Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie alle herzlich.
Wir beginnen heute mit den Tagesordnungspunk-
ten 22 a und 22 b sowie dem Zusatzpunkt 5:
22 a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Sechster Bericht der Bundesrepublik Deutschland zum Übereinkommen der Vereinten
Nationen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau ({0})
- Drucksache 16/5807 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({1})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Kirsten Tackmann, Karin Binder, Heidrun
Bluhm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Internationaler Frauentag muss gesetzlicher
Feiertag werden
- Drucksache 16/8373 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
ZP 5 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Irmingard ScheweGerigk, Volker Beck ({3}), Britta Haßelmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Gleichstellung von Frauen und Männern in
den Gremien des Bundes tatsächlich durchsetzen
- Drucksachen 16/7739, 16/8412 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Eva Möllring
Renate Gradistanac
Elke Reinke
({4})
Zur Unterrichtung durch die Bundesregierung liegt
ein Entschließungsantrag der Fraktion der FDP vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache 75 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zunächst der Kollegin Ingrid Fischbach für die CDU/CSUFraktion.
({5})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Frau
Ministerin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
8. März ist der Tag, an dem Frauen weltweit ihr Recht
auf Gleichberechtigung einfordern. Wir haben heute
zwar erst den 7. März; aber da dies unsere letzte Debatte
vor dem 8. März ist, ist es gut, dass wir bei dieser Gelegenheit über die Rechte der Frau debattieren.
Der Weltfrauentag bietet uns Anlass, die Situation
von Frauen auch in Deutschland genauer zu betrachten.
Mit dem Sechsten Bericht der Bundesrepublik Deutschland zum Übereinkommen der Vereinten Nationen zur
Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau
- so lang ist der Titel; wir sagen: CEDAW-Bericht haben wir eine Grundlage, differenzierter auf die Lage
der Frauen einzugehen. Im CEDAW-Bericht wird
Redetext
aufgezeigt, auf welchen Gebieten wir etwas erreicht haben und wo noch Handlungsbedarf besteht.
Die Themenbereiche, die wir uns im Hinblick auf die
Situation der Frauen in Deutschland anschauen müssen,
sind vielseitig - so vielseitig wie die Konzepte und Umsetzungen. Die Maßnahmen, die von der Bundesregierung ergriffen wurden, umfassen unter anderem die
Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen, den Schutz von
Stalking-Opfern und den strafrechtlichen Schutz von
Kindern vor sexuellem Missbrauch. Schwerpunkt des
Berichts ist aber die Gleichstellung von Frauen und
Männern im Berufsleben. Auf diesen Bereich möchte
ich mich aufgrund der Kürze meiner Redezeit - ich habe
nur sechs Minuten - beschränken.
Eine Ursache für die leider immer noch bestehenden
Ungleichheiten sind sicherlich die geschlechterspezifische Arbeitsteilung bei der Kindererziehung und die immer noch mangelhafte Infrastruktur bei den Angeboten
zur Kinderbetreuung. Hier hat die Bundesregierung
- vor allen Dingen unsere Familienministerin - bereits
gehandelt. Dafür sagen wir auch an dieser Stelle herzlichen Dank.
({0})
Wir haben bezüglich der Vereinbarkeit von Beruf und
Familie mit der Einführung des Elterngeldes und dem
Ausbau von Kinderbetreuungsplätzen für unter Dreijährige Entscheidendes auf den Weg gebracht. Das waren
wichtige Signale. Die ersten Daten zeigen uns, dass
diese Maßnahmen richtig waren.
({1})
Die neuesten Zahlen des Statistischen Bundesamtes
belegen die hohe Akzeptanz, die das Elterngeld unter
jungen Eltern - Müttern wie Vätern - gefunden hat. Damit ist es uns gleichzeitig gelungen, dass die aktive Beteiligung von Vätern bei der Kindererziehung auch in
der Gesellschaft und explizit bei den Arbeitgebern als
völlig normal angesehen wird.
({2})
- Lassen Sie doch einen Hoffnungsschimmer erst einmal
keimen, Frau Lenke, statt immer gleich zu widersprechen.
({3})
Dass endlich auch Väter vermehrt die Möglichkeit in
Anspruch nehmen, für die Familienarbeit eine berufliche
Auszeit zu nehmen, führt viel stärker zu einer echten
gleichberechtigten Teilhabe, als Frauenrechte alleine es
je vermocht hätten. Die Belastungen, die wir gerade jungen Frauen heutzutage aufbürden, nehmen immer weiter
zu. So sollen sie sich um einen guten Schulabschluss,
eine noch bessere Ausbildung, die Familienplanung und
ihre finanzielle Selbstständigkeit kümmern und in späteren Lebensjahren selbstverständlich auch für die Pflege
der Eltern zur Verfügung stehen.
Wichtig ist es daher, dass unsere Politik auch die
Männer in die Pflicht nimmt
({4})
- ich freue mich, dass auch die Kollegen klatschen -, damit die Belastungen mit all ihren Konsequenzen gleichmäßig aufgeteilt werden.
({5})
- Ja, wir wünschen uns noch mehr. Das ist richtig.
Frauen müssen selbstverständlich auch die Möglichkeit haben, eine Auszeit für die Familie zu nehmen. Dies
darf jedoch nicht zwingend das Ende ihrer beruflichen
Karriere bedeuten. Deshalb ist es besonders wichtig,
dass wir auch die Situation der Frauen berücksichtigen,
die sich voll der Kindererziehung widmen und erst nach
längerer Unterbrechung wieder in den Beruf zurückkehren wollen.
({6})
Bundesministerin von der Leyen stellt heute gemeinsam mit dem Vorstandsvorsitzenden der Bundesagentur
für Arbeit, Frank-Jürgen Weise, ein Aktionsprogramm
zum beruflichen Wiedereinstieg vor, mit dem Frauen
dieser Einstieg erleichtert werden soll. Ich glaube, auch
das ist ein wichtiges Signal. Wir haben die jungen
Frauen im Blick, aber auch diejenigen, die ihre Lebensplanung anders gestaltet haben. Auch ihnen bieten wir
Anreize und Lösungsmöglichkeiten. Herzlichen Dank,
Frau Ministerin.
({7})
Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist aber
nicht mit den Themen Karrieremöglichkeiten von
Frauen und „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ zu verwechseln. Diese Forderung, die schon vor 150 Jahren
die Frauen auf die Straße getrieben hat, ist auch heute
noch aktuell; denn hier besteht immer noch eine eklatante Ungerechtigkeit.
({8})
Es ist wichtig, dass die Vorgabe, gleichen Lohn für gleiche Arbeit zu zahlen, auch umgesetzt wird. Nicht nur innerhalb der EU, sondern auch in Deutschland verdienen
Frauen durchschnittlich immer noch ungefähr 20 Prozent weniger als Männer. Das ist nicht hinnehmbar.
({9})
Sicherlich zeigen sich hier die Auswirkungen der geschlechtsspezifischen Trennlinien am Arbeitsmarkt. Die
Berufswahl spielt eine entscheidende Rolle. Frauen und
junge Mädchen ergreifen immer noch vorrangig Berufe,
die weder gute Verdienstmöglichkeiten noch Karrieremöglichkeiten bieten. An dieser Stelle müssen wir tätig
werden. Wichtig ist aber auch, dass wir die Ausbildung
junger Frauen stärker in den Blick nehmen und sie besser fördern.
Die schulische Bildung von Mädchen und Frauen ist
sicherlich heute besser als früher. Der Anteil der Abiturientinnen liegt konstant bei 57 Prozent. Der Anteil der
Frauen im Studium ist in den letzten zehn Jahren um
10 Prozent gestiegen. Trotzdem müssen wir feststellen,
dass Frauen - selbst wenn sie in aussichtsreichen Berufsfeldern tätig sind - keine entsprechenden Aufstiegsmöglichkeiten haben. Der Anteil der Frauen, die Führungspositionen auf höherer Ebene einnehmen, liegt immer
noch bei nur 4 Prozent. Das ist zu wenig.
({10})
In diesem Bereich ist noch viel zu tun.
Wir haben mit unserem Antrag „Chancen von Frauen
auf dem Arbeitsmarkt stärken“ schon versucht, erste Akzente zu setzen und deutlich zu machen, dass wir auf die
stärkere Beteiligung von Frauen hinarbeiten, aber auch
gegen die Ungerechtigkeit beim Lohn vorgehen. Deshalb, Frau Ministerin, darf ich Ihnen auch an dieser
Stelle für die Initiative danken, die Sie mittels eines Leitfadens auf den Weg bringen, um Unternehmen die Möglichkeit zu geben, der Ungerechtigkeit beim Lohnentgelt
entgegenzuwirken.
Ein vorzüglicher Schluss, Frau Kollegin.
Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. - Ich
möchte mit einem Zitat der Literaturnobelpreisträgerin
Pearl S. Buck schließen. Sie hat gesagt:
Schickt die Frauen in die Welt hinaus, und lasst den
Mann ins Haus hinein. Das soll das Ziel von Bildung und Erziehung sein. Das Haus braucht den
Mann und die Welt braucht die Frau.
Das möchte ich so stehen lassen.
({0})
Mein spontaner Eindruck ist, dass die absehbaren
Wirkungen des letzten Vorschlags weit über die der Einführung eines gesetzlichen Feiertages hinausgingen.
({0})
Wir setzen die Debatte mit der Kollegin Ina Lenke
von der FDP-Fraktion fort.
({1})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei der
Gleichberechtigung von Frauen und Männern sind wir
wirklich ein Stück vorangekommen. Aber wir alle wissen, dass sich Deutschland in Europa nicht an der Spitze
der Bewegung befindet. In entscheidenden Positionen in
der Wirtschaft, in den Verbänden, natürlich auch in der
Politik und im öffentlichen Dienst sind Frauen immer
noch die Ausnahme. Daran haben auch das Bundesgleichstellungsgesetz für den öffentlichen Dienst und
das Bundesgremienbesetzungsgesetz nichts geändert.
Der Versuch, zum Beispiel im öffentlichen Dienst
bessere Bedingungen für Teilzeitarbeit insbesondere von
Vätern zu schaffen, ist nach hinten losgegangen. Nicht
die Männer steigen vermehrt in Teilzeitarbeit ein, sondern wieder einmal die Frauen. Was Frauen wirklich
„verdienen“, ist mehr als nur Teilzeitarbeit, niedrige
Löhne und Hausarbeit. Die Schere im Kopf dabei haben
sehr viele. Die Bundesregierung verhindert sogar, dass
Vätern und Müttern steuerliche und sozialversicherungsrechtliche Vergünstigungen bei der Kinderbetreuung zugestanden werden, wie sie in der Wirtschaft üblich sind.
Das wurde mir in dieser Woche von der Bundesregierung schriftlich bestätigt.
Die Wochenzeitung Die Zeit listet diese Woche minutiös die Gehaltsunterschiede zwischen den Geschlechtern auf. Mütter werden die Karriereleiter hinuntergeschickt, statt ihr Organisationstalent und ihre Fähigkeit,
drei Dinge gleichzeitig zu tun, zu nutzen.
({0})
Es gibt immer noch geschlechterdiskriminierende
Tarifverträge. Zum Beispiel erhält eine Schreibkraft in
der Druckindustrie ein Einstiegsgehalt von 1 716 Euro,
ein Lagerarbeiter dagegen 300 Euro mehr, weil er laut
Tarifvertrag erhöhte Anforderungen an Genauigkeit und
Gewissenhaftigkeit erfüllen muss. Das lasse ich an dieser Stelle einfach so stehen; dazu kann sich jeder seine
eigenen Gedanken machen.
Warum sind die Gewerkschaften nicht in der Lage,
Tarifverträge geschlechtergerecht zu gestalten?
({1})
- Ich habe jetzt erst einmal die Gewerkschaften angesprochen, die für ihre Mitglieder geschlechtergerechte
Verträge aushandeln müssen.
({2})
Wir wissen von Personalberaterinnen aber auch, dass
Frauen ihre eigene Leistung nicht in angemessene Gehaltsforderungen umsetzen, wie es notwendig wäre. Wir
Frauen haben also noch ein bisschen mehr zu tun.
Für uns als FDP ist ein Schwerpunkt liberaler Steuerpolitik, das Steuerrecht geschlechtergerecht zu gestalten.
Die Steuerklasse 5 ist ein Skandal.
({3})
Monat für Monat dauert dieser Skandal an. Wie Sie wissen, hat die FDP mit dem Solms-Konzept und einem ent15702
sprechenden Antrag im letzten Jahr bereits Initiativen zu
diesem Thema in den Bundestag eingebracht.
({4})
Ein gewichtiges Problem ist doch nicht nur die große
Differenz zwischen dem hohen Brutto- und dem niedrigen Nettolohn, sondern auch die Berechnung der Lohnersatzleistungen. Beim Elterngeld verlieren Frauen in
der Steuerklasse 5 monatlich mehrere hundert Euro.
Beim Mutterschaftsgeld und beim Arbeitslosengeld ist
es ebenso. Denn diese Lohnersatzleistungen richten sich
nicht nach dem Bruttolohn, sondern sie werden nach
dem Nettolohn berechnet. Dass dieses Problem besteht,
darin sind wir Frauen uns einig. Hier muss etwas passieren. Dafür können Sie mit Ihrer Mehrheit von über
70 Prozent endlich Zeichen setzen.
({5})
Es ist bis jetzt aber nichts passiert. Tun Sie also endlich
etwas!
Frau Fischbach hat gerade die frauenpolitischen Erfolge von CDU/CSU und SPD hochleben lassen. Ich
sage Ihnen aber: Die große Anzahl der teilzeitbeschäftigten Frauen wird feststellen, dass sie die von der Großen
Koalition vergessenen Leistungsträger sind.
({6})
Ein großer Schritt hin zu mehr Gleichberechtigung ist
der Ausbau der Kinderbetreuung. Frau von der Leyen,
das ist eindeutig Ihr Verdienst, für das wir von der Opposition uns bedanken.
({7})
Was aber noch fehlt, mein lieber Herr Kollege
Singhammer, ist die Gleichbehandlung von privat-gewerblichen Initiativen und Elterninitiativen einerseits
und staatlichen Einrichtungen andererseits. Wir wollen
Existenzgründungen von Frauen auch in diesem Bereich
fördern. Warum verwehren Sie das bisher? Hier müssen
Sie noch etwas nachlegen.
({8})
Jetzt komme ich zu der heißen Auseinandersetzung
um die Einführung eines Betreuungsgeldes. Meine Damen und Herren von der SPD, ich verstehe nicht, warum
Sie hier so herumeiern. Sie haben das doch mitgetragen
und schriftlich vereinbart. Aber in der Öffentlichkeit tun
Sie so, als wollten Sie das gar nicht. Zwischen dem, was
Sie schriftlich niederlegen, und dem, was Sie in der Öffentlichkeit sagen, besteht eine sehr große Differenz.
Dass Sie diesen Kuhhandel eingegangen sind, Frau
Humme, verstehe ich nicht. Sie spielen ein doppeltes
Spiel. Aber die Wählerinnen durchschauen das.
({9})
Nicht neue Gesetze schaffen wirkliche Gleichberechtigung, sondern ein liberaler Staat, der seinen Bürgern
und Bürgerinnen viel Spielraum für Eigenverantwortung
und Eigeninitiative lässt und der die Frauen dort unterstützt, wo sie alleine nicht tätig werden können, nämlich
in der Steuergesetzgebung, der Sozialgesetzgebung und
bei der Organisation der Kinderbetreuung. Ein geschlechtergerechtes Steuerrecht und eine geschlechtergerechte Arbeitsmarktpolitik sind ein Schlüssel zur Integration von Frauen in der Arbeitswelt. Das ist ein
liberaler Weg, der für Frauen und Männer zukunftsweisend ist.
Die FDP hat einen Entschließungsantrag zum
CEDAW-Bericht vorgelegt, in dem wir konkrete Vorschläge machen. Aufgrund der mir verbleibenden Redezeit - ich habe nur noch 22 Sekunden - kann ich darauf
leider nicht näher eingehen. Aber der Entschließungsantrag liegt dem Parlament schon längere Zeit vor. Wir machen jedenfalls konkrete Vorschläge und wollen gemeinsam mit Ihnen Frauenpolitik erfolgreich gestalten.
Ich komme zum Schluss. Die von der Linken vorgeschlagene Einführung des Internationalen Frauentages
als gesetzlicher Feiertag ist das absolute Nichts und wird
uns auf dem Weg zu mehr Gleichberechtigung überhaupt
nicht voranbringen. Das ist eher eine Lachnummer.
({10})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Caren Marks,
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Frau Lenke, die
SPD-Fraktion spielt kein doppeltes Spiel. Es ist ganz
klar, wie wir zum Betreuungsgeld stehen. Die Formulierungen beinhalten keine Vorfestlegungen. Das will ich
an dieser Stelle klarstellen.
({0})
Gleichstellungspolitik ist auch am morgigen Internationalen Frauentag kein alter Hut; denn obwohl Frauen
heute formal gleiche Rechte und gleichen Zugang zu
Bildung haben, sind Frauen und Männer noch immer
nicht gleichgestellt. So hat sich der CEDAW-Ausschuss
zum fünften Staatenbericht besorgt über das Fortbestehen der allgegenwärtigen stereotypen und konservativen
Ansichten über die Rolle und Aufgaben von Frauen und
Männern geäußert. Der Ausschuss hat eine Verstärkung
der politischen Maßnahmen gefordert.
Seit Bestehen der Bundesrepublik haben sich die Lebensverhältnisse von Frauen und Männern deutlich verändert. Die einseitigen Rollenzuweisungen an Frauen,
verantwortlich für die Familienarbeit, sowie an Männer,
allein zuständig für den Familienunterhalt, sind heute
nicht mehr aktuell. Das vorgegaukelte Bild des Familienidylls der 50er-Jahre zulasten von Frauen ist verstaubt.
Dennoch ist es nicht allzu lange her, dass eine ehemalige TV-Moderatorin ein Buch, in dem das Bild der Frau
als Hausfrau und Mutter beschworen wurde, schreiben
musste. Diese alten Rollenbilder - er zieht den Anzug
an, sie die Schürze - sind noch in vielen Köpfen verfestigt,
({1})
auch wenn das nicht mehr dem Wunsch der meisten jungen Frauen und Männer entspricht. So betont der sechste
CEDAW-Bericht zu Recht:
Die Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie
und Beruf für Frauen und Männer ist heute das zentrale gleichstellungspolitische Anliegen: Ohne eine
Neuausrichtung der geschlechtsspezifischen Verantwortlichkeiten in Familie und Beruf und ohne
das Bereitstellen der hierfür erforderlichen Rahmenbedingungen ist Gleichstellung nicht durchsetzbar.
({2})
Es war notwendig und richtig, dass wir seit 1998
wichtige Weichenstellungen für eine partnerschaftliche
Verteilung von Familien- und Erwerbsarbeit vorgenommen haben. So haben wir als Bundesgesetzgeber den
Ländern und Kommunen bei den Kinderbetreuungsangeboten und Ganztagsschulen auf die Sprünge geholfen.
Mit der Einführung des Elterngeldes haben wir gleichstellungspolitische Akzente zugunsten der aktiven Väter
gesetzt. Die aktuellen Auswertungen zum Elterngeldbezug im Jahr 2007 belegen: Die Gruppe der Väter, die Elternzeit beantragen, verzeichnet Rekordzuwächse. Väter
legen mit den neuen Möglichkeiten des Elterngeldes
rund dreimal so häufig wie beim alten Erziehungsgeld
eine sogenannte Babypause ein. Das ist ein Erfolg.
({3})
Das Elterngeld und die Partnermonate - wir haben lange
genug gegen Begriffe wie Wickelvolontariat kämpfen
müssen ({4})
sind auch unter gleichstellungspolitischen Aspekten ein
Erfolgsmodell.
({5})
Gute Arbeit für Frauen bleibt aber eine wesentliche
Baustelle in der Gleichstellungspolitik. Insgesamt liegt
das Einkommen von Frauen in Deutschland bei ungefähr
gleicher Arbeitszeit immer noch mindestens 20 Prozent
unter dem von Männern. Frau Lenke, weibliche vollzeitbeschäftigte Angestellte in der Privatwirtschaft verdienen sogar rund 30 Prozent weniger als ihre männlichen
Kollegen.
({6})
Auch eine Studie des Weltwirtschaftsforums von
2007, in der die Gleichstellung von Frauen und Männern
in 128 Ländern erfasst wurde, macht dies deutlich. In der
Kategorie „Gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit“
nimmt unser Land lediglich Rang 71 ein. Diese Ungerechtigkeit werden wir nicht länger hinnehmen. Auch
mithilfe des AGG, des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes, werden wir die Finger in die Wunde legen und
diese Form der Diskriminierung Stück für Stück weiter
abbauen.
({7})
Sogenannte typische Frauenberufe wie Erzieherin,
Krankenschwester und Altenpflegerin sind schlecht bezahlt, und es gibt in ihnen überwiegend geringe Aufstiegschancen. In den Vorstandsetagen hingegen sitzen
überwiegend gutbezahlte Männer und deutlich zu wenig
Frauen auf den Chefsesseln. Wir müssen die Mentalitäten verändern und die Strukturen in unserer Gesellschaft
aufbrechen. Unterschiedliche Rollenzuweisungen für
Frauen und Männer sollten der Vergangenheit angehören.
Wir brauchen eine Arbeitsmarktpolitik, die existenzsichernde Beschäftigung schafft und Frauen eine eigenständige Alterssicherung ermöglicht; denn von Armut
trotz Arbeit sind in Deutschland überwiegend Frauen betroffen. Frau Lenke, wir laden die FDP gerne ein, mitzumachen. Wir brauchen gesetzliche Mindestlöhne, die
vor Lohndumping schützen. Davon profitieren insbesondere Frauen;
({8})
denn sie sind verstärkt im Niedriglohnsektor beschäftigt.
({9})
Wir brauchen auch eine Neubewertung von gesellschaftlich wichtiger Arbeit. Der Bedarf im Betreuungs-,
Bildungs-, Gesundheits- und Pflegebereich, also der
Dienst am Menschen, wird zukünftig steigen. Diese Arbeit muss uns mehr Wert sein. Auch muss es Ziel sein,
mehr Männer als bisher für diese Berufe zu gewinnen, in
denen bislang überwiegend Frauen tätig sind. Notwendig dafür ist eine berufliche Bildung, die weder typisch
weibliche noch typisch männliche Berufsbilder produziert. Aber auch Arbeitgeber und Gewerkschaften stehen
in der Verantwortung, für angemessene Bruttolohnsteigerungen, die allen einen gerechten Anteil am Unternehmenserfolg sichert, zu sorgen.
({10})
Gefragt sind faire Tariflöhne; denn sie sind ein gutes
Mittel gegen offene Lohndiskriminierung. Gefragt sind
auch familienfreundliche Arbeitsbedingungen, die die
Vereinbarkeit von Familie und Beruf lebbar machen.
Nicht von schlechten Eltern wäre auch ein Gleichstellungsgesetz für die Privatwirtschaft.
({11})
Die Strategie des Gender-Mainstreaming ist bisher
erfolgreich. Ich habe mich daher sehr gewundert, dass
im CEDAW-Bericht zu lesen war, dass diese Strategie
verändert werden soll. Der Begriff wird vom Ministerium als „Auslöser für Widerstände gegenüber der
Gleichstellung“ interpretiert. In den letzten Jahren haben
sich viele anscheinend sperrige Begriffe wie Win-winSituation oder Benchmarking durchgesetzt. Deren alltäglicher Gebrauch und sinnvolle Anwendung wird von
niemandem infrage gestellt. Viel mehr als die fadenscheinige Kritik an einem Begriff ist eine Analyse der
bisherigen Ergebnisse der angewandten Strategie notwendig. Hierzu hat das Ressort aber leider nichts vorgelegt.
Die Strategie des Gender-Mainstreaming zielt auf die
Modernisierung in der Gesellschaft, den notwendigen
Umbau unserer Sozialversicherungssysteme und die
Veränderung der noch bestehenden traditionellen Geschlechterverhältnisse. Nicht nur am Internationalen
Frauentag muss Frauenpolitik ein Thema sein. Die SPD
wird sich auch weiter für eine aktive Gleichstellungspolitik auf allen Ebenen und in allen Bereichen einsetzen.
({12})
Gender-Mainstreaming ist und bleibt unser Auftrag.
Herzlichen Dank.
({13})
Das Wort erhält nun die Kollegin Kirsten Tackmann,
Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr verehrte Gäste! Das „Übereinkommen der Vereinten Nationen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau“, CEDAW genannt, ist ein Menschenrechtsabkommen. Es schreibt rechtsverbindlich vor, die
Diskriminierung von Frauen in allen Lebensbereichen zu
bekämpfen. Die große Themenvielfalt ist ebenso eine
Stärke von CEDAW wie die Tatsache, dass Frauen in ihren unterschiedlichen Lebenssituationen direkt angesprochen werden, zum Beispiel in Art. 14 dieses Berichts, der die besonderen Probleme von Frauen in
ländlichen Räumen thematisiert - ein oft überlesener
Teil des Berichtes. Dort heißt es, landwirtschaftliche Betriebe würden in Deutschland überwiegend als Familienbetriebe bewirtschaftet. Zitat:
Von den vollbeschäftigten Familienarbeitskräften
dieser Betriebe waren 16,9 Prozent weiblich, bei
den teilzeitbeschäftigten Familienarbeitskräften lag
der Anteil dagegen bei 46,5 Prozent.
Und weiter:
Allerdings hatten nur 9 Prozent aller landwirtschaftlichen Einzelnunternehmen eine Frau als Inhaberin.
Die Bundesregierung kommentiert diesen Passus sehr
desinteressiert:
Die Zahlen machen deutlich, dass ohne die Arbeit
der Frauen fast alle landwirtschaftlichen Betriebe
nicht bestehen könnten.
Die Linke zieht daraus ganz andere Schlüsse: Erstens.
Es gibt ein massives Defizit bei der sozialen Sicherung
von mitarbeitenden Familienangehörigen. Zweitens. In
Deutschland werden weibliche Betriebsleiterinnen in der
Landwirtschaft offensichtlich benachteiligt.
Im EU-Durchschnitt wird zum Beispiel jeder fünfte
landwirtschaftliche Betrieb von Frauen geleitet, in
Österreich sogar jeder dritte. Im Bericht müsste also eigentlich stehen: Frauen leisten einen erheblichen Teil der
Arbeit, haben aber eine geringere direkte Teilhabe am
erwirtschafteten Gewinn. Das ist eindeutig eine Diskriminierung. Zur Überwindung dieser Diskriminierung hat
Deutschland vor über zwei Jahrzehnten CEDAW ratifiziert.
Unsere Forderung ist eindeutig: eine eigenständige
Existenzsicherung - auch für die mitarbeitenden Frauen
in landwirtschaftlichen Betrieben. Die Landfrauen fordern schon länger ein Grundeinkommen. Wir sollten an
diesem Problem endlich ernsthaft arbeiten.
({0})
Ein weiteres Thema der Bundesregierung ist: mehr
Frauen in Führungspositionen. Meiner Fraktion geht es
aber nicht nur um mehr Frauen in Führungspositionen.
Mehr Beteiligung von Frauen an Erwerbsarbeit als
Armutsprävention, das ist das Thema.
({1})
Dabei muss Erwerbsarbeit aus Sicht der Linken mindestens drei Forderungen erfüllen. Sie muss erstens die ökonomische Unabhängigkeit und Existenzsicherung garantieren. Sie muss zweitens mit der Familie vereinbar sein.
Sie muss drittens - das ist wichtig - zur Entfaltung der
persönlichen Fähigkeiten und Talente beitragen.
Es mag sein, dass man als weibliche Abgeordnete mit
Ostbiografie eine spezifische Sicht auf die Rolle von Erwerbsarbeit hat. Eines wird kaum mehr bestritten: Die
hohe Erwerbsbeteiligung von Frauen in der DDR hat einen Gleichstellungsvorsprung gegenüber Frauen im
Westen begründet. Der geht leider gerade Stück für
Stück verloren.
Das lässt sich auch belegen. Im Jahr 2001 sagten in einer Umfrage rund drei Viertel der ostdeutschen Frauen,
sie hätten sich zu DDR-Zeiten ihren Männern gegenüber
gleichgestellt gefühlt. Zum Zeitpunkt der Umfrage selbst,
2001, waren es gerade noch 18 Prozent. Die verstetigte
Langzeitarbeitslosigkeit von Frauen im Osten wird als einer der Gründe dafür benannt.
Aber auch im Erwerbsleben kommt die Gleichstellung schnell unter die Räder. Die dramatische Situation
von Frauen im Erwerbsleben kritisierte der CEDAWAusschuss bereits anlässlich des letzten Berichts aus
Deutschland. Er bemängelte - Zitat Dr. Kirsten Tackmann
das hohe Maß an Langzeitarbeitslosigkeit unter
Frauen, die wachsende Anzahl von teilzeitarbeitenden Frauen und von Frauen in niedrig bezahlten und
gering qualifizierten Arbeitsverhältnissen, das Fortbestehen der Lohndiskriminierung gegen Frauen
und die Diskrepanz zwischen ihrer Qualifikation
und ihrem beruflichen Status.
Was antwortet die Bundesregierung in ihrem aktuellen Bericht auf diese Kritik? Sie stellt lapidar fest, dass
Teilzeitarbeit - Zitat trotz ungünstiger Arbeitsmarktlage in den vergangenen Jahren zum Beschäftigungsaufbau und zur
Beschäftigungssicherung beigetragen sowie die
Chancengleichheit von Männern und Frauen und
die Vereinbarkeit von Beruf und Familie gefördert
habe.
Das ist schlichtweg falsch; denn Teilzeitarbeit verfestigt Rollenklischees. Fragen Sie Frauen, wie es ist, mit
Teilzeitarbeit über die Runden zu kommen!
({2})
Teilzeitarbeit bedeutet nicht nur weniger Geld am Monatsende, sondern sie bedeutet auch weniger Arbeitslosengeld und weniger Rente. Deswegen ist die Forderung
der Linken ganz eindeutig: eigenständige Existenzsicherung und armutsfeste Renten für Frauen - natürlich auch
für Männer.
({3})
Wenn wir eine wirkliche Vereinbarkeit von Familie
und Beruf wollen, brauchen wir weniger Teilzeitarbeit,
stattdessen aber erstens eine allgemeine Verkürzung der
Vollzeitarbeit, zweitens die Gleichverteilung der Erwerbs- und Sorgearbeit zwischen den Geschlechtern
- das ist hier schon einmal angeklungen ({4})
und drittens gesicherte Mindeststandards in der öffentlichen Daseinsvorsorge und Infrastruktur, besonders in
der Kinderbetreuung.
Gerade die dritte Forderung ist mir sehr wichtig, denn
die strukturelle Diskriminierung von Frauen hat oft viele
unbeachtete und verdeckte Wirkungen. Was passiert
denn, wenn Schulen, Arztpraxen, Sportvereine oder Busund Bahnlinien in ländlichen Regionen verloren gehen? Es sind dann vor allen Dingen die Frauen, die den zusätzlichen organisatorischen Aufwand in der Familie abfangen müssen.
({5})
Dies geschieht auf Kosten der Verwirklichung eigener
Lebensziele - bis hin zum Verzicht auf eine eigene Erwerbstätigkeit, wenn diese nicht mit der Familie vereinbar ist. Das heißt doch aber im Klartext, dass der Rückbau
von öffentlicher Daseinsvorsorge Frauen diskriminiert,
weil ihre selbstbestimmte und gleichberechtigte Teilhabe
am Leben eingeschränkt wird. Dieser gesellschaftliche
Befund ändert sich übrigens nicht, wenn Frauen freiwillig
auf die Wahrung ihrer Interessen verzichten.
({6})
Noch ein Wort zur Situation von Billiglöhnerinnen.
Erschreckende 70 Prozent der im Niedriglohnbereich
Beschäftigten sind weiblich. Den lohndrückenden Effekt
billiger Frauenerwerbsarbeit hat übrigens schon Clara
Zetkin beschrieben. Ich denke, dass wir nach 100 Jahren
endlich damit Schluss machen sollten.
({7})
Das Modell des männlichen Ernährers und der weiblichen Zuverdienerin ist nun wirklich endgültig verstaubt.
({8})
Die Linke fordert deshalb auch aus gleichstellungspolitischen Gründen erstens einen gesetzlichen Mindestlohn, zweitens ein Ende der skandalösen Entgeltdiskriminierung - das wurde heute schon angesprochen - und
drittens ein Ende der diskriminierend niedrigen Löhne in
sogenannten Frauenberufen. Dazu gehört nicht nur die
berühmte und vielzitierte Friseurin.
({9})
Dass gerade die soziale Diskriminierung im Bericht
der Bundesregierung ausgespart bleibt, zeigt doch, dass
die Bundesregierung das Problem, dass Frauen strukturell diskriminiert werden, ignoriert. Damit wird aber
diese Diskriminierung zementiert und nicht bekämpft.
Das Scheitern der freiwilligen Vereinbarung, die allerdings noch zwischen der rot-grünen Bundesregierung
und der deutschen Wirtschaft geschlossen wurde, erzwingt geradezu die Forderung nach einem Gleichstellungsgesetz in der Privatwirtschaft.
({10})
Ich freue mich, dass die SPD und die Grünen auch dafür
sind. Die Linke unterstützt diese Forderung des DGB,
der Einzelgewerkschaften und des Deutschen Frauenrates, die sie am Mittwoch noch einmal erhoben haben,
ganz ausdrücklich.
Ein Instrument zur Erfüllung der CEDAW-Vorgaben
könnte auch die „Strategie Gender Mainstreaming“
sein. Das lässt sich auf der Homepage des Gender-Kompetenz-Zentrums zum Thema CEDAW nachlesen. Frau
wird allerdings im CEDAW-Bericht der Bundesregierung Ausführungen zum aktuellen Umsetzungsstand von
Gender-Mainstreaming vergeblich suchen. Lediglich
konkrete Projekte der vorangegangen Bundesregierung
werden dort erwähnt. Damit wird aber eines offensichtlich: Ministerin von der Leyen steuert den Gender-Mainstreaming-Prozess längst nur noch auf dem Papier, wenn
überhaupt.
({11})
Unter der Großen Koalition findet somit keine aktive
Gleichstellungspolitik mehr statt, geschweige denn die
systematische Berücksichtigung von Bedürfnissen, Talenten und Interessen von Frauen und Männern in allen
Politikbereichen. Das Recht von Frauen auf eine eigenständige Existenzsicherung rückt dann aber sowohl im
Osten als auch im Westen wieder in weitere Ferne.
Für die Linke ist diese Situation Anlass gewesen, den
schon zitierten Antrag einzubringen, der für einige möglicherweise ein bisschen überraschend kommt. Wir greifen damit eine Initiative von Hamburger Gewerkschafterinnen auf, die gefordert haben, den Internationalen
Frauentag am 8. März zum gesetzlichen Feiertag zu erklären.
({12})
Wenn man nach den historischen Wurzeln des Internationalen Frauentages fragt, kommt man nicht an Clara
Zetkin vorbei, die ja Alterspräsidentin des letzten frei
gewählten Reichstages war. Aber das haben Sie in unserem Antrag sicherlich gelesen.
({13})
Spätestens seit der Anerkennung dieses Tages durch die
UNO im Jahr 1975 ist der 8. März der Tag, an dem
Frauen weltweit gleiche Rechte einfordern. Der Linken
reicht das aber nicht. Wir fordern ein Umdenken und ein
Andershandeln.
({14})
Ein gesetzlicher Feiertag bietet eine verfassungsmäßig garantierte Zeit „der Arbeitsruhe und der seelischen
Erhebung“.
({15})
Was, liebe Kolleginnen und Kollegen, kann ein geeigneterer Anlass für eine seelische Erhebung sein, als alljährlich wenigstens am 8. März einmal über Schritte hin zur
tatsächlichen Diskriminierungsfreiheit von Frauen nachzudenken?
Vielen Dank.
({16})
Frau Kollegin Schewe-Gerigk ist die nächste Rednerin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Welchen Stellenwert die Frauenpolitik bei dieser Bundesregierung hat, lässt sich gut daran ablesen, was Sie
uns heute als Beratungsgrundlage zum morgen stattfindenden Internationalen Frauentag vorlegen. Es handelt
sich nämlich um den Sechsten Bericht der Bundesregierung zur UN-Frauenrechtskonvention, der den Zeitraum
von 2002 bis 2006 umfasst, also um einen Bericht, der
überwiegend auf die rot-grüne Regierungszeit eingeht.
({0})
Verstehen Sie mich nicht falsch: Natürlich wollen wir
diesen Rechenschaftsbericht in Sachen Gleichstellung an
die Vereinten Nationen diskutieren. Aber wir wüssten
gerne von der Bundesregierung, was daraus folgt und
welche Konsequenzen sie daraus zieht. Frau Kollegin
Fischbach hat hier wunderbar analysiert, welche Probleme wir haben. Aber was machen denn Sie von der
Regierungskoalition?
({1})
Sie tragen doch die Bundesregierung. Sie legen uns keinen einzigen Antrag vor. Sie lamentieren zwar darüber,
wie schlecht es den Frauen geht, aber Sie tun nichts.
({2})
Wir wollen anlässlich des Weltfrauentages mit Ihnen
über die Zukunft der Frauen reden. Was tun Sie? Sie reden über die Vergangenheit. Aber das hat natürlich auch
seinen Grund, nämlich die vielen erfolgreichen Maßnahmen seit 2001. Ich betone: erfolgreiche rot-grüne Maßnahmen. Mir ist es ja peinlich, dass ich jetzt noch über
die Uralterfolge sprechen muss, aber Sie haben uns ja
mit dem, was Sie hier vorlegen, die Vorlage dazu gegeben.
({3})
- Ja, natürlich nur wegen des Zeitverlaufs. - Ich zähle
hier noch einmal die erfolgreichen Maßnahmen auf:
das Gewaltschutzgesetz, der Aktionsplan gegen häusliche Gewalt, die Aufnahme des Tatbestandes der
Zwangsverheiratung in das Strafgesetzbuch, die Verbesserung des Schutzes für Opfer von Menschenhandel,
bessere Möglichkeiten zur Strafverfolgung von Tätern
durch die Strafrechtsreform, der asylrechtliche Schutz
vor geschlechtsspezifischer Verfolgung, der massive
Ausbau der Kindertagesbetreuung - hierfür haben wir
schon im Rahmen unserer Gleichstellungspolitik 1,5 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt -, das Job-AQTIVGesetz und das Gesetz zur Gleichstellung der Frauen im
öffentlichen Dienst.
({4})
Das alles sind die Maßnahmen, die wir beschlossen haben und die in diesem Bericht stehen, über den wir diskutieren sollen, Frau Fischbach.
Ich komme nun zu Ihrem Beitrag. Wenn ich das richtig betrachte, dann finde ich im Bericht außer der Elternzeit, die ja bereits von Renate Schmidt eingeleitet worden ist, nicht viel.
({5})
Es reicht nicht, Frau Fischbach, die noch bestehende Ungleichheit zwischen den Geschlechtern fein säuberlich
zu analysieren. Sie sind doch keine Musterschülerin, und
für Ihre Fleißarbeit streichelt Ihnen auch niemand über
den Kopf. Sie sind in der Regierungskoalition, Sie müssen handeln.
({6})
Sie sagen selbst, die großen Lohnunterschiede zwischen den Geschlechtern sind nicht hinnehmbar. Das
steht auch in dem Bericht. Was hat denn die Kanzlerin
während der EU-Ratspräsidentschaft getan? - Wir hatten einen Antrag eingebracht, dass sie im Rahmen der
EU-Ratspräsidentschaft aktive Maßnahmen vornimmt.
Nichts ist passiert. Die Bundesregierung macht also auch
nichts. Im Bericht steht, es handele sich nur selten um
direkte Lohndiskriminierung, da könne man gar nichts
tun. - Das ist absolut falsch.
({7})
- Frau Fischbach möchte mit mir sprechen.
Das Miteinandersprechen lässt sich auch außerhalb
der Redezeit abwickeln. Aber wenn es sich um den
Wunsch nach einer förmlichen Zwischenfrage handelt,
möchte ich diese gerne aufrufen.
Frau Schewe-Gerigk, ich habe es zur Kenntnis genommen, dass Sie gesagt haben, unter der EU-Ratspräsidentschaft der Kanzlerin seien bestimmte Themen nicht
angesprochen worden. Können Sie diesem Hohen Hause
kurz erklären, was Sie seinerzeit unter der rot-grünen
Ratspräsidentschaft auf EU-Ebene auf den Weg gebracht
haben, gerade im Bereich der Frauen- und Familienpolitik? Wenn ich mich recht erinnere - ich bin schon ein
bisschen länger dabei -, ist das überhaupt kein Thema
gewesen.
({0})
Das ist eine wunderbare Frage. Wir sollen also noch
weiter in die Vergangenheit zurückgehen. Die letzte EURatspräsidentschaft Deutschlands war 1999. Damals war
ich auch schon im Parlament. Da haben wir das Gewaltschutzgesetz, das bereits in vielen europäischen Ländern
eingeführt war, übernommen.
({0})
Ich komme zu den geschlechtsspezifischen Einkommensunterschieden zurück. Diesbezüglich sagt eine
Studie der Hans-Böckler-Stiftung: Es handelt sich bei einem Drittel dieser Einkommensunterschiede um eine direkte Diskriminierung. - Sie sagen, Sie können nichts
tun, Sie wollen nicht in die Tarifautonomie eingreifen.
Ich glaube, Sie können etwas tun. Sie brauchen nur den
Unternehmen endlich einmal ein paar Vorgaben zu machen. Transparente Lohn- und Beförderungsstrukturen
wären dafür ein erster Schritt. Aber die Auseinandersetzungen mit den Unternehmen scheuen Sie. Das ist Ihnen
nicht so wichtig. Aber Sie tun der Wirtschaft damit überhaupt nichts Gutes. Sie leisten ihnen nämlich einen Bärendienst. Denn wer sich heute nicht um die qualifizierten Frauen kümmert, dem fehlen morgen und zum Teil
auch schon heute die Fachkräfte. Wir wissen, die Männerdominanz in den Führungsetagen ist ein unglaublich
großes Wirtschafts- und Innovationshemmnis.
({1})
- Zustimmung beim Abgeordneten Kauder. - Die neuen
Studien zeigen doch, dass Unternehmen mit Frauen in
Führungspositionen wirtschaftlich erfolgreicher sind,
mehr Gewinne machen als ausschließlich von Männern
geführte Unternehmen.
Natürlich hätten Sie schon längst vor der eigenen
Haustür der Bundesverwaltung kehren können. Denn
wie lange wollen wir denn noch das Tarifsystem für den
öffentlichen Dienst auf mögliche Diskriminierungspotenziale überprüfen? Das ist doch wirklich absurd. Wir
wissen doch alle, dass es diese gibt.
({2})
Im Rahmen der Lobreden wird auch das rot-grüne
Bundesgleichstellungsgesetz angesprochen. Allmählich
stellen wir fest, dass es die richtige Wirkung zeigt. Ich
finde es schon komisch, dass die Union nun meint, die
wachsende Zahl der Frauen in Führungspositionen in
Unternehmen sei ihr Verdienst. Natürlich können wir
nicht heute ein Gesetz beschließen, und morgen hat sich
der Anteil der Frauen verändert. Dass dies eine gewisse
Zeit braucht, dürfte doch auch Ihnen klar sein.
({3})
Der Bericht führt aus, dass die Quote im Bundesdienst gar nicht oft zum Einsatz kommen musste. Ich
frage mich, woran das liegt. Die Antwort ist eindeutig:
Die Frauen sind besser qualifiziert, wenn sie eingestellt
oder befördert werden. Darüber hinaus haben wir die
Beförderungen aufgrund des langjährigen Beschäftigungs- und Dienstalters, die es früher gab, abgeschafft.
({4})
Das führt dazu, dass hier stärker Frauen vorankommen.
Aber ich stelle folgende Frage an Sie: Warum müssen eigentlich Frauen immer besser sein, damit sie einen Job
bekommen? Warum reicht nicht die gleiche Qualifikation aus?
({5})
Ich glaube, es ist notwendig, dass wir endlich eine diskriminierungsfreie Leistungsbewertung einführen.
({6})
- Unsere Doppelspitze hat sich bewährt.
({7})
In den Gremien des Bundes werden wichtige Entscheidungen getroffen. Wir alle wissen aber, dass das
Bundesgremienbesetzungsgesetz nicht effektiv ist.
({8})
- Jetzt wird hier über Frau Künast diskutiert. Ich warte
einen Moment, Herr Präsident.
Es ist Ihnen überlassen, ob Sie sich auf diese Diskussion einlassen oder nicht.
({0})
Jedenfalls kann ich Ihnen für eine solche Neigung keine
zusätzliche Redezeit in Aussicht stellen.
({1})
Zurück zum Bundesgremienbesetzungsgesetz: Die
Bundesregierung hat bei der Vorstellung des CEDAWBerichts im Deutschen Institut für Menschenrechte offen
zugegeben, dass dieses Gesetz nicht wirkt. Unser Antrag
dazu liegt dem Bundestag heute zur Abstimmung vor.
Sie müssten ihm nur zustimmen. Schon vor einem Jahr
haben Sie uns im Ausschuss gesagt, dass Sie überlegen,
wie man das Gesetz verändern könne. Sie haben gesagt,
dass Sie das überprüfen wollen. Ihre Prüfung dauert sehr
lange. Passiert ist bisher nichts. Ich glaube, dass Sie bis
zum Ende der Legislaturperiode auf Zeit spielen wollen.
({0})
Reden Sie doch wenigstens so kurz vor dem Weltfrauentag Klartext. Die Union möchte eigentlich gar keine
Politik für Frauen machen.
({1})
Sie macht eine erfolgreiche Familienpolitik. Das reicht
ihr. Sie haben vielleicht Angst, dass Sie mit Frauenpolitik den einen oder anderen Wähler vergrätzen. Ich sage
Ihnen: Sie unterschätzen aber die Wählerinnen. Die wollen Folgendes nämlich nicht: schlechtere Löhne, nicht in
Spitzenpositionen kommen und in den Gremien des
Bundes nichts zu sagen haben.
({2})
Jetzt muss ich zu den Kolleginnen von der SPD
schauen. Sie schauen der CDU wie hypnotisiert beim
Nichtstun zu.
({3})
Für die Frauen werden keine Koalitionskämpfe ausgefochten. Das macht Sie, werte Kolleginnen, unglaubwürdig.
Die beiden anderen Oppositionsparteien bemühen
sich dagegen immerhin, zum Weltfrauentag etwas Neues
zu Papier zu bringen. Damit komme ich zur Kollegin Ina
Lenke: Die FDP kommt mit Konzepten aus den 70ern.
Frau Lenke, Sie wollen Teilzeitbeschäftigung - wohlgemerkt: ausdrücklich von Frauen - stärken. Frauen sollen,
wie Sie es so schön sagen, ihre Lebensverlaufsmodelle
frei wählen können. Ich habe Ihre Ausführungen dazu
bisher immer ganz anders verstanden.
({4})
- Nein, das habe ich nicht missverstanden. Ich habe Ihren Antrag extra mitgebracht. Hier steht: „Programme zu
entwickeln, damit die Teilzeitbeschäftigung von Frauen
ein stärkeres Gewicht erfährt“. Das scheint ein Politikwechsel zu sein.
({5})
Liebe Kollegin Lenke, die FDP hat die Unterhaltsreform mitbeschlossen und damit die Ehe als lebenslange
Versorgungsinstitution abgeschafft. Man muss den
Frauen aber auch sagen, was das bedeutet. Wenn Sie die
Frauen auf Teilzeitarbeit verweisen,
({6})
basiert Ihr Freiheitskonzept auf dem Rücken der Frauen.
({7})
Ich komme zum Schluss. Die Linke hat die „drei Ks“
neu definiert: Kinder, Küche, Kommunismus. Sieben
Jahre zu Hause aufs Kind aufpassen, Clara Zetkin würde
sich im Grabe umdrehen.
({8})
Ich frage Sie: Haben Sie diese Idee der Mutterkreuzritterin aus dem Saarland zu verdanken?
({9})
Verehrte Frau Kollegin, bitte.
Ich komme zum Schluss. - Wo wir gerade bei Christa
Müller sind - da besteht kein Grund mehr zum Lachen;
da muss man wirklich in sich gehen -: Christa Müller
verglich die von ihr sogenannte Fremdbetreuung mit
dem grausamen Ritual der Genitalverstümmelung. Ich
zitiere:
Bei der Genitalverstümmelung handelt es sich um
Körperverletzung, bei der Krippenbetreuung … um
seelische Verletzung - und die ist manchmal
schlimmer als Körperverletzung.
({0})
Das ist eine unglaubliche Entgleisung. Ich wünsche mir,
dass die Linksfraktion etwas dagegen sagt.
({1})
Nun müssen Sie aber wirklich zum Schluss kommen.
Das mache ich. - Ich sage jetzt nicht mehr, dass ich
die Forderung, den Internationalen Frauentag zu einem
gesetzlichen Feiertag zu machen, für absurd halte. Ich
verweise auf unsere Anträge zu den Themen, über die
wir heute diskutiert haben. Sie liegen dem Bundestag
vor.
Recht herzlichen Dank.
({0})
Das Wort hat nun die Kollegin Ute Granold, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Frau Schewe-Gerigk, Sie haben offenbar ein Problem
mit der wirklich guten Gleichstellungspolitik der Bundesregierung. Anders kann ich Ihre Ausführungen nicht
verstehen.
Wir diskutieren heute einen Bericht, der zum Teil den
Zeitraum der alten Bundesregierung, aber auch den der
neuen Bundesregierung betrifft. Das, was vorgelegt
wurde, zeugt davon, dass eine gute Politik gemacht
wurde. Eine ganze Menge guter Anträge der Koalition
werden hier diskutiert, vielleicht haben Sie sie noch gar
nicht gelesen.
Der Antrag, den Sie zum Beispiel diese Woche im
Rechtsausschuss vorgelegt haben, nach dem Stellen in
Gremien des Bundes, die dann, wenn sie nicht mit
Frauen besetzt werden können, leer bleiben sollen, verfolgt sicherlich nicht die richtige Politik. Natürlich wollen wir diese Stellen mit qualifizierten Frauen besetzen.
Es gibt diese qualifizierten Frauen. Ich darf daran erinnern, dass die Union als große Volkspartei eine Vorsitzende hat. Wir haben eine Bundeskanzlerin und darüber
hinaus eine hervorragende Familien- und Frauenministerin. Das ist der richtige Weg.
({0})
Die Symbolpolitik der Linken mit ihrer Forderung,
den 8. März zu einem gesetzlichen Feiertag zu erklären,
hilft den Frauen mit Sicherheit nicht. Lassen Sie mich einen Teilbereich in Fortsetzung dessen beleuchten, was
die Kollegin Fischbach gesagt hat. Es geht um Frauen,
die Gewalt erleben. Gewalt ist in Deutschland in allen
gesellschaftlichen Schichten und in allen sozialen Bereichen zu finden, und zwar mit zunehmender Tendenz. Es
geht aber nicht nur um die physische Gewalt, sondern
auch um die psychische Gewalt, die teilweise weitaus
schlimmer als die physische Gewalt ist. Dieses Thema
ist lange Zeit tabuisiert worden. Deshalb ist es gut, dass
wir es in diesem Hause heute ansprechen.
Die Gewalt im sozialen Nahbereich wurde angesprochen. Sie wird von Partnern, Kollegen, Vorgesetzen,
Mitschülern, guten Bekannten, Nachbarn und vielen anderen ausgeübt. Zu der häuslichen Gewalt ist zu sagen
- ich arbeite in diesem Bereich seit 25 Jahren -, dass in
jeder dritten Beziehung in allen sozialen Schichten häusliche Gewalt an der Tagesordnung ist. Mir liegt eine
Umfrage des Familienministeriums aus dem Jahre 2004
vor. Danach haben 40 Prozent der befragten Frauen
körperliche oder sexuelle Gewalt erfahren, 58 Prozent
sexuelle Belästigung, 42 Prozent psychische Gewalt.
2002 haben wir das Gewaltschutzgesetz verabschiedet. Das ist ein gutes Gesetz. Die Große Koalition hat
den Antrag eingebracht, das Gewaltschutzgesetz zu prüfen und gegebenenfalls weiterzuentwickeln, und zwar,
Frau Kollegin Schewe-Gerigk, schon im September
2007. Es ist der richtige Weg, zu überprüfen, ob das Gesetz greift oder nachgebessert werden muss.
Sehr stolz sind wir auf das Anti-Stalking-Gesetz, das
Gesetz zur Strafbarkeit beharrlicher Nachstellungen. Mit
diesem Thema hat man sich schon in der 15. Legislaturperiode - Frau Schewe-Gerigk, hören Sie gut zu - beschäftigt. Hier kam es zu keinem positiven Ergebnis,
weswegen es in der Schublade verschwand. Wir in der
Großen Koalition haben auf das richtige Pferd gesetzt.
Das von uns verabschiedete Gesetz ist seit knapp einem
Jahr in Kraft. Damit werden auch die schweren Fälle von
Stalking und auch die Deeskalationshaft erfasst, was auf
eine Forderung des Bundesrates, nämlich von Bayern
und Hessen, zurückgeht.
Zu diesem Gesetz gibt es nun die ersten Erhebungen
zum Beispiel aus Nordrhein-Westfalen. In den neun Monaten seit Inkrafttreten gibt es alleine dort 4 430 Fälle
von Stalking. Davon sind in der Regel Frauen betroffen.
Diese Fälle zeigen, dass dies ein wichtiges Gesetz ist.
({1})
Wir müssen aber noch darauf achten, dass in den Ländern die Staatsanwaltschaften und die Polizei entsprechend ausgestattet sind, damit das Gesetz vor Ort greift.
Das ist ein großer Erfolg der Großen Koalition, auf den
wir sehr stolz sind. Es ist der richtige Weg, zu evaluieren
und dann das, was gut ist, weiter zu verfolgen und das,
was schlecht ist - das haben wir getan -, nachzubessern.
Lassen Sie mich ein weiteres Thema ansprechen,
nämlich Menschenhandel und Zwangsprostitution.
Weltweit werden jährlich etwa 700 000 Frauen Opfer
von Menschenhandel. In Westeuropa sind das bis zu
200 000 Frauen. Genau dieses Delikt ist weltweit am lukrativsten. Es ist eben nicht der Waffen- oder der Drogenhandel, sondern der Menschenhandel. Menschenhandel ist in der Regel Frauenhandel. Sexsklaverei - so
muss man es leider nennen - ist eine der übelsten Formen der Menschenrechtsverletzung.
({2})
Diese Form von Menschenhandel gibt es auch hier in
Deutschland. Es gibt auch in Deutschland Zwangsprostituierte. Darum müssen wir uns kümmern, nicht nur in
Zeiten der Fußballweltmeisterschaft, sondern jeden Tag,
weil jeden Tag jede dieser Frauen unendliches Leid erfährt.
({3})
Wir haben hier - das wurde angesprochen - einiges
erreicht. Ich nenne in diesem Zusammenhang die Umsetzung der EU-Richtlinie zum Menschenhandel. Die
Strafvorschriften zum Menschenhandel wurden weltweit
vereinheitlicht. Wir haben die Regelungen für die Opfer
im Aufenthaltsrecht verbessert. Dazu gehören auch die
medizinische Versorgung und ein verbesserter Aufenthaltsstatus, wenn die Opfer als Zeugen im Prozess aussagen. Es gibt eine ganze Reihe von Kooperationen
zwischen Staatsanwaltschaft, Polizei und Beratungsorganisationen. Ich erwähne hier nur stellvertretend Solwodi mit Schwester Lea Ackermann, die eine hervorragende Arbeit für die Opfer von Menschenhandel leisten.
Ich muss sagen: ohne Nachfrage kein Angebot. Jeden
Tag gehen in Deutschland 1,2 Millionen Menschen zu
einer Prostituierten, von denen viele in der Zwangsprostitution sind. Wir fordern, dass auch diejenigen, die
Menschenhandelsopfer sexuell missbrauchen, bestraft
werden; die Einführung dieser sogenannten Freierbestrafung haben wir im Koalitionsvertrag vereinbart. Wir
möchten, dass die Gesetzesinitiative aus dem Bundesrat
nun endlich im Bundestag verhandelt wird und diese
Menschen einer Strafe zugeführt werden.
({4})
Meine Redezeit ist leider zu Ende. Ich möchte aber
noch etwas zum Thema Migrantinnen und Migranten
sagen. Gerade die Frauen leisten einen wertvollen Beitrag zur Integration, gerade die Frauen. Aber auch hier
gibt es Gewalt, Genitalverstümmelung, Zwangsehen
usw. Das ist ein Thema, dem wir uns - auch gerade als
Rechtspolitiker - annehmen. Das verfolgen wir weiter.
Leider Gottes habe ich keine Redezeit mehr. Es gäbe
noch vieles zu sagen. Wir tun sehr viel. Ich denke, die
Opposition - die Grünen - ist ob der guten Gleichstellungs- und Frauenpolitik der Bundesregierung irritiert.
Vielen Dank.
({5})
Nun hat die Kollegin Sibylle Laurischk für die FDPFraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir reden
heute zum morgigen Weltfrauentag. Ich habe nicht den
Eindruck, dass es darum geht, neue Feiertage einzuführen. Wir haben Erfahrungen mit dem Muttertag und
Ähnlichem.
({0})
Ich habe den Eindruck, dass bei der Linken neuerdings
Gattinnen eine Rolle spielen, die nach meinem Dafürhalten der Frage der Gleichstellung der Frauen in keiner
Weise gerecht werden.
({1})
- Herr Präsident!
Die kleine Irritation haben wir schon gelöst. Lassen
Sie sich nicht stören.
Wir sollten aber auch auf dem rechten Auge nicht
blind sein. Wie heute berichtet wird, ist eine rechtsradikale Partei im Schweriner Landtag der Auffassung, dass
alle Gleichstellungsvorschriften abgeschafft werden
sollten. Ich halte das für verfassungswidrig.
({0})
Das ist eine klare Positionierung gegen das Grundgesetz;
das können wir nicht dulden.
({1})
In Art. 3 des Grundgesetzes heißt es unter anderem:
Der Staat … wirkt auf die Beseitigung bestehender
Nachteile hin.
Zu den Nachteilen - das ist von meinen Vorrednerinnen
schon angesprochen worden - gehört nach wie vor - ich
bedauere das sehr; es ist leider so - die Gewalt gegen
Frauen. Wir haben ein Gewaltschutzgesetz, das Frauen
nicht ausreichend schützt. Oftmals kommt ihnen und ihren Kindern Schutz nur zu, wenn sie sich in Frauenhäusern aufhalten können, in denen sie Schutz vor Gewalt
finden.
Jede siebte deutsche Frau ist Opfer von Gewalt in ihrer Beziehung, unter den Migrantinnen ist der Anteil der
von Gewalt betroffenen Frauen noch höher. Pro Jahr suchen rund 40 000 Frauen in Deutschland in Frauenhäusern Zuflucht vor der Gewalt ihrer Männer. Der Aktionsplan II der Bundesregierung zur Bekämpfung von
Gewalt gegen Frauen sieht zwar ein Bündel von Maßnahmen gegen häusliche Gewalt vor, aber eine verlässliche Finanzierung von Schutzräumen fehlt. Die Regelung
für die Finanzierung der bundesweit rund 400 Frauenhäuser variiert je nach Bundesland und Kommunen.
Während in Schleswig-Holstein die Finanzierung aufgrund eines Landesgesetzes erfolgt, erfolgt sie in Thüringen aufgrund eines Landesgesetzes in Verbindung mit
einer Rechtsverordnung. In anderen Bundesländern erfolgt die Finanzierung auf rein freiwilliger Basis, oftmals auch unter Hinzuziehung kommunaler Mittel.
Darüber hinaus sind Eigenmittel und Spenden für die
Frauenhäuser unverzichtbar. Eine verlässliche Zuwendung an die Frauenhäuser, die ihnen Planungssicherheit
geben würde, gibt es bislang nicht. Je nach Kostenart
sind unterschiedliche Finanzierungsmöglichkeiten denkbar. Kontrovers diskutiert wurde in der Vergangenheit
über die Schaffung einer bundeseinheitlichen Regelung,
sei es mithilfe eines Bundesgesetzes, sei es mithilfe einer
Vereinbarung mit den Bundesländern.
Ich fordere deshalb die Bundesfrauenministerin, Frau
von der Leyen, auf, diesen Mangel zu beseitigen und
endlich auf eine verlässliche Finanzierung der Frauenund Kinderschutzhäuser hinzuwirken und dies tatsächlich erreichen zu wollen.
({2})
Zu einer Kurzintervention erhält die Kollegin
Dr. Sitte das Wort.
Frau Kollegin, Sie haben in einem Nebensatz, apostrophiert mit „Gattinnen“, Positionen von Frau Müller
angesprochen. Ich will ganz ausdrücklich sagen, dass es
in der Gesellschaft wie auch in Parteien natürlich Auseinandersetzungen um emanzipatorische Konzepte gibt.
Das ist auch in unserer Partei der Fall.
Wir haben in unserer Partei
({0})
- lassen Sie mich doch einmal ausreden - eine ganz
klare Beschlusslage. Diese Beschlusslage wird von Frau
Müller nicht vertreten. Diese Beschlusslage wird auch
von unserer Fraktion geteilt. Mir ist wichtig, das hier öffentlich klarzustellen.
Danke schön.
({1})
Nach meinem Eindruck bedarf es jetzt eigentlich keiner Reaktion, weil die Fraktion das Bedürfnis einer Klarstellung hatte und ich dies weniger als eine Stellungnahme zu einer der vorgetragenen Reden empfinde.
Wir fahren in der Debatte fort. Das Wort erhält die
Kollegin Angelika Graf für die SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Alle Menschen sind frei und gleich an Rechten und
Würde geboren.
So steht es in Art. 1 der Allgemeinen Erklärung der
Menschenrechte, welche in diesem Jahr 60 Jahre alt
wird. Seit fast 29 Jahren gibt es zusätzlich das Übereinkommen, über das wir uns heute unterhalten: das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau; seine Abkürzung lautet CEDAW.
Als Diskriminierung wird in dieser Konvention in
Art. 1 definiert:
jede mit dem Geschlecht begründete Unterscheidung, Ausschließung oder Beschränkung, die zur
Folge oder zum Ziel hat, daß die auf die Gleichberechtigung von Mann und Frau gegründete Anerkennung, Inanspruchnahme oder Ausübung der
Menschenrechte und Grundfreiheiten durch die
Frau - ungeachtet ihres Familienstands - im politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen,
staatsbürgerlichen oder jedem sonstigen Bereich
beeinträchtigt oder vereitelt wird.
Das ist ein schwieriger Satz, aber er ist durchaus lesenswert.
Die Vertragsstaaten verpflichten sich, Diskriminierungen zu beseitigen. Sie müssen alle vier Jahre einen
Bericht über ihre Gleichstellungspolitik vorlegen, welcher durch sogenannte Schattenberichte von Nichtregierungsorganisationen ergänzt und kommentiert wird. Dabei herrscht eine große Themenvielfalt; das hat Frau
Tackmann schon erwähnt.
Auf der Grundlage von CEDAW hat die Weltfrauenkonferenz in Peking im Jahre 1995 - insbesondere im
Rahmen von „Peking plus zehn“ - zwölf Problem- und
Arbeitsbereiche herausgearbeitet: Frauen und Armut,
Angelika Graf ({0})
Bildung und Ausbildung von Frauen, Frauen und Gesundheit, Gewalt gegen Frauen, Frauen und bewaffnete
Konflikte, die Frau in der Wirtschaft, Frauen in Machtund Entscheidungspositionen, institutionelle Mechanismen zur Förderung der Frau - hierzu zählen zum Beispiel nationale Aktionspläne -, die Menschenrechte der
Frauen, übrigens mit einem besonderen Blick auf das Zivil-, Straf- und Familienrecht, Frauen und Medien,
Frauen und Umwelt und die Situation von sehr jungen
Frauen, mit speziellem Blickwinkel auf schwangere
Mädchen und jugendliche Mütter, aber auch auf die vielfältigen Verletzungen, die kleinen Mädchen zugefügt
werden, von der Genitalverstümmelung bis zur Abtreibung weiblicher Föten in einer Reihe von Ländern. All
diese Punkte werden im CEDAW-Bericht erwähnt.
Die Maßnahmen, die die Bundesregierung und ihre
rot-grüne Vorgängerregierung unternommen haben, um
die Diskriminierung von Frauen zu unterbinden, sind
vielfältig. Ausgangspunkt ist das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz. Bei diesem Thema hatte die Regierungskoalition mit einigen „Geburtswehen“ zu kämpfen.
Mittlerweile sind sie allerdings überstanden. Jetzt sind
wir in der Lage, mit diesem Gesetz Diskriminierungen
zu verhindern.
Nun möchte ich einige Felder ansprechen, in welchen
durch unser Handeln insbesondere unter dem Aspekt der
Menschenrechte Grundlagen - ich betone: Grundlagen zur Verbesserung der Situation geschaffen wurden. Dabei geht es insbesondere um den Frauenhandel. Nicht
zuletzt wegen der guten Kooperationsstrukturen in
Deutschland durch die Bund-Länder-Arbeitsgruppe
Frauenhandel und den Bundesweiten Koordinierungskreis gegen Frauenhandel und Gewalt an Frauen im
Migrationsprozess e. V. - seine Abkürzung ist KOK - ist
es uns gelungen, in der Diskussion über Frauenhandel
und Zwangsprostitution im Zusammenhang mit der Fußballweltmeisterschaft international zu bestehen.
Das verdanken wir auch der sehr erfolgreichen Kampagne „Abpfiff“ des Deutschen Frauenrates
({1})
und dem Hotlinetelefon von Solwodi. Beide Kampagnen
richten sich an die Freier und waren auch dank der nach
einigen Gesprächen erzielten Einsicht der FIFA und der
Beachtung durch die Medien sehr gut geeignet, für das
schwierige Thema eine sachgerechte und nicht voyeuristische Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit zu erreichen.
Dazu kommt, dass wir bereits im Jahre 2005, also
noch unter Rot-Grün, die strafgesetzlichen Regelungen
im Zusammenhang mit dem Menschenhandel aktualisiert und auf europäischen Standard gebracht haben.
({2})
Bereits seit 2004 können Opfer von Menschenhandel
dank des Opferschutzreformgesetzes auch als Nebenklägerinnen auftreten. Bezüglich der Freierstrafbarkeit,
Frau Granold, steht im Koalitionsvertrag ein Prüfauftrag.
Wir werden uns also mit dieser Sache beschäftigen; wir
werden es prüfen.
Ebenfalls aus dem Jahre 2005 datiert die Anerkennung der geschlechtsspezifischen Verfolgung als Asylgrund. Das ist eine wichtige Grundlage für Frauen, die
sich und ihre Töchter zum Beispiel vor einer Genitalverstümmelung bewahren wollen. In der Entwicklungszusammenarbeit gibt es auf der Grundlage der UN-Resolution 1325 ein weites Arbeitsfeld. Dazu gehört, in Bezug
auf die Bildungssituation von Frauen in Entwicklungsländern Rechtssicherheit durch entsprechende Projekte
herzustellen, die finanzielle und wirtschaftliche Situation von Frauen zu verbessern und damit eine Grundlage
für nachhaltige Entwicklung in schwierigen Regionen
vieler Länder zu schaffen.
({3})
Nicht zu unterschätzen ist die Relevanz, die CEDAW
für die Lebenssituation von Migrantinnen in Deutschland hat, nicht nur was die Bildungssituation und die Berufstätigkeit von Migrantinnen in unserem Land betrifft.
Ich will beileibe nicht den Eindruck erwecken, als bliebe
da nicht noch viel zu tun. Nicht nur im Zusammenhang
mit der Bekämpfung der Zwangsverheiratung oder anderer Ehrverbrechen muss man ganz nüchtern feststellen,
dass das statistische und wissenschaftliche Material, das
uns vorliegt, leider relativ dünn ist. Das heißt, wir müssen daran arbeiten, mehr Forschungsmittel in diesen Bereichen einzusetzen, um verlässlicheres Datenmaterial
zu bekommen.
Ich nehme die Forderung aus dem FDP-Antrag, die
Forschung auf diesem Gebiet noch weiter zu intensivieren, gerne auf. Nur wer die Gründe für solche Entwicklungen kennt, kann auch wirksam dagegen angehen. Die
Vermittlung von Sprachkompetenz ist sicher nur eines
der wichtigsten Instrumente.
Gespannt bin ich auf den Schattenbericht - ich habe
es schon angesprochen - der Nichtregierungsorganisationen, an dem derzeit gearbeitet wird. Er wird uns, weil
sich da die Praktiker und Praktikerinnen vor Ort zu Wort
melden, speziell im Bereich der Menschenrechtssituation von Migrantinnen sicherlich noch wertvolle Anregungen liefern und den Finger in manche Wunde legen.
Das ist wichtig und notwendig, um weitere Fortschritte
machen zu können.
Ohne die Begleitung durch die Medien macht das alles aber wenig Sinn. Deswegen freue ich mich sehr, dass
der Journalistinnenbund, welcher seit 2002 einen Preis
für junge Nachwuchsjournalistinnen auslobt, in den letzten Jahren viele Preisträgerinnen ausgezeichnet hat, die
ein entsprechendes Thema bearbeitet haben. Ich möchte
unter ihnen beispielhaft Hilal Sezgin und Claudia
Hoffmann herausheben. Beide haben sich mit der Gesellschaft beschäftigt, in der unsere Migrantinnen leben
bzw. aus der sie kommen. Frau Hoffmann schreibt für
FACTS über die Bedingungen, unter denen iranische
Frauen Sport treiben. Über Leistungsbereitschaft, Ehrgeiz und Zähigkeit wird da berichtet. Hilal Sezgin hat für
das Feuilleton der Frankfurter Rundschau über die Situation einer jungen Türkin berichtet. Unaufgeregt, nicht
Angelika Graf ({4})
anklagend und trotzdem erschütternd oder vielleicht deshalb erschütternd schreibt sie über patriarchalische Familienverhältnisse, Zwangsverheiratung, Gewalt, Prostitution und das Ausländerrecht. Aber sie lässt ihrer
Protagonistin ihre Würde, heißt es in der Laudatio.
CEDAW schafft die Möglichkeit, jeden Tag daran zu arbeiten, dass Frauen ihre Würde behalten, nicht nur am
Internationalen Frauentag. Es ist nämlich kein Weltfrauentag, sondern ein internationaler Frauentag, den wir
morgen begehen. Ferner ermöglicht es uns - das zeigt
uns der Bericht -, festzustellen, wie weit wir auf diesem
Weg gekommen sind. Das ist also eine Arbeit, mit der
wir - ich hoffe, alle miteinander - weitermachen müssen.
({5})
Das Wort erhält nun die Bundesministerin Ursula von
der Leyen.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir diskutieren heute den sechsten CEDAW-Bericht. Seit der Herausgabe des fünften CEDAW-Berichtes haben wir in
der Gleichstellungspolitik Erhebliches auf den Weg gebracht. Dies zeigte sich schon sehr gut in dieser Diskussion, und ich danke Ihnen, Frau Graf, dass Sie die große
Bandbreite der unterschiedlichen Themen des CEDAWBerichtes angesprochen haben. Wir haben hier schon
viel über die Themen Prostitution, Gewalt gegen Frauen,
Vereinbarkeit von Beruf und Familie sowie Menschenrechte gehört. Diese große Bandbreite macht schlussendlich deutlich, was auf dieser Welt selbstverständlich sein
sollte: dass Frauen ohne Gewalt leben und in Würde und
mit Respekt ihre Verantwortung wahrnehmen können.
Auch sollte es selbstverständlich sein, dass sowohl in
den Berufen als auch bei der Betreuung anderer Menschen Männer wie Frauen gleichermaßen die Päckchen
tragen. Das ist die eigentliche Aussage des CEDAW-Berichtes.
({0})
Aber natürlich sehen wir an diesem CEDAW-Bericht
auch, dass es noch unglaublich viel zu tun gibt. Das gesamte Thema Gewalt gegen Frauen ist eben schon dargestellt worden. Die geringe Anzahl von Frauen in
Führungspositionen spricht eine laute Sprache. Persistierende Entgeltungleichheiten und die geringere soziale
Absicherung von Frauen hängen sehr wohl mit folgendem kritischen Punkt zusammen: Wenn wir uns das
Thema Arbeitsbelastung im Alltag anschauen und uns
mit der Frage beschäftigen, wer welchen Teil der Verantwortung trägt, dann stellen wir fest, dass die Arbeitsbelastung von Frauen im Beruf und in der Familie unverhältnismäßig hoch ist. Genau darauf geht Art. 11 des
Berichts sehr deutlich ein.
Zwei Zahlen zeigen, dass in Deutschland im europäischen Vergleich die gläserne Decke noch allzu dick ist.
Die Erwerbsquote von Frauen ohne Kinder in
Deutschland ist im europäischen Vergleich gar nicht so
schlecht; hier liegen wir im Mittelfeld. Bei der Erwerbsquote von Frauen mit Kindern sausen wir auf Platz 19
hinunter. Das heißt, wir machen es im Vergleich zu anderen Ländern, wo auch nicht alles Gold ist, Frauen in unserem Land besonders schwer, wenn sie Kinder haben.
Eine andere Zahl macht dies noch deutlicher, wenn wir
uns nämlich im europäischen Vergleich die Zahl der
Frauen in Führungspositionen anschauen. Auch hier ist
die Quote in vielen Ländern - die skandinavischen Länder vielleicht einmal ausgenommen - beschämend niedrig, wenn man es am Anteil der weiblichen Beschäftigten in den Betrieben misst und daran denkt, wie
selbstverständlich eine gleiche Qualifikation von Frauen
ist. Beim Anteil von Frauen mit Kindern unter den
Frauen in Führungspositionen ist Deutschland Schlusslicht. Dies, meine Damen und Herren, ist ein Zustand,
der so nicht bleiben kann und darf.
({1})
Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Beck?
Ja.
Frau Ministerin, Sie haben eben zu Recht gesagt, gerade in Deutschland werde es Frauen mit Kindern besonders schwer gemacht. Ich frage Sie daher - diese Frage
richtet sich mittelbar auch an Ihre Kollegin Wissenschafts- und Bildungsministerin, Frau Schavan -, weshalb sich Ihr Haus so wenig dafür engagiert, jungen
Frauen zu helfen, die ihr Medizinstudium nicht beenden
können, weil ihnen unendliche bürokratische Hürden in
den Weg gelegt werden. Beispielsweise wird ihnen gesagt, ein Wechsel zu einer anderen Universität sei nicht
möglich, weil die Regelstudienzeit um zwei Semester
überschritten worden sei. Lassen Sie mich kurz den
Sachverhalt schildern: Es geht um ein junges Ehepaar,
beide Mediziner, mit zwei kleinen Kindern; der Mann
bekommt eine Stelle in einem Kinderklinikum in meinem Wahlkreis in Bremen. Die junge Frau will ihr PJ
auch in Bremen machen. Die Universität Göttingen weigert sich aber, eine Voraussetzung zu schaffen, um den
Wechsel nach Bremen zu ermöglichen. In der Konsequenz bedeutet das, dass diese junge Frau ihr Studium
nicht abschließen kann. Sie ist hochbegabt und zudem
Stipendiatin der Studienstiftung des deutschen Volkes.
Dies ist ein ganz klassischer Fall. Ein junges Paar tut
das, was die Bundesregierung und insbesondere Ihr
Haus nahelegen, nämlich Kinder in die Welt zu setzen
Marieluise Beck ({0})
und sich trotzdem zu qualifizieren. Dann ist es aber wegen der bestehenden bürokratischen Hürden nicht möglich, ein Medizinstudium abzuschließen. Ich habe die
beiden zuständigen Ministerien mit diesem Fall betraut
und sie dringlich gebeten, sich für diesen Fall einzusetzen. Außer sehr inhaltsleeren Antwortschreiben ist leider
nichts passiert. Ich möchte Sie bitten, hier noch einmal
Stellung zu nehmen, wie Sie mit solchen Fragen umgehen wollen. Das ist die Praxis und viel wichtiger als das,
was man in Interviews sagt.
({1})
Das ist die Praxis; das ist die Lebenswirklichkeit. Ich
glaube, jeder und jede von uns hat viele Fälle unterschiedlichster Art auf dem Tisch. Dieser Fall ist aber,
wenn ich es richtig verstanden habe, auf hochschulspezifische Eigenheiten zurückzuführen und betrifft die Frage
eines Studienplatzwechsels. Das ist, soweit ich das
noch dunkel aus dem eigenen Medizinstudium erinnere,
in der Tat eine wirklich schwierige Sache. Man muss
nämlich jemanden finden, der auch wechseln will. Denn
man hat ja einmal einen Studienplatz bekommen, der mit
einem Numerus clausus belegt war. Das heißt, dass man
nicht ohne Weiteres einen bestimmten Studienplatz bekommen kann.
Ich nehme aber gerne Ihre Anregungen auf. Wir werden uns darum kümmern und uns fragen, ob das ein spezifisches Problem einer jungen Frau mit Kind ist und ob
hier Ungerechtigkeit besteht oder ob das ein Problem ist,
das alle Medizinstudenten in Deutschland haben, wenn
sie zum Beispiel von Bremen oder Berlin nach Göttingen wechseln wollen. Das wäre dann eine universitätsspezifische Frage. Darüber können wir gerne diskutieren.
Dies ist einer der vielen Einzelfälle. In der Summe
zeigt sich immer wieder, dass es in Deutschland für
Frauen mit Kindern im Hinblick auf Beruf und insbesondere Karriere messbar Hindernisse gibt. Wir alle wissen, dass wir das mit zwei Dingen bezahlen, nämlich mit
dem ganz hohen Preis der Kinderlosigkeit oder aber
- das wiegt genauso schwer - mit dem gewaltigen Verlust an Qualifikation und an Erfahrung. Natürlich resultieren aus diesen Strukturen Dinge wie Lohnungleichheit, die in unserer Gesellschaft zu dem starren Bild
führen, dass weibliche Arbeit weniger wert sei.
Was diese Diskussion hier auch zeigt - dazu ist der
CEDAW-Bericht gut; denn er erstreckt sich über zwei
Legislaturperioden, also auch noch in die jetzige -: Wir
sind stark, wenn wir, insbesondere wir Frauen, kraftvoll
zusammenstehen und dann auch Dinge durchsetzen. Wir
haben insbesondere für junge Eltern in beispiellos kurzer Zeit viel getan: die Einführung des Elterngeldes im
ersten Lebensjahr des Kindes und den Ausbau der Betreuung von Kindern unter drei Jahren. Ich bin der festen
Überzeugung, dass gerade die Einführung der Partnermonate bzw. die Beteiligung der Väter an Erziehungszeiten, die sich im Vergleich zu der früheren extrem
niedrigen Quote, die über Jahre gleichgeblieben ist, vervierfacht hat - da bewegt sich richtig etwas -, zigmal
mehr bringt, als zum Beispiel ausschließlich über die
Unübersetzbarkeit des Begriffes „Gender-Mainstreaming“ zu debattieren und zu streiten. Ich sage ganz klar:
Diskutieren ist wichtig; aber wir diskutieren nicht nur,
wir handeln auch. Das kann man unter dem Strich auch
sehen.
({0})
Nachdem wir viel für junge Eltern getan haben, dürfen wir eine bestimmte Gruppe von Frauen ebenfalls
nicht aus dem Auge verlieren. Sie sind vielleicht nicht so
spektakulär, weil sie sich nicht so häufig artikulieren.
Das sind diejenigen Frauen, die über viele Jahre aus dem
Beruf ausgestiegen sind, auf die Berufsausübung verzichten wollten oder verzichten mussten, jetzt Anfang/
Mitte 40 sind, noch rund 27 Erwerbsjahre vor sich hätten, wenn sie könnten, und sich berechtigt fragen: Welche Perspektiven haben wir? Ein Großteil dieser Frauen
will wieder erwerbstätig sein. Wir haben jetzt Sinusstudien vorliegen, die zeigen, dass das für sie ein Hindernislauf über viele Jahre ist. Diese Frauen zweifeln oft an
den eigenen Fähigkeiten - die unbezweifelbar vorhanden sind. Ihnen fehlt oft die Unterstützung ihres Partners, der meint, der Wiedereinstieg seiner Frau in den
Beruf hätte mit ihm nichts zu tun. Vor allem fehlen ihnen
nach den vielen Jahren der Auszeit die Anknüpfungspunkte, die Kontakte. Auch hat sich die Welt im Beruf
weitergedreht. Mit Ihrer Unterstützung möchte ich in
diesem Jahr einen Schwerpunkt meiner Arbeit auf die
Förderung dieser Frauen setzen. Wir möchten ein Programm aufstellen, das auf drei Säulen fußt:
Die erste Säule ist die Information. Diese Frauen haben nicht typischerweise mit der Bundesagentur für Arbeit zu tun, sie verfügen nicht mehr über Netzwerke, sie
befinden sich in einer Art luftleeren Raum und müssen
sich orientieren. Dabei möchten wir ihnen mit einem Internetportal helfen, das zwischen den Bundesländern
und der Bundesagentur abgestimmt ist. Es gibt zwar eine
Vielzahl von Angeboten; diese sind aber in einem
Dschungel verteilt. Wir brauchen eine Anlaufstelle, wo
man sich je nach der spezifischen Situation informieren
kann. Und diese ist ganz verschieden: Welche Berufsausbildung ist vorhanden? Wie lange war die Auszeit:
fünf Jahre, zehn Jahre, fünfzehn Jahre? Wie alt sind die
Kinder? Wie lautet der Berufswunsch? Wo liegt der
Wohnort? Ist jemand mobil, hat er ein Auto? All diese
Dinge spielen eine große Rolle.
Als zweite Säule werden wir ein ESF-Programm
auflegen, für das wir 14 Millionen Euro zur Verfügung
haben. Wir wollen damit gemeinsam mit den Unternehmen erfolgreiche Wege des Wiedereinstiegs aufzeigen.
({1})
In diesem Zusammenhang liegen mir die Teilzeitmodelle besonders am Herzen. Teilzeit in Deutschland
heißt 50 Prozent, ist typischerweise weiblich und heißt
typischerweise keine Karriere - meine Güte, wie veraltet
dieses Bild ist!
({2})
Schauen wir uns doch einmal in der Welt um! Kluge
Teilzeit heißt alles, was nicht Vollzeit ist. Zwischen
50 und 100 Prozent liegen immerhin 50 Prozent, die
man flexibel regeln kann. Kluge Teilzeit heißt Karriere
in Teilzeit. Schauen wir nach Holland! Dort arbeiten fast
so viele Männer wie Frauen Teilzeit. Unser Ansinnen
muss es sein, die Teilzeit aufzuwerten, flexible Teilzeit
zu ermöglichen, für die Männer wie für die Frauen, genau wie wir es beim Elterngeld mit den Partnermonaten
eingeführt haben. Wichtig ist mir, dass wir mit der Wirtschaft die Weiterqualifikation befördern, wenn jemand
eine Auszeit von vielen Jahren hatte. Wichtig sind auch
flexible Arbeitsformen. Dazu laufen Gespräche, nicht
nur mit den Wirtschaftsverbänden, sondern auch mit den
Frauenverbänden und mit den Weiterbildungs- und Beratungseinrichtungen. Dafür stehen, wie gesagt, 14 Millionen Euro zur Verfügung.
Die dritte Säule ist die schwierigste, aber zugleich die
wichtigste Säule: Es muss unten ankommen, es muss vor
Ort ankommen. Wir können auf Bundesebene die
schönsten Programme entwerfen - sie müssen vor Ort
verankert sein. Wir möchten dabei die guten Instrumente, die etabliert sind, nutzen. Das beginnt mit
75 Millionen Euro über drei Jahre für das Bundesprogramm „Lokales Kapital für soziale Zwecke“,
({3})
ein Mikroförderprogramm, das spezifisch auf den Wiedereinstieg von Frauen in den Beruf ausgerichtet werden
soll. Das setzt sich fort mit den „Infobörsen für Frauen“,
die jetzt an den Start gegangen sind und mit denen viele
Kommunen Frauen eine Antwort auf ihre spezifischen
Fragen geben. Das setzt sich fort in den „Lokalen Bündnissen für Familie“, von denen es inzwischen knapp
500 gibt. Auch die Mehrgenerationenhäuser, von denen
es inzwischen ebenfalls 500 gibt, gehören dazu.
Frau Ministerin - Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für
Familie, Senioren, Frauen und Jugend:
Sie sehen, meine Damen und Herren: Dies soll ein
Schwerpunkt in diesem Jahr sein. Es gibt enormen Betätigungsbedarf. Es ist daher nicht einfach, hier etwas aus
dem Boden zu stampfen. Die Frauen brauchen Wiedereinstiegsmöglichkeiten, und die gibt es nicht von der
Stange. Deshalb wollen wir - das sage ich mit Blick auf
den CEDAW-Bericht - ganz konkret einen Beitrag zur
Umsetzung des Art. 11 der Frauenrechtskonvention leisten.
({0})
Frau Ministerin, darf ich Sie - -?
Letzter Satz. - Gute Arbeit, gleicher Lohn und Zeit
für die Nächsten, das ist ein Recht der Frauen wie der
Männer.
Danke.
({0})
Das Wort zu einer Kurzintervention erhält die Kollegin Reinke.
Frau Ministerin, ich finde es gut, dass Sie Wert darauf
legen, dass Frauen nach der Kindererziehung in den Beruf zurückkehren können.
Was gedenken Sie für Frauen zu tun, die derzeit keine
Leistungen, also kein ALG II, beziehen, weil das Einkommen des Partners eventuell um 1 oder 2 Euro zu
hoch ist? Dass dies nicht nur Frauen, sondern auch Männer betrifft, macht es nicht besser. Wäre es nicht wichtig,
einen Ansatz zu entwickeln, wie es in dieser Frage weitergehen soll?
({0})
Nun hat die Kollegin Elke Ferner für die SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
kann mich noch an Debatten zum Internationalen Frauentag erinnern, in denen wir noch nicht einmal in der
Analyse des Istzustands übereingestimmt haben. Insofern sind wir in der Tat schon einige Schritte weitergekommen.
({0})
Allerdings sind die Antworten auf die Frage, was wir zugunsten einer wirklichen Gleichstellung von Männer und
Frauen ändern müssen, immer noch sehr unterschiedlich.
Die Situation in Deutschland ist im europäischen wie
im internationalen Vergleich mehr als beschämend.
Bei uns ist das Wahlverhalten in Bezug auf Beruf und
Studienfach deutlich eingeschränkter als in anderen Ländern. Die typischen Frauenberufe sind nicht nur schlecht
bezahlt, sondern bieten vielfach auch keine Aufstiegsmöglichkeiten. Frauen verdienen bei gleicher oder
gleichwertiger Arbeit - ich gehe dabei von gleichen Arbeitszeiten aus; es geht nicht um das Verhältnis zwischen
Teilzeit und Vollzeit - über 20 Prozent weniger als Männer. Der Frauenanteil in den Führungspositionen und
Aufsichtsgremien der Wirtschaft, aber leider auch in
Forschung und Lehre und im öffentlichen Dienst ist
ebenfalls viel zu niedrig. Ich glaube, das ist einem hochentwickelten Land wie Deutschland nicht würdig.
Diejenigen, die glauben, dass sich dies von alleine ändern wird, sind meiner Meinung nach nicht nur naiv und
blauäugig, sondern sie verweigern auch einer hervorragend ausgebildeten Frauengeneration die Chance auf
gleiche Teilhabe in allen gesellschaftlichen Bereichen.
Dabei geht es um mehr als die Frage, Frau Ministerin, ob
Frauen nach der Erziehungsphase wieder in den Beruf
einsteigen können. Es geht auch darum, dass Männer
und Frauen beides nicht nur nacheinander, sondern auch
gleichzeitig machen können, wenn sie dies wollen.
({1})
So wichtig und richtig ich Hilfen und Unterstützung
für Berufsrückkehrerinnen finde, ist mir das im
21. Jahrhundert zu wenig ambitioniert.
({2})
Was tun Sie? Welche Vorschläge haben Sie, wenn es darum geht, diesen gut ausgebildeten jungen Frauen endlich auch in der Privatwirtschaft die gleichen Aufstiegschancen zu bieten?
Wir haben im Koalitionsvertrag gemeinsam vereinbart, die zwischen der Bundesregierung und den Unternehmen getroffene freiwillige Vereinbarung zu
überprüfen, wenn der Bericht zur Gleichstellung von
Männern und Frauen vorgelegt wird. Ich sage klipp und
klar: Die freiwillige Vereinbarung ist gescheitert.
({3})
Wer mich länger kennt, weiß, dass ich auch schon zu unseren Regierungszeiten gegen diese Vereinbarung war,
weil ich meine, dass sie nichts bringt. Das hat sich inzwischen bestätigt. Denn wenn es in dem bisherigen
Tempo weitergeht, dann warten noch unsere Urenkelinnen darauf, dass Frauen paritätisch in Führungspositionen oder gar Aufsichtsgremien der deutschen Wirtschaft
vertreten sind. In 50 Jahren wird zum Internationalen
Frauentag wahrscheinlich noch fast das Gleiche beklagt
wie heute.
Ich finde es toll, dass sich auch die FDP endlich für
Geschlechtergerechtigkeit einsetzt, Frau Lenke.
({4})
Aber warum beschränken Sie Ihre Forderungen zur Geschlechtergerechtigkeit im Erwerbsleben auf den öffentlichen Dienst? Soll sie denn in der Privatwirtschaft nicht
Platz greifen?
({5})
In Ihrem Antrag gehen Sie darauf nicht ein.
({6})
Auch in der Frage, wie wir den Lohnunterschied
- das „Gender Pay Gap“, wie es auf neudeutsch so schön
heißt - ausgleichen können, muss etwas getan werden.
Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz ist zwar ein
Mosaikstein, aber es reicht noch lange nicht aus, dass die
einzelne Frau oder hin und wieder auch ein einzelner
Mann selber vor Gericht ziehen muss, wenn sie oder er
sich durch unterschiedliche Lohnzahlung diskriminiert
fühlt. Im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz fehlt
ein Verbandsklagerecht genauso wie eine echte Beweislastumkehr.
Was in der jüngsten Ausgabe der Zeit zu lesen ist,
kann einen traurig stimmen. Selbst in höchstqualifizierten Berufen sind Frauen noch meilenweit von den Einkommen der Männer entfernt. Es ist richtig, wenn Sie,
Frau Lenke, sagen, dass auch bei der Tarifpolitik etwas
passieren muss. Aber die Tarifpolitik wird von zwei
Partnern gemacht - nicht nur von den Gewerkschaften,
sondern auch von der Arbeitgeberseite.
({7})
In der Zeit konnte man lesen, dass ein Bäckereigehilfe
nach kurzer Einarbeitungszeit ein um 300 Euro höheres
Einkommen hat als eine Bäckereifachangestellte nach
dreijähriger Ausbildungszeit.
({8})
Da muss man sich fragen, ob in dieser Gesellschaft etwas nicht stimmt.
({9})
Arbeit, die von Frauen ausgeübt wird, ist nicht deshalb weniger wert, weil sie von Frauen ausgeübt wird.
Frau Raiser vom Deutschen Frauenrat hat einmal die
Frage gestellt, warum ein Tierpfleger eigentlich mehr
verdient als eine Kindergärtnerin. Das ist nicht nachvollziehbar. Deshalb brauchen wir eine neue Bewertung von
Arbeit, insbesondere der von Frauen ausgeführten Arbeit. Denn dies ist in der Regel Arbeit, bei der es um den
Dienst von Menschen am Menschen - ob in der Kindererziehung oder der Kranken- und Altenpflege - geht.
Aber auch Frauen mit einer hochwertigen akademischen Ausbildung verdienen teilweise über 1 000 Euro
weniger als Männer, obwohl sie das gleiche Alter und
den gleichen Familienstand haben. Das Schlimme dabei
ist, dass der Lohnunterschied mit dem Alter wächst und
nicht vom Familienstand unabhängig ist. Das Verrückte
ist, dass Väter höhere Einkommen als kinderlose Männer haben, während Mütter geringere Einkommen als
kinderlose Frauen haben. Da stimmt etwas nicht; darauf
müssen wir eine Antwort geben.
({10})
Ich möchte noch kurz auf den PDS- oder LinkenAntrag zum Internationalen Frauentag eingehen. Das ist
ein netter Gag, aber unser Anspruch geht da viel weiter.
({11})
Wir wollen uns nicht nur an einem einzigen Tag, nämlich dem Internationalen Frauentag, Gedanken darüber
machen, was noch zu tun ist. Vielmehr möchten wir,
dass 365 Tage im Jahr über alle Ressorts hinweg eine akElke Ferner
tive Gleichstellungspolitik gemacht wird, und zwar im
Rahmen eines eigenständigen Politikfeldes, nicht nur als
Unterabteilung der Familienpolitik.
({12})
Wir brauchen eine eigenständige Gleichstellungspolitik, weil sie eben mehr als nur Familienpolitik ist.
Nicht alle Frauen sind Mütter. Frauen, die keine Kinder
haben - aus welchen Gründen auch immer, sei es freiwillig oder unfreiwillig, zum Beispiel weil es am richtigen Partner oder an anderen Dingen fehlt -, haben auch
ein Recht darauf, in dieser Gesellschaft diskriminierungsfrei zu leben und ihre Lebensentwürfe verwirklichen zu können.
({13})
Liebe Kolleginnen von der Linken, ich kann Ihnen
leider nicht ersparen zu sagen, dass es mir manchmal so
vorkommt, als gäbe es bei Ihnen zwei Parteien.
({14})
Es ist nicht ein einzelnes Mitglied Ihrer Partei, das ein
Erziehungsgehalt fordert, sondern ein ganzer Landesverband. Merkwürdigerweise ist das ausgerechnet der Landesverband Ihres Parteivorsitzenden. Wenn Sie sagen,
Sie hätten eine eindeutige Beschlusslage, dann frage ich
mich, was für ein Parteivorsitzender das ist, der Ihre Parteibeschlusslage noch nicht einmal im eigenen Landesverband durchsetzen kann.
({15})
Wir haben uns in unserer 145-jährigen Geschichte immer für die Verwirklichung der Gleichstellung von
Frauen und Männern eingesetzt, und wir lassen uns dabei von niemandem überbieten.
({16})
Ich bin stolz darauf, dass Marie Juchacz von der SPD
vor fast 90 Jahren die erste Frau war, die hier im Reichstag eine Rede gehalten hat.
({17})
Wir haben seit 90 Jahren das Frauenwahlrecht. Ich hoffe,
dass wir in Zukunft stärker als bisher zusammenstehen
und die Gleichstellung von Männern und Frauen so voranbringen, dass wenigstens unsere Enkeltöchter noch
etwas davon haben,
Frau Kollegin.
- wenn schon unsere Töchter nicht viel davon haben
werden.
Vielen Dank.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie relativ es um
die Gerechtigkeit in der Welt im Allgemeinen und die
Geschlechtergerechtigkeit im Besonderen bestellt ist,
wird auch daran deutlich, dass der einzige freiwillig für
diese Debatte gemeldete Mann bei strenger Handhabung
der Redezeiten nun überhaupt keine Redezeit mehr
hätte, weil das Präsidium allen vor ihm redenden Kolleginnen mehr Redezeit zugestanden hat, als die eigenen
Fraktionen es vorgesehen hatten.
({0})
Wir wollen einen kleinen Beitrag zur Verständigung
zwischen den Geschlechtern dadurch leisten, dass wir
dem Kollegen Lehrieder nun drei Minuten Redezeit einräumen, die eigentlich nicht mehr vorhanden ist.
({1})
Herr Lehrieder, bitte.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine werten Kolleginnen und Kollegen! Ich bedanke mich für die gewährte
Zugabe, sehr geehrter Herr Präsident. - Ich finde es gut,
dass ich als elfter Redner, als Mann, in dieser Debatte
sprechen darf. Erschwerend kommt hinzu: als bayerischer Mann. Es ist wichtig, dass sich auch die Männer zu
diesem Thema zu Wort melden können. Ich fühle mich
gleichwohl nicht diskriminiert. Ich hätte mich auch nicht
diskriminiert gefühlt, wenn mir die Redezeit gestrichen
worden wäre; denn meine Vorrednerinnen haben sich
mit diesem Thema sehr gut und sehr kompetent befasst.
Moderne Gleichstellungspolitik muss sich nach meinem Dafürhalten dadurch auszeichnen, dass sie möglichst die ganze Bandbreite von Frauen- und Männerbiografien einbezieht. Es geht um gleiche Chancen von
Frauen und Männern, mit und ohne Kinder, in allen
Altersstufen und Lebensphasen, unabhängig von der
Herkunft. Angesichts der Vielzahl möglicher Lebensentwürfe zielt die Gleichstellungspolitik unserer Bundesregierung zu Recht darauf ab, Frauen wie Männern jene
Freiheit zu ermöglichen, die sie brauchen, um ihr Leben
nach eigenen Vorstellungen gestalten zu können. Die
Frage nach der gleichberechtigten Teilhabe von Frauen
und Männern im Erwerbsleben ist dabei von zentraler
Bedeutung. Schauen wir uns dieses hohe Haus an; das
wird auch im CEDAW-Bericht erwähnt. Nach
Kürschners Volkshandbuch sind im Bundestag
195 Frauen und 418 Männer vertreten. Das heißt, ein Drit15718
tel der Abgeordneten sind Frauen. Die einzige Partei, die
auf die Männer aufpassen muss, sind die Grünen. In der
Fraktion der Grünen gibt es 30 Frauen und 21 Männer.
({0})
- Liebe Frau Schewe-Gerigk, diskriminieren Sie die
Männer nicht!
({1})
Die CDU/CSU-Fraktion ist die erste Fraktion im
Deutschen Bundestag, die von einer Bundeskanzlerin
geführt wird.
({2})
Des Weiteren sind vier der sechs Vizepräsidenten des
Deutschen Bundestages Frauen. Immerhin zehn der 22
ständigen Ausschüsse werden von Frauen geleitet. Wir
haben im Deutschen Bundestag schon viel erreicht.
Gleichwohl bedarf es weiterer gleichstellungspolitischer
Anstrengungen, um die Vereinbarkeit von Familie und
Beruf zu verbessern.
Dass der Wunsch besteht, die eingegangenen Rollenbindungen ein Stück weit aufzugeben, kann man zum
Beispiel an den vorliegenden Zahlen zu dem neu eingeführten Elterngeld und an dessen Erfolg ablesen.
({3})
Die Vätermonate werden - die Frau Ministerin hat
das bereits angesprochen - überdurchschnittlich gut,
vier- bis fünfmal so stark wie vor der Einführung, angenommen. Gerade in Bayern ist die von vielen Kolleginnen und Kollegen unterstellte stereotype Rollenaufteilung längst Vergangenheit. Das bisherige Bild muss
revidiert werden; denn Bayern ist mit Berlin Spitzenreiter, was die Bewilligung von Vätermonaten angeht.
Stolze 12,5 Prozent aller Väter haben 2007 einen Elternantrag gestellt.
({4})
Frau Tackmann, im Landkreis Würzburg waren es sogar
15,96 Prozent, und das bei einer durchschnittlichen Inanspruchnahme von drei bis vier Monaten. Da sage noch
einer etwas gegen den Willen bayerischer Männer, sich
der Gleichberechtigung zu stellen und mitzumachen!
({5})
Meine Redezeit gerät allmählich ins Minus. Ich hätte
sehr gerne noch ein paar andere interessante Aspekte erwähnt. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und
bei meiner Fraktion für die Möglichkeit, als einziger
Mann zumindest ein paar Sätze zu diesem Thema sagen
zu dürfen. Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende.
Herr Präsident, zum Schluss möchte ich Folgendes
kurz ansprechen: Wie Gleichstellung funktioniert, sieht
man an der Blaskapelle aus der Oberpfalz, die auf der
Zuschauertribüne Platz genommen hat.
({6})
Darunter sind viele engagierte junge Frauen.
({7})
Wenn wir diese Frauen nicht hätten, wäre mancher Blaskörper nicht mehr spielbereit. Herzlichen Dank und viel
Spaß in Berlin!
Danke schön.
({8})
Ich schließe die Aussprache, die, wie ich noch einmal
erwähnen möchte, nicht wie vereinbart 75, sondern bei-
nahe 100 Minuten gedauert hat.
Wir kommen nun zu den Überweisungen. Interfrak-
tionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Druck-
sachen 16/5807 und 16/8373 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Der Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/8416
in der geänderten Fassung soll an dieselben Ausschüsse
wie die Vorlage auf Drucksache 16/5807 überwiesen
werden. Damit sind Sie doch sicher einverstanden? -
Das ist der Fall. Dann haben wir das so beschlossen.
Wir kommen zum Zusatzpunkt 5. Hier geht es um die
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Familie, Se-
nioren, Frauen und Jugend zum Antrag der Fraktion des
Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel „Gleichstel-
lung von Frauen und Männern in den Gremien des Bun-
des tatsächlich durchsetzen“. Der Ausschuss empfiehlt
in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/8412,
den Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen
auf Drucksache 16/7739 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? -
Wer enthält sich der Stimme? - Damit ist die Beschluss-
empfehlung mehrheitlich angenommen.
Wir rufen die Tagesordnungspunkte 23 a bis 23 e auf:
23 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Martina Krogmann, Laurenz Meyer ({0}),
Veronika Bellmann, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Martin Dörmann, Dr. Rainer Wend, Doris
Barnett, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Breitbandversorgung in ländlichen Räumen
schnell verbessern
- Drucksache 16/8381 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({1})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
Präsident Dr. Norbert Lammert
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten HansJoachim Otto ({2}), Gudrun Kopp, Martin
Zeil, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
FDP
Datenbasis für flächendeckende Versorgung
mit breitbandigem Internetzugang schaffen
- Drucksache 16/7862 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({3})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine
Zimmermann, Dr. Lothar Bisky, Katrin Kunert,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Schnelles Internet für alle - Unternehmen zum
Breitbandanschluss gesetzlich verpflichten
- Drucksache 16/8195 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({4})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Grietje
Bettin, Kerstin Andreae, Cornelia Behm, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Den Ausbau der Breitbandinfrastruktur flächendeckend voranbringen
- Drucksache 16/8372 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({5})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Lothar Bisky, Dr. Petra Sitte, Cornelia Hirsch,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Energieverbrauch von Computern senken
- Drucksache 16/8374 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({6})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Kultur und Medien
Diese Debatte soll nach einer interfraktionellen Vereinbarung eine Stunde dauern. - Auch hierzu stelle ich
Einvernehmen fest. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
die Kollegin Dr. Martina Krogmann für die CDU/CSUFraktion.
({7})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In dieser
Debatte geht es darum, dass wir die flächendeckende
Versorgung unseres Landes mit schnellen Internetanschlüssen voranbringen wollen. Dabei geht es um viel
mehr als nur um Technik. Es geht darum, dass eine
moderne Breitbandinfrastruktur heute die zentrale
Voraussetzung für wirtschaftliches Wachstum, Innovation und Arbeitsplätze ist.
({0})
Das ist die wirtschaftliche Dimension. Aber für jeden
Einzelnen ist ein schneller Internetanschluss sozusagen
das Tor zur digitalen Welt. Es geht um neue Kommunikationsformen, um neue Netzwerke und auch um gesellschaftliche Teilhabe. Deshalb ist es unser Ziel, dass jeder
in Deutschland, egal wo er lebt und arbeitet, an diesen
Chancen der globalen Informationsgesellschaft teilhaben
können muss. Dafür brauchen wir einen flächendeckenden Breitbandanschluss.
({1})
Die Ausgangslage in Deutschland ist hervorragend.
Wir haben heute fast 20 Millionen Breitbandanschlüsse,
und wir haben im internationalen Vergleich aufgeholt.
Wir hatten im vergangenen Jahr das größte absolute
Wachstum, was die Zahl der Anschlüsse innerhalb der
Europäischen Union betrifft, im Übrigen auch dank
zahlreicher Initiativen vor allem des Bundeswirtschaftsministeriums, aber auch des Ministeriums für Bildung
und Forschung und des von der Kanzlerin ins Leben gerufenen IT-Gipfels, bei dem das ein zentrales Thema
war.
({2})
Die Ausgangslage ist also gut, aber wir stehen vor großen Herausforderungen, was die Schere angeht, die sich
in den letzten Jahren zwischen den Ballungszentren und
vielen ländlichen Regionen aufgetan hat. Wir haben
heute in den Ballungszentren einen wirklich erfreulichen
Wettbewerb von vielen verschiedenen Anbietern, die
sich gerade hier in Berlin fast jeden Monat bei der Geschwindigkeit des Internetzugangs überbieten und sich
gleichzeitig beim Preis unterbieten. Ganz anders sieht es
in vielen ländlichen Regionen aus. Nach vorsichtigen
Schätzungen sind immer noch 2 000 bis 2 500 Kommunen heute entweder gar nicht versorgt, also völlig von
einem schnellen Anschluss abgekoppelt, oder unterversorgt. Wenn man, wie ich finde, heute eine Größenordnung von mindestens 1 Megabit pro Sekunde ansetzt,
dann kommt man zu dem Schluss: Es sind auch nach
vorsichtigen Schätzungen rund 4 Millionen Haushalte in
Deutschland immer noch abgekoppelt.
Die negativen Folgewirkungen für die betroffenen
Kommunen machen sich schon heute bemerkbar. Unternehmen wandern ab, natürlich leidet die Attraktivität als
Wohnort, die Finanzkraft der Kommunen geht verloren.
Ich kenne ein Ingenieurbüro in Oederquart.
({3})
- Oederquart liegt tatsächlich im schönen Landkreis
Stade, Laurenz Meyer. Es freut mich, dass du Oederquart kennst.
Das Ingenieurbüro, von dem ich berichten wollte,
hatte das Problem, dass es die Datenmengen gar nicht
mehr bewältigen konnte, weshalb es jetzt umgezogen ist.
({4})
Oder nehmen wir die alleinerziehende Mutter aus
Oberndorf im Landkreis Cuxhaven, die sich über das Internet mit Kursen weiterbilden will, aber ohne einen
Breitbandanschluss diese Kurse gar nicht nutzen kann.
Alle reden über das Web 2.0, MySpace und YouTube,
nur die Menschen in den unterversorgten Gebieten nicht,
weil sie daran gar nicht teilhaben können.
Ich will bei diesem Thema deutlich sagen: Es darf
nicht sein, dass ganze Kommunen nicht in der Lage sind,
an den Chancen teilzuhaben, nur weil sie aus kleinen Orten bestehen, deren Topografie nicht stimmt, oder weil
sie per se abgekoppelt sind, da sie vom nächsten DSLHauptverteiler zu weit entfernt sind.
Auch aus Gründen der inneren Balance unseres Landes, also des Ausgleichs zwischen den Städten und den
ländlichen Regionen, ist es unser Ziel, dafür zu sorgen,
dass jeder an den wirtschaftlichen und an den gesellschaftlichen Chancen der Informationsgesellschaft teilhaben kann.
({5})
Lassen Sie mich noch Folgendes hinzufügen: Gerade
für die ländlichen Räume bedeutet eine flächendeckende
Breitbandversorgung die größten Chancen, weil die
strukturellen Ungleichheiten, also die großen Entfernungen, durch das Internet völlig obsolet werden. Es ist ganz
egal, ob man in Kutenholz, in New York oder in Berlin
wohnt: Man hat theoretisch überall die gleichen Möglichkeiten.
Wir, die Große Koalition, fordern in unserem Antrag
ein ganzes Bündel von Maßnahmen, um zu einer flächendeckenden Breitbandversorgung in Deutschland zu
kommen. Ich will unsere drei wichtigsten Punkte, unsere
Leitprinzipien, vorstellen.
Der erste Punkt ist, dass wir den Wettbewerb stärken
müssen. Ich habe es vorhin gesagt: Wettbewerb gibt es
in Ballungszentren. In Deutschland fehlt aber nach wie
vor, auch aus historischen Gründen, ein Wettbewerb
zwischen den verschiedenen Übertragungstechnologien.
Über 90 Prozent der Anschlüsse bei uns basieren auf der
DSL-Technik. Internationale Studien zeigen: Je größer
der Wettbewerb zwischen den unterschiedlichen Technologien - DSL, Kabel, Funktechnologien - ist, desto
erfolgreicher sind die entsprechenden Länder in der Flächenabdeckung.
Zu einem stärkeren Wettbewerb gehört unabdingbar,
dass wir bei der Vergabe von Frequenzen effizienter
werden. Demnächst werden viele Frequenzen frei, gerade aus dem Rundfunkbereich. Deshalb ist es wichtig,
dass wir zumindest Teile davon für die Erschließung der
ländlichen Räume nutzen; denn gerade sie sind über
Funk am besten zu erschließen.
Der zweite - ganz wichtige - Punkt ist, dass wir die
Information und die Markttransparenz verbessern. Ich
kann alle Bürgermeister verstehen, die sagen: Ich kenne
mich da doch gar nicht aus; ich kann doch nicht erst ein
Technikstudium absolvieren, um zu wissen, welche Lösung für meine Gemeinde die beste, die effektivste und
die preisgünstigste ist.
({6})
- Das spricht kurz vor dem Internationalen Frauentag
sehr für Ihre Bürgermeisterin, Herr Tauss. Vielen Bürgermeisterinnen im Land geht es aber genauso wie den
Bürgermeistern, von denen ich gesprochen habe.
({7})
Es ist wichtig, dass wir die zahlreichen Initiativen, die
es schon heute gibt, bündeln. Wir fordern deshalb eine
Taskforce im Bundeswirtschaftsministerium, die ganz
konkrete Hilfestellungen für jede der bisher unterversorgten Kommunen gibt. Es gibt ganz einfach keine generellen Lösungen. Was für die eine Kommune technisch gut ist, muss für eine andere Kommune noch lange
nicht gut sein. Es ist wichtig, zu begreifen, dass es um
Hilfe zur Selbsthilfe geht. Vieles hängt deshalb auch von
der Eigeninitiative der betroffenen Kommunen ab.
({8})
Der dritte für uns wichtige Punkt ist, dass es - das
müssen wir ehrlicherweise sagen -, wenn wir die Fläche
schnellstmöglich erschließen wollen, Kommunen und
auch Ortsteile geben wird, die auch bei mehr Wettbewerb nicht schnell erschlossen werden können. Wir begrüßen daher, dass die Bundesregierung Verantwortung
übernommen hat. Sie hat beschlossen, dass in den nächsten drei Jahren 30 Millionen Euro für die Flächenabdeckung zur Verfügung gestellt werden, kofinanziert durch
die Länder.
({9})
Das ist ein erster wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Wir müssen aber auch konstatieren, dass das allein
nur ein Tropfen auf den heißen Stein ist.
Unser Vorschlag lautet daher, dass man die Erlöse aus
der Versteigerung der Frequenzen, die dem Bund zustehen, wenigstens zum Teil zurückgibt, um so die Flächenabdeckung schnellstmöglich erreichen zu können.
Ich bin davon überzeugt, dass wir mit diesen Maßnahmen einen riesengroßen Schritt vorangehen werden. Dies
muss schnell passieren, damit wir unser Ziel erreichen
können, nämlich dass jeder und jede in Deutschland, egal
wo er oder sie lebt und arbeitet oder ein Unternehmen hat,
an den Chancen der Informationsgesellschaft teilhaben
kann.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat der Kollege Hans-Joachim Otto von der
FDP-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Frau Kollegin Dr. Krogmann, zunächst einmal sind wir
sehr dankbar dafür, dass Sie und alle übrigen Fraktionen
die Initiative der FDP-Fraktion aufgegriffen haben und
sich jetzt auch um das Thema kümmern.
({0})
- Schauen Sie doch, welcher Antrag zuerst da war!
Schauen Sie bitte rein! - Ich frage mich allerdings, warum Sie sich nicht einfach unserem Antrag angeschlossen und Sie eigene Anträge aufgesetzt haben.
In Ihren Anträgen fehlt dazu noch der entscheidende
Punkt. In der Problembeschreibung, liebe Frau Kollegin
Krogmann, sind wir uns noch alle einig: Die Wettbewerbsfähigkeit des Standortes Deutschland und seiner
Regionen sowie Tausende Arbeitsplätze hängen maßgeblich von der Verfügbarkeit von Breitbandinternetzugängen ab; das gilt ebenfalls für das erste Thema heute
im Plenum, nämlich die Vereinbarkeit von Beruf und Familie sowie die Bildungschancen. Entsprechend verheerend sind die Auswirkungen der weißen Flecken auf die
wirtschaftliche, demografische und kulturelle Struktur
und damit letztlich auf die Überlebensfähigkeit der betroffenen Regionen.
({1})
Bei der Problembeseitigung verkennen Sie allerdings
die Priorität des Handlungsbedarfs. Die FDP-Fraktion
hat auf Initiative meines verehrten Kollegen Martin Zeil
({2})
im Dezember eine Expertenanhörung durchgeführt.
({3})
Bei dieser Anhörung waren führende Vertreter aus Wissenschaft, Industrie und von der staatlichen Regulierung
anwesend. Sämtliche Experten - ich wiederhole: sämtliche - waren der Auffassung, dass die Hauptursache der
weißen Flecken das Fehlen einer detaillierten und belastbaren Datenbasis ist.
Eine solche Datenbasis liefert der Breitbandatlas der
Bundesregierung leider mitnichten. Insofern teile ich
auch das hohe Lob auf diesen Atlas nicht. Sie sagen es in
Ihrem Antrag selbst: Er ist nicht präzise genug. Er
schafft somit keine ausreichende Grundlage für Investitionsentscheidungen.
Diese Einschätzung - fehlende Datenbasis - teilen im
Übrigen der vatm, der Deutsche Städte- und Gemeindebund und der Deutsche Landkreistag. Deshalb haben sie
auch einen entsprechenden Appell an die Politik gerichtet, den wir in unserem Antrag unterstützen.
Weder der Antrag der Koalitionsfraktionen noch der
der Grünen geht auf diese zentrale Investitionsvoraussetzung explizit ein. Ihre - ich sage: altbekannten - Forderungen lauten: ein paar Fördersubventionen hier, ein
paar Frequenzen dort, garniert mit der obrigkeitsstaatlichen Keule der Universaldienstverpflichtung. Ihr besonderer Clou ist die Einrichtung einer Taskforce beim Bundeswirtschaftsminister.
({4})
Das ist schon fernsehtauglich. Bisher hatten wir die „Super Nanny“. Jetzt haben wir den „Super Glosy“, der da
durch die Gegend rennt. Das finde ich schon super.
({5})
Ich prophezeie Ihnen: Ihr Vertrauen auf die Wirksamkeit staatlicher Maßnahmen wird erneut enttäuscht. Ihre
Annahme, dass der Wettbewerb unfähig oder nicht willens sei, auch ländliche Regionen zu versorgen, ist
falsch. Jede staatliche Förderung nach dem Gießkannenprinzip, auch die Umleitung der UMTS-Gelder, verkennt
die örtlichen Besonderheiten. Ob TV-Kabel, DSL, Satellit oder Funk, es bedarf jeweils einer anderen technologischen Lösung, um zum Beispiel die Ostfriesischen Inseln - den Ort, den Sie genannt haben, habe ich leider
vergessen ({6})
oder bayerische Alpendörfer ans Breitbandnetz zu bringen.
({7})
Die Experten sagen unisono: Wir brauchen belastbare
und präzise Daten über demografische, topografische
und ökonomische Gegebenheiten, um zu wissen, wie am
erfolgversprechendsten investiert werden kann und welche Technologie wo am sinnvollsten ist.
({8})
Hans-Joachim Otto ({9})
Alles andere muss dann der Wettbewerb leisten - das
kann er auch -,
({10})
und zwar nicht nur über die großen Telekoms dieser
Welt, sondern vor allem auch über die regionalen und innovativen Anbieter.
Die diesjährige CeBIT, die ja derzeit in Hannover
stattfindet, zeigt, dass unser Vertrauen in den Wettbewerb berechtigt ist. Arcor präsentiert dort beispielsweise
VDSL-Pilotversuche in Thüringen und Sachsen-Anhalt.
Es sind dort auch Satellitenangebote zu sehen, die
bereits jetzt Downlink-Raten von 2 000 Kilobit und
Uplink-Raten von 500 Kilobit ermöglichen.
({11})
Es präsentieren sich auch viele kreative Anbieter von
Funklösungen.
Deshalb, meine Damen und Herren, appelliere ich an
Ihre ökonomische Vernunft: Sorgen Sie für eine investitionsfeste Datenbasis! Lassen Sie dagegen die Finger
von technologiefixierten Subventionen und auch von der
Keule des Gesetzgebers! Millionen Bürger und Tausende Unternehmen in den ländlichen Regionen werden
es Ihnen danken.
({12})
Das Wort hat der Kollege Martin Dörmann von der
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Bedeutung des Internets wächst täglich. Die CeBIT hat
in dieser Woche zahlreiche weitere Beispiele dafür gebracht. Immer mehr Dienste und Dienstleistungen werden im Internet angeboten, die die Bürgerinnen und Bürger täglich nutzen. Stichworte sind: Warenbestellungen
per Internet, Onlinebanking, Kommunikationsforen, an
denen man teilnehmen kann, Weiterbildungsangebote
und schließlich auch die Möglichkeit, Telearbeitsplätze
über das Internet zu bedienen.
Um diese Dienste adäquat nutzen zu können, reicht es
nicht mehr, mit der herkömmlichen ISDN-Technik zu arbeiten, weil sie oft zu langsam ist. Nein, wir brauchen
schnelle Internetzugänge mit hohen Bandbreiten. Erfreulich ist, dass in Deutschland auf diesem Gebiet eine sehr
positive Entwicklung festzustellen ist. Wir nähern uns
der Zahl von 20 Millionen Breitbandanschlüssen; gerade
im letzten Jahr kamen 5 Millionen neue Anschlüsse
hinzu. Damit liegen wir hinsichtlich der Quantität und
auch der Qualität der Anschlüsse europaweit an der
Spitze.
({0})
Funktionierender Wettbewerb sorgt für niedrige
Preise. Aber von dieser positiven Entwicklung drohen
einige ländliche Regionen abgekoppelt zu werden. Das
muss uns mit Sorge erfüllen. Es wurde auf den von der
Bundesregierung erstellten Breitbandatlas hingewiesen. Aus ihm geht hervor, dass für 97 Prozent der Haushalte die Möglichkeit besteht, einen Breitbandanschluss
zu nutzen. Hierzu ist aber zu sagen, dass die Bandbreite
für solche Anschlüsse heute höher liegt als noch vor einigen Jahren, weil die technische Entwicklung einfach
fortschreitet. Wir brauchen heute realistischerweise
Übertragungsraten von 1 Mbit pro Sekunde, damit wir
die neuen Angebote auch wirklich nutzen können.
Vor diesem Hintergrund ist die Zahl, die Frau Kollegin Krogmann genannt hat, richtig: Wir müssen davon
ausgehen, dass über 2 000 Gemeinden nicht über adäquate Anschlussmöglichkeiten verfügen. Das betrifft
mindestens 1 Million Menschen und, wenn man noch
höhere Bandbreiten zugrunde legt, möglicherweise auch
noch viel mehr. Das bringt einen immensen Standortnachteil für die betroffenen Regionen und einen persönlichen Nachteil für die Betroffenen mit sich. Sie werden,
da sie nicht an den Fortschritten der Informationsgesellschaft teilhaben können, von kultureller Entwicklung
und sozialer Integration abgekoppelt. Deshalb muss es
unser Ziel sein, die Möglichkeiten der Informationsgesellschaft für alle Menschen nutzbar zu machen, indem
wir breitbandige Internetzugänge flächendeckend anbieten.
({1})
Die Große Koalition will die Rahmenbedingungen
nachhaltig verbessern, damit das möglich wird. Hierzu
haben wir ein Maßnahmenbündel geschnürt. Es reicht
von staatlichen Fördermaßnahmen, die ergänzend eingesetzt werden sollen, über die Verbesserung der Informationsgrundlagen bis hin zu unterstützenden und koordinierenden Angeboten für die betroffenen Gemeinden.
Dieses Konzept wollen wir aber mit den Beteiligten gemeinsam entwickeln. Hier müssen Bund, Länder und
Kommunen genauso zusammenarbeiten wie auch die
Unternehmen und die Nutzer solcher Angebote.
Deshalb, sehr geehrter Herr Otto, sind Ihre Ausführungen hierzu völlig falsch. Die Große Koalition hat
nämlich diesen Grundsatz im letzten Jahr wirklich befolgt, indem sie die Beteiligten an runden Tischen zusammengebracht hat,
({2})
die dann in diesen Runden Überlegungen angestellt haben, was zu tun ist, um hier weiterzukommen.
({3})
Deshalb ist auch Ihre Behauptung falsch, dass wir
hier Ihren Forderungen hinterherhechelten. Das Gegenteil ist der Fall. Sie haben ohnehin nur einen Ausschnitt
der Lösungsmöglichkeiten in Ihrem Antrag. Insofern ist
der viel zu dünn. Nächstes Mal sollten Sie nicht einen
schmalbandigen, sondern wie die Große Koalition einen
breitbandigen Antrag vorlegen.
({4})
Es ist auch falsch, zu behaupten, dass wir nicht auf
Wettbewerb setzen. Im Gegenteil! Es ist gerade der dynamische Wettbewerb in Deutschland, der uns bei der
Verbreitung des Breitbandes nach vorne gebracht hat.
Hier sind die Chancen überhaupt noch nicht ausgenutzt.
Gerade in den ländlichen Räumen besteht die Möglichkeit, nicht nur auf DSL zu setzen, was aus Kostengründen sehr schwierig ist, weil der Ausbau von DSL ein
Mehrfaches von dem kostet, was andere Technologien
an dieser Stelle kosten würden. Es stehen neue Funktechnologien zur Verfügung, die geradezu prädestiniert
sind, im ländlichen Raum genutzt zu werden. Leider ist
die Diskussion in Deutschland viel zu sehr fixiert auf
DSL, weil nun einmal 95 Prozent der Anschlüsse über
diesen Bereich laufen. Aber es gibt eine Vielzahl von
Möglichkeiten, angefangen von den Kabelnetzen über
moderne Glasfasernetze bis hin zu Satelliten und modernen Funktechnologien, zum Beispiel Wimax. Das muss
genutzt werden.
Erfreulicherweise konnten wir gerade in den letzten
Monaten feststellen, dass sich immer mehr Initiativen
gebildet haben, um gerade diese Chancen zu nutzen. Es
wurde schon erwähnt, dass der Deutsche Städte- und Gemeindebund ein Konzept vorgelegt hat, das wir unterstützen. Es sind Wettbewerbsverbände, zum Beispiel
vatm, unterwegs. Das alles sind sehr gute Initiativen, die
durch Breitbandinitiativen von Bürgerinnen und Bürgern
vor Ort ergänzt werden.
„Vor Ort“ ist das Stichwort. In erster Linie kommt es
darauf an, dass sich die Beteiligten vor Ort zusammensetzen, ausloten, welche Möglichkeiten es an dieser
Stelle gibt, den Ausbau voranzutreiben, welche Technologien sinnvollerweise vielleicht sogar in einem Mix anzusiedeln sind. In unserem Antrag ist ja bereits deutlich
hervorgehoben worden, dass natürlich die Daten- und
Informationsbasis stimmen muss. Insofern wollen wir,
dass der Breitbandatlas der Bundesregierung - gut,
dass es ihn seit 2005 gibt - verbessert wird.
({5})
Das ist eine unserer zentralen Forderungen in dem Antrag. Auch hier, Herr Otto, greift Ihr Vorwurf zu kurz.
Wir haben erkannt - das war beispielsweise das Ergebnis
unseres runden Tisches im vergangenen Jahr -, dass es
für die Unternehmen, die investieren wollen, entscheidend darauf ankommt, zu wissen, wo die weißen Flecken sind, mit wem man sprechen muss, mit welchem
Technologiemix man je nach topografischer Lage die
Möglichkeit hat, zum Erfolg zu kommen.
({6})
Das alles wird vonseiten der Bundesregierung unterstützt. Der Breitbandatlas soll nach Vorstellungen der
Großen Koalition entscheidend verbessert werden. Darüber hinaus soll eine Taskforce eingesetzt werden, die
ermittelt, wo weiße Flecken sind, und Hilfestellung anbietet.
Es kommt ein weiterer Punkt hinzu. Es wird immer
noch Bereiche in den Gemeinden geben, wo man aus
Kostengründen nicht zu einer schnelleren Entwicklung
kommt. Da sollen staatliche Förderprogramme zusätzlich eingestellt werden. Die 10 Millionen Euro, die jedes
Jahr im Bundeshaushalt dafür zur Verfügung gestellt
werden, sind bereits erwähnt worden. Erfreulicherweise
sind es immer mehr Länder, die eigene Initiativen und
Programme auflegen, durch die diese Mittel ergänzt
werden.
Hinzu kommt eine effiziente Frequenzpolitik. Dabei
kommt es darauf an, dass bei den Versteigerungen, die in
diesem Bereich bereits stattgefunden haben oder noch
stattfinden werden, darauf geachtet wird, dass da, wo es
sinnvoll ist, Ausbauverpflichtungen eingeschrieben werden. Wenn eine Frequenz ausgeschrieben wird, dann
muss festgelegt werden, dass derjenige, der diese Frequenz hat und die Technologie entsprechend ausbaut,
verpflichtet wird, bestimmte Gemeinden, die bisher noch
nicht versorgt sind, mit anzuschließen. Das haben wir
bereits bei den WBA-Frequenzen gemacht, deren Versteigerung 2006 begann.
Das Stichwort digitale Dividende spielt dabei auch
eine Rolle. Hier geht es um Rundfunkfrequenzen, die
sich besonders für Funktechnologien eignen, weil sie in
einem niedrigen Frequenzbereich sind und deshalb relativ kostengünstig ausgebaut werden können. Da müssen
wir ganz genau gucken, welche technischen Möglichkeiten es gibt, sicherzustellen, dass auf der einen Seite die
Bedürfnisse und Entwicklungschancen des öffentlichrechtlichen Rundfunks, des Rundfunks insgesamt gewahrt werden, dass aber auf der anderen Seite das, was
an Frequenzgewinn durch die Digitalisierung herauskommt, für den Breitbandausbau genutzt werden kann.
Diesbezüglich gibt es zum Beispiel ein interessantes Pilotprojekt in Berlin-Brandenburg. Diese Ergebnisse
müssen abgewartet werden. Dann wird man sehen, wie
man dort vorankommt.
Ich möchte ein Thema aufgreifen, das in dem Antrag
der Linken, aber auch von den Grünen genannt wird,
nämlich den Universaldienst. Bisher sieht die EU ja Universaldienst nur in bestimmten Bereichen vor, nicht im
Bereich der Breitbandinternetanschlüsse, weil dort in der
Vergangenheit die Nutzungshäufigkeit noch nicht so
hoch war, dass die Voraussetzungen der Richtlinie erfüllt
waren. Wir haben aber mit einer Diskussion in der EU zu
rechnen. Die Große Koalition sagt dazu: Wenn die Kommission in ihrem Grünbuch, das demnächst möglicherweise erstellt wird, zu einer entsprechenden Empfehlung
kommt, dann unterstützen wir eine Änderung der Universaldienstrichtlinie, und zwar dergestalt, dass die einzelnen Mitgliedstaaten die Möglichkeit erhalten, den
Universaldienst auch auf Breitbandinternetanschlüsse
auszudehnen. Dann sollen sie auch die Möglichkeit erhalten, die Kosten auf die Unternehmen umzulegen. Ich
betone aber noch einmal: Das ist das letzte Mittel. In diesem Bereich wird immer noch entwickelt, und es gibt
technologische Fortschritte. Es wäre doch unvernünftig,
wenn wir eine Bürokratie schaffen würden, die erhebliche Verwaltungskosten zur Folge hätte, ehe wir alle anderen Chancen ausgelotet haben.
({7})
Ich habe gerade einige dieser anderen Bereiche genannt, die Frequenzpolitik zum Beispiel. Der Wettbewerb steht hier an erster Stelle. Wir haben die Hoffnung,
dass unser Ziel einer flächendeckenden Versorgung
mit Breitbandanschlüssen in den nächsten Jahren erreicht werden kann. Wir sagen aber genauso klar: Da unser Ziel so wichtig ist und es im Interesse aller Menschen und Regionen liegt, dass wir dieses Ziel erreichen,
können wir die Umlage als letztes Mittel nicht ausschließen. Deshalb wollen wir eine Änderung der EU-Richtlinie erreichen.
Ich komme zum Schluss noch einmal auf die Anträge
der Opposition zu sprechen:
Ich habe bereits gesagt, dass der FDP-Antrag nur die
Information anspricht, sozusagen schmalbandig ist. Aus
meiner Sicht ist das die Grundlage, aber noch nicht die
Lösung.
Der Antrag der Linken ist unternehmensfixiert und
beschränkt sich auf die Universaldienstrichtlinie. Sie haben nicht erkannt, dass die technologische Entwicklung
den Wettbewerb interessant werden lässt, und zwar vor
allem für den ländlichen Raum. In den nächsten Jahren
werden uns Lösungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen, die wir in der Vergangenheit nicht hatten.
Zu dem Antrag der Grünen kann ich sagen - die beiden anderen Oppositionsfraktionen könnten daraus etwas lernen -: Die Grünen haben unseren Antrag fast abgeschrieben.
({8})
Das erkennt man schon an der Gliederung. Unser Antrag
stand ihnen ja auch frühzeitig zur Verfügung. Deswegen
habe ich bis auf einige Nuancen wenig daran auszusetzen. FDP und Linke könnten da also von den Grünen lernen.
({9})
Mit ihrem Antrag hat die Große Koalition ein umfassendes Maßnahmenbündel vorgelegt, um den flächendeckenden Breitbandausbau in Deutschland voranzubringen. Wir wollen die „digitale Kluft“ überwinden und
auch in den ländlichen Regionen eine gute soziale, kulturelle und wirtschaftliche Entwicklung ermöglichen.
Im Zeitalter der Informationsgesellschaft kann Deutschland seine Wachstumschancen nur so umfassend und
nachhaltig nutzen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({10})
Das Wort hat die Kollegin Sabine Zimmermann von
der Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Herr Dörmann, Sie haben
gesagt, dass wir in den nächsten Jahren eine Lösung finden werden. Ich denke, wir brauchen jetzt eine Lösung;
denn die Menschen, die keinen Anschluss haben, sind
jetzt und nicht erst in einigen Jahren davon betroffen. Sie
müssen jetzt damit leben.
({0})
Der Deutsche Städte- und Gemeindebund hat im letzten Jahr zusammen mit anderen an die Politik einen
Appell gerichtet. Darin heißt es: „Breitbandkluft in
Deutschland überwinden“. 5 bis 6 Millionen Menschen
in Deutschland haben keinen Zugang zu einem schnellen
Internetanschluss. Das verstößt aus unserer Sicht gegen
das Grundgesetz, das die Schaffung gleichwertiger
Lebensbedingungen vorsieht.
({1})
Die Große Koalition hat das Problem anfangs etwas
verniedlicht. Im letzten Jahr hat sie endlich einige Informationsveranstaltungen durchgeführt. In diesem Jahr hat
sie sogar Förderprogramme aufgelegt. Das kann aber
nicht die Lösung des Problems sein. Wir haben es hier
eindeutig mit Marktversagen zu tun, und deshalb muss
der Gesetzgeber eingreifen.
Die Linke fordert einen Zugang zum schnellen Internet für alle. Er gehört in den Katalog der staatlich
garantierten Grundversorgung. Die Schweiz hat diesen Schritt bereits getan. Auch in Deutschland ist das
möglich, wenn die Politik das wirklich will.
({2})
Wir begrüßen es, dass sich die Regierung endlich des
Problems der „digitalen Spaltung“ annimmt. Im Antrag
der Koalition heißt es allerdings sehr allgemein:
Schnelle Zugangsmöglichkeiten zum Internet sind
für die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung unseres Landes von grundlegender Bedeutung.
Ich frage Sie, meine Damen und Herren von der Union
und der SPD: Wer von Ihnen hat sich vor Ort wirklich
sachkundig gemacht,
({3})
wie viele Menschen keinen schnellen Internetzugang haben?
({4})
- Wir haben schon mit vielen Bürgerinitiativen gesprochen.
Sie verlangen von den Menschen immer mehr Flexibilität bei der Arbeitssuche. Aber Hunderttausende haben für die Jobsuche keinen schnellen Internetzugang.
Sie reden davon, den Bäckermeister oder den Handwerker vor Ort zu unterstützen. Aber Zehntausenden fehlt
ein schneller Internetzugang für ihre Geschäftstätigkeit.
Ich komme jetzt - Herr Dörmann, vielleicht hören Sie
mir zu - auf einen konkreten Fall zu sprechen. In Sachsen gibt es den Ort Leukersdorf. Dort lebt ein junger
Mann mit Muskelschwund, der gerade seinen Schulabschluss machen will. Diese Krankheit fesselt ihn an den
Rollstuhl. Er würde gerne Bürokaufmann lernen und hat
sogar ein Berufsbildungswerk gefunden, das es ihm ermöglicht, Therapie und Ausbildung miteinander zu
kombinieren; denn die Ausbildung kann übers Internet
gemacht werden. Das einzige Problem: Leukersdorf hat
keinen schnellen Internetzugang. Der ist aber für die
Videokonferenzen im virtuellen Klassenzimmer nötig.
Bekommt der Ort nicht in den nächsten Monaten einen
Anschluss mit schneller Übertragungsrate, heißt das für
den Jugendlichen, dass er keinen Ausbildungsplatz hat.
Ich weiß nicht, ob Sie das wollen.
Es ist höchste Zeit für ein flächendeckendes Angebot. Das Wirtschaftsministerium hat in dieser Woche auf
der CeBIT einen Maßnahmenkatalog für eine flächendeckende Breitbandversorgung vorgestellt. Das ist zunächst zu begrüßen. Der Druck aus den Kommunen und
von zahlreichen Bürgerinitiativen scheint doch etwas bewirkt zu haben. Die Linke unterstützt alle Initiativen, die
helfen, diese weißen Flecken endlich verschwinden zu
lassen.
({5})
Weitere Informationsveranstaltungen, bessere Daten
und eine Arbeitsgruppe von Bund, Ländern und Kommunen sind nicht falsch. Es ist immer gut, wenn man
miteinander redet. Diese Maßnahmen reichen aber nicht
aus, weil sie dem Grundproblem nicht abhelfen. Telekommunikationsunternehmen gehen nach einem rein betriebswirtschaftlichen Kalkül vor. Sie schauen lediglich
nach dem Gewinn. Dieser ist eben eher in den dicht besiedelten Ballungsgebieten als im ländlichen Raum zu
machen. Ein Vertreter der Telekom hat im Wirtschaftsausschuss dazu erklärt, ein flächendeckender Ausbau
des DSL-Netzes stoße an die Grenze des ökonomisch
Machbaren. Nicht großartig anders verhält es sich bei
Alternativtechnologien, die Sie angesprochen haben,
etwa die Verbindung über Funk. Mal abgesehen davon,
dass diese Techniken auch teuer sind und auch gegenüber DSL oftmals in Leistung und Kosten nicht gleichwertig sind, gibt es auch dort betriebswirtschaftliche
Grenzen.
Nun kann man Förderprogramme auflegen, wie dies
der Bund tut, um die Unternehmen zum Breitbandausbau zu bewegen. Aber eines ist höchst problematisch:
Der Steuerzahler finanziert den Ausbau in der Fläche,
und die Unternehmen streichen den Gewinn in den Ballungszentren ein. Das kann so nicht weitergehen.
({6})
Allein die Deutsche Telekom hat aus ihrem Gewinn im
letzten Jahr 3,4 Milliarden Euro an die Aktionäre ausgeschüttet. Ich meine, mit diesem Geld hätte man besser
zahlreichen Dörfern einen Anschluss mit hoher Übertragungsrate finanzieren sollen.
({7})
Ich halte fest: Wir haben es bei der fehlenden Breitbandversorgung im ländlichen Raum mit Marktversagen zu tun. Der Gesetzgeber muss einschreiten, hält er
an dem Ziel, gleichwertige Lebensbedingungen in
Deutschland herzustellen, fest. Die Linke hat in ihrem
vorliegenden Antrag einen einfachen und leicht umsetzbaren Vorschlag gemacht. Wir wollen den schnellen Internetzugang in die staatlich garantierte Grundversorgung aufnehmen. Dazu muss lediglich der sogenannte
Universaldienst im Telekommunikationsgesetz durch
einen entsprechenden Spiegelstrich ergänzt werden.
Wenn nun die Grünen vorsichtig ein Stück von ihrer
blinden Marktgläubigkeit abweichen und eine Universaldienstverpflichtung als Ultima Ratio nicht mehr ausschließen, ist das ein weiteres Zeichen dafür, dass die
Linke wirkt.
({8})
Auch die Bundesregierung hat noch im letzten Jahr die
Ausweitung des Universaldienstes strikt abgelehnt. Nun
will die Große Koalition - Herr Dörmann, Sie haben es
gesagt - schauen, was auf der europäischen Ebene passiert.
Ich komme zum Schluss. Heute, im 21. Jahrhundert,
muss ein schneller Internetanschluss her. Er gehört zur
Grundversorgung. Es darf nicht länger gezögert werden.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Grietje Bettin von
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Stellen Sie sich einmal eine Karte von Deutschland
vor, die die Versorgung mit schnellem Internet zeigt.
Dann können Sie im Westen zumindest ein Spinnennetz
erkennen, in Ostdeutschland jedoch noch ganz viele
weiße Flächen, einmal abgesehen von den großen Städten. Aber auch auf dem platten Land im Westen sieht es
nicht besser aus. In meinem schleswig-holsteinischen
Zuhause muss ich für das schnelle Internet viel mehr
Geld zahlen als hier in Berlin. In vielen Regionen, zum
Beispiel an der Schlei, ist das schnelle Internet nicht einmal verfügbar.
Die Probleme sind uns allen klar; das ist deutlich geworden. Zum einen die privaten Haushalte, zum anderen
aber auch die Wirtschaft haben Probleme, wenn sie nicht
an das schnelle Internet angeschlossen sind. Wir müssen
für mehr Zugangsgerechtigkeit und für mehr Teilhabechancen für alle sorgen. Das wurde von meinen Vorrednerinnen und Vorrednern schon angesprochen.
4 Millionen Haushalte ohne schnelles Internet - das
sind zu viele. Wer in den weißen Flecken wohnt, kann
zum Beispiel seine Steuererklärung nicht über Elster machen, kann sich die Tagesschau nicht online ansehen und
kann bei Onlineauktionen nicht mitbieten. Die Wirtschaft hat ein Problem. Die kleinen und mittleren Unternehmen machen einen großen Bogen um die digitale
Provinz. Sie brauchen schnelles Internet, um mit den
Kunden und Händlern in Kontakt zu treten. Auch der
Tourismus ist stark betroffen. Viele Unternehmen wandern ab; dadurch fallen Arbeitsplätze weg.
Ich finde, dass die Regierung bei diesem Thema zu
lange untätig war. Selbst in Südkorea haben fast doppelt
so viele Menschen schnelles Internet wie hierzulande.
Dänemark und Finnland sind uns natürlich wieder einmal weit voraus. Es kann der Regierung aber nicht egal
sein, dass zum Beispiel Internetstudiengänge oder elektronische Verwaltung den Menschen verschlossen bleiben, die in diesen Regionen wohnen. Die Aufgabe ist
klar. Wir müssen den ländlichen Raum ganz schnell flächendeckend an das High-Speed-Internet anschließen.
({0})
Zu dem Antrag der Großen Koalition. Kollege
Dörmann, wir konnten gar nicht von Ihnen abschreiben,
weil Sie den Antrag erst gestern eingebracht haben.
({1})
Von daher kann ich nur sagen: Ihr Antrag enthält gute
Ideen, aber viele Punkte werden nicht zu Ende gedacht.
({2})
- Dein Antrag, Martina, okay.
Manche Forderungen sind wachsweich; das zwingt
die Regierung zu nichts. Da ist unserer Meinung nach
nicht viel Musik drin. Am Ende ist mit diesem Antrag
nicht garantiert, dass jeder einen Anschluss bekommen
kann.
Zu dem Antrag der FDP. Das Motto der FDP lautet
wieder einmal: Jeder denkt an sich, dann ist an alle gedacht.
({3})
Der Markt werde alles von selber regeln. Das ist in dieser Frage Quatsch, weil der Markt zum Beispiel in
Wustrow in Brandenburg gar nichts regelt. Ihr Motto
lautet wieder einmal: Wer auf der Strecke bleibt, hat
wettbewerbspolitisch Pech gehabt. Deshalb ist der Antrag nicht so toll, wie Sie ihn hier beschreiben wollen,
Kollege Otto.
({4})
Zu dem Antrag der Linken. Auch hier lautet wieder
einmal klassisch das Motto: Freibier für alle und die
Wirtschaft soll dafür zahlen. Aber wenn die Wirtschaft
dafür zahlt, müssen es am Ende die Kunden bezahlen.
Das ist nun einmal so. Das kann nicht unser Ziel sein.
Außerdem würden die Unternehmen sicherlich dagegen
klagen. Das würde aus unserer Sicht den Ausbau eher
verzögern, als ihn zu beschleunigen.
Was steht in unserem Antrag? Wir fordern ein schlüssiges Gesamtkonzept.
({5})
Wir brauchen erstens eine Datenbasis mit den genauen
Informationen, wo das schnelle Internet in Deutschland
noch fehlt. Dann können die Unternehmen systematisch
in diesen Regionen investieren. Der Breitbandatlas
reicht nicht aus; das wurde schon angesprochen.
Wir brauchen zweitens eine gemeinsame Plattform,
die über die möglichen Fördermittel endlich Transparenz schafft; denn heute ist sehr unübersichtlich, wer
welches Geld bereitstellt. Dann können die Gemeinden
die Mittel nutzen.
Drittens brauchen wir eine neue Strategie zum Einsatz
von Geldern. Geld ist vorhanden. Herr Tiefensee hat
13 Milliarden für den Ausbau von Infrastruktur zur
Verfügung. Wir müssen davon Mittel von der Straße auf
die schnelle Datenautobahn umschichten.
({6})
Dann kommen die Daten endlich zu den Menschen und
nicht umgekehrt.
Wir setzen in unserem Antrag eine Frist: Wenn bis
zum Jahr 2009 nicht alle Haushalte ans schnelle Internet
angeschlossen sind, dann muss man auf EU-Ebene eine
gesetzliche Verpflichtung angehen. Das wurde schon
angesprochen.
Wir müssen außerdem dafür sorgen, dass die gesetzliche Verpflichtung nicht zu starr ausgestaltet wird. Denn
es muss unbedingt verhindert werden, dass es wieder automatisch so ist, dass der Monopolist den Ausbau der
Breitbandinfrastruktur übernimmt. Das würde unserer
Meinung nach mit Sicherheit auch die Kosten in die
Höhe treiben. Stattdessen setzen wir in dieser Frage zunächst einmal auf den Wettbewerb. Es sollten sich viele
Unternehmen um den Ausbau der Infrastruktur bewerben können. Dadurch könnten die Kosten gesenkt und
die für die jeweilige Region beste Lösung befördert werden.
({7})
Die bisherige Debatte hat deutlich gemacht, dass wir
uns im Ziel eigentlich einig sind. Wie meine Argumente
belegen, könnten wir die weißen Flecken mit einem guten Konzept wirklich zügig beseitigen und dadurch die
digitale Spaltung in Deutschland endlich stoppen. Erst
wenn wir das erreicht haben, hat Deutschland die nötige
Basis für eine Wissens- und Informationsgesellschaft
geschaffen.
Danke schön.
({8})
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär
Hartmut Schauerte.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das
Thema, über das wir gerade diskutieren, ist interessant.
Wir alle beschäftigen uns damit. Wir überholen uns in
unseren Bemühungen gerade gegenseitig, und das gewissermaßen in Breitbandgeschwindigkeit. Lassen Sie
mich für die Bundesregierung einige ganz konkrete
Punkte vortragen, an denen wir derzeit arbeiten und die
deutlich machen, wie flott wir bei diesem Thema vorankommen können.
Zunächst einmal möchte ich sagen: Wir sind gar nicht
so schlecht aufgestellt. Allein im letzten Jahr wurden in
Deutschland 5 Millionen neue Breitbandanschlüsse bereitgestellt. Bei einem Vergleich der fünf größten EULänder liegt Deutschland hinsichtlich der DSL-Penetration auf dem ersten Platz und hinsichtlich der Gesamtpenetration auf dem zweiten Platz. In den letzten zwei Jahren kam es in Deutschland zu den größten Zuwächsen
unter allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Es
ist also etwas passiert.
Trotzdem haben 8 bis 10 Prozent der Haushalte und
der mittelständischen Unternehmen, die in der Fläche
verteilt sind, noch nicht die Möglichkeit, qualitativ befriedigende Breitbanddienste zu nutzen. Deswegen ist
das Thema, über das wir reden, wichtig. Es ist für den
Mittelstand und unter partnerschaftlichen Gesichtspunkten relevant. In diesem Zusammenhang geht es nämlich
auch um die Stichworte Mitwirkung, Rechte und Möglichkeiten der Zivilisation. All das ist von großer Bedeutung.
Es wurde angeregt, wir müssten die Datenlage verbessern. Ja, das stimmt. Der von uns ins Leben gerufene
Breitbandatlas ist zwar eine intelligente Möglichkeit,
unbürokratisch Daten zu sammeln. Das allein reicht aber
nicht aus. Wir können jetzt allerdings besser beschreiben, was zu tun ist. Da wir wissen, dass etwa 10 Prozent
der Fläche Deutschlands noch nicht hinreichend abgedeckt sind, ermitteln wir die Daten aus genau diesen Regionen; die Bundesregierung hat dazu ein sehr ambitioniertes Programm aufgelegt. Dabei arbeiten wir mit den
betroffenen Kommunen zusammen. Die Kommunen
werden uns alle relevanten Daten zur Verfügung stellen,
und wir werden sie ganz präzise sammeln. Ich denke,
dass wir diesen Schritt in einigen Monaten abschließen
können.
({0})
Dann haben wir das geschafft, was übrigens auch die
FDP gefordert hat: Dann haben wir unsere Datenlage so
verbessert, dass wir handeln können.
Wir wollen die Lösung dieses Problems auf technische Weise angehen; in diesem Zusammenhang spielt
übrigens auch die CeBIT eine Rolle, die ich gerade zwei
Tage besucht habe.
({1})
- Ja. Ich bin länger geblieben, weil ich noch etwas zu erledigen hatte. - Wir haben überprüft, welche Möglichkeiten es gibt. Es ist sehr eng und gewissermaßen öffentlich-rechtlich gedacht, bei einer Lösung zu bleiben und
deshalb die Potenziale, die andere Lösungen haben,
nicht zu nutzen.
({2})
Wir haben eine Vielzahl von Best-Practice-Beispielen vorgestellt. Dabei geht es um 24 konkrete Strukturen, die in die verschiedenen Gemeinden passen. Wir sagen ganz klar, wie das funktioniert. Es gibt Lösungen
von 1 bis 6 Megabit. So kann man alle Wünsche, die
nachgefragt werden, erfüllen. Diese Lösungen haben wir
zu erstaunlichen Preisen ermöglicht. Eine Flatrate beispielsweise kostet 15 bis 30 Euro pro Anschluss. Dieser
Preis ist im Vergleich zu den Preisen im DSL-Netz absolut wettbewerbsfähig. Deswegen wäre es töricht, wenn
wir hohe Investitionen in Kauf nehmen würden, obwohl
wir unser Ziel genauso günstig und genauso wirkungsvoll mit den Kommunen erreichen können. Das Gebot
der Stunde ist, nach der besten Lösung zu suchen.
Es gibt Funklösungen, mit denen man für 20 Teilnehmer - das sind Größenordnungen, die auch in entlegenen Gebieten erreicht werden - alles gewährleisten
kann, was man braucht, und das zu Preisen, die mit denen der Telekom absolut vergleichbar sind, in guter Geschwindigkeit, in angemessener Menge und mit hoher
Qualität. Wir denken, dass wir auch in diesem Bereich
Fortschritte erzielen werden, wenn wir mit den Gemeinden intensive Diskussionen führen.
Das ist übrigens ein Thema, das wir wirklich mit den
Gemeinden angehen müssen. Es muss eine subsidiäre
Lösung geben. Nicht der Bund zentral kann sagen, wie
es wo gehen soll.
({3})
Daher fordern wir die Gemeinden zur Zusammenarbeit
auf. Insofern ist der Druck - „Nun kümmert euch darum!“ -, der durch diese Debatte noch einmal erhöht
wird, einfach nur wertvoll. Man muss ja nicht auf ein
Angebot warten. Man kann auch einmal ein Angebot anfordern. Man kann sich auch einmal mit best practice
schlau machen, wie man Angebote anfordern kann und
welche technischen Lösungen infrage kommen.
({4})
So funktioniert ein modernes Gemeinwesen, nicht im
Rahmen einer fest gefügten Struktur, die gerade bei diesem Medium falsch wäre. Wir werden so viele technologische Neuerungen bekommen, an die wir bei unserer
heutigen Beschlussfassung noch gar nicht denken, dass
es falsch, ja geradezu töricht wäre, den technologischen
Prozess auf eine Lösung einzuengen und die Chancen,
die sich bei näherem Hingucken rechts und links auftun,
nicht wahrzunehmen.
Ich will zum Schluss kommen und sagen: Wir sprechen hier über ein Thema, das ernst genommen wird und
sehr schnell einer Lösung zugeführt werden kann. Ich
wäre dankbar, wenn wir bei vielen Problemen, die wir
diskutieren, auf der Zeitschiene so vorankommen könnten wie bei diesem Thema. Dies ist ein Thema, bei dem
ein Ruck durch das Land gehen kann.
({5})
Ich denke, in zwölf Monaten sind wir bei der Schließung
der Lücken, über die wir hier gesprochen haben, ein ganzes Stück weiter. Wir müssen allerdings auch sagen: Es
wird Ecken geben, extreme Lagen, wo wir mit allgemeinen Lösungen nicht weiterkommen. Das wird auch nicht
im Wege der allgemeinen Umlagemethode, im Rahmen
der Daseinsvorsorge gelingen. Auch bei der Daseinsvorsorge - wir haben das bei der Abfalltechnik gelernt gibt es Lösungen, die mit den Netzen nichts zu tun haben, mit denen das Ziel aber erreicht wird.
Ich denke, wir werden eine Anschlussdichte, eine
Versorgung erreichen, die den Anforderungen gerecht
wird. Der Bundeswirtschaftsminister und der Bundeslandwirtschaftsminister arbeiten sehr engagiert an diesem Thema. Es wäre gelacht, wenn wir das Thema nicht
in relativ kurzer Zeit - ich sage noch einmal: binnen
zwölf Monaten - im Wesentlichen gelöst haben.
Herzlichen Dank.
({6})
Das Wort hat der Kollege Martin Zeil von der FDPFraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
glaube, das Entscheidende ist, dass wir uns nicht nur bei
den Zielen einig sind, sondern dass die Menschen und
die Betriebe vor Ort endlich auch die Möglichkeiten erhalten, die sie brauchen, um diese Technologie zu nutzen.
({0})
Herr Kollege Dörmann, Sie waren ja geneigt, sich
über unseren Antrag etwas zu mokieren. Als Angehöriger einer Fraktion, die mittlerweile fast zehn Jahre an der
Regierung ist, wäre ich da nicht so laut; denn Sie haben
die Entwicklung zum Teil verschlafen.
({1})
Das Gleiche gilt natürlich für die Grünen, die die Entwicklung ebenfalls besser hätten erkennen und fördern
können.
Sie haben jetzt Fördermittel bereitgestellt. Bezeichnend ist, dass die Mittel aus dem schönen Titel „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“
kommen. Das zeigt, mit welcher Geisteshaltung die Regierung an dieses ganz entscheidende Thema offensichtlich herangeht und welchen Stellenwert es für sie hat.
({2})
Sie sollten auch einmal innerhalb Ihrer Regierung die
Zahlen klären. Vielleicht sollte die Taskforce erst einmal
den Minister etwas instruieren. Er hat mir nämlich auf
meine Frage vor eineinhalb Jahren geantwortet, bei der
Versorgungsquote, die bei 93 Prozent liege, sollten
98 Prozent erreicht werden. In Ihrem Antrag sprechen
Sie nun davon - das ist schon sehr viel realistischer -,
dass 45 Prozent der Haushalte einen Breitbandzugang
haben.
({3})
Es wäre also sehr wichtig, dass Sie erst einmal selber
den Stand der Entwicklung kennen.
({4})
Wir brauchen keinen veralteten Breitbandatlas. Wir
brauchen kein DSL light. Das sind ja gerade die unterversorgten Gebiete.
Was wir brauchen, ist erstens ein technologieoffener
Ansatz; denn Breitband ist nicht nur DSL, sondern dazu
zählen auch - wie wir gerade gehört haben - andere
Technologien. Zweitens müssen wir sehen, dass es im
Hinblick auf den Abbau der regionalen Unterschiede
kein Patentrezept gibt.
Herr Kollege Zeil, erlauben Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Schauerte?
Ja, selbstverständlich.
Herr Kollege Zeil, Sie haben gerade eine Überprüfung der Zahlen angemahnt. Ist Ihnen bewusst, dass
diese beiden Zahlen wie folgt zustande kommen? Die
45 oder 50 Prozent - diese Zahl ist sehr dynamisch - beziehen sich auf die angeschlossenen Haushalte, die den
Internetzugang tatsächlich nutzen, die 93 Prozent auf
Haushalte, die ihn nutzen können, von dieser Möglichkeit aber noch teilweise keinen Gebrauch machen. Das
ist die Differenz, die sich auch nicht bestreiten lässt. Das
muss klargestellt werden.
({0})
Herr Kollege Schauerte, ich zitiere nur aus dem, was
Ihr Minister gesagt hat.
({0})
- Da ist sicher etwas dran.
({1})
Herr Kollege, mir geht es um Folgendes: Sie kommen
wie viele Kollegen und ich im Lande herum - das hoffe
ich jedenfalls - und müssten sich eigentlich fragen, warum das Thema Unterversorgung in solchem Maße an
uns herangetragen wird, wenn die Versorgung und Anschlussmöglichkeit angeblich so gut sind. Ich zitiere Ihren Minister noch einmal: Wir haben eine Durchdringung von 93 Prozent, müssen allerdings zwischen den
herkömmlichen Anschlüssen und der Breitbandversorgung unterscheiden. - Das sagt Ihr Minister.
({2})
Ich wollte auf Folgendes hinaus:
({3})
Sie sollten vielleicht, bevor Sie mit Taskforce und ähnlichen Begriffen neue Erwartungen wecken, in ihrer eigenen Terminologie und in Ihren Aussagen etwas klarer
sein.
({4})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir brauchen hier Wettbewerb auch im Hinblick auf die Technologien. Es hat sich gezeigt, dass wir auf der Ebene der
Länder - nicht so sehr auf Bundesebene - eine Anschubförderung brauchen; wir sollten die Gemeinden und Betriebe mit dem Thema nicht allein lassen. Dies ist ein
klassisches Feld für die Länder. Wir sollten nicht mit der
großen Gießkanne herumgehen, sondern mit Programmen und Initiativen, die auf diesem Gebiet zusammenarbeiten, zum einen eine Informationsgrundlage schaffen
und zum anderen eine entsprechende Förderung in Gang
setzen, allerdings dort, wo man sich damit auskennt,
nämlich in den Ländern.
Angesichts der zahlreichen und ständig wachsenden
Vorteile der modernen Internetkommunikation muss das
bestehende Gefälle zwischen den Ballungsräumen und
den ländlichen Gebieten dringend eingeebnet werden;
die Breitbandkluft muss überwunden werden. Wir brauchen keine weiteren Breitbandkongresse, runden Tische
und Informationsbroschüren. Wir brauchen auch keine
geschönten, sondern verlässliche Daten. Es muss schnell
und konstruktiv in Zusammenarbeit von Bund, Ländern
und Gemeinden gehandelt werden. Nur dann kommen
wir hier wirklich nach vorne.
({5})
Das Wort hat jetzt der Kollege Gustav Herzog von der
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn ich Sie, Herr Kollege Zeil, so laut klagen höre und
sehe, wie Sie mit dem Finger auf uns zeigen, dann habe
ich fast den Eindruck, die FDP habe das Telefon erfunden und sei uns in der Diskussion meilenweit voraus.
Wenn Sie, Frau Kollegin Zimmermann, uns allen auf
dieser Seite des Hauses unterstellen, wir hätten keine
Ahnung, was vor Ort los ist, dann mache ich Sie darauf
aufmerksam, dass ich in der vergangenen Woche zusammen mit der Kollegin Westrich in Kaiserslautern einen
Breitbandgipfel veranstaltet habe. Statt der 150 angemeldeten Bürgermeister kamen 300; dabei haben wir in
ganz Rheinland-Pfalz nur 156 Gemeinden, die noch
nicht versorgt sind. Ihre Behauptung, wir wüssten nicht,
was los ist, und würden uns nicht darum kümmern, zeigt,
wie weit Sie von der Realität entfernt sind.
({0})
Ich habe gesagt, dass sehr viele zu diesem Gipfel kamen. Dies zeigt erstens: Dieses Thema ist vor Ort ein
brennendes Problem. Zweitens zeigt es: Wir tun gut daran, uns darum zu kümmern.
Ich will aber auch deutlich machen, dass wir nicht in
der digitalen Steinzeit sind. Ich habe mich 1998 gefreut,
als ich einen ISDN-Anschluss mit drei Nummern bekam
und nicht nur telefonieren, sondern gleichzeitig auch ein
Fax empfangen konnte. Das ist gerade einmal zehn Jahre
her. ISDN war damals das Nonplusultra der Telekommunikationsversorgung. Damals nannte man diese Form
der Übertragung „Breitband“.
Jetzt gibt es seit ein paar Jahren DSL. Da sind wir im
Vergleich zu anderen Ländern in der EU ganz gut im
Rennen; der Herr Staatssekretär hat die entsprechenden
Zahlen genannt. Der Wettbewerb funktioniert, Frau
Kollegin Zimmermann. Wir sind im europäischen Vergleich mit Kosten von monatlich etwa 25 Euro für eine
2-MB-Flatrate am günstigsten. In der EU muss man im
Durchschnitt 38 Euro pro Monat dafür ausgeben. In Norwegen muss man dafür mehr als 50 Euro zahlen. Diesen
hohen Preis habe ich mir so erklärt, dass Norwegen zwar
flächenmäßig etwa so groß ist wie die Bundesrepublik,
die Bevölkerung sich jedoch über viele dünnbesiedelte
Gebiete verteilt. Aber auch in Belgien und Dänemark
sind die Kosten für den privaten Anschluss deutlich höher. Bei uns funktioniert also der Wettbewerb. Aber es
gibt Gebiete - dies ist das Thema dieser Debatte -, die
nicht mit Breitbandanschlüssen versorgt sind. Auch die
Menschen dort haben - das wurde hier zu Recht mehrfach gesagt - einen Anspruch auf einen solchen Anschluss. Es ist übrigens die Aufgabe der Kommunalpolitik, für konkrete Lösungen zu sorgen.
Ich will ein ganz banales Beispiel nennen. Mir war
die Bedeutung von Leerrohren noch nie so bewusst wie
bei diesem Thema; denn all diejenigen Gemeinden im
ländlichen Raum, die in den letzten zehn Jahren die Kanalisation, also die Wasserleitung oder sonst etwas, erneuert haben und keine Leerrohre verlegt haben, haben
heute ein kleines Problem. Das Graben eines Kanals
kostet 50 bis 100 Euro pro Meter und das Verlegen eines
Fernmeldekabels 5 bis 10 Euro pro Meter, aber das Verlegen eines simplen Leerrohrs, in das man ganz einfach
ein Glasfaserkabel einziehen kann, kostet 1 bis 2 Euro
pro Meter. Wenn wir die Versorgung mit Breitbandanschlüssen wirklich gewährleisten wollen, dann müssen
wir sagen: Es darf nirgendwo mehr gebaut werden, ohne
dass diese Voraussetzungen geschaffen werden. Gerade
im ländlichen Raum kommt diesbezüglich noch einiges
auf uns zu. Wie soll man etwa dafür sorgen, dass zum
Beispiel Ärzte im ländlichen Raum bleiben - wir werden
dort in den nächsten Jahren eine Unterversorgung bekommen -, wenn sie Probleme haben, entsprechende
Anschlüsse zu erhalten, um die Gesundheitskarte auch
einsetzen zu können?
In Diskussionen mit Kommunalpolitikern habe ich
festgestellt, dass viel Engagement und Fantasie vorhanden sind. In der Gemeinde Breitenbach haben sich mehr
als 200 Bürger dazu entschieden, die Versorgung mit
Breitbandanschlüssen selbst zu organisieren. Sie stehen
kurz vor der Vertragsunterzeichnung. Noch nie waren
die Bürgerversammlungen dort so gut besucht. Die Verbandsgemeinde Kirchheimbolanden hat schon auf eigene Kosten eine sehr detaillierte Untersuchung durchführen lassen. Die wollen jetzt dieses Thema ähnlich wie
die Stadtwerke in Marburg selbst in die Hand nehmen,
also nicht eines der großen Unternehmen bitten, auffordern oder bezahlen.
Im Bereich der IT wird häufig über Kopierschutz geredet. Wenn es gute Beispiele gibt, sollten wir Wettbewerbe durchführen und sagen: Hier gibt es keinen
Kopierschutz. Macht es denen nach, die es gut, richtig,
wirtschaftlich und vor allen Dingen schnell geregelt haben!
({1})
Frau Kollegin Krogmann, Sie haben vorhin aufgezählt, was die Bundesregierung alles schon macht. Ich
glaube, Sie haben übersehen, dass wir Agrarpolitiker
- einige sind ja da - in den Haushalt 10 Millionen Euro
für die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ eingestellt haben. Herr
Kollege Zeil, Sie sollten sich einmal mit Ihren Agrarpolitikern unterhalten, was Entwicklung im ländlichen
Raum bedeutet. Da sind wir die richtige Adresse.
({2})
Das wird nicht abgewertet, sondern es ist unsere originäre Aufgabe, für den ländlichen Raum zu sorgen.
({3})
Wie gut das ankommt, kann ich für das Land Rheinland-Pfalz sagen, das unser Angebot schon sehr konkret
umgesetzt hat und in den nächsten fünf Jahren selbst
10 Millionen Euro zur Verfügung stellen wird. Bei der
Landesregierung wird es einen Beauftragten geben, bei
dem sich alle Interessierten entsprechend informieren
können, was die besten Lösungen sind. Rheinland-Pfalz
wird eine Internetplattform schaffen, auf der die guten
Beispiele präsentiert werden.
Ein paar Sätze noch zu den Anträgen der Opposition.
Auf die Textbausteine, die in einem Antrag der Opposition stehen müssen - die Bundesregierung tut zu wenig
bzw. tut nichts -, möchte ich jetzt nicht eingehen.
Ich muss anerkennen, dass sich die FDP ein Hintertürchen offengehalten hat, nämlich dass, sollten die
marktwirtschaftlichen Lösungen ausgeschöpft sein, über
eine gesetzliche Regelung nachgedacht werden könne.
({4})
Das ist weitsichtig von Ihnen.
Der Antrag der Linken geht an der Realität vorbei. Sie
haben eindrucksvoll ein Beispiel geschildert. Aber ich
muss Ihnen sagen: Es ist nicht so, dass, wenn der Deutsche Bundestag heute ein entsprechendes Gesetz beschließt, die betreffende Person in wenigen Wochen einen Breitbandanschluss hat. So etwas kann nur jemand
sagen, der in einem Land aufgewachsen ist, wo man
glaubte, alles mit Gesetzen regeln zu können.
({5})
Man kann es sich auch nicht so einfach machen, zu
sagen, dass die großen Unternehmen große Gewinne
machen. Schauen Sie sich doch die Situation an: Die Telekom verdient da nicht das große Geld. Bei den Breitbandanschlüssen herrscht ein ultraharter Wettbewerb;
dies bringt das eine oder andere Problem mit sich.
Zu den Grünen. So ganz haben Sie doch nicht bei uns
abgeschrieben; denn ich habe einen Widerspruch bei Ihnen entdeckt - vielleicht können wir den in der Ausschussberatung auflösen -: Sie lehnen Funk ab, fordern
aber, über alternative Lösungen zu informieren. Vielleicht müssen Sie zunächst mit sich selbst ins Reine
kommen.
Der Antrag der Großen Koalition ist eine gute Grundlage für die weitere Beratung. Ich denke, wir werden zu
guten Lösungen kommen. Das erwarten die Menschen
von uns zu Recht.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({6})
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
erteile ich dem Kollegen Klaus Hofbauer von der CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Hier ist bereits eindrucksvoll geschildert
worden, welche Bedeutung die Breitbandversorgung hat.
Haben wir uns beim Ausbau der Infrastruktur unseres
Landes in den letzten Jahren schwerpunktmäßig auf die
Autobahnen konzentriert, müssen wir den Schwerpunkt
jetzt darauf setzen, dass auch die Datenautobahnen entsprechend ausgebaut werden.
({0})
Herr Staatssekretär, Sie haben in eindrucksvoller Art
und Weise dargestellt, was schon geschieht. Ich möchte
der Bundesregierung bestätigen, dass wir bei der Datenautobahn bereits auf der Überholspur sind und weitere
Fortschritte erzielen. Als ich meine Rede konzipiert
habe, bin ich davon ausgegangen, dass wir das Problem
der Breitbandversorgung binnen drei Jahren lösen. Sie
haben mich überholt, Herr Staatssekretär, indem Sie ankündigten, dass dies bereits innerhalb des nächsten Jahres geschieht. Wir werden alles daransetzen, dass die
Breitbandversorgung in den nächsten zwei, drei Jahren
auch in der Fläche gewährleistet ist. Sie ist für den ländlichen Raum von entscheidender Bedeutung. Bisher ist
der ländliche Raum hier benachteiligt. Dies muss behoben werden.
({1})
Nur folgende Punkte - das ist schon gesagt worden -:
Wir brauchen den Wettbewerb der Anbieter. Ich habe
den Eindruck, dass sich auf dem Breitbandmarkt etwas
bewegt, seit das Thema diskutiert wird und verschiedene
Initiativen ergriffen worden sind. Ich glaube, wir können
hier einiges erreichen. Die Anbieter dürfen aber nicht,
auch wenn das bei privaten Anbietern selbstverständlich
ist, den wirtschaftlichen Faktor in den Mittelpunkt stellen. Sie haben auch eine Verantwortung für den ländlichen Raum. Sie tragen Verantwortung für die Erschließung unseres Landes mit Breitbandanschlüssen.
({2})
Ich möchte bei dieser Gelegenheit ausdrücklich sagen, dass entscheidende Impulse von unseren Ministern
Michael Glos und Horst Seehofer ausgegangen sind.
({3})
Sie haben das Thema aufgegriffen und Konzepte und
Strategien entwickelt.
Ich halte es für gut, dass die Breitbandversorgung Bestandteil der Gemeinschaftsaufgabe GAK ist.
({4})
Die vorhandenen Mittel werden nicht reduziert; vielmehr sind die Mittel erhöht worden. Deswegen werden
wir auch zukünftige Möglichkeiten nutzen können. Ich
glaube, dass dies ein Erfolg wird.
Das Bundeswirtschaftsministerium hat ein Pilotprojekt konzipiert, für das sechs Gemeinden ausgewählt
wurden, in denen das Projekt umgesetzt werden soll. Damit sind sehr große Chancen verbunden, weitere Erkenntnisse zu gewinnen.
Eine der Gemeinden liegt Gott sei Dank in meinem
Wahlkreis.
({5})
- Das haben Sie aber zu spät gemeldet. ({6})
Besonders wichtig ist bei diesem Pilotprojekt die Zusammenarbeit der Kommunen. Im ländlichen Raum
kann die Umsetzung nicht separat in der jeweiligen
Kommune erfolgen; vielmehr sind Zusammenschlüsse
notwendig. Ich halte das für den entscheidenden Punkt:
Die Gemeinden müssen zusammenarbeiten, eine gemeinsame Bestandserhebung und eine Ausschreibung
durchführen, in der kein bestimmtes System vorgeschlagen wird, sondern die es den Anbietern ermöglicht,
eigene Innovationen einzubringen. Ich bin überzeugt,
dass wir damit etwas für den ländlichen Raum erreichen.
Lassen Sie mich zusammenfassen: Unser gemeinsames Ziel muss erstens darin bestehen, die ländlichen
Räume in einem überschaubaren Zeitraum - ich sage es
jetzt einfach so, Herr Staatssekretär: in den nächsten
zwei, drei Jahren - flächendeckend zu versorgen.
({7})
- Warten wir ab, was dazu im Protokoll steht.
({8})
- Dann einigen wir uns auf ein Jahr. Ich bin sehr optimistisch. Wer hätte vor einem halben Jahr oder Dreivierteljahr geglaubt, dass wir so weit kommen würden?
({9})
Zweitens sind der Wettbewerb der Anbieter und das
Verantwortungsbewusstsein für den ländlichen Raum
notwendig.
Drittens möchte ich ausdrücklich die Kommunen in
die Pflicht nehmen. Wir brauchen gemeindeübergreifende Konzepte. Alleine wird eine Kommune nicht zurechtkommen.
Viertens sollten wir uns auch bewusst sein, dass die
vorhandenen finanziellen Mittel nicht ausreichen. Insofern müssen wir den Schwerpunkt auch auf die Finanzen
setzen.
Abschließend stelle ich fest, dass wir auf einem guten
Weg sind.
Herzlichen Dank.
({10})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 16/8381, 16/7862, 16/8195, 16/8372
und 16/8374 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstan-
den? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so
beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 24 a bis 24 d auf:
24 a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Dr. Dagmar Enkelmann, Ulrich Maurer, Hüseyin-
Kenan Aydin, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE
Zum Stand der Deutschen Einheit und der
perspektivischen Entwicklung bis zum Jahr
- Drucksachen 16/3581, 16/5418 -
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Dagmar Enkelmann, Dr. Gesine Lötzsch,
Roland Claus, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE
Erhöhung von Transparenz und Zielgenauigkeit des Mitteleinsatzes für die ostdeutschen
Bundesländer
- Drucksache 16/7567 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({0})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Petra
Sitte, Dr. Gesine Lötzsch, Roland Claus, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Errichtung einer Großforschungseinrichtung
in den neuen Ländern
- Drucksache 16/5817 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ältestenrates zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gesine Lötzsch, Roland Claus,
Dr. Dietmar Bartsch und der Fraktion DIE
LINKE
Einsetzung eines Ausschusses des Deutschen
Bundestages für die Angelegenheiten der
neuen Länder und für andere strukturschwache Regionen
- Drucksachen 16/130, 16/1220 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Manfred Grund
Zu der Großen Anfrage der Fraktion Die Linke liegt
ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. Gibt es Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Dr. Gregor Gysi von der Fraktion Die Linke das
Wort.
({2})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage
meiner Fraktion macht eine Art Ostblindheit und Desinteresse deutlich, was auch im Bundestag immer wieder
zu spüren ist. Ich glaube aber, dass wir uns das in keiner
Hinsicht leisten können.
({0})
Bei der Vereinigung gab es eine Schwierigkeit, unter
der wir noch heute leiden. Es war nämlich keine Vereinigung, sondern ein Beitritt. Das hat Folgen. Es wurde immer nur darüber nachgedacht, welche Folgen das im
Osten hat, ob es dort damals vielleicht an Selbstbewusstsein mangelte. Das stimmt, das hatte auch etwas damit
zu tun. Aber das Entscheidende war eine Folge im Westen. Da man sich nichts vom Osten abgeschaut hat, da
man nicht bereit war, einige Strukturen aus dem Osten
im Westen einzuführen, gab es im Zusammenhang mit
der Einheit für keinen Menschen in Passau, Kiel oder
Frankfurt am Main eine Steigerung der Lebensqualität.
Sie haben ein Glas Wein oder ein Glas Sekt getrunken,
haben sich gefreut, und seitdem erleben sie, dass es mit
ihnen sozial bergab geht und der Osten sich trotz hoher
Transferleistungen nicht selbst finanzieren und nicht auf
eigenen Füßen stehen kann. Aus ihrer Sicht nörgeln die
Ossis herum und wählen komisch. Das ist ihre Einstellung. Dann gibt es noch einzelne Kandidaten, insbesondere aus der Union, die versuchen, auf dieser Schiene
Wahlkampf zu machen. Aber das funktioniert nicht.
Jetzt entdeckt Frau von der Leyen, dass an der Krippenstruktur im Osten vielleicht doch etwas dran war.
Jetzt sagt man, dass die Öffnungszeiten der Kindertagesstätten vielleicht gar nicht so schlecht waren. Jetzt erkennt man, dass man die eine oder andere Struktur in
den Schulen vielleicht hätte übernehmen können, zum
Beispiel die stellvertretende Direktorin oder den stellvertretenden Direktor für außerunterrichtliche Tätigkeiten
an jeder Schule. Man hätte das ja anders organisieren
können. Aber jemanden zu haben, der außerunterrichtliche Tätigkeiten anbietet und dafür verantwortlich ist,
musste doch nicht falsch sein. Herr Althaus - Mitglied
der CDU - war dafür zum Beispiel in Thüringen zuständig. Er wird deswegen doch nicht plötzlich sein ganzes
Leben bereuen.
({1})
Man hat im Westen keine Strukturen aus dem Osten
übernommen, und das hat von Bayern bis SchleswigHolstein bis heute psychologische Folgen. Ich rede jetzt
gar nicht über die Folgen im Osten, sondern über die im
Westen. Diese beschäftigen uns nach wie vor.
({2})
Es gibt eine Standortmarketingagentur namens Invest
in Germany, die jährlich 19 Millionen Euro Bundesmittel bekommt und mit folgender Aussage für den Osten
wirbt - ich zitiere wörtlich -:
In Ostdeutschland profitieren Investoren von Löhnen, die 30 Prozent unter westeuropäischem Standard liegen, und von einem niedrigen gewerkschaftlichen Organisationsgrad.
Aufsichtsratsvorsitzender dieses Unternehmens ist Herr
Bundeswirtschaftsminister Michael Glos. Das sagt wohl
alles. Diese Art von Werbung für Ostdeutschland wollen
wir nicht.
({3})
Es werden hier im Bundestag oft Gesetze beschlossen, bei denen man sich gar nicht überlegt, welche Folgen sie für strukturschwache Regionen im Westen, vor
allen Dingen aber für den strukturschwachen Osten
haben. Oft sind die Folgen dort viel negativer als woanders. Ich werde Ihnen Beispiele dafür nennen.
Es gibt in Deutschland Aufstockerinnen und Aufstocker; das ist übrigens ein Skandal. Das sind Leute, die
so wenig verdienen, dass sie zusätzlich ALG II benötigen, um das Existenzminimum zu erreichen. Die Union
sagt jetzt, sie sei für Kombilöhne. Ich möchte gerne einmal wissen, wo das Ganze enden soll. Der Unternehmer
zahlt dann 1 Euro pro Stunde, und den Rest zahlen die
Steuerzahlerinnen und Steuerzahler. Wo leben wir denn
eigentlich? Anständige Arbeit muss auch anständig bezahlt werden. Ich kann solche Überlegungen gar nicht
nachvollziehen.
({4})
Allein im Osten sind 30 Prozent der geringfügig Beschäftigten Aufstockerinnen und Aufstocker.
Ich nenne außerdem das Beispiel Elterngeld. Diesbezüglich habe ich einen deutlichen Kritikpunkt im Hinblick auf Frau von der Leyen. Warum? - Sie hat auf der
einen Seite das Elterngeld auf bis zu 1 850 Euro erhöht,
damit auch Besserverdienende mehr Elterngeld bekommen, aber gleichzeitig die Bezugsdauer von zwei Jahren
auf ein Jahr gekürzt. Das betrifft insbesondere diejenigen, die den geringsten Elterngeldbetrag in Höhe von
ungefähr 300 Euro bekommen, wozu der größte Anteil
der Bezieherinnen und Bezieher gehört. Wenn die Männer - oder auch einmal die Frauen - noch zwei Monate
übernehmen, sind es 14 statt zwölf Monate. Das ist übrigens eine gute Idee; diesbezüglich bewegt sich auch etwas in der Gesellschaft.
Ich sage Ihnen aber, was das im Kern bedeutet: Es ist
eine direkte Umverteilung. Um den Besserverdienenden
mehr Geld geben zu können, kürzt man die Bezugsdauer
um ein Jahr. Genau das ist auch im Osten geschehen:
Der Leistungsbezug für die Ärmeren in der Gesellschaft
ist um zwölf, mindestens aber um zehn Monate gekürzt
worden, damit die Reicheren mehr Geld bekommen können.
({5})
Das ist nicht hinnehmbar; aber das wurde von der SPD
und der Union beschlossen.
Es gibt ein weiteres Problem. Ich weiß um die hohen
Transferleistungen. Dafür muss man sich auch einmal
dankbar zeigen, weil diese finanziellen Mittel eine Art
Solidarleistung der Gesellschaft sind, um den Osten voranzubringen.
({6})
- Ich habe es doch gerade gemacht. - Aber es gibt ein
großes Fragezeichen dahinter; denn bei allen Bundesfördermitteln ist der Anteil für den Osten extrem niedrig.
Jetzt müssten wir das gegenrechnen. Muss das sein? Was
soll das Ganze? Ich nenne Ihnen zwei Beispiele.
Erstes Beispiel. Der Osten stellt 20 Prozent der Bevölkerung, bekommt aber nie 20 Prozent der Bundesfördermittel. Von den 1,2 Milliarden Euro für die Exzellenzinitiative für die Forschung bekommt der Osten nicht
20 Prozent, sondern nur 4 Prozent. Jetzt könnte man sagen, den Rest müsse der Osten aus den Transferleistungen bestreiten. Aber dann stimmte die ganze Rechnung
nicht mehr, weil man das sofort gegenrechnen müsste.
Das gilt auch für die Förderung der Energieforschung.
Hier bekommt der Osten nur 10 Prozent, obwohl ihm
theoretisch 20 Prozent zustünden.
Welche Folgen hat das? Wenn die Mittel so gering
sind, kann man keine Forschungseinrichtungen bezahlen. Dann entstehen im Osten keine Unternehmen und
keine Wirtschaftstätigkeit. Dann wird die Arbeitslosigkeit nicht abgebaut. Das bringt so nichts. Wir brauchen
bei den Fördermitteln des Bundes eine gerechte Verteilung in der Bundesrepublik Deutschland, und zwar gerade im Hinblick auf die strukturschwachen Regionen.
({7})
Wenn ich die strukturschwachen Regionen anspreche,
dann meine ich - das ist neu; die Debatte wird heutzutage anders geführt - nicht nur den Osten, sondern auch
strukturschwache Regionen in Nordrhein-Westfalen und
anderen westlichen Bundesländern, die genauso gefördert werden müssen wie der Osten. Das müssen wir hinbekommen.
Zweites Beispiel. Wir im Osten bekommen nicht etwa
20 Prozent, sondern gerade einmal 2 Prozent der Fördermittel für den Austausch von Studenten und Wissenschaftlern. Der Osten wird also an den Bundesmitteln
ständig unterdurchschnittlich beteiligt.
Im Osten gibt es zudem keinen Aufschwung. Die
durchschnittliche Arbeitslosenquote im Osten liegt bei
14,8 Prozent. Das ist mehr als doppelt so hoch wie in
den alten Bundesländern, wo sie 7 Prozent beträgt. Laut
der Welt vom 21. November 2005 gibt es im Osten
15 Unternehmen, die Umsatzmilliardäre sind, aber in
den alten Bundesländern 500. In der DDR gab es fast
100 Großbetriebe mit mehr als 10 000 Beschäftigten.
Heute gibt es im Osten lediglich zwei Unternehmen mit
einer solchen Anzahl von Beschäftigten. 20 Prozent
mehr Frauen als Männer verlassen den Osten und gehen
in die alten Bundesländer, um eine Ausbildungschance
zu haben. Das hat unter anderem die demografischen
Probleme zur Folge, die wir alle kennen.
Wir fordern die Angleichung der Löhne und Gehälter
sowie der Renten.
({8})
Im Jahre 18 der deutschen Einheit wird noch immer so
getan, als müssten die Unterschiede bei den Löhnen und
Gehältern noch 20 Jahre fortbestehen. Gleicher Lohn für
gleiche Arbeit, gleiche Rente für gleiche Lebensleistung,
das muss doch endlich zu einer Selbstverständlichkeit
werden.
({9})
Herr Kollege Gysi!
Herr Präsident, ich will nur noch einen Satz sagen.
Herr Bundesminister Tiefensee, Sie sind für den Osten
zuständig. Aber wie arbeiten Sie eigentlich mit dem Parlament zusammen? Es gibt ja gar keinen entsprechenden
Ausschuss. Wollen Sie im Verkehrsausschuss über den
Osten reden? Wir brauchen im Bundestag dringend einen Ausschuss für die neuen Bundesländer und alle anderen strukturschwachen Regionen in Deutschland. Ich
bitte Sie, einen solchen Ausschuss einzurichten.
({0})
Das Wort hat der Kollege Manfred Grund von der
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Durch die Große Anfrage und den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke ziehen sich wie ein
roter Faden die Fragen: Wann hat Ostdeutschland Westniveau erreicht? Wann haben wir gleiche Lebensverhältnisse? Am Westniveau wird alles gemessen. Genau das
hat mein Vorredner getan. Wer aber den Westen, der in
sich schon lange nicht mehr einheitlich ist, zum alleinigen Maßstab für die Entwicklung macht und nicht das
Ausgangsniveau sieht, verliert das bisher Geleistete und
Erreichte aus den Augen.
({0})
Die heutige Situation in den neuen Bundesländern
ließe sich nicht zutreffend beschreiben - darauf wurde in
der Antwort auf die Große Anfrage hingewiesen -, wenn
man den faktischen Staatsbankrott als Ausgangslage in
den neuen Bundesländern nicht berücksichtigte.
({1})
Die DDR war 1989 nicht nur politisch, sondern auch
wirtschaftlich gescheitert. Sie war faktisch bankrott. Die
Umwelt war ruiniert. Wir haben bisher 9 Milliarden
Euro allein für die Sanierung der Umweltlasten bei der
Wismut aufgewandt und müssen fortwährend Geld aufwenden, um die Hinterlassenschaften zumindest teilweise zu beseitigen.
({2})
1988 hat der damalige Vorsitzende der staatlichen
Plankommission der DDR, Gerhard Schürer, in einem
geheim gehaltenen Bericht an das Zentralkomitee empfohlen, den Lebensstandard der DDR-Bürger sofort zu
reduzieren und zu investieren. Ansonsten wäre der
Bankrott des Staates nicht aufzuhalten gewesen. Das war
damals bekannt, und das ist die Ausgangslage gewesen.
Der Sozialismus in den Farben der DDR war gescheitert.
Die Folgen dieses Scheiterns haben wir noch heute zu
bewältigen. Dieses Scheitern hat aber auch zu einer
großartigen nationalen Solidarität geführt hat. Aufgrund
dieser Solidarität werden jedes Jahr 4 Prozent des Bruttosozialproduktes als Transferleistungen von West nach
Ost gelenkt. Das ist Geld, das auch im Westen nicht auf
der Straße liegt, sondern dort für Investitionen gebraucht
würde. Das ist die tatsächliche Situation, in der wir sind in der wir dankenswerterweise sind.
({3})
Es bleiben einige Baustellen. Auf einige will ich eingehen. In der Antwort auf die Große Anfrage wird die
Einkommenslage in den neuen Bundesländern dargestellt. Danach - die Werte, die mir vorliegen und die in
der Antwort angegeben sind, sind von 2003; alle fünf
Jahre wird eine Erhebung durchgeführt - liegen die Nettoeinkommen der Haushalte in den neuen Bundesländer
bei 77 Prozent der Nettoeinkommen der Haushalte in
den alten Bundesländern. Weit besser ist die Situation in
den Rentnerhaushalten der neuen Länder. Deren Einkommen lagen bei 85 Prozent der Einkommen der Rentnerhaushalte im Westen. Das heißt, die Rentnerhaushalte
in den neuen Bundesländern haben prozentual stärker
aufgeholt als die Arbeitnehmerhaushalte. Dass wir diesen Stand überhaupt haben erreichen können, hat wiederum mit Transferleistungen in der Rentenversicherung
zu tun.
({4})
Nun weiß ich aus Briefen, Gesprächen und Telefonaten,
dass die gefühlte Situation der Rentner eine andere ist.
Rentner fühlen sich schlechter gestellt, als es nach diesen Werten tatsächlich der Fall ist. Das hat viel mit der
Stagnation der Renten in den Jahren 2003, 2004 und
2005 zu tun. Es gibt auch Inflationssorgen; die gibt es in
Ost wie in West. Kritisiert werden die unterschiedlichen
Entgeltpunkte und Renteneckwerte bei auch im Osten
steigenden Lebenshaltungskosten. Nicht zuletzt gibt es
auch die Sorge vor Altersarmut. Die Sorge der aktuellen
Rentnergeneration vor Altersarmut mag unbegründet
sein. Bei all denen, die danach mit unterbrochenen Erwerbsbiografien in das Rentenalter kommen, ist das tatsächlich ein Problem. In der Systematik der gesetzlichen
Rentenversicherung ist dieses Problem nicht aufzulösen.
Die Lösung kann nur darin liegen, dass durch Ermöglichung eines wirtschaftlichen Aufschwungs Produktivitätsgewinne zu zusätzlichen Arbeitsplätzen auch in den
neuen Bundesländern führen und dass die Löhne steigen,
sodass sich die Rentensituation verbessert. Denn in unserer dynamisch angelegten Rentenversicherung folgen
die Renten den Löhnen.
Die Nettovermögen - nicht die Einkommen - der ostdeutschen Haushalte lagen 1993 bei nominal 40 Prozent
der Immobilien- und Geldvermögen der Haushalte der
alten Bundesländer. Das bedeutet seit 1993 ein Aufholen
um 63 Prozent. Das ist ein bemerkenswerter Aufholprozess. Das heißt aber auch, dass eine Angleichung der
Einkommens- und Vermögenssituation noch Jahre in
Anspruch nehmen wird. Das ist für die Menschen in den
neuen Bundesländern bedauerlich. Man kann das aber
nicht der Bundesregierung zum Vorwurf machen. Man
kann einen Vorwurf, wenn überhaupt, nur an die sozialistische Wirtschaftsordnung richten, die es geschafft
hat, in 40 Jahren ein blühendes Mitteldeutschland und
die Menschen dort zu ruinieren.
({5})
Ich will auf einige Punkte eingehen, die auch in der
Rede des Kollegen Gysi angesprochen worden sind: die
Linkspartei als Kümmererpartei, als Sozialpartei, als
Partei für die kleinen Leute.
({6})
- Ich komme gleich zu Thüringen.
({7})
Die Linke regiert in Berlin, sie regiert in MecklenburgVorpommern.
({8})
- Die PDS regierte in Mecklenburg-Vorpommern. - Sie
tolerierte in Sachsen-Anhalt. Am Ende der Tolerierung
in Sachsen-Anhalt hatte Sachsen-Anhalt die höchste Arbeitslosenquote in ganz Deutschland.
({9})
Am Ende von Rot-Rot in Mecklenburg-Vorpommern
war die Zahl der Sozialhilfeempfänger um 34 Prozent
gestiegen. Rot-Rot in Berlin bedeutet für jedes dritte
Kind dort Armut. Nicht zufällig hat die Linke bei der
letzten Abgeordnetenhauswahl nur noch halb so viele
Stimmen wie zuvor bekommen, und es hat sich eine
WASG gebildet, die ihre unsoziale Politik in Berlin bekämpft.
({10})
In Berlin betreibt die Linke eine Politik gegen junge
Leute, gegen Kinder, gegen sozial Schwache. Nirgendwo sind soziale Leistungen derart zusammengestrichen worden wie in Berlin.
({11})
Herr Präsident, ich möchte noch einen Gedanken äußern. In einer Ihrer Feststellungen zur Großen Anfrage
kommt die Linke zu dem Ergebnis, dass Verwaltungsreformen, Kommunalreformen größeren Einheiten überhaupt
nichts, auch keine Einsparungen, bringen. Da frage ich
mich, wieso die Linke in Thüringen vier oder fünf Großkreise fordert, Einheitsgemeinden mit 5 000 Menschen,
und gleichzeitig unterstellt, man könnte so 200 Millionen Euro im Jahr einsparen.
({12})
Sie predigen Wein, und wenn sie an der Regierung
sind, dann servieren sie den Leuten Wasser. Sie müssen
langsam etwas mehr Ehrlichkeit bei sich einziehen lassen. Wenn wir Ihren Forderungen, die auch hier zur
Sprache gekommen sind, Folge leisten würden, würde
das direkt zum nächsten Staatsbankrott führen. Da wir
noch an den Lasten des Alten zu tragen haben, können
wir hier weder Ihren Forderungen Folge leisten noch Ihrem Antrag zustimmen.
({13})
Das Wort hat der Kollege Joachim Günther von der
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich finde es gut, dass wir außerhalb des Jahresberichts über die deutsche Einheit diskutieren. Weniger
amüsant finde ich das, was dieser Diskussion zugrunde
liegt: eine, wenn ich so sagen darf, veraltete Antwort der
Bundesregierung - auf Inhalte möchte ich später eingehen - und ein Antrag der Linken - Herr Gysi, Sie haben
ihn nur gestriffen -, der etwas voraussetzt, was dem
Schlaraffenland ganz nahe kommt. So etwas ist unrealistisch.
({0})
Bevor ich auf einige Punkte eingehe, möchte ich voranstellen, wo ich den Osten sehe. Sie haben gerade ausgeführt, im Osten gehe es seit 1990 sozial nur bergab.
Sie müssen Republikflucht begangen haben, wenn Sie
nicht erlebt haben, was im Osten seit 1990 geschehen ist.
Wir haben seit der Wiedervereinigung dank der Hilfe des
Vaterlandes einen Aufschwung erlebt und einen Riesensprung nach vorn getan. Wir haben aus menschenunwürdigen Wohnungen - ich weiß nicht, ob Sie noch daran
denken, wie Sie damals gehandelt haben, Stichwort
„Ruinen schaffen ohne Waffen“ - lebenswerte Unterkünfte geschaffen. Die Städte haben wieder Farbe und
die Autobahnen sind wieder befahrbar. All das muss hier
Joachim Günther ({1})
zumindest einmal erwähnt werden, ehe man über andere
Dinge spricht.
({2})
Ihr Entschließungsantrag ist für mich Miesmacherei.
Wer ihn liest, der muss denken: Seit 1990 ist nichts geschehen. Wir haben heute die Freiheit, in diesem Parlament über Dinge zu diskutieren, über die man früher
nicht diskutieren konnte. Daher bin ich froh, dass wir
zum Beispiel über die Antwort der Bundesregierung auf
diese Große Anfrage diskutieren können. Auch das will
ich nicht unerwähnt lassen. Sie hat auf die Große Anfrage eine ausführliche Antwort auf 75 Seiten plus Anlagen gegeben. Das ist eine Fleißarbeit.
({3})
Jetzt kommt das Aber: Manche Antworten sind peinlich
und realitätsfern. Das muss ich ganz deutlich sagen.
Nehmen wir das Thema Investitionszulage. Es handelt sich um einen der Punkte, um die sich im Endeffekt
alles dreht. Da geht es um Arbeitsplätze, um Standortfragen, um Mittelstandsförderung. Eine Ihrer Antworten
müsste eigentlich jeden Steuerzahler zur Weißglut treiben. Auf die Frage „Wie verteilen sich die an die neuen
Länder vergebenen Fördermittel auf die Größenklassen
der Unternehmen?“ haben Sie geantwortet: „Hierzu liegen keine Angaben vor.“
({4})
So eine Antwort ist aus meiner Sicht geprägt von dem
Unwillen, eine Frage angemessen zu beantworten, oder,
was noch schlimmer wäre, von der Unfähigkeit der Bundesregierung. Die will ich Ihnen eigentlich nicht unterstellen.
({5})
Eines ist Fakt: Für jeden Fördermittelbescheid muss
es einen konkreten Antrag geben, und man hat eine Abrechnung, aus der hervorgeht, wer das Geld erhalten hat.
Eine Bundesregierung, die nicht weiß, wer welche Steuergelder erhalten hat, kann das Geld gleich mit der
Schaufel zum Fenster hinauswerfen.
({6})
Eine zweite Frage in dieser Großen Anfrage: „Welche
sind nach Ansicht der Bundesregierung die im jüngsten
Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit erwähnten Regionen im Niedergang?“ Man kann natürlich fragen, ob diese Frage geschickt gestellt ist. Die Antwort
lautet:
Im Jahresbericht … zum Stand der Deutschen Einheit … wird an keiner Stelle von Regionen im Niedergang gesprochen.
Das ist Wortklauberei; denn der Bericht befasst sich
mit Regionen, in denen es eine hohe Arbeitslosigkeit
und eine hohe Abwanderung gibt und in denen noch Infrastruktur fehlt. Es sind die Regionen gemeint, die im
Endeffekt im Niedergang stehen. Eigentlich erwarte ich
von der Bundesregierung eine Antwort auf folgende Fragen: Wie soll es dort weitergehen? Das wollen die Menschen vor Ort wissen! Sie wollen nicht pauschal hören,
dass die Bundesregierung keine Antwort hat.
({7})
In der Brandenburger Presse war vor zwei oder drei
Monaten zu lesen - vielleicht hat das jemand verfolgt -:
Die Randgebiete werden eh entvölkert, alle ziehen in die
Städte, dann wird aus der Region ein bisschen Urwald,
und dann kommen die Touristen. - Das ist nicht mein
Motto für diese Regionen im Osten Deutschlands.
({8})
Ich erwarte von Ihnen, dass Sie sich in Bezug auf
diese Fragen einmal die Zeit nehmen und den Aufwand
treiben, nachzuforschen, welche Förderprogramme welche Wirkung haben und ob das Geld sinnvoll angelegt
ist. Ich erwarte von Ihnen, dass Sie sich fragen, ob kleine
Betriebe aufgrund der Bürokratie überhaupt in der Lage
sind, diese Förderprogramme anzunehmen und umzusetzen. Das interessiert die Menschen vor Ort.
Neben den peinlichen Antworten, wie ich sie genannt
habe, gibt es ein paar Formulierungen, die man als Politiker meiner Meinung nach bei der Beantwortung unterlassen sollte. Schauen Sie sich einmal die Tabelle über
die Haushaltseinkommen der Bürger im Osten Deutschlands genauer an sowie den Satz, der darunter steht: Die
Nettoeinkommen sind zwischen 1998 und 2003 um
10 Prozent gestiegen. - Herr Tiefensee, gehen Sie einmal durch Leipzig! Fragen Sie ein paar Leute, wer davon
betroffen ist! Wenn das in der Statistik so ist, dann habe
ich mit dem, was Sie hier aufgeschrieben haben, ein echtes Problem.
({9})
Zur Rente möchte ich auch etwas sagen; das hat mein
Vorredner, Herr Kollege Grund, bereits getan. Hier
möchte ich voranstellen - das ist Soziales, Herr Gysi -:
Die Rentner im Osten Deutschlands haben deutlich
mehr, als sie von der SED und ihrer Nachfolgepartei jemals erhalten hätten. Das ist der gravierende Unterschied.
({10})
Die Familien im Osten, in denen die Frauen ein Leben
lang mit gearbeitet haben, erhalten - auch das gehört zur
Realität - zum Teil höhere Rentenbezüge als in den alten
Bundesländern.
(Frank Spieth ({11}): Aber die, die arbeitslos sind, haben deutlich weniger!
Man kann diese Zahl natürlich in eine Statistik aufnehmen - sie sieht toll aus -, aber muss doch fragen: Und
was nun? Das fehlt mir hier wieder. Sie haben diese Zahl
einfach aufgeschrieben, haben aber nicht weitergedacht:
Was ist jetzt im Osten?
Joachim Günther ({12})
Wir haben im Osten eine extrem hohe Arbeitslosigkeit.
Wir haben im Osten viele Kurzarbeiter, viele 1-Euro- und
400-Euro-Jobs. Alle, die seit der Wende in diesem Bereich gelandet sind, werden im nächsten Jahrzehnt in die
Rente gehen und nur eine extrem unterdurchschnittliche
Rente erhalten. Viele werden in den ALG-II-Bezug
fallen und somit im Endeffekt durch die Kommunen finanziert werden müssen. Das ist der Kreislauf: schrumpfende Bevölkerungszahlen, geringere kommunale Einnahmen. Und die Kommunen sollen das dann noch
zusätzlich bezahlen! - Das sind die Fragen der Zukunft!
Hierauf muss eine Antwort gegeben werden. Lapidare
Antworten auf solch wichtige Fragen reichen nicht.
({13})
Ich könnte das Thema der medizinischen Versorgung
und anderes ansprechen. Aufgrund der fortgeschrittenen
Zeit möchte ich aber nur noch auf die Großforschungseinrichtungen eingehen - ein Thema, das seit Jahren die
Runde macht. „Europäische Spallations-Neutronenquelle“ habe ich mir aufgeschrieben, weil sie seit langem
diskutiert wird, aber nie irgendwo zum Einsatz gekommen ist. Wir haben gefordert, dass eine solche Großforschungseinrichtung in den Osten kommt.
({14})
Nichts ist geschehen. Es ist abgelehnt worden. Es wäre
aber wichtig für Mitteldeutschland, eine solche Einrichtung zu haben, damit die Forschung wieder einen höheren Rang bekommt.
Wir alle sagen: In den Osten müssen Forschungseinrichtungen. - Aber über Jahre immer das Gleiche: viele
Versprechungen, aber kein Ergebnis. Auch hier erwarte
ich ein Handeln. Auch hier erwarte ich von Ihnen, Herr
Minister, eine Antwort auf die Frage, wie es weitergehen
soll.
({15})
Lassen Sie mich zusammenfassen: Wir haben mit
enormen finanziellen Mitteln in den neuen Bundesländern viel erreicht. Auf vieles können wir stolz sein. Vieles haben die Menschen dort selbst geschaffen. Tatsachen sind aber auch: Die Arbeitslosigkeit ist nahezu
doppelt so hoch wie im Westen. Die Einkommen sind
geringer. Es gibt Probleme bei der Gesundheitsversorgung. Wir müssen dafür sorgen, dass es nicht zu einer
Entvölkerung ganzer Regionen kommt. Greifen wir
diese Themen schneller, greifen wir sie unbürokratischer
auf!
Solche Anträge aber, die wie der heute von den Linken vorgelegte jedem alles versprechen, sind unbezahlbar, gehen zulasten künftiger Generationen und sind unrealistisch. Deshalb werden sie von uns abgelehnt.
Herzlichen Dank.
({16})
Das Wort hat jetzt der Bundesminister Wolfgang
Tiefensee.
({0})
Sehr verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Sehr geehrte Gäste! Ich freue mich
sehr, dass auf dem Rang viele junge Leute Platz genommen haben. Wir diskutieren heute nämlich einmal mehr
ein Thema, das denjenigen, die 16, 17 oder 18 Jahre alt
sind, nicht so nahe ist, weil sie die Anfänge der deutschen Einheit und das, was vor der deutschen Einheit gewesen ist, lediglich aus Geschichtsbüchern und Erzählungen kennen.
Dass wir heute einmal mehr über den Stand der deutschen Einheit diskutieren, geht auf eine Große Anfrage
der Linken zurück. Wenn man sie liest, könnte man auch
von einer „Großen Anklage“ der Linken sprechen.
({0})
Es wird in düsteren Bildern gemalt, was in den 18 Jahren
nach 1990 in diesem Lande passiert ist. Es handelt sich
um eine einseitige, tendenziöse und polemische Darstellung dessen, wie die Situation im Osten sein soll.
({1})
Es ist nicht so; die Situation stellt sich viel differenzierter dar.
Sehr verehrter Herr Kollege Gysi, es ist aber eine gewisse Kontinuität zu spüren. Ich bin in der DDR groß geworden, und das öffentliche Bild von der DDR wurde so
erzeugt, dass man den Scheinwerfer auf Potemkinsche
Dörfer, auf getünchte Fassaden gerichtet hat. Auf diese
Weise wollte man das Bild vermitteln, der ganze Osten
sei so. Die Kontinuität hierzu stellt sich so dar, dass man
nun den Scheinwerfer ausschließlich auf das richtet, was
noch nicht besser geworden ist. Wiederum redet man
den Leuten ein, das sei die ganze Wahrheit. Hier liegt
also eine gewisse Kontinuität vor. All das erinnert mich
an das Vorgehen der Zeitung Neues Deutschland sowie
der anderen DDR-Zeitungen, nur unter anderen Vorzeichen. So geht es nicht.
({2})
Es handelt sich hierbei auch nicht um eine Sichtweise,
die sich nur in irgendeinem Papier findet. Sie ist in vielerlei Hinsicht sehr problematisch.
({3})
Erstens. Sie haben nicht das Recht, die Frage auszublenden, wie die Situation in den neuen Bundesländern
1990 war.
({4})
Wie die Situation damals war, hat nämlich etwas damit
zu tun, wie Sie, unter welchem Namen auch immer, Gesellschaft gestaltet haben. Und nur vor diesem Hintergrund kann man erklären, wie die Situation jetzt ist. ({5})
Ich bin in dieser Gesellschaft groß geworden; ich weiß,
wovon ich rede. - Ich finde es nicht hinnehmbar, dass
Sie das nicht erwähnen und nicht wenigstens ein bisschen Ursachenforschung in diese Richtung betreiben
und in die Öffentlichkeit kommunizieren. Sie blenden
jedoch die Geschichte aus und haben so viel unter den
Teppich gekehrt, dass schon ein großer Berg entstanden
ist.
({6})
Meine Damen und Herren von den Linken, über diesen
Berg werden Sie irgendwann einmal stolpern und stürzen.
({7})
Zweitens. Sie desavouieren in einer unerträglichen
Art und Weise die enormen Leistungen von uns Ostdeutschen seit 1990 beim Aufbau unserer Landstriche und
auch beim Aufbau Deutschlands. Es geht nämlich nicht
nur um die neuen Länder. Wir haben unsere Kraft auch
dafür eingesetzt, dass es in Deutschland insgesamt vorangeht. Wer das nicht in den Fokus nimmt, der negiert
die Lebensleistungen der Bürgerinnen und Bürger in
Ostdeutschland. Das ist kontraproduktiv.
({8})
Drittens. Wenn man aber die Wirklichkeit in den
neuen Bundesländern so einseitig darstellt, dass man nur
auf zusammenbrechende Landschaften hinweist - es
stimmt zwar, dass es Schwierigkeiten mit den „blühenden Landschaften“ gibt - und mit gewissen Abwärtsentwicklungen im Osten kokettiert, um Wahlerfolge zu erzielen, dann verhindert man, dass sich Kräfte entfalten,
die für Ostdeutschland und für Deutschland insgesamt
nötig sind.
({9})
Dass diese Kräfte gebunden bleiben und nicht zur Entfaltung kommen, dafür tragen nicht zuletzt auch Sie,
meine Damen und Herren von den Linken, Verantwortung, indem Sie so tun, als hätten wir nichts geschafft
oder als wäre das, was wir geschafft haben, nichts wert.
({10})
Das muss zurückgewiesen werden. Das ist nicht unser
politischer Weg.
({11})
Wir haben ein ganz differenziertes Bild, und dieses
Bild sieht so aus: Wir haben unglaublich viel erreicht
und noch unglaublich große Herausforderungen vor uns.
Dies muss man den Bürgerinnen und Bürgern sagen.
Beides ist richtig: Es ist viel gemacht geworden, und es
muss auch noch viel getan werden. Man darf nicht sagen: Das ist mit dem Umlegen eines Schalters zu erreichen. Vor allem, meine sehr verehrten Damen und Herren von der Linken, reden Sie den Leuten nicht ein, dass
der Staat ein Geldautomat ist wie während der DDRZeit, dass man die Probleme lösen könne, indem man
nur auf den Knopf drückt.
({12})
Wir haben Unglaubliches geschafft. Für die Infrastruktur in Deutschland haben wir seit der Wende im
Jahre 1990 rund 175 Milliarden Euro ausgegeben, davon
mehr als 60 Milliarden Euro in den neuen Bundesländern. Wie können Sie sagen, wir würden unterproportional finanzieren? Das stimmt nicht.
Wir haben in den Wohnungsbestand investiert.
Schauen Sie sich das an. Suchen Sie die Gebäude, die
nicht in Ordnung sind. Suchen Sie die Wohnungsgesellschaften, die heute noch instabil sind. Programme wie
Stadtumbau Ost und Soziale Stadt haben dazu beigetragen, dass man im Osten wieder gut wohnen kann.
Schauen Sie sich die wirtschaftliche Entwicklung an.
Die Industrie boomt. Natürlich müssen wir von einem
vergleichsweise niedrigen Niveau ausgehen, weil wir
eben 1990 im Hinterkopf haben müssen. Aber Steigerungsraten von 11 Prozent sind doch grandios. Die
Schere geht zwar viel zu langsam zu, aber sie geht zu.
Die Exportquote wächst. Im Bereich der erneuerbaren
Energien, um einmal eine Zukunftsbranche herauszugreifen, befindet sich nahezu jeder zweite Arbeitsplatz in
den neuen Bundesländern. Warum sagen Sie den Menschen in den neuen Bundesländern nicht, dass zum Beispiel die öffentlich geförderte Forschungsinfrastruktur,
also die Max-Planck-Gesellschaft, die Fraunhofer-Gesellschaften, in den neuen Ländern vorbildlich ausgestattet ist? Das ist vorbildliche Arbeit Aufbau Ost. Das muss
doch auch einmal gesagt werden.
({13})
Aber wir stehen noch vor riesigen Herausforderungen. Diese liegen auf dem Feld einer selbsttragenden
Wirtschaft, die wir immer noch nicht haben. Deshalb
fördern wir mit der Investitionszulage und der GA. Vielleicht ist Ihnen entgangen, dass sechs Siebtel der GA,
obwohl von den alten Bundesländern mit finanziert, in
den Osten gehen und ein Siebtel nicht. Das bedeutet,
dass wieder überproportional gefördert wird. Ich weise
darauf hin, dass die GA verstetigt ist und dass wir die Investitionszulage verstetigen wollen. Diese Förderprogramme sind nutzbringend, die Ergebnisse sind aber
noch lange nicht so, wie wir das wollen.
Die Arbeitslosigkeit ist zu hoch. Die Langzeitarbeitslosen verlangen nach einer Lösung. Wenn Sie aber
7 Prozent mit 14,8 Prozent vergleichen, dann sagen Sie
bitte dazu, woher wir kommen, wie diese 14,8 Prozent
im Jahre 2008 im Vergleich zu 18 Prozent im Jahre 2005
einzuordnen sind.
({14})
Das ist doch das Entscheidende: Schenken Sie den
Menschen reinen Wein ein, nicht nur in der Problembeschreibung, sondern auch in der Beschreibung dessen,
woher wir kommen.
Natürlich haben wir demografische Probleme. Natürlich haben wir ländliche Räume, die großen Herausforderungen gegenüberstehen. Mit Programmen, die die
Bundesregierung strategisch auflegt, um diesen ländlichen Räumen zu helfen, wollen wir dem begegnen.
Bezüglich der Konsolidierung der Finanzen, damit
die Kommunen in den neuen Bundesländern stabilisiert
werden, erinnere ich abschließend daran, dass in die
neuen Bundesländer im Rahmen des Solidarpaktes II
156 Milliarden Euro fließen. Ich habe unlängst mit meinem ungarischen Kollegen gesprochen und vor einiger
Zeit in Frankfurt/Oder mit meinem polnischen Kollegen
einen Austausch gehabt. Ich wäre froh, wenn diese genauso viel Geld bekämen wie wir in den neuen Bundesländern. Denn das sind schließlich diejenigen, die nicht
zuletzt dazu beigetragen haben - ich erinnere an 1989,
1976 und 1956 -, dass wir hier über die deutsche Einheit
reden können.
({15})
Wir haben viel erreicht. Wir haben aber auch noch
viel zu tun. Wir befinden uns auf einem guten Weg. Lassen Sie uns alle Kräfte bündeln und freisetzen.
Vielen Dank.
({16})
Das Wort hat der Kollege Peter Hettlich von Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Das Beste an der Großen Anfrage ist in der
Tat, dass wir dadurch heute noch einmal über den Stand
der deutschen Einheit debattieren können. - Denn die
letzte derartige Debatte war, wie wir uns erinnern, überlagert von der Forderung nach einem Einheitsdenkmal.
({0})
Das fand ich sehr schade; das habe ich damals ausdrücklich gesagt. - Das ist das Positive, was ich zu dieser Großen Anfrage sagen kann.
Gestern haben wir über eine Große Anfrage der Linken zum Thema Petitionen debattiert. Da wurde mir klar,
dass es bei der Linksfraktion offensichtlich zu einer Großen Anfrage gehört, deutlich zu machen: Wir sind die
Einzigen, die etwas tun, und die anderen - sie bezeichnen sie immerhin nicht als Deppen - sind diejenigen, die
den Osten nicht vertreten und sich nicht um die Belange
des Ostens kümmern. Diese Ansicht zog sich wie ein roter Faden durch die gestrige Debatte zur Großen Anfrage
zum Thema Petitionen. Diesen roten Faden sehe ich
auch in unserer heutigen Debatte über die Frage, wie es
im Osten weitergeht.
Ich habe mir die Fragen genau angesehen. Sie waren
ausgesprochen dünn. Dazu hat der Kollege Günther eben
schon etwas gesagt. Die Antworten haben mich allerdings auch nicht weitergebracht. Ich sage Ihnen ganz
ehrlich: Wer sich mit dem Thema Aufbau Ost beschäftigt, hatte die Antworten schon. Alle Dokumente, die in
der Antwort angeführt werden, sind verfügbar, übrigens
noch eine ganze Menge mehr. Der einzige Vorteil ist,
dass ich mir die einzelnen Tabellen jetzt nicht mehr aus
den unterschiedlichen Dokumenten zusammensuchen
muss.
Besonders erschütternd sind jedoch die Schlüsse, die
die Linksfraktion in ihrem Entschließungsantrag und den
anderen merkwürdigen Anträgen aus der Antwort zieht.
Ich kenne eine ganze Menge Kollegen der Linksfraktion.
Den Kollegen Claus beispielsweise schätze ich als einen
sehr kompetenten Mann, mit dem man sich inhaltlich
streiten kann, der aber immer auf einer sachlichen Ebene
bleibt. Der Entschließungsantrag ist aber ganz anders: Er
ist an vielen Stellen unsachlich. Das ist die alte Leier
- das haben meine Vorredner schon deutlich gemacht -:
Wir müssen mehr Geld in den Osten stecken; der Osten
ist benachteiligt. Das ärgert mich wirklich. Ihnen fehlt
die Bereitschaft, zu sagen: Wir drehen da ein riesiges
Rad und haben noch eine ganze Menge vor uns. Und das
können wir nur gemeinsam lösen. Es bringt nichts, mit
dem Finger auf andere zu zeigen.
({1})
Die Menschen in Deutschland wollen eine ehrliche
Ansage. Sie wollen keine Heilsversprechen; denn davon
haben sie genug gehört: von den „blühenden Landschaften“ bis zur „Chefsache“. Das kann man den Leuten
nicht mehr verkaufen. Es ist keine ehrliche Ansage,
wenn man sagt: Wir versprechen, dass wir alles ganz anders machen, wenn wir an die Regierung kommen. Das
ist pure Heuchelei. Das ist der Duktus dieses Antrages.
Das stellt man fest, wenn man ihn Punkt für Punkt
durcharbeitet. Ich werde mir das jetzt ersparen; denn das
ist der Antrag nicht wert.
Ich will aber auf einige Punkte hinweisen. Dabei
werde ich mich auf die Bereiche konzentrieren, wo wir
als Grüne in Ostdeutschland Handlungsansätze sehen.
({2})
Sie sagen, dass wir ein Gesamtkonzept brauchen. Das
ist die übliche Leier. Es hat nie ein Gesamtkonzept für
Ostdeutschland gegeben, und es wird auch nie eins geben. Wenn Sie eines haben, können Sie es uns ja vorstellen. Das Problem ist, dass wir in den Mühen der Ebene
angekommen sind, was heißt: Viele kleine Schritte führen zum Ziel. Ein Masterplan hilft uns nicht weiter. Von
dieser Forderung sollten Sie sich einmal verabschieden.
Viel hilft nicht immer viel. Sie fordern ein zusätzliches Zukunftsinvestitionsprogramm mit einem Volumen
von 40 Milliarden Euro. Sie müssen mir einmal erklären,
woher das Geld kommen soll. Ich sage Ihnen ganz ehrlich: An Geld hat es im Osten nicht gemangelt, sondern
eher an der richtigen Allokation der Fördermittel.
({3})
Wir müssen uns natürlich auch darüber unterhalten, ob
bei den Ländern und Kommunen nicht einiges hätte besser laufen können.
Der Kollege Mücke hat vorgestern im Ausschuss darauf hingewiesen, dass im Bereich der I-Zulage die
nächste Fehlallokation droht, nämlich bei der I-Zulage
für das Beherbergungsgewerbe. Als er das Beispiel aus
Dresden angeführt hat, haben bei mir die Alarmglocken
geschrillt. Sie wissen, dass wir die I-Zulage immer abgelehnt haben, weil man unserer Ansicht nach über dieses
Instrument nicht zielgerichtet fördern kann. Wenn wir
hier eine Debatte über die Verlängerung der I-Zulage
führen, dann müssen wir auch dieses Thema noch einmal aufgreifen. Ich habe die Nase voll davon, dass das
Geld, das uns für den Aufbau Ost zur Verfügung steht, in
Fehlallokationen fließt. Das können wir uns nicht erlauben. Das können wir übrigens auch den Kollegen aus
den westdeutschen Bundesländern nicht länger zumuten.
Das ist wirklich eine Zumutung.
({4})
Sie müssten eigentlich wissen, dass die Barmittel, die
im Rahmen des Solidarpakts II an die Länder fließen,
Sonderbedarfsbundesergänzungszuweisungen sind. Laut
unserer Verfassung ist es Sache der Länder, damit umzugehen. Vielleicht ist das ein Webfehler im Solidarpakt II,
aber so war es nun einmal gewollt.
Wenn ich Ihre Anträge lese, stelle ich immer wieder
fest, dass Sie mit dem föderalen System der Bundesrepublik Deutschland noch nicht klarkommen. Da wird alles
lustig gemischt: Sie wollen eine Kommission einsetzen
- Gewerkschaften, Länder und Kommunen werden einfach in einen Topf geworfen -, und die soll dann einen
tollen Plan machen.
({5})
Das ist wirklich eine Vorgehensweise von gestern.
({6})
Darüber können wir gerne diskutieren, aber Handlungsansätze können Sie so nicht entwickeln, liebe Kollegin
Enkelmann.
Es gibt noch eine ganze Menge anderer Mittel, die in
die ostdeutschen Bundesländer fließen. Es gibt Bundesergänzungszuweisungen und den Länderfinanzausgleich. Es geht also nicht das Licht aus, wenn im Jahre
2019 der Solidarpakt ausläuft. Vielmehr werden wir
dann andere Möglichkeiten haben, wie stärkere und
schwächere Bundesländer solidarisch miteinander umgehen.
Ich möchte noch etwas zu der Frage sagen: Wie gehen
wir in Zukunft mit den ganzen Problemen in Ostdeutschland um, insbesondere dem demografischen Wandel? Da
wir ihn nicht stoppen können, werden wir ihn begleiten
müssen. Das ist ein Fakt. Wir können uns natürlich die
Frage stellen: Warum wandern ausgerechnet junge und
gut ausgebildete Frauen aus Ostdeutschland ab? Das ist
ein ganz zentrales Problem. Übrigens liegt dieser Prozentsatz in Mecklenburg-Vorpommern am höchsten. Da
sei wirklich die Frage erlaubt, warum die rot-rote Regierung in Mecklenburg-Vorpommern acht Jahre lang nicht
in der Lage war, diesen Wegzug der jungen und gut ausgebildeten Frauen aus Mecklenburg-Vorpommern zu
stoppen. Aus meiner Sicht wäre das ein Leichtes gewesen.
Wir touren mit unser Fraktion mit verschiedenen Themen durch die Lande, um den Menschen genau diese
Themen näherzubringen und zu zeigen, wo aus unserer
Sicht Handlungsmöglichkeiten bestehen. Das ist die
Frage der Stärkung des ländlichen Raumes. Das ist die
Frage der regionalen Wirtschaftskreisläufe. Dazu gehören auch die erneuerbaren Energien; das ist klar. Das
steht zwar unter Punkt 1 f in Ihrem Entschließungsantrag.
In der gestrigen Debatte über die Kraft-Wärme-Kopplung aber habe ich die Rede Ihres großen Vorsitzenden
Lafontaine genießen können. Dabei habe ich gemerkt,
was er von Kraft-Wärme-Kopplung versteht, nämlich
nichts. Dieses Problem haben wir nicht.
({7})
Ich weiß, dass Sie ein paar kluge Leute haben. Aber bei
diesem Thema haben Sie ein Problem.
Wir touren durch die Lande und sprechen über Existenzgründungen. Wir glauben, dass wir die endogenen
Potenziale in Deutschland stärken müssen. Wir müssen
den jungen Leuten zeigen, dass sie sich selbstständig
machen können, weil das eine Chance und eine Perspektive auch für Hochschulabsolventen ist. Dazu taucht in
Ihrem Papier nichts auf.
Wir touren durch die Lande und sprechen über Weiterbildung. Wir wissen, dass der Fachkräftemangel in
Ostdeutschland über Weiterbildung und Qualifizierung
auch von Langzeitarbeitslosen gelöst werden muss.
Wir touren durch die Lande und sprechen über Naturschutz. Lieber Joachim Günther, wir wissen, dass auch
Naturschutz ein Potenzial in Ostdeutschland ist. Das
sollten wir nicht schlechtreden; schließlich bietet der
Tourismus ein großes Potenzial.
({8})
Wir touren durch die Lande und sprechen über Kultur
und Rechtsextremismus. Wir können es uns nicht erlauben, dass wir beim Ranking zum Thema Technik, Talent
und Toleranz mit den fünf ostdeutschen Bundesländern
an letzter Stelle liegen.
({9})
Mit genau diesen Punkten müssen wir uns beschäftigen. Es gibt keinen Masterplan. Ich habe hier die vielen
kleinen Handlungsebenen angesprochen, auf denen wir
viele kleine Hebel umlegen müssen. Das erwarten die
Menschen von uns, nicht irgendwelche komischen Anträge, in denen es darum geht, wie schlecht es Deutschland geht.
Danke schön.
({10})
Das Wort hat der Kollege Volkmar Vogel von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mein Kollege
Manfred Grund hat die Situation in seinem Beitrag sehr
gut analysiert. Lassen Sie mich deswegen in der nun folgenden Diskussion den Fokus auf einen anderen Punkt
richten.
Fragen Sie heute mal einen jungen Mann oder eine
junge Frau von 17 oder 18 Jahren auf der Straße, was er
oder sie unter Osten und Westen versteht. Wissen Sie,
was Sie als Antwort zu hören bekommen? - Das sind
Himmelsrichtungen. Das ist eine gute Entwicklung. Daran erkennt man: Deutschland einig Vaterland ist in der
Normalität angekommen.
({0})
Die Einheit ist unumkehrbar. Eines steht an dieser
Stelle auch fest: Wir sollten uns vor allen Dingen die
jungen Leute als Beispiel nehmen, denn sie gehen unverkrampft, ohne Wehmut und ohne Nostalgie die Situation
an und betrachten sie nüchtern und realistisch.
({1})
Wir leben in unserer Bundesrepublik gemeinsam in Freiheit und Demokratie, und zwar mit Chancen und Möglichkeiten, sehr geehrter Kollege von der Linken, die es
hinter Mauer und Stacheldraht so nie gegeben hat.
({2})
Aber wir kennen auch die Probleme und Risiken, die
Freiheit und Eigenverantwortung mit sich bringen. Deswegen ist es doch vor allen Dingen unsere politische
Verantwortung - Peter Hettlich hat das gerade eben zum
Ausdruck gebracht -, die Chancen, die durch Freiheit
und Demokratie möglich sind, zu mehren und Mut zu
machen, sie zu nutzen. Auf der anderen Seite ist es auch
unsere Verantwortung, die bestehenden Risiken abzufedern. Das gilt für das gesamte Land: für den Norden, für
den Süden, für den Osten und für den Westen.
Es gibt hier im Haus leider immer noch die ewig Gestrigen, die diesen Paradigmenwechsel nicht vollziehen
wollen. Die Angleichung der Lebensverhältnisse und der
Standortbedingungen ist eine Aufgabe, die aus unserer
Sicht nur in ihrer Gesamtheit betrachtet werden kann.
Wir wollen keine Wiederbelebung der DDR. Wir wollen
starke Bundesländer. Unsere Konzepte für Wirtschaft,
Arbeitsmarkt, Bildung, Forschung und Strukturpolitik
werden wir auch zukünftig vor allem an den Bedingungen unserer einzelnen Bundesländer ausrichten. Sie können doch Thüringen nicht mit Mecklenburg-Vorpommern bei allem in einen Topf schmeißen.
({3})
Es gibt aber auch viele Parallelen, zum Beispiel zwischen Sachsen und Bayern; man denke nur an die Probleme mit der EU-Osterweiterung.
Wir haben 16 Bundesländer und jedes, egal in welchem Landesteil es liegt, hat seine spezifischen Chancen, aber natürlich auch seine spezifischen Probleme.
Wenn die Linken in ihrem Antrag pauschal von „neuen
Ländern und anderen strukturschwachen Regionen“
schreiben, dann ist das aus meiner Sicht im höchsten
Maße undifferenziert und falsch.
({4})
Das sind eine Missachtung der Aufbauleistung der Menschen dort und ein Angriff auf das Selbstwertgefühl und
die Selbstachtung der Menschen.
({5})
Wir können auf das Erreichte stolz sein. Es sollte uns
für die neuen Herausforderungen, die vor uns stehen,
Mut machen. Schauen Sie doch die einzelnen Bundesländer an. Außer Berlin haben alle Bundesländer in Ostdeutschland mittlerweile keine Neuverschuldung oder
steuern sie an. Das ist doch ein riesiger Erfolg und gibt
Potenziale für neue Entwicklungen. Wir haben neue Herausforderungen. Das, was wir im vereinten Vaterland zu
bewältigen haben, wird jetzt durch die globalen und europäischen Herausforderungen überlagert. Denen müssen wir uns stellen. Wir müssen ihnen entgegensehen
und sie in unserem Sinne positiv beeinflussen.
Nehmen wir die Infrastruktur 2008 im Vergleich zu
1989. Alle Bundesbürger profitieren doch jetzt von den
gewaltigen Verbesserungen. Gerade wenn es um die europäischen Herausforderungen geht, gerade im Infrastrukturbereich sind die Aufgaben, die als nächstes vor
uns stehen, vor allem die transeuropäischen Korridore,
die unser Land tangieren. Ich will nur als Beispiele die
Strecke Rostock-Berlin-Prag nach Südosteuropa oder
Berlin-Erfurt-München in Richtung Süden nennen.
Ohne den Aufholprozess gerade durch die Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“ in den letzten Jahren wäre Ostdeutschland hier tatsächlich abgehängt.
Nehmen wir die Telekommunikation. Wir haben in
der Debatte gerade über die Breitbandversorgung gesprochen. Das ist doch kein spezifisch ostdeutsches Problem, wenn wir das mit der Situation von 1990 vergleichen. In Leipzig, Erfurt und Rostock hat doch niemand
dieses Problem, wohl aber der ländliche Raum. Dies betrifft jedoch den ländlichen Raum in der gesamten Bundesrepublik. Das ist für uns eine ganz neue Herausforderung. Wir wissen: Schnelle Internetzugänge sind
- natürlich auch in Ostdeutschland - ein Standortfaktor,
wenn es darum geht, für die regionale Wirtschaft und die
Landwirtschaft etwas zu tun. Diese Entwicklung wird
unterstützt; wir haben das in der vorherigen Debatte gehört.
Wir halten unseren Koalitionsvertrag ein. Die Angleichung der Lebensverhältnisse in allen Landesteilen hat
oberste Priorität. Der Bund schafft Anreize, auch bei der
Ansiedlung von Bundeseinrichtungen, von Behörden
und Institutionen, ganz besonders in den ostdeutschen
Bundesländern. Alle Politikfelder sind angesprochen,
eine ausgleichende Strukturpolitik zu befördern. Dazu
sind die einzelnen Fachgremien und die -ausschüsse, in
denen wir mitarbeiten, bestens geeignet. Wir brauchen
keine Beratungsstruktur, die das Trennende fördert bzw.
wiederbelebt.
Die ganzheitliche Herangehensweise des Bundes gemeinsam mit den Ländern heißt: Achtung und Anerkennung der Leistung der Menschen in den Regionen sowie
mehr Akzeptanz für die Entscheidungen. Sie befördert
das Selbstbewusstsein der Menschen in den einzelnen
Regionen. Vor allen Dingen deswegen wird die Union
alle Anträge der Linken ablehnen.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat der Kollege Rainer Fornahl von der
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Über die
allgemeine Situation haben meine Vorredner, insbesondere der Minister, aber auch die Kolleginnen und Kollegen außer Herrn Gysi, schon differenziert gesprochen.
Ich will mich darauf beschränken, zu den drei Anträgen
der Linken, die wir heute beraten, Stellung zu nehmen.
Denn dabei handelt es sich um Schlaglichter des angeblichen Alleinvertretungsanspruchs für Ostdeutschland
durch die sogenannte Linke.
Eines haben Sie gelernt: Sie haben den Schalter umgelegt, und zwar von Staatssozialismus auf Staatsmonopolismus. Das zieht sich durch all Ihre Initiativen und
Anträge. Das ist aber genau der falsche Weg.
Es ist evident, meine Damen und Herren von der
Linkspartei - in Anbetracht Ihrer Truppen insbesondere
in den alten Ländern sollte man vielleicht besser sagen:
meine Damen und Herren von der SED/DKP -,
({0})
dass Sie mit dem Fortschritt nach der deutschen Einheit
und mit der positiven Entwicklung Deutschlands absolut
nichts zu tun haben. Sie leben ausschließlich von Spaltung und Teilung sowie von Traumatisierung und Dämonisierung. Sie teilen die Welt auch heute noch ein: in
„Freund“ und „Feind“ bzw. in Klassenfeinde, in „oben“
und „unten“ und in „dafür“ und „dagegen“. Das zieht
sich durch all Ihre politischen Aussagen, die Sie in den
letzten 18 Jahren zur Entwicklung in Ostdeutschland gemacht haben.
({1})
Ein Beispiel. In einem Ihrer Anträge fordern Sie die
Einsetzung eines Ausschusses für die Angelegenheiten
der neuen Länder.
({2})
In der Legislaturperiode von 1998 bis 2002 gab es zum
letzten Mal einen solchen Ausschuss. Er war ein zahnloser Tiger, weil alle relevanten Entscheidungen in den jeweiligen Fachausschüssen getroffen wurden und im Hintergrund das zuständige Ministerium die notwendigen
Mittel zur Verfügung stellte. Einen solchen Ausschuss
brauchen wir nicht. Diese Forderung ist einfach Unfug.
Das ist Demagogie und Populismus.
({3})
Kollege Vogel hat bereits auf den Grundtenor Ihres
Antrags hingewiesen. Indem Sie die Einsetzung eines
Ausschusses „für die Angelegenheiten der neuen Länder
und für andere strukturschwache Regionen“ fordern, negieren Sie ganz bewusst die differenzierte Entwicklung
in den neuen Ländern. Dort gibt es nämlich auch Wachstumsregionen, die mit prosperierenden Regionen in den
alten Ländern durchaus vergleichbar sind. Wenn man an
die Arbeit, die dort geleistet wird, denkt, muss man feststellen: Das ist einfach zynisch!
({4})
In einem anderen Ihrer Anträge fordern Sie, in den
neuen Ländern eine Großforschungseinrichtung zu errichten. Das sollen wir also quasi per Politbürobeschluss
einfach einmal machen. Wenn man Berlin einbezieht,
existieren in den neuen Ländern bereits insgesamt vier
solcher Einrichtungen. Ich will zwei herausgreifen, die
originär in den neuen Ländern entstanden sind. Das sind
das Geoforschungszentrum Potsdam und das Umweltforschungszentrum Leipzig-Halle. Sie sind das Resultat
einer Entwicklung gewesen, die über Jahre hinweg stattgefunden hat. Sie sind sozusagen aus bestehenden Kernen gewachsen. Es wurde geforscht, entwickelt und mit
der Wirtschaft zusammengearbeitet. Daraus sind diese
Zentren entstanden, die am Ende den Ritterschlag bekommen haben, indem sie den Status von Großforschungszentren unter dem Dach der Helmholtz-Forschungsgemeinschaft bekommen haben. Das ist der
richtige Weg. So kann sich auch die Forschungslandschaft in Ostdeutschland weiterentwickeln.
({5})
Ein Beispiel ist das vor kurzem gegründete Deutsche
Biomasseforschungszentrum mit Sitz in Leipzig. Dass
dieses Institut in Leipzig errichtet wurde, hat eine Vorgeschichte. Es ist nämlich aus dem Leipziger Institut für
Energetik und Umwelt, das schon seit vielen Jahren auf
dem Gebiet der Bioenergie international anerkannte Arbeit leistet, hervorgegangen.
({6})
Das ist der Nukleus für die eventuelle Errichtung eines
neuen Großforschungszentrums. Man muss diese Zentren an ihren Erfolgen messen. Durch Erfolge wird letzten Endes auch eine neue Qualität erreicht.
({7})
Sie haben noch einen dritten sehr interessanten Antrag mit dem Titel „Erhöhung von Transparenz und Zielgenauigkeit des Mitteleinsatzes für die ostdeutschen
Bundesländer“ eingebracht. Darin fordern Sie, „die Daten des Finanztransfers differenziert nach Ost- und Westdeutschland“ zu erfassen.
Ich kann Ihnen nur sagen: Die Zweistaatentheorie der
SED haben wir im Jahr 1990 entsorgt. Wir leben in einem einzigen Deutschland. In den ersten Jahren nach der
deutschen Einheit haben wir die Daten bestimmter
Transferleistungen bewusst differenziert dargestellt, dokumentiert und darüber gestritten. Daraus sind leider
- das merkt man bei Ihnen, manchmal aber auch bei anderen - wirklich grässliche und falsche Schlussfolgerungen gezogen worden. Deswegen wollen wir das in Zukunft nicht fortführen. Vielleicht ist es für Sie unter
therapeutischen und pädagogischen Gesichtspunkten sogar sinnvoll, dass wir diesen Antrag ablehnen. So können wir vielleicht dazu beitragen, dass Sie sich in Zukunft hüten, erneut solch abstruse und falsche
Schlussfolgerungen zu ziehen.
({8})
Abschließend will ich noch auf Folgendes hinweisen:
Über die Große Anfrage der Linken und insbesondere
über die Antworten der Bundesregierung ist heute bereits differenziert diskutiert worden; das ist auch gut.
Natürlich ist es nicht richtig, wenn man aus allen Entwicklungen nur frohe Botschaften ableitet. Es gibt nicht
überall nur frohe Botschaften; der Minister hat zu Recht
darauf hingewiesen. Die Fülle der dargestellten Fakten
zeigt ein differenziertes Bild. Die Darstellungen, über
die wir jedes Jahr im Zusammenhang mit dem Bericht
zum Stand der deutschen Einheit debattieren, zeigen uns
aber auch die positive Entwicklung. Wenn man den Bericht aus dem Jahre 2005, der Basis für die Antwort gewesen sein muss, mit dem heutigen vergleicht, dann
weiß man genau, wie weit wir seither vorangekommen
sind.
Lassen Sie uns gemeinsam - bei Ihnen sind Hopfen
und Malz verloren; darauf kann man gerne verzichten;
mein Appell richtet sich an alle anderen - diesen Weg
gehen. Dann erreichen wir vielleicht bis 2019 mit dem
Ende des Solidarpaktes II eine wichtige Zäsur und darüber hinaus in absehbarer Zeit eine Angleichung der
Lebensverhältnisse in Ost und West, wie wir sie alle miteinander, glaube ich, wollen und ersehnen.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat der Kollege Michael Kretschmer von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist eine
ganze Menge zum Thema Forschung gesagt worden,
und ich möchte gerne darauf eingehen.
Zunächst einmal will ich deutlich machen, was sich in
den vergangenen Jahren in diesem Bereich in den neuen
Bundesländern getan hat. Wir haben - das ist wirklich
beachtlich - 39 Leibniz-Institute, 4 Großforschungszentren der Helmholtz-Gemeinschaft, 18 Fraunhofer-Institute und 23 Max-Planck-Institute. Damit haben wir mit
den neuen Ländern einen weltweit anerkannten Standort
der Spitzenforschung und der Exzellenz, der sich sehen
lassen kann, um den wir überall beneidet werden.
({0})
Das ist etwas, was man vorausschicken muss, weil
hier vonseiten der Linken immer versucht wird, den Eindruck zu erwecken, als wäre nichts vorhanden.
Der Ruf nach einer Großforschungseinrichtung erinnert mich ein bisschen an einen Bürgermeister, der sich
nicht um die in seiner Gemeinde ansässigen Unternehmen kümmert, sondern auf den großen Investor wartet
und bei dieser Gelegenheit verpasst, sich um das zu
kümmern, was da ist, und am Ende mit leeren Händen
dasteht: Auf der einen Seite hat er keinen großen Investor, und auf der anderen Seite hat er die vorhandenen
Potenziale verspielt. - So machen zumindest wir keine
Politik, sondern wir gehen anders vor.
({1})
Wir haben seit 1990 gesagt, dass wir in der Forschungspolitik keine Almosen verteilen werden und
keine Politik - ich sage das bewusst in Richtung der Linken - aus der Schwäche heraus machen werden. Es geht
nicht darum, irgendwo etwas hinzuverteilen. Vielmehr
haben wir uns die Situation sehr genau angeschaut. Es
gibt eine Besonderheit, die auch besondere Lösungen
braucht. Es gibt eine Unternehmenslücke; wir haben zu
wenige Unternehmen. Wir haben vor allem zu viele
kleine Unternehmen, die keine ausreichende Kraft haben, Forschung und Entwicklung so zu betreiben, wie
man es sich vorstellt.
Aus diesem Grund hat das Bundesforschungsministerium verschiedene Initiativen ergriffen, die sehr erfolgreich gewesen sind. Das Erste war Inno-Regio, das mittlerweile abgeschlossen und evaluiert worden ist.
Verschiedenste Unternehmen wurden mit der Forschung
zusammengefasst. Wir haben erlebt, dass am Ende großartige Dinge dabei herausgekommen sind.
({2})
Wir haben mit der Programmfamilie „Unternehmen
Region“, die gerade auch von den Forschungspolitikern
der Koalition immer wieder mit neuen Fördermitteln
versehen worden ist, eine ganze Menge bewegt, und
zwar in einem Bereich, der ganz anders ist als das, was
hier angesprochen worden ist. Es handelt sich nicht um
Kleinkram oder irgendwelche Almosen, sondern um
wirkliche Spitzenforschung. Wir haben in Dresden mit
Onco-Ray den deutschen Leuchtturm im Bereich der
deutschen Krebsforschung ebenso etablieren können wie
an anderen Stellen - Magdeburg, Rostock, Greifswald auch. Das sind die Dinge, die Zuversicht erzeugen.
({3})
Das Ganze geht weiter. Wir verhandeln mit den ostdeutschen Bundesländern über einen Prozess, den wir
„Dialog Innovation Ost“ nennen. Wir wollen zielgerichtet Forschungsschwerpunkte weiter stärken, um daraus
Exzellenz zu machen, weil wir wissen, dass man im internationalen Wettbewerb nicht aus Mitleid, sondern nur
durch Stärke gewinnt, und weil wir wissen, dass Stärke
nicht überall entsteht, sondern nur an wenigen Punkten,
die dann ausstrahlen werden. Das ist das Ziel unserer
Forschungspolitik.
({4})
Ich bin auf eines sehr stolz - ich sage dies auch selbstkritisch zu der Regierung, die derzeit arbeitet -: Wir haben es geschafft, dass in den neuen Bundesländern im
Bereich der Forschung nicht eine Idee nicht verfolgt
werden konnte - ich denke hier an Biomasse, das Osteuropazentrum und an viele andere, auch kleinere Dinge -, weil das Geld aus Berlin nicht da war. Vielmehr
haben wir überall gefördert, wo die Exzellenz nachgewiesen war und die Ideen gut waren. Das ist nicht selbstverständlich. Ich sehe aber mit großer Sorge und mit
großem Ärger, dass dies im Bereich des Straßenbaus
nicht überall so ist. Damit bin ich nicht zufrieden. Reihenweise liegen Projekte brach, die realisiert werden
könnten, es aber nicht werden, weil das zuständige
Ministerium das Geld nicht bereitstellen kann.
({5})
Das ist in der Tat ein Unterschied zwischen dem Forschungsministerium und dem Verkehrsministerium; hier
muss sich etwas ändern.
({6})
Auch andere Punkte sind wichtig, sei es die I-Zulage
oder die GA-Förderung. Hier haben wir für die neuen
Bundesländer deutliche Akzente gesetzt. Jeder, der diese
Politik ehrlich und unvoreingenommen beobachtet,
sieht, dass die Bundesregierung und die Große Koalition
Schwerpunkte setzen und dass wir damit auch erfolgreich sind. Wir sollten uns dies nicht kleinreden lassen,
vor allen Dingen nicht von der PDS, die für viele der
heute vorhandenen Probleme selbst verantwortlich ist.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat der Kollege Klaas Hübner von der SPDFraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Was will die Linke mit ihrer Großen Anfrage? Sie
will schwarzmalen. Sie stellt uns nicht die Frage, ob das
Glas halb voll oder halb leer ist, nein, sie will uns weismachen, dass das Glas vollkommen leer sei. Das ist
falsch. In ihrem Entschließungsantrag hat die Linke dankenswerterweise nachgeschoben, wohin sie steuert. Sie
will „einen Paradigmenwechsel“ in der ganzen Gesellschaft. Aus dem Soziologendeutsch übersetzt heißt dies:
Sie will eine andere Gesellschaft. Wir wollen das nicht.
({0})
Die Bürgerinnen und Bürger der ehemaligen DDR haben
1989 eindrucksvoll einen solchen Paradigmenwechsel
vollzogen, indem sie sich für eine demokratische Gesellschaft in Freiheit und mit den ökonomischen Möglichkeiten einer sozialen Marktwirtschaft entschieden haben.
Das war der richtige Paradigmenwechsel.
({1})
Bei dieser Gelegenheit muss man die Frage stellen:
Wie steht es mit der Verantwortung der Linken selbst?
Sie haben doch 1989 in Ostdeutschland ein Land hinterlassen, das eine schreckliche Bilanz aufwies. Warum
mussten wir so viel in Ostdeutschland investieren, was
wir ja richtigerweise getan haben? Doch deswegen, weil
Sie bis 1989, als Sie für diese Region allein verantwortlich waren, durch Ihre Misswirtschaft diese Region an
den Abgrund geführt haben. Nur aus diesem Grunde haKlaas Hübner
ben wir anschließend eine gute Aufbaupolitik machen
müssen.
({2})
In Ostdeutschland haben wir mittlerweile eine starke
Industrie. Gestern gab es eine Presseveröffentlichung
des IWH, die von einer Umsatzsteigerung in der ostdeutschen Industrie von 9,5 Prozent spricht. Das sind gute
Zeichen. Ich bin seit 1991 Unternehmer in Sachsen-Anhalt und kann Ihnen aus eigener Erfahrung Folgendes sagen: Wenn man sich ansieht, wie sich die Unternehmen
entwickelt haben und wie sie gewachsen sind, wie sich
die Infrastruktur entwickelt hat und wie viele bessere
logistische Möglichkeiten wir dort mittlerweile haben,
dann muss man doch einfach konstatieren: Was wir von
1990 bis heute in den neuen Bundesländern erlebt haben,
ist eine echte Erfolgsgeschichte, die natürlich auch mit
dieser Bundesregierung verbunden ist.
({3})
Wenn Sie glauben, dass man mit einer Politik der
70er-Jahre, die sich auf nationalstaatliche Instrumente
beschränkt, heute noch irgendwo ein Land voranbringen
kann, dann liegen Sie falsch. Sie versprechen den Menschen dann auch etwas Falsches. Wenn Sie so tun, als
könne man mit nationaler Abgrenzung gegenüber anderen Märkten etwas Positives für das Land gewinnen,
dann täuschen Sie die Menschen. Man kann nämlich die
Globalisierung nicht als eine Frage auffassen, die sich
mit Ja oder Nein beantworten ließe; sie ist da, und wir
müssen mit ihr auch umgehen. Dieser Realität verweigern Sie sich, und darum handeln Sie verantwortungslos.
({4})
Wir wollen, dass auch wir in Ostdeutschland im Rahmen der globalisierten Märkte mitwachsen und so die
ostdeutsche Industrie stärken können. Das heißt aber,
dass wir sie fit machen müssen, im internationalen Wettbewerb zu bestehen, und zwar aus eigener Kraft heraus
und nicht nur staatlich subventioniert. Das ist der Weg,
den diese Bundesregierung geht. Dieser Weg ist richtig.
Es ärgert mich ein wenig, dass Sie die Erfolge, die es
gegeben hat, einfach ausblenden. Ich will nicht sagen,
dass alles Gold im Osten ist; das sagt keiner. Wir haben
dort noch etwas zu tun. Aber die Erfolge einfach auszublenden und die Menschen hinters Licht zu führen und
zu demotivieren, halte ich nicht für den richtigen Ansatz,
wenn man will, dass Ostdeutschland möglichst schnell
vorankommt und möglichst schnell ein Wachstumsmotor für Gesamtdeutschland wird.
({5})
Das führt dann wieder - auch das müssen wir offen
sagen - zum Teil zu Diskussionen im Westen. Manche
westdeutsche Bürgermeister kommen auf uns zu und sagen: Was ihr im Osten mittlerweile alles geschaffen
habt - wenn ich mir eure Infrastruktur und eure Stadtsanierung so ansehe -, das haben wir bei uns nicht. Wir
sollten damit langsam einmal aufhören. - Sie empfinden
das als ungerecht. Auch diese Debatten führen wir. Dem
kann ich nur entgegensetzen: Es ist gut, dass das Geld so
eingesetzt worden ist, dass die Infrastruktur verbessert
wurde und die Städte saniert wurden. Es wäre ein Skandal gewesen, wenn wir das Geld nicht sinnvoll eingesetzt hätten. Die Situation in Ostdeutschland wäre heute
nicht so positiv. Deswegen war die Politik richtig, die
wir in den letzten Jahren gemacht haben. Sie war nicht
nur für Ostdeutschland, sondern auch für Deutschland
insgesamt positiv.
({6})
Ich bin fest davon überzeugt, dass die Menschen
schauen werden: Wer macht eine wirklich verantwortungsvolle Politik? Wer ist in der Lage, Antworten auf
die globalen Herausforderungen in seine Politik einfließen zu lassen? Wer ist in der Lage, die Menschen selbst
zu stärken, um auch unter veränderten Rahmenbedingungen leben, wachsen und einen sozialen Aufstieg vollziehen zu können? Ich bin fest davon überzeugt, dass es
der falsche Weg ist, nur von außen zu alimentieren.
Nein, wir wollen die Menschen durch gute Bildungsmöglichkeiten, eine gute Infrastruktur und wirtschaftliche Dynamik in die Lage versetzen, aus eigener Kraft
einen sozialen Aufstieg zu vollziehen. Das ist der Weg
dieser Bundesregierung. Dieser Weg ist aus meiner Sicht
vollkommen richtig.
Herzlichen Dank.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/8417
zu ihrer Großen Anfrage. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen aller
Fraktionen bei Zustimmung der Fraktion Die Linke abgelehnt.
Tagesordnungspunkt 24 b und c. Interfraktionell wird
Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/7567
und 16/5817 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so
beschlossen.
Tagesordnungspunkt 24 d. Beschlussempfehlung des
Ältestenrates zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit
dem Titel „Einsetzung eines Ausschusses des Deutschen
Bundestages für die Angelegenheiten der neuen Länder
und für andere strukturschwache Regionen“. Der Ältestenrat empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/1220, den Antrag der Fraktion Die Linke
auf Drucksache 16/130 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen aller Fraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion
Die Linke angenommen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 25 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Kai
Gehring, Krista Sager, Priska Hinz ({0}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Gute Lehre an allen Hochschulen gewährleisten, herausragende Hochschullehre prämieren
- Drucksache 16/8211 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({1})
Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten
soll. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der
Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner dem Kollegen Kai Gehring vom Bündnis 90/Die
Grünen das Wort. - Herr Gehring, einen Moment. Ich
darf die Kollegen, die an dieser Debatte nicht teilnehmen
wollen, bitten, den Saal zu verlassen. - Bitte schön, Herr
Kollege Gehring.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Fügen wir mal eins und eins zusammen:
({0})
Selbst bei konservativen Annahmen fehlen uns künftig
jedes Jahr 50 000 neue Akademikerinnen und Akademiker. Dies entspricht einem Viertel des heutigen Absolventenjahrgangs. Dazu passt die Zahl der Studienabbrecher: Von fünf Studierenden verlässt mindestens einer
die Hochschule ohne Abschluss. Das verwundert nicht.
Denn von fünf Studierenden geben nur zwei der Qualität
der Lehre an deutschen Hochschulen gute Noten. Wer da
noch glaubt, gute Lehre an Universitäten und Fachhochschulen sei ein Thema für Sonntagsreden, hat nichts verstanden.
({1})
Es geht um Studienqualität, Studienerfolg und um unseren Fachkräftestandort in der Wissensgesellschaft. Bei
der Bundesregierung ist dies noch nicht richtig angekommen. Sie beteuern zwar immer, dass Initiativen für
gute Lehre eine gute Sache seien. Warum initiieren Sie
dann aber keine, warum setzen Sie einseitig nur auf Forschungsförderung? Wo beginnt denn gesamtstaatliche
Verantwortung, wenn nicht bei der Bekämpfung des
Fachkräftemangels?
({2})
Bereits im Oktober 2006, vor eineinhalb Jahren, haben wir Grüne die Bundesregierung aufgefordert, sich
gemeinsam mit den Ländern für eine bessere Lehre einzusetzen. Weil seitens der Großen Koalition noch immer
nichts geschehen ist, haben wir einen zweiten Antrag
vorgelegt. Darin finden Sie ein Gesamtkonzept mit drei
Schritten zu mehr Qualität in der Hochschullehre.
Der erste Schritt: Wir brauchen eine höhere Grundfinanzierung der Hochschulen. Wenn an deutschen Unis
jeder Professor bzw. jede Professorin mehr als 60 Studierende betreuen muss, lässt sich keine Lehre organisieren, die der Begabung und Neugierde des einzelnen Studierenden gerecht wird.
({3})
Die Betreuungsrelation an deutschen Hochschulen ist
im internationalen Vergleich mehr als peinlich. Natürlich
sind in erster Linie die Länder dafür verantwortlich.
Aber spätestens beim Hochschulpakt kommt der Bund
ins Spiel. Mit dem mickrigen Beitrag, den Sie für zusätzliche Studienplätze bereitstellen, lassen sich gute Betreuung und gute Lehre nicht organisieren, schon gar nicht in
den Fächern, die es am dringendsten brauchen.
({4})
Daher fordern wir: Hochschulpakt und Bologna-Prozess
müssen endlich anständig finanziert werden. Klar ist
auch: Gute Lehre muss gebührenfrei sein. Die Studiengebühren müssen daher wieder abgeschafft werden.
({5})
Der zweite Schritt: Wir wollen gute Lehre in Personalentwicklung und Qualitätsmanagement verankern.
({6})
Mehr Hochschullehrer allein reicht nicht aus - gute
Lehre braucht gute Professorinnen und Professoren. In
der wissenschaftlichen Ausbildung, bei der Berufung
und in regelmäßigen Fortbildungen müssen didaktische
Kompetenzen eine zentrale Rolle spielen. Einen wichtigen Beitrag dazu leisten hochschuldidaktische Zentren.
Um gute Lehre zu identifizieren, brauchen wir zudem
eine systematische Evaluierung von Studienqualität und
Studienerfolg: Was hat das Seminar gebracht? Hat sich
der Dozent engagiert? Diese Fragen müssen methodisch
erhoben werden und Konsequenzen haben, bis hin zu einer, leistungsbezogenen Bezahlung. Auch in der Lehre
muss gelten: Leistung zahlt sich aus.
({7})
Der dritte Schritt: Mit den bislang genannten Maßnahmen können wir gute Lehre in der Fläche erreichen;
aber genau wie in der Forschung dürfen wir uns damit
nicht zufriedengeben. Wir müssen weitere Impulse geben. Auch in der Lehre braucht es immer wieder neue
Ideen, Best-Practice-Beispiele und innovative Zukunftskonzepte. Deshalb wollen wir einen Wettbewerb für herausragende und innovative Lehre.
({8})
Nach seiner Erprobung sollte dieser Wettbewerb als
vierte Säule in die bestehende Exzellenzinitiative integriert werden. Das heißt, dass ab 2011 eine Hochschule
nur dann als Spitzenuniversität gelten kann, wenn sie neben herausragender Forschung auch exzellente Leistungen in der Lehre erbringt. Das Erfolgsrezept der deutschen Hochschulen - die Einheit von Forschung und
Lehre - spiegelt sich dann endlich auch in der Exzellenzinitiative wider.
Liebe Kolleginnen und Kollegen in den Regierungsfraktionen, erkennen Sie endlich an, dass qualitativ
hochwertige Lehre an den Hochschulen nicht nur in
Grußworten und Länderappellen ein Thema sein darf.
Was die KMK auf Initiative des Stifterverbandes für die
Deutsche Wissenschaft beschlossen hat, ist ein erster
Schritt, reicht aber bei weitem nicht aus. Der Bund selber muss aktiv werden.
({9})
Es geht letztlich darum, dass die Studienbedingungen
in Deutschland international wettbewerbsfähig werden.
Sie müssen auf ein anständiges Niveau angehoben werden, damit die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass künftig deutlich mehr junge Menschen zufrieden und erfolgreich ihr Studium abschließen können.
Das wollen wir Grünen mit unserer Initiative erreichen.
Ich hoffe auf breite Unterstützung in diesem Haus.
Vielen Dank.
({10})
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun die Kollegin
Monika Grütters das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber
Herr Kollege Gehring, wir haben nicht im Oktober 2006,
sondern ziemlich genau vor zwei Jahren - nämlich am
16. Februar 2006 - den Antrag „Mehr Qualität für die
Hochschulen“ beraten. Nun könnte man feststellen: Die
prächtigen Grünen lassen einfach nicht locker. Richtig
wäre aber, Sie einmal mehr daran zu erinnern, dass der
Bund bei aller Einsicht und allem Respekt vor Ihrer Neigung zu diesem Thema nur eine sehr begrenzte Zuständigkeit hat. Das wollen Sie nicht gerne einsehen. Da Sie
als Grüne in den Ländern so wenig Einfluss haben,
({0})
dass Sie Ihre Themen dort nicht platzieren können, wählen Sie die für die Oppositionsarbeit beste aller möglichen Redezeiten im Deutschen Bundestag - wie Sie es
vorgestern formuliert haben -, um über Ihr Spezialthema
reden zu dürfen.
({1})
Ich kann mir allerdings die Vorbemerkung nicht verkneifen, dass der gesamte Antrag auf mich wie eine rührende
Fleißarbeit wirkt, die aber leider haarscharf an der föderalen Wirklichkeit vorbeigeht.
({2})
Dabei sind wir uns einig, Herr Gehring, dass es - wie
Sie es in Ihrem Antrag formulieren - eine umfassende
öffentliche Unterstützung für die Forderung, gute Lehre
zu fördern, gibt. Schließlich haben auch wir nicht vergessen, wie es war, als wir den luziden Ausführungen
unserer Herren Professoren - jawohl, es waren zumeist
Herren - auf den Fensterbänken der Unis oder im Stehen
folgen mussten. Ich selber habe an den Massenuniversitäten Münster und Bonn Geisteswissenschaften studiert
und kann mich noch an die stickigen Seminarräume erinnern.
Aber schon der nächste Halbsatz in Ihrem Antrag,
nämlich dass die Bundesregierung hierbei bislang untätig geblieben sei, ist nicht mehr korrekt, Herr Gehring.
({3})
Sie widerlegen Ihre Behauptung aber gleich selbst, indem Sie völlig zu Recht auf die Exzellenzinitiative
({4})
und - das ist in diesem Kontext viel wichtiger - auf den
Hochschulpakt zu sprechen kommen.
({5})
Den hat nämlich keine unserer Vorgängerregierungen
- auch Rot-Grün nicht - auf den Weg gebracht.
Gerade der Hochschulpakt ist ein Instrument, mit dem
die Studienanfängerzahlen berücksichtigt und die Betreuungsrelationen verbessert werden. Dabei musste der
Bund auch hierbei regelrecht föderale Tricks anwenden,
um zu diesem Zweck den Ländern finanzielle Wohltaten
gewähren zu dürfen.
({6})
Wenig ausgegoren geht es in Ihrem Antrag weiter. Sie
stellen Notwendigkeiten wie eine steigende Grundfinanzierung der Hochschulen - das ist ein prima Appell an
die Länder - oder die systematische Verankerung von
Lehrqualität in Personalentwicklung an allen Hochschulen heraus. Diese Aufforderung richtet sich nicht an den
Bund, sondern an die Universitäten.
({7})
Beim Wettbewerbsverfahren zur Auszeichnung herausragender Lehrleistungen bleiben Sie uns in Ihrem umfangreichen Antrag konkrete Angaben oder Konzepte
schuldig, lieber Herr Gehring.
Im Übrigen stellen Sie richtigerweise fest:
Um diesen Anforderungen gerecht zu werden, müssen in erster Linie die Länder die Unterfinanzierung
ihrer Hochschulen beenden.
Danach verhaspeln Sie sich ein wenig zwischen einer
Flexibilisierung der KapVO und einer verbesserten Betreuungsrelation, ohne konkret zu sagen, was Sie wirklich wollen. Auch Gender-Aspekte dürfen in Ihrem Antrag nicht fehlen. Auch das ist richtig. An mancher Stelle
kam mir die Idee, Sie dem Stifterverband oder der HRK
als Berater zu empfehlen.
({8})
Lassen Sie uns unabhängig von den Problemen dieses
Antrags zur Sache feststellen: Für die Forschung - damit
haben Sie recht - ist mit der Exzellenzinitiative in der
Tat viel erreicht worden, und der Hochschulpakt hat zumindest quantitativ die Lehrsituation erheblich verbessert. Nicht richtig ist aber in diesem Zusammenhang Ihre
Aussage, Herr Gehring, dass der Bund im Hochschulpakt weniger als ein Drittel der von der Bundesregierung
selbst angesetzten Studienplatzkosten übernehme. Vielmehr haben Bund und Länder im Hochschulpakt einen
Betrag von 22 000 Euro pro Studienanfänger als angenommene Durchschnittskosten zugrunde gelegt. Diese
Summe entspricht den durchschnittlichen Pro-KopfAusgaben für die Lehre.
Konkret fordern Sie die Berücksichtigung der Qualität der Lehre in Hochschulpakt und Exzellenzinitiative.
Eine Integration des Themas in bestehende Maßnahmen
halten wir nicht für sinnvoll, weil sowohl Hochschulpakt
als auch Exzellenzinitiative bereits klar im Fokus stehen.
Die Frage einer Bundesbeteiligung an Maßnahmen zur
Verbesserung der Qualität der Lehre wird sich spätestens
nach der Veröffentlichung der Empfehlungen des Wissenschaftsrats zu diesem Thema stellen. Nur damit das
einmal klar ist: Wir reden dabei über einen jährlichen Finanzbedarf in Milliardenhöhe, der mit Sicherheit nicht
allein von der Bundesregierung getragen werden könnte.
Sie fordern, die Lehrqualität bei der Förderung der
Bildungsforschung zu berücksichtigen. Entweder haben
Sie es nicht zur Kenntnis genommen, oder Sie haben es
vorsichtshalber nicht erwähnt: Unter dem Dach des
BMBF-Rahmenprogramms „Empirische Bildungsforschung“ geschieht das bereits. Im Rahmen dieses Programms wurde ein spezieller Förderschwerpunkt Hochschulforschung etabliert. Dabei steht natürlich die
Hochschullehre im Mittelpunkt. Das BMBF wird im
Laufe dieses Jahres entsprechende FuE-Projekte im Umfang von 12 bis 15 Millionen Euro starten. Hinzu kommen Kompensationsmittel der Länder.
Wenn Sie schon einen so ausführlichen Antrag schreiben, dann hätten Sie diese bestehenden, nicht unerheblichen Maßnahmen fairerweise zumindest erwähnen müssen, statt mit ihren Forderungen den Bund zu beauftragen,
seinerseits die Länder zu beauftragen und damit die Zuständigkeitsfrage zu umgehen.
({9})
- Danke für das Stichwort „Wettbewerb für die Lehre“.
Die KMK und der Stifterverband haben gestern ihren
Ansatz dazu veröffentlicht. Der Stifterverband als Beratungsgremium und die KMK als Länderorganisation
sind dafür auch zuständig. Für die Finanzierung sind immerhin 10 Millionen Euro vorgesehen.
({10})
Sie, Herr Gehring, klagen an einem anderen Punkt immer ein, dass die Wirtschaft sich stärker beteiligen sollte.
Der Stifterverband ist eine Organisation, die sich aus
Spenden der Wirtschaft zugunsten der Wissenschaft finanziert.
({11})
Da haben Sie genau das, was Sie an anderer Stelle haben
wollten. Dann ist aber der Stifterverband - ob Sie es
wollen oder nicht - auch nach Ihrer Logik die richtige
Adresse. Gerade gestern haben KMK, Länder und Stifterverband ein entsprechendes Konzept mit einem Finanzierungsvolumen von immerhin 10 Millionen Euro
für drei Jahre vorgestellt.
({12})
- Mäkeln Sie nicht herum, sondern nehmen Sie bitte zur
Kenntnis, dass die richtigen Ansätze zur Umsetzung dessen, was Sie fordern, gewählt wurden.
({13})
Ich halte das vorgestellte Konzept zumindest für einen
guten Ansatz.
Außerdem hat sich der Stifterverband das Thema
„Lehre“ zu Beginn des Jahres in seiner großen Pressekonferenz auf die Fahnen geschrieben. Er möchte sogar
eine Deutsche Lehrgemeinschaft gründen und stellt dafür 5 Millionen Euro zur Verfügung. Auch das muss hier
gesagt werden. Ob das der richtige Weg ist, hängt von
dem Mobilisierungsgrad solcher Wettbewerbe ab.
Des Weiteren fordern Sie Lehrpreise. Davon gibt es
bereits einige; das unterschlagen Sie in Ihrem Antrag.
Zum einen gibt es den Ars-legendi-Preis, der von der
Hochschulrektorenkonferenz und dem Stifterverband
gemeinsam vergeben wird. Zum anderen gibt es den
Preis „Exzellenz in der Lehre“ des Hessischen Wissenschaftsministeriums, das in letzter Zeit so stark in der
Kritik stand. Das ist der bundesweit höchstdotierte Lehrpreis überhaupt.
({14})
Außerdem gibt es den Medida-Prix, der mit
100 000 Euro Preisgeld dotiert ist und unter anderem
vom BMBF finanziert wird. Da haben Sie den von Ihnen
geforderten Bundesbeitrag, Herr Gehring. Selbst die
schwerfällige KMK hat eine Amtschefkommission mit
der Qualitätssicherung an Hochschulen beauftragt. Außerdem will sie ein Informationsportal eröffnen.
({15})
All das hätten Sie in Ihrem Antrag erwähnen müssen.
Abschließend möchte ich sagen, dass es nicht ganz
einfach ist, solch ein Thema angemessen zu beraten. Wir
haben die Bedeutung dieses Themas begriffen; das müssen Sie nicht einfordern, das haben wir uns hier bei jeder
Gelegenheit gegenseitig versichert. Da gibt es einen
breiten überparteilichen Konsens. Bei diesen hochschulpolitischen Themen ist es aber immer wichtig, die föderalen Zuständigkeiten anzuerkennen, ohne sich gleich
dem Verdacht aussetzen zu müssen, man nehme das
Thema nicht ernst. Sie haben diesen Antrag geschrieben,
und wir haben noch einmal aufgelistet, welche Instrumente und Einzelaktivitäten es gibt. Wir sind uns ebenfalls darin einig, dass noch jede Menge mehr geschehen
kann.
Sie haben in Ihrem Antrag an vielen Stellen eine Aufforderung an den Bund mit einem Appell an die Länder
oder Universitäten verbunden. Der Bund kann aber nur
gemeinsam mit den Ländern Programme auflegen; er
kann es nicht über ihre Köpfe hinweg tun.
({16})
Die Bundesregierung hat in dieser Legislaturperiode
nicht zuletzt mit dem Hochschulpakt mehr als alle Vorgängerregierungen getan. Der Bund darf aber nicht - es
wäre ein Missverständnis des Föderalismus, ihn dazu
aufzufordern - die Rolle eines Wächters einnehmen und
überwachen, wie die Länder ihre Aufgaben erfüllen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({17})
Nächster Redner ist der Kollege Uwe Barth für die
FDP-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Situation der Lehre an den deutschen Hochschulen
ist mangelhaft und wird sich in den kommenden Jahren
voraussichtlich weiter verschlechtern. So schön es ist,
dass es den Hochschulpakt 2020 gibt: Auch er ist dramatisch unterfinanziert und nicht geeignet, eine gerechte
Verbesserung der Bedingungen herbeizuführen. Darin
sind sich alle Experten einig.
Die Forderungen der Grünen zur Verbesserung der
Grundfinanzierung der Hochschulen oder zur Entwicklung neuer Personalkategorien, um eine bessere Betreuungsrelation und damit eine hochwertige Lehre zu ermöglichen, werden von der FDP ausdrücklich geteilt.
Auch der Hochschulpakt II muss besser ausgestattet
werden. Wir müssen die staatlichen Aufwendungen für
den Hochschulbereich drastisch steigern und endlich auf
internationales Niveau heben.
Wenn Sie aber Wettbewerb wollen, müssen Sie die
Grundvoraussetzungen schaffen, damit er überhaupt
funktionieren kann. Die Grundvoraussetzungen sind erstens vergleichbare Rahmenbedingungen für die Teilnehmer und zweitens Handlungsmöglichkeit und -freiheit.
({0})
Wenn Sie Letzteres vergessen, ist das in etwa so, als ob
Sie zwei hervorragend ausgestattete Fußballmannschaften auf einen schönen grünen Platz schicken, dann die
Tore vernageln, um jeden Spieler drei Schiedsrichter
stellen und dann sagen: Jetzt spielt mal los! Ein solcher
Wettbewerb wird keinen Sieger haben. Sicher fragen Sie
sich jetzt: Gibt es eine solche Fußballmannschaft? Kollegin Bettin war daran beteiligt. Fragen Sie sie! Sie kann
Ihnen das bestimmt erklären.
Eine Exzellenzinitiative für die Lehre wirft weitere
grundsätzliche Fragen auf: Wie sollen sinnvolle und anerkannte Indikatoren für einen solchen Wettbewerb aussehen? Wie soll prämiert werden? Wer bekommt die
Prämie, und was soll damit geschehen? Die Exzellenzinitiative für die Forschung stärkt ganz bestimmte
Arbeitsfelder und setzt Schwerpunkte. Mit dem Geld
können Teams aufgebaut, Gerätschaften gekauft und
Kooperationen finanziert werden. Das ist bei der Lehre
so nicht möglich.
Der wichtigste Punkt für unsere Universitäten ist aber
die Erkenntnis: Wir brauchen mehr staatliches Geld,
aber der Staat allein wird es nicht schultern können. Als
ich hier vor einigen Wochen darauf hingewiesen habe,
dass wir im Haushalt des BMBF mit rund 9 Milliarden
Euro etwa 13-mal weniger zur Verfügung haben als im
Haushalt des Ministeriums für Arbeit und Soziales mit
weit über 120 Milliarden Euro, wurde mir von der SPD
reflexartig vorgeworfen, ich wolle die Renten kürzen.
Das ist natürlich völliger Blödsinn. Aber es zeigt: Wir
müssen neue Wege gehen. Wir müssen den komplett unterentwickelten privaten Sektor der Hochschulfinanzierung deutlich stärken.
({1})
Italien, Spanien und die Niederlande, aber vor allem
Großbritannien und die USA machen uns vor, wie das
gehen kann. Ein Beispiel: Die New Yorker Columbia
University verfügt über jährliche Gesamteinnahmen in
Höhe von 2 Milliarden Dollar. Das Geld kommt überwiegend aus Forschungsaufträgen, aber auch aus Einnahmen aus Investmentkapital, Spenden und Gebühren.
Lediglich 24 Prozent, also rund ein Viertel des Geldes,
sind öffentliche Gelder. Mit diesen 2 Milliarden Dollar
bildet diese Universität jährlich 23 000 Studenten aus.
Zum Vergleich: Die Freie Universität Berlin, immerhin
Gewinnerin im Exzellenzwettbewerb, muss mit 300 Millionen Euro rund ein Drittel mehr Studenten, insgesamt
34 000, ausbilden. Das heißt, die amerikanische Hochschule bekommt vom Staat pro Student doppelt so viel
Geld wie die FU und hat insgesamt achtmal so viel Geld
pro Student zur Verfügung. Das ist der Maßstab.
Nun gibt es erste zarte Pflänzchen. In Nordrhein-Westfalen konnten die aus Studiengebühren erzielten Mittel in
Höhe von 320 Millionen Euro unter Beteiligung der
Studierenden gezielt und sachgerecht investiert werden.
Das ist unvergleichbar mehr, als jemals über einen Wettbewerb der Lehre an Geld fließen wird. Das ist ein echter Beitrag zur Verbesserung der Situation an den Hochschulen in Nordrhein-Westfalen.
Deswegen sagen wir Liberale: Schaffen wir den richtigen Rahmen für unsere Hochschulen! Geben wir ihnen
Entscheidungsfreiheit! Geben wir ihnen ein solides
finanzielles Fundament und die Freiheit, alternative
Finanzierungspotenziale zu erschließen einschließlich
der Möglichkeit zur selbstverantwortlichen Personalauswahl! Dann kann es einen echten Wettbewerb geben.
Dann lohnt es sich, über die Ausgestaltung der Parameter zu diskutieren. Alles andere wäre nur billiges Puppentheater. Wer billige Seifenblasen produzieren will,
der kann dies tun; aber daran wird sich die FDP nicht beteiligen.
Herzlichen Dank.
({2})
Nächster Redner ist der Kollege Swen Schulz für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Über die Bedeutung der Lehre für die Wissenschaft und
für die Gesellschaft sind wir uns hier im Hause vollkommen einig. Darüber muss ich hier nicht viele Worte verlieren. Es ist eine ganz zentrale Herausforderung für die
Politik und für die Hochschulen, exzellente Lehre für
alle Studierenden zur Verfügung zu stellen.
({0})
Exzellente Lehre für alle - in dieser Forderung stecken drei wesentliche Elemente. Erstens. Es muss ein
ausreichendes Angebot an Studienplätzen zur Verfügung
stehen. Zweitens. Alle müssen die gleiche Chance haben, ein Studium zu beginnen, auch in materieller Hinsicht.
({1})
Drittens. Die Qualität der Lehre muss stimmen.
Zunächst zur Quantität. Wir haben mit dem Hochschulpakt einen riesigen Schritt gemacht, um das Angebot an Studienplätzen in Deutschland auszubauen. Die
Grünen fordern aber in ihrem Antrag vollkommen zu
Recht, dass die Verhandlungen über die Fortsetzung des
Hochschulpaktes zügig aufgenommen werden, damit die
Hochschulen für die folgenden Jahre eine verlässliche
Planungsgrundlage haben. Mit diesem Hochschulpakt II
müssen wir, so denke ich, noch eine ordentliche Schippe
drauflegen. Wir müssen dabei immer im Sinn haben,
dass mehr Studierende nicht etwa eine Belastung sind,
ein dräuender Berg am Horizont, sondern eine tolle
Chance für unser Land. Wir wollen die Menschen für
das Studium gewinnen. Wir wollen sie überzeugen, dass
der Weg an die Hochschule richtig ist und dass er
Perspektiven bietet. Darum müssen wir dafür sorgen,
dass die Leute, die studieren wollen und können, auch
tatsächlich einen Studienplatz bekommen. Das gilt übrigens auch für die beruflich Qualifizierten.
({2})
Wir Sozialdemokraten sind darum vorsichtig, was
eine Änderung der Kapazitätsverordnung anbetrifft.
Diese Verordnung geht auf Urteile des Bundesverfassungsgerichts zurück. Es ist festgelegt, dass jeder die
Chance zur Aufnahme eines Studiums haben muss und
dass die Hochschulen darum entsprechend ihren personellen und räumlichen Kapazitäten Studienplätze anbieten müssen. Ich nehme die Kritik an der Kapazitätsverordnung durchaus ernst. Es wird argumentiert, dass
Verbesserungen in der Lehre kaum möglich seien, weil
jeder zusätzliche Professor mehr Studierende erzwinge
und somit die Betreuungsrelation schlecht bleibe. Allerdings gibt es auch dort hohe Abbrecherquoten, wo weniger Studierende auf einen Hochschullehrer kommen. Es
muss also noch andere Gründe für die Probleme in der
Lehre geben. Vor allem aber besteht ohne die Kapazitätsverordnung eine große Gefahr: Dann gibt es vielleicht ein optimales Verhältnis von Professoren zu Studierenden, aber eben nur für ganz wenig Studierende.
({3})
Ich will mir die Hochschulwelt nicht gerne ohne Kapazitätsverordnung oder ein ähnliches Instrument ausmalen. Ich glaube, es würden noch deutlich mehr Studierwillige vor verschlossenen Toren der Hochschulen
stehen, schließlich in die berufliche Ausbildung abwandern und einen entsprechenden Verdrängungseffekt mit
dem Ergebnis hervorrufen, dass am Ende junge Menschen ganz ohne Ausbildung und Zukunftsperspektive
dastehen. Das ist der falsche Weg.
({4})
Wir müssen also sehr vorsichtig mit der Kapazitätsverordnung umgehen; denn sie sichert vielen Menschen den
Weg in die Hochschulen. Änderungen können nur mit
Garantien für ein ausreichendes Angebot an Studienplätzen einhergehen.
Wir Sozialdemokraten fordern gleiches Recht für alle
und darum auch exzellente Lehre für alle. Wir begnügen
uns nicht damit, für einige wenige besondere Anstrengungen zu unternehmen. Das ist nicht nur eine Frage von
Gleichheit und Gerechtigkeit, sondern das ist auch für
die Wissenschaft wichtig; denn nur wenn wir alle Talente optimal fördern, bekommen wir auch viele Spitzenleute, die wiederum die Wissenschaft nach vorne
bringen.
({5})
Diese Spitzenleute müssen natürlich auch gute Arbeitsbedingungen haben. Wir unterstützen das.
({6})
Swen Schulz ({7})
Aber wir dürfen die sogenannte Breite nicht schlechtreden, lieber Herr Kollege Barth. Die ganz normalen Betriebswirtschaftler, Lehrer, Psychologen und Ingenieure
sind Fachkräfte, die die Gesellschaft und die Wirtschaft
brauchen. Ein Hochschulsystem, das sich nur um die
Nobelpreisträger kümmert und den Rest so nebenherlaufen lässt, ist grundlegend falsch organisiert.
({8})
Auch darum ist es so wichtig, dass wir in materieller
Hinsicht Chancengleichheit gewährleisten. Diese Koalition hat wirklich gute Verbesserungen beim BAföG beschlossen. Was wir hier im Bundestag leider nicht beschließen können, ist ein Verbot von Studiengebühren.
({9})
Das ist nach der Föderalismusreform Aufgabe der Bundesländer.
Die CDU/CSU und die FDP glauben, dass sie bei dem
Thema Studiengebühren die historische Wahrheit auf ihrer Seite haben.
({10})
Ich sage Ihnen voraus, lieber Kollege Barth: Sie werden
diese Position eines Tages räumen. Sie ist nämlich von
der Sache her falsch, und Sie bekommen von den Menschen keine Unterstützung dafür.
({11})
Sie müssen den Leuten in der Bildung den roten Teppich auslegen, anstatt Bildungsangebote mit Gebühren
zu belegen, die sich viele nicht leisten können. Das hat
sich bei der Schule durchgesetzt.
({12})
Das setzt sich gerade auch bei den Kindertagesstätten
durch, Herr Kollege Barth,
({13})
und das wird sich auch bei den Hochschulen wieder
durchsetzen; da bin ich mir sicher. Die Menschen werden sich daran erinnern, wer sich für sie eingesetzt hat
und wer nicht.
({14})
Neben einem ausreichenden Angebot an Studienplätzen, zu denen alle Zugang haben, die können und wollen, muss auch noch die Qualität stimmen. Da haben wir
ganz offenkundig erhebliche Probleme; zu Recht wird
das im Antrag der Grünen angesprochen. Die hohen Abbrecherquoten, auch die Schwierigkeiten bei Bachelor
und Master machen dringenden Handlungsbedarf deutlich.
In den letzten Jahren haben wir - neben dem Hochschulpakt - vor allem sehr viel für die Spitzenforschung
getan, etwa mit der Exzellenzinitiative. Das war und ist
richtig. Das werden wir auch weiterhin machen. Doch es
liegt auf der Hand, dass wir nun dringend einen zusätzlichen Schwerpunkt auf die Förderung der Lehre setzen
müssen.
Welche Instrumente stehen uns, dem Bundestag, und
der Bundesregierung dafür zur Verfügung? Zunächst
einmal die Bildungsberichterstattung. Das ist eine im
Grundgesetz mit Bedacht gesondert aufgeführte Aufgabe des Bundes. Gemeinsam mit der Förderung der Bildungsforschung haben wir damit ganz wichtige Hebel in
der Hand, um die Diskussion über exzellente Lehre voranzubringen und einen Prozess einzuleiten, eine Bewegung für bessere Lehre, der sich niemand entziehen
kann. Wir müssen also die Lehre zum Gegenstand der
Bildungsberichterstattung machen und die Bildungsforschung stärker mit der Frage „Qualität der Lehre“ befassen.
Außerdem wollen wir ein Hochschul-PISA. Die Erfahrungen mit der PISA-Studie der OECD für die Schulen sind beeindruckend. Ohne diese Studie hätte es die
massive Bewegung für eine bessere Bildung doch nicht
gegeben. Wir wünschen uns von der Bundesregierung,
dass sie diese Idee in den internationalen Gremien engagiert unterstützt; denn nur so und nur im internationalen
Vergleich gelangt die nötige Kraft in die Diskussion, die
wir zur Durchsetzung von Verbesserungen brauchen.
Die Grünen fordern in ihrem Antrag - nicht zum ersten Mal -, die Exzellenzinitiative um eine Wettbewerbslinie für herausragende und innovative Lehre zu erweitern.
({15})
Auch das ist eine gute Idee, um die Lehre voranzubringen, Anreize zu schaffen, gute Beispiele publik zu machen und die Hochschullandschaft generell in Bewegung
zu bringen. Lassen Sie mich dazu gleichwohl sagen, dass
ich, was die Wettbewerbsinstrumente anbetrifft, inzwischen ein bisschen zurückhaltend geworden bin. Ich
habe nämlich den Verdacht, dass tendenziell einige
wenige, finanziell besonders gut ausgestattete und
etablierte Einrichtungen über solche Wettbewerbe eine
zusätzliche Förderung absahnen. Die Rahmenbedingungen müssten deswegen entsprechend gestaltet werden,
damit auch die Kleinen und Armen Gewinnchancen haben.
Zum Schluss meiner Rede möchte ich auf eines meiner Lieblingsthemen zu sprechen kommen, nämlich auf
das Konzept „Geld folgt Studierenden“. Gestern in der
Debatte um ein mögliches Wissenschaftsfreiheitsgesetz
habe ich bereits darauf hingewiesen, dass die Hochschulen die Lehre häufig als Last empfinden, weil sie sich
nicht lohnt. Wissenschaftler und Hochschulen erhalten
Geld und Renommee über die Forschung und nicht für
die Lehre. Um das umzukehren, müssen wir die Rahmenbedingungen so gestalten, dass sich die Hochschulen um die Studierenden gewissermaßen reißen, weil sie
Geld bringen. Kein Bundesland wird es sich bei der Realisierung des Konzeptes „Geld folgt Studierenden“ dann
noch leisten wollen und können, Studierende einfach
Swen Schulz ({16})
ziehen zu lassen, und für die Hochschulen wären die
Studierenden dann keine Last mehr, sondern eine
Freude.
({17})
- Das habe ich gestern gesagt.
Das ist ein spannendes und wichtiges Feld. Ich hoffe
- die SPD-Fraktion setzt sich engagiert dafür ein -, dass
wir hier im Deutschen Bundestag eine Mehrheit für entsprechende Maßnahmen zur Verbesserung der Lehre bekommen.
Herzlichen Dank.
({18})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist nun die Kollegin
Cornelia Hirsch.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Linke begrüßt es sehr, dass die Grünen heute das
Thema „Gute Lehre“ auf die Tagesordnung gesetzt haben. Im Namen meiner Fraktion möchte ich drei Punkte
nennen, mit denen ich teilweise Widerspruch zu den Inhalten des Antrags deutlich mache, sie teilweise aber
auch einfach als Ergänzung und Bereicherung ansehe.
Erster Punkt. Uns fehlt in dem Antrag die Feststellung, dass gute Lehre auch immer gute Arbeitsbedingungen bedeutet; wir haben in der gestrigen Debatte bereits
darüber diskutiert. Wir als Linke sind der Auffassung,
dass sich die Große Koalition in dieser Hinsicht nicht gerade mit Ruhm bekleckert hat, weil sie mit dem Wissenschaftszeitvertragsgesetz die Hire-and-fire-Mentalität in
der Wissenschaft noch viel stärker verbreitet hat.
Wir finden es auch nicht richtig, dass einfach hingenommen wird, wie mein Kollege Volker Schneider gestern dargestellt hat, dass im akademischen Mittelbau
teilweise wirklich katastrophale Arbeitsbedingungen
herrschen und der Stundenlohn beispielsweise für Promovierende unter dem Mindestlohn in der Reinigungsbranche liegt. Die Linke wird das auf keinen Fall akzeptieren. Wenn wir gute Lehre haben wollen, dann muss
sich an dieser Stelle etwas ändern.
({0})
Zweiter Punkt. Gute Lehre heißt auch, dass wir nicht
weiter in die Sackgasse der Elite- und Exzellenzwettbewerbe rennen dürfen. Hier melden wir in Bezug auf den
Antrag der Grünen ganz deutlichen Widerspruch an.
Nachdem sich jetzt der erste riesige Freudentaumel und
die Begeisterung über die erste Exzellenzinitiative der
Bundesregierung gelegt haben, zeigt sich, dass schon
diese Exzellenzinitiative mehr Probleme aufwirft, als sie
Lösungen für die Misere an den Hochschulen anbietet.
Das beste Beispiel ist die Debatte über die Frage, ob
die jetzt geförderten Hochschulen in der Förderung bleiben sollen oder ob sie aus ihr wieder herauskommen
können. Das ist eine Entscheidung zwischen Pest und
Cholera. Im ersten Fall zementieren wir eine Zweiklassenbildung, und im zweiten Fall kommen wir zu ganz
problematischen hochschulinternen Umverteilungsmechanismen, weil die Hochschulen alles aus den nichtgeförderten Studiengängen herausziehen, um die Exzellenzprojekte weiterzuführen. Das heißt dann in keinem
Fall gute Bildung und auch nicht gute Lehre.
Wenn wir gute Lehre erreichen wollen, dann darf es
deshalb keine weiteren Runden der Exzellenzinitiative
mehr geben, auch nicht mit dem Unterpunkt Lehre. Es
muss stattdessen ein finanziell gut ausgestatteter zweiter
Hochschulpakt in die Wege geleitet werden, Frau
Grütters; das darf nicht nur so ein Tropfen auf den heißen Stein sein wie beim ersten Hochschulpakt.
({1})
Dritter Punkt. Gute Lehre muss auch die Frage beantworten: Was wird eigentlich gelehrt und gelernt? Da bietet sich aus Sicht der Linken ein Blick nach Venezuela
an. Ich konnte in der letzten Woche im Rahmen einer
Delegationsreise die vor einigen Jahren gegründete Bolivarische Universität in Caracas besuchen. Diese Hochschule ist nicht nur deshalb beeindruckend, weil da soziale Öffnung anders als hier kein Fremdwort, sondern
die Grundlage der Hochschule ist, sondern auch deshalb,
weil die Einheit von Forschung und Lehre, die bei uns
immer wieder betont wird, dort noch um ein drittes Element ergänzt wird, nämlich um das Element der Praxis.
Dazu ein Beispiel. Praxis an dieser Hochschule kann
so aussehen, dass Studentinnen und Studenten der Architektur direkt in die Armenviertel gehen, sich vor Ort anschauen, was dort überhaupt passiert, das in die Hochschule zurücktragen und überlegen, wie die Wissenschaft
dazu beitragen kann, dass ein soziales Grundrecht auf
Wohnen realisiert wird.
({2})
Schon dieses Beispiel zeigt, dass der Praxisbegriff dort
das Gegenteil von dem Praxisbegriff in der deutschen
Hochschulpolitik ist. Bei uns geht es rein um Anpassung
an bestehende Verhältnisse, um eine bessere kapitalistische Verwertbarkeit, aber nicht um das Vorankommen der
Gesellschaft, nicht um eine Wissenschaft im gesamtgesellschaftlichen Interesse.
Wir als Linke hoffen, dass diese Ansätze aus Venezuela auch hier in Deutschland und in Europa aufgegriffen werden und etwas von dieser revolutionären Kraft
auch hier ankommt. Diese revolutionäre Kraft brauchen
wir für eine gute Lehre an den Hochschulen und auch in
allen weiteren gesellschaftlichen Bereichen.
Besten Dank.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/8211 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan
Mücke, Horst Friedrich ({0}), Patrick
Döring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Zukunft der Flugsicherung verfassungskonform gestalten
- Drucksache 16/7133 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
Fraktion der FDP sechs Minuten erhalten soll. - Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann werden wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Jan Mücke für die FDP-Fraktion das Wort.
({2})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 23. Oktober 2006 hat der Herr Bundespräsident das Parlament
darüber informiert, dass er das hier im Hause beschlossene Flugsicherungsgesetz nicht unterschreiben werde,
weil er es für evident verfassungswidrig hält.
Nun haben wir seit mehreren Jahren den Zustand,
dass in einigen Gebieten von Deutschland die Flugsicherung durch nichtdeutsche Flugsicherungsdienste durchgeführt wird. Das bekannteste Beispiel hierfür ist, wie
ich glaube, die Firma Skyguide, die die Flugsicherung
im südbadischen Raum übernommen hat, obwohl es
nach Auffassung des Herrn Bundespräsidenten eigentlich verfassungsrechtlich unzulässig ist, dass sie dort tätig ist. Er hat sich nämlich auf ein Gutachten bezogen, in
dem es heißt, dass Flugsicherungsaufgaben nach der derzeitigen Lage des Grundgesetzes hoheitlich wahrzunehmende sonderpolizeiliche Aufgaben des Staates sind.
Insbesondere problematisch wird dieser Fall dadurch,
dass gegenüber ausländischen Flugsicherungsorganisationen keinerlei Eingriffsrechte durch den deutschen
Staat bestehen. Aus diesem Grunde haben wir seit mehreren Jahren in Deutschland einen verfassungswidrigen
Zustand, mit dem man sich eigentlich nur deshalb abfinden konnte, weil man eine Servitutslösung gefunden hat.
Man erklärt also diese Flugsicherungsdienste zu einer
Art Dienstbarkeit, die durch fremde Dritte erbracht wird.
Allerdings hält das einer genauen verfassungsrechtlichen
Prüfung nicht stand.
({0})
Noch etwas müssen wir dazu sagen: Dies ist auch keine
elegante verfassungsrechtliche Lösung.
Deshalb sind wir als Parlament gefragt, eine Lösung
zu finden, die der gegenwärtigen Faktenlage Rechnung
trägt und gleichzeitig der Deutschen Flugsicherung, die
eine der besten Flugsicherungsorganisationen der Welt
ist,
({1})
die Möglichkeit gibt, wirtschaftlich über den derzeit eigenen Tätigkeitsraum in Deutschland hinaus tätig zu
werden. Deshalb stellt sich für uns die Frage, ob wir
nicht jetzt endlich den Weg nach vorne einschlagen und
gemeinsam Schritte gehen sollten, um das Grundgesetz
zu ändern. Damit könnten wir der Deutschen Flugsicherung eben auch ermöglichen, außerhalb Deutschlands tätig zu werden.
Europa gibt dafür im Übrigen den Takt vor. Nach europäischer Auffassung handelt es sich bei Flugsicherungsdiensten nämlich keineswegs um sonderpolizeiliche Aufgaben, sondern nach europäischer Auffassung
handelt es sich dabei schlicht um Dienstleistungen. Das
macht auch Sinn. Auf europäischer Ebene wird ja darüber nachgedacht, funktionale Luftraumblöcke einzurichten. Es soll also versucht werden, die Flugsicherung,
statt sie wie bisher an den nationalen Grenzen aufhören
bzw. beginnen zu lassen, etwas breiter aufzustellen. Damit könnten Flugsicherungsdienste länderübergreifend
tätig werden. Hieraus ergibt sich für uns die klare Konsequenz, dass wir verfassungsrechtlich tätig werden
müssen. Dazu möchten wir Sie mit unserem Antrag einladen.
({2})
Es gibt ein weiteres Argument, warum Europa diesen
Weg eingeschlagen hat. Europa hat sich nämlich vorgenommen, einen Single European Sky zu kreieren. Damit
wären große Erleichterungen für den Flugverkehr verbunden, sowohl hinsichtlich der Reisezeiten als auch
hinsichtlich der ökologischen Seite, die immer wichtiger
wird. Es macht ja schlicht keinen Sinn, dass riesige Umwege in Europa in Kauf genommen werden müssen,
weil Flugzeuge entlang von Ländergrenzen bzw. durch
nationale Luftraumblöcke fliegen müssen. Diese könnten vermieden werden, wenn funktionale bzw. Flugsicherungsgrenzen keine Rolle mehr spielten und Flugzeuge von Punkt zu Punkt fliegen dürften.
({3})
Es gibt dazu unterschiedliche Schätzungen. Das Umweltbundesamt geht von möglichen CO2-Einsparungen
von mindestens 9 Prozent aus. Andere sagen, 16 Prozent
des CO2-Ausstoßes könnten allein dadurch eingespart werden, dass man innerhalb von Europa von Punkt zu Punkt
fliegt. Voraussetzung dafür sind länderübergreifende
funktionale Luftraumblöcke. Von daher wäre es aus unserer Sicht richtig, diesen Weg zu beschreiten und zu
versuchen, eine verfassungsrechtlich saubere Lösung zu
finden. Warum tun wir das im Wege einer Kapitalprivatisierung? - Es geht dabei nicht so sehr darum, dass Flugsicherungsdienste von ausländischen Organisationen
auch in Deutschland erbracht werden können. Dagegen
ist nichts zu sagen. Wir Liberale sind Fans von Wettbewerb. Aber wir wollen vor allen Dingen, dass, wenn Single European Sky geschaffen wird, die deutsche Flugsicherung die Chance hat, im Wettbewerb zu bestehen.
({4})
Das kann sie nur, wenn sie technisch optimal ausgerüstet
ist. Technisch optimal ausgerüstet werden kann sie nur,
wenn sie genügend Kapital besitzt, um in anderen Ländern tätig zu sein und investieren zu können.
({5})
Diesen Weg wollen wir der deutschen Flugsicherung
nicht verbauen. Im Gegenteil: Wir möchten ihr die
Chance geben, am Kapitalmarkt Finanzmittel zu besorgen, um über Ländergrenzen hinaus international tätig
zu werden, damit der erfolgreiche Weg dieses ganz hervorragenden Unternehmens - es war ja ursprünglich eine
Bundesanstalt, die wir alle gemeinsam 1993 auf den
Weg in Richtung Privatisierung, in Richtung Dienstleistung geführt haben -, der dem Unternehmen sehr gut getan hat, weiter beschritten werden kann.
Wir laden Sie alle herzlich ein, mit uns gemeinsam
eine Lösung zu finden. Die FDP-Bundestagsfraktion ist
bereit, das Grundgesetz entsprechend zu ändern und anzupassen. Sie sind herzlich eingeladen, mitzumachen.
Vielen Dank.
({6})
Der nächste Redner ist der Kollege Norbert
Königshofen für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Kollege Mücke! Besonders begrüßen
möchte ich unseren Sprecher, Dirk Fischer, der eigens
aus Hamburg gekommen ist, um an dieser Debatte teilzunehmen.
({0})
Zunächst einen Glückwunsch an die SPD. Ich habe
gerade erfahren, dass das Experiment in Hessen gestoppt
worden ist.
({1})
- Das hat mit der Debatte nichts zu tun, ist aber eine
Neuigkeit, die von besonderer Bedeutung ist.
Meine Damen und Herren, ich freue mich außerordentlich, dass wir heute zur Primetime vor vollem
Haus auf Antrag der Kollegen der FDP das Thema Flugsicherung diskutieren. Ausdrücklich möchte ich mich
bei der Opposition für das Engagement in Sachen Neuregelung der Flugsicherung bedanken. Gott sei Dank haben wir in dieser Frage eine sehr konstruktive Haltung
der Opposition, also nicht nur der FDP, sondern auch der
Grünen, in der Vergangenheit gehabt. Bereits im Jahre
2006 haben wir ja gemeinsam das erste Gesetz verabschiedet, das leider vom Bundespräsidenten wegen der
Bedenken hinsichtlich der Verfassungskonformität nicht
ausgefertigt wurde. Jetzt gilt es, auf der Grundlage der
Entscheidung des Bundespräsidenten einen neuen Gesetzentwurf vorzulegen, zu beraten und zu beschließen,
der verfassungskonform ist. Ich bin deswegen für den
Antrag der FDP dankbar, weil in ihm noch einmal die
Punkte angesprochen und zusammengefasst werden,
über die wir reden müssen. In der Regel sind dies
Punkte, in denen wir, wie ich glaube, weit über die Grenzen der Regierung hinaus einig sind. Daher ist der Antrag hilfreich.
Ich nenne ein paar Beispiele: Natürlich wollen wir,
dass die SES-Verordnungen in deutsches Recht umgesetzt werden. Wir wollen selbstverständlich den einheitlichen europäischen Himmel. Damit wollen wir Kerosin
und Kosten sparen sowie einen außerordentlichen Beitrag
zum Umweltschutz leisten. Von allen Maßnahmen - da
sind sich alle Experten einig -, die wir ergreifen können,
um im Luftverkehr Umweltschutzeffekte zu erzielen,
wäre die Umsetzung der SES-Verordnungen die wichtigste Maßnahme.
Wir wollen also ein Gesetz, in dem Art und Durchführung der Flugsicherung präzise geregelt ist, in dem
die Haftungsfragen hinreichend geregelt werden, in dem
der ungesetzliche Zustand, den wir zurzeit in Deutschland vor allem in den Grenzregionen und insbesondere
im süddeutschen Raum haben, beseitigt wird. Darauf hat
mein Vorredner ja schon hingewiesen.
Es gibt aber einige Punkte, über die wir noch intensiv
diskutieren müssen, auch in der Koalition. Das Grundgesetz ändert man schließlich nicht mal eben so. Gerade
die FDP wird verstehen, dass wir darüber sehr sorgfältig
nachdenken müssen. Schließlich hat sie sich immer als
Rechtsstaatspartei verstanden; das war ja ihr Markenzeichen.
({2})
- Das ist es immer noch. Ich freue mich darüber.
Es wird überlegt, ob man das nicht auch anders machen kann. Im Ministerium wird zum Beispiel darüber
nachgedacht, ob das über eine SES-II-Verordnung geregelt werden kann. Ich teile diese Meinung nicht. Ich
glaube, dass wir, wenn SES II in Kraft tritt, das Jahr
2011 schreiben werden. Das Europäische Parlament
wird im nächsten Jahr neu gewählt. Dann fällt die Sache
dem Prinzip der Diskontinuität zum Opfer, und es muss
von vorne begonnen werden. Das Verfahren dauert dann
wieder 18 Monate, sodass wir im Januar 2011 ankommen.
Wir müssen uns die Sache genau überlegen. Die Koalition macht sich das nicht leicht.
({3})
Ich darf daran erinnern, dass wir bei dem ersten Gesetzentwurf zur Kapitalprivatisierung der DFS über Fraktionsgrenzen hinweg mit Ausnahme der Linken eine einheitliche Haltung vertreten haben. Nach dem Parteitag
der SPD in Hamburg ist die Sache aber nicht leichter geworden. Das muss man offen ansprechen. Sehen Sie, wir
nehmen die Bedenken der FDP ernst, die Bedenken unseres Koalitionspartners nehmen wir aber besonders
ernst. Darüber muss man diskutieren. Ich hoffe, dass wir
einen Weg finden, der uns gemeinsam zum Ziel führt.
Ich erinnere daran, dass wir uns im Koalitionsvertrag
darauf verständigt haben, die Deutsche Flugsicherung
einer Teilkapitalprivatisierung zuzuführen. Ich meine,
dieses Vorhaben ist nach wie vor richtig und notwendig.
Der Bundespräsident hat in seinen Erläuterungen einen
Weg gewiesen. Ich glaube, dass wir einen neuen Anlauf
starten und diesen Weg beschreiten sollten.
Es wird zu fragen sein, wie hoch der Prozentsatz für
eine Teilkapitalprivatisierung sein soll. Damals sind wir
von 74,9 Prozent ausgegangen. Wenn Sie die Erläuterungen zur Entscheidung des Bundespräsidenten genau lesen, werden Sie feststellen, dass auch das überdacht werden muss. Die Frage ist, ob wir mehr als 49,9 Prozent
veräußern können. Das muss sorgfältig geprüft werden.
All das geschieht aber erst im zweiten Schritt. Im ersten Schritt müssen wir den verfassungswidrigen Zustand
in Deutschland beseitigen. In weiteren wichtigen Schritten müssen wir die SES-Vorgaben umsetzen, die Regulierungsbehörde einsetzen und die DFS in die Lage versetzen, im europäischen Einigungsprozess an führender
Stelle mitzuspielen. Unsere Auffassung war doch immer: Wenn wir schon die beste Flugsicherung Europas,
vielleicht sogar der Welt haben - so wurde sie jedenfalls
ausgezeichnet -, wäre es fahrlässig, bei einer Vereinheitlichung der Flugsicherung auf europäischer Ebene nicht
an führender Stelle dabei zu sein.
({4})
Dafür müssen die Voraussetzungen geschaffen werden.
Ich gehe davon aus, dass das Ministerium, mutig wie
es ist, bald eine Vorlage erstellen wird, die uns in die
Lage versetzen wird, das Notwendige zu beschließen
und umzusetzen. Ich sage Ihnen ganz offen: Wenn wir
den Eindruck gewinnen sollten, dass das, aus welchen
Gründen auch immer, nicht über eine Vorlage der Regierung geht, dann sind die Koalitionsfraktionen gefordert.
Das haben wir schon einmal gemacht: Ich darf daran
erinnern, dass das Parlament 1993 in einem zweiten
Anlauf fraktionsübergreifend einen Schritt in Richtung
Privatisierung unternommen hat. Deswegen bin ich zuversichtlich. Wir werden hierüber im Ausschuss diskutieren. Ich gehe davon aus, dass wir hinterher wieder ein
Gesetz beschließen, das mit breiter Mehrheit, und zwar
nicht nur von CDU/CSU und SPD, sondern auch von
weiten Teilen der Opposition, getragen wird. Das ist notwendig, weil Deutschland es braucht, weil Europa es
braucht und weil es letzten Endes dazu beiträgt, dass
eine ganz wichtige Wirtschaftsbranche, nämlich die
Luftfahrt, in eine geordnete Zukunft gehen kann.
Danke schön.
({5})
Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin
Dorothée Menzner das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Es wurde schon einiges über die künftige Ausrichtung
der Flugsicherung gesagt. Es geht um einen Antrag, der
eigentlich eine falsche Wortfolge in der Überschrift hat.
Die Überschrift heißt „Zukunft der Flugsicherung verfassungskonform gestalten“. Doch wer diesen Antrag
liest, wird feststellen, dass die FDP das Gegenteil will,
nämlich das Grundgesetz flugsicherungskonform gestalten, also das Grundgesetz so verändern, dass es zu der
aktuellen Situation passt.
Dabei hat sich schon Professor Schoch, der Gutachter
des Bundespräsidenten, klar geäußert. Ich zitiere die
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14. Mai letzten
Jahres:
Aber bei allen Varianten der Privatisierung der
Flugsicherung gibt es einen strukturellen Schnitt
zwischen der Aufsicht durch die öffentliche Hand
und dem operativen Geschäft der Privaten. Auf
Letzteres kann der Bund nicht mehr einfach durchgreifen.
Ich möchte noch zwei weitere Sätze aus demselben
Interview zitieren:
Nach einer Privatisierung der Flugsicherung hat der
Bund nicht mehr die volle Entscheidungsgewalt …
Man braucht nicht viel Phantasie, um sich Krisensituationen vorzustellen, in denen dies schädlich
sein könnte.
Das, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, wollen Sie mit diesem Antrag allen Ernstes noch toppen?
Nach dem hoheitlichen Aspekt, den ich eben angeschnitten habe, komme ich zu den finanziellen Konsequenzen einer jeden Privatisierung. Wir kennen das auch
von der Bahn. Oft wird von privatisierten Gewinnen und
verallgemeinerten Kosten gesprochen. Dazu habe ich im
Hinblick auf die Flugsicherung die Bundeshaushaltspläne der letzten Jahre durchforstet. Siehe da, ich bin
fündig geworden, und zwar bei den Ruhestandsbezügen
all derjenigen, die für die Flugsicherung in der Vergangenheit gearbeitet haben. Auch diese Aufwendungen
fließen in die Gebühren der Flugsicherung ein. Die
Deutsche Flugsicherung GmbH müsste sie dem Bund erstatten, denn er zahlt die Pensionen. Aktuell bezahlt er
sie sogar allein.
Genaueres steht im Haushaltstitel 261 05-751. Unter
Ziffer 1, „Erstattungen … durch die Deutsche Flugsicherung GmbH“ findet sich Folgendes: „Gebührenanteile
für die Altersversorgung“. Im Jahr 2005 waren das
8,5 Millionen Euro, 2006 nur noch 1,5 Millionen Euro,
2007 nur noch 150 000 Euro und 2008, ganz aktuell,
sage und schreibe 0 Euro. Das macht von 2006 bis 2008
satte 20 Millionen Euro, die von den Steuerzahlerinnen
und Steuerzahlern getragen werden. Auch so kann man
Bilanzen bei Privatisierungen eindrucksvoll schönrechnen.
Mit Verlaub: Der einzig gangbare Schritt aus dem Privatisierungsschlamassel, den wir in dieser Legislaturperiode erlebt haben, liegt nun im Aufbau einer Aufsicht
der Flugsicherung, dem Aufbau einer Bundesanstalt für
Flugaufsicht, der BAF. Diese Behörde ist mit genügend
Personal auszustatten, und zwar mit Bundesbeamten,
nicht mit Angestellten.
({0})
Diese Beamten müssen - darauf ist zu achten - unabhängig von Weisungen der Flugsicherung GmbH sein. Nur
das wäre mit der EU-Verordnung in Einklang.
An der Umsetzung arbeitet offensichtlich die Bundesregierung, das begrüßen wir. So verstehe ich auch die
Äußerung des Vertreters der Bundesregierung auf dem
Symposium „Perspektiven für die Flugsicherung in
Deutschland und Europa“, das kürzlich hier in Berlin
stattfand.
Eine solche solide Trennung von Aufsicht und Durchführung der Flugsicherung ist nichts anderes als das, was
meine Fraktion in der Bundestagsdrucksache 16/3803
schon im Dezember 2006 gefordert hat. Von daher werden wir uns das, was vorgelegt wird, sehr genau ansehen. Wir hoffen, dass es - wie es den Anschein hat - in
die richtige Richtung geht.
Ich danke.
({1})
Nächster Redner ist der Kollege Uwe Beckmeyer für
die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Wenn man an den Luftraum und an die Flugsicherung denkt, vermutet man, sie seien in Europa grenzenlos. Man wünscht sich das; aber das Gegenteil ist der
Fall. Zurzeit haben wir Grenzen in einem Bereich, der
eigentlich anders strukturiert und gestaltet sein sollte. Es
gibt eine EG-Verordnung zur Schaffung eines einheitlichen europäischen Luftverkehrsraums. Ich denke, wir
haben auch in Deutschland die Pflicht, unsere national
ausgerichtete und organisierte Flugsicherung diesem
neuen Umstand anzupassen. Dazu hat es in dieser Legislaturperiode einen ersten Anlauf gegeben. Einige Kollegen haben bereits darauf hingewiesen.
Es geht uns in dieser Legislaturperiode darum, endlich auch hier in Deutschland eine rasche Rechts- und
Strukturreform durchzuführen, nicht unbedingt eine Kapitalprivatisierung, über die immer wieder diskutiert
wird, sondern eine Rechts- und Strukturreform der deutschen Flugsicherung, die dieser EG-Verordnung entspricht. Ich glaube, das Entscheidende dabei ist, dass wir
die national ausgerichtete und organisierte Flugsicherung endlich transformieren in eine neue Struktur, die offen und in der Lage ist, kooperativ über die nationalen
Grenzen hinaus innerhalb des europäischen Luftblocks
zu operieren.
Dazu ist, denke ich, ein Änderungsgesetz notwendig.
Dieses Änderungsgesetz wird ganz bestimmte Merkmale
zu tragen haben. Die rechtlichen Voraussetzungen der
Trennung von regulativen und operativen Bereichen der
Flugsicherung müssen geschaffen werden. Die Experten,
die sich mit diesem Thema beschäftigen und uns Rat
geben, weisen zu Recht darauf hin - ich unterstreiche
das deutlich -: Flugsicherung ist etwa zu 95 Prozent eine
Dienstleistung und zu 5 Prozent ein hoheitlicher Akt. Ich
denke, das bedeutet auch, dass sich diese Dienstleistung
dem Wettbewerb in Europa stellen muss. Daher muss die
deutsche Flugsicherung in der Lage sein, diesen Wettbewerb in irgendeiner Form zu bestehen. Die Struktur
muss dazu dienlich sein.
({0})
Insofern sind diese Rechts- und Strukturfragen rasch
anzugehen. Es gibt zurzeit unter den Fachleuten und Berichterstattern die Diskussion, ob das einzelgesetzlich
unterhalb einer Änderung des Grundgesetzes möglich ist
oder nicht. Ich bin der Meinung: Wenn es eine gesetzliche Form gibt, die ohne Grundgesetzänderung möglich
ist, dann gerne, aber es muss rechtlich zweifelsfrei sein.
Wenn es nicht rechtlich zweifelsfrei ist, wird dieses Parlament an einer Änderung des Grundgesetzes nicht vorbeikommen.
({1})
Denn ich möchte nicht, dass wir hier ein Gesetz verabschieden, das dann im Bundespräsidialamt erneut nicht
ausgefertigt wird. Ich denke, über diese Hürde müssen
wir uns im Klaren sein. Wir brauchen auch von den Verfassungsressorts klare Antworten hinsichtlich einer entsprechenden Gesetzesnovelle. Wir brauchen Klarheit.
Eine verfassungsrechtliche Grauzone kann und wird es
mit dem Haus hier nicht geben können.
({2})
Ich will noch etwas sagen, das wichtig ist und klargestellt werden muss: Die Situation in Deutschland
unterscheidet sich von der in anderen Staaten. In
Deutschland ist die Flugsicherung in der Verfassung geregelt. Dadurch wollten wir deutlich machen, dass sie
eine Aufgabe des Bundes und keine Aufgabe der Länder
ist. In den Verfassungen unserer europäischen Nachbarstaaten sind keine Regelungen zur Flugsicherung enthalten. Auch das ist ein Hinweis darauf, dass es sich hierbei
um eine Dienstleistung handelt. Als Mann von der Küste
weise ich nur darauf hin: Unser Lotswesen beispielsweise ist nicht im Grundgesetz verankert. Man muss also
genau hinschauen, um welche Thematik und um welche
Fragestellungen es jeweils geht.
Ich habe die Hoffnung, dass die Deutsche Flugsicherung bei der Einrichtung funktionaler Luftraumblöcke in
Europa schon bald eine wichtige und gestaltende Rolle
spielt. Auf europäischer Ebene brauchen wir eine gestalterische Kraft, und die Deutsche Flugsicherung - das ist
vorhin schon erwähnt worden - gehört zu den besten
Flugsicherungen der Welt. Sie erbringt eine wichtige
Dienstleistung. Die Sicherheit in diesem Bereich konnte
immer weiter erhöht werden. Die Bürgerinnen und Bürger bzw. die Passagiere verlangen von der Deutschen
Flugsicherung eine einzigartig gute Leistung.
In diesem Zusammenhang sind aber noch einige Fragen zu klären. Dabei geht es um die Flugsicherung an regionalen Flughäfen, um die Flugsicherung in Grenzgebieten, insbesondere im süddeutschen Luftraum durch
Skyguide, aber auch um die Umsetzung des Konzepts
der funktionalen Luftraumblöcke. Diese Themen müssen sauber abgearbeitet werden. Das verlangt schon der
Umstand, dass sie immer noch auf unserer Tagesordnung stehen. Auf diese Themen sollten wir uns bei unserer Arbeit konzentrieren.
Jetzt möchte ich einen Punkt ansprechen, der in der
derzeitigen öffentlichen Diskussion zu kurz kommt Kollege Königshofen hat diesen Gedanken bereits aufgegriffen, und ich will diesen Aspekt betonen: Wir haben die Chance, durch die Umsetzung des Konzepts der
funktionalen Luftraumblöcke in Europa für einen enormen Minderverbrauch von Kerosin zu sorgen. Durch die
Realisierung dieses Konzepts können Umwegflüge
- teilweise machen diese Umwege einige hundert Kilometer aus - in Europa vermieden werden. Das ist ein
hehres Ziel. Nichtsdestotrotz sollten wir uns vornehmen,
dieses Ziel zu erreichen.
Da wir immer davon reden, dass das Flugzeug ein
emissionsträchtiges Transportmittel ist, möchte ich darauf hinweisen: Wir müssen auch für die Fluggesellschaften die Voraussetzungen schaffen, dass sie von
Frankfurt nach Madrid nicht 1 600 Kilometer fliegen
müssen, sondern dass sie für diese Strecke vielleicht nur
1 100 Kilometern brauchen, weil sie die kürzeste Luftlinie fliegen können und nicht aufgrund verschiedener nationaler Luftraumzuständigkeiten Umwege fliegen müssen. Das ist ein sehr wichtiger Punkt.
({3})
Fachleute schätzen, dass wir dadurch circa 12 Prozent
des Kerosinverbrauchs einsparen könnten. Diese Perspektive verdient eine nationale bzw. europäische Anstrengung. Indem wir die Verkehrsströme und die Flugrouten optimieren, würden wir nicht nur für mehr
Sicherheit in Europa sorgen, sondern auch einen ökologisch sehr sinnvollen Ansatz zur Vermeidung zusätzlicher Emissionen verfolgen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, Sicherheit
ist bei all dem oberstes Gebot. Die Deutsche Flugsicherung funktioniert sehr gut. In der Vergangenheit haben
wir es auch geschafft, eine Abgrenzung von militärischer und ziviler Flugsicherung vorzunehmen. Die integrierte Flugsicherung funktioniert in Deutschland hervorragend. Da sitzen die Blauröcke neben den Zivilisten,
und sie arbeiten hervorragend zusammen. Das sollten
wir perspektivisch auch auf europäischer Ebene erreichen. Wir müssen die vor uns liegenden Aufgaben klug
angehen, um letzten Endes ein verfassungsfestes Gesetz
auf den Weg zu bringen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Winfried Hermann für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich glaube, als der Bundespräsident die Kapitalprivatisierung der Flugsicherung vor rund anderthalb
Jahren gestoppt hat, waren die meisten von uns doch
ziemlich überrascht. Auch wir hatten natürlich gewisse
Zweifel. Dass die Entscheidung damals so eindeutig ausgefallen ist, hat uns aber überrascht. Seitdem - das muss
man nüchtern feststellen - hängt die Deutsche Flugsicherung buchstäblich in der Luft, und seitdem hängen
auch einige andere Flugsicherungsgesellschaften ohne
verfassungsmäßige Grundlage in der Luft. Denn wenn
man das Gutachten und den Spruch des Bundespräsidenten ernst nimmt, dann kommt man zu dem Ergebnis,
dass das Grenzregime von privaten Flugsicherungen, das
wir in Süddeutschland haben - die Skyguide -, auch
nicht verfassungskonform ist. Dann ist es auch nicht mit
der Verfassung in Einklang zu bringen, dass wir auf Regionalflughäfen private Fluglotsen haben, die auch keiner Bundesbehörde angehören. Hier herrscht also offensichtlich ein Zustand, der korrigiert werden muss.
Die Große Koalition stochert bei der Suche nach einer
Lösung ein bisschen im Nebel; das muss man schon sagen.
({0})
Sonst würde uns nach anderthalb Jahren ein Gesetzentwurf vorliegen.
({1})
Auf Nachfragen bei der Bundesregierung haben wir
festgestellt, dass es auch in der Bundesregierung keine
Einigkeit gibt. Die verschiedenen Ressorts haben sich
nicht darauf einigen können, wie man das angeht; sonst
läge ein Gesetzentwurf vor.
Ich sage dies nicht mit besonderer Häme; denn ich
weiß, dass die Problematik nicht einfach zu lösen ist.
Wir haben damals bei diesem Gesetzentwurf mitgemacht und - das sage ich ganz offen - geglaubt, dass
man mit einem geschickten Gesetzentwurf an einer Verfassungsänderung vorbeikommt. Je länger man darüber
räsoniert, desto mehr denke ich, dass das auch ein Versuch war, an der Realität vorbeizuschauen. Die Realität
der deutschen Verfassung gibt meines Erachtens nicht
her, was durch das Privatisierungsgesetz versucht worden ist.
Ich will das an folgendem Bild deutlich machen. Das
Grundgesetz schreibt im Grunde genommen vor, dass
die Flugsicherung von einer Bundesbehörde wahrgenommen werden muss. Das hat man sich vor 50 Jahren
so ausgedacht. Da war aber die Situation in Deutschland
und in Europa völlig anders. Die damaligen Verfassungsväter konnten sich nicht vorstellen, dass es einmal
einen einheitlichen europäischen Himmel geben würde.
Sie konnten sich auch nicht vorstellen, dass es einmal so
viel Luftverkehr geben würde und dass es am Schluss
keine hoheitliche Aufgabe, sondern überwiegend eine
Dienstleistungsaufgabe sein würde.
Insofern muss man einfach sagen, die derzeitige
grundgesetzliche Regelung trägt der Realität im europäischen Luftverkehr, die sich in den letzten 50 Jahren verändert hat, nicht mehr Rechnung. Deshalb müssen wir,
glaube ich, darüber nachdenken, wie wir eine Gesetzesregelung, eine Organisationsform hinbekommen, die einerseits die europäischen Anforderungen realer und
rechtlicher Art erfüllt und die Verordnung Single European Sky umsetzt, die auf der anderen Seite aber verfassungsmäßig sauber abgesichert ist.
({2})
Nun gehöre ich zu den Leuten, die sagen, die Verfassung tastet man nicht einfach an, schon gar nicht wegen
nur eines Gesetzes. Aber wenn man feststellt, dass die
Verfassung eine Regelung enthält, die überhaupt nicht
mehr zeitgerecht ist, dann muss man darüber nachdenken, wie man die Organisation und die Verfassung zusammenbringt.
Wenn wir allerdings zu einer vernünftigen Regelung
kommen wollen - das sage ich ganz klar -, dann müssen
wir, glaube ich, einen neuen Anlauf machen. Wir kommen nicht weiter, wenn wir an dem alten Modell, mit
dem wir gescheitert sind, hier noch ein bisschen herumbasteln und dort noch ein bisschen herumbasteln und
einfach das Grundgesetz ändern. Vielmehr müssen wir
mit dem neuen Modell die folgenden Fragen klar beantworten: Wie sichern wir die Grenzregime ab? Wie schaffen wir rechtliche Voraussetzungen für funktionale Lufträume in Europa, die nicht mehr national sein können?
Wie stellen wir sicher, dass ein nationales Kontrollregime trotzdem funktioniert? Denn es geht nicht nur um
Dienstleistungen, sondern es gibt auch hoheitliche Funktionen. Wie stellen wir sicher, dass das Quasimonopol,
das es in diesen funktionalen Lufträumen dann geben
wird, kontrolliert werden kann? Das muss sichergestellt
werden. Ein Bundesamt muss entsprechende Kontrollrechte haben. Darüber hinaus muss es klare Kontrollrechte auch im Sinne des europäischen Rechts geben.
({3})
Ich komme zum Schluss. Es ist, Kollege Beckmeyer,
in der Tat eine intelligente Lösung gefragt, die zu finden
schwierig und eine große Herausforderung ist. Ich plädiere dafür, in unseren Fraktionen eine offene Diskussion zu führen. Ich beobachte, dass niemand es in seiner
Fraktion geschafft hat, darüber eine offene Diskussion
zu führen, weil es eine heikle Frage ist und das Grundgesetz berührt. Ich glaube, wir müssen erst diese Debatte
führen, dann einen klugen Vorschlag machen. Erst dann
können wir mit diesem Thema wieder ins Parlament
kommen. Sonst werden wir wieder scheitern.
Vielen Dank.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/7133 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 27:
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Frank Spieth, Klaus Ernst, Dr. Martina
Bunge, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Fünften Sozialgesetzbuches
- Drucksache 16/4808 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit ({0})
- Drucksache 16/8243 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Mechthild Rawert
Hier haben die Kolleginnen und Kollegen Maria
Michalk, Mechthild Rawert, Dr. Konrad Schily, Frank
Spieth und Birgitt Bender ihre Reden zu Protokoll gege-
ben.1)
Damit kommen wir sofort zur Abstimmung über den
Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke zur Änderung des
Fünften Sozialgesetzbuches. Der Ausschuss für Gesund-
heit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 16/8243, den Gesetzentwurf der Fraktion
Die Linke auf Drucksache 16/4808 abzulehnen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,
um das Handzeichen. - Wer ist dagegen? - Enthaltun-
gen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-
Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei
Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abge-
lehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die
weitere Beratung.
1) Anlage 3
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
Nun rufe ich den Zusatzpunkt 6 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE.
Massenentlassungen bei deutschen DAX-Konzernen trotz Gewinnexplosion
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Ulla Lötzer von der Fraktion Die
Linke das Wort.
({1})
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! „Wir
alle zusammen müssen Ethik und Verantwortung hochhalten. Wir sind Vorbilder“, erklärte der Chef des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, Thumann, im
Spitzengespräch mit Frau Merkel. Vorbilder worin? Den
Aktionären und sich selbst die Taschen zu stopfen und
Beschäftigte für 20 statt 15 Prozent Rendite auf die
Straße zu setzen?
Nach Nokia vermeldet jetzt BMW einen Rekordgewinn und will 8 000 Arbeitsplätze abbauen. Henkel steigert seinen Gewinn von 1,3 auf 1,34 Milliarden Euro.
Der Dank an die Beschäftigten: 3 000 Stellen werden gestrichen, die Dividende erhöht. Siemens meldet einen Rekordgewinn von 4 Milliarden Euro und will 3 200 Stellen
bei der Tochter SEN streichen. Das ist keine Ethik, Kolleginnen und Kollegen, das ist eher der Rückfall in den
Raubtierkapitalismus des 19. Jahrhunderts.
({0})
Die Konzernvorsitzenden schicken die Menschen in
die Arbeitslosigkeit, bedrohen sie mit Armut, zerstören
ihre sozialen Beziehungen und vernichten ihr langjährig
erworbenes Wissen, und zwar weit über die direkt betroffenen Beschäftigten hinaus. Die Angst vor dem Arbeitsplatzverlust lähmt und macht Menschen erpressbar,
zu jeder Bedingung zu arbeiten.
Jahrzehntelang prägte die Mittelschicht des Facharbeiters oder Angestellten mit Durchschnittsverdiensten
das Land. Im Jahr 2000 gehörten noch 62 Prozent dazu,
schon 2006 nur noch 54 Prozent. Wer früher als Vorarbeiter gut vom Lohn leben konnte, ist heute arbeitslos
oder Leiharbeiter und muss zum Lohn noch Hartz IV beantragen. Seit 2000 wurden 5 Millionen Deutsche aus
der Mitte an den Armutsrand katapultiert - eine verheerende Entwicklung, die man endlich stoppen und zähmen muss.
({1})
Auch vonseiten der Regierung gibt es durchaus Kritik, ebenso von Ihnen, Kolleginnen und Kollegen. Frau
Merkel fordert mehr Managermoral, und Arbeitsminister
Scholz fordert die Manager auf, ihrer Verantwortung gerecht zu werden. Gut so! Doch wie werden Sie in den
Regierungsfraktionen Ihrer Verantwortung in dieser
Frage gerecht, von der Regierung ganz zu schweigen?
Kollege Wend, es freut mich, dass Sie sich jetzt unserer
Forderung angeschlossen haben, die Bezahlung von Managern mit Aktienoptionen zu begrenzen.
({2})
Ich hoffe, dieser Ankündigung folgen Taten. Wir werden
Sie dann unterstützen.
Aber das reicht noch nicht. Die Ersten, die bei Nokia
und BMW gehen mussten, waren die Leiharbeiter. Es
kann doch nicht sein, dass Leiharbeiter zum wehrlosen
Spielball für Massenentlassungen verkommen. Deshalb
muss die Leiharbeit selbst endlich wieder begrenzt werden.
({3})
Seit langem fordern die Gewerkschaften eine echte
Mitbestimmung in der Beschäftigungssicherung. Sie,
Kolleginnen und Kollegen der SPD und der Grünen, haben diese Mitbestimmung bei der letzten Reform des Betriebsverfassungsgesetzes abgelehnt. Auch da tragen Sie
Mitverantwortung. Das sollten Sie endlich korrigieren.
Kündigungen einzig und allein zur Renditesteigerung
sollten von Ihnen nicht nur in Sonntagsreden als sozial
ungerechtfertigt gebrandmarkt werden. Stellen Sie das
vielmehr im Kündigungsschutzgesetz klar; dann haben
die Betroffenen eine Möglichkeit, sich zu wehren, und
der Betriebsrat kann sie dabei unterstützen.
({4})
Das Gesetz schreibt vor, dass Betriebsrat und Unternehmensleitung rechtzeitig und umfassend über einen
Interessenausgleich verhandeln. Allerdings handelt es
sich hier nur um ein Beratungsrecht. Bei Konflikten können Arbeitgeber ihre Auffassung durchsetzen. Wer an
einem Ausgleich kein Interesse hat, für den sind solche
Beratungen nur noch eine Farce, die, wie zum Beispiel
bei Nokia, schon gar nicht mehr durchgeführt werden.
Wir brauchen in diesen Fragen ein echtes Mitbestimmungsrecht, damit wieder von Ausgleich die Rede sein
kann. Im Aufsichtsrat muss sichergestellt werden, dass
Entscheidungen, die Belange der Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer betreffen, nicht gegen ihre Stimmen
getroffen werden können. Das alles wären wichtige
Maßnahmen.
Es ist eine Sache, dann, wenn die Kameras laufen, die
Solidarität mit den Beschäftigten zu deklamieren. Das
sieht gut aus, und den einen oder anderen mag es trösten.
Doch dafür sind Sie nicht gewählt. Sie sind dafür gewählt, die Zustände, die die sozialen Grundlagen unserer
Gesellschaft zerstören, zu beseitigen. Handeln Sie endlich, damit uns weitere Aktuelle Stunden zu diesem
Thema erspart bleiben!
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({5})
Nächster Redner ist der Kollege Peter Weiß für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es kann kein Zweifel bestehen: Wir Abgeordneten
erwarten von jedem Unternehmen, dass um den Erhalt
eines jeden Arbeitsplatzes gekämpft wird. Aber wir Abgeordneten freuen uns auch darüber, dass viele Hunderttausende Arbeitslose in den vergangenen Jahren endlich
wieder einen Arbeitsplatz in Deutschland gefunden haben.
({0})
In einer solchen Debatte zur Arbeitsmarktpolitik ist
als Erstes festzustellen, dass sich die arbeitsmarktpolitische Bilanz dieser Großen Koalition sehen lassen kann.
({1})
Über 700 000 neue sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze wurden geschaffen.
({2})
In diesem Ausbildungsjahr, das im Herbst 2007 begonnen hat, gab es die Höchstzahl an neuen Ausbildungsverträgen seit der Wiedervereinigung.
({3})
Das sind Hunderttausende neuer Chancen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer,
({4})
für Auszubildende in Deutschland.
({5})
Das ist der Erfolg einer auf Wachstum und Beschäftigung ausgerichteten Politik dieser Bundesregierung.
({6})
- Die Zurufe zeigen, dass die Opposition daran nicht interessiert ist;
({7})
denn sie ist nicht an den Menschen, sondern ausschließlich an Polemik interessiert.
({8})
Nun ist es interessant, sich genauer anzuschauen, wo
die neuen Ausbildungs- und Arbeitsplätze entstanden
sind.
({9})
Da sieht man, dass zwischen 2005 und 2007 vor allem in
den kleinen und mittelständischen Unternehmen fast
eine halbe Million neuer sozialversicherungspflichtiger
Arbeitsplätze entstanden ist. Die sogenannten großen,
unter anderem auch DAX-notierten Unternehmen schufen im gleichen Zeitraum nur 175 000 neue Arbeitsplätze.
({10})
Dies zeigt: Die in der Regel von den Eigentümerfamilien selbst geführten kleinen und mittelständischen Unternehmen sind mit Renditen zufrieden, die deutlich unter denen großer DAX-Unternehmen liegen. Sie nehmen
ihre Verantwortung vor Ort wahr und schielen nicht ausschließlich auf Gewinnmaximierung. Sie sorgen für eine
gute Unternehmenskultur und eine gesunde und daher
weniger krisenanfällige Wirtschaftsstruktur.
Soziale Marktwirtschaft bedeutet: Gewinnmaximierung ist nicht das alleinige Ziel des Wirtschaftens. Angesichts der Vorgänge in manchen Großunternehmen
({11})
müssen wir in der Tat die Frage stellen: Wird diese
Wirtschaftsethik, die einer funktionierenden sozialen
Marktwirtschaft zugrunde liegt, in den Vorstandsetagen
deutscher Großunternehmen so gesehen, wie das wünschenswert ist?
({12})
Es ist auch unsere Erwartung, dass sich die Wirtschaftsführer in unserem Land dadurch auszeichnen, dass sie
ihre soziale Verantwortung für die Beschäftigten wahrnehmen - trotz aller Veränderungen, die ihre Unternehmen im globalen Wettbewerb vornehmen müssen.
({13})
Nachdem wir das festgestellt haben, müssen wir uns
die Frage stellen, welche Konsequenzen wir für unser
politisches Handeln ziehen müssen.
({14})
Es ist doch interessant, dass die Vorrednerin über die
Themen, auf die es ankommt, nicht geredet hat.
({15})
Die Konsequenz muss doch sein, dass wir die Unternehmen stärken, die der Jobmotor in Deutschland sind, die
ihre soziale Verantwortung wahrnehmen.
({16})
Es gibt genügend Stichworte, die auf unserer politischen
Agenda stehen: Die Unternehmensteuerreform, die Erbschaftsteuerreform, Entbürokratisierung,
({17})
Mitarbeiterbeteiligung, soziale Kapitalpartnerschaft.
({18})
Das alles sind Themen, bei denen die Linke lieber abseits steht.
Peter Weiß ({19})
({20})
Mit den Rezepten der Linken werden wir es nicht schaffen, Jobs in Deutschland zu schaffen bzw. Entlassungen
zu vermeiden.
({21})
Wer die Debatte über die Arbeitsmarktsituation in
Deutschland und über die Zukunft der sozialen Marktwirtschaft seriös führen will, der darf nicht nur die knapp
5 Prozent der Arbeitsplätze in den sogenannten Großunternehmen sehen, der muss die Breite der Unternehmen, der muss die Beschäftigungssituation insgesamt
sehen. Nur dann kommt man zu einem realistischen Gesamturteil.
({22})
Es geht auf dem Arbeitsmarkt in Deutschland nämlich
weiterhin aufwärts.
Vielen Dank.
({23})
Nächster Redner ist der Kollege Martin Zeil für die
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Diese Aktuelle Stunde gibt uns die Gelegenheit, der
scheinheiligen Empörungsrhetorik der Linken entgegenzutreten.
({0})
Deutsche Unternehmen und ihr Topmanagement sind
international anerkannt, sie schaffen Jobs und sorgen für
ein gewaltiges Wirtschaftswachstum. Das gibt es nicht
umsonst: Ständige Umstrukturierungen sind in einer globalisierten Wirtschaft nicht zu vermeiden. Dies führt einerseits zu einem ständigen Wegfall von Arbeitsplätzen,
andererseits werden, wie man an der Erwerbstätigenzahl
sieht, ständig neue Jobs geschaffen, und zwar nicht nur
im Ausland.
({1})
Das ist Ihnen vor lauter gespielter Empörung offenbar
entgangen.
({2})
Dass die Steuereinnahmen momentan sprudeln, haben
wir nicht der Politik, sondern den Menschen und den
Unternehmen in diesem Land zu verdanken. Die Unternehmen wurden durch den Strukturwandel international
wettbewerbsfähig und haben den Aufschwung so erst
möglich gemacht - einen Aufschwung, den die Steuererhöhungspolitik von Schwarz-Rot fast verhindert, auf jeden Fall aber abgeschwächt hat.
({3})
Wenn ein Unternehmen die Entscheidung trifft, Stellen abzubauen, so sollte man, bevor man unreflektiert
Kritik übt, bedenken, dass auch Vorstände von DAXUnternehmen Stellen nicht aus Jux und Tollerei streichen.
({4})
Im Übrigen sitzen in jedem Aufsichtsrat Vertreter der
Gewerkschaften - denen Sie ja immer so nahe sind -,
und in vielen sitzen auch Vertreter des Staates. Die Bedeutung des menschlichen Kapitals ist auch bei den
deutschen Großunternehmen angekommen. Kein Unternehmen wird Mitarbeiter-Know-how einfach so, ohne
dass es Gründe dafür gibt, vor die Tür setzen.
({5})
Sie haben den Fall BMW angesprochen. Dort sind vor
allem Unternehmensbereiche betroffen, die als personell
massiv überbesetzt gelten. Außerdem handelt es sich bei
den Maßnahmen um ein Fünfjahresprogramm und nicht
um einen Schnellschuss. Ebenso wichtig ist - das wird
von Ihnen gern übersehen -, dass BMW allein dieses
Jahr über 500 Leute einstellt, nur eben in anderen Bereichen. Letztendlich wird die Zahl der bei BMW Beschäftigten durch weitere Neueinstellungen auch im
Jahr 2012 nicht geringer sein als 2007.
({6})
Dies haben Sie sicherlich vor lauter gespielter und unwissender Empörung ebenso übersehen wie die Tatsache, dass BMW in den letzten acht Jahren mehr als
14 000 Jobs - davon 11 000 in Deutschland - geschaffen
hat.
({7})
Man kann aber den Begriff „Jobkahlschlag“ gut verkaufen, ob er wahr ist oder nicht.
Ich halte auch Vorschläge für falsch, wie sie derzeit
aus der SPD-Fraktion kommen, zum Beispiel die Spekulationsfrist für Aktienoptionen zu verlängern, wo doch
im Rahmen der fehlerhaften Unternehmensteuerreform
der Regierungskoalition gerade die Abschaffung der
Spekulationsfrist zum 1. Januar 2009 beschlossen wurde.
Stattdessen hätten Sie sich besser mit den - gerade für
die Arbeitsplätze im Mittelstand - nachteiligen Folgen
der Besteuerung im Zusammenhang mit der sogenannten
Funktionsverlagerung beschäftigen sollen.
({8})
Wir müssen uns auch in Deutschland endlich damit
abfinden, dass lebenslange Beschäftigungsverhältnisse
eher seltener werden. Die Wirtschaft muss sich heute
schneller als je zuvor anpassen und sich dem internationalen Wettbewerb stellen. Gerade deshalb sind die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes und der entschlossene
Abbau von Eintrittsbarrieren überfällig.
Zudem bedarf es einer ständigen Stärkung des Mittelstands, der mit einer großen sozialen Verantwortung Arbeitsplätze schafft. Vorausschauendes Handeln ist hierbei von essenzieller Bedeutung.
Es nutzt niemandem, wenn die Unternehmen den
Strukturwandel verschlafen oder verschleppen. Die darauf folgenden Entlassungen wären viel schlimmer.
({9})
Es ist die Aufgabe des Parlaments, dafür zu sorgen, dass
die Menschen durch eine vernünftige und entschlossene
Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik schnell wieder zu
Jobs kommen. Eine einseitige und dazu noch unerträglich populistische Kritik an den Unternehmen löst keine
Probleme.
({10})
Nun hat der Kollege Dr. Rainer Wend für die SPDFraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir leben in einer sozialen Marktwirtschaft, wie immer wieder
zu lesen ist. Dabei stellt sich die Frage, wie wir soziale
Marktwirtschaft definieren. Ich möchte zwei historische
Definitionen zitieren. Die erste stammt von Ludwig
Erhard:
Die Politik der Sozialen Marktwirtschaft stand seit
dem Tage der Währungsreform unter der Leitidee,
auf dem Boden einer freien Wettbewerbswirtschaft
persönliche Freiheit, wachsenden Wohlstand und
soziale Sicherheit in Einklang zu bringen …
Alfred Müller-Armack hat ausgeführt, die Wirtschaft
müsse sich in den Dienst von überwirtschaftlichen Dingen und Werten wie das Menschliche und das Kulturelle
stellen.
({0})
Leben wir in diesem Sinne noch in einer sozialen
Marktwirtschaft? Ich glaube, wir müssen in dieser Frage
zu einem gespaltenen Ergebnis kommen. Was das Rückgrat der deutschen Wirtschaft - den Mittelstand und vor
allem die eigentümergeführten Unternehmen - angeht,
gibt es viel zu kritisieren. Ich glaube aber, dass sie dem
Ideal der sozialen Marktwirtschaft noch am nächsten
kommen. 80 Prozent aller Jugendlichen werden in Betrieben des Mittelstandes ausgebildet. 70 Prozent aller
Beschäftigten arbeiten in kleinen und mittleren Unternehmen.
Für 2008 ist die Fortsetzung des Beschäftigungsaufbaus zu erwarten. Denn gut 18 Prozent der Mittelständler waren sich Ende des Jahres 2007 sicher, dass sie im
ersten Halbjahr 2008 ihr Personal weiter aufstocken wollen. Der Mittelstand und die eigentümergeführten Unternehmen, die an ihren Gewinn denken - das ist auch gut
so -, aber gleichzeitig auch ihre Beschäftigten und übrigens auch die Regionen, in denen sie beheimatet und
wirtschaftlich tätig sind, im Blick haben, entsprechen
dem, was ich mir unter sozialer Marktwirtschaft vorstelle.
Es gibt aber auch eine andere Seite. Dazu gehört, dass
die Firma Nokia bei einer Umsatzrendite von
21,7 Prozent in der Handysparte 3 300 Beschäftigte in
diesem Bereich entlässt. Dazu gehört auch, dass die
Firma Henkel bei einer Umsatzrendite von 10,3 Prozent
3 000 Stellen streicht und Continental bei einer Umsatzrendite von 11,5 Prozent 2 000 Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer entlassen will. Da ist alleiniger Maßstab
die Umsatzrendite. Wenn ich die Rendite auf das eingesetzte Kapital zugrunde legen würde, kämen wir noch zu
ganz anderen Zahlen. Ist das noch soziale Marktwirtschaft?
Nach welchen Kriterien wird entschieden?
({1})
Wenn, Herr Kollege Zeil, nach dem Kriterium der Wettbewerbsfähigkeit im Rahmen der Globalisierung entschieden würde, hätte ich keine Einwände. Mein Eindruck ist aber, dass es zunehmend nur noch darum geht,
wie der Aktienkurs in den nächsten Wochen oder Monaten nach oben getrieben werden kann.
({2})
Das ist häufig in erster Linie dadurch möglich, dass Kosten reduziert werden, und Kostenreduktion erfolgt in erster Linie über Mitarbeiterentlassungen.
({3})
Wenn nicht mehr die Arbeitnehmer und die Region, in
der man produziert, ins Auge gefasst werden, sondern
nur der kurzfristige Anstieg des Aktienkurses, ist nicht
mehr das vorhanden, was Ludwig Erhard und MüllerArmack sich unter sozialer Marktwirtschaft vorgestellt
haben. Das ist nicht in Ordnung.
({4})
Was können wir tun? Die gesellschaftliche Debatte ist
wichtig. Sowohl im Parlament, wie heute, aber auch in
den Medien und auf Veranstaltungen muss das diskutiert
werden. Wir müssen aber mehr tun und uns fragen, ob
wir als Gesetzgeber handeln können. Den Vorschlag, den
Frau Lötzer im Namen der Linksfraktion gemacht hat,
unterstütze ich nicht. Ihr Vorschlag ist, dass die Arbeitnehmerseite beim Interessenausgleich im Rahmen der
Mitbestimmung zustimmen muss. Was meinen Sie, wie
oft ich an Verhandlungen über Sozialpläne und Interessenausgleiche beteiligt war und mir in der konkreten Situation genau das gewünscht habe, weil ich frustriert war
aufgrund der Tatsache, dass wir als Betriebsrat und Gewerkschaft nicht mitentscheiden konnten?
Die ganze Wahrheit ist aber, dass ich glaube, dass unser Wirtschaftssystem am Ende gut damit fährt, wenn die
Verantwortung für solche Entscheidungen auf der Seite
der Eigentümer der Produktionsmittel liegt und wir im
Rahmen von Sozialplänen beim Ausgleich dieser Entscheidungen ein zwingendes Mitbestimmungsrecht haben. Wenn wir das aufgeben, geben wir auch eine Triebfeder der Entwicklung in unserer Gesellschaft auf.
Davon rate ich ab, wenngleich ich Ihren kurzfristigen
Frust verstehen kann.
Ich habe drei Vorschläge, die ich mit drei Sätzen in
die Diskussion einbringen möchte: Erstens. Die Manager werden zu häufig mit Aktienoptionen bezahlt mit der
Folge, dass sie ein übermäßiges Interesse an der kurzfristigen Gewinnentwicklung der Aktien haben.
({5})
Diesbezüglich schlage ich eine Reduzierung vor.
({6})
Zweitens. Die Haltefristen - das hat nichts mit Spekulationsfristen zu tun - betragen bei Aktienoptionen zwei
Jahre. Danach dürfen die Manager die Optionen geltend
machen. Diese Frist ist zu kurz, weil in einer so kurzen
Zeit das Interesse an Kurssprüngen der Aktien im Vordergrund steht. Diese Frist muss verlängert werden.
({7})
Es gibt noch zwei Punkte, die ich nicht als endgültige
Vorschläge vorbringe, sondern diskutieren möchte:
({8})
- Ich weiß. Der letzte Satz hat zwei Gesichtspunkte.
({9})
Sollte man ähnlich wie in Frankreich Aktionären, die
ihre Aktien länger als vier Jahre gehalten haben, ein
Treuestimmrecht geben, um auf diese Weise ein Interesse an der Kontinuität von Unternehmensentwicklungen zu wecken?
Letzter Punkt: Sollten wir nicht vielleicht erwägen,
das Depotstimmrecht von Banken wieder einzuführen,
damit die Entwicklung hin zu einem übermäßigen Gewicht der Stimmen kurzfristig interessierter Finanzinvestoren auf Hauptversammlungen gebremst wird?
Das sind realistische Vorschläge, die passen, die wirken und die vielleicht das aufrechterhalten können, was
in unserer Wirtschaftsordnung im Rahmen der sozialen
Marktwirtschaft einmal funktioniert hat.
({10})
Nun hat der Kollege Dr. Wolfang Strengmann-Kuhn
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
wichtigste Aufgabe von Unternehmen ist es, Güter und
Dienstleistungen möglichst effizient zu produzieren. Rationalisierungen und damit einhergehende Entlassungen
sind deshalb nicht per se zu kritisieren. Wenn die gleiche
oder eine höhere Produktivität mit weniger Arbeitskraft
möglich ist, sind Rationalisierungen sogar volkswirtschaftlich geboten. Das gilt, liebe Freundinnen und
Freunde von der Linken, auch dann, wenn die Unternehmen Gewinne machen. Auch dann können Entlassungen
volkswirtschaftlich durchaus Sinn machen.
({0})
Im vergangenen Jahr wurden über 8 Millionen Menschen arbeitslos. Über 8 Millionen Menschen! Aber
gleichzeitig sind noch mehr aus der Arbeitslosigkeit herausgekommen. Das heißt, es gibt eine große Dynamik
auf dem Arbeitsmarkt. In dem Strukturwandel, in dem
wir uns befinden, lässt es sich gar nicht vermeiden, dass
an einer Stelle Arbeitsplätze wegfallen, während an anderer Stelle Arbeitsplätze entstehen. Und das ist gut so.
Wichtig ist, dass dieser Prozess sozial ausreichend abgefedert wird und die betroffenen Menschen wieder
schnell sinnvolle und gut bezahlte Arbeit finden.
({1})
Ein Blick nach Skandinavien zeigt, wie man ein hohes
Maß an sozialer Sicherung und Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt vernünftig in Einklang bringen kann. Hier haben nicht nur die Politik, sondern auch die Unternehmen
Verantwortung. Eigentum verpflichtet.
({2})
Diesbezüglich haben wir tatsächlich ein Problem. Die
von der Linken angeprangerten Entlassungen müssen
aber in einem größeren Zusammenhang gesehen werden.
Eine gute Unternehmerin und ein guter Unternehmer wissen, dass es sinnvoll ist, die Beschäftigten gut zu bezahlen. Sie wissen um ihre soziale Verantwortung bei einem
anstehenden Stellenabbau sowie um ihre Verantwortung
gegenüber der Umwelt und zukünftigen Generationen.
Viele Personenunternehmen kommen - das betone ich dieser Verantwortung durchaus nach. Die Politik ist aber
gefordert, Rahmenbedingungen zu schaffen, die ein solches Verhalten ermöglichen und fördern.
({3})
Das Problem ist allerdings, dass dieses unternehmerische Denken in Aktiengesellschaften, insbesondere in
den großen - das gilt auch für die DAX-30-Unternehmen -, nicht mehr beheimatet ist. Die zentralen
Entscheidungen werden nicht von selbstständigen
Unternehmerinnen und Unternehmern getroffen, sondern von abhängig beschäftigten Managern, deren einzige Aufgabe es ist, den Shareholder-Value kurzfristig zu
maximieren, unabhängig von sozialen und ökologischen
Konsequenzen. Es hat sich dabei eine Klasse von Spitzenmanagern herausgebildet, die teilweise ihre Gehälter
selbst festsetzen, nur noch kurzfristig auf Profitmaximierung setzen, jeden Bezug zur Realität verloren haben
und ihrer gesellschaftlichen Verantwortung nicht mehr
nachkommen.
({4})
Es gibt noch immer Unternehmen, die sich rühmen, dass
sie trotz hoher Gewinne kaum Steuern zahlen. Das ist
nicht akzeptabel.
({5})
Es gibt eine neue soziale Frage. Das Deutsche Institut
für Wirtschaftsforschung hat in dieser Woche aufgezeigt,
dass die Mittelschicht in Deutschland dramatisch
schrumpft. Auf der einen Seite entsteht persönlicher
Reichtum, der nicht mehr mit Leistung gerechtfertigt
werden kann. Dieser Reichtum basiert zum Teil darauf,
dass auf der anderen Seite die Reallöhne selbst in einer
Aufschwungphase kaum steigen oder sogar sinken. Mittlerweile leben 15 Millionen Menschen mit ihrem Einkommen unter der Armutsrisikogrenze nach EU-Standard. Das sind 5 Millionen mehr als 2001. 5 Millionen
mehr arme Frauen, arme Männer und vor allen Dingen
arme Kinder! Immer mehr „normal“ arbeitende Erwerbstätige und vor allem - das finde ich besonders erschreckend - Familien rutschen von einem mittleren
Einkommen in die Nähe der Armutsgrenze oder sogar
darunter oder befürchten den Absturz. Das ist weder sozial noch ökonomisch hinnehmbar.
({6})
Was müssen wir tun? Wir brauchen unbedingt eine
Debatte über mehr Demokratie in Aktiengesellschaften,
und zwar sowohl auf der Arbeitnehmerseite als auch bei
den Aktionärinnen und Aktionären.
({7})
Wir brauchen ein Steuersystem, das dazu führt, dass sich
die großen Unternehmen und die Reichen wieder stärker
an der Finanzierung des Gemeinwesens beteiligen.
({8})
Wir brauchen ein solidarisches Sozialversicherungssystem, eine Bürgerversicherung, bei der es unmöglich ist,
dass sich ein Teil der Gesellschaft ausklinkt.
({9})
Wir brauchen Mindestlöhne, und zwar auch, um die Unternehmen, die ihren Beschäftigten faire Löhne zahlen
wollen, vor Lohndumping zu schützen.
({10})
Schließlich brauchen wir eine stabile, soziale und armutsfeste Absicherung, die vor allem Erwerbstätige und
Familien besser schützt und ihnen die Angst vor dem
Absturz nimmt.
Ich komme zum Schluss. Das sind die zentralen Fragen, die wir beantworten müssen, wenn wir den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken und die bestehenden
Existenzängste, die es in der Bevölkerung gibt, abbauen
wollen. Eine Skandalisierung von Entlassungen und
plattes Schimpfen auf die Großindustrie bringen uns
nicht weiter, aber ebenso wenig hohle Appelle an die
Manager in den Großunternehmen.
Danke schön.
({11})
Herr Kollege, das war Ihre erste Rede in diesem
Haus. Ich gratuliere Ihnen und wünsche Ihnen für Ihre
weitere Arbeit alles Gute.
({0})
Nun hat der Kollege Stefan Müller für die CDU/CSUFraktion das Wort.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das ist wieder eine von den vielen von der Linken beantragten Aktuellen Stunden, bei denen man sich immer
die Frage stellt, ob es ihr um die betroffenen Menschen
oder eher um Agitation geht. Ich glaube, das Letztere ist
richtig.
({0})
Ihnen geht es nicht um die Menschen, sondern darum,
Ihre populistischen Thesen vorzutragen und grundsätzlich Kritik am Kapitalismus loszuwerden.
({1})
Die Grünen bringen ihre gesamten Ladenhüter als Vorschläge. Das ist nicht verwunderlich, aber auch nicht besonders innovativ. Herr Zeil, auch Ihnen möchte ich etwas sagen. Ich frage mich schon, ob Sie die Rede, die
Sie heute hier gehalten haben, auch in Niederbayern bei
den betroffenen Mitarbeitern eines Automobilkonzerns
gehalten hätten.
({2})
Stefan Müller ({3})
Wir werden noch die Gelegenheit zur Auseinandersetzung haben. In Bayern findet bekanntlich in diesem Jahr
die Landtagswahl statt. Ich lade Sie ein, diese Rede im
Wahlkampf in Niederbayern noch einmal zu halten. Wir
werden deutlich machen, dass es nicht ganz so einfach
ist, wie Sie es darstellen.
({4})
Ich will darauf verweisen, was schon der Kollege
Peter Weiß ausgeführt hat, nämlich dass wir uns über die
Entwicklung am Arbeitsmarkt freuen können. Die Bundesagentur für Arbeit hat in der vergangenen Woche
wieder bessere Zahlen vorlegen können. Das ist in der
Tat ein Grund zur Freude. Wir freuen uns für alle jene,
die noch vor einem oder zwei Jahren arbeitslos waren
und dieses Jahr nicht mehr von staatlicher Fürsorge abhängig sein müssen.
({5})
Wenn aber vor dem Hintergrund dieser außerordentlich
erfreulichen Entwicklung am Arbeitsmarkt große Unternehmen massive Stellenstreichungen ankündigen, dann
ist das für mich nicht nur verwunderlich, sondern auch
schlicht unfassbar.
({6})
Es ist vor allem deswegen unfassbar, weil die gleichen
Unternehmen zeitnah gute Zahlen veröffentlichen. Ganz
offensichtlich will auch das wirtschaftlich gut aufgestellte Unternehmen die guten Rahmenbedingungen
dazu nutzen, um noch höhere Renditen zu erzielen. Dagegen ist zunächst einmal nichts zu sagen, aber wenn das
nur auf dem Rücken der Arbeitnehmer ausgetragen wird,
dann - das sage ich ganz deutlich - habe ich dafür kein
Verständnis.
({7})
Man kann schon den Eindruck gewinnen, dass soziale
Verantwortung und unternehmerischer Erfolg nicht mehr
zwingend zwei Seiten derselben Medaille sind. Ich
glaube, dass ein solches Verhalten mit dem Bild der sozialen Marktwirtschaft - das hat der Kollege Wend
schon ausgeführt - nicht vereinbar ist;
({8})
denn wegen eines solchen Verhaltens geht nicht nur das
Vertrauen in unser Wirtschaftssystem verloren, sondern
auch der Glaube daran, dass sich Leistung in unserer
Wirtschaft heute noch lohnt. Das darf jedenfalls nicht so
weit führen, dass der Eindruck entsteht, dass gute Arbeit
alleine bei börsennotierten Unternehmen keine Garantie
mehr für einen sicheren Arbeitsplatz ist. Vieles von dem,
was wir in den letzten Wochen erlebt haben, sendet leider dieses Signal aus. Das halte ich für falsch.
Die Globalisierung hat in den letzten 20 Jahren sicher
vieles verändert. Auf diese Veränderungen haben sich
deutsche Unternehmen richtigerweise eingestellt. Die
Globalisierung hat den Wettbewerb verschärft, Grenzen
überwunden und das Tempo des Warenverkehrs deutlich
erhöht. Auf all diese Dinge hat die deutsche Wirtschaft
reagiert. Das ist der Grund dafür, dass wir nach wie vor
Exportweltmeister sind. Leider bekommt man den Eindruck, wenn man manche Konzernvorstände hört, dass
es auch eine andere Veränderung gegeben hat. Ich meine
die permanente Unzufriedenheit mit den Erträgen der eigenen Unternehmen und mit der Rendite. Nun will ich
nicht so weit gehen und die Schuld einzig und allein bei
den Managern abladen, die in vielen Fällen gar nicht anders können, als dafür zu sorgen, dass die Renditen immer weiter steigen. Natürlich müssen wir auch über
Ethik sprechen. Aber wenn wir über Ethik und Moral reden, dann dürfen wir nicht nur die Manager ansprechen,
sondern müssen auch die Aktionäre,
({9})
im Übrigen auch viele Kleinaktionäre, die ebenso wie
die großen Kapitaleigner, Investmentfonds und andere
dazu beitragen, dass die Renditen erhöht werden, nennen. Da sind, wie ich finde, alle in der Pflicht.
({10})
Ich möchte im Übrigen ausdrücklich betonen, dass
dies kein generelles Problem der deutschen Wirtschaft
ist. Es ist ein Phänomen einzelner Großkonzerne. Ich
will diese Gelegenheit durchaus nutzen, um eines klar
und deutlich herauszustellen - das muss man in diesem
Zusammenhang immer wieder sagen -: Dem deutschen
Mittelstand kann man diesen Vorwurf jedenfalls nicht
machen.
({11})
Es waren nämlich gerade die kleinen und mittleren Betriebe, die in den letzten Jahren dafür gesorgt haben, dass
wir beim Abbau der Arbeitslosigkeit unsere heutigen Erfolge vorweisen können.
Es tröstet mich nicht, wenn man darauf hinweist, dass
die aktuelle Arbeitsmarktlage so gut ist, dass die Entlassenen schnell wieder eine Beschäftigung finden. Mich
tröstet auch nicht, dass es sich bei den Entlassenen in
vielen Fällen um Zeitarbeitnehmer handelt; denn auch
das vermag letztendlich nicht darüber hinwegzutäuschen, dass hier Menschen von Entlassungen betroffen
sind.
Wir dürfen diese Debatte nicht dazu nutzen, Entlassungen generell zu brandmarken. Herr Zeil, ich gebe Ihnen recht: Natürlich kann es Fälle geben, in denen es unvermeidlich ist, dass es zu Entlassungen kommt, weil
nur so der Gesamtbestand des Unternehmens gesichert
werden kann. Aber es muss schon möglich sein, dass wir
Politiker darüber reden, ob das, was im Augenblick abläuft, tatsächlich in Ordnung ist. Ich jedenfalls wünsche
mir eine ernsthafte Debatte in der Wirtschaft über Ethik
und Moral. Es ist gut, wenn wir vonseiten der Politik
dazu einen Beitrag leisten.
({12})
Für die Fraktion Die Linke hat nun das Wort der Kollege Hüseyin Aydin.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Redner der Union haben
gerade wieder behauptet - wie die Kanzlerin -, dass der
Aufschwung bei den Menschen angekommen sei. Ich
frage nur: Wen meinen Sie? Bei wem ist Ihr Aufschwung angekommen? Auch Herr Weiß sprach davon.
Zur Kenntnis müssen Sie aber nehmen, dass er bei den
Arbeitnehmern nicht angekommen ist. Zur Kenntnis
müssen Sie nehmen, dass Ihr Aufschwung nicht dazu geführt hat, dass die Arbeitnehmereinkommen gestiegen
sind und dass sie damit auch bessere Teilhaberechte bekommen haben. Die neuesten Zahlen des Statistischen
Bundesamtes belegen dies: Das vierte Jahr in Folge müssen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Reallohnverluste hinnehmen.
Ich frage noch einmal: Wen meinen Sie? Vielleicht
meinen Sie die Topmanager und Großaktionäre. Sie, der
Kollege von der CSU, haben recht: Wir sprechen hier
nicht über den Mittelstand, sondern über die DAX-Unternehmen.
({0})
Die 30 DAX-Unternehmen konnten 2007 ihre Rekordgewinne aus dem Vorjahr noch einmal um satte
14 Prozent steigern. Von der Telekom bekommen die
Aktionäre nun 3,4 Milliarden Euro Dividende. Der Dank
an die Beschäftigten ist: Stellenabbau, Gehaltskürzungen
und Arbeitszeitverlängerungen. Das gleiche Bild gilt für
BMW, Henkel oder Nokia: Überall kündigen die Manager in einem Atemzug Rekordgewinne und weitere Entlassungen an.
Warum? Der Grund ist einfach - das müssen Sie langsam kapiert haben -: Die Profitgier ist so unersättlich geworden, dass die Umsatzrendite noch weiter gesteigert
werden muss. Dadurch werden Zehntausende Menschen
in die Arbeitslosigkeit geführt.
({1})
Wo soll das enden? Das ist kapitalistischer Wahnsinn.
Nehmen Sie das endlich zur Kenntnis!
({2})
Wir müssen uns doch einmal die Frage stellen: Wofür ist
die Wirtschaft da? Sind wir Menschen für die Wirtschaft
da, oder ist es umgekehrt? Das ist das Kernelement der
sozialen Marktwirtschaft.
Liebe Freunde von der Union, die Menschen, von denen Sie sprechen, erwarten keine wohlfeilen Worte von
Ihnen. Sie erwarten, dass die Regierung endlich die
Macht der Unternehmen begrenzt. Die Linke wird hier
einen Gesetzentwurf einbringen, der Massenentlassungen bei profitablen Unternehmen Schranken setzt. Dann
werden wir sehen, wie ernst es der Bundesregierung mit
ihrer Sorge um das Wohl der Menschen ist, Herr Wend.
Wir werden auch Ihr Abstimmungsverhalten daran messen.
Bislang hat die Bundesregierung jedenfalls noch alles
getan, um es den Arbeitnehmern und Arbeitslosen in
diesem Land schwer zu machen. Nehmen wir das Beispiel Leiharbeit. Nach Angaben der IG Metall gibt es in
Deutschland mittlerweile über 1 Million Leiharbeiter.
Können Sie sich überhaupt vorstellen, was das für diese
Leute bedeutet? Diese Arbeitnehmer haben häufig keinen Kündigungsschutz und verdienen nur 60 Prozent
dessen, was die Stammbelegschaft verdient. Entsprechend geringer fällt nach einem Arbeitsplatzverlust ihr
Arbeitslosengeld aus. Dann droht der Absturz in
Hartz IV, wofür Sie verantwortlich sind. Das ist unsozial
und auch unmenschlich.
Genau das ist es, was die Bundesregierung getan hat.
In Brüssel wurde eine Richtlinie entworfen, die den
Leiharbeitnehmern den Lohn des Einsatzbetriebes nach
sechs Wochen garantiert. Fast alle Regierungen haben
dem zugestimmt. Doch aus Berlin kam das Veto. Mit anderen Worten: Die Bundesregierung trägt die politische
Verantwortung dafür, dass rund 1 Million Menschen in
Deutschland ganz legal bis zu 40 Prozent des ihnen zustehenden Gehalts geraubt wird.
({3})
Meine Damen und Herren von der Bundesregierung,
Sie sind noch schlimmer, als es die meisten Beschäftigten draußen ohnehin annehmen. Erst stoßen Sie Menschen ins soziale Elend,
({4})
hinterher tun Sie unschuldig und klagen heuchlerisch die
arroganten Manager an, wie Sie das vorhin bereits getan
haben. Sparen Sie sich Ihre Krokodilstränen! Sie selbst
haben die Bedingungen geschaffen, die Sie hier heute
beklagen.
Dann ist da noch der Fall Nokia. Erst zahlen Sie
88 Millionen Euro an Subventionen, doch dann macht
Nokia nach Ablauf der Rückforderungsfrist das Werk in
Bochum zu und wandert nach Rumänien ab. Wir sagen:
Subventionen sollen in Zukunft nur bezahlt werden,
wenn der Staat in Höhe der Subventionen an diesem Unternehmen dann auch beteiligt ist.
({5})
Wir fordern mehr Mitbestimmung in den Betrieben
und auf der Unternehmensebene. Herr Zeil von der FDP,
die Mitbestimmungsrealität auf Unternehmensebene
kennen Sie mittlerweile besser als ich. Dort entscheidet
der Neutrale mit. Da brauchen die Arbeitnehmer nichts
zu tun. Sie können gar nicht mitentscheiden. Nehmen
Sie das zur Kenntnis!
({6})
Wir, die Linke, wollen jetzt hier im Bundestag den
entfesselten Raubtierkapitalismus in die Schranken weisen. Wir wollen, dass die Mitbestimmung gestärkt wird.
Wir wollen, dass Sie endlich aufhören, alle unsere Anträge, die wir hier einbringen, abzulehnen.
({7})
Die Managergehälter haben Sie zu Recht gegeißelt, aber
unseren Antrag mit dem Ziel, die Managergehälter zu
begrenzen, haben Sie in der Großen Koalition abgelehnt.
({8})
Das ist die Heuchelei.
({9})
Herr Kollege, ich muss Sie an die Redezeit erinnern.
Ich komme zum Ende.
Die Linke ist die einzige Kraft in diesem Parlament,
die nicht in der Geiselhaft der Lobbyisten ist.
({0})
Dies tut uns und unserem Land gut. Da draußen hören
die Leute uns zu. Die Linke wird im Jahr 2009 hier nicht
mit 53, sondern mit 130 Abgeordneten sitzen.
({1})
Herr Kollege, Ihre Redezeit ist weit überschritten.
Dann werden wir die richtige Politik, für die wir hier
stehen, umsetzen.
({0})
Das Wort hat nun der Kollege Ortwin Runde für SPDFraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich möchte bei dem anknüpfen, mit dem Rainer Wend
begonnen hat, bei den Zitaten zur sozialen Marktwirtschaft.
({0})
Eines wurde bei den Zitaten von Erhard und MüllerArmack deutlich: dass soziale Marktwirtschaft immer
auch die Einbettung in nationale Wertesysteme beinhaltet. Wirtschaft ist nicht für das Wirtschaften allein da,
sondern hat auch anderen, höheren Zielen einer Gesellschaft zu folgen und hat ihr verpflichtet zu sein.
({1})
Hier wird auch deutlich, was Herr Müller gesagt hat,
nämlich dass die Einbindung in unser Wertesystem bei
den Unternehmen unterschiedlich ausgeprägt ist. Wir
können feststellen, dass sehr viele kleine und mittlere
Unternehmen, sehr viele Handwerksbetriebe bei ihrem
wirtschaftlichen Handeln ganz selbstverständlich gesellschaftliche Verantwortung wahrnehmen.
Wenn wir uns aber ansehen, welche Wert- und Zielvorstellungen viele Großunternehmen, die im internationalen Wettbewerb stehen, äußern, dann stellt sich die
Frage, ob dort eine solche Einbettung noch gegeben ist.
Ich darf in diesem Zusammenhang aus der Rede des Mitglieds des Vorstands der BMW AG, zuständig für Personal- und Sozialwesen, zitieren, die er auf einer Pressekonferenz gehalten hat. Da heißt es:
Alle Maßnahmen, die wir ergreifen, sind auf Zukunftssicherung und Wertsteigerung ausgerichtet.
Das heißt konkret: Wir arbeiten an der Verbesserung unserer Rendite. Zwei Größen sind hierbei
entscheidend:
Erstens: die Rendite auf das eingesetzte Kapital
({2}). Sie soll im
Automobilsegment bis 2012 auf mehr als 26 Prozent steigen.
Zweitens: die Umsatzrendite. Sie wollen wir im
Automobilsegment bis 2012 auf 8 bis 10 Prozent
anheben.
Hier wird deutlich, welchen Bezugsrahmen die Unternehmen für ihre Zielsetzungen haben.
({3})
Das bedeutet, dass wir uns fragen müssen, wie wir in
einer globalisierten Welt mit einem globalisierten Wettbewerb diese Entwurzelung aus unserem Wertesystem
wieder rückgängig machen können. Dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer darüber empört sind,
dass die Managergehälter zwischen 1987 und heute vom
14-Fachen des Durchschnittsgehalts der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf das 44-Fache angestiegen
sind,
({4})
ist doch sehr gut nachzuvollziehen.
({5})
Wenn die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die
in den letzten zehn Jahren durch Einkommensverzichte,
durch Lohneinbußen - die Realeinkommen in den letzten fünf Jahren sind nämlich nicht gestiegen, sondern zurückgegangen - dazu beigetragen haben, dass wir nach
wie vor Exportweltmeister sind, ist doch nachzuvollziehen, dass sie empört sind, wenn es nun heißt: Damit wir
auch künftig hohe Renditen erzielen können, müsst ihr
nun Massenentlassungen hinnehmen. - Ich nenne als
Beispiele nur Nokia, BMW und Siemens. Es ist doch
ganz klar, dass das Empörung hervorruft.
Ich muss auch all denjenigen, die als Vertreter von
bürgerlichen Parteien hier mitreden, ins Stammbuch
schreiben, dass das zu Erosionsprozessen in der Mittelschicht führt.
({6})
Diese Entwicklung muss uns doch alle zusammen zu tiefem Nachdenken anregen. Wir müssen uns nun fragen,
wie wir diese Erosion in den Griff bekommen. Es geht
nicht darum, dass angesichts der Verschiebung von
Währungsrelationen bestimmte Produktionsbestandteile
in den Dollarraum verlagert werden. Diese Anpassungsprozesse sind für jemanden, der als früherer Hamburger
Bürgermeister mit Globalisierung und Welthandel zu tun
hatte, eine Selbstverständlichkeit. Es stellt sich aber
doch die Frage, welche Auswirkungen diese Prozesse
auf unsere Gesellschaft haben
({7})
und wie man sie abfedert.
Rainer Wend hat völlig recht, wenn er dazu auffordert, zu überlegen, ob wir nicht falsche Anreizsysteme
im Bereich der Vorstandsgehälter haben.
({8})
Ich muss sagen, wenn Vorstandsgehälter dermaßen explodieren, wie eben beschrieben, hat das mit angemessenem Leistungsentgelt nichts mehr zu tun.
({9})
Angesichts des Entgeltes, das die Vorstandsvorsitzenden
und Vorstandsmitglieder in japanischen Unternehmen
bekommen, muss man sagen: Das, was bei uns geschieht, liegt außerhalb jeder Norm. Wir müssen daher
zum Beispiel schauen, wie wir die Gewährung von Aktienoptionen so gestalten, dass der Hauptanreiz nicht
mehr darin besteht, kurzfristige Kurserhöhungen zu erzielen, sondern darin, langfristig und nachhaltig im Interesse des Unternehmens zu handeln. Man könnte sagen,
dass in dieser Beziehung eine Art von Tonnenideologie
aus sozialistischer Zeit auf unsere international agierenden Unternehmen übertragen wurde.
({10})
Schönen Dank für die Aufmerksamkeit.
({11})
Nächster Redner ist der Kollege Kai Wegner für die
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Alle Jahre wieder - bereits vor gut einem Jahr
haben die Linken eine Aktuelle Stunde zu diesem Thema
beantragt. In der Vorbereitung auf die heutige Aktuelle
Stunde habe ich mir überlegt, was die Linken wohl bringen werden. Ich hatte durchaus die Erwartung an Ihre
Fraktion, vielleicht einmal neue, andere, praktikablere
Ideen von Ihnen zu hören. Aber, liebe Kolleginnen und
Kollegen von den Linken, auch da haben Sie mich enttäuscht.
({0})
Wieder einmal gibt es nur populistische Ausführungen,
allgemeine Unternehmensschelte, Klassenkampf pur.
Herr Aydin, Ihnen sage ich: Durch Schreien werden die
Inhalte, die Sie von sich geben, nicht richtiger und nicht
besser.
({1})
Herr Lafontaine und überhaupt die Redner der Linken
sprechen generell in Deutschland von einem Raubtierkapitalismus, der um sich greift. Mir kommt es hingegen
eher so vor, als wenn Ihre Partei wie ein Raubtier auf die
nächsten Entlassungen lauert, um sich dann auf Kosten
der Betroffenen zu profilieren. Das ist unredlich und verantwortungslos.
({2})
Sie versuchen, in diesem Land Depressionen herbeizureden. Die CDU/CSU sowie unser Koalitionspartner
und die Bundesregierung arbeiten am Aufschwung für
die Menschen. Das ist unsere Aufgabe, und der werden
wir auch gerecht.
({3})
Meine Damen und Herren, der ehemalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker hat einmal gesagt:
Soziale Marktwirtschaft vollzieht sich nicht in Gesetzbüchern, sondern im Denken und Handeln der
Menschen.
({4})
Entlassungen sollten für ein Unternehmen niemals eine
leichte Entscheidung sein. Gerade das Management eines großen Konzerns sollte sich daher seiner sozialen
Verantwortung bewusst sein.
({5})
Ich habe großen Respekt vor unternehmerischen Entscheidungen. Aber es ist völlig unverständlich und den
Menschen auch nicht mehr vermittelbar, wenn Konzerne
medienwirksam ihre Rekordgewinne bekanntgeben und
im nächsten Moment einen drastischen Stellenabbau
verkünden.
({6})
Mehr noch: Eine solche Unternehmenspolitik untergräbt
das Vertrauen in die soziale Marktwirtschaft. Denn
Marktwirtschaft, gerade die soziale Marktwirtschaft, lebt
von sozialer Verantwortung. Wer allerdings der Meinung
ist, soziale Verantwortung gegenüber der Gesellschaft
ließe sich einfach gesetzlich verordnen, der, meine Damen und Herren von der Linken, ist auf dem Holzweg.
Es würde mich gar nicht verwundern, wenn Ihre Fraktion demnächst ernsthaft mit dem Gedanken spielte, Entlassungen bei Unternehmen gesetzlich zu verbieten. Was
würden Sie wohl damit erreichen? Genau das Gegenteil!
Die Unternehmen würden einen großen Bogen um unser
Land machen. Gerade die großen Konzerne würden alsbald ihre Arbeitsplätze ins Ausland verlegen.
Wenn Sie schon der Bundesregierung fälschlicherweise eine Mitverantwortung an den Entlassungen zuschreiben, dann sollten Sie doch wenigstens so ehrlich
sein, Herr Aydin, der gleichen Bundesregierung eine
Mitverantwortung am Beschäftigungsaufbau zuzugestehen, der zwar unspektakulärer vonstatten geht, aber den
Abbau von Beschäftigung bei weitem übertrifft.
({7})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, trotz der
negativen Beispiele, die ja heute gekommen sind, ist und
bleibt die soziale Marktwirtschaft die beste und leistungsfähigste Wirtschaftsordnung für unser Land.
({8})
Was die Politik der Linken bedeutet, wird gerade in Berlin zu deutlich. Deswegen sollten Sie jetzt einmal ganz
leise sein. Statt um Investoren zu werben, werden sie in
dieser Stadt beschimpft und vergrault, und das ist Ihre
Politik.
({9})
Die Menschen in Berlin haben Angst vor Armut und vor
dem Verlust von Arbeitsplätzen, und hier tragen Sie mit
Ihrem Wirtschaftssenator Harald Wolf die Verantwortung.
({10})
Das Schlimmste dabei ist jedoch die Art und Weise
Ihrer Worte und Erklärungen. Sie setzen einige wenige
Entscheidungen von Konzernen, die ich nicht rechtfertigen will, in eins mit der allgemeinen deutschen Wirtschaft. Auch Sie sollten mittlerweile wissen, dass die
deutsche Wirtschaft vorwiegend aus kleinen und mittelständischen Unternehmen besteht. 99,7 Prozent der
deutschen Unternehmen sind Mittelständler. Das sind
die Unternehmen, die in diesem Land Arbeitsplätze
schaffen und damit Menschen eine Perspektive geben.
Sie bieten jungen Leuten mit einem Ausbildungsplatz
eine Chance.
({11})
Diesen mittelständischen Untenehmen sollten wir Dank
sagen. Auch Sie sollten diesen Unternehmen Dank sagen; denn sie schaffen Arbeitsplätze in diesem Land.
({12})
Deshalb ist der Kurs dieser Bundesregierung der richtige. Wir werden ihn konsequent weitergehen. Auch
wenn Sie noch so viel schreien: Wir lassen uns nicht beirren. Wir werden den Mittelstand weiterhin fördern und
entlasten.
({13})
Damit werden wir Arbeitsplätze für die Menschen in unserem Land schaffen.
Herr Aydin, das wird vielleicht zur Folge haben, dass
die Linke zukünftig keine 130 Abgeordneten, sondern
sehr viel weniger haben wird.
({14})
Herr Aydin, merken Sie sich einmal eines: Hochmut
kommt vor dem Fall. Was linke Mehrheiten bedeuten,
zeigt Hessen. Ich jedenfalls freue mich sehr auf die
nächste Bundestagwahl.
Herzlichen Dank.
({15})
Als letzter Redner hat nun der Kollege Dr. Ditmar
Staffelt für die SPD-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich teile all das, was hier zu Moral und Ethik im
Zusammenhang mit Unternehmensführung gesagt worden ist.
Ich wünsche mir insbesondere, dass die Unternehmen
sehr viel mehr und sehr viel besser kommunizieren und
transparenter werden. Ich glaube, das ist ein Punkt, den
wir nicht unterschätzen sollten. Es ist doch ganz normal,
wenn man nicht verstehen kann, dass auf der einen Seite
die Renditen steigen und gleichzeitig Entlassungen bekanntgegeben werden. Das kann doch niemandem einleuchten. Und dann wird noch nicht einmal gesagt, wofür die Rendite, die bei BMW zum Beispiel 26 Prozent
beträgt, Verwendung findet, ob sie für Investitionen in
die Zukunft des Unternehmens und damit den Aufbau
von Arbeitsplätzen oder ausschließlich zur Bedienung
von Shareholdern verwendet wird. Ich finde, dieser Aspekt sollte in dem Verhaltenskodex von Unternehmen
stärker betont werden. Das sollten wir politisch unterstützen.
({0})
Bei diesem Thema fällt mir eine weitere Frage ein:
Was können wir vor dem Hintergrund einer globalisierten Welt tun? Als Sozialdemokrat kann ich nur sehr
selbstbewusst sagen: Wir müssen die Agenda 2010 fortentwickeln.
({1})
Dazu gehört die Hightech-Strategie. Wir müssen Forschung und Entwicklung weiter so fördern, wie die
Koalition es tut. Ein ganz wesentlicher Aspekt ist, dass
wir junge Menschen an die Anforderungen auf dem Arbeitsmarkt heranführen. Eines ist klar: Das wird nicht
das letzte Mal gewesen sein, dass im Zuge des Wettbewerbs insbesondere sogenannte einfache Tätigkeiten in
Deutschland wegfallen und in andere Länder transportiert werden. Wir müssen der Realität ins Auge schauen.
Dazu gehört, dass wir die jungen Leute qualifizieren.
Wir müssen sie besser ausbilden, die Hauptschule von
der „Restschule“ wegführen und unser Programm der
Ganztagsschule durchziehen. All das sind Programmpunkte, die Deutschland stark machen und für die Zukunft der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer außerordentlich wichtig sind.
({2})
Wir müssen den Zahlen ins Auge blicken: Siemens
beschäftigt 33 Prozent seiner Beschäftigten weltweit in
Deutschland; nur 17 Prozent seines Umsatzes macht
Siemens in Deutschland, aber 70 Prozent der Forschung
finden weiterhin in Deutschland statt. Was wird daraus?
Wie verhalten wir uns angesichts dessen? Wir müssen
dafür sorgen, dass uns das nicht wegbricht; denn die
Schieflage wird eher größer als kleiner. Dieser Herausforderung können wir nicht mit wilden Sprüchen und
Populismus entgegentreten. Wir müssen den Unternehmen in diesem Land vielmehr systematisch gute Rahmenbedingungen bieten.
({3})
Ich möchte Sie einmal hören, wenn ein Verteidigungsministerium in Deutschland ein halbes Jahr vor einer Wahl entschieden hätte, einen 40-Milliarden-DollarAuftrag nicht an Airbus, sondern an Boeing zu vergeben.
Da wäre aber hier etwas los - die Hütte würde brennen -,
und Sie wären dabei an der Spitze.
Über diese Herausforderungen der Globalisierung
muss man Folgendes sagen: Es gibt Beispiele für miserables Verhalten zulasten unserer Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer, es gibt aber auch Beispiele für sehr
positives Verhalten zugunsten unserer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie unserer Unternehmen. Das
würde ich aus Ihrem Munde gerne auch einmal hören.
({4})
Das Modell Lafontaine à la Chávez in Venezuela sollten Sie vielleicht einmal vor dem Hintergrund sehen,
dass die Verstaatlichung der Ölindustrie in Venezuela damit einhergeht, dass freie Gewerkschaften und auch freie
Medien in ihrer Arbeit behindert werden. All das hatten
wir in Deutschland schon. Das wollen wir nicht noch
einmal haben. Diese Experimente ersparen Sie uns bitte.
({5})
Populismus ist nicht die richtige Antwort auf die Herausforderungen. Wir müssen dafür Sorge tragen, dass
wir als Bundesregierung die Rahmenbedingungen festlegen, uns mit den Unternehmern an einen Tisch setzen
und den Druck für ethisch vernünftiges und moralisches
Verhalten nicht mindern, sondern erhöhen. Aber wir
können uns nicht nur hinstellen und ein entsprechendes
Verhalten verlangen. Wir müssen den Unternehmen auch
die entsprechenden Aktionsspielräume bieten, die sie
brauchen, um im Wettbewerb mit anderen Standorten
überleben zu können, denn ihre Rendite kommt am Ende
auch dem Standort Deutschland zugute. Das sollten wir
bei aller Kritik nicht vergessen.
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Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Damit sind wir am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 12. März 2008, 13 Uhr, ein.
Ich wünsche Ihnen ein angenehmes Wochenende.
Die Sitzung ist geschlossen.