplätze zu schaffen. Die höheren Beitragseinnahmen
sorgen dafür, dass die Finanzierung der Rente gesichert
ist.
Ich komme zum Schluss. Die Union hat gemeinsam
mit ihrem Koalitionspartner ein langfristiges Konzept
vorgelegt. Wir schaffen es, die soziale Absicherung im
Rahmen eines schlüssigen Gesamtkonzepts langfristig
zu gewährleisten. Ich denke, die Altersversorgung ist bei
uns in guten Händen.
Vielen Dank.
({9})
Ich gebe das Wort Jörg Rohde, FDP-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Zunächst möchte ich auf einige Vorredner eingehen. Herr Weiß und Herr Flosbach, leider ist es richtig, dass ein Geringverdiener beim Riester-Sparen möglicherweise mit Zitronen handelt. Ein Leugnen dieses
Problems bringt die Union nicht weiter. Herr Weiß, ich
weiß doch, dass Sie das Problem kennen. Sie selber haben mit einem Freibetrag für die Riester-Sparer einen
Vorschlag gemacht, der in die gleiche Richtung wie der
entsprechende FDP-Vorschlag geht. Ich fordere Sie also
auf, weitere Überzeugungsarbeit in der Union zu leisten,
damit sich da die Erkenntnis Bahn bricht.
Herr Amann, im Stenogrammstil will ich schnell einen Vorschlag der FDP zur Entlastung der Rentner präsentieren: Senden Sie allen deutschen Rentnern dieses
und nächstes Jahr einen Scheck. Dieses Wahlgeschenk
ist transparent. Der Absender sollte aber bitte der Bundesfinanzminister und nicht die Rentenkasse sein.
({0})
Finger weg von der Rentenformel! Das sage ich, weil
Sie - wenn auch nur befristet - an der Rentenformel herumdoktern wollen. Wenn Sie das tun, dann schaden Sie
der nächsten Generation. Das ist absolut ungerecht.
({1})
Werte Kollegen der Linksfraktion, ich fokussiere
mich in meinem Beitrag auf Ihren etwas neueren Antrag,
welcher fordert, die Riester-Rente auf den Prüfstand zu
stellen. Die Linksfraktion hat nun offensichtlich vor, sich
als „Killer der Riester-Rente“ zu profilieren. Aber gerade Geringverdiener haben doch besonders von der hohen staatlichen Förderung profitiert.
Es ist wichtig, dass wir die Diskussion weiterführen.
Denn die sogenannte Riester-Rente kann nicht so bleiben, wie sie heute ist. Die Bundesregierung ist gefordert,
eine Nachbesserung vorzunehmen. Dazu muss aber
nicht eigens eine neue Prüfung angesetzt werden. Die
FDP-Bundestagsfraktion hat bereits im Oktober letzten
Jahres einen umfangreichen Fragenkatalog zu diesem
Thema erarbeitet. Die Antworten der Bundesregierung
liegen seit November 2007 vor. Der Nachbesserungsbedarf für die Personengruppe der Geringverdiener, den
die FDP aufgedeckt hat, ist offensichtlich. Um das festzustellen, brauchen wir keine neue Prüfung. Und die Anrechnung der Riester-Rente auf die Grundsicherung im
Alter haben Sie ja in Ihren Einführungstext aufgenommen, werte Linke.
Die FDP fordert ganz einfach ein, dass derjenige, der
für das Alter spart, mehr haben muss als derjenige, der
nicht für das Alter spart.
({2})
Es ist mir völlig unverständlich, wieso die Regierungsfraktionen diesen einfachen Grundsatz immer noch ablehnen.
Die FDP ist die einzige Fraktion mit einem sofort umsetzbaren Lösungsvorschlag für das Problem. Wir schlagen einen Freibetrag von 100 Euro und darüber hinaus
statt der vollen Anrechnung nur eine 80-prozentige Anrechnung vor. Wir freuen uns bereits auf die diesbezügliche öffentliche Anhörung; denn viele Experten haben
diesen Vorschlag bereits für angemessen und gut befunden.
({3})
Die FDP zeigt in dieser Frage klar auf, dass sich die
Liberalen auch für die Geringverdienenden einsetzen.
Wir fordern aber auch weiterhin die Ausdehnung der
Riester-Förderung - übrigens zusammen mit dem ehemaligen Arbeitsminister - auf alle Bürger; denn zum
Beispiel auch Selbstständige zahlen in den Steuertopf,
aus welchem die Förderung erfolgt.
Werte linke Kollegen, unter Punkt 2 Ihres Antrages
zielen Sie darauf ab, die Altersvorsorge gezielt für Geringverdienende innerhalb der gesetzlichen Rentenversicherung zu stärken. Zugegeben: Ich weiß nicht, wie damals die mickrige Rente in der DDR berechnet wurde.
({4})
Aber die Rentenversicherung in der Bundesrepublik
Deutschland basiert auf den Prinzipien der Äquivalenz
von Beitrag und Leistung, dem Versicherungsprinzip,
der Einkommensersatzfunktion sowie dem sozialen Ausgleich. Diese Prinzipien wurden zum Beispiel vor fünf
Jahren von der Rürup-Kommission dargestellt und explizit als grundlegend für weitere Reformvorschläge
bestätigt. Die Rürup-Kommission war sicher nicht verdächtig, von Liberalen unterwandert oder geprägt worden zu sein. Die Kommission zeigte eher unseren gemeinschaftlichen Konsens in der Bundesrepublik zu
dieser Frage auf. Zur Äquivalenz von Beitrag und Leistung führt der Bericht der Rürup-Kommission aus, dass
sich die Leistungen grundsätzlich nach der Höhe der in
der Erwerbsphase gezahlten Beiträge richten sollen.
Doppelt so hohe Beiträge führen zu doppelt so hohen
Anwartschaften, gemessen in Entgeltpunkten. Die
Summe der erworbenen Entgeltpunkte bestimmt wiederum den individuellen Rentenanspruch. Die generelle
Beibehaltung des Äquivalenzprinzips für Versicherte innerhalb eines Altersjahrgangs ist für die Rentenversicherung von besonderer Bedeutung. Jede Abkehr vom
Äquivalenzprinzip bedeutet, dass Leistungen einer Personengruppe aus den Beiträgen einer anderen finanziert
werden.
Weiter führt der Bericht der Rürup-Kommission aus,
dass es zur Förderung der Beschäftigung entscheidend
darauf ankommt, an dem Äquivalenzprinzip in der gesetzlichen Rentenversicherung auch in Zukunft festzuhalten.
Es gibt heute bereits punktuelle Ausnahmen beim
Äquivalenzprinzip in der Rentenversicherung. Aber Sie
auf der linken Seite des Hauses wollen anscheinend den
Grundcharakter der Rentenversicherung ändern. Hier
macht die FDP auf keinen Fall mit.
({5})
Deswegen sollten Sie diese Forderung aus Ihrem Papier
streichen. Ich befürchte allerdings, dass wir uns einander
auch sonst nicht weit annähern werden. Deswegen kann
ich Ihnen keine Unterstützung Ihrer Anträge in Aussicht
stellen.
Vielen Dank.
({6})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Hans-Ulrich Krüger von der SPD-Fraktion.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Wer erinnert sich nicht an die große Beschwichtigungsformel am Ende des letzten Jahrtausends:
„Die Rente ist sicher.“ Rot-Grün hat diese Formel untersucht und gehandelt. Schwarz-Rot setzt die erfolgreiche
Politik von Rot-Grün insofern ergänzend fort.
Aufgrund des demografischen Wandels der deutschen Gesellschaft kann die gesetzliche Rentenversorgung allein in Zukunft - die Kolleginnen und Kollegen
haben das heute schon angesprochen - das Gesamtversorgungsniveau, den Wohlstand im Alter nicht mehr garantieren. Es war daher richtig, Finanzierungsmodelle zu
entwickeln, um mit staatlicher Hilfe eine zusätzliche private Altersvorsorge vorzusehen. Herausgekommen ist
die Riester-Rente.
Seien Sie sicher: Millionen von Amerikanerinnen und
Amerikanern wären glücklich und froh, hätten sie, nachdem sie im Jahr 2000/2001 durch das Zerplatzen der Aktienblase ihre Pensionsansprüche verloren haben und
nachdem nun ihre Häuser infolge der Immobilienkrise
nur noch ein Drittel wert sind, ein System aus gesetzlicher Rentenversicherung, ergänzender privater Altersvorsorge und Betriebsrente als dritter Säule.
({0})
Bis zum Jahr 2030 wird sich - auch das ist schon angesprochen worden - das Verhältnis von Erwerbstätigen
zu Rentnerinnen und Rentnern dramatisch verändern.
Betrug das Verhältnis zu Zeiten unserer Väter und Mütter noch 7 : 1 oder 8 : 1, beträgt es heute 3,2 oder 3,3 : 1
und wird sich zu einem Verhältnis von 1,9 : 1 entwickeln. Im gleichen Zeitraum wird sich Gott sei Dank
- daran werden wir alle partizipieren - die durchschnittliche Bezugsdauer der Rente auf 20 Jahre belaufen. Immer weniger Erwerbstätige müssen für immer mehr
nicht im Erwerbsleben stehende Menschen die Beiträge
erbringen.
Diese Tatsache darf und durfte die Politik nicht verschlafen, sondern musste handeln. Sie hat es in Form der
Riester-Rente getan, für die sich - der Kollege Flosbach
hat es erwähnt - mittlerweile fast 11 Millionen Menschen entschieden haben. Diese Menschen sind von den
Vorteilen der Riester-Rente überzeugt. Vater und Mutter
wissen, dass sie dann, wenn sie beispielsweise im Jahr
2008 einen Riester-Vertrag abschließen, je 154 Euro an
Zulage, das Kind 185 Euro an Zulage bekommen. Wenn
das Kind nach dem 1. Januar dieses Jahres geboren worden ist, bekommt es sogar 300 Euro an Zulage. Sogar
eine Kleinfamilie, ein verheiratetes Paar mit einem Kind,
erhält aktuell entweder 493 oder 608 Euro an Zulage.
Es ist gut, dass die Gesamtsumme der diesbezüglichen Zulagen im Jahre 2007 die Milliardengrenze überschritten hat. Diese Summe darf, soll und muss noch
weiter steigen. Das gilt auch im Bereich der schon mehrfach angesprochenen Menschen mit einem geringen oder
mittleren Einkommen. Von daher ist es richtig, dass der
Minimaleigenbeitrag von 5 Euro pro Monat respektive
60 Euro pro Jahr so gehalten worden ist, dass auch einkommensschwächere Bürgerinnen und Bürger nicht von
der privaten Altersvorsorge ausgeschlossen sind.
Es wird immer wieder gesagt, die Riester-Rente käme
bei den Menschen, die ihrer bedürften, nicht an. Dazu
möchte ich zwei Zahlen nennen. Zwei Drittel der Menschen mit einem Riestervertrag haben ein Jahreseinkommen von weniger als 30 000 Euro, exakt 43 Prozent ein
Jahreseinkommen von weniger als 20 000 Euro. Auch
die alleinerziehende Mutter mit zwei Kindern, die geringfügige Bezüge erzielt, kann mit 60 Euro oder einer
ähnlichen Summe im Jahr - das hat der Kollege
Flosbach schon erwähnt -, wenn ein Kind vor und ein
Kind nach dem 1. Januar 2008 geboren worden ist,
639 Euro an staatlicher Zulage erhalten. Das entspricht
einer Förderquote von mehr als 90 Prozent. Wer all das
in Abrede stellt, versündigt sich an der Situation dieser
Menschen.
({1})
Bei der Grundsicherung im Alter ist die Situation
anders. Was ist die Grundsicherung im Alter, die als solche schon angesprochen worden ist? Ist sie eine Geldsumme, die in einem ominösen Juliusturm liegt und
ohne Folgen für unsere Gesamtwirtschaft nach Bedarf
abgerufen werden kann? Oder ist es - das ist gut und
richtig so - die aus Steuermitteln finanzierte Sozialhilfeleistung, die von der notwendigen Solidarität der Starken
mit den Schwachen getragen ist und davon lebt, dass sie
Gott sei Dank nicht jeder in Anspruch nimmt bzw. nehmen muss, sondern aktuell nur circa 2,3 Prozent der
Rentnerinnen und Rentner in der Bundesrepublik
Deutschland, sprich über 97 Prozent eben nicht?
({2})
Die Riester-Rente aber ist genauso wie die gesetzliche
Rente dazu gedacht, mit dem angesparten Geld später
den Lebensunterhalt zu bestreiten. Wer daher sagt, der
Grundsicherungsanspruch müsse ohne oder nur mit einer
anteiligen Anrechnung der Riester-Rente erfüllt sein, der
muss folgerichtig die Frage beantworten, warum denn
dann Sozialversicherungsrenten, Zinseinkünfte und Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung angerechnet
werden.
({3})
Die Solidarität der Starken mit den Schwachen funktioniert nur, wenn alle entsprechende Anstrengungen unternehmen. Das gilt in der Altersvorsorge genauso wie
im alltäglichen Leben mit all seinen Banalitäten. Oder
andersherum gesagt: Alle Versicherungen, beispielsweise eine Feuerversicherung, die derjenige abschließt,
der ein Haus besitzt, eine Hausratversicherung, die derjenige abschließt, der eine Wohnung hat, oder eine Autoversicherung, die derjenige abschließt, der einen Pkw
fährt, funktionieren nur, weil Gott sei Dank nicht jeder
Pkw-Halter jedes Jahr einen Unfall hat, nicht jedes Haus
jedes Jahr abbrennt und jeder Hausrat jedes Jahr zerstört
wird. Wäre das der Fall, wäre das gleichbedeutend mit
dem Ende dieser Versicherungssparte und -lösung, weil
die Prämien folgerichtig eine Höhe erreichen müssten,
welche kein Mensch mehr erbringen kann.
Die Altersvorsorge wird nunmehr durch die Einbeziehung der selbstgenutzten Wohnimmobilie in die private Altersvorsorge komplettiert. Von daher kann auch
derjenige Bürger oder diejenige Bürgerin, der oder die
sagt: „Eine Zusatzrente ist schön und gut; aber für mich
ist das mietfreie Wohnen im Alter das Vorzugswürdige“,
das steuerbegünstigte, im Rahmen des Zulagensystems
der Riester-Rente angesparte Vermögen für den Kauf einer Immobilie nutzen. Ein weiteres Highlight ist - hier
passt man sich den neuen gesellschaftlichen Lebensformen an -, dass nunmehr auch der Kauf von Anteilen an
einem Altenheim und der Kauf von Genossenschaftsanteilen Riester-fähig sind. Auch Erwerbsminderungsrentner, die sagen: „Ich möchte nach dem Eintritt der Erwerbsminderung etwas für meine Altersversorgung tun“,
können einbezogen werden.
Von daher sage ich all denjenigen, die fordern: „Weg
mit der Riester-Rente!“: Vorsicht an der Bahnsteigkante!
Bedenken Sie, was Sie im Hinblick auf Millionen Menschen aufgeben, die genau wissen, dass die drei Säulen
- gesetzliche Rentenversicherung, betriebliche Altersvorsorge und private Altersvorsorge - für sie das Richtige sind.
Ich danke Ihnen.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/8495 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 24 b. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Wiedereinführung der Lebensstandardsicherung in
der gesetzlichen Rente“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/6921, den
Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/5903
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD,
Bündnis 90/Die Grünen, CDU/CSU und FDP bei Gegenstimmen der Linken angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({0})
zu dem Antrag der Abgeordneten Sibylle Pfeiffer,
Dr. Christian Ruck, Dr. Wolf Bauer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU, der
Abgeordneten Dr. Sascha Raabe, Gabriele
Groneberg, Stephan Hilsberg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Thilo Hoppe, Ute Koczy, Ulrike
Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Für eine neue, effektive und an den Bedürfnissen der Hungernden ausgerichtete Nahrungsmittelhilfekonvention
- Drucksachen 16/8192, 16/8485 Berichterstattung:
Abgeordnete Thilo Hoppe
Dr. Sascha Raabe
Hüseyin-Kenan Aydin
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich
höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Sascha Raabe.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Obwohl wir
uns das ehrgeizige Ziel gesetzt haben, die Zahl der auf
der Welt Hungernden bis zum Jahr 2015 zu halbieren,
müssen wir feststellen, dass trotz Fortschritten immer
noch 25 000 Menschen pro Tag an den Folgen von Hunger und Armut sterben. Während wir im Deutschen
Bundestag, wie es vor kurzem der Fall war, über die Problematik von Übergewicht und seinen Krankheitsauswirkungen sprechen und zu Recht Sport und Bewegung
einfordern, besteht in anderen Ländern eine Situation,
die für manche hier nicht vorstellbar ist und Menschenleben fordert.
Wir reden zu Recht über den Klimawandel, der auch
uns in Deutschland betrifft. Aber in den Entwicklungsländern betrifft der Klimawandel die Menschen noch
viel stärker im negativen Sinne. Im Rahmen des Welternährungsprogramms wurde eine Untersuchung durchgeführt, die zu dem Ergebnis kam, dass heutzutage vor
allem in Entwicklungsländern 1 Milliarde mehr Menschen als noch vor zehn Jahren von Naturkatastrophen
betroffen sind.
Durch den Klimawandel werden natürlich auch die
Ernten und die Nahrungsmittelsicherheit in Mitleidenschaft gezogen. Als sei diese katastrophale Situation
nicht schon schlimm genug, kommt noch hinzu, dass die
Preise für Nahrungsmittel in der letzten Zeit sehr stark
gestiegen sind. Viele Entwicklungsländer müssen für
Getreideimporte bis zu 35 Prozent mehr ausgeben als im
Vorjahr. Nach Angaben der Weltbank sind die Nahrungsmittelpreise im vergangenen Jahr um durchschnittlich
75 Prozent gestiegen. Davon waren insbesondere Grundnahrungsmittel wie Mais, Reis und Weizen betroffen.
Man muss berücksichtigen, dass die ärmsten Menschen
etwa 80 Prozent ihres geringen Einkommens für Nahrungsmittel aufwenden müssen, dazu aber oft nicht in
der Lage sind.
Manchmal wird die Frage gestellt, ob es angesichts
der wachsenden Weltbevölkerung vielleicht nicht genug
Lebensmittel auf der Welt gibt. Das ist absoluter Unsinn.
Nach Angaben der UN-Organisation für Ernährung und
Landwirtschaft, der FAO, gibt es genug Lebensmittel,
um etwa 12 Milliarden Menschen relativ problemlos zu
ernähren. Ich möchte die gleiche Frage stellen, die neulich der aus dem Amt scheidende UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, Jean Ziegler, gestellt
hat: Warum geschieht das nicht?
Unsere Bundesentwicklungsministerin, Heidemarie
Wieczorek-Zeul, hat am Montag dieser Woche den
Aktionsplan für Menschenrechte für die nächsten drei
Jahre vorgestellt. Er wird dazu beitragen, dass die Menschenrechte in den Entwicklungsländern vorangebracht
und gefördert werden. Ein Punkt ist das Recht auf Nahrung. Dieses Recht muss endlich auch denjenigen zugutekommen, die Hunger leiden.
Wir fordern die Bundesregierung in unserem Antrag
auf, „sich für die Neuverhandlung der Nahrungsmittelhilfekonvention gemäß der menschenrechtlichen Verpflichtungen zur Erfüllung des Rechts auf adäquate Nahrung nach Art. 11 des Internationalen Pakts für
wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte
sowie im Sinne der freiwilligen Leitlinien der … FAO“
einzusetzen.
({0})
Wir werden diesen Antrag heute verabschieden. Ich
freue mich darüber, dass wir das gemeinsam mit der
Fraktion der Grünen tun. Es ist schön, dass bei diesem
Thema parteiübergreifend Einigkeit herrscht. Ich glaube,
dass wir über diesen Antrag zu einer neugestalteten und
umfassenden Nahrungsmittelhilfekonvention kommen,
damit dieses Recht verwirklicht werden kann.
Warum brauchen wir eine neue Nahrungsmittelhilfekonvention? Als sie 1967 entstand, waren die Rahmenbedingungen ganz anders. Es gab die durchaus gute Intention, die steigenden Nahrungsmittelüberschüsse in
den europäischen Staaten und in den USA sinnvoll für
die Hungerbekämpfung einzusetzen. Das war erst einmal kein schlechter Grundgedanke: Bei uns gab es zu
viel, und dort haben Menschen Hunger gelitten. Heute
wissen wir aber, dass diese Hilfe, auch wenn sie gut gemeint war, oft dazu führte, dass Kleinbauern und Landwirte keinen nachhaltigen Anreiz hatten, um Nahrungsmittel für den lokalen Markt zu produzieren, also
Getreide anzupflanzen oder Hühner aufzuziehen. Wenn
die Kleinbauern ihre Waren verkaufen wollten, standen
sie oft vor dem Problem, dass die Nahrungsmittelüberschüsse der westlichen Staaten - was gut gemeint war in den Regalen der lokalen Lebensmittelgeschäfte lagen
und sie ihre Produkte nicht absetzen konnten. Insofern
war das, was gut gemeint war, oft kontraproduktiv. Darauf wollen wir mit unserem Antrag reagieren, indem
wir die veränderten Rahmenbedingungen in die neue
Nahrungsmittelhilfekonvention einfließen lassen.
Hinzu kommt, dass sich die Situation auf den Weltagrarmärkten verändert hat. Es gibt neue, große Nachfrager wie China oder Indien. In einigen Ländern gibt es inzwischen eine Konkurrenz zwischen dem Anbau von
Nahrungsmitteln und dem Anbau von Agrartreibstoffen.
An dieser Stelle möchte ich ausdrücklich darauf hinweisen, dass wir das Positionspapier des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung begrüßen, in dem Leitlinien festgezurrt wurden,
damit die Nahrungsmittel weiterhin den Ärmsten zugutekommen können. Der Biomasseanbau darf das nicht verhindern. Wir wollen nicht, dass der Klimaschutz durch
den Biomasseanbau gefährdet wird. Wir wollen Biomasseanbau nur auf zertifizierten Flächen haben. Wir wollen, dass behutsam und vorsichtig vorgegangen wird.
({1})
Die Vereinigten Staaten von Amerika haben in den
letzten Jahren - ich formuliere das jetzt einmal sehr hart unter dem Deckmantel der Nahrungsmittelhilfe eigentlich nur ihre Agrarüberschüsse loswerden wollen.
({2})
Das war nicht WTO-konform. Deshalb war es richtig,
dass die Europäer auf der WTO-Konferenz in Hongkong
darauf bestanden haben, auch über dieses Thema zu verhandeln. Schließlich müssen auch wir - übrigens zu
Recht - unsere Exportsubventionen senken bzw. sie
ganz streichen. Ich füge hinzu: Wir hätten beschließen
sollen, die Subventionen sogar noch vor dem Jahre 2013
zu streichen. Das, was die Amerikaner - übrigens oft aus
wahltaktischen Gründen - unter dem Deckmantel der
Nahrungsmittelhilfe gemacht haben, ist nichts anderes,
als Geschenke an die Farmer zu verteilen. Damit haben
sie in den Entwicklungsländern aber das genaue Gegenteil dessen bewirkt, was man mit der Nahrungsmittelhilfe zu erreichen versucht. Sie haben dort noch mehr
Hunger und Armut produziert. Das muss ein Ende haben.
({3})
Noch im letzten Jahr haben die OECD-Staaten an die
Landwirte Subventionen in Höhe von 349 Milliarden
Dollar gezahlt. Für die öffentliche Entwicklungszusammenarbeit haben sie allerdings nur etwa ein Drittel dieses Betrages zur Verfügung gestellt. Wenn man sich das
vor Augen führt, stellt man fest, dass hier nach wie vor
eine erhebliche Schieflage besteht.
Es muss klar sein, dass die Nahrungsmittelknappheit
ein Problem ist, das in erster Linie mit den weltwirt16030
schaftlichen Bedingungen des Handels zusammenhängt.
Insofern handelt es sich auch um ein Verteilungsproblem. Deswegen wäre es unzureichend, wenn man versuchen würde, dieses Problem auf bilateraler Ebene zu
lösen. Vielmehr müssen wir die strukturellen Ursachen
dieses Problems bekämpfen. Es ist zwingend notwendig,
dass wir jetzt ein umfassendes Konzept der Nahrungsmittelhilfe erarbeiten und eine Nahrungsmittelhilfekonvention verabschieden, in deren Rahmen die Nahrungsmittelhilfe in Konzepte zur wirtschaftlichen
Entwicklung und Armutsbekämpfung integriert wird.
Unser Ziel muss sein, den Übergang von der humanitären Soforthilfe zur mittel- und langfristigen Ernährungssicherung, die ohne Hilfslieferungen auskommt, zu gewährleisten. Den Menschen in den Entwicklungsländern
muss die Chance zur Selbsternährung gegeben und damit das grundlegende Recht auf Nahrung garantiert werden.
Die Nahrungsmittelhilfe muss so eingesetzt werden,
dass sie in entwicklungspolitischer Hinsicht nicht kontraproduktiv ist, sondern dazu beiträgt, die lokale Landwirtschaft zu stärken. Das ist es übrigens, was Deutschland von manch anderem Geberland unterscheidet. Wir
wollen sicherstellen, dass mit der Nahrungsmittelhilfe
die lokalen Märkte gestärkt werden.
({4})
Wir wollen nicht, dass zum Beispiel Getreide aus den
USA nach Afrika geliefert wird. Mit unserem Antrag
möchten wir dafür sorgen, dass die Menschen, die Nahrungsmittelhilfe erhalten, in erster Linie Geld oder Gutscheine bzw. Essensmarken bekommen, damit sie die
Produkte, die sie brauchen, lokal, also bei ihren Landwirten, kaufen. So macht Nahrungsmittelhilfe Sinn.
Wenn man so vorgeht, fördert man auch die lokale Landwirtschaft und eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung, die dauerhaft selbsttragend sein kann. Außerdem
trägt man dazu bei, dass die Hungernden, die in Not
sind, nicht verhungern müssen.
Diese Ziele müssen wir mit der neuen Nahrungsmittelhilfekonvention erreichen. Ich glaube, dass wir hier
parteiübergreifend ein gutes Ergebnis erzielen werden.
Im Sinne der hungernden Menschen auf der Erde hoffe
ich, dass unser Antrag große Zustimmung findet.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({5})
Das Wort hat der Kollege Dr. Karl Addicks von der
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist wirklich gut, dass wir heute hier im Plenum über das
wichtige Thema Nahrungsmittelhilfe reden; denn die
Nachrichten, die uns dazu in den vergangenen Tagen und
Wochen erreicht haben, sind wirklich besorgniserregend.
Die Preise für Grundnahrungsmittel sind explodiert.
Deswegen ist sogar das World Food Programme gezwungen, seine Hilfe in einigen Teilen der Welt einzuschränken. Die derzeitige Verteuerung und Knappheit
der Grundnahrungsmittel trifft selbst Länder, in denen
man schon lange keine Nahrungsmittelknappheit und
keinen Hunger mehr gekannt hat. Ein krasses Beispiel ist
das Schwellenland Mexiko. Der Anstieg des Preises für
Mais führte dazu, dass sich die Mexikaner keine Tortillas, das Grundnahrungsmittel, mehr leisten konnten. Daher sind die Menschen auf die Straße gegangen und haben demonstriert. Dass sich die Mexikaner keine
Tortillas mehr leisten können, ist wirklich ein Skandal.
Ich frage mich: Wenn es schon in einem Schwellenland
wie Mexiko so aussieht, wie ernst ist die Situation dann
erst in Entwicklungsländern,
({0})
die schon häufig mit Nahrungsmittelknappheit zu kämpfen hatten? Laut World Food Programme ist die Lage in
vielen Entwicklungsländern mittlerweile so schlimm,
dass sich selbst die dortige Mittelschicht Lebensmittel
nicht mehr leisten kann.
Hungersnöte erreichen heute nicht nur andere Bevölkerungsschichten; sie bekommen auch eine andere Dimension: Wurden sie in der Vergangenheit meist durch
Naturkatastrophen, durch Krieg und Zerstörung ausgelöst, sind es heute der steigende Ölpreis und steigende
Energiepreise. So hat zum Beispiel die Regelung, dass
10 Prozent Biokraftstoff beigemischt werden müssen,
Auswirkungen auf die Nahrungsmittelpreise.
Eine Zahl soll uns zeigen, was diese Entwicklung für
die Arbeit des World Food Programme bedeutet: Das
World Food Programme muss inzwischen durch die internationale Gemeinschaft eine halbe Milliarde Dollar
zusätzlich aufbringen, um den derzeitigen Umfang der
Hilfe aufrechtzuerhalten.
Ein Grund für die neue Dimension, die die Nahrungsmittelknappheit annimmt, ist, dass Kraftstoff zunehmend
aus Sojabohnen, Mais und Getreide erzeugt wird. Ein
weiterer Grund ist die zunehmende Nachfrage der Weltbevölkerung nach Fleisch, zum Beispiel in China und Indien. Vom steigenden Ölpreis habe ich schon gesprochen.
All diese Punkte haben Sie in Ihrem Antrag zu Recht
angesprochen; die aktuelle Situation wird in Ihrem Antrag jedoch nicht ausreichend thematisiert. Sie wollen,
dass die Bundesregierung aufgefordert wird, die Auswirkungen der zunehmenden Konkurrenz zu erforschen. Erforschen ist gut, Reagieren ist besser. Das Drama spielt
sich doch vor unseren Augen ab. Hier geht uns Ihr Antrag nicht weit genug. Die Zeiten haben sich geändert:
Nicht Überschüsse sind das Problem, sondern Knappheiten. Diese wichtige agrarpolitische Veränderung berücksichtigen Sie in Ihrem Antrag nicht ausreichend.
Wir sind uns doch im Grunde einig, dass hier alle Seiten mehr investieren müssen.
({1})
Die Entwicklungsländer, die Schwellenländer und die
Industrieländer sind hier gleichermaßen gefordert. Das
wäre langfristig Hilfe zur Selbsthilfe. Ich betone es auch
an dieser Stelle: Spätestens seit dem Weltbankbericht,
der neulich im Ausschuss Thema war, sollte jedem klar
sein, dass die ländliche Entwicklung in unserer Entwicklungszusammenarbeit bislang vernachlässigt wurde.
({2})
- Das ist kein Unsinn. Fragen Sie Ihren Kollegen Raabe!
Auch er ist vor einiger Zeit auf den Trichter gekommen,
dass wir auf diesem Gebiet in der Vergangenheit nicht
das getan haben, was wir hätten tun können. Doch die
ländliche Entwicklung spielt gerade bei der Armutsbekämpfung eine ganz entscheidende Rolle.
Wir werden, weil das Thema enorme Bedeutung hat,
dem Antrag dennoch zustimmen.
({3})
Sie haben uns leider nicht die Möglichkeit gegeben, uns
an der Erarbeitung dieses Antrags zu beteiligen. Sie haben einen Antrag zur Abstimmung gestellt, dem wir entweder zustimmen oder den wir ablehnen können. Ich
finde das nicht kollegial.
({4})
Ich hoffe, dass wir in Zukunft bei einem so wichtigen
Thema zusammenarbeiten werden.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat die Kollegin Sibylle Pfeiffer von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wie komplex das Thema Nahrungsmittelhilfe und der
Bereich Nahrungsmittelhilfekonvention sind, möchte ich
an einem Negativbeispiel verdeutlichen: Kenia machte
2006 Schlagzeilen. Der Präsident rief damals den Notstand aus und forderte internationale Nahrungsmittelhilfe an. Was war geschehen?
Aufgrund einer Dürre herrschte im Norden des Landes eine Hungersnot. Doch während im Norden mehr als
2 Millionen Menschen der Hungertod drohte, saßen im
Westen Kenias Bauern auf einer Rekordernte Mais. Die
Regierung hatte angeboten, den Bauern im Westen den
Mais abzukaufen und ihn an die Menschen im Norden zu
verteilen, die kein Geld besitzen, um Lebensmittel zu
kaufen. Eine einfache Sache, denkt man. Die Bauern
dachten aber nicht im Traum daran, ihren Mais an die
Regierung zu verkaufen. Das hat einen einfachen Grund:
Die Regierung zahlt in der Regel nicht. Sie verspricht
zwar, irgendwann zu zahlen, aber die Bauern haben mit
dem korrupten Regime schlechte Erfahrungen gemacht.
Deshalb gaben die Bauern den Mais lieber an Händler
aus Tansania ab, die ihn bar bezahlten und mit einem
Preisaufschlag als Hilfsgüter an andere Länder verkauften, in denen auch Hunger drohte. Wenn aus diesem Geschäft nichts wurde, dann nahmen die Bauern lieber in
Kauf, dass ihr Mais in den Silos vergammelte; denn dies
war immer noch günstiger als der Transport des Getreides über Hunderte von Kilometern auf katastrophalen
Straßen in den Norden, wo sie nur niedrige Preise erzielen könnten.
Besonders schlimm finde ich an dieser Tatsache, dass
die Dürre das Land keineswegs unvorbereitet getroffen
hat. Es gab Warnungen im Vorfeld. Kenia verfügt über
Spezialisten, die regelmäßig genaue Prognosen und Berichte in die Hauptstadt schicken. Was mit diesen Berichten geschieht, dürfte allerdings das ewige Geheimnis
der Regierung bleiben. Der Spiegel berichtete, dass der
Präsident die Krise erst dann zur Chefsache erklärte,
nachdem die Medien in Kenia ausführlich über die Katastrophe berichtet hatten. Im Gefolge des Präsidenten erschienen zwei Flugzeuge voller Minister und Regierungsbeamter vor Ort. Mit anwesend waren auch der
Verteidigungsminister und der Tourismusminister, deren
Ressorts gar nichts mit dem Thema Hunger zu tun haben. Es ging nicht um Krisenmanagement, sondern um
eine medienwirksame Präsentation.
Dass die Krise nicht ohne Vorwarnung kam und die
Probleme hausgemacht sind, zeigt eine weitere Tatsache:
Bereits seit Jahren versorgt das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen den Norden Kenias
- auch in normalen Zeiten - mit Lebensmitteln. Man
muss wissen, dass in Nordkenia vorwiegend Viehhirten
beheimatet sind. In Krisenzeiten müssten sie eigentlich
ihr Vieh schlachten, um die hungernden Menschen zu ernähren, zumal die Überweidung durch die Rinderherden
in dieser Region dramatisch zunimmt. Kenianische Medien berichten, dass die Nomaden eher mit ihrem Vieh
hungern, als es zu essen. Manche Stämme essen grundsätzlich das Fleisch ihrer Rinder nicht. Sie halten Rinder
als Prestigeobjekt und als Währung. Damit wird zum
Beispiel der Brautpreis für eine Frau bezahlt. Zurzeit
liegt er angeblich bei 100 Kühen.
Fakt bleibt, dass die permanenten Nahrungsmittelhilfen die Probleme nicht beseitigt haben. Im Gegenteil:
Sie haben sie verschärft. Kenia ist kein Einzelfall. Allein
in Afrika sind über 30 Länder auf Nahrungsmittelhilfe
angewiesen.
An dieser Stelle kommt die Nahrungsmittelhilfekonvention ins Spiel. Sie ist ein gutes Beispiel dafür, dass im
Laufe der Zeit auch die besten Vorsätze manchmal in die
falsche Richtung führen können. Die ursprüngliche Idee
war durchaus sinnvoll: Lebensmittelüberschüsse aus den
Industrieländern sollten sinnvoll für die Hungerbekämpfung in den Entwicklungsländern eingesetzt werden.
Doch im Laufe der Zeit zeigte sich, dass die Nahrungsmittellieferungen für die Empfängerländer auch problematisch sein konnten, zum Beispiel dann, wenn durch
ausländische Lieferungen die Bauern in den Entwicklungsländern benachteiligt werden.
Deutschland und die EU liefern grundsätzlich keine
Lebensmittel, sondern leisten nur Barzahlungen. So können die betroffenen Länder die notwendigen Lebensmittel vor Ort bzw. in den Nachbarländern kaufen. Wenn
Deutschland keine Nahrungsmittel liefert, mag sich
mancher fragen, welchen Sinn der vorliegende Antrag
für eine neue Nahrungsmittelhilfekonvention hat. Der
Grund dafür ist, dass wir auch in dieser Frage eine Kohärenz der Geber wollen. Es hat keinen Sinn, wenn jeder
seine eigene Entwicklungspolitik macht, ohne sich mit
den anderen Gebern abzusprechen.
Die Bundesregierung hat daher im Rahmen des G-8Gipfels und der EU-Ratspräsidentschaft eine Konferenz
zu diesem Thema veranstaltet. Über 150 Experten haben
beraten, wie die Nahrungsmittelhilfekonvention neu gestaltet werden kann; denn seit den Anfängen der Konvention vor über vier Jahrzehnten sind viele neue Faktoren aufgetreten, die große Folgen für die weltweite
Nahrungsmittelsituation haben. Für meine Fraktion - die
CDU/CSU-Fraktion - war es wichtig, dass diese veränderten Faktoren im Antrag berücksichtigt werden und
sich somit auch im Hinblick auf die Neuverhandlung der
Konvention niederschlagen.
Ich möchte einige Punkte aufzählen. Wir alle kennen
die aktuellen Nachrichten über steigende Lebensmittelpreise; Sascha Raabe hat das bereits angesprochen.
Viele staatliche Stellen, NGOs und Organe der Vereinten Nationen warnen vor den Konsequenzen. Auch
der Generalsekretär der Vereinten Nationen hat sich zu
dieser dramatischen Entwicklung geäußert. Die rasante
Preisentwicklung bei den Nahrungsmitteln geht weiter.
Die Bedrohung durch Hunger und Unterernährung
wächst ebenfalls. Das Millenniumsziel, die Zahl der
hungernden Menschen bis 2015 zu halbieren, ist ohnehin
schwierig zu erreichen.
Durch die jüngsten Entwicklungen wird es noch
schwieriger. Wir haben auch auf die damit zusammenhängende Verknappung der Nahrungsmittel hingewiesen. Die Gründe hierfür sind verschieden. Wir verzeichnen eine steigende Nachfrage in den Schwellenländern
nach verschiedensten Lebensmitteln. Sie selbst sind aber
nicht in der Lage, genug herzustellen, auch deshalb, weil
ihnen schlichtweg Ackerland durch Städtebau, Industriebau und Desertifikation verloren geht. So muss China
zum Beispiel fast ein Viertel der Weltbevölkerung ernähren. Es verfügt aber nur über 10 Prozent der weltweiten
Ackerfläche.
Stichwort „Weltbevölkerung“. Uns war es wichtig,
eine große globale Herausforderung im Antrag zu unterstreichen: Wie soll eine wachsende Weltbevölkerung bei
immer weniger verfügbarer Ackerfläche ernährt werden,
vor allem vor dem Hintergrund, dass das rasante Bevölkerungswachstum vorwiegend in den Entwicklungsländern stattfindet? Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist
der Meinung, dass neue Lebensmitteltechnologien hierbei eine entscheidende Rolle spielen können.
({0})
Wir begrüßen es daher sehr, dass Agenturen der Vereinten Nationen wie die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation, FAO, mit der Afrikanischen Union zusammenarbeiten, um die Grüne Revolution voranzubringen.
Der UN-Generalsekretär betonte hierzu ausdrücklich,
dass dabei auch die „lebensnotwendige Wissenschaft
und Technik, die dauerhafte Lösungen für den Hunger
bieten“, genutzt werden.
Weitere Gründe für die Verknappung und Verteuerung
der Lebensmittel liegen in der Klimaveränderung und in
den gestiegenen Rohölpreisen, die den Transport verteuern. Nicht zu vergessen ist dabei der steigende Bedarf an
Biokraftstoffen. Hierüber haben wir uns in einer großen
Anhörung im Bundestag kundig gemacht.
Wenn man dies alles berücksichtigt, verwundert es
nicht, dass die weltweiten Nahrungsmittelreserven dramatisch gesunken sind. So sanken beispielsweise die
Weizenbestände in der EU innerhalb eines Jahres von
14 Millionen Tonnen auf 1 Million Tonnen. Eine kurze
Bemerkung dazu: Zurzeit ist die Konvention bei der Getreidebörse in London angesiedelt. Man überlegt, wo
man sie künftig ansiedeln soll. Man sollte nicht das Kind
mit dem Bade ausschütten. Ich glaube, die Entscheidung
kann irgendwann im Laufe der Diskussion fallen. Wir
müssen das nicht jetzt entscheiden. Wichtig ist, dass die
Verwaltungskosten so gering gehalten werden wie zurzeit bei der Getreidebörse.
Wie soll die Nahrungsmittelhilfekonvention künftig
aussehen? Die Nahrungsmittelhilfekonvention, die ursprünglich nur die Verteilung der Überschüsse regelte,
muss neu justiert werden. Der wichtigste Punkt, den das
am Anfang geschilderte Beispiel Kenia zeigt, ist, dass
Nahrungsmittelhilfe mehr bedeutet als nur die Lieferung
von Lebensmitteln. Wir müssen differenzierter vorgehen. Es ist ein Unterschied, ob überall in einem Land
Hunger droht oder ob grundsätzlich Lebensmittel vorhanden sind, die Menschen aber keinen Zugang dazu haben, ob ihnen schlichtweg das Geld fehlt, um sich Nahrung zu kaufen. Keine Frage, in Krisensituationen muss
schnell gehandelt werden. Es soll auch schnell gehandelt
werden. Es muss aber effektiv gehandelt werden, also
entwicklungspolitisch nachhaltig. Es darf nicht dazu
kommen, dass wie im Falle Kenia die Menschen in eine
regelrechte Abhängigkeit von Nahrungsmittelhilfe geraten. Wir müssen Wege finden, die die Menschen in die
Lage versetzen, sich selbst zu helfen, sich selbst zu ernähren. Cash for work, food for work, das wären zum
Beispiel geeignete Mittel.
({1})
Wir dürfen nicht vergessen, dass die Landwirtschaft
der beschäftigungsintensivste Sektor für die meisten
Entwicklungsländer ist und dass in ihr die meisten Menschen eine Einnahmequelle haben. Die ländliche Entwicklung spielt somit eine entscheidende Rolle bei der
Armutsbekämpfung.
Das alles muss man im Auge behalten, wenn es um
die Neugestaltung der Nahrungsmittelhilfekonvention
geht. In einer Mitteilung ruft die EU-Kommission ausdrücklich dazu auf, dass die Nahrungsmittelhilfe durch
die Förderung und Entwicklung der lokalen Landwirtschaft abgelöst werden soll. Wenn Nahrungsmittelhilfe
die einzige Alternative sein sollte, so fordert die Kommission den Einkauf auf lokaler Ebene und/oder in angrenzenden Gebieten.
Ein Punkt in diesem Zusammenhang liegt mir besonders am Herzen: Wir wissen, dass eine nachhaltige Entwicklung ohne die Förderung von Frauen nicht möglich
ist. Ich denke, dass diese Tatsache auch im Zusammenhang mit der neuen Nahrungsmittelhilfekonvention berücksichtigt werden muss, und zwar in einem besonderen Maße.
({2})
Frauen erzeugen in Entwicklungsländern 80 Prozent aller Grundnahrungsmittel. Sie besitzen aber nur 10 Prozent der Anbaufläche und weniger als 2 Prozent aller
Landtitel. Dies ist mit eine Ursache dafür, dass zwei
Drittel aller Armen Frauen sind.
Wir müssen auch darauf achten, die NGOs in die Arbeit der Nahrungsmittelhilfekonvention einzubeziehen.
Vor allen Dingen müssen die Regierungen der Entwicklungsländer mehr partizipieren; denn sie stehen in besonderer Verantwortung. Das Beispiel Kenia zeigt, dass
viele Hungerkatastrophen durch bessere Verteilung und
Verwaltung hätten vermieden werden können.
Der Kern der Nahrungsmittelhilfekonvention sind die
verbindlichen Zusagen für Nahrungsmittelhilfe. Wir
wollen diesen Kern stärken. Gleichzeitig aber wollen
wir, dass die Nahrungsmittelhilfe Teil einer umfassenden
und somit nachhaltigen Gesamtstrategie zur Bekämpfung des Hungers wird. Sie kann eine grundlegende Ernährungsstrategie und eine Entwicklungsstrategie nicht
ersetzen, aber sie kann diese sinnvoll ergänzen. Meines
Erachtens zeigt unser Antrag dies deutlich.
({3})
Das Wort hat jetzt der Kollege Hüseyin-Kenan Aydin
von der Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Grünen haben uns bereits im Dezember ihren Antrag für
eine neue Nahrungsmittelhilfekonvention vorgelegt, der
von uns die volle Unterstützung bekam. Der uns nun
vorliegende interfraktionelle Antrag ist demgegenüber
deutlich verwässert worden. Er weist einige Lücken auf,
sodass die Fraktion Die Linke diesem Antrag jetzt nicht
mehr zustimmt, sondern sich enthält.
Ja, wir brauchen eine neue Nahrungsmittelhilfekonvention, die sich an den Bedürfnissen der Hungernden
und der Empfängerländer und am Menschenrecht auf
Nahrung orientiert. Wir können jedoch nicht über eine
neue Nahrungsmittelhilfekonvention zur Linderung des
Hungers reden, ohne über die Ursachen von Hunger zu
reden. Der uns vorliegende Antrag beantwortet die Frage
nach den Ursachen mit dem Hinweis auf die Verknappung der Agrarrohstoffe, bedingt durch ein gestiegenes
Bevölkerungswachstum, die Folgen des Klimawandels
und eine gestiegene Nachfrage nach höherwertigen Nahrungsmitteln wie Fleisch und nach Agrarbrennstoffen.
Der entscheidende Punkt, der in diesem Antrag leider
unterbewertet wird, ist, dass der Agrarhandel und die ungerechten Handelsbedingungen auf dem Weltmarkt zu
Hunger führen - zu Fleischbergen auf unserer Seite und
zu einer Schale Reise am Tag auf der anderen Seite. Darüber haben wir schon des Öfteren hier im Plenum debattiert.
An dieser Stelle möchte ich die Ministerin
Wieczorek-Zeul zitieren:
Alle Programme zur Einlösung des Rechts auf Nahrung werden nichts ändern, wenn es uns nicht gelingt, die Strukturen im Welthandel gerechter zu
gestalten. Die Entwicklungsländer wollen faire Bedingungen auf den Weltmärkten.
Sehr richtig, Frau Ministerin. Doch wie sieht die Realität
aus? Die Steigerungen der Preise für Nahrungsmittel um
bis zu zwei Drittel lösten in Kamerun und Burkina Faso
in diesem Monat schwere Unruhen aus, in deren Verlauf
mehr als hundert Menschen starben. Ähnliche Szenarien
gab es in Senegal, in Guinea, aber auch in Mauretanien,
also in Ländern, wo die armen Menschen weit über die
Hälfte ihres Einkommens - bis zu 80 Prozent; Kollege
Raabe wies darauf hin - für Nahrung ausgeben müssen.
Was hat die Preissteigerungen ausgelöst? Es war beileibe nicht nur der Klimawandel. Die Verhandlungen der
WTO und die Handelsabkommen der EU destabilisieren
die lokalen Märkte in Afrika und weltweit. Eine Explosion der Rohölpreise führte hier zu einem Zusammenbruch der Märkte. Die Preise für die Nahrungsmittel
schnellten in die Höhe; die Verlierer sind wie immer die
Armen.
Wer Hungersnöte vermeiden will, braucht stabile lokale Märkte. Das hat die Vergangenheit immer wieder
bewiesen; auch Kollegin Pfeiffer hat es in ihrer Rede erwähnt. Wenn der Staat eingreifen will, um seine Menschen vor Hunger zu schützen, dann gibt es auf einmal
von allen Seiten Widerstand wegen möglicher Handelsverzerrungen, zuallererst von der WTO.
Nahrungsmittelhilfe zählt in vielen Notsituationen zu
den wichtigsten Reaktionsmechanismen. Sie war aufgrund ihrer Praxis des Absatzes von Agrarüberschüssen
umstritten; das wurde bereits erwähnt. Entscheidende
Forderungen waren die Orientierung am Prinzip des
Menschenrechts auf Nahrung und eine Beteiligung der
Empfängerländer an Entscheidungen. Die Diakonie kritisierte an der alten Nahrungsmittelhilfekonvention:
Empfängerländer wie auch die Zivilgesellschaft
sind nicht beteiligt, selbst die mit der Durchführung
der Nahrungsmittelhilfe befassten internationalen
Organisationen … können nur auf Einladung teilnehmen.
Wen haben Sie in Ihrem neuen Antrag - im Gegensatz
zum alten Antrag der Grünen - eingeladen, sich zu beteiligen? Die WTO. Wen haben Sie ausgeladen? Die Empfängerländer und die Nichtregierungsorganisationen.
({0})
Deshalb enthalten wir uns bei der Abstimmung über diesen Antrag.
Ich möchte an dieser Stelle die Regierung bitten - das
ist eine ausdrückliche Bitte im Namen meiner Fraktion -,
nicht nur auf die Handelsverzerrungen zu achten, wie es
die WTO betont, sondern auch die betroffenen Länder
und die Nichtregierungsorganisationen einzubeziehen.
Wenn Sie das tun, werden wir Ihre Arbeit nicht nur entsprechend würdigen und schätzen, sondern bei Gelegenheit unsere Entscheidung in Richtung Zustimmung korrigieren, Frau Wieczorek-Zeul.
({1})
Das Wort hat jetzt der Kollege Thilo Hoppe von der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
versuche jetzt einmal, für etwas Entwirrung zu sorgen.
Wir diskutieren jetzt nicht über einen Antrag, mit dem
versucht wird, die Ursachen des Hungers in der Welt zu
erklären oder umfassende komplexe Hungerbekämpfungsstrategien in den Vordergrund zu stellen. Wenn wir
so eine Debatte führen, dann gehören natürlich die ungerechten Handelsstrukturen oder auch die Konzentration
auf die ländliche Entwicklung in der Entwicklungszusammenarbeit dazu. Es gab - auch in der Kritik dieses
Antrags - viele gute Vorschläge, aber es ist kein komplexer Hungerbekämpfungsantrag. Vielmehr konzentrieren wir uns hier auf ein Instrumentarium: auf die Nahrungsmittelhilfe.
Es ist manchmal schwer, zu erklären, dass es auf beiden Seiten große Probleme gibt. Ganz aktuell gibt es
durch die dramatisch gestiegenen Lebensmittelpreise bedrohliche Engpässe. Es droht sogar die Einstellung der
Luftbrücke nach Darfur. Die Essensrationen für 2 Millionen Menschen werden bereits gekürzt, weil die Mittelzusagen nicht ausreichen. Einige Rednerinnen und
Redner haben das schon dargelegt. Das Welternährungsprogramm ruft um Hilfe und sagt: Wir brauchen ganz
schnell mehr Geld, um die Hungernden in Darfur nicht
im Stich zu lassen.
Angesichts dieser Krise ist es schwer, der Öffentlichkeit zu erklären, dass man auch auf der anderen Seite
vom Pferd fallen kann. Es ist noch gar nicht lange her,
dass in Afghanistan zu viel und auch falsch flankierte
Nahrungsmittelhilfe geleistet wurde, was dazu geführt
hat, dass Tausende von Bauern in den Ruin getrieben
und die Märkte zerstört wurden. Es geht also darum, die
Nahrungsmittelhilfe richtig zu flankieren und richtig dosiert einzusetzen.
({0})
Darum geht es in diesem Antrag. Das heißt, die negativen Effekte, die das Welternährungsprogramm in der
Vergangenheit mit ausgelöst hat, sind zu beenden. Kollegin Pfeiffer hat bereits dargestellt, dass Deutschland vor
einigen Jahren die Konsequenzen gezogen hat und
Agrarüberschüsse nicht mehr als Nahrungsmittelhilfe
auf den Märkten der Dritten Welt ablädt. Das geschieht
anderweitig in Form von Agrarexporten, die subventioniert werden - über den Schweinefleischexport werden
wir an anderer Stelle noch zu reden haben -, aber eben
nicht mehr im Rahmen der Nahrungsmittelhilfe.
Es geht darum, mit starker deutscher Unterstützung
jetzt eine Konvention auf den Weg zu bringen, die diese
Mängel der alten Nahrungsmittelhilfekonvention, die
aus den 60er-Jahren stammt, wirklich behebt.
Wir als Fraktion der Grünen haben einen Antrag eingebracht. Ich freue mich, dass dieser Antrag nun ein
Drei-, Vier- oder vielleicht sogar noch ein Fünf-Fraktionen-Antrag wird, der von allen unterstützt wird. Es ist
klar, dass man in einem solchen Verfahren, in dem man
die Mehrheit für seinen Antrag bekommen möchte und
in dem man mit anderen verhandelt, Kompromisse machen muss. Aber die wichtigste Forderung, nämlich dass
sich die neue Nahrungsmittelhilfekonvention zuallererst
an dem Recht auf Nahrung auszurichten hat, an den
Menschenrechten, und sie die Interessen und Bedürfnisse der Hungernden in den Mittelpunkt stellt, nicht
aber die Frage, wie hoch gerade die Getreideüberschüsse
oder die Preise sind, steht an oberster Stelle in dem Antrag.
({1})
Auch die Beteiligung der Empfängerländer, die vorher
nur eine Art Gaststatus hatten, und der NGOs ist enthalten. Es stimmt nicht, dass diese wieder ausgeladen wurden.
Die WTO soll nicht Mitglied der Nahrungsmittelhilfekonvention, nicht Mitglied des Boards werden, aber
bei der Regelung von Nahrungsmittelhilfe spielt die
WTO eine wichtige Rolle, ob wir das wollen oder nicht;
denn über die WTO muss die handelsverzerrende, kommerzielle Nahrungsmittelhilfe, also der Missbrauch von
Nahrungsmittelhilfe, reglementiert werden. Gleichzeitig
muss innerhalb der WTO eine Safe Box geschaffen werden, die die wirkliche Nothilfe nicht behindert, sondern
effektiv gestaltet. Deswegen ist ein Konsultationsprozess
nach wie vor notwendig.
({2})
Ich will aber nicht verschweigen, dass es bei zwei
Punkten auch schmerzhafte Kompromisse gegeben hat.
Wir meinen nicht, dass es den Erfordernissen der Zeit
entspricht, dass die Nahrungsmittelhilfekonvention beim
Internationalen Getreiderat in London angesiedelt ist.
Wir hätten uns gewünscht, dass sie unter das Dach der
Vereinten Nationen kommt. Es gibt nun zwar eine offene
Formulierung, die in diese Richtung zeigt, man drückt
sich aber noch vor einer klaren Aussage.
Der andere Punkt ist schmerzhafter. Diesen Kompromiss machen wir nur mit Bauchschmerzen mit. Wir haben gefordert, dass die Verpflichtungen der Geberländer
so gestaltet werden, dass sie unabhängig von der Entwicklung der Getreidepreise sind. Darin waren wir
Fachpolitiker im AWZ uns einig. Die Haushälter der Koalition haben unsere Forderung herausgestrichen. Sie
hatten Angst davor, dass dann, wenn die Getreidepreise
steigen, wie es zurzeit der Fall ist, gewaltige Nachforderungen erforderlich würden. Ich denke, wir sollten nach
wie vor für unsere Forderung streiten. Es geht hier um
humanitäre Hilfe, um Nothilfe, die buchstäblich Menschenleben rettet. Die darf doch um Gottes Willen nicht
davon abhängig gemacht werden, wie hoch oder tief gerade der Getreidepreis ist.
({3})
Da bitte ich Sie alle, gerade die Fachpolitiker, die im Bereich Entwicklungszusammenarbeit und der humanitären Hilfe aktiv sind, weiter zu kämpfen. Ich bitte die
Bundesregierung, eine entsprechende Position einzubringen und die humanitäre Hilfe nicht vom Getreidepreis abhängig zu machen.
({4})
Das Wort hat der Kollege Manfred Zöllmer von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Angesichts von weltweit 850 Millionen hungernden Menschen, angesichts vielfältiger Kriege, Krisen und Konflikte, angesichts von Naturkatastrophen mag es den
einen oder anderen vielleicht wundern, dass die Praxis
der Nahrungsmittelhilfe von den antragstellenden Fraktionen teilweise sehr kritisch betrachtet wird. Das resultiert aus den Erfahrungen, die in der Vergangenheit vielfach mit Nahrungsmittelhilfe gemacht worden sind.
Manche Geber haben in der Vergangenheit das Instrument der Nahrungsmittelhilfe dazu benutzt, Agrarüberschüsse auf einfache Art und Weise loszuwerden. Die
Kollegin Pfeiffer hat hier sehr deutlich Beispiele dafür
genannt.
Auch auf der WTO-Konferenz in Hongkong spielte
dieses Thema eine gewichtige Rolle. Beim Ringen um
weltweit faire Handelsbedingungen im Agrarbereich war
es die Forderung der EU, parallel zur angebotenen Abschaffung der Exportsubventionen auch die handelsverzerrenden Praktiken von Staatshandelsunternehmen und
die Praxis, Nahrungsmittelhilfe zur Überschussbeseitigung zu benutzen, zu beenden. Der weitere Verlauf der
WTO-Verhandlungen hat leider gezeigt, dass es bisher
wenig Bereitschaft gab, auf diese Forderung einzugehen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die WTO-Verhandlungen sind der eine Schauplatz, auf dem über dieses
Thema verhandelt wird. Der andere Schauplatz ist die
Neuregelung der Nahrungsmittelhilfekonvention, die in
diesem Jahr ansteht. Eine einjährige Verlängerung dieser
Konvention bis 2009 ist möglich. Spätestens dann muss
es aber ein Ergebnis geben. Voraussetzung dafür wäre
aber grünes Licht in Form eines entsprechenden Modalitätenpapiers der WTO. Es gibt zarte, allerdings nur sehr
zarte Signale, dass dies vielleicht noch in diesem Monat
möglich ist. Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.
Aber leider ist sie in der laufenden Welthandelsrunde,
die ja eine Entwicklungsrunde sein sollte, schon zu oft
gestorben.
Die WTO-Verhandlungen sind - das wissen wir - in
einer wirklich schwierigen Phase. Viel zu viele letzte
Termine sind schon verschoben worden. Wir brauchen
deshalb zügig Vereinbarungen, die effizient und an den
Bedürfnissen der Betroffenen orientiert die Sicherung
der Ernährung in Krisensituationen garantieren, Regelungen, die darauf ausgerichtet sind, die Probleme der
notleidenden Menschen und nicht die Überschussprobleme der Geberländer zu lösen.
Die Perspektiven der Welternährung sind von einer
Reihe schwieriger Entwicklungen gekennzeichnet - wir
haben das teilweise schon gehört -:
Erstens. Die Weltbevölkerung steigt rasant und damit
auch die Nachfrage nach Nahrungsmitteln.
Zweitens. Die Preise für Weizen, Reis, Mais und Soja,
also für Grundnahrungsmittel, sind im letzten Jahr
enorm gestiegen. In Afghanistan zum Beispiel kostet der
Weizen im Moment fast 70 Prozent mehr als vor einem
Jahr.
Drittens. Der Nahrungsverbrauch in den Boomregionen der Schwellenländer steigt, weil dort immer mehr
Fleisch konsumiert wird.
Viertens. Die Auswirkungen des Klimawandels sind
bereits jetzt durch einen Rückgang der Anbauflächen
und durch Ernteausfälle spürbar. Das wird in Zukunft
noch schwieriger werden.
Fünftens. Wir erleben einen massiven Ausbau des Biospritanbaus, wenn ich das einmal so bezeichnen darf eigentlich ein Instrument gegen den Klimawandel, das
aber global zu einer Verdrängung der Nahrungsmittelproduktion führt.
Angesichts dieser Rahmenbedingungen wird es
schwierig sein, die Millenniumsziele tatsächlich zu erreichen. Gerade deshalb ist es so wichtig, bei der Nahrungsmittelhilfekonvention möglichst rasch zu einem
Ergebnis zu kommen. Wir begrüßen nachdrücklich, dass
die Bundesministerin Wieczorek-Zeul sich dafür konsequent eingesetzt hat und einsetzt. Die Ausrichtung der
internationalen Konferenz zur Nahrungsmittelhilfe in
Berlin im letzten Jahr hat dies deutlich gemacht. Diese
Konferenz hat wichtige Anregungen für eine umfassende Food Assistance Convention gegeben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es wird immer deutlicher: Die Situation in der Landwirtschaft hat sich verändert. Zukünftig werden wir kaum noch vor dem Problem der Überschussbeseitigung stehen. Unser Problem
wird das des weltweiten Mangels an Nahrungsmitteln
sein.
Der vorliegende Antrag dreier Fraktionen - die FDP
wird zustimmen; ich begrüße das - reflektiert diese
Situation und fordert eine Neuausrichtung der Nahrungsmittelhilfe.
({0})
Die Hilfe darf nicht handelsverzerrend sein wie oftmals
in der Vergangenheit. Der Vorschlag, im Rahmen des
Agrarabkommens der WTO eine Safe Box zu schaffen,
ist richtig. Dies kann sicherstellen, dass in Notfällen unbürokratisch, schnell und zielgenau geholfen werden
kann.
Diese Hilfe darf nicht zu einem Zusammenbruch regionaler Märkte führen. Der Erhalt der Existenzgrundlagen der Kleinbauern ist eine zentrale Voraussetzung, um
längerfristig die Versorgung mit Lebensmitteln aus eigener Kraft sicherzustellen. Das muss das Ziel sein.
({1})
Die WTO muss deshalb jetzt die Kraft haben, ein vernünftiges Modalitätenpapier vorzulegen. Dazu müssen
sich besonders die USA bewegen. Dann muss es zügig
eine Neuverhandlung der Nahrungsmittelhilfekonvention geben. Wir brauchen ein gutes Ergebnis, und wir
brauchen es schnell, im Interesse der betroffenen Menschen. Der vorliegende Antrag weist in die richtige
Richtung.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD
und Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Für eine neue,
effektive und an den Bedürfnissen der Hungernden ausgerichtete Nahrungsmittelhilfekonvention“. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
16/8485, den Antrag auf Drucksache 16/8192 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen aller Fraktionen bei Enthaltung
der Fraktion Die Linke angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen
Trittin, Winfried Nachtwei, Alexander Bonde,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
NATO-Gipfel für Kurswechsel in Afghanistan
nutzen
- Drucksache 16/8501 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({0})
Innenausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Grünen fünf Minuten erhalten sollen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Jürgen Trittin vom Bündnis 90/Die
Grünen das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auf dem
Bukarester Gipfel der NATO wird eine Reihe von wichtigen Fragen diskutiert. Es geht um die Frage einer
neuen Raketenabwehr in Europa. Wir sind dezidiert der
Auffassung, dass diese abrüstungspolitisch kontraproduktiv wäre;
({0})
denn sie würde eine schwere Belastung unseres Verhältnisses zu Russland darstellen.
Das Drängen der Ukraine und Georgiens auf Aufnahme in die NATO, das sich auch in der Tagesordnung
widerspiegelt, dürfen wir angesichts der ungeklärten
Konflikte in diesem Bereich nicht durch unnötige Signale ermuntern.
Der Kern der Auseinandersetzung ist die Frage: Wie
geht die NATO mit dem ISAF-Einsatz in Afghanistan
um? Hier muss es - da kann es nicht nur bei Ankündigungen bleiben - tatsächlich einen Strategiewechsel geben.
({1})
Die jüngst veröffentlichten Zahlen und Statistiken unterstreichen das mit einem ganz bitteren Nachdruck. 2007
gab es gewaltbedingt 8 000 Tote, darunter 1 500 Zivilisten. Das war das blutigste Jahr seit dem Sturz der Taliban. Die sogenannten Oppositionellen Militanten Kräfte
haben im Jahr 2007 160 Selbstmordattentate verübt.
Man muss in aller Deutlichkeit sagen: Die meisten getöteten Zivilisten sind Anschlägen von Aufständischen
und nicht kriegerischen Aktionen der internationalen
Gemeinschaft zum Opfer gefallen.
({2})
Es ist ein Irrtum - das muss man an dieser Stelle immer wieder sagen -, zu glauben, es würde weniger Krieg
geben, wenn die internationale Gemeinschaft dort abziehen würde. Im Gegenteil: Afghanistan würde in jenen
Bürgerkrieg zurückfallen, in dem es sich 30 Jahre lang
befunden hat.
({3})
Natürlich ist auch jedes zivile Opfer, das durch Handeln von NATO-Soldaten dort verantwortet wurde, ein
Opfer zu viel. Es delegitimiert die internationalen Bemühungen für einen Aufbau. Deswegen bedarf es dieses
Strategiewechsels.
In Bukarest soll über einen umfassenden strategischpolitisch-militärischen Plan gesprochen werden. Ich
sage in aller Deutlichkeit: Es darf nicht bei einem Plan
bleiben. Der Strategiewechsel, über den in allen Gremien geredet wird, muss endlich am Boden in Afghanistan ankommen. Er muss für die Menschen in Afghanistan spürbar und erfahrbar sein. Er muss dort praktiziert
werden.
({4})
Dazu gehört eine gemeinsame Strategie mit der afghanischen Regierung für den Umgang mit den Oppositionellen Militanten Kräften. Dazu gehört eine verbesserte und verstärkte Aufbauleistung. Dazu gehört, dass
die Defizite im Bereich des Polizei- und Justizaufbaus,
der Drogenbekämpfung und der Demobilisierung endlich angegangen werden.
({5})
Wir müssen endlich klarstellen, wer hier in welchen Bereichen die Verantwortung und die Federführung hat.
Ich denke, dass dem neuen zivilen Koordinator, Herrn
Eide, dabei nur eine glückliche Hand zu wünschen ist.
Wir wünschen uns, dass er die Defizite, die gerade im zivilen Bereich aufgetreten sind, mit unser aller Unterstützung bewältigen wird.
({6})
Die vielfach zitierte vernetzte Sicherheit muss aber in
der Tat am Boden verwirklicht werden. Dazu gibt es eine
Grundvoraussetzung, auf der wir mit allem Nachdruck
beharren, Herr Erler. Es kann nicht sein, dass neben der
NATO-Operation, die dort auf der Basis eines Mandats
der Vereinten Nationen durchgeführt wird, eine weitere,
davon unabhängige Militäroperation stattfindet. Das
stellt alle Bemühungen zur Erreichung eines einheitlichen Konzeptes der vernetzten Sicherheit auf den Kopf.
({7})
Wenn Sie in dieser Frage mit den USA verhandeln
und reden wollen, die der Hauptansprechpartner sind,
dann sage ich in dem Bewusstsein, dass die USA auch
einer der größten zivilen Hilfeleister in Afghanistan
sind: Sie müssen auch die Bereitschaft haben, in anderen
Dingen Verantwortung zu übernehmen. Das ist nicht in
erster Linie in Bereichen der Fall, die, wie die Bundeskanzlerin es gesagt hat, mit mehr Gefahren verbunden
sind. Vielmehr glaube ich, dass die USA über einen solchen Strategiewechsel nur reden werden, wenn die
NATO bereit ist, tatsächlich das zu übernehmen, was
OEF bisher gemacht hat, nämlich die Ausbildung der
afghanischen Armee. Deswegen sage ich Ihnen: Die
Frage eines Strategiewechsels in Bukarest wird sich in
der Antwort auf die Frage materialisieren, ob Sie es
schaffen werden, in einem ersten Schritt das Nebeneinander zu beenden, damit die Ausbildung der afghanischen Armee künftig von ISAF - von der NATO durchgeführt wird und nicht mehr unter dem Dach von
Enduring Freedom steht.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat der Kollege Holger Haibach von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag, der
heute vom Bündnis 90/Die Grünen vorgelegt wird, gibt
die Gelegenheit, noch einmal die Situation in Afghanistan genau in Augenschein zu nehmen. Bei allen bedauerlicherweise festzustellenden tragischen Ereignissen und
bei allem, was der Kollege Trittin richtigerweise gesagt
hat, finde ich, dass wir das, was erreicht worden ist,
nicht kleinreden sollten.
({0})
Es ist durchaus so, dass sich die Situation in Afghanistan
in vielen Bereichen nicht unwesentlich verbessert hat. Es
gibt inzwischen 4 Millionen Afghanen, die Zugang zu
Trinkwasser haben. Es gibt viel mehr Menschen, die Zugang zu Infrastrukturleistungen wie Stromversorgung
haben. Es ist wieder möglich, dass junge Mädchen in
Schulen gehen. Vieles andere ist ebenfalls möglich. Insofern gehört das zur Komplettierung des Bildes dazu.
Wir haben es mit einem sehr schwierigen und sehr komplexen Bild zu tun. Es gibt aber auch Erfolge, und die
dürfen wir nicht kleinreden.
({1})
In diesem Zusammenhang müssen wir, so glaube ich,
auch die Frage stellen, wie unser eigenes Engagement
aussieht. Hierüber ist sehr viel diskutiert worden. Der
Druck, der von der NATO auf uns ausgeübt wird, ist sehr
groß, wenn es um die Frage von zusätzlichen Truppenstellungen geht. Ich finde, auch hier muss man feststellen: Wir sind mit 3 500 Soldaten der drittgrößte Truppensteller in Afghanistan. Wir sind der viertgrößte Geber
in Afghanistan, wenn es um die Mittel für humanitäre
Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit geht. Das sind
immerhin beinahe 900 Millionen Euro. Das ist keine
Kleinigkeit. Ich finde, auch das gehört zu dieser Debatte.
Wenn man ein neues Konzept der vernetzten Sicherheit fordert, dann ist das sicherlich ganz im Sinne all derer, die sich hier im Hause mit dem Thema beschäftigen.
Es ist aber auch im Sinne dieser Bundesregierung; denn
sie ist ebenso wie die Vorgängerbundesregierung diejenige gewesen, die dieses Konzept der vernetzten Sicherheit in die Diskussion eingebracht und dafür gesorgt hat,
dass es überhaupt zum Thema gemacht worden ist.
Wie sehr dies inzwischen zu einer allgemeinen Überzeugung geworden ist, kann man sehr deutlich an dem
erkennen, was der NATO-Generalsekretär bei der Kommandeurstagung der Bundeswehr gesagt hat. Diese Rede
war in vielerlei Hinsicht ausgesprochen bemerkenswert.
({2})
Wir würden vieles nicht teilen. Aber er hat etwas gesagt,
was ich für einen NATO-Generalsekretär sehr bemerkenswert finde. Ich möchte einmal zitieren, was er zu der
Debatte über die Strategie in Afghanistan ausgeführt hat:
Für mich jedenfalls beweist diese Diskussion, dass
wir unseren Anspruch, die Lehren aus den sicherheitspolitischen Entwicklungen der letzten Jahre
gezogen zu haben, noch nicht wirklich eingelöst haben.
Er identifiziert dann insgesamt vier Bereiche, deren
Beachtung er für notwendig hält, um das Konzept der
vernetzten Sicherheit herzustellen: Erstens. Das Überleben eines Staates kann heute von Entwicklungen abhängen, die sich gänzlich innerhalb der Grenzen eines anderen Staates abspielen. - Deswegen ist die Frage, einfach
aus Afghanistan zu verschwinden, für uns natürlich
keine Alternative. - Zweitens. Terrorismus des
21. Jahrhunderts hat keine Armee und kein Aufmarschgebiet. Drittens. Die überkommenen Vorstellungen von
Abschreckung sind hinfällig geworden, weil Staaten ein
anderes Interesse haben als staatenlose Terroristen oder
Gruppen in zerfallenden Staaten. Viertens. Die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen hat einen neuen,
sehr bedauerlichen Grad erreicht.
({3})
Daraus zieht er die Konsequenz - ich zitiere -:
Wir müssen sicherstellen, dass die militärische
Transformation unserem breiter gefassten Verständnis von Sicherheit entspricht … von Peacekeeping
bis zum Kampfeinsatz …
Nun kann man darüber reden, wie schnell so etwas
umgesetzt wird und inwieweit das alle Partner teilen.
Nur, eines ist auch klar: Vor 15 oder 10 Jahren hätte ein
NATO-Generalsekretär wahrscheinlich nicht in dieser
Art und Weise gesprochen. Das ist sicherlich zum großen Teil auch ein Erfolg der Debatte und des Handelns in
Deutschland.
Nichtsdestoweniger finde ich, dass der Antrag der
Grünen wichtige und richtige Punkte benennt. Das ist sicherlich zum einen die Frage des Aufbaus ziviler und
militärischer Strukturen in Afghanistan. Hier haben wir
noch einiges zu tun, sowohl mit Blick auf die Armee als
auch mit Blick auf die Polizei. Wenn man sich auf der einen Seite das - rein personell gesehen - Engagement der
EU zum Beispiel im Kosovo und auf der anderen Seite
das Engagement beim Aufbau der Polizei in Afghanistan
anschaut und einmal die Größe dieser Länder und die
Bevölkerungszahlen miteinander vergleicht, dann erkennt man, dass wir hier alle gemeinsam noch einiges zu
tun haben.
({4})
Richtig in dem Antrag ist auch, dass wir die Nachbarländer mehr in den Blick nehmen müssen. Bei Pakistan
ist das relativ klar, wobei Pakistan auch der schwierigste
Fall ist. Seien wir einmal ehrlich: Eine wirklich vernünftige Lösung gibt es noch auf keiner Seite; denn Pakistan
selber befindet sich in einer extrem schwierigen politischen Situation. Hinzu kommt, dass der Staat in den
Tribal Areas an den Grenzen keine wirkliche Durchgriffsmacht hat, zumindest soweit wir das bis jetzt beobachten können.
Es gilt sicherlich für den Iran, aber auch für die zentralasiatischen Staaten, für Turkmenistan und Usbekistan, im Zusammenhang mit der Frage von Drogentransportwegen und des grenzüberschreitenden Kampfes
gegen den Terrorismus. Es gilt auch für Indien. Wenn
wir über Pakistan und Afghanistan reden, dann müssen
wir auch darüber reden, wie wir Indien an diesem Prozess beteiligen können. Dass dafür in Deutschland
durchaus Verständnis herrscht, zeigt die deutsche G-8Initiative zum afghanisch-pakistanischen Dialog an dieser Stelle.
Insofern glaube ich, dass wir beides zu tun haben: Auf
der einen Seite müssen wir die Konsequenz der Politik
der vernetzten Sicherheit einfordern, die alle Partner anerkennen müssen, und auf der anderen Seite muss das,
was erreicht worden ist, stabilisiert werden, und die Engpässe, die es eben gibt, müssen beseitigt werden. Das ist
nicht allein eine Frage des Geldes. Vielmehr lautet die
Frage: Wie können wir die Strukturen in Afghanistan so
gestalten, dass das Land tatsächlich in der Lage ist, das,
was wir ihm an Hilfsmitteln - sei es in Form von Geld
oder in anderer Form - bieten können, vor Ort umzusetzen?
Eine letzte Bemerkung möchte ich zur Frage der
Mandate machen. Alle diejenigen, die sich mit den beiden Mandaten beschäftigen, wissen, dass es nicht ganz
einfach ist, OEF und ISAF miteinander zu verbinden.
Denn an OEF hängt noch die Operation Active Endeavour. Außerdem ist das Mandatsgebiet von OEF wesentlich größer als „nur“ die Fläche von Afghanistan. Allein
das bereitet schon gewisse Schwierigkeiten.
Darüber hinaus bin ich auch nicht der Meinung, dass
eine Zusammenlegung der Mandate eine unabdingbare
Voraussetzung für bessere Verhältnisse und für eine Politik der vernetzten Sicherheit ist. Es hat schon Gebiete
und Länder gegeben, in denen Truppen mit unterschiedlichen Mandaten wirkungsvoll zusammengearbeitet haHolger Haibach
ben. Es ist durchaus möglich, auf diese Weise erfolgreich zu arbeiten.
({5})
Ich denke, der uns heute vorliegende Antrag bietet
viele bedenkenswerte Ansätze und Punkte, über die wir
in den Beratungen reden müssen. Aber wir sollten immer im Blick haben, dass wir nicht alleine auf der Welt
sind. Wir können Vorschläge machen, aber zum Schluss
wird in der NATO kollegial entschieden. Bei allem, was
in Afghanistan bedauerlicherweise nicht so funktioniert,
wie wir es gerne hätten, dürfen wir nicht vergessen, dass
wir auch einiges erreicht haben.
Herzlichen Dank.
({6})
Das Wort hat jetzt der Kollege Hellmut Königshaus
von der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Grünen haben recht: Wir brauchen einen Kurswechsel, genauer gesagt: Die Grünen brauchen einen Kurswechsel.
Herr Trittin ist offenbar - das zeigt sein Beitrag - schon
auf diesem Weg. Nur hat seine Auffassung leider relativ
wenig mit dem Antrag zu tun. Wahrscheinlich hat Herr
Trittin das Herumgeeiere und das Vorbringen von
Scheinargumenten, wie zuletzt auf der Bundesdelegiertenversammlung seiner Partei geschehen, satt. Sein
wohltuender Redebeitrag vorhin war fast schon staatstragend. Es wäre schön, wenn dies die gemeinsame Linie
aller Grünen wäre. Aber der vorliegende Antrag setzt
noch die alte, die unklare Linie fort: von allem etwas und
immer ein bisschen das Gegenteil davon; einerseits ein
bisschen Nachtwei, andererseits ein bisschen Zion und
irgendwo dazwischen Herr Trittin.
({0})
Beispiel: Die NATO und damit auch die Bundeswehr
sollen die Ausbildung der afghanischen Armee übernehmen. So steht es im Antrag. Aber es ist kein Wort darüber enthalten, dass dies notwendigerweise mit einer
Aufstockung sowohl beim Personal als auch beim Material verbunden ist. Was heißt dies überhaupt konkret?
Soll die Bundeswehr auch im Süden, vielleicht auch
noch im Osten und im Westen ausbilden? In dem Antrag
findet sich dazu kein Wort. Oder sollen das wieder nur
die anderen machen? Wir Deutschen machen immer
Vorschläge, und die anderen sollen sie dann umsetzen.
Das wird auf Dauer nicht auf Begeisterung stoßen und
auch nicht umsetzbar sein.
({1})
Es gibt hinreichend Grund, umzusteuern. Ich freue
mich - wir haben das eben im Beitrag des Kollegen
Haibach gehört; Detlef Dzembritzki wird es wahrscheinlich ebenfalls erwähnen -, dass es in der Koalition die
Erkenntnis gibt, dass wir etwas verändern und den Tatsachen ins Auge sehen müssen. Es gibt eben eine sich unbestreitbar verschärfende Krise in Afghanistan, die ein
„Weiter so“ verbietet.
Die breite Masse der Menschen in Afghanistan - auch
das wurde schon vorhin deutlich - spürt einfach keine
Verbesserung ihrer Situation. Der Wiederaufbau kommt
nicht voran; die Wirtschaft entwickelt sich nicht - und
wenn, dann nur im Bereich der Drogenproduktion und
des Drogenexports. Überall greift die Korruption um
sich und zerstört jede nachhaltige Entwicklung. Der
Zentralregierung gelingt es überhaupt nicht, ihren Einfluss auf die Provinzen und damit auf das ganze Land
auszudehnen.
Deutschland und die internationale Gemeinschaft
dürfen deshalb das afghanische Volk in dieser kritischen
Phase nicht im Stich lassen. Die Entwicklungs- und Sicherheitsstrategie müssen so angepasst werden, dass die
Menschen eine schnelle und spürbare Verbesserung ihrer
Situation empfinden.
Der NATO-Gipfel bietet eine gute Gelegenheit, den
NATO-Partnern und ihren Parlamenten und Regierungen, aber auch uns selbst ins Gedächtnis zu rufen, wie
wichtig ein stärkeres Engagement in Afghanistan ist.
Wir dürfen uns in Afghanistan kein Scheitern leisten.
Das gilt sowohl für die militärische als auch für die zivile Seite, den zivilen Aufbau. Viel zu wenig ist geschehen, um die Friedensdividende spürbar zu machen. Auch
wir Deutschen müssen uns vorwerfen, dass unsere Beiträge auf dem zivilen Sektor viel zu gering sind.
({2})
Wenn wir die deutschen Beiträge mit den Leistungen der
USA oder Kanadas vergleichen, dann müssen wir feststellen, dass sie viel zu gering sind. Aber wir hören ja
auch immer wieder die Argumentation, dass wir militärisch nicht mehr tun müssten, weil wir ja schon diesen
Beitrag zum zivilen Aufbau leisten.
Viel zu gering ist unser Beitrag auch im Vergleich zu
dem, den wir in anderen Ländern leisten, in denen wir
aktiv sind, die für uns aber keine so strategische Bedeutung haben und die nicht so fragil sind wie Afghanistan.
Warum bekommt beispielsweise China immer noch so
viel Hilfe? Nach der ODA-Quote bekommt China
187 Millionen Euro; für Afghanistan sind 125 Millionen
Euro - wenn das denn so ist; im Haushaltsplan ist jedenfalls nichts davon zu finden - vorgesehen.
({3})
Ausgewogenheit und Schwerpunktsetzung sind dabei
nicht zu erkennen.
Der zivile Aufbau ist auch der Schlüssel zur Drogenbekämpfung. Wir haben eben gehört, welche wichtige
Rolle dieses Thema spielt. Die Menschen brauchen alternative Einkommensmöglichkeiten, anders geht es nicht
voran. Noch sind die Menschen, die in großer Masse auf
dem Land leben, auf die Drogenproduktion angewiesen.
Wir müssen ihnen helfen.
Bei den Aufgaben, die wir im Bereich der Polizeiausbildung und im Übrigen auch im Bereich der militärischen und sonstigen Sicherheit übernommen haben, haben wir versagt. Darauf ist schon mehrfach hingewiesen
worden, ich will das nicht weiter vertiefen.
Weshalb ist der NATO-Gipfel so wichtig? Die NATO
ist ja nicht nur ein militärisches, sondern auch ein politisches Bündnis. Die NATO ist der richtige Ort, um diese
Themen anzusprechen. Gott sei Dank werden sie ja auch
angesprochen. Wir sollten dort insbesondere auch über
eine bessere Verzahnung von OEF und ISAF sprechen.
Wir sollten aber nicht den Eindruck erwecken, als
gebe es eine gute und eine schlechte Mission und als ob
Sie, die Grünen, gegen die schlechte Mission kämpften
und der ganze Rest der Welt auf dem Weg des Bösen sei.
Nein, beides gehört zusammen: Ohne Bekämpfung des
Terrors, ohne eine Sicherung durch OEF-Mission geht es
nicht. Und wenn die OEF es nicht macht, dann müsste es
die ISAF tun. Aber das wollen Sie ja auch nicht. Deshalb: Kommen Sie endlich zu einer klaren Aussage darüber, was Sie wirklich wollen. Dieser Antrag zeigt es
uns nicht. Er soll nichts anderes bezwecken, als die nach
wie vor bestehende Unklarheit bei der Ausrichtung innerhalb der grünen Partei zu verkleistern. Dafür ist dieses Thema weiß Gott zu ernst.
Danke schön.
({4})
Das Wort hat der Kollege Detlef Dzembritzki von der
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im
Gegensatz zu Herrn Königshaus möchte ich mich zunächst einmal zumindest bei einem Teil der Opposition
- nämlich der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen - bedanken. Denn in dem von Ihnen vorgelegten Antrag sprechen
Sie durchaus Aspekte an, die in die richtige Richtung weisen. Mein Bemühen - lieber Kollege Königshaus, wir
kennen uns schon lange; und Sie wissen, dass ich Sie
schätze - ist eigentlich immer gewesen, hier im Haus eine
möglichst große Schnittmenge von Gemeinsamkeiten
herzustellen. Gerade in der Afghanistan-Debatte sollten
wir den Versuch unternehmen, das beizubehalten. Aus
unserer Sicht verfolgen Sie in Ihrem Antrag wichtige
Punkte, die auch wir verfolgen. Es ist gut, wenn wir das
gemeinsam feststellen und weiter an diesem Thema arbeiten. Das schließt natürlich nicht aus, dass in einigen
Punkten Differenzen und Diskussionsbedarf bestehen.
Sie fordern von der Bundesregierung, sich auf dem
NATO-Gipfel in Bukarest für einen Kurswechsel einzusetzen. Sie werden nicht überrascht sein, dass wir durchaus meinen, dass sich die Bundesregierung in diesem
Bereich schon eingebracht hat. Beispielsweise ist das,
was auf dem NATO-Gipfel in Riga passiert ist, auch auf
den Einsatz der Bundesregierung zurückzuführen. Bei
dem Werben für einen zivil-militärischen Ansatz, der
auch in Bukarest eine Rolle spielen wird, sind wichtige
Impulse von deutscher Seite ausgegangen. Ich will damit
nicht sagen, dass das unsere Erfindung ist, aber wir waren wesentlich daran beteiligt.
Interessant und - wenn Sie so wollen - erfreulich ist
auch: Wenn man zum Beispiel im NATO-Hauptquartier
in Brüssel Diskussionen mit den Militärs und den zivilen
Spitzen führt, dann hört man überall: Wir brauchen den
gemeinsamen Ansatz, den Comprehensive Approach. Das ist geradezu ein sehnlicher Wunsch, der von der Politik auch erfüllt werden muss. In diesem Bereich muss
in Bukarest einiges passieren. Das will ich deutlich unterstreichen.
Herr Kollege Trittin, Sie sind anlässlich des Gipfels in
Bukarest eingangs auf das Thema NATO-Erweiterung
eingegangen. Mir ist dabei die Kommandeurstagung
durch den Kopf gegangen, an der ich teilgenommen
habe und auf dem sich die Bundeskanzlerin und der
NATO-Generalsekretär zu dieser Frage und auch zu Afghanistan geäußert haben. Das Interessante war: Als ich
am nächsten Tag die Zeitung las, habe ich mich gefragt,
bei welcher Veranstaltung ich gewesen bin, weil ich die
Auftritte des Generalsekretärs und der Kanzlerin als einvernehmlicher wahrgenommen hatte, als das nach außen
transportiert wurde.
Deswegen sollten wir auf dieser Konferenz in Bukarest mit einem gewissen Selbstbewusstsein auftreten, um
dort unseren Ansatz zu vertreten. Dabei müssen wir unseren Anteil, den wir in Afghanistan leisten, immer im
Hinterkopf haben. Wir wissen, dass der militärische Teil
notwendig ist, um, wenn man so will, Zeit zu erkaufen,
um den zivilen Aufbau zu ermöglichen. Wir wissen aber
auch, dass der zivile Aufbau den entscheidenden Anteil
unserer Arbeit in Afghanistan haben muss.
Dabei darf man aber auch nicht übersehen - manchmal ist das offensichtlich der Fall -, dass das, was militärisch im Norden geleistet wird, nicht ohne Risiko ist und
dass auch unsere Soldatinnen und Soldaten im Zweifel
zu Handlungen herausgefordert sind, die man durchaus
als Kampfhandlungen bezeichnen kann. Hier so zu tun,
als ob sie dort technische Hilfe zu leisten hätten, wäre
absurd und würde der Öffentlichkeit Sand in die Augen
streuen, wenn es darum ginge, zu beschreiben, was in
Afghanistan zu leisten wäre.
Interessant ist aber auch etwas anderes. Ich bitte Sie,
davon Kenntnis zu nehmen. Herr Königshaus, Sie sagen
pauschal, bei den Menschen in Afghanistan sei nichts
angekommen. Das sollten wir ein Stückchen differenzierter sehen. In diesem Zusammenhang - das habe ich
hier schon gesagt - gibt es drei interessante Untersuchungen in dieser Sache.
({0})
- Dann ist es ja gut. Ich will hier aber von dieser Stelle
trotzdem sagen, dass 70 Prozent der Menschen in Afghanistan den internationalen Einsatz im zivilen wie im militärischen Bereich für sich persönlich als wichtig und
wertvoll ansehen und dass sie ihre Lebenssituation, verDetlef Dzembritzki
glichen mit 2001, als deutlich verbessert betrachten.
Auch das muss einmal in die Köpfe transportiert werden.
({1})
Diese Diskussion über Afghanistan führen wir sehr
häufig. Ich kann inzwischen schon nicht mehr zählen,
wie oft ich hier schon über Afghanistan gesprochen
habe.
({2})
Aber wenn die Kolleginnen und Kollegen zum fünften
Mal das gleiche Beispiel vortragen, dann ist nicht fünfmal etwas Schlechtes oder Gutes geschehen, sondern wir
müssen zur Kenntnis nehmen, dass dort ein Prozess abläuft und wir an diesem Prozess im Guten - hoffentlich
weniger im Bösen - beteiligt sind und dabei durchaus
Erfolge zu verzeichnen haben.
Sie haben - das ist für mich nicht überraschend, da
wir diese Frage häufig diskutieren - OEF und ISAF angesprochen. Man sollte sich davor hüten, OEF mit dem
Etikett „böse“ und ISAF mit dem Etikett „gut“ zu versehen. Schauen Sie sich zum Beispiel an, dass OEF wesentlicher Träger der Ausbildung der afghanischen Armee ist. Diese Aufgabe wollen sie jetzt an ISAF und die
NATO übertragen. Ich weiß gar nicht, ob dafür die Kapazitäten vorhanden sind. Hier ist mit Sicherheit Diskussionsbedarf und ein Abwägungsprozess notwendig, wie
wir eigentlich die Herausforderungen, die nach wie vor
im Süden bestehen, meistern wollen, welche Instrumente
wir dafür zur Verfügung haben und wie andererseits der
wichtige Bereich der Ausbildung unterstützt werden
soll.
Das, was ich als absolut notwendig ansehe, ist, dass
von der Konferenz in Bukarest vonseiten der NATO ein
Signal in Richtung der Europäischen Union, aber noch
mehr in Richtung der Vereinten Nationen dahin gehend
ausgeht, wie die Zusammenarbeit verbessert und untereinander abgestimmt werden kann, um zum Beispiel die
Ziele und Vorgaben des Afghanistan Compacts zu erreichen, der nach wie vor die wichtigste Roadmap, die
wichtigste Vorgabe für die Entwicklung in Afghanistan
ist. Wichtig ist auch, dass wir die Konferenzen in Bukarest und Paris über Afghanistan miteinander verbinden
können, sodass die NATO in der Bilanzierung deutlich
machen kann, welche Dinge sich in ihrer Verantwortung
nicht entwickelt haben. Andererseits muss gezeigt werden, wie Europäische Union und Vereinte Nationen in
ihrer zivilen Leitungsfunktion unterstützt werden können, um diese Aufgaben zu erfüllen.
Ich will an dieser Stelle ansprechen, dass die Bereitstellung von Polizei und das Funktionieren der Justiz
wesentliche Voraussetzungen dafür sind, dass innere Sicherheit entstehen kann. Aus einem Bericht im Auswärtigen Ausschuss - wir alle haben ihn bekommen - geht
zwar hervor, dass 55 000 Polizisten zur Verfügung stehen. Ich unterstelle einmal, dass diese Zahl zutreffend
ist. Es fehlen dann aber immer noch 30 000. Man muss
sich also darüber Gedanken machen, wie man die Ausbildung forciert.
Dazu sage ich: Wenn notwendig, müssen wir im Parlament bereit sein, die Entscheidung zu treffen, dass die
Regierung mehr Geld zur Verfügung hat, um diese Aufgabe zu übernehmen. Das ist dann eine temporäre Herausforderung, die man mit entsprechenden Haushaltsmitteln angehen muss. Wir können uns auf keinen Fall
bei den Amerikanern darüber beklagen, dass sie etwas
tun und wie sie etwas tun, wenn wir von unserer und europäischer Seite aus nicht in der Lage sind, uns mit dem
gleichen materiellen und personellen Einsatz einzubringen.
So gesehen, können wir eine Partnerschaft auf gleicher Augenhöhe in Bukarest wie in Paris nur dann erreichen, wenn wir uns den Verpflichtungen stellen und
nicht kleinliche Diskussionen darüber führen, wie auf
Parteitagen bestimmte Dinge abgelaufen sind. Wir Parlamentarier müssen vielmehr die Gesamtverantwortung
übernehmen, indem wir einerseits unsere Regierung so
ausstatten, dass sie handeln kann, und sie andererseits zu
einem kritischen Dialog auffordern und ihr sagen: In Bukarest ist die NATO im Hinblick auf Afghanistan zu einem Erfolg verpflichtet.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat der Kollege Wolfgang Gehrcke von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
hatte Ihnen ja beim letzten Mal prophezeit, dass wir Sitzungswoche für Sitzungswoche über Afghanistan diskutieren werden. Ich habe gar nicht gedacht, dass sich das
so schnell erfüllt.
({0})
Es wird so sein, dass uns dieses Thema noch lange sehr
kontrovers beschäftigen wird.
Die NATO will auf ihrem Gipfel in Bukarest einen
umfassenden, strategischen, politisch-militärischen Plan
für Afghanistan beschließen. Nur, das Interessante daran
ist: Sie will diesen Plan nicht veröffentlichen, weil er geheim ist. Man will also etwas beschließen, will es aber
nicht öffentlich machen, weil es geheim ist. Wenn das
ein neues strategisches Konzept ist, dann muss ich mich
doch sehr wundern.
({1})
Als Erstes sollte der Deutsche Bundestag souverän
sagen: Wir wollen, dass dieser umfassende militärischstrategische Plan auf den Tisch kommt und öffentlich
wird, damit man darüber reden kann.
({2})
Was ist denn das für eine Politik, etwas zu beschließen
und es nicht öffentlich zu machen? Zumindest das können wir von der Regierung fordern.
Die NATO wird in Bukarest weiter Druck nach mehr
Militär und neuem Kriegsgerät machen, weil sie die
stärkste kriegführende Partei ist. Das liegt bereits auf dem
Tisch; die Forderungen sind bekannt. Auf dem Gipfel in
Bukarest wird es im Prinzip auch ein Ja zur Stationierung
eines Raketenabwehrsystems in Polen und Tschechien
geben. Zudem wird es eine Öffnung zur Aufnahme von
Georgien und der Ukraine in die NATO geben. Auch das
ist mittlerweile bekannt. Man wird diesen Schritt noch
nicht vollziehen, aber die Tür aufmachen.
Ich erwarte aber kein neues strategisches Konzept, das
auch in der Frage Afghanistan einen tatsächlichen Wandel mit sich bringt. Ich will ganz deutlich sagen - hier haben wir Linken eine Grunddifferenz zu dem Vorschlag
der Grünen -: Ein strategisches Konzept kann dann nicht
neu sein, wenn es nicht die Bereitschaft zum Truppenabbau, zum Truppenabzug vorsieht.
({3})
Dazu gibt es ja überhaupt keine Überlegungen. Wenn
dies nicht geschieht, dann gibt es kein neues strategisches Konzept. Man kann zwar einzelne Punkte benennen; aber zu einem neuen Konzept kommt man nicht.
Man wäre blind, wenn man nicht erkennen würde,
dass die Meinungsverschiedenheiten innerhalb der NATO
zunehmen, dass auch die mit der Bundesregierung geführte Debatte intensiver wird. Ich finde es schon interessant, dass sich die Kollegen dazu bislang nicht geäußert haben. Einmal klar gesagt: Ich fand den Auftritt des
NATO-Generalsekretärs auf der Kommandeurstagung
hier in Berlin und die Art und Weise, wie mit unserem
Land umgegangen worden ist, dreist.
({4})
Die Antwort des Verteidigungsministers Jung lautete - ich
will ihn einmal wörtlich zitieren; damit das auch korrekt
ist -, Auslandseinsätze würden voraussichtlich das Aufgabenspektrum der Bundeswehr in Zukunft in noch stärkerem Maße bestimmen. Was heißt denn das? Er hat die
Tür für weitere Auslandseinsätze der Bundeswehr aufgemacht und nicht etwa zugemacht. Das ist die Botschaft.
Ich habe ihn wörtlich zitiert.
Jetzt steht die Bundesregierung unter Druck. Das verstehe ich auch. Sie weiß ganz genau, dass die Mehrheit
der deutschen Bevölkerung mit ihrer Afghanistanpolitik
nicht einverstanden ist. Sie spürt den Druck der USA
und taktiert in dieser Situation. Diesem Druck muss sie
ja Rechnung tragen.
Ich will Ihnen einmal etwas vorhalten, was gestern im
Handelsblatt zu lesen war:
Und bei einer Umfrage in Deutschland forderten
zwei Drittel der Befragten einen Rückzug aus Afghanistan noch in diesem Jahr. Die Nato hat den
Rückhalt bei den Bürgern verloren.
({5})
Das schreibt das Handelsblatt; das sagen nicht wir. Das
ist aber eine exakt richtige Einschätzung. Mit der Fortsetzung der jetzigen NATO-Politik werden Sie den
Rückhalt bei den Bürgerinnen und Bürgern nicht zurückerobern. Das ist auch nicht unser Ziel, sondern wir wollen einen tatsächlichen Wandel in der Politik.
({6})
Da Ostern vor der Tür steht, nutze ich die Gelegenheit, alle Bürgerinnen und Bürger unseres Landes zu bitten, an den Ostermärschen der Friedensbewegung teilzunehmen.
({7})
Ich selber werde das sehr ausgedehnt machen. Ich würde
mich freuen, wenn ich Kolleginnen und Kollegen dieses
Hauses auf dem einen oder anderen Marsch treffen
würde.
({8})
Dort können Sie sich mit der Meinung der Friedensbewegung, die einen Rückzug aus Afghanistan will, auseinandersetzen. Auch Abgeordnete können an Ostermärschen teilnehmen. Vielleicht trifft man ja auch mal
wieder einen Grünen auf einem Ostermarsch; das wäre
direkt ein Revival.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({9})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
der Kollege Gert Winkelmeier das Wort.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Stellvertretend auch für die heutige Mehrheit in diesem
Hause hat am 5. Mai 2005 der damalige Bundeskanzler
erklärt:
Die NATO ist ein Teil deutscher Staatsräson geworden - und sie wird dies auch bleiben.
Wenn das so sein sollte, muss dann nicht in einer zunehmend vernetzten Welt die Frage gestellt werden, wie
Deutschland von Staaten gesehen und beurteilt wird, die
diesem Bündnis, dem von niemandem ein Angriff droht,
nicht angehören? Diese Staaten werden registrieren, dass
Deutschland es hinnimmt, wenn die NATO-Führungsmacht die Foltermethode Waterboarding weiterhin bei
Verhören anwendet, weil ihr Präsident selbst definiert,
was Folter ist. Diese Staaten sehen, dass die ISAF in
Afghanistan täglich zwischen 40 und 65 Einsätze von
Jagdbombern zur Luftnahunterstützung fliegt, dabei
stets unbeteiligte Personen ums Leben kommen und die
Bundeswehr dafür die Luftbilder liefert. Sie werden sich
fragen, ob auf diese Weise Nationbuilding befördert werden soll. Die Nicht-NATO-Staaten haben erlebt, wie
1999 Jugoslawien unter Zuhilfenahme gefälschter Beweise mit deutscher Beteiligung überfallen worden ist.
Sie erleben heute, dass Deutschland den herausgebombten Teil unter Bruch der KSZE-Schlussakte, der Charta
der Vereinten Nationen und seiner eigenen Verfassung
als Staat anerkennt.
Mit zunehmender Besorgnis blickt die Welt auf eine
NATO, die sich entgegen ihren vertraglichen Grundlagen als Bündnis von Demokratien unverhohlen an die
Stelle der UNO setzen will und sich schon jetzt deren
Aufgaben anmaßt. Die Welt fragt, was Deutschland zu
tun gedenkt, um dem Einhalt zu gebieten. Sie fragt, was
es mit einer vorgeblichen Wertegemeinschaft auf sich
hat, die sich im Zweifelsfall über Recht und Gesetz hinwegsetzt, weil sie glaubt, sich dies militärisch leisten zu
können. Was ist das für eine Wertegemeinschaft, die ehemalige, hochrangige Generale über nukleare Präventivkriege gegen Nichtatomwaffenstaaten nachdenken lässt?
Was ist von dem einstigen Verteidigungsbündnis nach
Wegfall des potenziellen Gegners geblieben? Die zwanghafte Suche nach Feindbildern und Bedrohungen, um einen Militärapparat zur Durchsetzung westlicher ökonomischer Interessen zu rechtfertigen.
Der Exportweltmeister Deutschland ist jedoch auf
Vertrauen in der Welt angewiesen. Dies nicht zu verspielen, dazu ist die geografische und militärische Expansionsagenda des Gipfels in Bukarest wahrlich nicht geeignet. Anstatt über weitere Mitglieder, strategische
Lufttransporte und die an jedem Ort der Welt einsetzbare
schnelle Eingreiftruppe zu verhandeln, wäre die Bundesregierung gut beraten, sich auf die einstigen Stärken
deutscher Außenpolitik zu besinnen. Für diese stehen
Begriffe wie Abrüstung, Rüstungskontrolle, gegenseitige Sicherheit, strukturelle Nichtangriffsfähigkeit und
gesamteuropäische Friedensordnung. Ich bezweifle aber,
dass Sie den erforderlichen Mut aufbringen, gegen den
Strom zu schwimmen.
Vielen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/8501 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 27 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Ina Lenke, Gisela Piltz, Sibylle Laurischk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
Auswertungen der Erfahrungen mit anonymer Geburt und Babyklappe
- Drucksachen 16/5489, 16/7220 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion der FDP sechs Minuten erhalten soll. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Ina Lenke von der FDP-Fraktion das
Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die FDPBundestagsfraktion hat zu den Themen Babyklappe und
anonyme Geburt eine Große Anfrage an die Bundesregierung gerichtet. Seit 1999 gibt es in der Bundesrepublik überall Babyklappen, insgesamt 76. Überall in
Deutschland gibt es auch Krankenhäuser, in denen
schwangeren Frauen, die anonym bleiben und ihren Namen nicht nennen wollen, eine Entbindung ermöglicht
wird.
Fakt ist, dass sich diese Frauen und das Krankenhauspersonal dabei nach deutschem Recht strafbar machen.
Man darf das also nicht. Die Deutsche Gesellschaft für
Gynäkologie und Geburtshilfe, in der sich solche Ärzte
zusammengefunden haben, erhebt meines Erachtens zu
Recht an den Staat, also auch an uns, das Parlament, die
Forderung, das medizinische Handeln der Ärzte in so
einem Fall strafrechtlich nicht zu verfolgen. Denn das ist
heute der Fall.
({0})
Für die Babyklappe und die wirklich seltenen Fälle
der anonymen Geburt - in Deutschland sind es 40 bis 50 gibt es bisher keine rechtlichen Grundlagen. Das ist der
Bundesregierung bekannt. Im Koalitionsvertrag von
CDU, CSU und SPD wurde vereinbart, dass die Prüfung
der rechtlichen Absicherung der anonymen Geburt noch
in dieser Legislaturperiode vorgenommen werden soll.
Mittlerweile hat schon die zweite Hälfte dieser Legislaturperiode begonnen. Die FDP-Bundestagsfraktion stellt
fest, dass sich auf diesem Gebiet aber überhaupt nichts
tut.
({1})
In der Antwort auf die Große Anfrage der FDP hat die
Bundesregierung nun zum ersten Mal Fakten genannt.
Es wird deutlich, dass sich schwangere Frauen in einer
extremen Notlage befinden, und dies - das möchte ich
betonen -, ohne den Rückhalt ihrer Familie oder ihres
Partners zu haben; die sind nämlich nicht da. Denn aus
welchem Grund sollte es zu anonymen Geburten kommen, wenn nicht deshalb, weil diese Frauen in einer extremen Notlage sind?
Im Jahre 2002 - ich glaube, es ist ganz wichtig, dass
ich das sage, weil einige von Ihnen damals noch nicht im
Bundestag waren - hat der Deutsche Bundestag schon
einmal eine Lösung dieses Problems gefunden. SPD,
CDU, CSU und FDP haben damals fraktionsübergreifend den Entwurf eines Gesetzes zur Regelung der ano16044
nymen Geburt in den Bundestag eingebracht. Schon im
Jahre 2002 waren wir also so weit.
Wer im Bundestag arbeitet, der weiß, wie selten fraktionsübergreifende Vorlagen sind, wie selten also die Namen der Regierungsfraktionen und der Oppositionsfraktionen auf derselben Drucksache erscheinen, weil alle
die gleiche Regelung wollen. Dennoch frage ich die Kolleginnen und Kollegen, die heute hier sind, weil sie dieses Thema interessiert: Warum sollte das in dieser Legislaturperiode nicht noch einmal möglich sein?
({2})
Die Antworten der Bundesregierung auf unsere Fragen sind natürlich unvollständig. Das liegt auch daran,
dass diese Fragen zum ersten Mal zu beantworten waren.
Einige Bundesländer, auch Nordrhein-Westfalen, konnten nur unvollständige Angaben machen. Dennoch zeigen die Antworten, dass die Hälfte der Schwangeren, die
sich in Beratungsstellen anonym beraten ließen, ihre
Anonymität nach der Geburt aufgeben und das Kind mit
nach Hause nehmen. Diese Erfolge gilt es zu sehen.
Ich komme zur Babyklappe. Auch die Mütter, die,
statt ins Krankenhaus zu gehen, ihr Kind ohne Hilfe im
Badezimmer oder wo auch immer geboren und es in eine
Babyklappe gelegt haben, haben nach kurzer Zeit ihre
Anonymität aufgegeben und die Beziehung zu ihrem
Kind hergestellt. Auch das ist ein Erfolg der Babyklappe. Die Gegner von Babyklappe und anonymer Geburt verweisen darauf, dass deshalb nicht weniger Kinder getötet würden. Ich glaube, solche Vergleiche sollte
man nicht bemühen. Wenn die Frauen die extreme Notlage der Geburt hinter sich haben und in einem geschützten Raum wie dem Krankenhaus betreut werden, sind sie
offen für staatliche Hilfe.
Sollten Mütter ihre Anonymität nicht aufgeben wollen - auch dieser Fall muss angesprochen werden -,
bleibt das Kind zunächst im Krankenhaus, wird dann für
acht Wochen in eine Pflegefamilie gegeben, bis das Adoptionsverfahren vom Jugendamt eingeleitet wird.
Ich will deutlich sagen: Das Recht des Kindes auf
Wissen um die eigene Abstammung gehört zu den
Grundrechten.
({3})
Das gilt aber auch für das Recht auf Leben. Dem wiederum wird mit ärztlicher Hilfe am besten Rechnung getragen.
({4})
Erste Lösungsansätze sieht auch die Bundesregierung, schaut man sich ihre Antwort auf die Fragen 20 bis
24 an. Ich denke, an diesen Punkten muss gearbeitet
werden.
Ich komme zum Schluss. Fraktionsübergreifend sollten wir gemeinsam nach Lösungen suchen, die unserer
Verfassung Rechnung tragen und gleichzeitig schwangeren Frauen in extremen Notlagen helfen sowie den Ärzten und Ärztinnen Rechtssicherheit geben.
({5})
Die positive Bilanz der Hilfsprojekte zeigt: Eine Begleitung der anonymen Geburt birgt die Chance, dass die
Mutter in die Lage versetzt wird, staatliche Hilfsangebote in Anspruch zu nehmen. Damit kann man dem gesetzlichen Anspruch des Kindes auf Wissen um die eigene Herkunft besser gerecht werden.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Maria Eichhorn von
der CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
freue mich, dass noch einige Kolleginnen und Kollegen
hier sind, um über dieses wichtige Thema zu diskutieren.
Die Kollegin Lenke hat schon ausgeführt, dass sich
bereits in der 14. und 15. Legislaturperiode Abgeordnete
aus allen Fraktionen für eine Regelung der anonymen
Geburt eingesetzt haben - leider ohne Erfolg. Im ersten
Fall ist der Gesetzentwurf nicht zum Tragen gekommen,
im zweiten Fall war die Legislaturperiode zu schnell zu
Ende, als dass man zu einem Ergebnis hätte kommen
können. Es war uns daher wichtig, in der Koalitionsvereinbarung festzuhalten, dass hier Handlungsbedarf besteht.
In der Vergangenheit und auch heute hat sich die Diskussion auf zwei Kernprobleme zugespitzt: Erstens.
Kann eine rechtliche Absicherung der anonymen Geburt
tatsächlich Leben retten? Zweitens. Welche Bedeutung
kommt dem Recht auf Wissen um die eigene Abstammung zu? Ich sage ganz klar: Das Recht auf Leben hat
Vorrang vor dem Recht auf Wissen um die eigene Abstammung.
({0})
Um die offenen Fragen zu klären und bei dieser Thematik weiterzukommen, hat das Bayerische Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung eine Studie in Auftrag gegeben, deren Ergebnisse im Herbst letzten Jahres
veröffentlicht wurden. Gegenstand ist das Moses-Projekt, das Frauen in Bayern die anonyme Geburt ermöglicht. Fazit dieser Studie ist:
Die Bedeutung des Projekts wird hoch eingeschätzt.
Das Fallaufkommen ist Gott sei Dank nicht hoch; das
Projekt leistet aber Unterstützung in sehr prekären Lebenslagen. Es gibt keine klar definierte Zielgruppe.
Von hoher Bedeutung ist die Beratung, da nahezu
keine Frau einen Partner hat, der sie unterstützt. EntweMaria Eichhorn
der wissen die Väter nichts von der Schwangerschaft,
oder sie lehnen das Kind ab. Auch das soziale Umfeld ist
keine Hilfe. Da eher harte Sanktionen zu erwarten sind,
soll niemand von der Schwangerschaft erfahren.
Viele der Frauen sind jung, haben keine Ausbildung
und leben in schwierigen materiellen Verhältnissen. Sie
sind oft überfordert, und manche sind suchtabhängig.
Die materiellen Probleme wären behebbar. Aber die
sozialen Sanktionen scheinen unüberwindbar. Die
Frauen haben Angst vor Stigmatisierung, wenn sie ihr
Kind offiziell zur Adoption freigeben würden. Es geht in
der Regel um sehr tragische Lebenssituationen.
Auf unsere Initiative hin hat Frau Bundesministerin
von der Leyen zugesagt, eine Anschlussstudie in Auftrag
zu geben. Diese ist zurzeit in Arbeit.
Die Große Anfrage der FDP bringt neue Erkenntnisse; sie macht aber auch deutlich, dass es aufgrund der
Anonymität bei vielen Fragen schwierig ist, Aussagen
zu treffen. Denn die Anonymität steht im Vordergrund.
Warum muss die anonyme Geburt gesetzlich geregelt
werden? Die anonyme Geburt soll die psychosoziale und
medizinische Begleitung der Mutter ermöglichen, um
ein Kind besser vor Aussetzung oder Tötung während
oder nach der Geburt zu schützen. Es geht um die Sicherstellung der medizinischen Versorgung von Mutter
und Kind vor und während der Geburt auch in den Fällen, in denen Frauen glauben, ihre Schwangerschaft verheimlichen zu müssen, und zumindest zu diesem Zeitpunkt keine Möglichkeit für ein Leben mit dem Kind
sehen.
Davon strikt zu unterscheiden ist die Babyklappe, in
denen Frauen ihr Kind unerkannt ablegen können. Dieses Angebot lässt schwangere Frauen vor und während
der Geburt in medizinischer und sozialer Hinsicht allein.
Heute erfolgen 30 Prozent aller Entbindungen durch
Kaiserschnitt. Es ist nicht auszudenken, was passiert,
wenn Frauen allein oder ohne medizinische Hilfe entbinden würden. Die damit verbundene Gefahr für Mutter
und Kind ist groß. Nicht selten finden solche Geburten
unter unwürdigen Bedingungen statt.
Die geltende Rechtsordnung sieht eine anonyme Geburt nicht vor. Darauf hat Frau Lenke schon hingewiesen. Wer die begleitete anonyme Geburt im Interesse des
vorrangigen Lebensschutzes praktiziert, begibt sich derzeit in eine rechtlich schwierige Lage. Er agiert am
Rande der Legalität und kann jederzeit von Strafverfolgung betroffen sein.
Was schwangere Frauen dazu drängt, anonym zu gebären, entspricht im Grunde dem Schwangerschaftskonflikt nach § 219 StGB. Dieser wird aber häufig erst nach
Ablauf der Zwölfwochenfrist festgestellt, entweder weil
die Schwangerschaft verdrängt wird oder die Schwangere keine Möglichkeit sieht, vor der zwölften Woche
eine Beratungsstelle aufzusuchen.
Manche sehen die Gefahr, dass die anonyme Geburt
sozusagen als Billigangebot genutzt wird, man sich also
aus missbilligenswerten Gründen den Pflichten für das
Kind entzieht. In den bisherigen Fällen befanden sich die
Schwangeren überwiegend in extremen Lebenssituationen. Im Übrigen bekennen sich zum Beispiel beim Moses-Projekt 80 Prozent der Frauen nach der Geburt zu ihrem Kind. Das ist sicherlich auf die intensive Beratung
und Begleitung durch die Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen zurückzuführen, denen es in der Regel gelingt, ein Vertrauensverhältnis aufzubauen und die Eigenkräfte und das Selbstbewusstsein der betroffenen
Frau so weit zu stärken, dass sie sich zu ihrem Kind bekennen kann.
Die Panik, die vor der Geburt herrschte, stellt sich anders dar, wenn das Kind da ist. Das Moses-Projekt in
Bayern zeigt, dass die Möglichkeit zum anonymen Gebären wirklich eine Hilfe sein kann. Zur Beschränkung
auf Extremfälle trägt sicherlich auch der von der Beraterin unterzeichnete Schutzbrief bei, den die schwangere
Frau - im Fall Bayern von Donum Vitae - erhält. Darin
bestätigt die Beraterin, dass es sich tatsächlich um eine
besondere, extreme Notsituation handelt.
Es wird oft behauptet, das Angebot einer anonymen
Geburt erreiche die Frauen in ihrer psychischen und panikartigen Ausnahmesituation nicht. Die begleitete anonyme Geburt, bei der die Frau bereits vor der Entbindung nicht alleine gelassen wird, will Panik erst gar
nicht entstehen lassen. Hierin besteht der Unterschied
zur Babyklappe, in die die Mutter das Kind erst nach der
Geburt legt. Viele Gegner unterscheiden nicht zwischen
diesen beiden Möglichkeiten.
Das Problem des beeinträchtigten Rechts auf Herkunftskenntnis, das Verfassungsrang hat, versucht
Donum Vitae mit dem Moses-Projekt dadurch zu lösen,
dass die Beraterin der Mutter in den Gesprächen vor und
nach der Entbindung nahelegt, ihren Namen für das
Kind und Angaben über weitere Umstände im sicheren
Tresor der Beratungsstelle zu hinterlassen. Das Recht
auf Herkunftskenntnis muss im Übrigen gegenüber dem
Ziel des Lebensschutzes abgewogen werden. Der Europäische Gerichtshof hat im Jahre 2003 ein ganz klares
Urteil zugunsten des Lebensschutzes gefällt. Das muss
für uns maßgebend sein.
({1})
Eine Änderung von Gesetzesbestimmungen sollte
mehr Klarheit schaffen und das Risiko der Strafverfolgung der mit der begleiteten anonymen Geburt befassten
Personen verringern. Dabei sind bisherige, beispielsweise mit dem Moses-Projekt gemachte Erfahrungen
durchaus hilfreich.
Wie geht es weiter? Die Erkenntnis aus der Großen
Anfrage und die Machbarkeitsstudie bestätigen den
Auftrag der Koalitionsvereinbarung. Wir müssen die
rechtlichen Grauzonen endlich beseitigen und alle Anstrengungen unternehmen, damit der Auftrag der Koalitionsvereinbarung noch in dieser Legislaturperiode erfüllt werden kann. Das liegt nicht nur im Interesse der
Mütter, die sich in extremen Lebenssituationen befinden,
sondern dient auch dem Lebensschutz. Der Schutz des
menschlichen Lebens, insbesondere der Schutz ungebo16046
rener und geborener Kinder, hat für uns höchste Priorität.
({2})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Barbara Höll von der
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Mein Dank richtet sich an die FDP für die Große Anfrage, die wirklich umfassend ist. Ich danke aber auch
der Bundesregierung - das trifft bei der Beantwortung
von Anfragen ja nicht immer zu - für die überraschend
offenen Antworten. Frau Eichhorn, die Antworten machen aber deutlich, dass Sie zu kurz greifen - und das ist
ein Problem -, wenn Sie als einzige Begründung für Ihr
Vorhaben anführen, Lebensrecht gehe vor Abstammungsrecht. Die Tatsache, dass wir in Deutschland konstant etwa 25 Babytötungen pro Jahr haben - das hat
sich leider in den letzten sieben Jahren nicht verändert -,
und alle weiteren Ausführungen zeigen klar, dass die
Fragen nicht beantwortet werden können, ob bei Umsetzung Ihres Vorhabens tatsächlich Kindstötungen verhindert werden, welche neuen Probleme auftreten und welche Wirkung das auf das Verhältnis zwischen Müttern
und Kindern hat. Ich denke, die vorliegenden Antworten
ermöglichen uns eine sachliche und unaufgeregte Diskussion. Aber diese muss ehrlich geführt werden.
Ein Hauptproblem besteht darin: Es handelt sich um
Ausnahmehandlungen. Frauen befinden sich in einer Situation, in der sie von anderen Angeboten nicht erreicht
werden. Es stellen sich also die Fragen: Müssen wir
nicht verstärkt über andere, vorgeschaltete Angebote diskutieren? Geht es wirklich nur um eine anonyme Geburt? Oder führt eine anonyme Geburt nicht zu einer
Anonymisierung des Verhältnisses zwischen Mutter und
Kind? Wenn es so sein sollte: Will man das tatsächlich
legalisieren? Man sollte also wesentlich intensiver
schauen, wie man Möglichkeiten zu einer geheimen Geburt schafft. Das Recht des Kindes auf Abstammung ist
ein wesentliches Recht, und man kann es gerade in diesem Problemkreis nicht gegen etwas anderes ausspielen
oder abwägen.
({0})
Ich halte die anonymisierende Geburt tatsächlich für
ein Problem. Die nur sehr lückenhaft vorhandenen Ergebnisse stellen klar, dass es den Frauen zum großen Teil
eigentlich nicht um ihre eigene Anonymität geht, sondern um Anonymität in ihrem Umfeld. Das ist in der
Antwort auf Frage 2 klar ausgeführt:
In der Regel geht es den betroffenen Frauen nicht
um Anonymität, sondern um Vertraulichkeit im
Umgang mit ihrer besonderen Situation.
Das ist der entscheidende Punkt.
In diesem Zusammenhang muss man sich natürlich
auch um andere Aspekte kümmern, die mir sowohl in
den Fragen und somit auch in den Antworten viel zu
kurz kommen, nämlich: Warum sprechen wir hier immer
nur über die Frauen? Muss man an dieser Stelle nicht
noch einmal das Geschlechterverhältnis wesentlich stärker thematisieren? Warum kommen Frauen in eine solche Situation? Wie kann es sein, dass sie eine Schwangerschaft als Schande verstehen, dass ihr Recht auf
körperliche Unversehrtheit für sie aufgrund ihrer konkreten Lebenssituation infrage gestellt ist?
Wir als Linke fordern hierzu eine wirklich sachliche,
unaufgeregte Diskussion. Dabei muss man weitergehen;
diese kann man nicht auf Babyklappe und anonymisierende Geburt beschränken. Vielmehr müssen wir überlegen, wie wir flächendeckende, zielgerichtete Unterstützungsangebote zur Prävention von Notsituationen schaffen
können. Es war doch zu erkennen, dass diese Möglichkeiten gerade Frauen nutzen, die keinen gesicherten
Aufenthaltsstatus haben. Es geht also auch darum, wie
man sie erreichen kann. Es bedarf auch besserer Informationen zur legalen Adoption und zu Möglichkeiten
der Pflege sowie einer höheren gesellschaftlichen Akzeptanz von Adoptionen. Es geht um die Frage der Stärkung der reproduktiven Rechte. Sozial benachteiligte
Frauen haben keinen ungehinderten Zugang zu kostenfreien Verhütungsmitteln. Auch das ist ein Problem, über
das man in diesem Zusammenhang reden muss.
Schließlich halte ich es für sehr kritisch, wenn Werbekampagnen für Babyklappen durchgeführt werden, aber
gleichzeitig weniger Geld für Aufklärungsangebote über
legale Hilfsangebote bereitgestellt wird.
In diesem Sinne meine ich, dies ist ein großes Feld
von Anforderungen, die wir aber gemeinsam erfolgreich
bewältigen können; dies wird auch die weitere Debatte
ergeben.
Ich danke Ihnen.
({1})
Das Wort hat die Kollegin Helga Lopez von der SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau
Eichhorn, das Thema ist nicht nur ein wichtiges Thema;
ich halte es insbesondere für ein äußerst schwieriges
Thema.
({0})
Im Koalitionsvertrag ist es mit einem Satz erwähnt. Ich
habe die schriftliche Fassung jetzt leider nicht hier, habe
sie aber eben noch einmal angeschaut. Sie lautet in etwa
so, dass eine gesetzliche Regelung erfolgen soll, wenn
sie denn nötig ist. Darauf, ob sie nötig ist, gehe ich jetzt
gleich ein; ich bin der festen Überzeugung, sie ist es
nicht.
({1})
- Eine Zwischenfrage.
Bitte schön, Frau Kollegin Lenke.
Frau Lopez, ich habe den Text jetzt hier; Sie haben
das richtig zitiert. Aber hier wurde auch geschrieben,
„Erfahrungen mit der Anonymen Geburt sollen ausgewertet“ werden. Das ist ja das, was gefehlt hat. Ich hoffe
nicht, dass dahinter ein entsprechender politischer Wille
steckt. Sehen Sie das genauso?
Nein, das sehe ich nicht so. Außerdem müssen Sie da
das Haus fragen. Sie können mit Sicherheit davon ausgehen, dass der politische Wille unserer Fraktion dazu eben
nicht fehlt. Wir sind auch froh und dankbar, dass angekündigt worden ist, es werde ein weiteres Papier geben,
mit dem mehr Klarheit geschaffen wird; denn auch wir
wollen Verbesserungen bewirken. Es ist immer nur die
Frage, was der probate Weg ist, um Müttern und ebenso
- das sage ich hier ganz bewusst - Kindern zu helfen.
({0})
Ich bin hier doch etwas berührt, wie wenig bisher die
Rede davon war, wie es den Kindern geht, denen durch
anonyme Geburt oder Ablage in der Babyklappe ihr verfassungsmäßig garantiertes Recht verwehrt wird.
({1})
- Nein, sie sollen nicht lieber sterben.
Ich denke, ich erläutere Ihnen jetzt einmal, wie ich die
Angelegenheit sachlich und rechtlich sehe. Wir alle wissen und begrüßen ausdrücklich, dass Straftaten bzw.
Ordnungswidrigkeiten im Zusammenhang mit der anonymen Geburt nicht strafverfolgt werden. Es gibt die sogenannten Neusser Fälle; da hat die Staatsanwaltschaft
die Ermittlungen eingestellt. Ich sage Ihnen noch einmal
ganz deutlich: Es gibt keine Beschwer. Denn in keinem
einzigen Fall wurden die Beteiligten - seien es Ärzte
oder Mütter - belangt.
({2})
Es wird aber ein verfassungsmäßig garantiertes Recht
des Kindes verletzt, und zwar erheblich und nicht nur im
rechtlichen Sinne. Aber dass die Kenntnis der Abstammung ein Verfassungsrecht ist, dafür gibt es sehr triftige
und gewichtige Gründe. Was das Bundesverfassungsgericht - der EuGH hat übrigens ähnlich entschieden dazu schreibt, lese ich Ihnen jetzt einmal vor - vielleicht
dient das der Klarstellung -:
Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit
und die Menschenwürde sichern jedem Einzelnen
einen autonomen Bereich privater Lebensgestaltung, in dem er seine Individualität entwickeln und
wahren kann.
Weiter schreibt das Gericht:
Verständnis und Entfaltung der Individualität sind
aber mit der Kenntnis der für sie konstitutiven Faktoren eng verbunden. Zu diesen zählt neben anderen die Abstammung. Sie legt nicht nur die genetische Ausstattung des Einzelnen fest und prägt so
seine Persönlichkeit mit. Unabhängig davon nimmt
sie auch im Bewusstsein des Einzelnen eine Schlüsselstellung für Individualitätsfindung und Selbstverständnis ein.
Etwas weiter unten schreibt das Gericht:
… die Kenntnis der Herkunft bietet dem Einzelnen
unabhängig vom Ausmaß wissenschaftlicher Ergebnisse wichtige Anknüpfungspunkte für das Verständnis und für die Entfaltung der eigenen Individualität. … Dem kann nicht entgegengehalten
werden, daß es Fälle gibt, in denen die Abstammung unaufklärbar bleibt … Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG verleiht kein Recht
auf Verschaffung von Kenntnissen der eigenen Abstammung, sondern
- jetzt wird es wichtig kann nur vor der Vorenthaltung erlangbarer Informationen schützen.
Genau das passiert aber durch die anonyme Geburt.
Wenn wir diese legalisieren, dann halten wir erlangbare
Informationen vor.
({3})
Das ist nicht rechtens.
({4})
- Frau Eichhorn, ich will es hier einmal ganz deutlich sagen: Sie haben nicht eine empirische Zahl, die belegt,
dass Kinder ansonsten getötet werden. Aus alldem, was
wir bisher gehört haben, mutmaße ich das Gegenteil.
Die genannten Frauen aus Neuss haben sich bewusst
entschieden, ihre Kinder zu bekommen.
({5})
Sie können das. Ihnen wird in dieser Republik geholfen.
Die Strafverfolgungsbehörden verfolgen nicht. Es gibt
keine Beschwerden.
({6})
Es gibt sozusagen nur eine rechtliche Grauzone. Dazu
sage ich mit meiner relativ großen Verwaltungserfahrung: Es muss auch in Deutschland möglich sein, einfach einmal eine Grauzone zu belassen. Denn wenn man
gesetzgeberisch tätig wird, läuft man Gefahr, dass das
Gesetz von einem höheren Gericht gekippt wird und
dass wir dann ein schlechteres Ergebnis bekommen. Das
wollen wir Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen
nicht. Wir wollen probate Hilfe.
({7})
Frau Kollegin Lopez, erlauben Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Königshaus?
Ja.
Bitte schön, Herr Königshaus.
Frau Kollegin, gestatten Sie die Anmerkung, dass das,
was Sie hier sagen, sehr bürokratisch klingt. Ist es nicht
so, dass die Wahrnehmung von Rechten voraussetzt,
dass man überlebt? Sie sagen, es sei empirisch nicht
nachweisbar, dass aufgrund der derzeitigen Rechtslage
Kinder getötet würden. Das ist wahr. Man kann das im
konkreten Fall natürlich nicht nachweisen. Aber sind Ihnen beispielsweise die Fälle bekannt, in denen in Blumenkästen mehrere Kinder gefunden wurden, die von
ihrer Mutter getötet wurden? Meinen nicht auch Sie,
dass es darum geht, den Müttern zumindest ein Angebot
zu machen, wie sie einer solchen Konfliktsituation entgehen können?
({0})
Ich bin mit Ihnen in diesem Punkt hundertprozentig
einig. Es gibt da keinen Unterschied. Wir ahnen - ich
muss sagen: ahnen; aber wir haben darüber viele Berichte gehört -, dass die Fälle, in denen Kinder getötet
und abgelegt werden, weder durch Babyklappen noch
durch die Ermöglichung anonymer Geburt reduziert
werden, leider.
({0})
Das ist aber auch psychologisch erklärbar; denn der Vorgang, eine Babyklappe aufzusuchen oder eine anonyme
Geburt durchzuführen, verlangt ein koordiniertes Handeln. Mütter, die nach der Geburt ihre Kinder töten, sind
offenkundig - das bestätigen viele Psychologen - in einer derart schlimmen psychischen Situation, dass sie zu
dieser Koordination - das gilt sowohl für das Aufsuchen
der Babyklappe als auch für die anonyme Geburt - nicht
fähig sind. Das, was wir gehofft haben, nämlich dass mit
Babyklappen und der Ermöglichung anonymer Geburt
die Zahl der Kindstötungen minimiert wird, ist empirisch zumindest nicht belegt, leider.
({1})
Ich sage: Der richtige Weg ist, zu schauen, wie wir
- das wurde eben von Frau Eichhorn, glaube ich, angesprochen - die Quote der Mütter erhöhen können, die
sich trotz anonymer Geburt im Nachhinein entscheiden,
das Kind doch noch in ihre Obhut zu nehmen und ihm
damit wiederum die Kenntnis der Abstammung zu verschaffen. Da sind wir offensichtlich auf einem guten
Weg. Die Quote ist höher, als ich gedacht hätte. Hier haben wir gehört, dass es bereits die Möglichkeit einer
„heimlichen Geburt“ in Zusammenarbeit mit der Adoptivstelle gibt.
Es wurde auch klar, dass die Beratungsangebote an
Mütter ganz generell nicht ausreichen. Insbesondere in
dieser Richtung müssen wir Anstrengungen unternehmen. Wir müssen Frauen beraten, wir müssen ihnen aufsuchende Hilfe geben, und wir müssen ihnen Mut machen, ihre Kinder anzunehmen. Das ist der richtige Weg.
Mit einer Legalisierung der anonymen Geburt, von
der ich überzeugt bin, dass sie nicht rechtens ist und dass
sie vom Verfassungsgericht nicht geduldet würde, ist
niemandem geholfen, insbesondere nicht den betroffenen Kindern. Vielleicht sollten Sie sich einmal bei Familien in Ihrer Umgebung erkundigen - fast jeder kennt
solche Familien -, deren Kinder adoptiert worden sind,
wie es war, als die Kinder von den Adoptiveltern erfuhren, dass sie nicht die leiblichen Kinder sind.
({2})
Ich kenne solche Fälle. Es sind mildere Fälle, aber ich
weiß, welche Auswirkungen das auf die Kinder hat. Ich
schätze das Recht auf Kenntnis der Abstammung in der
Sache nicht so gering wie Sie.
({3})
Das Wort hat die Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk
vom Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist nicht das erste Mal, dass wir hier im Plenum zum
Thema „anonyme Geburt“ debattieren. Die bisherigen
Bemühungen sind „nicht zu einem parlamentarischen
Abschluss gekommen“, wie es in den Vorbemerkungen
der Großen Anfrage der FDP heißt.
Eines stimmt ja: Es ist äußerst schwierig, Regelungen
zu finden, die die verschiedenen grundgesetzlich geschützten Rechtsgüter in Einklang bringen, nämlich das
Recht auf Kenntnis der Abstammung und das Recht auf
Leben. Frau Lopez, darauf sind Sie nicht eingegangen.
Aus meiner Sicht ist das Recht auf Leben klar höher zu
bewerten als das Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung.
({0})
Das sage nicht nur ich. Es gibt auch Verfassungsrechtler,
die das so sehen. Die Schwierigkeit und das Problem liegen aber gerade darin, dass es so schwer nachweisbar ist.
Sie nennen Zahlen, wir nennen Zahlen. Die einen wissen
nichts, die anderen auch nichts. Darum ist es gut, dass
eine zusätzliche Studie in Auftrag gegeben wird, um uns
hier etwas mehr Klarheit zu verschaffen.
Auf die Einrichtung von Babyklappen haben wir als
Parlament wenig Einfluss. Aber die Hysterie, mit der
manche sie zu einer „staatlich lizensierten Babyentsorgung“ hochstilisieren, ist mir absolut unverständlich.
({1})
Wer sein Kind aussetzen will, wird das tun, ob mit Babyklappe oder ohne. Allerdings sind die Überlebenschancen mit einer Babyklappe doch größer.
({2})
Babyklappen sind oft der letzte Ausweg, eher eine moderne Form des alten Weidenkorbs, die ein wenig sicherer für die Babys ist. Ich bin ziemlich sicher, dass im
Einzelfall Kinder gerettet werden. Aber wir brauchen für
Babyklappen keine gesetzlichen Regelungen.
Anders sieht es bei der anonymen Geburt aus. Ich bin
der Meinung: Hier müssen wir etwas regeln. Frauen in
extremer Notlage sollen unter hygienisch und medizinisch zumutbaren Bedingungen, wie es auch in Österreich der Fall ist, gebären können, ohne ihren Namen angeben zu müssen. Wir müssen auch den unsäglichen
Zustand beenden, dass medizinisches Personal mit einem Bein im Gefängnis steht, wenn es in dieser Notlage
hilft.
({3})
Frau Lopez, Sie haben vorhin gesagt: Das wird nicht
verfolgt; das ist überhaupt kein Problem. In eine Beratungsstelle des SkF Köln, die entsprechende Hilfsangebote unterbreitete, kam jedoch der Staatsanwalt, setzte
die Verantwortlichen unter Druck und verlangte, die Namen herauszugeben. Ich finde, das können wir uns in einem Rechtsstaat nicht erlauben.
({4})
Ich frage mich: Warum sollen diese Menschen ausbaden,
dass die Politik sich hier nicht einigen kann? Ein solches
Durchwursteln und Wegducken entspricht auch nicht
meinem Verständnis von Verantwortung der Politik.
Für mich ist es auch schwer erträglich, dass wir de
facto in vielen Kliniken anonyme Geburten dulden, aber
es vom Wohnort der Frau abhängt, ob sie Hilfe findet
oder nicht. Sie hat Glück, wenn sie in der Nähe eine Klinik hat, die das macht. Eine Kollegin hat mir kürzlich
den Fall geschildert, dass eine Frau, die schon Wehen
hatte, von einem Krankenhaus zum anderen gehen
musste, weil sie immer wieder weggeschickt wurde. Ich
finde, wenn niemand die Verantwortung übernehmen
will, dann ist es um uns schlecht bestellt. Das darf nicht
sein.
({5})
Vor diesem Hintergrund verblassen die betroffen machenden Berichte von Menschen, die nicht um ihre biologische Abstammung wissen. Auch ich kenne Fälle, bei
denen Adoptivforscherinnen sagen, es wäre besser, dieses Kind wäre überhaupt nicht zum Leben gekommen,
da es nun so sehr darunter leide, dass es adoptiert worden sei.
({6})
Ich muss sagen: Für mich ist hier das Recht auf Leben
vorrangig.
({7})
Ich frage diejenigen, die sagen, wir bräuchten hier
keine Regelung: Was ist die Alternative? Was wollen Sie
da anbieten? Das Angebot, anonym und vertraulich zu
gebären, rettet Leben von Müttern und Kindern. Da bin
ich ziemlich sicher. Zahlen können wir hier nicht nennen. Häufig ermöglicht ein solches Angebot - da bin ich
sicher - dem Kind erst die Kenntnis der Abstammung.
Die Bundesregierung hat dokumentiert, dass viele
Frauen nach einer Beratung ihr zunächst anonym geborenes Kind tatsächlich annehmen. Es gibt auch eine Untersuchung von Fällen von SterniPark, in der von 70 bis
80 Prozent die Rede ist. Das ist doch wichtig. Wenn die
Frauen diese Beratung nicht erhalten hätten, dann hätten
sie sofort der Adoption zugestimmt. Jetzt haben sie Zeit,
werden beraten und können sich zu ihrem Kind bekennen. Adoptionen werden dadurch also verhindert.
({8})
Natürlich werden wir nicht alle Frauen, die ihr Kind
in Panik und Verzweiflung töten, mit dem Angebot der
anonymen Geburt erreichen. Aber wenn wir nur ein paar
von ihnen erreichen können, dürfen wir uns der Verantwortung nicht entziehen und müssen hier Rechtssicherheit schaffen.
Meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, Sie haben vereinbart, gesetzliche Regelungen zu
schaffen, wenn es nötig ist.
({9})
Für mich ist diese Notwendigkeit erwiesen. Sie haben
jetzt noch eine Studie in Auftrag gegeben. Ich hoffe,
dass sie zur Klarstellung dient. Ich weiß, es gibt keine
einfachen Antworten. Ich weiß auch, dass nicht alle gewinnen werden. Aber ich möchte Sie doch bitten, gemeinsam nach Lösungen zu suchen und sich der gemeinsamen Verantwortung zu stellen.
Vielen Dank.
({10})
Ich schließe die Aussprache.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wolfgang Wieland, Volker Beck ({0}), Monika
Lazar, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Europol-Beschluss rechtsstaatlich verbessern
- Drucksache 16/7742 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Es ist vereinbart, dass die Reden zu Protokoll genom-
men werden sollen. Es handelt sich um die Reden von
Wolfgang Gunkel, SPD, Gisela Piltz, FDP, Petra Pau,
Die Linke, Wolfgang Wieland, Bündnis 90/Die Grünen,
und des Parlamentarischen Staatssekretärs Peter Altmaier
für die Bundesregierung.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/7742 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 9. April 2008, 13 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.